Die Wehrpflicht: Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung [Reprint 2015 ed.] 9783486594256, 9783486560428


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German Pages 277 [280] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Einführung
Teil I: Grundlagen
Europäische Sicherheitsgemeinschaft und Wehrform deutscher Streitkräfte. Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß? Anmerkungen zu einem kontroversen Thema
Wehrpflicht und Berufsarmee im Alten Testament
Teil II: Wehrpflicht in Deutschland
Die überlieferte Defensionspflicht. Vorformen der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland
Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit. Wehrpflicht im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1815—1860
Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871—1914
»Bis zum letzten Mann und letzten Groschen?« Die Wehrpflicht im Deutschen Reich und ihre Auswirkungen auf das militärische Führungsdenken im Ersten Weltkrieg
Deutsche Erfahrungen mit der Wehrpflicht 1918—1945. Abschaffung in der Republik und Wiedereinführung durch die Diktatur
Die Auseinandersetzung um die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland
Die Wehrpflicht im Spiegel der marxistisch-leninistischen Theorie und der »realsozialistischen« Praxis in der DDR
Teil III: Wehrpflicht im Ausland
Zur Entwicklung der »nation armée« in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg
Die Wehrdienst- und Wehrpflichtformen in Polen zwischen der Verfassung von 1791 und der Gegenwart
Wehrpflicht im zaristischen Rußland
Der Untergang der Berufsarmee. Die Wehrpflicht in den Niederlanden im Spannungsfeld von Verfassung und Landesverteidigung 1813—1829
Das Schweizer System. Friedenssicherung und Selbstverteidigung im 19. und 20. Jahrhundert
The British Experience of National Service, 1947—1963
Wehrpflicht in der Zweiten Republik Österreich. Vorgeschichte und Entwicklung einer Wehrpflichtarmee zwischen den großen Blöcken von 1945 bis heute
Conscription Warfare: the Israeli Experience
Entscheidung für den Berufssoldaten. Die Armee der Vereinigten Staaten und die Aufhebung der Wehrpflicht gegen Ende des Vietnamkrieges 1969
Die Autoren
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Die Wehrpflicht: Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung [Reprint 2015 ed.]
 9783486594256, 9783486560428

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Die Wehrpflicht

Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 43

R. Oldenbourg Verlag München 1994

Die Wehrpflicht Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Roland G. Foerster

R. Oldenbourg Verlag München 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die W e h r p f l i c h t : Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung / im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Roland G. Foerster. - München : Oldenbourg, 1994 (Beiträge zur Militärgeschichte ; Bd. 43) ISBN 3-486-56042-5 NE: Foerster, Roland G. [Hrsg.]; GT

Θ 1994 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg i.Br. Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56042-5

Inhalt

Vorwort Einführung

VII XI

Teil I: Grundlagen Hans-Adolf Jacobsen Europäische Sicherheitsgemeinschaft und Wehrform deutscher Streitkräfte. Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß? Anmerkungen zu einem kontroversen Thema Jehuda L. Wallach Wehrpflicht und Berufsarmee im Alten Testament

3

15

Teil II: Wehrpflicht in Deutschland Helmut Schnitter Die überlieferte Defensionspflicht. Vorformen der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland

29

Heinz Stübig Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit. Wehrpflicht im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1815—1860

39

Stig Förster Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871—1914

55

Holger Afflerbach »Bis zum letzten Mann und letzten Groschen?« Die Wehrpflicht im Deutschen Reich und ihre Auswirkungen auf das militärische Führungsdenken im Ersten Weltkrieg

71

Wolfram Wette Deutsche Erfahrungen mit der Wehrpflicht 1918—1945. Abschaffung in der Republik und Wiedereinführung durch die Diktatur

91

VI

Inhalt

Wilhelm Meier-Dörnberg Die Auseinandersetzung um die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland

107

Rüdiger Wenzke Die Wehrpflicht im Spiegel der marxistisch-leninistischen Theorie und der »realsozialistischen« Praxis in der D D R

119

Teil III: Wehrpflicht im Ausland Gerd Krumeich Zur Entwicklung der »nation armee« in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

133

Adam Marcinkowski und Andrzej Rzepniewski Die Wehrdienst- und Wehrpflichtformen in Polen zwischen der Verfassung von 1791 und der Gegenwart Vladimir V. Lapin Wehrpflicht im zaristischen Rußland

171

Herman Amersfoort Der Untergang der Berufsarmee. Die Wehrpflicht in den Niederlanden im Spannungsfeld von Verfassung und Landesverteidigung 1813—1829

181

Hans Rudolf Fuhrer Das Schweizer System. Friedenssicherung und Selbstverteidigung im 19. und 20. Jahrhundert

193

Brian Bond The British Experience of National Service, 1947—1963

207

Wolfgang Etschmann Wehrpflicht in der Zweiten Republik Osterreich. Vorgeschichte und Entwicklung einer Wehrpflichtarmee zwischen den großen Blöcken von 1945 bis heute

217

Martin van Creveld Conscription Warfare: the Israeli Experience

227

Charles E. Kirkpatrick Entscheidung für den Berufssoldaten. Die Armee der Vereinigten Staaten und die Aufhebung der Wehrpflicht gegen Ende des Vietnamkrieges 1969

241

Die Autoren

259

147

Vorwort

»Die allgemeine Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie, ihre Wiege stand in Frankreich1« — dieser Satz von Theodor Heuß hat nicht nur die Debatte um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren richtungweisend beeinflußt; darüber hinaus hat er sich tief in das politische Bewußtsein der Bundesrepublik Deutschland eingeprägt und den Wehrpflichtgedanken in der Demokratie für sakrosankt erscheinen lassen. Bis in unsere Gegenwart wird dieses Heußzitat in direkten Bezug zu dem Diktum Gerhard v. Scharnhorsts, »alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger desselben«2 gesetzt. Damit wurde eine Traditions- und Kontinuitätslinie zu den Uberzeugungen der preußischen Reformer des 19. Jahrhunderts geschaffen, wonach der Wehrdienst Pflicht eines jeden Bürgers sei, dem Gemeinwohl diene und den jungen Menschen auch Pflichten für das Gemeinwesen abverlange. Die Institution des Wehrdienstes erhielt damit in der Bundesrepublik konstitutiven Rang. Die Beendigung der ideologischen und machtpolitischen Antagonismen zwischen dem freiheitlich-demokratischen und dem sozialistisch-totalitären Lager durch den Zusammenbruch des Kommunismus und dem damit einhergehenden Ende des Kalten Krieges setzte nicht nur der Strategie der Abschreckung, sondern auch der existenziellen OstWest-Konfrontation ein Ende. Ohne tatsächliche Bedrohung und bei gegenseitiger Verifikation beiderseitiger ausgewogener Abrüstungsmaßnahmen konnten überkommene Feindbilder nicht mehr aufrechterhalten werden. Das zunehmend offene, transparente System internationaler Beziehungen, die hohe Wahrscheinlichkeit der Nichtanwendung militärischer Gewalt zur Interessendurchsetzung zwischen den Großmächten Europas und Eurasiens ermöglichten einen umfassenden Dialog über massive Truppenreduzierungen. Diese neue, unvorhersehbare Lage, die gleichzeitige eklatante Zunahme von Krisen an der Peripherie Europas, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika erforderten ein neues sicherheitspolitisches »grand design« internationalen Krisenmanagements. Die Notwendigkeit für Deutschland, nach seiner Wiedervereinigung Beiträge zur internationalen Stabilität zu leisten und hierfür Krisenreaktionskräfte verfügbar zu halten, die außerhalb des NATO-Vertragsgebietes — »out of area« also — Kampfeinsätze friedenserhaltender und -wiederherstellender Art durchzuführen haben, stellen das Prinzip der Wehrpflicht als solches, besonders aber das gewachsene und gleichsam manifest gewordene Denken im Nachkriegsdeutschland in Frage. 1

2

Pari. Rat, Hauptausschuß, S. 545 (18.1.1949). Vgl. Roland G. Foerster, Innenpolitische Aspekte der Sicherheit Westdeutschlands, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945—1956, Bd 1, München, Wien 1982, S. 4 0 3 - 5 7 5 , hier S. 426f. Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, T. 2: Das Preußische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807—1814, hrsg. von Rudolf Vaupel, Bd 1, Leipzig 1938 (= Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, Bd 94), S. 324.

VIII

Vorwort

Vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussionen über Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee, die nach den großen Umbrüchen der Jahre 1989/90 aufbrachen, aber auch im Lichte des historischen Traumas einer Reichswehr als »Staat im Staate«, die für den Untergang der Weimarer Republik mitverantwortlich gemacht wird, stellte das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) seine jährliche Internationale Tagung Militärgeschichte unter das Thema »Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung im 19. und 20. Jahrhundert«. Mit dieser Problemstellung war durchaus die Absicht verknüpft, den Planern neuer Streitkräftestrukturen historische Erfahrungen der Militärgeschichte als Fundus für neue Denkansätze an die Hand zu geben. Die offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung, aber auch anderer wichtiger staatstragender Institutionen und Persönlichkeiten fordern die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ihre Begründungen scheinen teilweise die geschichtliche, durch die Ergebnisse der Tagung erneut bestätigte Erfahrung widerzuspiegeln, daß das Prinzip der Wehrpflicht im 19. und 20. Jahrhundert innerstaatlich vor allem gesellschaftspolitischen Zielen und weniger militärischen Zwecken dienen sollte. So hat etwa Feldmarschall Helmuth v. Moltke als Reichstagsabgeordneter die Bedeutung der Wehrpflicht als Erziehungsinstrument — und letztlich als Mittel der sozialen Disziplinierung — herausgestellt: Nicht die Schulmeister und schon gar nicht die Parlamentarier hätten die Nation »zu körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische, zu Ordnung und Pünktlichkeit, zu Treue und Gehorsam, zu Vaterlandsliebe und Mannhaftigkeit« herangebildet, sondern der eigentliche »Erzieher«, das Militär 3 . Solche Begründungen für die Wehrpflicht nach innen können im modernen demokratischen Staat nicht mehr Bestand haben; die Armee ist nicht mehr »Schule der Nation«, allerdings bleibt nach Auffassung hoher politischer Repräsentanten der mündige Bürger nach wie vor der »geborene Verteidiger« seines Landes. Der Aufbau der Bundeswehr als Wehrpflichtarmee war 1956 allein das Ergebnis einer — sowohl national wie im Bündnis — akzeptierten sicherheitspolitischen Reaktion auf die subjektiv als akut empfundene Gefahr einer massiven Bedrohung im Kalten Krieg von außen, über die weitgehend Konsens bestand. Die hierfür erforderliche gegenseitige Durchdringung von Staat und Armee, d. h. die Aufgabe, eine solche Wehrpflichtarmee in der demokratischen Gesellschaft zu verankern, fand in der Bundesrepublik Deutschland im Prinzip der Inneren Führung ihre im internationalen Vergleich weithin bewunderte Ausformung. Nachdem eine Bedrohung von außen nach Beendigung des Kalten Krieges verschwunden scheint und die früher außen- und sicherheitspolitisch begründete Schaffung und Existenz der Bundeswehr damit in die innenpolitische Diskussion geraten ist, wird vielerorts in der allgemeinen Wehrpflicht die letzte Möglichkeit gesehen, der jungen Generation die Verpflichtung für das Gemeinwesen, dessen Teil sie sind, gewissermaßen »am eigenen Leib« erfahrbar zu machen. Um Vorurteile, Legendenbildung und Wissensdefizite abzubauen und ein weitgefächertes Forum geistiger Auseinandersetzung aus historischer Sicht zu eröffnen, ist auch an eine der Schattenseiten der »Levee en masse« zu erinnern. Sie war es, die es dem französi3

Franz Herre, Moltke, Der Mann und sein Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 365.

Vorwort

IX

sehen Kriegsminister Graf Carnot ab 1793 im Laufe der Französischen Revolution und später wiederum Leon Gambetta als Kriegsminister der französischen Regierung der »nationalen Verteidigung« 1870/71 erlaubte, die Massen zu organisieren und Volksheere in Volkskriege zu führen. Der Staatenkrieg, der Krieg der Kabinette, eskalierte somit zum Krieg der Völker und geriet zum Vorläufer des totalen Krieges, der im 20. Jahrhundert die gesamte Kraft der Nation zusammenfassen und zur Entscheidung in die Waagschale werfen sollte. Die moralische Seite dieser Entwicklung, die mit der auch in unserer Zeit geforderten, ohne die Wehrpflicht undenkbaren »Durchhaltefähigkeit« im Kriege begründet wird, hat der greise Feldmarschall Helmuth v. Moltke in folgende Worte gefaßt: »Schlimm genug, wenn sich die Armeen zerfleischen müssen; man führe doch nicht die Völker gegeneinander, das ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in die Barbarei 4 .«

Und es war der Volkskrieg, der ihn in seiner Rede im Deutschen Reichstag 1890 zu der sich später leider bewahrheitenden Vision veranlaßte: »Wenn der Krieg [...] kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie sich überwunden erklärte 5 .«

Industrielle Machtentfaltung, das explosionsartige Wachstum der Bevölkerungen der Industrienationen und die rapide Entwicklung der Waffentechnologie mit ihrem exorbitanten Zerstörungspotential prägten in Verbindung mit den durch die Wehrpflicht geschaffenen Massenheeren das furchtbare Antlitz der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Gerhard v. Scharnhorst noch hatte in der Wehrpflicht ein Mittel erkannt, die Tyrannei abzuschütteln; und der deutsche Liberalismus sah in der Volksbewaffnung ein Gegengewicht zur repressiven Macht der Fürsten im Zeitalter der Restauration. Aber es war der »Fieberwahn des Imperialismus«6 und der rassenideologische Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus, der die Massenheere zum Verderben Europas werden ließ. Die heutige Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht ist ebenso legitim wie notwendig. Das bisher bewährte System, das allerdings unter den heutigen Bedingungen eine eklatante »Wehrungerechtigkeit« in sich birgt, kann, auch aus der Sicht der historischen Erfahrung, nicht für sakrosankt erklärt werden. Die wissenschaftlichen Vorträge dieses Bandes verstehen sich als ein Beitrag, Möglichkeiten zu neuen Wehrformen, auch Mischformen aus Berufs-, Zeit- und wehrpflichtigen Soldaten zu finden. Sie könnten auf dem innovativen gesellschaftspolitischen Prinzip einer umfassenden Dienstpflicht beruhen, die jedem Betroffenen eine persönliche Entscheidung gestattet. Damit wäre einer Diskriminierung des einzelnen durch den Staat, etwa durch eine »Zweiklassenarmee«, oder als Zivildienstleistender, weitgehend die Spitze genommen. 4 5

6

Ebd., S. 306. Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke, Bd 7, Berlin 1892, S. 139. Wolfgang Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt a.M. 1977 (= Fischer Weltgeschichte, Bd 28), S. 7.

χ

Vorwort

Die Militärgeschichte, die Gerhard v. Scharnhorst zufolge das »geistige Material bereithält, an dem sich der menschliche Geist bildet«7, will mit dem hier vorgelegten Tagungsband einen Beitrag leisten, dieser Aussage auch in unserer, der Zeit der preußischen Reformer von 1813/14 nicht unähnlichen Zeit großer Umbrüche und Reorganisationen Geltung zu verschaffen. Militärgeschichte versteht sich damit als Vermittlerin zwischen Alt und Neu.

Dr. Günter Roth Brigadegeneral Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

7

Rudolf Stadelmann, Scharnhorst. Schicksal und geistige Welt, hrsg. von Hans Rothfels, Wiesbaden 1952, S. 158 f.

Einführung

I. Die nachstehenden Aufsätze zu Fragen der Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht wurden bei der 34. Internationalen Tagung Militärgeschichte des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) im September 1992 in Potsdam vorgetragen und dort eingehend diskutiert. Es war ein Anliegen des Herausgebers, das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit den Thesen der Vortragenden in die nachstehenden Beiträge einfließen zu lassen. Insofern handelt es sich also um Aufsätze, die den Filter kritischer Durchleuchtung bereits einmal durchlaufen haben, wobei die Autoren selbstverständlich völlig freie Hand bei der Einarbeitung eventuell kontroverser Auffassungen hatten. Die Aufsätze verstehen sich als Beiträge zur derzeit anhaltenden Diskussion um eine zeitgemäße Wehrverfassung der Bundesrepublik Deutschland aus historischer Sicht. Sie sollen dem politisch bewußt Denkenden, vielleicht auch dem politischen Mandatsträger, eine Argumentationshilfe aus historischer Perspektive für die Wehrformdebatte an die Hand geben, nicht aber Musterlösungen im Sinne eines applikatorischen Geschichtsverständnisses anbieten. Die Beiträge leisten deshalb ganz bewußt keine abwägenden Analyse der Vor- und Nachteile von Berufs- oder Wehrpflichtarmeen unter bestimmten politischen Gegebenheiten im weitesten Sinn. Das Erkenntnisinteresse der Tagung zielte vielmehr auf eine breit ansetzende Untersuchung und Darstellung der Entstehung der Wehrpflicht, ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen sowie ihrer dichten Verflechtung mit politischen, sozialen, wirtschaftlichen, technischen und nicht zuletzt ideologischen Entwicklungen in Deutschland und einigen ausgewählten weiteren Ländern. Die Intention des Herausgebers, bei der Themenstellung eher problemorientierte Querschnitte anzustreben, methodisch eher analytisch und in die Tiefe gehend anzusetzen, als definitorische oder verlaufsgeschichtliche Fragestellungen zu wählen, war — wie bei den üblichen administrativen Zwängen von Tagungen unvermeidbar — nicht immer durchzuhalten.

II. Der Begriff »Wehrpflicht« definiert zugleich den Untersuchungszeitraum. Wehrpflicht im Sinne der hier vorgelegten Untersuchungen setzt den mit verfassungsmäßigen Gleichheitsrechten ausgestatteten Staatsbürger, wenn auch in der historischen Realität mit gewissen Einschränkungen, voraus. Denn Wehrpflicht entsteht nicht für den Untertan eines ständischen Personenverbandsstaates, unter dessen schützender Obhut arbeitsteilig der Soldat — auf welche Weise auch immer zu den Fahnen gerufen — Krieg führt, während

XII

Einführung

der Bauer unbehelligt sein Feld pflügt und der städtische Kaufmann das Kommerzium (und die Staatskasse) befördert. Der wesentliche Unterschied liegt auf der Betonung des Prinzips der »Allgemeinheit« der Wehrpflicht, die im Prinzip jeden Bürger zu den Waffen verpflichtet, ohne Rücksicht auf dessen gesellschaftliche Stellung und aufgrund gesetzlich geregelter Prinzipien. Somit soll auch hier eine klare Unterscheidung eingehalten und der Begriff der — allgemeinen — »Wehrpflicht« eindeutig von ähnlich lautenden, aber semantisch unterschiedlichen Begriffen wie Wehrdienst, Wehrdienstpflicht, Militärdienst u.a. unterschieden werden. Die Wehrpflicht, so verstanden, beginnt somit als historisch erfaßbares und auch juristisch definierbares Phänomen in der Vergangenheit erst durch die Entwicklung von Bürgerrechten und demnach in unterschiedlichen Ländern zu verschiedenen Zeiten. Geht man vom »soldat citoyen« der Französischen Revolution aus, so beginnt mit gewissen Abstrichen das Zeitalter der Wehrpflicht in Europa im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Deutschen Reich entstand sie etwas später, unter dem Druck der napoleonischen Zwingherrschaft der Freiheitskriege. In wiederum anderen Ländern wie etwa in Polen oder im zaristischen Rußland, erscheint es, wie man weiter unten nachlesen kann, per definitionem fast fraglich, ob man von einer echten Wehrpflicht vor Mitte des 20. Jahrhunderts sprechen kann. Schließlich kennen wir alte Demokratien, in denen Perioden von Wehrpflicht lediglich in Zeiten existentiell bedrohlicher Konflikte festzustellen sind. Demzufolge deckt diese Sammlung von Aufsätzen im wesentlichen die Zeit von der Französischen Revolution bis heute ab.

III. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Er trägt damit der Konzeption Rechnung, zum einen die Entwicklung der Wehrpflicht im Deutschen Reich fast lückenlos von ihrem Entstehen bis heute zu untersuchen (Teil II), zum anderen aber Sonderentwicklungen in anderen Ländern eher punktuell problemorientiert darzustellen (Teil III). Ein Beitrag zu grundsätzlichen Überlegungen aktueller Art und eine Retrospektive in die alte Geschichte wurden vorangestellt (Teil I). Dabei war, vor allem hinsichtlich der Geschichte des Deutschen Reiches (Teil II), zu berücksichtigen, daß sich bestimmte, auch wesentliche Fragestellungen auf einzelne Perioden beschränkt darbieten. So etwa die Forderung nach Volksbewaffnung, die freilich in der Landwehr von 1813—1819 bereits teilweise realisiert war, als Gegengewicht zum monarchischen Gewaltmonopol während der Zeit der Restauration und damit als grundliberales Instrument bürgerlicher Emanzipation. Oder, in Abhängigkeit von der Entwicklung der Technik zu bestimmten Zeitperioden, die frappierende Wechselwirkung zwischen Wehrpflicht, Volkswirtschaft und sozialer Entwicklung. Andere historische Phänomene dagegen ziehen sich längsschnittartig und stets wiederkehrend durch den gesamten Untersuchungszeitraum. Dazu gehören grundsätzliche Überlegungen zur Rolle von wehrpflichtbedingenden Massenheeren, ihren Einfluß auf das

Einführung

XIII

taktische, operative und vor allem strategische Denken und die erst durch sie mögliche Führbarkeit absoluter und totaler Kriege. Dazu gehört weiterhin die Frage nach der innenpolitischen Instrumentalisierung der Wehrpflicht: als Erziehungsmittel zur staatstragenden Einschwörung auf Gott, Kaiser und Vaterland und auf die bürgeridentitätsstiftende Zugehörigkeit zum Militär als Symbol des Staates; als »Schule der Nation« für die rassenideologische Indoktrination im NS-Staat und nicht zuletzt als Instrument zur Feindbildvermittlung seit den Befreiungskriegen. Dazu zählt schließlich auch die Frage nach der Wehrpflicht als Mittel der Einbeziehung (im positiven Sinn) und der gewaltsamen Vereinnahmung oder Ausgrenzung (im negativen Sinn) von ethnischen, religiösen und politischen Minderheiten — von Problemen der emanzipatorischen Einbeziehung von Frauen ganz abgesehen. Der mit außerdeutschen Ländern befaßte Teil III der Beiträge beschränkt sich naturgemäß auf solche Entwicklungen oder historische Erscheinungen, für die nach Auffassung des Herausgebers aufgrund ihrer typologischen Einmaligkeit ein besonderes Interesse besteht. Für die angelsächsischen Länder, in denen ohnehin traditionelle Vorbehalte gegenüber der Wehrpflicht bestehen, wurden vertiefende Studien zu meist kürzeren Zeiträumen erbeten. Für weitere Länder außerhalb Deutschlands wurden Entwicklungsstudien über längerfristige Perioden aufgenommen. Eine Reihe zusätzlicher Fragen und Aspekte der Wehrpflicht wie auch deren Untersuchung in weiteren Ländern konnten im Rahmen der Konferenz nicht abgedeckt werden; ihre Behandlung hätten den zeitlichen und organisatorischen Rahmen gesprengt. Die Erträge dieses Bandes stellen zugleich einen Nachweis für die während der Konferenz bestätigte Erkenntnis dar, daß, abhängig von nationaler Eigenart, politischem Selbstverständnis und geschichtlicher Entwicklung, jedes Land eine spezifische Wehrpflichtform entwickelt hat, die auf unterschiedliche Weise in die jeweilige Gesellschaft eingeordnet war. Diese Vielfalt stellt sich so überwältigend dar, daß erhebliche Zweifel berechtigt sind, ob überhaupt von einer Vergleichbarkeit der Wehrpflichtformen verschiedener Länder nach Rolle, Anspruch und Wirkung die Rede sein kann.

IV. Es bleibt dem kritischen Leser überlassen, welche Schlüsse er aus den Thesen und Ergebnissen der Beiträge ziehen will. Es wird ihm allerdings angesichts des Facettenreichtums der Aussagen nicht leicht fallen, denn nahezu keine These bleibt, ganz im Einklang mit der weiter oben konstatierten Unvergleichbarkeit der Systeme, an anderer Stelle unwidersprochen. Hier seien einige dieser Befunde genannt: — Einerseits bedeutet Wehrpflicht den »Rückfall in eine barbarische Kriegführung«, führt wegen der Verfügbarkeit von schier unerschöpflichem »Menschenmaterial« zu einer menschenverachtenden Operationsführung und ermöglicht als ultima ratio den totalen Krieg. Andererseits war es in den meisten NATO-Ländern allein die Wehrpflicht, die im Kalten Krieg angesichts der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes eine einigermaßen aussichtsreiche Verteidigung des westlichen Bündnisses möglich machte.

XIV

Einführung

— Eine Wehrpflichtarmee kommt dem Staat angeblich wesentlich billiger, entzieht aber der Industrie und Landwirtschaft Arbeitskräfte. — These: Wehrpflicht ist prinzipiell undemokratisch, erlegt den Betroffenen unzumutbare Zwinge auf, führt zum Verlust verfassungsmäßig garantierter Freiheitsrechte und verstößt deshalb gegen die Menschenwürde. Antithese: Wehrpflicht ist unter bestimmten politischen Konstellationen eine conditio sine qua non zum Schutz der Freiheitsund Bürgerrechte. So war es im Zweiten Weltkrieg den Ländern der Anti-Hitler-Koalition allein mit dem Mittel der Wehrpflicht möglich, den expansiven Nationalsozialismus Deutschlands in die Knie zu zwingen und ein hegemoniales deutsches Großreich zu verhindern. — Eine Vergrößerung der Armee und damit die Einbeziehung der unteren sozialen Schichten aufgrund einer erweiterten Wehrpflicht bedeutet in der Regel Qualitätsverlust (Israel). Dagegen wertet Wehrpflicht die Armee qualitativ auf, denn es dienen auch die Söhne der Bildungs- und Führungsschicht, während die Berufsarmee in der Regel die untersten sozialen Schichten anlockt (Großbritannien). — Die Wehrpflicht war in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Instrument zur Unterdrückung unerwünschter politischer Bewegungen, vor allem der Sozialdemokratie, zur allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft sowie zur sozialen und politischen Disziplinierung der unteren Schichten (Förster). Im Gegensatz dazu mußte zur gleichen Zeit die Wehrpflicht als ein Weg »zur Emanzipation der Arbeiterklasse« gesehen werden (Engels), bewirkte eine Aussöhnung zwischen der Armee einerseits und dem Bürgertum (Stübig), der Arbeiterschaft (Meier-Dörnberg) sowie dem republikanischen und liberalen Prinzip (Krumeich) andererseits. In Rußland galt sie gar als »staatsbildendes Element« und »Instrument der Verwestlichung«, das ein bestimmtes Niveau an bürgerlichem Bewußtsein voraussetzte (Lapin). Solche Widersprüche schaden nicht, im Gegenteil. Sie sind ein wesentlicher und integraler Teil unseres Verständnisses von moderner Geschichtswissenschaft und damit ein unmißverständlicher Indikator für die Freiheit unserer Gesellschaft. Sie zeigen aber auch die überraschende Vielzahl der Erscheinungsformen und Wirkungsmöglichkeit des Phänomens Wehrpflicht in den beiden letzten Jahrhunderten mit ihren vielfältigen, oft widersprüchlichen Interpretationen. Uber einige Kernaussagen allerdings waren sich die Konferenzteilnehmer, so viel sei vorweggenommen, einig. Das war zum einen die offensichtliche Erkenntnis, daß das Prinzip der Wehrpflicht nicht notwendig an den demokratisch-freiheitlichen Staat gebunden ist. Wehrpflichtige haben im Laufe der Geschichte, wie das Gesetz es befahl, in allen Armeen der Welt gekämpft und sind dorthin marschiert, wohin sie befohlen wurden — unter dem Banner der Freiheit ebenso wie bei den Eroberungs- und Vernichtungskriegen totalitärer Diktaturen. Eine Wehrpflichtarmee ist zu allem gut, solange sie nur populistisch begründet und auf geeignete Weise motiviert wird. Von daher sind Wehrpflichtarmeen per se kein Garant für eine demokratische innere Verfaßtheit der Gesellschaft und schon gar nicht für eine zurückhaltende und friedliche Außenpolitik. Andererseits wird eine Gesellschaft nicht deshalb undemokratischer und weniger liberal, weil sie die Wehrpflicht abschafft und eine Berufsarmee unterhält. Einige der älte-

Einführung

XV

sten Demokratien dieser Welt weisen das eindeutig nach. Die Reichswehr als Negativbeispiel in diesem Sinne heranzuziehen, wäre verfehlt: Sie, ein Staat im Staate, die nicht »Soldaten auf Soldaten« schießen lassen wollte, war das abschreckende — und unter heutigen Bedingungen unwiederholbare — Resultat einer verfehlten und zur Selbstverteidigung unfähigen Verfassung. Wehrform und politisches System verhalten sich demnach weitgehend indifferent zueinander.

V. Aus dem Gesagten erhellt, daß bei der berechtigten Suche nach einer adäquaten Wehrform in heutiger Zeit individuelle und der schwierigen Gesamtlage angepaßte Entschlüsse gefaßt werden müssen. Die Geschichte hält — als Konsequenz ihrer Unwiederholbarkeit — außer den soeben genannten allgemeinen Erkenntnissen nur wenig Rat bereit. Auf keinen Fall kann sie und will sie Rezepte und Lösungsmöglichkeitn anbieten. Aber sie kann zum Nachdenken anregen und Irrwege vermeiden helfen, zeigt sie doch in aller Deutlichkeit, welche politischen und sozialpolitischen Fehler auf dem Gebiet der Wehrverfassung vermieden werden können und müssen.

Dr. Roland G. Foerster Oberst i.G.

Teil I Grundlagen

Hans-Adolf Jacobsen

Europäische Sicherheitsgemeinschaft und Wehrform deutscher Streitkräfte. Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß? Anmerkungen zu einem kontroversen Thema

Auch die Bundeswehr steht gegenwärtig* vor der wohl größten Umorientierung in ihrer Geschichte. Der atemberaubende, in seinem Ausgang noch ungewisse Transformationsprozeß in Osteuropa mit all seinen Konsequenzen, verbunden mit der Einheit Deutschlands im Jahre 1990, haben dies in den letzten Monaten immer nachhaltiger verdeutlicht. Angesichts der Ungewißheiten und Unwägbarkeiten unserer Zeit ist es nicht verwunderlich, daß die Grundfragen nach den neuen Aufgaben deutscher Streitkräfte, der dafür erforderlichen Wehrform, von Ausbildung und politischer Bildung sowie vor allem der denkbaren Einsätze jenseits des NATO-Bereiches zu fortgesetzten Diskussionen in den Führungs- und Parteigremien, aber auch in der Truppe geführt haben. Eines ist sicher: alle müssen heute umlernen. Bundesminister Rühe und Generalinspekteur Naumann haben zwar an ihren Prämissen keinen Zweifel gelassen und wahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende getan, um bei der jetzt angestrebten Sicherheitsstruktur Europas und ihren Planungen einen Konsens der Parteien herbeizuführen. Aber einige Kontroversen konnten bisher nicht ausgeräumt werden, ganz zu schweigen von verschiedenen berechtigten Sorgen der Soldaten. Nach wie vor ist zuviel Widersprüchliches zu hören. Dies hängt auch mit den Schwierigkeiten zusammen, die neue Rolle Deutschlands in Europa zu definieren und eine der gegenwärtigen Lage angemessene Politik der Verantwortung, der Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit zu betreiben, d. h. eine Politik, die eine Gratwanderung zwischen Besorgnissen im Ausland vor der gewachsenen Stärke Deutschlands und Kritik an Bonn bedeutet, internationale Verpflichtungen im Interesse von Frieden und Freiheit aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht übernehmen zu können. Ein Thema scheint indessen unter Politikern und der militärischen Führung weithin konsensfähig zu sein, nämlich das der Wehrform. Während im Parlament eine breite Mehrheit die allgemeine Wehrpflicht für unabdingbar hält — und es gibt gewiß nach wie vor viele gewichtige, manchmal allerdings auch weniger stichhaltige Gründe dafür —, dürfte die Zustimmung der jungen Generation zu dieser nachgelassen haben. Ob sich bei einer relevanten Befragung tatsächlich zwei Drittel der betroffenen Jugendlichen gegen diese aussprechen würden, bleibt eine offene Frage. Auf jeden Fall zeigen Trendanalysen, daß unter den gegebenen Bedingungen wohl kaum eine Mehrheit für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht plädieren würde. * Der Beitrag basiert auf einem Referat, das den Stand der Diskussion im Herbst 1992 berücksichtigt.

4

Hans-Adolf Jacobsen

Heute stellt sich mehr denn je die Frage — nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten —, ob vor dem Hintergrund der veränderten europäischen Sicherheitslage, der politischen und ökonomischen Faktoren, die den Handlungsspielraum der Politik bestimmen, die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß ist. Es gilt, radikaler zu fragen und unmißverständlicher zu antworten, als dies bisher geschehen ist. Gewohntes und Gewünschtes müßten dabei in Frage gestellt werden können. Hierbei sollten allerdings die Zeiträume, die die jeweiligen Aussagen betreffen, verdeutlicht werden. Zu unterscheiden sind als Orientierungsrahmen die gegenwärtige Lage, die mittelfristige Zielsetzung (Mitte der neunziger Jahre) und die längerfristigen Perspektiven (zu Beginn des neuen Jahrtausend).

Vom Mißbrauch zur rechten Ausübung der allgemeinen Wehrpflicht Bevor auf diese drei Phasen eingegangen wird, ist ein kurzer Rückblick in die deutsche Wehrgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erforderlich. Jede kritische Bestandsaufnahme wird zu der Feststellung führen, daß die allgemeine Wehrpflicht, ursprünglich verstanden und von den meisten erlebt als vaterländische Pflicht eines jeden Bürgers zum Schutze des eigenen Staatswesens, vor allem in Deutschland mißbraucht worden ist. Einmal im 19. Jahrhundert, nach 1814, als politisch-militärische Eliten die allgemeine Wehrpflicht zur Militarisierung von Staat und Gesellschaft nutzten und versuchten, aus allen Bürgern mehr oder weniger Soldaten und die Militanz zum Wesenskern des Politischen zu machen. Die verhängnisvollen Folgen sind bekannt. Zum anderen waren es Hitler und seine Helfershelfer, die nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 die Wehrmacht zur Erziehungsschule der Nation im Geiste des permanenten Kampfes degradierten und zielstrebig einen Angriffs- und Vernichtungskrieg vorbereiteten. Die erste Nachkriegsgeneration in der Bundeswehr trug ζ. T. noch schwer an der Last vieler Soldaten, die manipuliert, verführt, mitschuldig und tragisch verstrickt worden waren, was menschenwürdig-tapferes Verhalten einzelner und von Einheiten nicht ausschloß. Erst mit dem Aufbau neuer deutscher Streitkräfte in der Demokratie (1955/1956) ist die ursprüngliche Intention sinngemäß verwirklicht worden. Die damals eingeführte allgemeine Wehrpflicht war historisch gerechtfertigt — auch als Antwort auf die »Staat-im Staate«-Haltung der Reichswehr in der Weimarer Republik —, politisch erforderlich, rechtlich legitimiert und — angesichts des Ost-West-Konfliktes und der damit verbundenen Bedrohungssyndrome — militärisch sinnvoll. Das Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform«, zunächst vielfach umstritten, hat sich durchgesetzt und zugleich die Einsicht, die Streitkräfte in Staat und Gesellschaft zu integrieren und sie zu befähigen, sich mit den demokratischen Werten zu identifizieren. Dabei war der Auftrag fest umrissen: Verteidigung im Bündnis mittels Abschreckung. Die Fähigkeit und Bereitschaft, den äußeren Schutz des Landes gegen jeden Aggressor zusammen mit den westlichen Partnern zu gewährleisten, standen im Mittelpunkt von Ausbildung und politischer Bildung. Hierbei offenbarten sich im Laufe der Jahre allerdings zwei besondere Schwächen. Das »wogegen verteidigen wir uns« (Bedrohung) wurde stärker betont (Motivation) als das »wofür dienen

Europäische Sicherheitsgemeinschaft und Wehrform deutscher Streitkräfte

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wir«. Hinzu kam, daß Verteidigung im engeren Sinne ausgelegt wurde als »das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«, ohne dabei hinreichend zur Kenntnis zu nehmen, daß dies im Rahmen der NATO selbstverständlich auch den Schutz aller Verbündeten, also eine »erweiterte Landesverteidigung« einschloß. Letztere führt möglicherweise begrifflich in die Irre. Zutreffender und sinnvoller sollte von der Verteidigung des Bündnisses gesprochen werden. In diesem Zusammenhang muß noch auf eine weitere spezifische Unzulänglichkeit hingewiesen werden. Diese betrifft den allseits verwendeten Begriff der Bedrohung. Was ist darunter zu verstehen? Auszugehen ist von der auch heute noch gültigen und zutreffenden Feststellung von Clausewitz, daß Politik und Militär in einem unlösbaren Zusammenhang stehen oder, anders formuliert, daß die Politik das Militärische erzeugt hat und dieses von ihr abhängig ist (Dominanz). Somit sollte streng genommen erst dann de facto von einer Bedrohung gesprochen werden, wenn das Verhalten eines Nachbarn (oder eines anderen Bündnisses) zu der Annahme bzw. Befürchtung führt (subjektive Einschätzung), daß der Gegenüber (Nachbar) bestimmte politische Ziele unter Einsatz seines militärischen Potentials gegenüber dem eigenen Land (oder seinen Partnern) zu verwirklichen trachtet oder trachten könnte. Das Vorhandensein von Waffen allein ist an und für sich noch kein Grund, dieses als »Bedrohungsfaktor« zu deklarieren — wie dies in der Vergangenheit immer wieder geschehen ist. Von einer Gefährdung sollte dann die Rede sein, wenn der Gegenüber (im regionalen Bereich) ein über defensive Notwendigkeiten hinausgehendes militärisches Potential besitzt (Wahrnehmung). Dieses könnte im gegebenen Augenblick zu politischen Zwecken mißbraucht werden. Ein rascher oder möglicher Ubergang zur Bedrohung ist dabei nicht auszuschließen. Eine Risiko-Situation ergibt sich aus mannigfachen Konflikten katalytischer Art (Bürgerkriege, ethnische Auseinandersetzungen, Machtvakuum usw.), die im regionalen Bereich die Interessen des eigenen Landes (und des Bündnisses) tangieren oder (bei grenzüberschreitenden Maßnahmen) in Mitleidenschaft ziehen könnten. Im Globalmaßstab wäre eine solche dann anzunehmen, wenn der Weltfrieden durch Aggressionen gestört und die Vereinten Nationen damit zum Handeln gezwungen sein würden. Die allgemeine Wehrpflicht, von der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes als die für die Bundesrepublik Deutschland angemessene Wehrform begriffen und akzeptiert, hat sich in den Jahrzehnten bis Ende der achtziger Jahre bewährt. Die Alternativen hierzu sind bekannt. Dabei handelt es sich im wesentlichen um die Varianten einer denkbaren Berufsarmee (aus Berufs- und Zeitsoldaten) und um eine Mischform zur Wahrnehmung unterschiedlicher Aufgaben: Wehrpflichtige in eingeschränkter Form für die Landesverteidigung sowie mobile Einsatzverbände im Rahmen kollektiver Sicherheit, die sich aus Berufssoldaten rekrutieren. Darüber hinaus gibt es noch andere Varianten (Milizsystem usw.), die hier außer Betracht bleiben. Historische Erfahrungen und eine Reihe guter Gründe sprechen für die allgemeine Wehrpflicht im vereinten Deutschland. Sie war bisher ein wesentlicher Garant für die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft, wie auch umgekehrt über die Wehrpflichtigen und ihre Familien ein Stück sozialer Kontrolle über die Streitkräfte ausgeübt worden ist. Die allgemeine Wehrpflicht symbolisiert, daß Sicherheit eine Gemeinschaftsaufgabe

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aller Bürger ist und nicht auf eine Art »Versicherungsagentur« abgeschoben werden soll. Durch sie ist das Vertrauen in die junge deutsche Demokratie im In- und Ausland gewachsen. Im übrigen hat sie die Deutschen vor einer Wiederholung demokratiegefährdender Entwicklungen von Streitkräften bewahrt (kein »Staat im Staat«). Die allgemeine Wehrpflicht ist als das »legitime Kind der Demokratie« begriffen worden. Inzwischen haben sich die innen- und außenpolitischen Bedingungsfaktoren gewandelt. Die Bundeswehr wird Mitte der neunziger Jahre nur noch 370000 Soldaten umfassen. Mit diesem Umfang ist das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht unter Gewährleistung eines Mindestmaßes an Wehrgerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Allerdings gilt es sich rechtzeitig auf neue Entwicklungen einzustellen. Weitere einschneidende Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen, knapper werdende Finanzmittel und eine dramatische Erosion der allgemeinen Dienstbereitschaft in der Gesellschaft könnten zu zusätzlicher Reduzierung der Streitkräfte führen. Unterhalb der 300000-Mann-Stärke dürfte die allgemeine Wehrpflicht bereits an die Grenze ihrer Machbarkeit stoßen. Hinzu kommt, daß bei der zu erwartenden veränderten Aufgabenstellung der Bundeswehr der Sinn des Dienens (Gelöbnis) für Wehrpflichtige schwer vermittelbar ist. Im übrigen hat die »Staat im Staat«-These angesichts der erfolgreichen Demokratieentwicklung und der funktionierenden politischen Kontrolle über die Streitkräfte an Bedeutung verloren, zumal die Berufsarmeen der USA und Großbritanniens bewiesen haben, daß sich Wehrform und politisches System schlimmstenfalls indifferent zueinander verhalten und die Effizienz der Streitkräfte darunter keineswegs zu leiden braucht. In Zirkeln, auf Tagungen, bei Konferenzen, in Arbeitspapieren, Studien und Büchern aller Art sind in der Vergangenheit die zahlreichen Fachleute nicht müde geworden, über sicherheitspolitische Strukturen, Strategien und Waffensysteme usw. zu reflektieren und Anregungen zu geben. Dies ist legitim und notwendig. Wie aber steht es mit der Vermittlung gewonnener Einsichten und sicherheitspolitischer Entscheidungen (soweit es sich um die militärische Komponenten derselben handelt) denjenigen gegenüber, die qua Gesetz gezwungen werden, die gestellten Aufgaben in der Alltagspraxis zu erfüllen? Betroffen hiervon sind in erster Linie die Wehrpflichtigen. Solange der Gesetzgeber an der allgemeinen Wehrpflicht als unabdingbarer Voraussetzung für die Verteidigungs-, Bündnisund Solidaritätsfähigkeit Deutschlands festhält, müßte er sich in viel höherem Maße als in der Vergangenheit in die Pflicht nehmen, darüber in der Gesellschaft kontinuierlich und sachgemäß informieren zu lassen. Jedoch nicht allein mittels einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr, sondern ebenso durch geeignete und überzeugende Maßnahmen in den deutschen Bildungseinrichtungen, vor allem in den Schulen. U m Mißverständnisse auszuschließen: Hier wird keinem sogenannten »Wehrkundeerlaß« das Wort geredet oder einer einseitigen Propagierung offizieller Standpunkte. Vielmehr sollten die jungen Bürger, bevor sie in die Kasernen einziehen, über das Für und Wider militärischer Sicherheitsvorsorge, über den Sinn staatlicher Selbstbehauptung und das Prinzip kollektiver Sicherheit rechtzeitig aufgeklärt werden, so daß sie sich eine eigene Meinung bilden können. In den siebziger Jahren sind diesbezügliche Bemühungen gescheitert. Die Gründe dafür (Kulturhoheit der Länder, parteipolitisch unterschiedlich regierte Länder usw.) sind be-

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kannt. Politiker neigen dazu, dieses »heiße Eisen« auch heute lieber nicht anzufassen. Aber diese Einstellung ist in einer Zeit um so weniger akzeptabel, in der eine größere Verantwortung Deutschlands für die Friedenssicherung, zumal im regionalen und globalen Maßstab, gefordert wird und damit zu rechnen ist, daß sich der Aktionsrahmen für den Einsatz deutscher Truppen erweitern wird. Die Arbeitskreise für Außen- und Sicherheitspolitik der Parteien im Deutschen Bundestag wären gut beraten — trotz der abschreckenden Erfahrungen aus der Vergangenheit —, die Initiative zu ergreifen, indem sie gemeinsame Leitsätze ausarbeiten (die in bestimmten Zeitabschnitten fortgeschrieben werden müßten). In diesen sollten sie Konsens und Dissens ihrer Positionen klarmachen (pluralistischer Ansatz), dann könnten diese als eine der Grundlagen für den Unterricht in Bildungseinrichtungen sinnvoll genutzt werden. Das setzt voraus, daß sich die Kultusministerien zu der Einsicht durchringen, hierzu entsprechende Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Ein solches, schon längst überfälliges Verfahren würde dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht entsprechen.

Erweiterter Sicherheitsbegriff und geostrategische Lage Fundamentale neue Einsichten und Einschätzungen zwingen zum Uberdenken alter Positionen. An der Spitze derselben steht die tiefgreifende Erkenntnis, daß sich in unserer Zeit der Begriff von Sicherheit qualitativ verändert und erweitert hat. Nicht mehr militärische Kategorien dominieren, wie das in der Vergangenheit — ob berechtigt oder unberechtigt sei einmal dahingestellt — der Fall war, sondern die der politischen, sozial-ökonomischen Stabilität, ökologischen Vorsorge, des Schutzes des Welthandels und vor allem die der allseits bedrückenden Wanderungsbewegungen, denen die Staaten und ihre Repräsentanten zum Teil recht hilflos gegenüberstehen — um nur die wichtigsten anzudeuten. Festzuhalten bleibt, daß der militärische Aspekt der Sicherheit an Bedeutung verloren hat, wenn auch das Vorhandensein von Atomwaffenarsenalen keineswegs gleichgültig lassen darf. Soweit sich heute ein Urteil fällen läßt, kann konstatiert werden: Deutschland ist heute weder bedroht, noch befindet es sich in einer Gefährdungslage. Was ins Kalkül gezogen werden muß, ist eine mögliche Risikolage, die deutsche Interessen tangieren könnte. Bekanntlich hat die allgemeine Wehrpflicht insbesondere in Staaten, die auf Grund ihrer exponierten Lage von »Feinden« oder vermuteten »Gegnern« umgeben waren, in der Argumentation ihrer Führungseliten eine bevorzugte Rolle gespielt. Nur mit ihrer Hilfe schien die Selbstbehauptung des betreffenden Staates, d.h. der Schutz der Grenzen und die Unversehrtheit des Territoriums, gewährleistet werden zu können. Alle Maßnahmen auf militärischem Gebiet dienten der »Verteidigung«, was de facto aber häufig als Alibi für expansives Ausgreifen benutzt worden ist, nach dem Prinzip: Angriff ist die beste Verteidigung. Wie häufig sind die Völker jedoch von ihrer Führung getäuscht oder im unklaren über deren wahre Absichten gelassen worden. Bis zum Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die operativen Planungen der deutschen Militärs auf die »Verteidigung« des Landes gegenüber möglichen Ubergriffen oder Pressionen aus fast allen

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Himmelsrichtungen. Das Problem, an welcher Front zuerst geschlagen werden sollte, um den Sieg im Ernstfall zu sichern, zählte zu den Alpträumen vieler führender Köpfe. Hitler und seinesgleichen führten ihre Schläge zunächst im Osten, dann im Norden und Westen, um schließlich den »Entscheidungskampf« im Osten zu suchen. Sie kaschierten ihre »Blitzkriege« als Verteidigungsmaßnahmen oder Prävenire. Mitte der fünfziger Jahre ergab sich für die Bundesrepublik Deutschland im geteilten Europa eine völlig veränderte Lage. Ihre Einbindung in ein kollektives Verteidigungssystem (NATO) diente de facto der Abwehr einer befürchteten, vermuteten oder angenommenen Aggression aus dem Osten. Entsprechend waren ihre Strategien ausgerichtet. Mit den ehemaligen Feinden im Westen entstand jedoch im Laufe der Jahre im Rahmen der Integration eine echte Partnerschaft. Unter diesen Voraussetzungen entfiel zum ersten Mal jedes Verteidigungskonzept gegenüber dem Westen. Zweifellos war dieses kollektive Verteidigungsbündnis in Europa ein beispielloser Fortschritt, da es nicht nur auf dem gemeinsamen Schutz verteidigungswürdiger Werte, vertrauenbildender Maßnahmen und abgestimmter Abschreckungsstrategien beruhte, sondern auch die ebenso sinnvolle wie angemessene Nutzung militärischer Macht demonstrierte. Unbestritten stand die Verteidigung an der Spitze aller Aufgaben der Bundeswehr. Sie ist der Primärauftrag schlechthin zur Abwehr eines bewaffneten Angriffes auf das Bundesgebiet. Das Grundgesetz läßt daran keinen Zweifel (Art. 87 a). Es bestimmt zugleich, welche Ausnahmen möglich sind (Innerer Notstand, Art. 87 a, Abs. 4), wer den Verteidigungsfall feststellt (der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats auf Antrag der Bundesregierung, Art. 115 a), und daß sich der Bund zur Wahrung des Friedens »einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« (Art. 24, Abs. 2) anschließen kann. Das Soldatengesetz normiert die Grundpflicht des Soldaten, der »Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen« (Art. 7). Es fordert von dem Waffenträger ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und durch Eid bzw. Gelöbnis ein wertegerechtes Verhalten im Sinne des Grundgesetzes und des Soldatengesetzes (Art. 9). Von Anfang an stand fest, daß sich die Bundesrepublik Deutschland nicht aus eigener Kraft gegenüber einem potentiellen Aggressor aus dem Osten behaupten konnte. Daher schloß sie sich dem kollektiven Bündnis der NATO (1955) an, nachdem sie bereits 1954 der Westeuropäischen Union (WEU) beigetreten war. Während in der WEU eine automatische Beistandsverpflichtung im Falle eines bewaffneten Angriffes auf einen Mitgliedstaat vereinbart wurde, hieß es im Artikel 5 des NATOVertrages: Die Bündnispartner vereinbaren, daß ein feindlicher Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika »als Angriff gegen sie alle gesehen wird«. Sie müssen unverzüglich einzeln und im Zusammenwirken mit den anderen Vertragsparteien diejenigen Maßnahmen ergreifen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, die jeder einzelne für erforderlich hält. Es steht damit jedem Mitglied frei, wie er auf Grund der eigenen Interessenlage verfährt, um die Sicherheit des Nordatlantik-Gebietes wiederherzustellen. In Artikel 6 wird sodann das Gebiet definiert, innerhalb dessen der Artikel 5 gilt (Bündnisgebiet). Diese beiden Verträge wurden in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Artikels 51 (Selbstverteidigung) der UN-Charta abgeschlossen. Diese

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Form des Bündnisses ist eine andere als die der Kollektiven Sicherheit. Das System kollektiver Verteidigung richtete sich (wenn auch nicht ausgesprochen, so doch de facto) gegen die als »Bedrohung« empfundene Weltmacht Sowjetunion mit ihren Verbündeten (ab 1955 Warschauer Pakt). Es hatte also einen erklärten Feind, dessen möglichen aggressiven Schritten es vorzubeugen oder die es abzuwehren galt. Es kennt jedoch keine Sanktionen gegen einen »inneren Friedensbrecher«. Vor kurzem stellte Verteidigungsminister Rühe fest, daß Deutschland, das Land mit den meisten Grenzen in Europa, als Konsequenz des weltpolitischen Umbruchs »keinen einzigen Nachbarn« mehr habe, den es nicht als Verbündeten oder Freund bezeichnen könne; Deutschland sei nicht mehr »Frontstaat«. Diese zutreffende Beurteilung der Lage müßte allerdings zu der entscheidenden Frage überleiten: Was bedeutet dies für das im Grundgesetz festgelegte Postulat: »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf«? Ist die Hauptaufgabe der deutschen Streitkräfte tatsächlich noch — wie stets von neuem behauptet — Landesverteidigung im herkömmlichen Sinne — zugleich Motivation für den »Staatsbürger in Uniform« (verfassungsrechtlich unbestritten)? Gegen wen richtet sich diese (»wogegen«)? In diesem Zusammenhang sind Zweifel angebracht. Sowohl in der Truppe als auch in der Gesellschaft ist diesbezüglich beträchtliche Verwirrung entstanden, zumal die neuen »Richtwerte« der Bundeswehr doch lauten: Schutz und Bewahren von Frieden, Politik und Bündnisfähigkeit, humanitäre Hilfe und Übernahme von Verantwortung im Rahmen der U N zur Regelung militanter Konflikte. Militärische Planungen von konkreten Einzelfällen wie in der Vergangenheit oder feste Szenarien dürfte es in der N A T O nicht mehr geben.

Auf dem Wege zur Europäischen Sicherheitsgemeinschaft Die »Vorrangigkeit« kollektiver Verteidigung wird auch dadurch in Frage gestellt, daß die längerfristige Orientierung — soweit sie von Politikern und Militärs umschrieben wird, in eine ganz andere Richtung zielt, nämlich in die des Aufbaues einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft, in der von einer gemeinsamen Identität ausgegangen, die Prinzipien der Charta von Paris (1990) und der KSZE als Grundlage betrachtet und für die ein regionales Subsystem kollektiver Sicherheit organisiert werden muß. Zugegebenermaßen sind die Vorstellungen darüber in den Hauptstädten Europas und in den militärischen Stäben noch keineswegs so weit gediehen, daß von einem hinreichenden Gleichklang der Auffassung die Rede sein kann. Absichtserklärungen gibt es genug; desgleichen die Forderung nach Neuinterpretation der verschiedenen Rollen von KSZE, E G , W E U , NATO und der Vereinten Nationen. Aber einmal ganz abgesehen von den damit verbundenen zahlreichen Unklarheiten, die militärischen Planungen innerhalb der Bundeswehr lassen erkennen, daß der Aufbau von hochmobilen Krisenreaktionskräften — fähig zu jedem denkbaren Einsatz von friedensbewahrenden bis zu friedenschaffenden Aktionen — im Mittelpunkt strategischen Denkens steht. Damit deutet sich unmißverständlich die Schwerpunktverlagerung von der kollektiven Verteidigung zur kollektiven Sicherheit an, die ihren Niederschlag im Grundgesetz finden müßte. Denk-

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bar wäre, dem Artikel 87 a (etwa sinngemäß) hinzuzufügen: Der Bund stellt zugleich Streitkräfte für den Einsatz im Rahmen kollektiver Sicherheit auf, über den in jedem Einzelfall der Bundestag (Festlegung des Quorums) entscheidet. Dies würde zugleich eine längst überfällige weitere und erforderliche Legitimationsbasis für die deutschen Soldaten bedeuten. Nichts kennzeichnet die Schwierigkeiten mehr, mit den neuen sicherheitspolitischen Parametern fertig zu werden, als die gegenwärtige verwirrende Debatte über Möglichkeiten und Ziele eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Mit welchen Instrumentarien, auf welchen Wegen und in welchen Etappen sollte und kann das allseits angestrebte neue System verwirklicht werden? Ein System, zu dessen bleibenden Voraussetzungen Stabilität und feste Einbindung der USA und Kanadas sowie der osteuropäischen Staaten und der GSU gehören müßten. Entsprechend dem Vertrag von Maastricht (7.12.1992) sollte eine »echte europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität« und eine »größere europäische Verantwortung in Verteidigungsfragen« angestrebt werden, mit der Westeuropäischen Union als integralem Bestandteil. Freilich ist damit die Frage der künftigen Rolle der osteuropäischen Staaten im Rahmen eines wünschenswerten gesamteuropäischen kollektiven Sicherheitssystems noch keineswegs geklärt. Das Kaleidoskop der Modelle ist vielfältig. Vorerst halten die Partner im Westen an der NATO als Zentrum und Fixpunkt aller Bestrebungen fest. Im Gespräch für die Sicherheits-Architektur der Zukunft ist natürlich die KSZE, unter deren Dach sich möglicherweise die neuen Strukturen einschließlich der Rüstungskontrollmaßnahmen entwickeln könnten. Die Forderung, die Sicherheit aller nicht gegeneinander, sondern nur noch miteinander zu gewährleisten (gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: GASP), müsse verbürgt werden, dürfte weithin Zustimmung finden (mit anderen Worten: das Konzept eines regionalen Subsystems kollektiver Sicherheit). Im Jahre 1992 befindet sich das europäische Staatensystem nach wie vor in einer Phase des Uberganges. Noch kann nicht mit Gewißheit vorausgesagt werden, ob das oben angedeutete erstrebenswerte Ziel als einzig sinnvolle Antwort auf Fehler, Versäumnisse und Tragik der Vergangenheit erreicht wird. Zu viele Schwierigkeiten und Hindernisse müssen erst überwunden werden. Worauf es daher ankommt, ist, gangbare, den jeweiligen politischen Bedingungen angepaßte Wege zu beschreiten, auf denen die erforderliche Richtung eingehalten werden kann, ohne dabei wichtige weiterführende Pfade zu verschütten. Außerdem sollte die Zeit genutzt werden, das Terrain zu planieren und dort richtungweisende Pflöcke einzuschlagen, wo immer dies möglich ist.

Kollektive Sicherheit Vieles spricht dafür, daß militärische Einsätze der Bundeswehr künftig eher im überregionalen Bereich (»out of area«) im Rahmen der Vereinten Nationen bzw. in dem einer »europäischen Option« erforderlich sein werden als im NATO-Bereich. Das vereinte Deutschland ist ein souveräner Staat. Er wird nicht zuletzt aufgrund seiner eingegangenen Verpflichtungen und seiner ökonomischen Stärke mehr weltpolitische Verantwor-

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tung übernehmen müssen. Dabei sollten jedoch die historischen Erfahrungen nicht vergessen werden. Es geht hier nicht um eine Strategie: »The Germans to the front«, sondern um eine Politik internationaler Solidarität, der Glaubwürdigkeit und zum Schutze demokratischer Werte. Die Diskussion über die rechtlichen Voraussetzungen, Bedingungen, Formen und Möglichkeiten hierfür ist in der Bundesrepublik inzwischen voll entbrannt. Diese kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Vielmehr scheint es unumgänglich zu sein, auf einige damit verbundene grundsätzliche Fragen einzugehen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Erst wenn die sich wechselseitig bedingenden Faktoren klarer umrissen worden sind, können die gegenwärtig so kontroversen Fragen aus politischer, militärischer und psychologischer Sicht besser beantwortet werden. Das setzt voraus, zunächst unmißverständlich zu definieren, was unter »Kollektiver Sicherheit« zu verstehen ist. Immer noch herrscht eine weithin ausgeprägte Unsicherheit bei der Verwendung dieses Begriffes in der Öffentlichkeit. Viele Autoren, aber ebenso Politiker, verwechseln häufig Kollektive Sicherheit mit kollektiver Verteidigung und umgekehrt. Im Gegensatz zur kollektiven Verteidigung handelt es sich bei der Kollektiven Sicherheit um ein im Anspruch allumfassendes System der Staatengemeinschaft, in dem jedes Mitglied gegen jedes andere gesichert sein soll. Es richtet sich nicht gegen irgendwelche Koalitionen oder einzelne Staaten oder Blocksysteme, zumal es durch die Anonymität des Aggressors gekennzeichnet ist. Die Universalität dient der Abschreckung eines potentiellen Aggressors. In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, daß diese keineswegs immer die gewünschten Wirkungen erzielt hat, aus Gründen, die hier nicht näher beleuchtet werden können. In der wissenschaftlichen Literatur ist überdies auf die damit verbundene gesamte Problematik eingehend hingewiesen worden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (des zweiten Systems Kollektiver Sicherheit nach dem Völkerbund) stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung (eines somit identifizierten und benannten Aggressors) vorliegt (Art. 39). Dieses globale System zur Wahrung der internationalen Sicherheit kann nur effektiv handeln, wenn alle Mitglieder die mit dem Eintritt in die Gemeinschaft verbundenen, in der Charta festgelegten Prinzipien und Verpflichtungen strikt beachten und die daraus abzuleitenden Verfahrens- und Vorgehensweisen verbindlich akzeptieren. Für den konkreten Fall des Einsatzes von nationalen Streitkräften (oder multinationaler Kontingente) im Rahmen der Vereinten Nationen bedarf es jedoch eines förmlichen Ersuchens des Sicherheitsrates und eines Sonderabkommens. Letzteres ist aber in der Geschichte der Vereinten Nationen noch niemals abgeschlossen worden (vgl. die Artikel 41—43). Zu unterscheiden sind drei Optionen: Einmal die sogenannten »Peace-keeping operations« (Blauhelme — mit Einwilligung der betroffenen Staaten: Bildung von Pufferzonen, Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen usw.). Diese sind zwar nicht durch die UN-Charta gedeckt, sie haben sich aber im Laufe der Zeit als eine Art (improvisiertes) »Gewohnheitsrecht« durchgesetzt. Der Einsatz deutscher Streitkräfte in diesem Fall dürfte politisch weniger — auch in der Bevölkerung — strittig sein.

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Zweitens gibt es militärische Zwangsmaßnahmen (Art. 43) zur Wahrung des Weltfriedens, für die ein Generalstabsausschuß (Stabschefs der ständigen Ratsmitglieder oder deren Vertreter) unter der »Autorität des Sicherheitsrates« die strategische Leitung zu übernehmen hat (Art. 46). Aber nicht einmal im Koreakrieg, der unter der UN-Flagge und dem Oberkommando von General MacArthur geführt wurde — der Rat hatte empfohlen, alle zur Verfügung gestellten Streitkräfte dem amerikanischen Oberkommando zu unterstellen —, ist diese Norm verwirklicht worden. Und drittens sind militärische Sanktionen zu nennen, die vom Sicherheitsrat einstimmig beschlossen worden sind, deren Ausführung aber, je nach Lage, Streitkräften überlassen bleibt, die sich im Rahmen der Verpflichtungen zur Verfügung gestellt haben (Golfkonflikt 1990/91). Die beiden letztgenannten Optionen dürften das eigentliche politische Problem für die deutschen Entscheidungsträger sein. Daß hierbei auch der psychologische Aspekt, nämlich die Einschätzung der deutschen Haltung im Ausland, eine Rolle spielt, haben die Ereignisse um den Golfkrieg gelehrt. Schließlich dürfen in diesem Zusammenhang zwei zusätzliche Gesichtspunkte nicht vernachlässigt werden. Kommen im Bedarfsfalle hierfür nur Freiwillige (eventuell in geschlossenen Verbänden, entsprechend ausgerüstet und ausgebildet — möglicherweise in multinationalen europäischen Verbänden zusammengefaßt) oder (um eine »Zwei-KlassenArmee« zu vermeiden) auch Wehrpflichtige — evtl. wenn sie zustimmen — in Betracht? Und wie sieht es mit der Motivation der Soldaten für einen solchen Einsatz aus, desgleichen mit der Akzeptanz in der Gesellschaft? Die politisch-militärische Führung sollte diese Aspekte nicht unterschätzen. Sie hat Anfang 1991 für die Vernachlässigung dieser so gravierenden Frage eine unliebsame Quittung erhalten, als auf einmal die Zahl der Wehrdienstverweigerer überproportional anschwoll. Innerhalb von wenigen Wochen stieg diese (Januar bis Februar 1991) von 22000 auf rund 31000 an. Ein Grund dafür dürfte in der Tatsache liegen, daß die jungen »Staatsbürger in Uniform« auf einen solchen unerwarteten Auftrag gar nicht innerlich vorbereitet waren und ihnen die Notwendigkeit des Einsatzes in der Kürze der Zeit nicht einsichtig gemacht werden konnte, zumal die meisten von ihnen mit Eid oder Gelöbnis wohl eher den Schutz des eigenen Landes als Verpflichtung verbinden. In der gegenwärtigen Lage — unter den angedeuteten Bedingungen — kommt es darauf an, Maßnahmen zur Vertrauensbildung im Rahmen des Nordatlantischen Kooperationsrates zu fördern. Der 1990 formulierte vielversprechende Grundsatz: »Wir sind nicht mehr Gegner, sondern Partner« müßte in der bisher nur zögerlich eingeleiteten Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und den Armeen Osteuropas — im Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten — fundierter und umfassender verwirklicht werden. Insbesondere wird — wie vielfach gewünscht — Hilfestellung beim Aufbau von Streitkräften in der Demokratie (»Innere Führung«) bei den Nachbarn zu leisten sein, desgleichen eine verbesserte gegenseitige Information und Kommunikation. Zum anderen wäre es bereits heute denkbar, die Erfahrungen des deutsch-französischen Korps z.B. mit den Partnern in Polen, Ungarn und Tschechiens zu erörtern und hieraus denkbare Schlußfolgerungen für gemeinsame Schritte zur Wahrung von Frieden, Freiheit und Recht zu

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ziehen. Es genügt einfach nicht, vorrangig die institutionellen Fragen auf höchster Ebene und entsprechende Lösungsvorschläge zu diskutieren, zugleich müßte der Boden dort aufbereitet werden, wo im militärische Alltag das partnerschaftliche Verhältnis schrittweise zu festigen sein wird. Gewiß braucht es dafür einen langen Atem. Aber auch im Westen hat es schließlich Jahre gebraucht, bis das für die Funktionsfähigkeit des kollektiven Verteidigungsinstrumentes NATO erforderliche Vertrauensverhältnis unter allen Verbündeten hergestellt war. Diese und ähnliche Gedankengänge mögen unserer Zeit vorausgreifen. Kritiker werden mit Recht auf die prekäre Situation auf dem Kontinent verweisen können. Sie werden überdies das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht mit guten Argumenten verteidigen können, vor allem solange eine echte europäische Sicherheitsidentität noch auf sich warten läßt, der Transformationsprozeß in Osteuropa noch nicht den gewünschten Erfolg erkennen läßt und die Zahl der Unbekannten größer ist als die der berechenbaren Faktoren. Wer jedoch die selbstübernommenen Verpflichtungen von KSZE, der Charta von Paris und des Vertrages von Maastricht ernst nimmt, müßte sich viel bewußter auf den Weg zu einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft einstellen. Das künftige neue System verlangt allerdings, in der Verfassungsfrage zu einer eindeutigen Aussage und zu einer rascheren Entscheidung zu kommen. Es wäre verfehlt zu warten, bis eine neue kritische Lage die Stellungnahme der Bundesregierung oder des Parlaments erforderlich machen würde (Beispiel Golfkrieg). Je früher in dieser Schicksalsfrage Klarheit geschaffen werden kann, desto vorteilhafter für die Ausbildung der Truppe, die Planungen und politische Bildungsarbeit in der Gesellschaft, bei der die zusätzliche Motivation einen bevorzugten Platz einnehmen müßte. Alles spricht dafür, daß der Primärauftrag der Bundeswehr in Zukunft eher im Rahmen kollektiver Sicherheit zu sehen sein wird als in dem der historischen Landesverteidigung. Damit würden auch die meisten Argumente, die zur Zeit für die Beibehaltung der bisherigen Wehrform sprechen, immer weniger Geltung beanspruchen können. Diese Annahme führt zur Ausgangsfrage zurück. Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß? Aus heutiger Sicht läßt sich mit einem bedingten Ja antworten, eine andere Wehrform würde im Parlament noch keine Mehrheit finden. Mittelfristig gesehen müßten aber über die möglichen Konsequenzen für den Ubergang von diesem Prinzip zu einem Alternativsystem (ob nun stärker in Mischform oder im Sinne einer einsatzfähigen Berufsarmee unter Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht sei dahingestellt) schon jetzt systematisch nachgedacht werden, vor allem dann, wenn im Zusammenhang mit einvernehmlichen Abrüstungsschritten weitere Reduzierungsmaßnahmen der Bundeswehr (unter 300000 Mann) vorgenommen werden und somit Probleme der Wehrgerechtigkeit und die der sozialen Problematik zu lösen sein werden. Wie könnte ein Ausgleich für die dann nicht mehr zur Verfügung stehenden Zivildienstleistenden geschaffen werden? Wäre die Einführung eines Dienstpflichtjahres mit freier Wahl, ζ. B. für Entwicklungsdienste, ökologische Aufgaben, Sozialdienste und für Streitkräfte eine denkbare, vor allem konsensfähige Lösung? Da davon auch in gleicher Weise die Frauen betroffen sein würden (Gleichheitsgrundsatz), dürfte von dieser Seite wohl die größte Ablehnung zu erwarten sein.

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Für die Zukunft aber ist festzuhalten: Je näher die Verwirklichung eines Systems der Europäischen Sicherheitsgemeinschaft rückt, desto mehr dürfte das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht seine Bedeutung verlieren. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Sicherlich hängt Entscheidendes auch davon ab, wie sich das vereinte Deutschland in den nächsten Jahren behaupten und entwickeln wird, ob es ihm gelingt, die innere Einheit zu verwirklichen, den Herausforderungen am Ende des Jahrhunderts gerecht zu werden, den Aufbau in Osteuropa maßgebend mit zu fördern und zum Abbau der sozioökonomischen Asymmetrien beizutragen. Auf jeden Fall wird der mögliche Aufbau einer zur Zeit noch nicht mehrheitsfähigen Freiwilligenarmee rechtzeitig vorausgeplant werden müssen. Die Europäer bleiben unterdessen aufgefordert, sich für die Verwirklichung einer Sicherheitsgemeinschaft einzusetzen, die dem "Wesen demokratischer, freiheitlicher Lebensordnungen entspricht und dem Frieden aller dient.

Jehuda L. Wallach

Wehrpflicht und Berufsarmee im Alten Testament

Die Beiträge dieses Bandes sind dem Thema Wehrpflicht gewidmet und konzentrieren sich hauptsächlich auf das 19. und 20. Jahrhundert. Trotzdem ist der Verfasser der Meinung, daß es sich lohnt, etwas mehr als dreitausend Jahre zurückzublicken, um festzustellen, daß »es nichts Neues unter der Sonne gibt«, daß die hier behandelte Problematik uralt ist und sogar unsere modernen Auffassungen in sich birgt.

Modelle der Streitkräfte des Altertums Der vor einigen Jahren verstorbene israelische Militärhistoriker und Gründer der israelischen Militärzeitschrift, Oberst i. G. Dr. Eliezer Galili, formulierte im Epilog zum Sammelband »Militärgeschichte des Landes Israel in biblischen Zeiten«1 fünf Modelle von Streitkräften der hier behandelten Periode, ausgehend von den Streitkräften der hochentwickelten Staaten und endend mit den primitivsten Gesellschaftsformen. 1. Heere der großen Imperien — In jener Zeit waren die bekanntesten die Armeen Ägyptens und Assyriens. Zu dieser Kategorie gehörte aber noch eine Reihe von anderen Staaten, die im alten Testament erwähnt sind. 2. Heere mittelgroßer Reiche — Zu diesen zählte auch Israel unter der Herrschaft der Könige David und Salomon sowie Damaskus-Aramäa. Diese Reiche versuchten, die großen Imperien nachzuahmen, waren aber wegen der begrenzten sozio-ökonomischen Grundlage ihrer Armeen in der Hauptsache doch nur zweitrangig. 3. Streitkräfte der Stadtstaaten — Tatsächlich beschränkte sich der Herrschaftsbereich dieser Stadtstaaten auf die landwirtschaftlich genutzte nähere Umgebung. Dieser Kategorie gehörten die »Königreiche« Kanaans vor der israelischen Eroberung, die kanaanitischen Enklaven im Lande nach der Eroberung, auch gewisse kleinere Staatengebilde in Syrien und die phönizischen Stadtstaaten an der Mittelmeerküste an. Es ist nicht immer leicht, eine genaue Trennungslinie zwischen dieser und der voranstehenden Kategorie zu ziehen, obwohl selbstverständlich Unterschiede bei den zur Verfügung stehenden Ressourcen bestanden. 4. Völker; die noch nicht zur Staatenbildung gelangt waren — Solche waren zwar schon permanent in gewissen Landstrichen ansässig und hatten, trotz einer noch fehlenden politischen Organisation, bereits eine gewisse ordnungspolitische Einheitlichkeit innerhalb 1

The Military History of the Land of Israel in Biblical Times (hebräisch), ed. by Jacob Liver, Tel Aviv 1965.

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des Stammes. Israel vor der Schaffung des Königreiches ist dafür das beste Beispiel, obwohl nicht das einzige. Bei diesen Völkern war die gesellschaftliche und »militärische« Lebensgrundlage in der Hauptsache noch einheitlich, aber es begannen sich in dieser stämmischagrarischen Gesellschaft schon gewisse Differenzierungsprozesse abzuzeichnen. Infolgedessen bildeten sich schon militärische Einheiten, die sich loyal um bekannte und einflußreiche Persönlichkeiten scharten. 5. Nomadenstämme — Die Ägypter mußten sich mit solchen Stämmen auseinandersetzen. Zu ihnen gehörten u. a. die assyrischen Stämme im Grenzgebiet Syriens und Mesopotamiens, die midianitischen und amalekitischen N o m a d e n , gegen die Israel zur Zeit der Richter kämpfte, und später auch arabische Stämme bei ihrem ersten Auftreten gegen das assyrische Imperium. Obwohl eine gewisse Ähnlichkeit mit dem voranstehenden Modell besteht, gibt es dennoch besondere Charakteristika des Nomadentums: Jedes einzelne Individuum ist Kämpfer oder Räuber, und Stammeshäuptlinge oder Stammesfürsten sind die geborenen Führer bei Uberfällen und allen kriegerischen Tätigkeiten. Übrigens wies Galiii darauf hin, daß seine Grenzziehung zwischen diesen Modellen schematisch und deshalb auch sehr willkürlich ist. Wir sind aber trotzdem der Auffassung, daß das hier vorgeschlagene Schema der Analyse nützlich ist.

Die Militärorganisation des Exodus (13. Jahrhundert v.Chr.) Die Anführer des Auszuges der Kinder Israels aus Ägypten (Mizrajim) mußten selbstverständlich auch daran denken, diesen Exodus »mit Kind und Kegel« militärisch zu schützen, sowohl gegen die ägyptischen Verfolger als auch gegen mögliche Feinde auf dem Weg nach dem Land Israel. Die Bibel hat die Schaffung dieser ersten israelischen Armee ausführlich dokumentiert 2 . Wir erfahren dort, daß Moses und Aharon diese Armee auf der Grundlage der bestehenden Organisation der Stämme aufbauten: »Nehmet auf die Zahl der ganzen Gemeinschaft der Kinder Israel nach ihren Geschlechtern, nach ihren Stammhäusern, durch das Zählen der N a m e n aller Männlichen nach den Köpfen; vom zwanzigsten Jahre und darüber, jeglichen, der zum Heer ausziehet in Israel; diese sollt ihr mustern nach ihren Schaaren ...« (Numeri, 1:2—3). Folglich war jedes männliche Stammesmitglied, das fähig war, Waffen zu tragen, vom zwanzigsten Lebensjahr an verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Wir finden hier auch die Ansätze einer Stabsorganisation. Es heißt dort: » U n d bei euch sei je ein Mann für den Stamm, der das Haupt seines Stammhauses ist.« (Numeri, 1:4). Darauf folgt eine Aufzählung der Männer von jedem Stamm, die mit Moses und Aharon diesen Stab bildeten. Daraus geht hervor, daß die Oberhäupter der Stämme diese sowohl im Frieden als auch im Krieg führten. Laut N u m e r i 1:46 belief sich die Stärke dieses Heeres auf 603 550 Mann. Dabei handelte es sich aber nicht u m einen losen Haufen, sondern u m ein hierarchisch gegliedertes Heer: » U n d Moscheh 2

Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift — nach dem masoretischen Texte, übersetzt von Dr. Zunz, Frankfurt a.M., 13. Aufl. 1893.

Wehrpflicht und Berufsarmee im Alten Testament

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[Moses] wählte tüchtige Männer aus ganz Israel und setzte sie zu Häuptern über das Volk, Obere über Tausend, Obere über Hundert, Obere über Fünfzig und Obere über Zehn.« (Exodus, 18:25). Wir irren wohl nicht, wenn wir annehmen, daß diese Struktur darauf hinweist, daß die Streitkräfte in Einheiten gegliedert waren, die Bataillonen, Kompanien, Zügen und Gruppen glichen. Die Bibel macht auch deutlich, daß zu dieser Zeit des Exodus das israelische Heer eine reine Infanteriearmee war. Im Gegensatz zu der späteren Entwicklung in der westlichen Welt, in der mit dem Auftreten von Monarchien und des Absolutismus die demokratischen Institutionen des Volkes eingeschränkt wurden, blieben diese in der israelischen Gesellschaft selbst unter der monarchischen Herrschaftsform mittelbar oder unmittelbar einflußreich. Das ausgleichende Gegengewicht bildeten die Propheten!

Die Kriege der Richter (12.-11.Jahrhundert v.Chr.) Nach der Besetzung des Landes Kanaan durch die israelitischen Stämme blieben gewisse Enklaven der kanaanitischen Bevölkerung erhalten, und zusätzlich drangen die sogenannten Seevölker (die Philister) in die Küstenebene ein. Das Land stellte zu dieser Zeit noch keineswegs ein zusammenhängendes Staatengebilde dar, sondern ein loses Gefüge von Stämmen und Sippen, ohne zentrale Institution und folglich auch ohne eine zentral gesteuerte Streitmacht. Man sollte auch nicht vergessen, daß es sich hier um den Zusammenstoß einer nomadischen Gesellschaft — der israelitischen Stämme — mit einer seßhaften, teilweise bereits Urbanen Gesellschaft — den Kanaanitern — handelte. Die hauptsächliche Stärke der Kanaaniter manifestierte sich in ihren befestigten Städten, die in den meisten Fällen in der Lage waren, dem Ansturm der Nomadenstämme die Stirn zu bieten, solange ihre Verteidiger hinter den Stadtmauern verharrten. Auf diese Weise aber konnten sie andererseits die Eroberer des Landes nicht unterwerfen. U m dieses Ziel zu erreichen, waren sie gezwungen, zwei Schritte zu unternehmen, nämlich erstens ein Bündnis der verstreuten Städte zu erreichen und zum anderen Angriffswaffen zu entwickeln. Das Alte Testament berichtet, daß zur Zeit der Richter beide Wege eingeschlagen wurden. Bündnisse der kanaanitischen Städte entstanden, und diese Militärbündnisse bildeten mobile und gepanzerte Streitkräfte aus, deren Kern aus Streitwagen bestand. Diese ermöglichten es — um moderne Militärsprache zu benutzen —, das ebene Gelände zu kontrollieren, die Verbindungswege zwischen den verstreuten Städten zu sichern, dadurch den Handel zu schützen, israelitische Angreifer zu verfolgen und im offenen Kampf das eigene Fußvolk entscheidend zu unterstützen. Wie bereits erwähnt, bestand die israelische Streitmacht lediglich aus einer lockeren Stammeskoalition. Die Kohäsion eines solchen Verbundes wurde nunmehr durch die Existenz der sogenannten Richter gefestigt. Wir dürfen annehmen, daß diese Institution in der Ubergangsphase vom Nomadentum zur Staatsgründung keine konstitutionelle Grundlage besaß, sondern daß es sich dabei um die generelle Anerkennung charismatischer Führerpersönlichkeiten handelte.

Gestalt eines Kanaaniters (Ausgrabung in Chazor/Galilaea)

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Wehrpflicht und Berufsarmee im Alten Testament

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"Damals kämpften Kanaans Könige zu Taanach än den Wassern Megiddos" (Richter 5. 19).

Der Aufmarsch zur Schlacht am Berg Tabor

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Als hervorstechendes Beispiel kann der Krieg der Richterin Deborah dienen, einer Frau, die in der Bibel auch als Prophetin bezeichnet wird. Dies zeigt, daß sie hohes Ansehen besaß und eine besondere Stellung einnahm. Wir wissen, daß die Kinder Israels zu dieser Zeit bereits 20 Jahre unter der Bedrohung und dem Druck des Königs Jabin litten. Dieser Herrscher, der in der Bibel »König von Kanaan« genannt wird, war Oberhaupt des kanaanitischen Städtebündnisses, und sein Heerführer Sisra verfügte über nicht weniger als 900 eiserne Wagen (Richter, 4:2—3). Aus dem uns vorliegenden Text ist ersichtlich, daß die Prophetin-Richterin Deborah zu dem Entschluß kam, dieser Situation ein Ende zu setzen. Deshalb suchte sie einen geeigneten militärischen Führer für den von ihr beabsichtigten Feldzug und fand ihn auch; er sollte die Israeliten vom Joch der Kanaaniter befreien. Zur Durchführung ihres Planes befahl sie ihm, 10000 Mann der Stämme Naftali und Sebulun auf dem Berg Tabor zusammenzuziehen. Dieser Entschluß fußte auf der richtigen Überlegung, daß das israelische Heer nicht aus regulären Truppen bestand, sondern aus Milizionären mit nur leichter Bewaffnung und keiner formalen Ausbildung zum Kampf; dagegen bestanden die kanaanitischen Truppen sowohl aus mobilen Streitwagen-Einheiten wie auch aus schwerbewaffnetem Fußvolk, die im Zusammenwirken ausgebildet waren. Es war folglich richtig, die Truppen des israelischen Befehlshabers Barak auf einem Berg zu sammeln, um der Gefahr eines Streitwagenangriffs vorzubeugen, dabei eine beherrschende Beobachtungsstellung einzunehmen und sich eine passende Ausgangsposition für einen Angriff auf die im Tal Esdarelon zu erwartende feindliche Operationsbasis zu verschaffen. Der im Buch der Richter zitierte Siegesgesang der Deborah zeigt auch, daß zusätzliche Stämme zu den Waffen gerufen wurden, um Flankenangriffe auf den anmarschierenden Feind auszuführen. Sisras Heer wurde völlig vernichtet. Die Konfrontation der ansässig gewordenen israelitischen Stämme mit einem mächtigeren Feind — den Philistern — löste im Volk das Gefühl aus, daß die bestehende Militärstruktur angesichts dieser Bedrohung nicht mehr genüge. Aus dem 1. Buch Samuel (8:20) erfahren wir, daß die Forderung laut wurde: »Daß auch wir seien, wie all die Völker, und unser König uns Recht spreche, und vor uns herziehe und unsere Kriege führe.« Samuel, trotz seiner Abneigung gegen einen solchen Schritt, gab nach und ernannte Saul zum König. Diese Wahl beruhte nicht allein auf dem Ansehen Sauls, sondern war auch politisch bedingt durch die Tatsache, daß er aus dem kleinsten der Stämme — Benjamin — kam. Saul befahl die Aushebung von 330000 Mann für seinen Krieg gegen die Philister (ebd., 11:8). Er ging sogar noch einen Schritt weiter und baute ein stehendes Heer von 3000 Mann auf. Diese Berufstruppe teilte er in zwei Abteilungen: 2000 Mann kommandierte er selbst, und 1000 standen unter dem Befehl seines ältesten Sohns Jonatan (ebd., 13:2). Die Schaffung dieses stehenden Heeres ermöglichte es Saul, die Ausgehobenen vorerst nach Hause zu schicken (ebd.).

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Die Heeresstruktur des Königreiches Als David nach Sauls Tod auf dem Schlachtfeld zum König ernannt wurde, übernahm er die obengenannte Struktur der Streitkräfte: einerseits die allgemeine Dienstpflicht der Volksmiliz — um hier moderne Begriffe zu benutzen — und andererseits eine Berufstruppe als Hausmacht. Letztere bestand nun aus zwei Korps: 1. Die sogenannten »Starken des Heeres«, eine ihm direkt unterstehende loyale Elitetruppe, die sich bereits vor seiner Krönung um ihn geschart hatte; und 2. als ein völlig neues Element eine Truppe fremde Söldner. Es wird angenommen, daß diese aus fremden Stämmen Tansjordaniens angeworben wurde. Die bewaffneten Streitkräfte des Königreiches bestanden noch immer in der Hauptsache aus Infanterie, wie uns I. Chronik 12 berichtet. Wir erfahren dort aber auch, daß bestimmte Stämme sich auf besondere Infanteriewaffen spezialisierten: so waren etwa die Benjaminiten »Bogenbewaffnete, die mit der Rechten und der Linken Steine schleuderten und Pfeile von dem Bogen« (ebd., 12:2); die Männer aus dem Stamme Gad waren »gerüstet mit Schild und Lanze, wie Löwen anzusehen, und gleich Gazellen auf Bergen an Schnelle« (ebd., 12:8); die Söhne des Stammes Jehudah trugen »Schild und Lanze« (12:24), und auch die Kämpfer des Stammes Naftali waren mit »Schild und Spieß« ausgerüstet (12:34), während die Söhne des Stammes Sebulum »die zum Heer auszogen, zur Schlacht geordnet mit allem Kriegsgerät [...] kampfbereit waren [...]« (12:33). Es scheint auch, daß der Stamm Jisachar im Ostjordanland sich auf den Nachrichtendienst spezialisierte, denn es heißt dort, daß seine Söhne »Einsicht hatten in die Zeiten, zu wissen, was Jisrael tun muß« (12:32). So mag es nicht verwundern, daß David nach seiner Krönung und angesichts der noch immer bestehenden militärisch prekären Lage seines Landes genau wissen wollte, welche Streitkräfte zu seiner Verfügung standen, und deshalb eine Volkszählung befahl (II. Samuel, 24:1—9, und auch I.Chronik, 21:1—5). Die Bibel berichtet uns aber in diesem Zusammenhang, daß Joab, der Befehlshaber des Heeres, der vom König mit dieser Volkszählung beauftragt worden war, dagegen protestierte. Der weltberühmte Archäologe und zweiter Chef des Generalstabes der ZAHAL (Verteidigungsarmee Israels — IDF), Generalleutnant Yigael Yadin, erklärt diese seltsam anmutende Handlungsweise damit, daß Joab, ein Vertreter des Berufsheeres, sich gegen die Neigung seines Staatsoberhauptes wandte, ein Miliz- oder Reservistenheer zu schaffen. Da zu allen Zeiten ein gewisser Antagonismus zwischen den Befürwortern von Berufsarmeen und denen von Milizarmeen bestand und besteht, scheint diese Erklärung plausibel zu sein3. Joab mußte schließlich nachgeben. Das Resultat der Zählung war: »Und Joab gab die Zahl des gemusterten Volkes dem Könige; und da war Jisrael achthundert tausend streitbare Männer, die das Schwert ziehen konnten, und die von Jehudah fünfhundert tausend Mann« (II. Samuel, 24:9); die Zahlen der I. Chronik sind etwas unterschiedlich: »... da war ganz Jisrael tausend mal tausend und hundert tausend Männer, die das Schwert ziehen konn3

Yigael Yadin, The A r m y Reserves of David and Salomon (hebräisch), in: Maarachoth 101 (Juni 1956), S. 9—21; ebenso in: Military History (wie Anm. 1), S. 350—361.

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ten, und Jehudah vierhundert und siebenzig tausend Mann, die das Schwert ziehen konnten« (21:5). Uber die von David durch die Musterung eingeführte Organisation, die, wie ersichtlich, rein militärischen Zwecken gedient hatte, berichtet I. Chronik, 27:1, folgendermaßen: »Und die Kinder Jisrael nach ihrer Zahl — die Stammhäupter und die Oberen über Tausend und über Hundert, und ihre Vögte, die den König bedienten in allen Angelegenheiten der Abteilungen, der eintretenden und der abgehenden, Monat für Monat in allen Monaten des Jahres: jede Abteilung vier und zwanzig tausend.« Es ist offensichtlich, daß der König für alle Fälle ein Monatsaufgebot der Reservearmee unter Waffen haben wollte. Es handelte sich also um eine Reservearmee mit dem regelmäßigen aktiven Dienst eines jeden Soldaten von einem Monat pro Jahr, zusätzlich zu dem permanent unter Waffen stehenden Berufsheer. Die Stärke dieser monatlich aufgebotenen Abteilung betrug 24000 Mann, und aus dem diesem Zitat folgenden Bibeltext ist ersichtlich, daß jede dieser zwölf Abteilungen von einem bestimmten Kommandeur geführt wurde. Wenn es auf den ersten Blick auch scheinen mag, daß jede dieser Abteilungen mit einem der zwölf israelitischen Stämme identisch war, so trifft dies wahrscheinlich nicht zu. Vielmehr war jede Abteilung aus sämtlichen Stämmen zusammengesetzt, ein Umstand, der die monatlich unter Waffen stehende Abteilung über das ganze Land verteilte. Die Zahl der Abteilungen — zwölf — war demnach nicht durch die Zahl der Stämme bedingt, sondern durch die Zahl der Monate im Kalenderjahr. Aus dem Text ist auch ersichtlich, daß die Kommandeure der Abteilungen aus dem Berufsheer kamen — sie gehörten zu den bereits erwähnten »Starken des Heeres«. Trotzdem vernachlässigte David die auf die Stämme gestützte militärische Organisation nicht, wie aus I. Chronik, 27:16—22, hervorgeht. Das gleichzeitige Bestehen beider Institutionen ermöglichte es dem König, ein flexibles Milizsystem zu unterhalten. Jede der zwölf monatlichen Abteilungen rekrutierte sich aus festen Kontingenten der Stämme (Provinzen), die wahrscheinlich aus den besser ausgebildeten Teilen der Stammesmilizen bestanden. Der König hatte damit die Möglichkeit, sowohl das ganze Milizheer zu den Waffen zu rufen, als auch nur je eine Abteilung pro Monat. Wahrscheinlich konnte er in ruhigen Zeiten die monatliche Abteilung nur in Bereitschaft halten, ohne sie einzuziehen. Andererseits vermochte auch das jeweilige Stammesoberhaupt im Falle eines lokalen Notfalles sofort seine Stammesmiliz zu mobilisieren, ohne dazu der Zustimmung der militärischen Zentralbehörde zu bedürfen. David sah sich vermutlich veranlaßt, dieses doppelte System der Miliz einzuführen, nachdem er die Erfahrung gemacht hatte, daß die bisher übliche Methode, die auf der Mobilisierung der einzelnen Stämme beruhte, im Notfalle nicht immer schnell genug funktionierte. So erfahren wir im II. Samuel im Zusammenhang mit einer Revolte: »Und der König sprach zu Amasa: Entbiete mir die Männer Jehudah's binnen drei Tagen, und du, stelle dich hier ein. Und Amasa ging, Jehudah zu entbieten, und zögerte über die Frist, die er ihm bestimmte« (20:4—5). Zweifellos waren es Fälle wie der hier erwähnte, die eine Revision des Mobilmachungsprozesses durch David veranlaßten. Dieses ausgeklügelte Milizsystem mußte selbstverständlich mit einem adäquaten logistischen System untermauert sein. Aus dem I. Buch Könige erfahren wir, daß Salomon

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»zwölf Vorsteher über ganz Jisrael [hatte], und die verpflegten den König und sein Haus; einen Monat im Jahr lag es jedem ob, zu verpflegen« (4:7). Und im folgenden Kapitel steht zu lesen: »Und es verpflegten diese Vorsteher den König Schelomoh [Salomon] und alle, die zum Tische des Königs Schelomoh kamen, ein jeder in seinem Monat, sie ließen es an nichts fehlen. Und die Gerste und das Stroh für die Pferde und für die Renner brachten sie an den Ort, wo es hingehörte, jeder nach seiner Vorschrift« (ebd., 5:7—8). Wir dürfen annehmen, daß diese Anordnung, die der Organisation der Miliz unter David gleicht, ebenfalls aus der Zeit Davids stammt. In der Tat berichtet der Chronist, wie David die administrativen Probleme gelöst hatte. Er ernannte Beamte (oder Minister), die folgende wirtschaftliche Bereiche verwalteten: »... über die Schätze des Königs«, »über die Vorräte auf dem Lande, in den Städten und in den Dörfern und in den Türmen«, »über die Feldarbeiten«, »über die Weinberge« und »über die Vorräte an Wein in Weinbergen«; »über die Ölbäume« und »über die Vorräte an Öl«; »über die Rinder« (diese waren anscheinend so wichtig, daß mit ihrer Verwaltung zwei regionale Beamten beauftragt waren), »über die Kamele«, »über die Eselinnen« und letztlich auch »über die Schafe« (I.Chronik, 27:25—31). Solche logistischen Maßnahmen sicherten den Unterhalt des königlichen Haushaltes und der Streitkräfte. Unter Salomons weiser Herrschaft entwickelten sich die israelischen Streitkräfte zunehmend fortschrittlich. »Und Schelomoh brachte zusammen Wagen und Reiter, und er hatte tausend und vierhundert Wagen, und zwölf tausend Reiter, und er legte sie in WagenStädte, und bei dem König in Jeruschalajim« (I. Könige, 10:26). Aus dem zweiten Teil dieser Information ist klar ersichtlich, daß die Schaffung dieser »gepanzerten« Waffengattung die Errichtung von Wagen-Städten bedingte, in denen die Pferde und Streitwagen untergebracht waren, zusammen mit allen notwendigen Unterstützungsdiensten — Veterinäre, Hufschmiede, Wagenschmiede, Sattler usw. — und den dazu gehörenden Getreide- und Strohmagazinen. Man muß auch annehmen, daß diese neue Waffengattung dazu führte, daß das Element der Berufssoldaten zunahm und möglicherweise auch der Anteil der fremden Söldner. U m die Streitwagen zu unterstützen, mußte Infanterie ausgebildet werden, die mit ihnen zusammen operieren konnte, also eine Art antiker »Panzergrenadiere«. Der in der Bibel in diesem Zusammenhang erwähnte Ausdruck »Läufer« muß wohl in diesem Sinne verstanden werden. Die Bibel gibt uns eine bruchstückhafte Liste der von Salomon erbauen Wagen-Städte, und archäologische Ausgrabungen (z.B. in Megiddo und Hatzor) bestätigen diese Information. Es ist offensichtlich, daß Städte dieser Art an strategisch wichtigen Punkten gebaut wurden. Nach der Teilung des Landes in zwei Königreiche — Juda und Israel — führte König Usijahu von Juda (809—758 v.Chr.) ein neues Element in die Struktur der Streitkräfte seines Landes ein. Da unter seiner Herrschaft das Reich auf den ganzen Negev, einschließlich der Hafenstadt Elat, ausgeweitet wurde, mußte er Mittel und Wege finden, dieses Territorium militärisch verteidigen zu können. Die etwas lakonisch anmutende Aussage des Chronisten »und [Usijahu] bauete Türme in der Wüste, und hauete viele Gruben aus, denn er hatte viele Herden, so in der Niederung als in der Ebene, Ackerleute und Winzer [...]« (II. Chronik, 26:10), läßt den Schluß zu, daß Usijahu den Negev durch eine örtliche Miliz in einen ausreichenden Verteidigungszustand gebracht hatte. Mit anderen

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Worten: Durch die Schaffung von Wehrdörfern in dieser Region wurde das Gebiet gesichert und verteidigt. Archäologische Ausgrabungen haben diese Annahme bestätigt. Usijahu hat auch die Institution eines Generalstabes weiter entwickelt. Der Chronist berichtet uns: »Und Usijahu hatte ein Heer Kriege zu führen, die ins Feld zogen in Scharen nach Anzahl ihrer Gemusterten, durch Jeiel den Schreiber und Maaßejahu den Vogt, unter Aufsicht Chananjahu's von den Fürsten des Königs« (ebd., 26:11). Nach modernen Begriffen war Chananjahu zweifellos der Chef des Generalstabes, Jeiel, »der Schreiber«, der Generaladjutant oder G 1 nach angelsächsischer Nomenklatur, während Maaßejahu die Ausführung der Befehle des Generalstabes beaufsichtigte und wohl auch als Generalquartiermeister fungierte. Uber Usijahus Heer berichtet uns der Chronist: »Die ganze Zahl der Stammhäupter von den Starken des Heeres: zwei tausend sechs hundert«, was anscheinend eine Abnahme des Berufsheeres bedeutete, »und unter ihnen ein diensttuendes Heer von drei hundert und sieben tausend fünf hundert Kriegführenden mit Heereskraft, dem König beizustehen gegen den Feind«. Wir erfahren auch, daß der König großen Wert auf eine zentrale Beschaffung von Waffen legte — Schilde, Wurfspieße, Helme, Harnische, Bogen und Schleudern — und selbst besondere Waffen entwickeln ließ: »Und er machte in Jeruschalajim künstliche Werke, erdacht von einem Künstler, daß sie seien auf den Türmen und auf den Zinnen, um zu schießen mit Pfeilen und mit großen Steinen ...« (ebd., 26:12—15).

Die Militärorganisation der Makkabäer — vom Kleinkrieg zum Stehenden Heer Wir machen nun einen Sprung von etwa 400 Jahren. In der Tat bestanden seit der Zerstörung des ersten Tempels keine jüdischen bewaffneten Streitkräfte mehr. Es gibt aber genügend historische Zeugnisse, die beweisen, daß Juden zu dieser Zeit in allen Armeen des Vorderen Ostens als Söldner gedient haben. Man kann deshalb zu Recht annehmen, daß, als Judas Makkabäus das Banner der Revolte gegen die Seleukiden erhob, kein Mangel an jüdischen Freiwilligen bestand, die im Waffenhandwerk bewandert waren. Die Waffen jedoch, die in der Anfangsphase des Aufstandes den Kämpfern der Makkabäer zur Verfügung standen, waren zweifellos nur leichte Infanteriewaffen, wahrscheinlich von der primitivsten Art. Sie gehörten zum üblichen Gerät, mit dem die Bauern im täglichen Leben ihre Herden und Ernten schützten: die Keule und die Schleuder. Dies hatte aber den Vorteil, daß die Bauern in der Handhabung dieser Waffen geübt waren, und zusätzlich ermöglichten sie den jüdischen Guerrillakämpfern einen hohen Grad von Mobilität. Diesem Waffenarsenal sind noch selbstgemachte Nahkampfwaffen — Dolche und Kurzschwerter — hinzuzufügen. Wie in jedem Guerrillakrieg üblich, wurde jedoch das wichtigste Kriegsgerät vom Feind »erworben«. Es ist klar, daß nicht alle Waffen, die die seleukischen Hopliten auf ihrer Flucht vom Schlachtfeld wegwarfen, den jüdischen Partisanen nützlich waren: Was konnten diese mit der schweren Sarissa (5—6 m langer Speer), mit den riesigen Schilden oder schwerfälligen Panzern anfangen? Die jüdischen Bauern, die sich um das hasmonäische Banner sammelten, benutzten auch »unkonventionelle«

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Waffen. So teilt uns die Bibel mit, daß die Bauern aus den umliegenden Dörfern die vom Schlachtfeld flüchtenden syrischen Söldner mit Sicheln, Sensen, Beilen und Heugabeln buchstäblich »niedermähten«. In der Anfangsphase hatte der Aufstand keine klar umrissene Organisation, und man kann die Rebellenkräfte nicht mit einem regulären Heer vergleichen. Judas Makkabäus sammelte eine Gruppe von treuen Anhängern um sich. Je nach Bedarf wurde dieser harte Kern durch Freiwillige aus der jeweiligen Umgebung des Kampfes verstärkt, die dann nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzung wieder in ihre Dörfer zurückkehrten. Erst in einem späteren Stadium, als die Erfolge der Hasmonäer einen ständigen Strom von Freiwilligen in deren Lager zur Folge hatte, führte Judas feste Organisationsformen ein. Es heißt im Alten Testament: »Darauf setzte Juda ein Führer des Volkes über tausend, und über hundert, und über fünfzig und über zehn« (I. Makkabäer, 3:55). Während der ganzen Kampfperiode nahm Judas davon Abstand, die in der damaligen Zeit in den regulären Armeen üblichen weiteren Waffengattungen einzuführen. Seine Armee blieb eine reine Infanteriearmee, und die anderen Truppengattungen, ζ. B. die Kavallerie, wurden erst im Heer der nachfolgenden Hasmonäer-Dynastie geschaffen. Aus dem Bibeltext lernen wir allerdings, daß Judas größten Wert auf den Nachrichtendienst legte. Erhebliche Unterschiede zeigten sich hinsichtlich der Motivation der Kämpfer. Die seleukischen Söldner kämpften für Sold und Beute, es fehlte ihnen in der Tat jede nationale Identität. Ihnen gegenüber standen die jüdischen Partisanen, die für eine Idee kämpften: ihre Religion und nationale Freiheit. Man sollte aber nicht übersehen, wie schwierig es war, friedliche Bauern, die nichts anderes wollten, als ungehindert ihren Boden zu bearbeiten, in den Kampf gegen ausgebildete Truppen zu führen. Die allmähliche Entwicklung kleiner begrenzter Aktionen zu großangelegten Zusammenstößen ermöglichte es Judas Makkabäus, seine Truppen zu schulen. Dieser Prozeß wird vom Chronisten des II. Makkabäer (8:1—7) folgendermaßen berichtet: »Iuda aber, der Makkabäer, und seine Begleiter gingen heimlich in die Dörfer, ermahnten ihre Stammesgenossen, und nahmen die im Judentum Verbliebenen mit sich, gegen sechstausend. Und sie flehten den Herrn an, daß er sich des von Allen zertretenen Volkes annehme, und daß er sich des von gottlosen Menschen entweihten Tempels erbarme. Daß er sich auch erbarme der zerstörten Stadt, die fast dem Erdboden gleich gemacht, und daß er das zu ihm schreiende Blut erhöre [...]. Da nun der Makkabäer eine Schar um sich gesammelt hatte, war er den Heiden unwiderstehlich [...] Städte und Dörfer überfiel er unversehens und zündete sie an, und passende Gelegenheiten auswählend besiegte er nicht wenige Feinde, und jagte sie in die Flucht. Besonders nahm er die Nächte zu solchen Uberfällen zur Hilfe, und der Ruf seiner Tapferkeit verbreitete sich nach allen Seiten.«

Der beste Kenner der Kriege der Makkabäer, der moderne Forscher Bezalel Bar-Kochva4, faßt die zwei Phasen der hasmonäischen Heeresentwicklung folgendermaßen zusammen: Die Form der hasmonäischen Revolte ist identisch mit der aller revolutionären Kriege und Freiheitskämpfe, wie sie von den Militärtheoretikern anhand solcher Kriege im 20. Jahrhundert analysiert wurden: Die Revolte lief in zwei Hauptphasen ab. In der ersten Phase, in der die Rebellen nur geringen territorialen Halt besaßen, trug der Kampf den Charakter eines Guerrilla-Krieges. In der zweiten Phase, nachdem ein Teil der territoria4

Bezalel Bar-Kochva, Judas Maccabaeus. The Jewish Struggle against the Seleucids, Cambridge 1989.

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len Ziele erreicht worden war, wurden die Streitkräfte zum Abfangen großer Eroberungsexpeditionen des Reiches und zur Verteidigung des Erreichten in Großeinsätzen unter Anwendung moderner Methoden, Waffen und Kampfgliederung der damaligen Zeit organisiert 5 . Was diese zweite Phase betraf, fand Bar-Kochva, daß bereits in diesem frühen Stadium der Geschichte (zwei Jahrhunderte v. Chr.) eine Erscheinung zutage trat, die seither von allen nationalen, aus dem Untergrund auftauchenden Befreiungsbewegungen wiederholt wurde, nämlich, daß »Armeen, die sich an konventionelle Kampfmethoden gewöhnt haben, es schwierig finden, wieder zur Guerrilla-Kriegführung zurückzufinden, deren sie sich vorher bedient hatten« 6 . In der Tat ist eine Reihe von Fehlschlägen der neuen hasmonäischen Armee im offenen Kampf mit den Seleukiden auf diese Rechnung zu setzen. Wir hoffen, es ist gelungen zu beweisen, daß das Studium der Bibel auch für den modernen Militärhistoriker und Militärtheoretiker keine Zeitverschwendung ist und daß es — wie anfangs erwähnt — wirklich »nichts Neues unter der Sonne gibt«.

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Ebd., S. 403 (Übersetzung durch den Verf.). Ebd., S. 404 (Ubersetzung durch den Verf.).

Teil II Wehrpflicht in Deutschland

Helmut Schnitter

Die überlieferte Defensionspflicht. Vorformen der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland

Die allgemeine Wehrpflicht, die 1814 in Preußen, später auch in anderen Staaten des Deutschen Bundes eingeführt und 1871 in die Militärverfassung des Kaiserreiches übernommen wurde, hat tiefe historische Wurzeln. Sie reichen bis in das frühe Mittelalter zurück; allerdings waren das konkret-historische Bezugssystem, die Gestalt und die Formen der militärischen Dienstpflicht von Landeseinwohnern in diesen Jahrhunderten verschiedenfachen Wandlungen unterworfen. Die Wehrgesetze, die im 19. Jahrhundert die allgemeine Wehrpflicht festschrieben und im europäischen Rahmen auch als Vorbild wirkten, fußten auch in überlieferten Vorstellungen und in der Erinnerung an militärische Institutionen, die in der Aufgabe der Landesverteidigung Pflicht und Recht der Einwohner sahen. Aus dieser geschichtlichen Sicht kommen der mitelalterlichen Landfolge und den frühneuzeitlichen Defensionswerken in deutschen Ländern Bedeutung zu, können diese Einrichtungen doch — in den Grenzen ihrer Zeit — als Vorstufen der späteren allgemeinen Wehrpflicht betrachtet werden1. Dabei ist jedoch nicht die Schwelle zu übersehen, die zwischen der Defensionspflicht der frühen Neuzeit und der allgemeinen Wehrpflicht der modernen Zeit nach 1789 mit ihren Bezügen zur Demokratie und zum Staatsbürger — nicht mehr Untertan! — liegt. Die aus dem frühen Mittelalter überlieferte Landfolge war ursprünglich vor allem die Pflicht von Landeseinwohnern, in Kriegszeiten, vornehmlich beim Einfall fremder Heere, 1

Zur Landesdefension in der deutschen Militärgeschichte vgl. Eugen von Frauenholz, Das Heerwesen in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, 2. Teil: D i e Landesdefension, München 1939; Gerhard Oestreich, Zur Heeresverfassung der deutschen Territorien von 1500—1800. Ein Versuch vergleichender Betrachtung, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 290—310; Helmut Schnitter, Volk und Landesdefension. Volksaufgebote, Defensionswerke, Landmilizen in den deutschen Territorien vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1977 ( = Militärhistorische Studien, N . E , Bd 18); Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 1: Gerhard Papke, Von der Miliz zum stehenden Heer. Wehrwesen des Absolutismus, München 1979, S. 60—114; Winfried Schulze, Die deutschen Landesdefensionen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 1986 ( = Historische Forschungen, Bd 28), S. 129—149. D i e Bibliographien dieser Arbeiten weisen die Vielzahl von spezielleren und regionalgeschichtlichen Arbeiten zur Landesdefension nach. Der vorliegende Beitrag stützt sich hinsichtlich der Quellen vor allem auf entsprechende Militaria- und Defensionsbestände in den Archiven Potsdam (für Brandenburg), Merseburg (für Brandenburg), Rudolstadt (für die thüringischen Herzogtümer), Dresden (für Kursachsen), in den Wojewodschaftsarchiven Stettin (für das Herzogtum Pommern) und Breslau (für die schlesischen Fürstentümer), München (für Bayern) und Schwerin (für Mecklenburg). Siehe dazu die Angaben bei Schnitter (wie oben).

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Helmut Schnitter

militärische Dienste und Arbeiten für die Verteidigung zu leisten. Der Kreis dieser Dienstpflichtigen war ehemals sehr groß und hatte sowohl die freien Bauern wie die abhängigen Dorfbewohner betroffen. Mit dem Rückgang der Zahl der freien Bauern im Zuge der Herausbildung feudaler Besitz- und Herrschaftsstrukturen veränderte sich die Dienstpflicht dergestalt, daß — allerdings territorial im Reich unterschiedlich — der grundbesitzende Adel die Waffenpflichten und -rechte übernahm 2 . Als überkommene Rechtsnorm blieb die Defensionspflicht unter dem Namen Landfolge über Jahrhunderte hinweg im Denken erhalten. Die Landfolge schloß auch eine Aufgebotspflicht ein, das heißt, ein Teil der dienstpflichtigen Männer konnte auf Geheiß des Landesherrschers auch für Züge in Gebiete außerhalb des eigenen Territoriums eingesetzt werden. Im 15. und 16. Jahrhundert boten Landfolge und Aufgebotswesen im Reich ein buntes Bild. Im Südwesten Deutschlands war die Landfolgepflicht der Einwohner in den Landrechten erhalten geblieben. Sie spielte zwar in den Kriegen dieser Zeit zumeist eine untergeordnete Rolle, hatte aber für die Sicherung des Territoriums vor gegnerischen Einfällen und herumschweifenden Banden noch Bedeutung. Welche konkreten Pflichten die Landfolge einschloß, geht ζ. B. aus dem Wehrweistum von Bermersheim bei Worms aus dem Jahre 1488 hervor, einem der wenigen schriftlich überlieferten zeitgenössischen Dokumente über Dienstpflichten. Danach umfaßte das Aufgebot alle tauglichen Männer des Dorfes. Die Dienstpflicht galt als Untertanenpflicht, nur der Pfarrer, der Glöckner, der Schultheiß und der Büttel waren mit Einschränkungen befreit. In begründeten Fällen war eine Stellvertretung durch einen Knecht möglich, den der Dienstpflichtige aber bezahlen und ausrüsten mußte. Die Dienstpflicht war zeitlich faktisch unbegrenzt, allerdings sollte bei einem längeren Auszug nach vier Wochen eine Ablösung erfolgen. Für den Dienst selbst gab es einen geringen Sold, er war eher ein Zehrgeld. Die meisten Aufgebotspflichtigen besaßen Waffen und Harnisch, die weder verkauft noch verpfändet werden durften. Armen Dorfbewohnern stellte man Ausrüstung zur Verfügung, die aber nach dem Einsatz zurückzugeben war. Militärische Übungen fanden nicht statt, die Dorfmeister — Beauftragte des Landesherrn für das Aufgebot des Dorfes (zumeist ein etwas kriegskundiger Ansässiger) — sollten aber regelmäßig die Rüstwagen sowie die persönliche Ausrüstung der Dienstpflichtigen kontrollieren. Das Weistum läßt so erkennen, daß es eine breite Dienstpflicht für die Heimatverteidigung gab3. Auch in östlichen Territorien besaß die Landfolge Gewicht. Hier war im 12. und 13. Jahrhundert die Vergabe von Land an Ritter und Bauern mit der Maßgabe erfolgt, bestimmte militärische Dienstleistungen zu übernehmen. Nach den Bestimmungen der Kulmer Landfeste von 1233 hatten in Preußen (das spätere Ostpreußen) die mit Grundbesitz belehnten Adligen und freien Bauern vornehmlich Reiterdienste zu leisten, während die Bürger der Städte, die anderen Bauern und abhängigen Dorfbewohner als Fußvolk der 2

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Siehe hierzu Hans Fehr, Das Waffenrecht der Bauern im Mittelalter, Teil 1, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd 35 (1914), S. 111—211; Hermann Conrad, Geschichte der deutschen Wehrverfassung, Bd 1: Von der germanischen Zeit bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1939, S. 1 0 1 - 1 0 7 , 1 4 8 - 1 6 5 . Das Wehrweistum ist abgedruckt in: Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter, hrsg. von Günther Franz, Berlin 1967, S. 592—596.

Die überlieferte Defensionspflicht

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Aufgebotspflicht unterworfen waren. Landfolgepflichtig waren Stadt- und Dorfbewohner auch in der Mark Brandenburg, im Herzogtum Pommern und in den schlesischen Fürstentümern. Aus den Aufgebotsordnungen und praktischen Erfahrungen bei ihrer Verwirklichung gingen allmählich — und auch unterschiedlich in den Territorien des Reiches — einige militärische Neuerungen hervor, die zum späteren Defensionswerk mit seiner Dienstpflicht hinführten. Neu in der Handhabung dieser militärischen Praxis waren namentlich die von den Landesherren und den Ständen anberaumten Musterungen in Dörfern und Städten. Man wollte auf diese Weise einen Uberblick über die zahlenmäßige Stärke und den Ausrüstungsstand der nach Lehnsrecht und Landfolge dienstpflichtigen Adligen, Bürger und Bauern erlangen. Landfolgepflicht und Dienst nach dem Lehnsrecht (für den Adel gültig) wurden dabei als Einheit betrachtet. So waren in den Musterungslisten des 15. und 16. Jahrhunderts die Städte und Amter gemeinsam mit dem Adel aufgelistet, und neben den Lehnspferden des Adels fanden sich die Mannschaften der Städte und Dörfer sowie die gemeinsam zu stellenden Rüstwagen. Träger des Aufgebots waren im allgemeinen die Haus- und Grundbesitzer. Die Pflicht zum Aufgebot und zur Waffenhaltung ruhte also im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit nicht mehr wie im Frühmittelalter auf der einzelnen Person, sondern auf dem Besitz. Die Aufgebotsforderung, die vom Landesherrn ausging, richtete sich nunmehr in erster Linie an die besitzenden und ansässigen Bürger sowie an die freien und auf landesherrschaftlichem Grund wohnenden Bauern. Auch Witwen und Waisen, sofern sie solchen Besitz hatten, mußten der Dienstpflicht durch die Stellung eines Ersatzmannes oder durch Zahlung eines Geldbetrages nachkommen. Dienstleute und Arme, Gesellen und Tagelöhner sowie Handwerker ohne Hausbesitz wurden nicht erfaßt. Aus ihnen rekrutierten sich aber die Ersatzleute, Troß- und Wagenknechte sowie Söldner, die im Kriegsfalle zur Verstärkung des Aufgebotes geworben wurden. Die Handhabung dieses Systems wies in den Ländern des Reiches naturgemäß Unterschiede auf, wie auch die sozialen Abgrenzungen des Aufgebotes fließend blieben. Die Musterungslisten verzeichnen Namen, Alter und Waffenbesitz der Dienstpflichtigen sowie deren militärische Funktion im Aufgebot. Manchmal findet sich auch ein Hinweis, daß der Mann bereits Kriegsdienst geleistet hatte, also Kriegserfahrungen mitbrachte. Wie die Listen ausweisen, konnten Städte und Dörfer nicht nur bedeutende Kontingente stellen, sie besaßen auch beträchtliche Mengen an Blank- und Feuerwaffen. So fanden z.B. 1542/43 und 1547 in Vorpommern (Herzogtum Pommern) regionale Musterungen statt. 1547 veranschlagte man das Aufgebot mit über 5000 Mann Fußvolk, 40 Geschützen und 26 Rüstwagen; die Ritterschaft hatte 381 Pferde (mit anderen Reisigen etwa rund 1000 Berittene) zu stellen4. Zugleich lassen Berichte erkennen, daß es häufig Bestrebungen gab, sich der Musterung zu entziehen. So blieben die Ritter 1542 der Musterung in Pasewalk fern, und bei Greifswald ist im Anschlag von 1547 hinsichtlich der Ausrüstung vermerkt: Haben sich nicht mustern lassen! Daß man gerade der Ausrüstung große Auf4

Angaben nach Wojewodzkie Archivum Panstwowe w Szczecinie, Rep. 4, Nr. 4736, Akten betr. die Landesverteidigung und Musterung in den Jahren 1542 bis 1576.

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merksamkeit schenkte, geht aus dem Musterungsbericht aus Ueckermünde 1543 hervor: »Die Rüstung hat nichts getauget!« Ahnliche Klagen über Unzulänglichkeiten finden sich auch in Berichten anderer Territorien. Für die Struktur der militärischen Dienstpflicht war wichtig, daß sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine organisatorische Trennung im Aufgebot vollzog. In der Regel wurde bei drohender Kriegsgefahr oder im Kriegsfall nicht mehr das gesamte Aufgebot mobilisiert, sondern nur noch ein Teil, nämlich die dienstfähigen und möglichst waffengeübten jüngeren Männer. Für diese Auswahl kam der Name Ausschuß auf. Forderten die Landesherren den »30., 20. oder 10. Mann«, so handelte es sich jeweils um den Ausschuß. Nur wenn »Bereitschaft aufs stärkste« verlangt wurde, sollte sich das gesamte Landesaufgebot rüsten. Die landesfürstlichen Mandate und Edikte mahnten stets, sich »mit Harnisch, langen Röhren und Wehren« bereitzuhalten bzw. »zur Wehr geschickt« zu machen. An den landsässigen Adel wurde appelliert, sich nicht in fremde Kriegsdienste zu begeben. Jedoch hatte dieser Appell trotz der Drohung, die Lehnsgüter einzuziehen, falls die Inhaber dem Dienst fern blieben, meistens nur geringen oder keinen Erfolg. Ein Wandel trat gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein, als in einigen Territorien wie der Kurpfalz, Bayern, Hessen, Nassau-Siegen, Kursachsen und Brandenburg organisatorisch stabilere Defensionswerke an die Stelle der überkommenen Aufgebote oder Ausschüsse und der unzuverlässigen teuren Söldner treten sollten. Der Aufbau solcher Defensionswerke vollzog sich vor dem Hintergrund des Unabhängigkeitskampfes der Niederlande gegen Spanien seit 1566. Spanische Söldnertruppen rückten in dieser Zeit von Oberitalien aus gegen die Niederlande vor und bedrohten auf ihrem Marsch protestantische Reichsterritorien am Rhein, so die Kurpfalz und die Grafschaft Nassau. Hinzu kamen die vielfachen Mißstände des zeitgenössischen Söldnerwesens — Disziplinlosigkeit der Truppen, Plünderungen, Meutereien, Betrügereien bei der Werbung und Bezahlung und andere Ausschreitungen, die in der Militärliteratur des 16. Jahrhundert beklagt wurden 5 . Und schließlich lastete die Bedrohung durch die Osmanen wie ein Alpdruck auf der mitteleuropäischen Staatenwelt. Unter diesen Umständen gewann der Gedanke, die Landeseinwohner verstärkt zur Verteidigung heranzuziehen und auch gesetzliche Normen dafür zu schaffen, neue Dimensionen. Allgemein wurden die Defensionswerke, die um 1600 eine stabile Form angenommen hatten, dadurch charakterisiert, daß der Ausschuß straffer organisiert wurde. Die Ausschußtruppen trugen einen milizähnlichen Charakter und gliederten sich organisatorisch in Regimenter, Fähnlein (Sachsen) und Landfahnen (Bayern) des Fußvolkes und der Reiterei. An der Spitze der Formationen standen Hauptleute, die für eine regelmäßige Exerzierund Schießausbildung zu sorgen hatten. Die Landesherren erließen eigene Reglements, Kriegsartikel und Ordonnanzen. Viele dieser Maßnahmen waren von der Heeresreform der Oranier in den Niederlanden beeinflußt, einzelne Fürsten suchten niederländische

5

Siehe vor allem Leonhart Fronsperger, Von Kayserlichem Kriegßrechten, Malefitz und Schuldhändlen, Ordnung und Regiment, Frankfurt a.M. 1566; Johann Jacobi v. Wallhausen, Manuale Militare oder Kriegß-Manual, Frankfurt a.M. 1616; Georg Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1899.

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»Trillmeister« in ihre Dienste zu ziehen. In Siegen begründete Graf Johann VII. von Nassau eine Kriegsschule zur Ausbildung junger »Kriegsleute«, Direktor war zeitweise der Militärtheoretiker und Verfasser mehrerer Werke, Johann Jacobi von Wallhausen 6 . Die Defensionswerke bahnten in Ansätzen neue Beziehungen zwischen Staat, Landesverteidigung und Untertanen an. Grundgedanke war, daß die Landesverteidigung nicht mehr dem fremden Soldknecht, sondern dem kriegstauglichen, ausgebildeten Landeseinwohner zu übertragen war. Das bedeutete allerdings keine völlige Ablehnung des Söldnerwesens. Kriegskundigen Landesfürsten und Militärtheoretikern waren die militärischen Unzulänglichkeiten der Defensionstruppen durchaus bekannt, sie wollten deshalb in bestimmten Fällen auch nicht auf Söldner verzichten. Graf Johann VII., der zu den eifrigen Befürwortern der Defensionswerke gehörte, hob in seinen Schriften hervor, daß »dies werck nuhr allein zu einer geschwinden unversehenlichen defension und keinem öffentlichen Kriegk« aufgebaut worden sei; »dan in einem öffentlichen Kriegk man der Soldaten und des Kriegsvolkhs keines weges entrathen khann, sondern dieselbe das beste thun müssen, und können die Underthanen zu solchem Kriegswesen solcher gestalt nicht wohl gepraucht werden 7 .« Für Kriege außerhalb der Landesgrenzen, für dynastische Konflikte und Einsätze gegen Rebellen im eigenen Lande war vorrangig die Verwendung von Söldnern vorgesehen. Welche Konsequenzen ergaben sich daraus für die Dienstpflicht und ihre Begründung? Anders als der fremde Söldner war der einheimische Dienstpflichtige mit dem Land, der Heimat und der Bevölkerung verbunden. Johann VII., Landgraf Moritz von Hessen, der Reichsfreiherr und Feldherr Lazarus von Schwendi sowie Johann Jacobi von Wallhausen erörterten in ihren Denkschriften und Büchern die Notwendigkeit eines engen Einvernehmens zwischen Landesfürsten und Defensionern und sahen darin eine wichtige Grundlage der Landesverteidigung. Die damit von ihnen verkündete moralische Dimension einer Wehrmotivation zog den Schutz von »Hab und Gut, von Weib und Kind« ins Kalkül und orientierte sich in Ansätzen an der Berücksichtigung solcher ethischen Elemente im Militärwesen und in der Kriegführung. Die Defensionspflicht war allerdings keine allgemeine Wehrpflicht, wie es in der älteren Literatur wiederholt behauptet worden ist8. Für den Ausschuß der Stadt wurden in der Regel nur »eingesessene« Bürger mit Besitz und Gewerbe angenommen, ähnlich rekrutierten sich die Defensioner auf dem Dorfe aus haus- und hofbesitzenden bäuerlichen Kreisen, Amts- und Domänenpächtern, Schulzen und Kölmern (freie Bauern im Her6

7 8

Siehe Ludwig Plathner, Graf Johann von Nassau und die erste Kriegsschule. Ein Beitrag zur Kenntnis des Kriegswesens um die Wende des 16. Jahrhunderts, phil. Diss., Berlin 1913; Helmut Schnitter, Johann Jacobi von Wallhausen — ein fortschrittlicher deutscher Militärtheoretiker des 17. Jahrhunderts, in: Militärgeschichte, 21 (1982), S. 7 0 9 - 7 1 6 . Zit. nach Frauenholz (wie Anm. 1), S. 53. So bei Hans Helfritz, Geschichte der Preußischen Heeresverwaltung, Berlin 1938; Otto-Heinrich Faull, Betrachtungen zur Entwicklung der Wehrpflicht in Brandenburg-Preußen von 1500 bis 1814, Rostock 1939. Tendenziell auch bei Heribert Händel, Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in der Wehrverfassung des Königreiches Preußen bis 1819. Insbesonders ein Beitrag zur Frage des Einflusses der französischen Revolution auf die Scharnhorst-Boyensche Reformgesetzgebung nach 1807, Frankfurt a.M., Berlin 1962.

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zogtum Preußen, die zu Kriegsdiensten verpflichtet waren). Die Einbeziehung der Einwohner in den Defensionsdienst blieb daher begrenzt — und hier liegt ein Unterschied zur allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert. Den militärischen Pflichten standen im frühneuzeitlichen Staat auch keine staatsbürgerlichen Rechte der Defensioner gegenüber; für den Dienst erhielten sie allerdings gewisse materielle Vergünstigungen, so Steuerund Abgabenerlasse oder auch gewerbliche Privilegien. Die Begrenzung der Defensionspflicht hatte auch einen politischen Grund. Der Adel, vor allem in den ostelbischen Reichsländern, in denen sich die Gutsherrschaft herausbildete, suchte teils aus Furcht vor den Folgen einer Bewaffnung bäuerlicher Schichten, teils aus Opposition gegen den Landesherrscher die Defensionswerke in engen Grenzen zu halten. Als Anfang des 17. Jahrhunderts Fabian zu Dohna und Wolf v. Kreytzen im Auftrage des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund die veraltete Defensionsverfassung in Preußen zu reorganisieren begannen, stießen sie auf den Widerstand des einheimischen Adels, der seine Bauern von militärischen Diensten ausgenommen wissen wollte. In einer Denkschrift für den Kurfürsten hielt man es für »bedenklig«, den Bauern »die Mittel in die Hand zu geben, durch deren Mißbrauch« sie sich aus der Dienstbarkeit entziehen und »ihren schuldigen Gehorsam vergessen könnten« 9 . Ahnliche Stimmen waren aus Adelskreisen der schlesischen Fürstentümer zu vernehmen. Trotz organisatorischer Unzulänglichkeiten, einer unzureichenden Ausbildung, des Mangels an kriegserprobten Offizieren erwiesen sich manche Defensionswerke als durchaus fähig, im regionalen Rahmen Land und Bevölkerung zumindest zeitweise vor feindlichen Einfällen zu schützen. Ende des 16. Jahrhunderts bewahrten Ausschußtruppen von Nassau-Siegen ihr Land vor Ubergriffen spanischer Söldner. Noch in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges waren Defensionsfähnlein der Kurpfalz, Hessens, der badischen und braunschweigischen Herzogtümer in der Lage, einen Grenzschutz zu organisieren und dort, wo fremde Söldner durch das Territorium zogen, die Marschstraßen zu kontrollieren und der Bevölkerung einen gewissen Schutz zu bieten 10 . In großen Schlachten waren sie hingegen den besser bewaffneten und kriegsbewährten Söldnertruppen unterlegen. So konnten weder die sächsischen »Ritterpferde« in der Schlacht bei Breitenfeld 1631 noch die bayerischen Landfahnen in der Schlacht am Lech im folgenden Jahr dem Angriff von Söldnerheeren standhalten. 9

10

Zit. nach Frauenholz (wie Anm. 1), S. 101. Zur Landesdefension in Preußen siehe Albrecht Lampe, Der Milizgedanke und seine Durchführung in Brandenburg-Preußen vom Ausgang des 16. Jahrhunderts bis zur Heeresreform nach 1807. Phil. Diss, masch., Berlin 1951; Ullrich Marwitz, Staatsräson und Landesdefension. Untersuchungen zum Kriegswesen des Herzogtums Preußen 1640—1655, Boppard am Rhein 1984 (= Militärgeschichtliche Studien, Bd31). Zu erfolgreichen Einsätzen von Defensionsaufgeboten siehe Franz Heimann, Die Landesverteidigung im Fürstentum Anhalt von der Auflösung der Union bis zum Einmarsch der Kaiserlichen. Mai 1621 bis Januar 1626, Leipzig 1906; Anna Egler, Die Spanier in der linksrheinischen Pfalz. 1620—1632. Invasion, Verwaltung, Rekatholisierung, Mainz 1971. Zusammenfassend und für die weitere Forschung anregend skizziert Herbert Langer, Hortus Bellicus. Der Dreißigjährige Krieg. Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1978, Zusammenhänge zwischen dem Kampf von Bauern und Bürgern gegen die fremden Söldnerheere und der bestehenden Landesdefension in den Jahren 1618 bis 1648. Reiches Material findet sich (verstreut) auch in der heimat- und regionalgeschichtlichen Literatur.

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In dem Maße, wie der Krieg sich ausweitete, Städte und Dörfer verwüstet wurden, die Bevölkerung verarmte und die Söldnerscharen anwuchsen, verfiel das Landesdefensionswesen. Die in einzelnen deutschen Ländern während des Krieges eingeleiteten Reorganisationsmaßnahmen — Neuerfassung der Defensioner und der Ritterpferde, Verbot des Eintritts von Untertanen in fremde Heere — blieben aufgrund der Zerrüttung des gesellschaftlichen Lebens ohne Erfolg. Eine Wiederbelebung der Landesdefension und der mit ihr verknüpften Dienstpflicht erfolgte nach 1648, aber dann unter sich verändernden gesellschaftlichen und militärischen Verhältnissen. Vor allem beeinflußte jetzt der Aufbau stehender Heere in den Territorien den Platz und den Funktionsradius der Landesdefension. Die überkommene Institution der Defensionswerke wurde nicht aufgehoben, aber ihre Bedeutung sank. Die milizähnlichen Formationen, die vor allem in den Musterungslisten existierten, rangierten neben bzw. nach den stehenden Truppen, die in den meisten Territorien im 18. Jahrhundert das Gesicht des absolutistischen Militärwesens prägten. Dieser Unterschied, auch im Dienstpflichtbereich, wird bei einem Vergleich der Defension der Jahre 1600 und 1700 deutlich. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte das Bemühen von Fürsten, Feldherren und Militärtheoretikern um ein kriegstüchtiges Defensionswerk auf eine militärische Neuorganisation der Landesverteidigung gezielt. Knapp 100 Jahre später waren die Fürsten zu souveränen Landesherren mit dem ius armorum aufgestiegen, deren vorherrschendes Interesse dem Aufbau eines stehenden Heeres galt. Dafür gedachten sie nun auch die Möglichkeiten der Defensionspflicht auszuschöpfen. In den Kriegen nach 1648, in die Reich und Territorien mit unterschiedlicher Intensität verwickelt waren, wurden ζ. B. dienstpflichtige Bürger und Bauern nach den alten Musterungslisten der Landesdefension aufgeboten, aber dann in ein geworbenes Regiment gesteckt und wie Söldner behandelt. Damit mußte die Landesdefension nicht nur organisatorisch und juristisch ihre Selbständigkeit sukzessive einbüßen, sie verlor auch die ihr noch innewohnenden Elemente einer gewissen Volkstümlichkeit. Ein Hauch dieser »Gemütlichkeit« hielt sich wohl in den Landmilizen der fürstlichen Zwergstaaten Mitteldeutschlands. Johann Wolfgang v. Goethe schilderte eine solche Truppe mit den Worten: »Es kam eine Partie gewaffneter Leute durchs Feld her, die sich an ihren weiten und langen Röcken, an ihren großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und schweren Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und an dem bequemen Tragen des Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz benachbarter Herrschaft erkannten 11 .« Die Streitfrage des ausgehenden 16. Jahrhunderts — Söldnerheer oder Defensionswerk — war durch die Geschichte nach 1648 in dem Sinne überholt, daß nunmehr in fast allen Ländern Europas stehende Heere existierten. Feldherren wie Graf Raimondo Montecuccoli und Prinz Eugen von Savoyen sowie die Gelehrten Veit Ludwig v. Seckendorff und Gottfried Wilhelm Leibniz sprachen sich unter dem Eindruck der langen Türkenkriege für ein stehendes Heer aus, wollten aber die Söldnerwerbung einschränken und durch eine begrenzte Dienstpflicht der Armee mehr Landeseinwohner zuführen. So plä11

Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: ders., Poetische Werke. Romane und Erzählungen, Bd 9, Berlin (Ost) 1970, S. 360.

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dierte der Universalgelehrte Leibniz in seinen Schriften »Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich auf festen Fuß zu stellen« (1670) und »Gedancken zum Entwurff der Teutschen Kriegsverfassung« (1681) für ein Reichsheer aus geworbenen Söldnern und ausgewählten Dienstpflichtigen. Zur Abwehr von Einfallen starker feindlicher Heere (Armeen Ludwigs XIV.!) schlug er in der 1688 verfaßten »Geschwinden Kriegsverfassung« den Einsatz eines allgemeinen Volksaufgebotes vor12. Die militärische Dienstpflicht in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unterschied sich im Modus der Auswahl äußerlich nicht gravierend von der miltärischen Pflichtenpraxis um 1600. Unter dem Aspekt der Stärkung der Söldnertruppen erfolgten Reduktionen der Ausschüsse in verschiedenen Territorien gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Dabei ging es allerdings nicht primär um eine Verringerung der finanziellen Belastung — Städte und Dörfer klagten immer über die Kosten und Verdienstausfälle —, vielmehr zielten die Reduktionen auf günstigere Bedingungen für die Söldnerwerbung. In der Regel durften die Defensioner nicht für das stehende Heer geworben werden; eine Verkleinerung des Ausschusses und weitere Befreiungen von der Dienstpflicht eröffneten den Werbeoffizieren der stehenden Heere ein neues Betätigungsfeld. Schließlich trugen die Reduktionen auch mittelbar dazu bei, die zwischen reichen und ärmeren Defensionern bestehenden sozialen Spannungen — die sich bei Musterungen und Ausmärschen entluden — etwas zu entschärfen. Am weitesten ging hier der preußische König Friedrich Wilhelm I., der schon im ersten Regierungsjahr 1713 die bestehende (und sehr mühsam formierte) Landmiliz radikal auflöste, sogar den Gebrauch des Wortes Miliz verbot und alle Kräfte des Landes für den Aufbau eines stehenden Heeres einsetzte 13 . Ungeachtet der veränderten Verhältnisse blieben jedoch im 18. Jahrhundert Ideen der Landesdefension und des Schutzes des Landes durch die Einwohner lebendig und wurden in der Literatur weiter erörtert. Nach 1750 organisierte Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe, an dessen Militärschule im Steinhuder Meer Gerhard Scharnhorst seine erste Ausbildung erhielt, das Heer seines kleinen Fürstentums auf der Grundlage der Vertei12

13

Siehe Helmut Schnitter, Leibniz und das Militärwesen seiner Zeit, in: Militärgeschichte, 16 (1977), S. 314—322. Die Schriften sind enthalten in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 4. Reihe: Politische Schriften, Bd 1 und 2, Berlin (Ost) 1963, 1971. Das Kantonsystem und die Landesdefensionspflicht stehen zwar in einem gewissen, weitläufigen Zusammenhang, die Verpflichtung zum Zwangsdienst im Heer Friedrich Wilhelms I. (Kantonpflicht) erwuchs aber doch als etwas relativ Selbständiges, das sich aus dem Anspruch des Herrschers über »Gut und Blut« der Untertanen ergab. Siehe hierzu die zum Teil kontroversen Erklärungen bei Curt Jany, Die Kantonverfassung des altpreußischen Heeres, in: Moderne Preußische Geschichte 1648—1947. Eine Anthologie, hrsg. von Otto Büsch und Werner Neugebauer, Berlin, New York 1981, Bd2, S. 767—809; Hans Bleckwenn, Bauernfreiheit durch Wehrpflicht. Ein neues Bild der preußischen Armee, in: Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit, Herford 1987 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 8), S. 55—72. Die preußischen Militärreformer um Scharnhorst, Gneisenau und Boyen beriefen sich u. a. auf die Kantonpflicht als eine A r t Vorläufer der angestrebten allgemeinen Wehrpflicht, aber ihnen ging es dabei vor allem auch darum, den schwankenden König von der Wehrpflicht zu überzeugen. Ihnen selbst war klar, daß die neue Wehrpflicht ein neues Bürger-Staatsverhältnis, fern der alten Untertanenpflicht und -last, erforderte.

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digungspflicht der Einwohner 14 . Vertreter der philosophischen Aufklärung, des Sturm und Drangs sowie der Klassik, Publizisten und einige Offiziere fürstlicher Armeen griffen diese Ideen auf und entwickelten — namentlich in der Militärzeitschrift »Bellona« (1781—1787) — ein Bild vom Bürger, der für sein Land militärische Pflichten zu übernehmen hat, dafür aber auch staatsbürgerliche Rechte wahrnehmen darf15. Schon vor der Katastrophe Preußens 1806 hatte ein vielschichtiger Umdenkungsprozeß hinsichtlich des Verhältnisses von Untertan, Bürger und Staat eingesetzt, der sich aber praktisch gegen die erstarrten Verhältnisse nicht durchzusetzen vermochte. Das überkommene Gedankengut der Landesdefension trug so auf seine Weise dazu bei, den Weg zur kommenden allgemeinen Wehrpflicht zu öffnen. Das zum Teil bruchstückhaft überlieferte historische Wissen über militärische Pflichten und auch Rechte von Landeseinwohnern sowie die Kenntnisse von Institutionen und Normen der Landesdefension war für die Befürworter und Begründer der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen ein Schlüssel für praktische Maßnahmen und Schritte in die Richtung zur allgemeinen Wehrpflicht. Es soll aber nicht verkannt werden, daß wohl in erster Linie die Eindrücke und Erfahrungen der Französischen Revolution von 1789 und ihre Auwirkungen, die langwährenden Kriege seit 1792 und das daraus hervorgehende neue Kriegs- und Heeresbild die Diskussionen und Entschlüsse zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht tief beeinflußten und letztlich lenkten 16 .

14

Siehe Erich Hübinger, Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe und seine Wehr. Die Wurzeln der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, Borna/Leipzig 1937; Curd Ochwadt, Wilhelmstein und Wilhelmsteiner Feld. Vom Werk des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe (1724—1777), Hannover o.J. (1971); Hans H. Klein, Wilhelm zu Schaumburg-Lippe. Klassiker der Abschreckungstheorie und Lehrer Scharnhorsts, Osnabrück 1982.

15

Siehe hierzu das vor allem bei Reinhard Höhn, Revolution, Heer, Kriegsbild, Darmstadt 1944, gesammelte Material. Zur Zeitschriftenliteratur vgl. Helmut Schnitter, Militärwesen und Militärpublizistik. Die militärische Zeitschriftenpublizistik in der Geschichte des bürgerlichen Militärwesens in Deutschland, Berlin (Ost) 1967, S. 3 4 - 4 5 .

16

Siehe Eberhard Kessel, Die allgemeine Wehrpflicht in der Gedankenwelt Scharnhorsts, Gneisenaus und Boyens, in: ders., Militärgeschichte und Kriegstheorie in neuerer Zeit. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. und eingeleitet von Johannes Kunisch, Berlin 1987 ( = Historische Forschungen, Bd 33), S. 175—188.

Heinz Stübig

Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit. Wehrpflicht im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1 8 1 5 - 1 8 6 0

I.

Die Titelformulierung umschließt die Periode zwischen dem »Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste« von 1814 und der Roonschen Heeresorganisation von 1860. Dabei steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen zunächst die Konzeption der allgemeinen Wehrpflicht, wie sie von den preußischen Heeresreformern um Scharnhorst erarbeitet wurde, und daran anschließend die Erörterung der daraus resultierenden sozialen Auswirkungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um das Ausmaß der mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einhergehenden strukturellen Veränderungen in den preußischen Streitkräften zu verstehen, ist es angebracht, zunächst diejenigen Bestimmungen der Heeresverfassung zu skizzieren, die das Rekrutierungssystem in Preußen im 18. Jahrhundert regelten und die bis zu den Befreiungskriegen gültig waren. Kernstück der Rekrutierung im absolutistischen Preußen war die sogenannte Enrollierung 1 . Nach diesem Einschreibungsverfahren wurden diejenigen männlichen Einwohner, die zum Kriegsdienst tauglich erschienen, zum Teil bereits mit 14 oder 15 Jahren durch die jeweils aushebenden Regimenter erfaßt. Sie erhielten den Hutpüschel ihres Regiments, bekamen im übrigen aber den »Laufpaß«, wurden also zunächst nach Hause geschickt und erst dann eingezogen, wenn die Truppe sie benötigte.

1

Vgl. zum folgenden Eugen v. Frauenholz, Das Heerwesen in der Zeit des Absolutismus, München 1940 (= Entwicklungsgeschichte des deutschen Heerwesens, Bd 4), S. 14 ff., bes. S. 17 ff.; Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. und eingeh von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970 (= Gesammelte Abhandlungen, Bd 1), S. 52—83; Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee bis zum Jahre 1807, Bd 1, Berlin 1928, S. 679 ff., bes. S. 692 ff.; Ernst-Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, 2. Aufl., Hamburg 1943, S. 95ff.; Reinhard Höhn, Revolution — Heer — Kriegsbild, Darmstadt 1944, S. 14 ff.; Heribert Händel, Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in der Wehrverfassung des Königreiches Preußen bis 1819, insbesondere ein Beitrag zur Frage des Einflusses der Französischen Revolution auf die Scharnhorst-Boyensche Reformgesetzgebung nach 1807, Frankfurt a.M. 1962 (= Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 19); Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte. Eine Einführung, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1968, S. 104ff.; Heinz Stübig, Armee und Nation. Die pädagogisch-politischen Motive der preußischen Heeresreform 1807-1814, Frankfurt a.M. 1971 (= Europäische Hochschulschriften, R. 11, Bd 5), S. 28ff.; Gerhard Papke, Von der Miliz zum Stehenden Heer. Wehrwesen im Absolutismus, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 1, Abschn. I, München 1979, S. 207 ff.

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Heinz Stübig

Diese Form der Heeresaufbringung krankte zunächst jedoch daran, daß den einzelnen Regimentern keine festen Aushebungsbezirke zugewiesen waren. Das änderte sich erst durch eine Kabinettsorder vom 1. Mai 17332, die bis zum Abschluß der Befreiungskriege für die Kantoneinteilung maßgeblich war. Eine weitere Veränderung ergab sich aus den Regelungen vom 15. September desselben Jahres, in denen der Waffendienst zu einer allgemeinen Untertanenpflicht erklärt wurde: »Alle Einwohner des Landes werden zu den Waffen geboren und sind dem Regiment obligat, zu dessen Canton-District die Feuerstelle gehört, worin sie geboren sind 3 .« Trotz dieser Bestimmung unterschied sich die auf dem Kantonsystem beruhende Dienstpflicht grundsätzlich von der später eingeführten allgemeinen Wehrpflicht, insbesondere aufgrund der veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen; dazu Otto Hintze: »Das Kantonsystem beruhte auf dem Grundsatz der ständischen Gesellschaftsordnung, den das absolutistische Ancien Regime aufrechterhalten hatte, auf der Unterscheidung der privilegierten und der nichtprivilegierten Klassen; die allgemeine Wehrpflicht aber beruhte auf der Idee des allgemeinen gleichen Staatsbürgerrechts 4 .« Dementsprechend gehörte zur Praxis der friderizianischen Heeresaufbringung ein System von Exemtionen und als Folge davon die Ausländerwerbung. Im allgemeinen diente der männliche Einwohner Preußens bei einer jährlichen Exerzierzeit von zunächst drei, später zwei und schließlich eineinhalb Monaten 5 ursprünglich während seines gesamten Lebens bzw. bis zur Invalidität — erst durch das Kantonreglement vom 12. Februar 1792 wurde die Dienstzeit auf 20 Jahre begrenzt 6 . Allerdings trafen diese Bestimmungen nur dann auf ihn zu, wenn er in Gebieten geboren wurde, die der Kantonpflicht unterlagen, oder zu einer Bevölkerungsgruppe gehörte, die nicht vom Kriegsdienst entbunden war. Beispielsweise waren die Einwohner der Weberdistrikte Schlesiens sowie von Berlin, Potsdam, Brandenburg, Magdeburg und einer Reihe von Städten in den westlichen Provinzen generell vom Kriegsdienst befreit 7 . Zu den Personengruppen, die unbedingt eximiert waren 8 , gehörte zunächst der Adel, ferner die höheren Staatsbeamten, einschließlich des Lehrpersonals an den Universitäten, wie auch die Besitzer adliger oder mit adligen Rechten versehener Güter, sofern das Gut einen Wert von mindestens 12000 Reichstalern hatte. Daneben gab es noch zahlreiche bedingte Freistellungen. Sie galten für einen großen Teil der übrigen Beamtenschaft, für die Söhne von Rentiers, die über ein Vermögen von 10000 Reichstalern verfügten, und von Kaufleuten und Fabrikanten, die jährlich mindestens 5000 Reichstaler 2 3 4

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Abgedruckt bei Frauenholz, Heerwesen, B d 4 (wie Anm. 1), S. 243 ff. Ebd., S. 76. Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung (wie Anm. 1), S. 74. Vgl. im übrigen Wolfgang v. Groote, Der Gestaltwandel der Wehrpflicht in der deutschen Geschichte, in: G W U , 35 (1984), S. 273—293, bes. S. 280 ff. Huber, Heer und Staat (wie Anm. 1), S. 95. Vgl. die Artikel 90 und 91 des Kantonreglements vom 12. Februar 1792, in: Frauenholz, Heerwesen, Bd 4 (wie Anm. 1), S. 332. Vgl. Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee bis zum Jahre 1807, Bd 3, Berlin 1929, S. 191. Vgl. die Artikel 9—28 des Kantonreglements von 1792, in: Frauenholz, Heerwesen, Bd 4 (wie Anm. 1), S. 311 ff.

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umsetzten. Und schließlich waren auch die Angehörigen einzelner Gewerbe, wie z.B. der Tuch- und Seidenindustrie, des Bergbaus und der Fluß- und Seeschiffahrt, unter bestimmten Bedingungen von der Militärdienstpflicht ausgenommen. Betrachtet man die Fülle der Exemtionen im Hinblick auf die ständische Gliederung Preußens, so ergibt sich, daß nicht nur für den Adel, sondern de facto auch für das Bürgertum die Dienstverpflichtung aufgehoben war. Neben der sozialen Herkunft waren somit Bildung, im Sinne eines für den Staatsdienst vorbereitenden Studiums, und Besitz die wichtigsten Kriterien der Freistellung. Der Kriegsdienst wurde daher fast ausschließlich von den Unterschichten sowie zu einem Teil auch von Straffälligen geleistet. Allerdings muß diese Feststellung insoweit korrigiert werden, als dem Adel, sofern er nicht in der Gutswirtschaft sein Auskommen fand, oft gar keine andere standesgemäße Lebensmöglichkeit übrigblieb, als in den Staatsdienst — und das hieß zumeist in die Armee — einzutreten. Doch waren die Motive des Adels im Hinblick auf den Wehrdienst anders gelagert als die der kantonpflichtigen Bevölkerung. Für den Adel bedeutete der Militärdienst die Erfüllung einer Standespflicht, wie sie im Allgemeinen Landrecht formuliert worden war: »Dem Adel, als dem ersten Stande im Staat, liegt nach seiner Bestimmung die Vertheidigung des Staats, sowie die Unterstützung der äußern Würde und der innern Verfassung desselben, hauptsächlich ob 9 .« Die Auswirkungen der Exemtionsbestimmungen werden deutlich, wenn man sich die Situation gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor Augen führt: Nach einer zeitgenössischen Schätzung belief sich die Zahl der persönlich Eximierten auf 530000 und die Zahl derjenigen, die aus nicht-kantonpflichtigen Distrikten stammten, auf 1,17 Millionen. Zu dieser Zeit hatte Preußen eine Gesamtbevölkerung von 8,7 Millionen Einwohnern (darunter 2,2 Millionen Polen), so daß die 1,7 Millionen Eximierten einen hohen Prozentsatz der wehrfähigen Bevölkerung ausmachten 10 . Dieser Umstand machte es dringend erforderlich, den Bedarf an Rekruten auf andere Weise zu decken. In Preußen wurde dieses Problem durch die Ausländerwerbung gelöst, wobei unter Ausländern zum überwiegenden Teil Deutsche aus den nicht-preußischen Gebieten zu verstehen sind. Sie bildeten fast die Hälfte des Heeres11. Zwar konnte man durch diese Art der Werbung genügend Mannschaften rekrutieren, doch stellte die große Zahl der oft durch List und Gewalt in preußische Dienste gepreßten Soldaten ein schwerwiegendes Problem für die innere Verfassung der Armee dar, da sie zumeist unzuverlässig waren und die sich bietenden Gelegenheiten zur Flucht wahrnahmen. Daher wurde die gesamte Diskussion über das Rekrutierungswesen, soweit sie die Ausländer9

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Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten nebst den ergänzenden und abändernden Bestimmungen der Reichs- und Landesgesetzgebung. Mit Erl. von Hugo Rehbein und Otto Reinecke, Bd 4, 2. Aufl., 1882, II 9, § 1. Vgl. Rainer Wohlfeil, Vom Stehenden Heer des Absolutismus zur Allgemeinen Wehrpflicht (1789— 1814), in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939 (wie Anm. 1), Bd 1, Abschn. II, München 1979, S. 86 f. Vgl. Die Reorganisation der Preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden. Red. von der historischen Abtheilung des Generalstabes, Abschn. 3, in: Beiheft zum Militair-Wochenblatt für Mai bis einschl. Dezember 1856, Berlin 1857, S. 349.

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Werbung miteinbegriff, von dem Gedanken bestimmt, auf welche Weise man das Problem der Desertionen lösen konnte. Die preußische Antwort war ein drakonisches Militärstrafrecht, das bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in Kraft blieb. II. In der nach 1806 einsetzenden Debatte über die Ursachen der Katastrophe von Jena und Auerstedt gab es nicht wenige Stimmen, die den Zusammenbruch der überlieferten politischen und militärischen Ordnung auf die starre ständische Gliederung des altpreußischen Staates, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den vielfältigen Formen von Privilegierungen fand, zurückführten. Sollte der Neubeginn Erfolg haben, so mußten die Veränderungen hier ansetzen. Scharnhorst, der unmittelbar nach seiner Ernennung zum Generalmajor im Juli 1807 zum Vorsitzenden der Militär-Reorganisationskommission (MRK) bestimmt worden war12, umriß im März 1808 die Zielsetzung der geplanten und bereits eingeleiteten Maßnahmen mit der Formel vom »Bündnis zwischen Regierung und Nation«. Dazu schrieb er: »Es scheint bei der jetzigen Lage der Dinge darauf anzukommen, daß die Nation mit der Regierung aufs Innigste vereinigt werde, daß die Regierung gleichsam mit der Nation ein Bündnis schließt, welches Zutrauen und Liebe zur Verfassung erzeugt und ihr eine unabhängige Lage wert macht 13 .« Aus diesen Bemühungen um eine Integration der verschiedenen Bevölkerungsschichten ergab sich für die Armee vor allem die Forderung, ihr Verhältnis zum Bürgertum zu revidieren. Die ersten Vorschläge zu einer Umgestaltung des Aufbaus und der inneren Struktur der preußischen Armee enthielt ein als Anlage zum Immediatbericht vom 31. August 1807 von der MRK ausgearbeiteter »Vorläufiger Entwurf der Verfassung der Reserve-Armee« 14 . Bereits der Titel läßt erkennen, daß es sich hierbei nicht um die Grundzüge einer neuen Verfassung für die gesamte Armee handelte, sondern vielmehr um ein Konzept für denjenigen Teil der Streitkräfte, der erst im Kriegsfall aufgeboten werden sollte. Dieser Entwurf wurde in der Folgezeit teilweise umgearbeitet und ergänzt, ohne daß man jedoch von den einmal niedergelegten Grundsätzen abrückte, und am 15. März 1808 mit einer ausführlichen Einleitung Friedrich Wilhelm III. übermittelt 15 . Bei ihren Uberlegungen gingen die Kommissionsmitglieder von dem Postulat aus: »Alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger desselben16.« An sich hätte diese Festlegung, die auf die rechtliche Verpflichtung aller waffenfähigen Männer und damit auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht abzielte, auch dazu führen müssen, sämtliche Soldaten in einer Streitmacht zusammenzufassen. 12

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Vgl. die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, T. 2: Das Preussische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807—1814, hrsg. von Rudolf Vaupel, Bd 1, Leipzig 1938 (= Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, Bd 94), S. 7. Ebd., S. 323. Vgl. ebd., S. 82 ff. Vgl. ebd., S. 320 ff. Ebd., S. 324.

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Die Gründe, die für die MRK ausschlaggebend waren, diese Konsequenz nicht zu ziehen, sondern eine Zweiteilung der Armee in stehendes Heer und Provinzialtruppen (so jetzt der Name für die ursprünglich »Reserve-Armee« genannten Einheiten) vorzuschlagen, hingen mit den befürchteten gesellschaftspolitischen Auswirkungen einer einheitlichen militärischen Organisation für alle Wehrpflichtigen zusammen. Dazu die Kommission: »Bei einer nähern Untersuchung findet man, daß man bei dieser Verfassung zwar Meister von der streitbaren Mannschaft ist, daß man aber, um sie zu üben und zum Kriege bereit zu halten, einen großen Aufwand bedarf, indem eine solche mit Gewalt ausgehobene Mannschaft nicht durch die Liebe für das Vaterland und seine Verfassung sich großen Aufopferungen unterwirft, sondern daß diese nur durch Disziplin und einen durch den Krieg erzeugten kriegerischen Geist bewirkt werden kann 17 .« Hieraus wird ersichtlich, daß es der MRK in dem Frühstadium der Heeresreform sowohl darum ging, den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht zu verankern, als auch für den Eintritt des Bürgertums in die Streitkräfte entsprechend günstige Bedingungen herzustellen. U m das Ziel einer Aussöhnung zwischen Bürgertum und Armee nicht zu gefährden, wollte man eine Einrichtung schaffen, die den Freiheitsvorstellungen und damit auch dem politischen Bewußtsein des Bürgertums entgegenkam. Dementsprechend hieß es: »Dieser Geist kann nicht ohne einige Freiheit in der Herbeischaffung und Zubereitung der Mittel zur Erhaltung der Selbständigkeit stattfinden. Wer diese Gefühle nicht genießt, kann auf sie keinen Wert legen und sich nicht für sie aufopfern. Eine Nationalmiliz kann, wenn sie sich selbst erhält, bewaffnet, kleidet und übt, in jenem Geiste auftreten; sie wird ihn aber nie bekommen, wenn sie vorher durch die stehende Armee gehen muß, wenn ihre Selbständigkeit durch einen eingebildeten Druck gelähmt wird 18 .« In diesen Zusammenhang gehörte auch, daß sich die Qualifikationsnachweise für die Offiziere der Provinzialtruppen eindeutig an bürgerlichen Bildungsvorstellungen und Wertmaßstäben orientierten. So galt als Voraussetzung für die Wahl zum Offizier ein Universitätsstudium, der Abschluß der oberen Klassen einer hohen Schule, die Bekleidung eines bedeutenden Zivilpostens oder das Betreiben eines Geschäfts, »welches einen Mann von Bildung und Kenntnisse erfordert« 19 . Bevor die Diskussion über diesen Vorschlag jedoch zu wirksamen Veränderungen führen konnte, wurden alle derartigen Überlegungen durch den Abschluß der Konvention von Paris (8. September 1808), die ausdrücklich eine Aushebung von Miliztruppen und Bürgergarden untersagte, hinfällig. Wenngleich damit die ersten Ansätze zur Veränderung der Heeresaufbringung gescheitert waren, so konnte die Kommission doch insofern einen Teilerfolg erringen, als in den am 3. August 1808 erlassenen »Krieges-Artikeln für die UnterOfficiere und gemeinen Soldaten« programmatisch verkündet wurde, daß »künftig jeder Unterthan des Staats ohne Unterschied der Geburt, unter den noch näher zu bestimmenden Zeit- und sonstigen Verhältnissen, zum Kriegsdienst verpflichtet werden« sollte20. 17 18 19 20

Ebd., S. 321. Ebd., S. 323. Ebd., S. 327. Eugen v. Frauenholz, Das Heerwesen des XIX. Jahrhunderts, München 1941 (= Entwicklunsgeschichte des deutschen Heerwesens, Bd5), S. 101.

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Zusammen mit der am selben Tage veröffentlichten »Verordnung wegen der Militairstrafen« 21 bildeten die Kriegsartikel nach den Worten des damaligen Obersten Hermann v. Boyen »die eigentliche Grundlage der besseren Geistigen Entwicklung des Heeres« 22 , weil durch sie die rechtliche und soziale Position des Soldaten und damit das innere Gefüge der Streitkräfte insgesamt neu definiert wurden. Der Soldat wurde als Mann von Ehre anerkannt, was sich unter anderem in der »Freiheit der Rücken« (August-Wilhelm Neidhardt v. Gneisenau), also in der Abschaffung der Prügel, manifestierte. Nachdem die MRK auf Grund der veränderten politischen Situation an ihrem ursprünglichen Wehrkonzept nicht länger festhalten konnte, konzentrierten sich die Reformer in der Folgezeit auf die Ausdehnung des kantonalen Konskriptionssystems auf die bisher eximierten Bevölkerungsgruppen und die Zusammenfassung aller wehrfähigen Männer in einer Streitmacht. Diese Pläne riefen jedoch den erbitterten Widerstand zahlreicher Gruppen hervor. Angehörige der Staatsverwaltung ebenso wie Vertreter des gebildeten und besitzenden Bürgertums wandten sich heftig gegen jede Ausdehnung der Dienstpflicht 23 . Aber auch der Adel, der neben dem Bürgertum als weiterer Stand seine bisherigen Privilegien bedroht sah, machte gegen diese Pläne Front 24 . Doch erhielten die Kommissionsmitglieder in dieser Frage Rückendeckung vom König, der nicht gewillt war, die überkommene Heeresverfassung mit ihrer Fülle von Einzelvorrechten weiterhin bestehen zu lassen25. Zunächst stand die MRK allerdings vor dem Problem, wie man die Zahl der Truppen angesichts der Bestimmungen der Pariser Konvention, die die Gesamtstärke der preußischen Armee auf 42 000 Mann beschränkte, überhaupt erhöhen konnte. Den Ausweg aus diesem Dilemma stellte das sogenannte Krümpersystem dar, d. h. die kurzfristige Ausbildung und der frühzeitige Wechsel zwischen ausgebildeten und nicht-ausgebildeten Rekruten 26 . Damit hatte man einen Weg gefunden, der es erlaubte, unter formaler Erfüllung der französischen Auflagen im Laufe der Zeit eine verdeckte Kriegsreserve aufzubauen. Dagegen kam man mit dem Vorhaben der Ausweitung der Dienstpflicht zunächst nicht weiter. Erst im Sommer des Jahres 1809 wurde eine spezielle Kommission unter dem Vorsitz Scharnhorsts eingesetzt, die die Frage prüfen sollte, wie die »allgemeine MilitärKonscription« unter den gegebenen Umständen in Preußen eingeführt werden konnte27. In ihrem Votum sprach sich die Mehrheit der Kommissionsangehörigen für die Ausdeh21 22

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Abgedruckt ebd., S. 113 ff. Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann von Boyen, hrsg. von Friedrich Nippold, Τ. 1, Leipzig 1889, S. 316. Beispielhaft dafür ist das Votum des Kammerpräsidenten Freiherrn Vincke; vgl. Die Reorganisation des Preußischen Staates, T. 2 (wie Anm. 12), S. 598 ff. Zur Haltung des Adels vgl. ebd., S. 748 f. Vgl. ebd., S. 749. Zum Anteil des Königs an der Heeresreform vgl. neuerdings Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 338ff. Vgl. Die Reorganisation des Preussischen Staates, T. 2 (wie Anm. 12), S. 542. Vgl. Kommissorium zur Erstattung eines Gutachtens wie die allgemeine Militär-Konscription jetzt eingeführt werden kann. Königsberg, 3. Juni 1809, in: Nachlaß Vaupel, Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Rep. 92 Vaupel) Nr. 38, S. 9 f.

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nung der Konskription aus und wies in diesem Zusammenhang vor allem auf den Grundsatz der gleichen Pflichten für alle Staatsbürger hin28. Umstritten war jedoch innerhalb der Kommission das Institut der Stellvertretung, d.h. das Verfahren, das einem Wehrpflichtigen erlaubte, statt der Ableistung des Dienstes eine bestimmte Geldsumme aufzubringen, für die dann ein anderer als Soldat angeworben werden konnte. Gegen derartige Vorstellungen erhob Scharnhorst in mehreren Denkschriften grundsätzliche Einwände, wobei er vor allem auf den prinzipiellen Widerspruch zwischen allgemeiner Konskription und Stellvertretung hinwies 29 . Seine Argumentation basierte im wesentlichen auf der Feststellung, »daß der Bewohner eines Staats eher ein Mitglied des Staats war als ein Gelehrter, Künstler usw.«30. Nur aus der Anerkennung dieses Grundsatzes könne man überhaupt für »irgendeinen Dienstzwang« stimmen. Darüber hinaus betonte er die positiven gesellschaftspolitischen Auswirkungen der allgemeinen Wehrpflicht, insbesondere im Hinblick auf den Abbau von ständischen Schranken und Vorurteilen. Genau das Gegenteil müsse jedoch eintreten, wenn über das Institut der Stellvertretung gerade die gebildeten Schichten sich dem Wehrdienst entziehen könnten und nur die »geringere, die am wenigsten geachtete Klasse der Bewohner des Staates« dienen würde 31 . Jedoch wollte auch Scharnhorst den bürgerlichen Interessen entgegenkommen und sprach sich von daher statt der Stellvertretung dafür aus, den Dienst für die Angehörigen des Bürgertums so kurz wie möglich anzusetzen, um deren persönliches und berufliches Fortkommen nicht ungebührlich zu beeinträchtigen — er selbst dachte bei einer entsprechenden Vorbildung an eine viermonatige Ausbildung innerhalb einer dreijährigen Dienstzeit 32 . Im Grunde liefen diese Überlegungen darauf hinaus, den Wehrdienst für das Bürgertum durch die Gewährung neuer Vorrechte akzeptierbar zu machen. Allerdings führte weder die Diskussion des Jahres 1809 noch ein im Februar 1810 vorgelegter »Entwurf zur Ausführung der Konskription in den preußischen Staaten« 33 dazu, daß die Vorstellungen der Reformer realisiert wurden. Erst durch den Ausbruch des Krieges im Frühjahr 1813 wurden die Bedingungen geschaffen, die schließlich zu einer endgültigen Lösung dieses Problems führten. Am 9. Februar 1813 wurden für die Dauer des Krieges alle bis dahin gültigen Exemtionen aufgehoben, und am 22. Februar wurde der Versuch, sich der Dienstpflicht zu entziehen, nachdrücklich unter Strafe gestellt34. 28 29

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Vgl. Immediatbericht der Konskriptionskommission. Königsberg, 1. Juli 1809, ebd., Nr. 39, S. 95ff. Vgl. Promemoria des Generalmajors von Scharnhorst für die Konskriptionskommission. Königsberg, 10. Juli 1809, ebd., S. 146 f. Ebd., S. 146. Denkschrift Scharnhorsts über die »Unzulässigkeit der Stellvertreter«. Ohne Datum, Beilage zu einem nach dem 22. November 1810 erhaltenen Immediatbericht, in: HZ, 58 (1887), S. 102ff., hier S. 104. Vgl. Promemoria des Generalmajors von Scharnhorst (wie Anm. 29), S. 147. Der Entwurf ist abgedruckt in: Die Reorganisation der Preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden (wie A n m . 11), Abschn. 4, in: Beiheft zum Militair-Wochenblatt für August 1865 bis einschl. Oktober 1866, Berlin 1866, S. 107 ff. Vgl. Frauenholz, Heerwesen, B d 5 (wie Anm. 20), S. 143f., 147f.

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In dieser Situation, die ihren programmatischen Ausdruck in den Aufrufen »An Mein Volk« und »An Mein Kriegsheer« fand 35 , konnten mehrere noch ausstehende Teile der Heeresreform verwirklicht werden. Das galt auch für jene militärischen Formationen, die in besonderer Weise auf die Mentalität und das politische Bewußtsein des Bürgertums Rücksicht nahmen. Am 3. Februar 1813 wurden die freiwilligen Jägerdetachements errichtet, mit denen die ursprünglichen Pläne einer Reserve-Armee bzw. der Provinzialtruppen wieder aufgegriffen wurden. In der entsprechenden Bekanntmachung wurden die Jägerdetachements als militärische Formation gekennzeichnet, deren Bestimmung es sei, »besonders diejenige Klasse der Staatsbewohner, welche nach den bisherigen Kantongesetzen vom Dienste befreit und wohlhabend genug sind, um sich selbst bekleiden und beritten machen zu können, in einer ihrer Erziehung und ihren übrigen Verhältnissen angemessenen Form zum Militairdienst aufzufordern, und dadurch vorzüglich solchen jungen Männern Gelegenheit zur Auszeichnung zu geben, die durch ihre Bildung und ihren Verstand sogleich ohne vorherige Dressur gute Dienste leisten und demnächst geschickte Offiziere und Unteroffiziere abgeben können« 36 . Während durch die Aufstellung der freiwilligen Jägerdetachements die Vorstellung der Reformer von der Integration des Bürgertums in die Armee in die Tat umgesetzt wurde, diente der Aufbau der am 17. März 1813 errichteten Landwehr 37 , die nach den Provinzen und Kreisen organisiert wurde, vor allem dazu, das Konzept der allgemeinen Wehrpflicht schon während des Krieges durchzusetzen 38 . Den Schlußpunkt dieser Entwicklung markierte das »Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste« vom 3. September 181439, das im Paragraphen 1 alle Einwohner Preußens, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, »zur Vertheidigung des Vaterlandes« verpflichtete. Gleichzeitig legte das Gesetz für die Streitkräfte folgende Gliederung fest (§ 3): — stehendes Heer, — Landwehr des ersten Aufgebots, — Landwehr des zweiten Aufgebots, — Landsturm. Die Stärke des stehenden Heeres und der Landwehr sollte nach den Bestimmungen des Paragraphen 3 den »jedesmaligen Staatsverhältnissen« angepaßt werden. Die Linienarmee, die »Haupt-Bildungsschule der ganzen Nation für den Krieg« 40 , setzte sich aus den Freiwilligen zusammen sowie aus einem Teil der »jungen Mannschaft der Nation« vom 20. bis zum 25. Lebensjahr (§ 5). Während die Freiwilligen drei Jahre dienen mußten, 35

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Beide Aufrufe sind abgedruckt in: Das Preußische Heer der Befreiungskriege, hrsg. vom Großen Generalstab, Bd 2, Berlin 1914 (= Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte des Preußischen Heeres), S. 403 ff. Frauenholz, Heerwesen, Bd 5 (wie A n m . 20), S. 141 f. Vgl. ebd., S. 149ff. Vgl. Höhn, Revolution (wie Anm. 1), S. 614. Zum Aufbau und zum Einsatz der Landwehr vgl. die Regionalstudie von Klaus Vetter, Regionalbild der Volksbewaffnung. Der Junker von der Marwitz und die Lebuser Landwehr, in: Napoleon und die nationale Unabhängigkeit. Der Widerspruch des Fortschritts, hrsg. von Helmut Bock und Renate Plöse, Berlin 1990 (= Studien zur Geschichte, Bd 6), S. 197—213. Abgedruckt bei Frauenholz, Heerwesen, Bd 5 (wie Anm. 20), S. 180ff. Ebd., S. 181.

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bestand für die übrigen nur eine Dienstpflicht von einem Jahr. Bei diesen Wehrpflichtigen handelte es sich um junge Leute »aus den gebildeten Ständen, die sich selbst kleiden und bewaffnen« konnten 41 . Sie sollten in Jäger- und Schützenkorps zusammengefaßt werden und bildeten zugleich das Bindeglied zwischen dem stehenden Heer und der Landwehr, da sie nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zumeist als Offiziere in die Landwehr übertraten (§ 7). Die Landwehr des ersten Aufgebots, die im Kriegsfall das stehende Heer unterstützen sollte, rekrutierte sich aus den übrigen Wehrpflichtigen im Alter von 20 bis 25 Jahren, den ausgebildeten Jägern und Schützen sowie aus den Männern vom 26. bis zum 32. Lebensjahr (§ 8). In der Landwehr des zweiten Aufgebots — sie war hauptsächlich zur Verstärkung der Garnisonen vorgesehen — dienten diejenigen, die aus dem stehenden Heer und der Landwehr des ersten Aufgebots ausgeschieden waren, sowie alle Waffenfähigen bis zum 39. Lebensjahr (§ 10). Der Landsturm, der nur bei einer feindlichen Invasion zusammentrat, umfaßte alle Männer bis zum 50. Lebensjahr, soweit sie nicht im stehenden Heer oder in der Landwehr dienten, und darüber hinaus diensttaugliche Jugendliche vom 17. Lebensjahr an (§ 13).

III. Mit diesem Organisationsmodell hatte man »eine Annäherung an die allgemeine Verpflichtung zum Kriegsdienst«42 erreicht, wobei diese Lösung nicht zuletzt durch die ökonomische Situation Preußens erzwungen wurde, weil »der verschuldete und wirtschaftlich schwer mitgenommene Staat ein starkes stehendes Heer leichter auf der Grundlage der Allgemeinen Wehrpflicht erhalten konnte als auf der Basis der friderizianischen Heeresaufbringung« 43 . Zugleich kamen die neuen Einrichtungen, insbesondere die Einjährigen-Regelung, also die unter bestimmten Voraussetzungen mögliche Verkürzung der Dienstzeit auf ein Jahr, die auf eine Teilexemtion vom Wehrdienst hinauslief, weitgehend den spezifischen Interessen und Bedürfnissen des Bürgertums entgegen. Dazu gehörte auch, daß die Offizierstellen in der Landwehr neben ehemaligen Linienoffizieren vorwiegend den Einjährig-Freiwilligen vorbehalten waren, ferner den Unteroffizieren, die freie Grundeigentümer waren, und schließlich allen Kreiseingesessenen, die ein Vermögen von 10000 Talern Kapitalwert nachweisen konnten 44 . Im Kontext der durch die Reformen in Gang gesetzten politischen und sozialen Innovationsprozesse wurde die Landwehr — vor allem von den süddeutschen Liberalen um Karl v. Rotteck — als zukunftsweisende und den angestrebten politischen Verhältnissen adä41 42

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Ebd. Ueber das Leben und den Charakter von Scharnhorst. Aus dem Nachlasse des General Clausewitz, in: Historisch-politische Zeitschrift, hrsg. von Leopold Ranke, Bd 1, Hamburg 1832, S. 181. Wohlfeil, Vom Stehenden Heer (wie Anm. 10), S. 186. Vgl. Emil Obermann, Soldaten, Bürger, Militaristen. Militär und Demokratie in Deutschland, Stuttgart 1958, S. 118.

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quate militärische Organisationsform propagiert. Doch anders als die preußischen Reformer, die mit dieser Einrichtung das Bürgertum an die Armee heranführen wollten, sprachen sich die Liberalen für dieses Modell als Alternative zu den stehenden Heeren aus. Ihre Forderungen zielten letztlich auf eine Verbürgerlichung der Armee ab und auf die Schaffung einer »Nationalmiliz« 45 . Die Kritik an den stehenden Heeren hing unmittelbar mit den politischen Grundüberzeugungen und dem darauf basierenden Kriegsbild des Frühliberalismus zusammen 46 . Im Umkreis dieses Denkens wurde nur der Verteidigungskrieg bejaht, jeder andere Krieg als »Raubzug« abgelehnt. Im Falle eines feindlichen Angriffs erschien die spontane Massenerhebung der Bürger als wirksamstes Mittel zur Verteidigung und zum Schutz des persönlichen Eigentums. Stehende Heere hatten in diesem Kriegsbild ebensowenig Platz wie die persönliche Bindung des Soldaten an den Landesherrn — diese sollte nach dem politischen Programm der Liberalen durch den Eid auf die Verfassung ersetzt werden. Dagegen standen die aktiven Offiziere der Linie der Landwehr überwiegend kritisch gegenüber. Die Einwände der Berufssoldaten bezogen sich einerseits auf die unzulängliche Ausbildung der Landwehr, das heißt, man bezweifelte generell den militärischen Wert dieser Truppe, andererseits hatte die Ablehnung von Anfang an eine starke ideologische Komponente: Die Landwehrsoldaten wurden als politisch unzuverlässig eingeschätzt. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung wird verständlich, warum die militärpolitische Debatte in den Jahren nach den Befreiungskriegen entscheidend durch den Dualismus von Linie und Landwehr bestimmt wurde 47 . Doch galt dies nur für Preußen, da die übrigen deutschen Staaten zumeist Konskriptionsheere aufstellten und den begüterten Wehrpflichtigen die Möglichkeit gaben, sich von der Dienstpflicht entweder direkt oder über einen Stellvertreter loszukaufen 48 . Für die weitere Entwicklung in Preußen war charakteristisch, daß sich über die Landwehr die allmähliche Integration des Bürgertums in die Armee vollzog. Eine besondere Bedeutung kam bei diesem Prozeß auch dem »Einjährigen«-Institut zu. Da das System des einjährig-freiwilligen Dienstes für die Besitzenden und Gebildeten wichtige Privilegien bzw. Erleichterungen beinhaltete, kam es dadurch langfristig zu einer engen Verbindung zwischen großen Teilen des Bürgertums und der Armee. Gleichzeitig hatten die Reformer damit eine der Einrichtungen geschaffen, die nach den Worten Manfred Messerschmidts »zu den Grundpfeilern einer neuen Form des sozialen Militarismus in Preußen wurden« 49 , 45

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49

Vgl. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, Bd 1, 4. Aufl., München 1970, S. 130ff. Vgl. Reinhard Höhn, Die Armee als Erziehungsschule der Nation. Das Ende einer Idee, Bad Harzburg 1963, S. 36 ff. Vgl. Hermann, Deutsche Militärgeschichte (wie Anm. 1), S. 204 ff. Vgl. Wolfgang Petter, Deutscher Bund und deutsche Mittelstaaten, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte (wie Anm. 1), B d 2 , Abschn. IV, 2, München 1979, S. 262 ff. Zum Verfahren der Stellvertretung vgl. Heinz Stübig, Durchs Los zum Aktivdienst bestimmt. Militärdienst und Rempla^antentum, in: Adolph Diesterweg, Wissen im Aufbruch. Katalog zum 200. Geburtstag, hrsg. von der Universität-Gesamthochschule-Siegen, Weinheim 1990, S. 84—89. Manfred Messerschmidt, Preußens Militär in seinem gesellschaftlichen Umfeld, in: Preußen im Rückblick, hrsg. von Hans-Jürgen Puhle und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1980 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), S. 55.

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nicht zuletzt deshalb, weil diese Institution für die Schichten, die davon profitierten, das Interesse an der gegebenen Ordnung wachhielt und immer wieder neu produzierte50.

IV. Allerdings konnte die mit dem Gesetz von 1814 eingeführte allgemeine Wehrpflicht bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowohl auf Grund fehlender Finanzmittel als auch außenpolitischer Rücksichtnahmen nur teilweise realisiert werden, was zur Folge hatte, daß der vorhandene Ersatz bei weitem nicht ausgeschöpft wurde51. Das ganze Ausmaß dieses Problems wird offenkundig, wenn man die Entwicklung der Friedensstärke der stehenden Armee in Preußen betrachtet 52 . Boyen war als Kriegsminister bei seinen Berechnungen von 144000 Mann ausgegangen; das entsprach fast 1,5% der preußischen Bevölkerung. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht, vielmehr stieg die Präsenzstärke bis 1819 lediglich auf rund 127000 Mann und stagnierte seitdem trotz eines erheblichen Bevölkerungszuwachses bis weit in die fünfziger Jahre. Bei über 82 000 Wehrpflichtigen pro Jahr lag die tatsächliche Einstellungsquote nur bei 28 000 bis 30 000 Rekruten. Rechnet man die Zahl derjenigen ab, die dienstuntauglich waren, so wurden jährlich etwa 20000 wehrfähige junge Männer nicht zum Dienst einberufen, sondern traten ungedient als »Landwehrrekruten« in diese Formation über. Die Konsequenzen dieses andauernden Eingriffs in das System der allgemeinen Wehrpflicht betrafen dabei weniger die Linie als vielmehr die Landwehr, deren Ausbildungsstand und — damit verbunden — deren gesellschaftliches Ansehen entscheidend von dem Prozentsatz der gedienten Soldaten in ihren Reihen abhing. Uber die endgültige Auswahl zum Militärdienst entschied seit der Ersatzinstruktion von 1817 das Lebensjahr, und zwar in der Weise, daß der jüngere vor dem älteren Wehrpflichtigen herangezogen wurde, wobei innerhalb derselben »Jahrgangsklasse« der Altere vor dem Jüngeren rangierte, so daß — wie Friedrich Meinecke es ausdrückte — »der im Januar geborene mit schwerem Herzen, das Dezemberkind aber frohgemut selbander zur Musterung zogen« 53 . Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Ergänzungswesens wurden auch die alten Aushebungsbezirke abgeschafft. An ihre Stelle traten für die stehende Armee und die Landwehr acht große Ergänzungsbezirke. Diese deckten sich wegen ihrer gleichen Größe nicht mit den Provinzgrenzen, wodurch »eine wenigstens teilweise interprovinziale Zusammensetzung der einzelnen Regimenter« erreicht wurde54. Boyen wäre lieber noch 50

Vgl. ebd., S. 55 f.

51

Vgl. zum folgenden Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd 2, Stuttgart 1899, S. 77 ff.; Manfred Messerschmidt, Die politische Geschichte der preußischdeutschen Armee, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte (wie Anm. 1), Bd 2, Abschn. IV, 1, München 1979, S. 59ff.

52

Vgl. Meinecke, Hermann von Boyen, B d 2 (wie Anm. 51), S. 125ff.

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Ebd., S. 133.

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Ebd., S. 123.

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einen Schritt weitergegangen und hatte mit Blick auf die Herausbildung eines preußischen Nationalbewußtseins dafür plädiert, Rekruten aus den verschiedenen Provinzen gemeinsam einzuziehen und auszubilden, doch konnte er sich mit diesen Vorstellungen beim König nicht durchsetzen. Von den Rekruten fanden zwei Gruppen, die Polen und die Juden, aus unterschiedlichen Gründen das besondere Interesse des Militärs. Nach den gesetzlichen Bestimmungen galt die Wehrpflicht für alle männlichen Einwohner des preußischen Staates, also auch für die in den nach 1815 wieder an Preußen zurückgefallenen Territorien geborenen Polen. Zwar schätzte man diese Rekruten auf Grund ihrer Genügsamkeit als Soldaten, hatte aber dennoch Zweifel an ihrer Diensttauglichkeit, da »ihr Eigentumsbegriff sehr unausgebildet schien« 55 . Kennzeichnend für die preußische Militärpolitik gegenüber den Polen war ihre Einbindung in die politischen Anstrengungen, die darauf abzielten, die nicht-deutsche Bevölkerung in den östlichen Landesteilen dauerhaft in den preußischen Staatsverband einzugliedern. Dabei spielte der Militärdienst als Zeit einer intensiven Ausbildung, verbunden mit vielfältigen Möglichkeiten der politischen Beeinflussung, eine wichtige Rolle. Doch zeigte sich in der Provinz Posen immer wieder, daß sich die Polen ihrer Dienstpflicht zu entziehen versuchten. Dies kam besonders deutlich während des Aufstandes vom Frühling 1848 zum Ausdruck, als Wehrpflichtige polnischer Nationalität häufiger desertierten als die übrigen Soldaten, und auch später fehlte es nicht an Versuchen, durch zeitweiliges Entweichen aus der Provinz dem Zugriff der Militärbehörden zu entgehen 56 . Ferner unterlagen zunächst auch nahezu alle Juden der Wehrpflicht. 1817 wurde sie durch eine Verfügung des Innenministeriums praktisch auf die »Staatsbürger« unter ihnen eingeschränkt — zu dieser Zeit besaß etwas mehr als die Hälfte aller Juden (52,8 %) das Staatsbürgerrecht 57 . In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiterten alle Bemühungen, dieses Problem einheitlich zu regeln, an der unterschiedlichen Gesetzgebung, die hinsichtlich der Wehrpflicht der Juden zwischen den verschiedenen Landesteilen, insbesondere in den nach dem Wiener Kongreß neu erworbenen oder wiedergewonnenen Gebieten bestand. Unbeschadet der zahlreichen Widersprüche, die daraus für die preußische Militärpolitik resultierten, kann festgestellt werden, daß von Seiten der Regierung im Wehrdienst der Juden ein vorzügliches Mittel gesehen wurde, »nicht nur die soziale Assimilierung, sondern den Ubertritt zur christlichen Religion vorzubereiten« 58 . Dieses Motiv war im Denken der politischen Führung derart ausgeprägt, daß nach der Einschätzung Horst Fischers »die Armee für die Juden in erster Linie eine pädagogischmissionarische, und erst in zweiter Linie eine militärische Aufgabe zu erfüllen hatte« 59 . 55

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Irene Berger, Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Bromberg (1815—1847), Köln, Berlin 1966 (= Studien zur Geschichte Preußens, Bd 10), S. 140. Vgl. Klaus H. Rehfeld, Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Bromberg (1848—1871), Köln, Berlin 1968 (= Studien zur Geschichte Preußens, Bd 11), S. 263. Vgl. Horst Fischer, Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. Zur Geschichte der staatlichen Judenpolitik, Tübingen 1968 (= Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd 20), S. 69. Ebd., S. 113. Ebd.

Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit

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Allerdings standen im Unterschied zu diesen politischen Intentionen die Regimentskommandeure und Offiziere den jüdischen Rekruten mit einer spürbaren Reserve gegenüber, was sich unter anderem dahingehend auswirkte, daß Juden nicht zu den Landwehrübungen eingezogen und dementsprechend auch nicht weiter befördert wurden. Trotz dieser Vorbehalte kam dem Militärdienst bei dem angestrebten »Erziehungsprozeß zur Taufe« (Fischer) eine Schlüsselstellung zu — oder wie die Regierung von Minden 1825 schrieb: »Wie die Schule das jüdische Kind dem christlichen assimiliert, so der Militärdienst den jüdischen Jüngling dem christlichen.« Und weiter hieß es: »Nicht nur wird [...] durch dreijährige Versetzung aus dem Kreis seiner Glaubensgenossen, in den einer frischen, kräftigen und lustigen Christenjugend und durch Dienstgewöhnung so manches alte Kastenvorurteil in ihm abgeschliffen; nicht nur sein Körper gestärkt und geschmeidigt; sondern auch eben durch alles dieses sein künftiger Ubertritt zum Christentum wahrscheinlicher als durch jedes andere Mittel vorbereitet 60 .« Für alle Wehrpflichtigen bedeutete die Ableistung ihres Militärdienstes eine Unterwerfung unter die Disziplin des Obrigkeitsstaates. Dabei mußten die Rekruten sich nicht nur einer anstrengenden Ausbildung unterziehen, sondern waren im alltäglichen Dienstbetrieb zugleich auch einer umfassenden Beeinflussung ausgesetzt, die vor allem dazu diente, die bestehende Ordnung politisch abzusichern und bei den jungen Männern einen sogenannten »militärischen Geist« zu erzeugen 61 .

V. Die anhaltenden Auseinandersetzungen über die Landwehr führten im Zusammenhang mit der nach dem Ende der Befreiungskriege einsetzenden Restaurationspolitik zu tiefgreifenden organisatorischen Veränderungen62. Hauptstreitpunkt war die Selbständigkeit dieser militärischen Formation, für die Boyen nach wie vor vehement eintrat, oder ihre Angleichung an die Linie, die Friedrich Wilhelm III. sowie ein Großteil des Offizierkorps befürwortete. Boyen unterlag in diesem Konflikt und nahm daraufhin seinen Abschied. Die Neuordnung durch die Kabinettsorder vom 22. Dezember 1819 paßte die Landwehr an die Kommandostruktur der Linie an63, was zur Folge hatte, daß die charakteristischen Merkmale ihrer ursprünglichen Organisation, insbesondere ihre lokale Verankerung, aufgehoben wurden. Trotz dieser strukturellen Veränderungen, die dazu führten, daß die Landwehr schließlich zu einem Nebeninstitut der Linie degradiert wurde, verstummten die kritischen Stim60 61

62

63

Zit. ebd., S. 113f., Anm. 38. Vgl. Manfred Messerschmidt, Menschenführung im preußischen Heer von der Reformzeit bis 1914, in: Menschenführung im Heer. Mit Beiträgen von Johann Christoph Allmayer-Beck u.a., Herford, Bonn 1982 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 3), S. 86ff. Vgl. Meinecke, Hermann von Boyen, Bd 2 (wie Anm. 51), S. 379ff.; Messerschmidt, Die politische Geschichte (wie Anm. 51), S. 74ff. Vgl. Frauenholz, Heerwesen, Bd 5 (wie Anm. 20), S. 201 ff.; Dorothea Schmidt, Die preußische Landwehr. Ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen zwischen 1813 und 1830, Berlin (Ost) 1981 (= Militärhistorische Studien, N.F., Bd21), S. 123ff.

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Heinz Stübig

men nicht. Im Gegenteil: die Ereignisse der Revolutionsjahre 1848/49 verstärkten noch die ablehnende Haltung vieler Linienoffiziere 64 . Da eine große Zahl der Landwehrmänner mit den politischen Zielen der bürgerlichen Opposition sympathisierte, standen sie in dieser Auseinandersetzung innerlich auf der Seite der revolutionären Kräfte. Dies führte — vor allem in den westlichen Provinzen — bei den Einberufungen zu Ausschreitungen und Disziplinwidrigkeiten, die sich in Einzelfällen bis zu Zeughausplünderungen ausweiteten. Wenngleich die Landwehr sich trotz dieser Vorfälle nach dem Urteil des in der zweiten Revolutionsphase amtierenden Kriegsministers Adolf v. Strotha im großen und ganzen gut gehalten hatte, so wurden die Negativbeispiele immer wieder als schlagender Beweis für die politische UnZuverlässigkeit und die militärische Untauglichkeit der Landwehrsoldaten angeführt. Ende der fünfziger Jahre gipfelte diese Kritik in der Denkschrift »Bemerkungen und Entwürfe zur vaterländischen Heeresverfassung« des späteren Kriegsministers Albrecht v. Roon, die zugleich den Auftakt für die Heeresorganisation der sechziger Jahre bildete. In seinem Memorandum faßte Roon noch einmal alle Argumente gegen eine Zweiteilung der Streitkräfte in Linie und Landwehr zusammen und plädierte nachdrücklich für die Abschaffung der Landwehr als eigenständiger militärischer Organisation. Sein abschließendes Urteil lautete:

»1. Die Landwehr ist eine politisch falsche Institution, denn sie imponiert dem Auslande nicht und ist für die äußere wie für die innere Politik von zweifelhafter Bedeutung [...] 2. Die Landwehr ist aber zugleich auch ein[e] militärisch falsche und schwache Institution, weil sie a) des eigentlichen, richtigen, festen Soldatengeistes und b) der sicheren disciplinarischen Handhaben entbehrt, ohne die kein zuverlässiger militärischer Organismus gedacht werden kannbS.« Entsprechend den Roonschen Vorstellungen führte die Reorganisation der Streitkräfte von 1860 zu einer Veränderung der Zusammensetzung des Feldheeres im Kriegsfall. Künftig sollten die drei ersten Jahrgänge der Landwehr des ersten Aufgebots zur Reserve gezogen und damit der Kommandogewalt der aktiven Offiziere unterstellt werden, während die übrigen vier Jahrgänge mit der Landwehr des zweiten Aufgebots zur Etappenstreitmacht zusammengefaßt werden sollten. Diese Neugliederung bedeutete die Zerschlagung der Landwehr und damit die endgültige Auflösung der primär für das Bürgertum geschaffenen militärischen Formation. Gleichzeitig verfolgte die politische und militärische Führung bei diesem Eingriff in die Verfassung der Streitkräfte das Ziel, das Heer zu modernisieren und die Heeresstärke an die gewachsene Bevölkerungszahl — sie war zwischen 1816 und 1858 um knapp acht Millionen angestiegen66 — anzupassen. Statt bisher 40000 Rekruten sollten in Zukunft 63 000 Rekruten jährlich einrücken. Dadurch wollte man die Friedensstärke des preußischen Heeres von inzwischen 151000 auf rund 212000 Mann erhöhen. Bereits 1856/57 64 65

Vgl. Messerschmidt, Die politische Geschichte (wie Anm. 51), S. 82f. Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Kriegsministers Grafen von Roon. Sammlung von Briefen, Schriften und Erinnerungen, Bd 2, Berlin 1905, S. 528, 530 (Hervorhebung im Original).

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Vgl. Messerschmidt, Preußens Militär (wie Anm. 49), S. 57.

Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit

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war die dreijährige Dienstzeit, die 1833 aus finanziellen Gründen auf zwei Jahre begrenzt worden war, wieder eingeführt worden. Insgesamt markierte die Reorganisation des preußischen Heeres zu Beginn der sechziger Jahre den Schlußpunkt in der lange geführten Auseinandersetzung über die innere Struktur der Armee, besonders im Hinblick auf die liberale Forderung nach einer Verbürgerlichung des Militärs. An die Stelle der durch das Wehrgesetz von 1814 festgelegten Einteilung der Streitkräfte in Linie und Landwehr trat nun ein »stehende[s] Kaderheer der allgemeinen Dienstpflicht« 67 , was zugleich bedeutete, daß das eigentlich prägende Element innerhalb der so veränderten Militärorganisation die Berufssoldaten waren. Die neue Verbindung zwischen dem Königsheer und den bürgerlichen Schichten bildete der Reserveoffizier, durch den der »ideologische Ausgleich zwischen Bürgertum und Militärmonarchie« geschaffen wurde 68 . Das hing wesentlich damit zusammen, daß seit 1860 der Aufstieg in das Offizierkorps durch die Wahl der aktiven Offiziere eines Regimentes erfolgte. Damit war die militärische Karriere eines Bürgerlichen nicht mehr wie in der Landwehr von dem Urteil von Angehörigen seiner eigenen sozialen Schicht abhängig, sondern von dem Votum anderer Gruppen, die entweder dem Adel entstammten oder dessen Wertmaßstäbe und politische Vorstellungen teilten. In dieser Situation lag es für den bürgerlichen Soldaten nahe, sich den Gepflogenheiten, die in seinem Regiment vorherrschten, möglichst uneingeschränkt anzupassen. Die Triebfeder für dieses Verhalten lag nicht zuletzt in dem Umstand begründet, daß die Beförderung zum Leutnant der Reserve eine wesentliche Voraussetzung für das gesellschaftliche Ansehen und den beruflichen Erfolg war. Indem der bürgerliche Geschäftsmann Reserveoffizier wurde, partizipierte er an der bestehenden Machtorganisation, was unter anderem auch darin zum Ausdruck kam, daß er durch seinen militärischen Dienstgrad den Anspruch auf den Titel »Hochwohlgeboren« hatte, der sonst dem Adligen vorbehalten war 69 . Insofern ist Eduard Schmidt-Weißenfels, einem der frühen Biographen Scharnhorsts, durchaus zuzustimmen, wenn er feststellt, daß sich durch die Veränderungen, die mit der preußischen Heeresreform eingeleitet wurden, insbesondere durch die allgemeine Wehrpflicht, nicht nur die »Nationalisirung einer Armee« sondern auch die »Militärisirung eines Volkes«70 vollzog, wobei er diesen Prozeß allerdings deutlich anders bewertete, als wir dies heute tun.

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69 70

Zit. nach Obermann, Soldaten, Bürger, Militaristen (wie A n m . 44), S. 119. Eckart Kehr, Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers, in: ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. und eingeh von Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl., Berlin 1970 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd 19), S. 62. Obermann, Soldaten, Bürger, Militaristen (wie Anm. 44), S. 191 f. Eduard Schmidt-Weißenfels, Scharnhorst. Eine Biographie, Leipzig 1859, S. 39.

Stig Förster

Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich

1871-1914

1. Die allgemeine Wehrpflicht und das Problem der Volksbewaffnung »Der Krieg war plötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten 1 .«

Mit diesen Worten erfaßte Carl v. Clausewitz den Kern jener fundamentalen Wende in der modernen Militärgeschichte, die 1792 im Gefolge der französischen Revolution eingeleitet wurde. In der Tat hatte das französische Volk zu den Waffen gegriffen, um »seinen Staat« zu verteidigen, d. h. einen Staat, in dem das Volk nicht mehr Objekt autokratischer Herrschaft, sondern, zumindest theoretisch, Subjekt einer vom Volk selbst ausgehenden Staatsgewalt war. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatte sich das Volk selbst mobilisiert, nicht um einen gewaltsamen Aufstand gegen die herrschenden Autoritäten zu wagen, sondern um als Souverän selbst in die Rolle des Militärs zu schlüpfen. Dies war ein direkter Anschlag auf die seit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa etablierte Tradition des staatlichen Gewaltmonopols 2 , derzufolge das Militär als berufsständisch organisiertes Instrument staatlicher Gewaltausübung von der zivilen Sphäre der Gesellschaft eindeutig getrennt erschien3. Indem das Volk nun das Recht beanspruchte, selbst als Waffenträger des Staates aufzutreten, begannen sich die bisherigen Grenzen zwischen Zivil und Militär zu verwischen. Europa trat damit in das »Zeitalter des Volkskriegs« ein, wie es Helmuth v. Moltke später formulierte 4 , jene Phase also, in der nicht mehr nur Berufsmilitärs für das Kriegführen zuständig waren, sondern Kriege tendenziell mit der ganzen Kraft der Völker geführt wurden. Bis 1815 war es schließlich nicht nur das französische Volk, das zu den Waffen griff, sondern auch die Spanier und in gewissem Maße Deutsche und Russen 5 . 1 2

3

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5

Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner Hahlweg, 16. Aufl., Bonn 1952, S. 686 f. Siehe hierzu die ausgezeichnete Arbeit von Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg 1618—1648, Frankfurt a.M. 1992, besonders S. 24—27. Vgl. Ekkehart Krippendorff, Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt a.M. 1985, besonders S. 206—243. Helmuth v. Moltke im Reichstag, 14.5.1890, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages (RT, Sten.Ber.), Bd 114, S. 76f. Zu den Revolutionskriegen insgesamt: Geoffrey Best, War and Society in Revolutionary Europe, 1770—1870, ο. Ο. (London) 1982, S. 63—190. Zu dem militärhistorisch besonders interessanten Phänomen des spanischen Aufstandes von 1808: David Gates, The Spanish Ulcer. A History of the Peninsula War, London 1986.

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Stig Förster

Dabei stellte sich allerdings von Anfang an das Problem, daß die kriegerische Selbstmobilisierung des Volkes nicht nur auf die Dauer mit dem Prinzip militärischer Effizienz kollidierte, sondern grundsätzlich die Kontrollierbarkeit des kriegerischen Geschehens durch die politische und militärische Führung in Frage stellte. Wenn die Volksbewaffnung also einerseits ein neues, gewaltiges militärisches Potential eröffnete, auf das einige europäische Regierungen zumindest bis 1815 nicht mehr verzichten wollten, so mußten andererseits Wege gefunden werden, die dabei freigesetzten Urkräfte in geregelte Bahnen zu lenken. Freiwilligenverbände und Milizsystem erwiesen sich hierbei wegen ihrer beschränkten Leistungsfähigkeit und begrenzten Kontrollierbarkeit als wenig geeignet. Das beste Mittel zur militärischen Kanalisierung der Volksbewaffnung bildete demgegenüber die intensive Ausbildung und vor allem Disziplinierung der bewaffneten Zivilisten und damit deren Integration in das Prinzip des stehenden Heeres. Die allgemeine Wehrpflicht stellte angesichts dessen den Versuch dar, die Idee der Volksbewaffnung im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols zum Zwecke der Steigerung des militärischen Potentials zu nutzen. Hierbei war jedoch seitens der politischen und militärischen Verantwortlichen, vor allem in Frankreich und später in Preußen, keineswegs ausgemacht, welchem politischen Ziel diese Verwendung der Volksbewaffnung dienen sollte. Sie war jedenfalls keineswegs rein defensiv, auf die Landesverteidigung ausgerichtet, sondern konnte durchaus auch das Potential zur Aggression liefern, wie die Kriege zwischen 1792 und 1815 in aller Klarheit demonstrierten. Auf alle Fälle lag in der Instrumentalisierung der Volksbewaffnung die Grundidee der allgemeinen Wehrpflicht, mit der zunächst Carnot und Napoleon Bonaparte experimentierten und der dann die preußischen Militärreformer in den Befreiungskriegen zum Durchbruch verhalfen 6 . Dabei eignete sich die allgemeine Wehrpflicht sogar als Waffe im Kampf gegen das bedrohliche revolutionäre Phänomen des Volkskriegs selbst. Im Krieg von 1870/71 zeigte sich jedenfalls, daß nur die Massenarmee auf der Grundlage der Wehrpflicht in der Lage war, den von der französischen Regierung nach der Schlacht von Sedan ausgerufenen •»guerre α outrance« niederzuringen 7 . Moltke wollte sogar noch weiter gehen. Im Januar 1871 schlug er vor, das deutsche Machtpotential zu einer vollständigen Niederwerfung Frankreichs zu benutzen, um ohne Rücksicht auf die Dauer eines solchen Krieges gegen das gesamte französische Volk die sozio-politischen Wurzeln des Volkskriegs ein für allemal auszurotten 8 . Moltke konnte sich mit diesem Plan bekanntlich nicht gegen Bismarck durchsetzen. Doch der Generalstabschef hatte damit eine wichtige Tendenz angedeutet, die der allgemeinen Wehrpflicht innewohnte: Die von oben disziplinierte und kanalisierte Kraft des Volksheeres war das probate Instrument, mit dem ein totaler Krieg gegen ein anderes Volk und gegen das Prinzip der militärischen Selbstmobilisierung

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Vgl. noch einmal Best, War and Society (wie Anm. 5), S. 99—159. Zu Preußen siehe besonders den Beitrag von Heinz Stübig in diesem Band. Michael Howard, The Franco-Prussian War. The German Invasion of France, 1870—1871, 4. Aufl., London 1968, S. 2 2 4 - 4 3 0 . Vgl. hierzu die Aufzeichnungen in Friedrich III., Deutscher Kaiser, Das Kriegstagebuch 1870/71, hrsg. von Heinrich Otto Meisner, Berlin 1926, S. 319—325.

Militär und staatsbürgerliche Partizipation

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geführt werden konnte, das die Tradition des staatlichen Gewaltmonopols in Europa bedrohte 9 . Die kanalisierte Form der Volksbewaffnung im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht war somit in ihrem Ursprung die militärische und ordnungspolitische Antwort auf das Phänomen der kriegerischen Selbstmobilisierung des Volkes. Sie war der von der politischen und militärischen Führung organisierte Versuch, das staatliche Gewaltmonopol auch im Zeitalter des Volkskriegs durch Integration von ziviler Gesellschaft und militärischer Anstalt zu retten. Doch dies bedeutete natürlich auch, daß sich die früher so scharfen Grenzen zwischen Zivil und Militär weiter zu verwischen begannen. Diese Entwicklung fand unter anderem ihren Ausdruck im preußischen Verfassungskonflikt. Seit 1850 war der preußische Landtag grundsätzlich zum gesetzgeberischen Pendant der allgemeinen Wehrpflicht geworden. Es hatte sich schließlich gezeigt, daß auch die von oben kontrollierte Volksbewaffnung auf die Dauer ohne ein politisches Mitspracherecht für eben dieses Volk unhaltbar war. Der Versuch Anfang der 1860er Jahre, mit der Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ernster als bisher zu machen, die militärische Effizienz zu erhöhen und gleichzeitig die Disziplinierung der Wehrpflichtigen zu verstärken, führte jedoch zu den bekannten scharfen Auseinandersetzungen zwischen Krone und Militärverwaltung auf der einen sowie Parlament und öffentlicher Meinung auf der anderen Seite. Der Kernpunkt des Streits, unbedingte königliche Kommandogewalt oder Mitspracherecht des Parlaments in militärischen Dingen, drehte sich letztlich um die Frage der Trennung zwischen Militär und Zivil. Sollte die Krone und damit die militärische Führung uneingeschränkt über das von oben disziplinierte Volksheer verfügen können, oder durften die Vertreter dieses Volkes Einfluß auf die Ausgestaltung des Heeres haben? Diese Frage ist bekanntlich bis zur Reichsgründung nicht endgültig entschieden worden, doch der dilatorische Kompromiß der Idemnitätsvorlage von 1866 deutete die zukünftige Richtung bereits an: Dem Parlament wurde prinzipiell das Recht zuerkannt, über Militärgesetze und ihre finanzielle Deckung abzustimmen 10 . Damit war ein Durchbruch erzielt worden, denn Militärpolitik blieb nun zumindest teilweise von der Zustimmung der öffentlichen Meinung und des Parlaments abhängig. Es verstärkte sich jene Tendenz, die die allgemeine Wehrpflicht selbst bereits verkörperte: Auch unter den Bedingungen eines halb-absolutistischen Staates wurden die Staatsbürger zu handelnden Subjekten innerhalb der Militärverfassung. Daß sie jedoch nicht zu den bestimmenden Subjekten werden konnten, dagegen stand die Krone und die militärische Führung. Die genaue Abgrenzung der Machtverhältnisse blieb weiteren Konflikten vorbehalten, die die gesamte Geschichte des Kaiserreichs durchzogen.

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10

Zu diesem Komplex demnächst: Stig Förster, The Prussian Triangle of Leadership in the Face of People's War: A Re-Assessment of the Conflict between Bismarck and Moltke, 1870/71, in: O n the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861—1871, ed. by Stig Förster and Jörg Nagler, New York (voraussichtlich) 1994. Vgl. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, 4 Bde, München 1 9 5 4 - 1 9 6 8 , Bd 1, S. 159—205.

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Stig Förster

2. Die Armee als innenpolitisches Machtinstrument Das Problem der allgemeinen Wehrpflicht im Kaiserreich kann nicht verstanden werden, ohne einen Blick auf die Rolle der Armee in Staat und Gesellschaft zu werfen. Nach Meinung der militärischen und politischen Führung war das Heer nämlich keineswegs nur ein Verteidigungsinstrument nach außen. Es war auch und gerade ein Machtinstrument der Systemerhaltung nach innen. Es sollte ein Bollwerk gegen jeglichen Veiänderungsdruck, gegen Parlamentarismus, radikalen Liberalismus und vor allem gegen die Sozialdemokratie sein. Dieser Mißbrauch des Heeres als innenpolitisches Kampfinstrument war es, was ich an anderer Stelle als »konservativen Militarismus« definiert habe11. Die Zielsetzung eines solchen Militarismus formulierte der konservative Reichstagsabgeordnete v. Oldenburg-Januschau im Jahre 1910 in drastischer Weise: »Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag 12 .«

Oldenburg redete damit natürlich dem Staatsstreich von oben das Wort, so wie es vor ihm bereits Generalstabschef Graf Waldersee im Jahre 1890 getan hatte13. Auch wenn derartige Auffassungen besonders extrem waren, so hatten sie doch ganz konkrete Hintergründe. Tatsächlich bereitete sich die militärische Führung auf einen Bürgerkrieg gegen die Arbeiterbewegung vor. In diese Richtung gingen die »Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen« aus dem Jahre 1899, die Generalstabsstudie »Der Kampf in insurgierten Städten« aus dem Jahre 1907 und der Erlaß des Kommandierenden Generals des VII. Armeekorps, General v. Bissing, aus demselben Jahr. Sie alle hatten die gleiche Tendenz: Unter maximaler Gewaltanwendung und unter Bruch mehrerer Verfassungsartikel sollte das Militär notfalls gegen die Arbeiterbewegung und ihre gewählten Führer vorgehen14. Den Hintergrund für diese Pläne bildeten Revolutionsangst und die Sorge vor dem schier unaufhaltsamen Anwachsen der Sozialdemokratie vor allem seit 1890. Die Armee sollte demgegenüber das Bollwerk des Systems für den militärischen Schutz der bestehenden Herrschaftsstrukturen sein. Die Erhaltung der Zuverlässigkeit der Armee war unter diesen Umständen von zentraler Bedeutung für die konservativen Militaristen. Um noch einmal OldenburgJanuschau zu zitieren: »An diesem Bollwerk werden wir nicht rütteln lassen, und an diesem Bollwerk werden Sie (nach links) zerschellen 15 !«

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14 15

Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression, 1890—1913, Stuttgart 1985, besonders S. 7 f. Oldenburg-Januschau am 2 9 . 1 . 1 9 1 0 im Reichstag, RT, Sten.Ber., Bd259, S. 881 f. Zu Waldersees Staatsstreichplan: Reinhard Höhn, Sozialismus und Heer, 3 Bde, Bad Homburg v. d. Höhe 1 9 5 9 - 1 9 6 9 , Bd 3, S. 6 6 - 8 6 . Siehe Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 93 f. und S. 191 f. Oldenburg-Januschau am 9 . 3 . 1 9 0 4 im Reichstag, RT, Sten.Ber., Bd 198, S. 1674—1677.

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Die Soldaten mußten deshalb bereit sein, auf Befehl bedingungslos zu gehorchen und sogar auf ihre eigenen Verwandten zu schießen, wie Wilhelm II. im Jahre 1891 in einer seiner martialischen Reden vor jungen Rekruten der Garde verkündete16. Doch wie war es im Zeitalter der Wehrpflicht möglich, eine derart zuverlässige Truppe aufzustellen, wo doch sozialdemokratische Gesinnung im Volk und damit auch unter den Wehrpflichtigen immer weitere Verbreitung fand? Graf Waldersee, der 1897 dem Kaiser erneut Vorschläge für einen Staatsstreich unterbreitete, sah hier nur eine einfache Lösung: »Wenn es nicht gelingt, die Armee intakt zu halten, so sehe ich schließlich das Ende der allgemeinen Wehrpflicht gekommen 17 .«

So weit aber wollten es weder der Kaiser noch die Militärbehörden kommen lassen. Statt dessen ergriffen sie Maßnahmen, um die »sozialdemokratische Agitation« im Heer zu bekämpfen. Schwarze Listen von bekannten Sozialdemokraten wurden angelegt, politische Diskussionen unter Soldaten verboten, und »patriotischer Unterricht« sollte als ideologisches Gegengift unter den Rekruten wirken. Doch diese Mittel erwiesen sich als untauglich, die politischen Entwicklungen innerhalb der Bevölkerung, aus der sich schließlich die Armee rekrutierte, vom Heer fernzuhalten18. Somit blieb nur das Mittel der systematischen sozialen Diskriminierung bei der Rekrutierung von Soldaten. Die beste Garantie für eine königstreue und innenpolitisch verwendbare Armee waren ein aristokratisches Offizierkorps, ein kleinbürgerlich-ländliches Unteroffizierkorps und vornehmlich bäuerliche Rekruten. Doch diese traditionelle soziale Ausrichtung der preußischen Armee geriet im Kaiserreich wegen der massiven demographischen Veränderungen und der zunehmenden Urbanisierung der Bevölkerung unter erheblichen Druck. So sank der Adelsanteil im Offizierkorps von 44,1 % im Jahre 1885 auf knapp 30% im Jahre 1913. Auch wenn die Generalität im Jahre 1909 zu 60% aus Adligen bestand19, so machte sich doch hier eine deutliche Tendenz der Verbürgerlichung breit. Damit bestand die Gefahr einer Liberalisierung des Offizierkorps. Die Militärbehörden versuchten sich deshalb damit zu behelfen, zusätzliche Offiziere ausschließlich aus dem konservativeren, gehobenen Bürgertum zu rekrutieren. Wilhelm II. schuf hierzu die Grundlage, als er in einer Kabinettsordre vom 29. März 1890 proklamierte, daß fortan nicht mehr nur der »Adel der Geburt«, sondern auch der »Adel der Gesinnung« ausschlaggebendes Kriterium bei der Rekrutierung von Offizieren sein sollte20. Damit wurde die Politik der »erwünschten Kreise« bei der Kooptation von Offizieranwärtern etabliert, die die soziale und gesinnungsmäßige Homogenität des Offizierkorps gewährleisten sollte21. 16 17 18 19

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Höhn, Sozialismus (wie Anm. 13), Bd 3, S. 63 f. Denkschrift Graf Waldersees vom 2 2 . 1 . 1 8 9 7 , Bundesarchiv Koblenz, NL 16, Nachlaß Bülow, Nr. 22. Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 94 f. Zahlenangaben nach Detlef Bald, Sozialgeschichte der Rekrutierung des deutschen Offizierkorps von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, in: Zur sozialen Herkunft des Offiziers, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, München 1977, S. 15—48, hier S. 40. Vgl. Gordon A . Craig, The Politics of the Prussian Army, 1 6 4 0 - 1 9 4 5 , Oxford 1955, S. 236. Deutsche Ausgabe: Die preußisch-deutsche Armee 1640—1945. Staat im Staate, Düsseldorf 1960, S. 260. Vgl. Wilhelm Deist, Zur Geschichte des preußischen Offizierkorps, 1888—1918, in: Das deutsche Offizierkorps 1860—1960, hrsg. von Hanns Hubert Hofmann, Boppard am Rhein 1977, S. 39—58, hier S. 48—52.

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Stig Förster

Auch beim Unteroffizierkorps wurde ähnlich verfahren. Hier achteten die Militärbehörden darauf, daß es sich vornehmlich aus ländlichen und kleinstädtisch-kleinbürgerlichen Kreisen rekrutierte — mit erstaunlichem Erfolg 22 . Bei Offizieren und Unteroffizieren ließ sich die Politik der sozialen Diskriminierung auch unter den Bedingungen der allgemeinen Wehrpflicht einigermaßen kontrolliert durchhalten, handelte es sich hierbei doch um die berufsmäßig organisierten Teile der Armee. Die Politik der »erwünschten Kreise« war jedoch ungleich schwieriger bei den Mannschaften zu realisieren, denn schließlich war im Prinzip jeder männliche Deutsche wehrpflichtig. Dennoch gelang es den Militärbehörden sogar hier, sozial unausgewogene Verhältnisse herbeizuführen. So waren etwa im Jahre 1911 64,1 % aller Eingezogenen des Rekrutenjahrgangs ländlicher Herkunft, obwohl doch nur 42 % der deutschen Bevölkerung auf dem Land lebten. 22,3 % der Rekruten dieses Jahrgangs kamen aus Kleinstädten, nur 7% aus mittleren Städten und gar nur 6% aus Großstädten 23 . Wer vermutete, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, war vollkommen im Recht. Tatsächlich gab der Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartements im preußischen Kriegsministerium, Generalleutnant Wandel, im Verlauf einer Reichtstagskommissionssitzung im Jahre 1913 zu, daß die Militärbehörden überzählige Rekruten bei der Musterung einfach als untauglich deklarierten24. Dabei wurden derartige Ausmusterungen ganz offensichtlich primär im Urbanen Arbeitermilieu vorgenommen. Die Militärverwaltung verzichtete damit jedoch keineswegs auf weniger taugliches Rekrutenmaterial. Ganz im Gegenteil: Die deutschen Arbeiter waren hervorragende Soldaten, wie der hochkonservative Kriegsminister v. Einem im Jahre 1904 bereitwillig im Reichstag konzedierte. Doch, so Einem weiter, »die Gesinnung macht den Soldaten«, und »... mir ist ein königstreuer und auf religiöser Grundlage fußender Soldat, wenn er auch ein paar Ringe weniger schießt, lieber als ein Sozialdemokrat 25 .«

Soziale Diskriminierung fand also auch bei der Einziehung von Wehrpflichtigen statt. Dies war aber nur möglich, wenn die allgemeine Wehrpflicht nicht vollständig durchgeführt wurde, wenn also jährlich deutlich weniger Wehrpflichtige eingezogen wurden, als Taugliche zur Verfügung standen. Tatsächlich blieb es bis 1914 ein wesentliches Ziel der konservativen Militaristen in der Heeresverwaltung, die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht zu verhindern, um die soziale Homogenität und damit die politische Zuverlässigkeit der Truppe zu verteidigen. Dies galt natürlich auch für Offizierund Unteroffizierkorps, deren eng begrenzte Rekrutierungsbasis im Falle einer erheblichen Vergrößerung der Armee ausgeweitet werden mußte. In diesem Sinne wehrte sich Kriegsminister v. Heeringen im Januar 1913 gegen die Forderung des Generalstabs nach totaler Aufrüstung mit folgendem Argument: 22

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Detlef Bald, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr. Sozialstruktur des Militärs. Politik der Rekrutierung von Offizieren und Unteroffizieren, Frankfurt a.M. 1981, S. 48—74. Zahlenangaben nach Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918, Göttingen 1973, S. 162. Protokoll der Sitzung der Budgetkommission des Reichstags vom 28.4.1913, Hauptstaatsarchiv Stuttgart — Kriegsarchiv, Μ 1/6, Bd 127. Einem am 4.3.1904 im Reichstag, RT, Sten.Ber., Bd 198, S. 1529.

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»Die Offizier- und Unteroffizierfrage steht dabei im Vordergrund. Ich halte eine Vergrößerung der preußischen Armee um fast ein Sechstel ihres Bestandes für eine so entscheidende Maßnahme, daß erwogen werden muß, ob nicht ihr innerer Gehalt — gerade was die Offiziere und Unteroffiziere anlangt — wesentlich darunter leidet. Ohne ein Hineingreifen in für die Ergänzung des Offizierkorps wenig geeignete Kreise, das, von anderen Gefahren abgesehen, dadurch der Demokratisierung ausgesetzt wäre, und ohne eine Herabminderung der Anforderungen werden wir in beiden Klassen den außerordentlich erhöhten Bedarf nicht decken können. Nicht geringer erscheinen mir die Bedenken bezüglich der Rekrutierungsmöglichkeit 2 6 .«

Die von oben kontrollierte und disziplinierte Volksbewaffnung im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht stieß also dort auf ihre Grenzen, wo konservative Militaristen in der vollständigen Ausschöpfung der Wehrkraft eine Bedrohung für die der Armee zugedachten Rolle als innenpolitisches Machtinstrument der Krone erblickten. Der Demokratisierungseffekt der Wehrpflicht, der die Armee tendenziell zu einem Volksheer machte, sollte auf diese Weise entschärft werden. Doch diese rückwärtsgewandte Politik, die sich im Kern an vorkonstitutionellen Verhältnissen aus der Zeit von Berufsheeren orientierte, kollidierte mit den äußeren Sicherheitsbedürfnissen des Reiches.

3. Die Armee als außenpolitisches Machtinstrument In den deutschen Einigungskriegen hatte sich die allgemeine Wehrpflicht als hervorragende militärische Grundlage für die Siege der preußischen Waffen erwiesen. Uberall wurde die Wehrpflicht als ein wesentlicher Teil des preußischen Erfolgsgeheimnisses anerkannt. In den Jahren nach 1871 ahmten deshalb alle europäischen Großmächte, mit Ausnahme Großbritanniens, diese Institution nach. Damit entstand ein neues Problem für die militärische Führung in Preußen-Deutschland, denn der quantitative Vorsprung, den die Wehrpflicht gegenüber den anderen Armeen ermöglicht hatte, ging nun verloren. Die Verbreitung der Wehrpflicht in ganz Europa schuf ein neues Phänomen: ein sich beschleunigendes personalintensives Wettrüsten27. Bis etwa 1890 jedoch, solange die Französische Republik international isoliert blieb, waren die Gefahren der allgemeinen Aufrüstung für das Deutsche Reich noch relativ begrenzt. Reichsleitung und militärische Führung konnten es sich deshalb leisten, die quantitative Aufrüstung zu beschränken und von der vollständigen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht abzusehen28. Dabei hatte Generalstabschef Moltke d.A. schon wenige Wochen nach dem Ende des Krieges von 1870/71 vor der Gefahr eines russisch-französi-

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Heeringen an Generalstabschef v. Moltke d.J., 20.1.1913, zit. nach: Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, bearb. im Reichsarchiv, Anlagen zum ersten Band, Berlin 1930, S. 178-180. Ritter, Staatskunst (wie Anm. 10), Bd 2, S. 117f. Zum Problem der personalintensiven Rüstung, die trotz der rapide wachsenden Bedeutung des Kriegsmaterials bis 1914 im Vordergrund stand: Michael Geyer, Deutsche Rüstungspolitik 1860—1980, Frankfurt a.M. 1984, S. 13. Zur Geschichte der deutschen Rüstungspolitik von 1871 bis 1890 existiert nach wie vor keine neuere Monographie. Sie stellt ein dringendes Desiderat der Forschung dar.

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sehen Bündnisses und damit eines Zweifrontenkrieges gewarnt 29 . Mit diesem Fall beschäftigten sich denn auch seine Aufmarschpläne bis zum Ende seiner Dienstzeit im Jahre 1887. Doch Moltke kam zu keinem Ergebnis, wie ein militärischer Sieg gegen zahlenmäßig überlegene Gegner an zwei Fronten zu erringen sei. Die allgemeine quantitative Aufrüstung und die Gefahr, daß auch ein geschlagener Gegner unter Mobilisierung seiner Volksmassen weiterkämpfen würde, legten seiner Planung für einen schnellen Sieg nach einer Seite hin unüberwindliche Hindernisse in den Weg. So sah Moltke schließlich keinen anderen Ausweg, als vor den tödlichen Gefahren eines erneuten Waffengangs »im Zeitalter des Volkskriegs« zu warnen, der ganz Europa in Brand stecken könne und an dessen Ende es keinen Sieger geben würde 30 . Ebensowenig wie in strategischer Hinsicht sah Moltke auf dem Gebiet der Rüstungspolitik einen Ausweg aus dem Dilemma. Er war kein Anhänger des Wettrüstens und fürchtete obendrein, daß eine Intensivierung der deutschen Rüstung nur zu entsprechenden Gegenmaßnahmen der anderen Seite und damit zu einer Verschärfung des Wettrüstens führen würde. Darüber hinaus stand auch er auf dem Standpunkt des konservativen Militarismus, wonach eine vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht im Zuge des Wettrüstens der inneren Homogenität und Zuverlässigkeit der Armee abträglich sei. Moltke lehnte deshalb das Rüstungsprogramm des Kriegsministers v. Verdy du Vernois um 1890 entschieden ab31. Doch schon wenige Jahre später, nachdem das russisch-französische Bündnis Realität geworden war, sahen die Dinge anders aus. Generalstabschef v. Schlieffen war der Meinung, auch im Rahmen eines Zweifrontenkrieges Frankreich in einem kurzen Feldzug entscheidend schlagen zu können. Der im Januar 1906 fertiggestellte Schlieffenplan sah vor, die Franzosen mit quantitativer Überlegenheit anzugreifen und ihre Armee in einer gigantischen Kesselschlacht zu vernichten 32 . Dabei ist im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema entscheidend, daß Schlieffens Planung eben auf der quantitativen Überlegenheit an der Westfront beruhte, die aber im Jahre 1906 gar nicht vorhanden war. Weitere Aufrüstung war somit unausweichlich. Schlieffen selbst machte dies auch ganz deutlich, als er in seiner Denkschrift an den Nachfolger schrieb: »Wir haben die allgemeine Wehrpflicht und das Volk in Waffen erfunden und den anderen Nationen die Notwendigkeit, diese Institution einzuführen, bewiesen. Nachdem wir aber unsere geschworenen Feinde dahin gebracht haben, ihre Heere ins Ungemessene zu vermehren, haben wir in unseren Anstrengungen nachgelassen. Wir pochen noch immer auf unsere hohe Einwohnerzahl, auf die Volksmassen, die uns zu Gebote stehen, aber diese Massen sind nicht in der vollen Zahl der Brauchbaren ausgebildet und bewaffnet 33 .«

29

30

31 32

33

Denkschrift Moltkes vom 27.8.1871, in: Graf Moltke. Die deutschen Aufmarschpläne 1871—1890, hrsg. von Ferdinand von Schmerfeld, Berlin 1929, S. 4—14. Vgl. hierzu Stig Förster, Optionen der Kriegführung im Zeitalter des »Volkskrieges« — Zu Helmuth von Moltkes militärisch-politischen Überlegungen nach den Erfahrungen der Einigungskriege, in: Militärische Verantwortung in Staat und Gesellschaft. 175 Jahre Generalstabsausbildung in Deutschland, hrsg. von Detlef Bald, Koblenz 1986, S. 8 3 - 1 0 7 , hier S. 9 4 - 1 0 3 . Hierzu Eberhard Kessel, Moltke, Stuttgart 1957, S. 7 0 4 - 7 4 8 . Zum Schlieffenplan insgesamt immer noch: Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956. Zit. ebd., S. 155.

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Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Kriegsministerium, das Schlieffens wiederholte Forderungen nach verstärkter Aufrüstung mit Rücksicht auf konservative Uberlegungen immer wieder abgelehnt hatte34, ging der scheidende Generalstabschef nunmehr aufs Ganze: Er verlangte die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Ohne eine solche Maßregel sah Schlieffen die äußere Sicherheit des Reiches gefährdet. Schlieffen war allein schon in dem Maße im Recht, als sein strategischer Plan in der Folgezeit tatsächlich zum alleinigen Siegesrezept des Generalstabs im Falle eines Krieges avancierte. Damit wurden rüstungspolitische Sachzwänge geschaffen, wenn zwischen der tatsächlichen militärischen Stärke des Reiches und seiner strategischen Planung keine unüberbrückbaren Gegensätze entstehen sollten. Genau letzteres aber trat nun ein, weil die konservativen Militaristen im Kriegsministerium auch weiterhin auf die Rüstungsbremse traten35. Schlieffens Nachfolger im Amt, der jüngere Moltke, war lange Zeit zu schwach, um sich gegen diese Entwicklung zu wehren. Erst ab Herbst 1912 stärkte ihm der Chef der Aufmarschabteilung im Generalstab, Oberst Erich Ludendorff, dermaßen den Rücken, daß der Generalstab sich nun massiv der Aufgabe zuwandte, den rüstungspolitischen Sachzwängen des Schlieffenplans Geltung zu verschaffen. A m 25. November 1912 schrieben Moltke und Ludendorff an Kriegsminister v. Heeringen: »Wir müssen wieder das Volk in Waffen werden, zu dem wir einst in großer Zeit durch große Männer geschaffen wurden. Es darf darin für Deutschland kein Zurück, es darf nur ein Vorwärts geben 36 .«

Am 31. Dezember schließlich hakte der Generalstab nach, als er dem Kriegsministerium seine berühmte »Große Denkschrift« übersandte, die die Rüstungsforderungen präzisierte. Moltke und Ludendorff verlangten darin nicht weniger als eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 300000 Mann, um die Versäumnisse der letzten beiden Jahrzehnte nachzuholen. Zur Frage, wo diese enormen Rekrutenzahlen herkommen sollten, vermerkte die Denkschrift lapidar: »Menschenmaterial steht in hinreichender Menge für eine Heeresverstärkung zur Verfügung 37 .«

Die vollständige Ausschöpfung der Wehrkraft, also die rücksichtslose Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, wurde somit vom Generalstab zu einer Frage der nationalen Sicherheit stilisiert. Für die führenden Köpfe der für die strategische Planung zuständigen Militärbürokratie war das Heer damit endgültig zu einem rein außenpolitischen Machtinstrument geworden. Dahinter mußten aus der Sicht des Generalstabs alle Überlegungen bezüglich der innenpolitischen Rolle des Heeres zurückstehen. Doch das Kriegsministerium wehrte sich weiterhin gegen derartige Vorstellungen. Heeringen lehnte die Forderungen des Generalstabs mit den oben zitierten konservativ militaristischen Argumenten ab und hatte dabei, wie noch zu zeigen sein wird, einen gewissen Erfolg38. 34 35 36 37 38

Vgl. Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 112—116. Ebd., S. 1 6 5 - 1 7 1 . Moltke an Heeringen, 2 5 . 1 1 . 1 9 1 2 , Kriegsrüstung (wie Anm. 26), Anlagen, S. 146 f. Moltke an Bethmann Hollweg und Heeringen, 2 1 . 1 2 . 1 9 1 2 , ebd., S. 158—174. Zu dem ganzen Komplex: Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 250—252 und S. 265—273.

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4. Reichstag, Rüstungspolitik und allgemeine Wehrpflicht So wichtig die innermilitärischen Auseinandersetzungen auch waren, so erklären sie jedoch nicht vollständig die Entwicklung der allgemeinen Wehrpflicht im Kaiserreich. Die Zeiten, in denen die militärische Führung sozusagen im luftleeren Raum, das heißt ohne Rücksicht auf den Reichstag und die öffentliche Meinung, Entscheidungen fällen konnte, neigten sich nämlich dem Ende zu. Ganz im Gegenteil: die Geschichte des Kaiserreiches zeigt vielmehr, daß Parlament und öffentliche Meinung zunehmend Einfluß auf die Ausgestaltung der Rüstungspolitik gewannen. Das Prinzip der Volksbewaffnung, auch wenn sie von oben gelenkt war, erhielt somit in der Tat ein Äquivalent in der verbesserten Kontrollmöglichkeit des zivilen Sektors der Gesellschaft über miltärische Fragen, die gerade in der verstärkten Position der Volksvertretung ihren Ausdruck fand — sehr zum Leidwesen der nach wie vor konservativen Reichsleitung und des größten Teils der militärischen Führung 39 . Doch dies war das Ergebnis harter Auseinandersetzungen. Unmittelbar nach der Reichsgründung trat die führende politische Klasse in Preußen-Deutschland zum letzten großangelegten Versuch an, den militärpolitischen Einfluß des Parlaments auf ein Minimum zu beschränken. In den Verhandlungen um die Reichsverfassung konnte Bismarck durchsetzen, daß Artikel 63 festlegte: »Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand [...] des Reichsheeres [...].« Die Rüstungspolitik schien somit eindeutig eine ausschließliche Domäne der obersten Kommandogewalt zu werden, womit der Reichstag fast jeden Einfluß im Bereich des Militärischen verloren hätte. Auf der anderen Seite stand aber immer noch das Budgetrecht des Parlaments, das sich auch auf den Militärhaushalt erstreckte. U m diesen Widerspruch aufzulösen, versuchte Bismarck den Reichstag zu einer dauerhaften Festlegung der Friedenspräsenzstärke des Heeres und damit zur De-facto-Aufgabe des Budgetrechts auf diesem Gebiet zu bewegen. So verkündete Artikel 57 der Reichsverfassung zwar, »Jeder Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen.« Doch der damit festgelegte Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht kam nicht zu seiner vollen Durchführung. Statt dessen bestimmte Artikel 60, daß die tatsächliche Friedenspräsenzstärke einstweilen auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 beschränkt blieb. Die künftige Festlegung der Friedenspräsenzstärke sollte allerdings auf dem Wege der Reichsgesetzgebung erfolgen, womit dem Reichstag potentiell erhebliche Mitwirkungsrechte eröffnet wurden. Darüber hinaus lag der eigentliche Grund für die vorläufige Beschränkung der Friedenspräsenzstärke auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 in den doch recht erheblichen finanziellen Belastungen, die durch die Aufwendung von 225 Thalern pro Kopf der Armee verursacht wurden (Artikel 62). Das Spannungsverhältnis zwischen Kommandogewalt, Mitwirkungsrechten des Reichstags und der Finanzsituation des Reiches blieb somit ungelöst und wurde mit Hilfe eines proviso-

39

Hierzu exemplarisch: Stig Förster, Rüstungspolitik als Objekt politischer Gruppeninteressen: Die Heeresvorlage von 1904/05, in: Parlamentarische und öffentliche Kontrolle von Rüstung in Deutschland 1700—1970. Beiträge zur historischen Friedensforschung, hrsg. von Jost Dülffer, Düsseldorf 1992, S. 7 9 - 9 5 .

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rischen Kompromisses nur mühsam verdeckt. Das Provisorium der Präsenzstärke von 1% der Bevölkerung wurde schließlich bis zum 31. Dezember 1874 verlängert 40 . Als diese Frist ablief, ging Bismarck aufs Ganze und versuchte, den Reichstag zur Annahme eines Aternats, also der dauerhaften Festlegung der Friedenspräsenzstärke, zu zwingen. Diese Strategie löste scharfe Auseinandersetzungen aus und beschwor beinahe einen erneuten Verfassungskonflikt herauf. Im Endeffekt aber einigte man sich auf einen Kompromiß, das sogenannte Septennat, demzufolge eine siebenjährige Bewilligungsfrist für die Friedenspräsenzstärke festgelegt wurde. Man hat hierin eine schwere Niederlage für den Parlamentarismus im Kaiserreich erblickt 41 . Tatsächlich wurde der größte Teil des parlamentarischen Budgetrechts auf sieben Jahre hinaus gebunden. Doch 1893 gelang es dem Reichstag, die Verkürzung dieser Frist im sogenannten Quinquennat auf fünf Jahre zu erreichen, womit eine Abstimmung über die Friedenspräsenzstärke des Heeres zumindest einmal pro Legislaturperiode gesichert wurde. Dabei war es bezeichnend, daß die Reichstagsmehrheit gleichzeitig der Regierung Caprivi eine weitere Konzession abringen konnte, nämlich die Herabsetzung der aktiven Dienstzeit bei der Infanterie von drei auf zwei Jahre, womit der Disziplinierungseffekt eines zeitlich ausgedehnten Wehrdienstes, jene Waffe gegen die der Wehrpflicht innewohnenden Demokratisierungstendenzen, deutlich geschwächt wurde. All dies war das Ergebnis verstärkter Rüstungsbestrebungen seitens der Reichsleitung Anfang der 90er Jahre. Da die Zustimmung des Reichstags hierzu unabdingbar war, mußten Konzessionen gemacht werden, um den harten Widerstand aus dem Parlament gegen eine Ausweitung der Friedenspräsenzstärke des Heeres zu brechen 42 . Diese Vorgänge zeigen deutlich, daß der Verfassungskompromiß von 1871/74 dem Reichstag eben doch ganz erhebliche Einflußmöglichkeiten offengelassen hatte, die sich in dem Maße erweitern mußten, in dem die Reichsleitung im Zuge des internationalen Wettrüstens von einem gleichmäßigen Plateau der Friedenspräsenzstärke abzurücken genötigt war, also der Unterstützung des Parlaments bei der Intensivierung der Heeresrüstung bedurfte. Dabei war die Haltung der Parteien zum Militär im allgemeinen und zu einer Verstärkung der Rüstung im besonderen alles andere als einheitlich. So standen die Sozialdemokraten den militärischen Institutionen des Reichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit scharfer Ablehnung gegenüber. Rüstungsvorlagen konnten niemals auf die Zustimmung der SPD rechnen, die überhaupt die allgemeine Wehrpflicht am liebsten durch ein Milizsystem, also der von oben am wenigsten kontrollierten Form der Volksbewaffnung, ersetzt hätte 43 . Auf dem anderen Extrem des Spektrums stand die »militärfromme« Deutschkonservative Partei, die, wie die oben erwähnten Zitate aus den Reden ihres Abgeordneten v. Oldenburg-Januschau illustrieren, von einer konservativ militaristischen Haltung durchdrungen war, also das Heer auch als innenpolitisches Machtinstrument zur Verteidigung der Privilegien der herrschenden Eliten betrachtete. Auch wenn die Deutschkonservativen öffentlich zumeist demonstrativ für die »Stärkung der Wehr40

Die Reichsverfassung von 1871, zit. nach Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3 Bde, 3. Aufl., Stuttgart 1986, Bd 2, S. 384—402.

41

Wehler, Kaiserreich (wie Anm. 23), S. 1 4 9 - 1 5 1 .

42

Vgl. Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 36—74.

43

Höhn, Sozialismus (wie Anm. 13), Bd 1.

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kraft« eintraten, so unterstützten sie deshalb in Wirklichkeit voll die restriktive Rüstungspolitik der konservativen Militärs, die sich gegen die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht richtete 44 . Angesichts der Isolation der SPD und der willfährigen Haltung der traditionellen politischen Rechten gegenüber einer konservativen Militärpolitik der Reichsleitung kam es bei Sicherung und Stärkung der Rechte des Reichstags hauptsächlich auf die Parteien der bürgerlichen Mitte an. Hier fanden entscheidende Entwicklungen statt, die den Gang der Rüstungspolitik und damit das weitere Schicksal der allgemeinen Wehrpflicht maßgeblich beeinflußten. In den 1870er Jahren hatten Zentrum, Linksliberale und Nationalliberale gemeinsam das Budgetrecht des Reichstags gegen die Anschläge Bismarcks verteidigt. Doch in der Rüstungspolitik vertraten diese Parteien sehr unterschiedliche Ansätze. Während die Nationalliberalen jederzeit für eine Forcierung der Rüstung zu haben waren, blieb das katholische Zentrum zunächst sehr militärkritisch und rüstungsfeindlich, während die Linksliberalen, unter dem Einfluß Eugen Richters, sich sogar beinahe sozialdemokratischen Vorstellungen annäherten. Mit diesen Positionen gingen die bürgerlichen Parteien in die großen rüstungspolitischen Auseinandersetzungen Anfang der 90er Jahre. Kriegsminister v. Verdy du Vernois war der einzige Inhaber dieses Amtes im Kaiserreich, der ernsthaft den Versuch zur vollen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht unternahm. Als Antwort auf den wachsenden Rüstungsvorsprung der sich gerade herausbildenden russisch-französischen Allianz arbeitete er um 1890 einen Plan zur schrittweisen vollständigen Ausnutzung der deutschen Wehrkraft aus. Sein Ziel war es, unter Beibehaltung der dreijährigen Wehrpflicht den Reichstag auf dieses Programm festzulegen, was gleichbedeutend mit der endgültigen Durchsetzung des Äternats und einer scharf disziplinierten Wehrpflichtigenarmee gewesen wäre. Die große Mehrheit des Parlaments lehnte ein solches Ansinnen jedoch entschieden ab, und der obendrein ungeschickt taktierende Kriegsminister mußte schließlich sogar seinen Hut nehmen. Statt dessen einigten sich Regierung und Reichstag im Juni 1890 darauf, daß die vollkommene Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht allein schon aus finanziellen Gründen heraus unmöglich sei, denn es herrschte eine schwere Wirtschaftskrise. Unter Führung des Zentrums war damit das Verdy-Programm gestoppt worden 45 . Reichskanzler Caprivi unternahm dennoch wenig später einen erneuten Anlauf zu einer Heeresverstärkung. Sein Ziel war allerdings nicht mehr die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Statt dessen strebte er »nur« noch eine Heeresvermehrung um 72 000 Gemeine an. Doch auch wenn er dem erbitterten Widerstand des Kaisers und der konservativen militärischen Kamarilla die oben erwähnten Konzessionen an den Reichstag abrang, so war die Parlamentsmehrheit doch nicht bereit, seine Forderungen zu bewilligen. Erst nach harten innenpolitischen Auseinandersetzungen und dem Verzicht auf ein Drittel der Heeresvermehrung wurde die Vorlage 1893 mit knapper Mehrheit angenom44

45

Vgl. hierzu die zahlreichen Passagen über die militärpolitische Haltung der Deutschkonservativen Partei in: Förster, Militarismus (wie Anm. 11). Ebd., S. 2 8 - 3 6 .

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men, wobei entscheidend war, daß das Zentrum sich in dieser Frage spaltete46. Damit entstand das Bild der prinzipiellen Rüstungsfeindschaft der Reichtagsmehrheit, das sich auch in den Köpfen der meisten Historiker festsetzte. Tatsächlich hatte der Reichstag seine Macht demonstriert, rüstungspolitische Bestrebungen der Regierung wenn nicht zu blockieren, so doch zumindest erheblich abzuschwächen. Dieser Eindruck verfestigte sich noch bei den Auseinandersetzungen um die Quinquennatsvorlagen von 1898/99 und 1904/05, als die Reichstagsmehrheit erneut Abstriche an den Rüstungsforderungen der Reichsleitung durchsetzte. Entscheidend hierbei war durchweg die Rolle des Zentrums als Zünglein an der parlamentarischen Waage. Dabei muß allerdings einschränkend hinzugefügt werden, daß die finanziellen Belastungen infolge des Schlachtflottenbaus einem Ausbau des Heeres ohnehin enge Grenzen setzten und das Kriegsministerium aufgrund seiner nunmehr gänzlich konservativ militaristischen Haltung jegliches Interesse an großen Heeresvermehrungen oder gar an der Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht verloren hatte. Die Heeresrüstungspolitik stagnierte deshalb weitgehend 47 . Inzwischen aber waren anderswo erhebliche Veränderungen eingetreten. Im Generalstab trommelte Schlieffen für die volle Ausnutzung der Wehrkraft, wenn auch einstweilen mit wenig Erfolg. Außerhalb des Parlaments gewannen gleichzeitig die neuen rechtsradikalen Agitationsverbände um den Flottenverein und den Alldeutschen Verband zusehends an Einfluß auf die bürgerliche öffentliche Meinung. Bis etwa 1910 propagierten sie noch vornehmlich den Schlachtflottenbau, doch innerhalb des Alldeutschen Verbands machten sich allmählich Tendenzen breit, auch einen Ausbau der Armee zu verlangen48. Dies zeigte erstaunliche Wirkungen, als der nationalliberale Parteiführer Bassermann im Dezember 1910, anläßlich einer weiteren eng begrenzten Quinquennatsvorlage, Regierung und Heeresverwaltung plötzlich massiv wegen der angeblichen Vernachlässigung der Armee anging. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kaiserreichs wurde die Regierung im Reichtstag wegen zu geringer Rüstungsanstrengungen zu Lande kritisiert. Die Bedeutung dieses Novums war um so größer, als Bassermann als erstes Parlamentsmitglied die volle Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht anmahnte und überdies die Beseitigung des Adelsprivilegs im Offizierkorps verlangte 49 . Damit wurde eine neue Tendenz deutlich: Teile der bürgerlichen öffentlichen Meinung schlugen sich fortan gänzlich auf die Seite der allgemeinen Wehrpflicht und machten Front gegen den konservativen Militarismus des Kriegsministeriums und seine restriktive Rüstungspolitik. Dabei wurde die Forderung nach Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Verlangen nach Reformen innerhalb der Armee verbunden, die die alten Zöpfe zur Erhaltung der traditionellen Homogenität abschneiden sollten, um die militärische Effizienz des Heeres als Machtinstrument nach außen zu erhöhen. Hierin lagen denn auch Ursache und Ziel der plötzlich in der zivilen Öffentlichkeit auftretenden Rüstungsfor-

46 47 48 49

Ebd., Ebd., Ebd., Rede

S. 3 6 - 7 4 . S. 9 1 - 1 4 3 . S. 1 8 1 - 1 8 7 . Bassermanns am 1 0 . 1 2 . 1 9 1 0 im Reichstag, RT, Sten.Ber., Bd262, S. 3547—3555.

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derungen. Sie waren Ausdruck der wachsenden Kriegstreibereien seitens der rechtsradikalen Agitationsverbände, die auch etablierte bürgerliche Parteien wie die Nationalliberalen zu erfassen begannen. Es war eine neue Form des Militarismus entstanden, die das Heer für die Aggression nach außen zu mißbrauchen gedachte: der bürgerliche Militarismus50. Im Gefolge der Agadirkrise von 1911 kamen diese Tendenzen gänzlich zum Durchbruch. Die Verschärfung der internationalen Spannungen und die Empörung über das Zurückweichen der expansionistischen deutschen Außenpolitik vor britischem und französischem Druck provozierte einen Sturm in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Nationalliberale und sogar das Zentrum verlangten eine Verschärfung der rüstungspolitischen Gangart, und die Alldeutschen nutzten die Gunst der Stunde, um sich in Gestalt der Massenorganisation des Deutschen Wehrvereins einen kriegstreiberischen Ableger zur Propagierung der totalen Aufrüstung zu Lande zuzulegen. Von nun an wuchs der Druck in der bürgerlichen öffentlichen Meinung, getragen von August Keims Wehrverein, den Alldeutschen, den Nationalliberalen und der mit diesen Gruppen verbundenen Presse zugunsten einer massiven Verstärkung des Heeres derart, daß sich auch die anderen bürgerlichen Parteien, namentlich das Zentrum und die Linksliberalen, dem nicht mehr entziehen konnten. Der Reichstag wandelte sich damit von einer rüstungsfeindlichen zu einer rüstungsfreundlichen, wenn nicht gar rüstungstreibenden Institution. Da der Einfluß des Parlaments in militärpolitischen Fragen seit den 1890er Jahren ohnehin gestiegen war, konnte diese Entwicklung auf die Heeresrüstungspolitik der Reichsleitung nicht ohne Wirkung bleiben. Tatsächlich leitete der bürgerliche Militarismus in der öffentlichen Meinung Wasser auf die Mühlen des ohnehin nach verstärkter Rüstung strebenden Generalstabs, zumal der Kaiser und auch Kanzler Bethmann Hollweg durchaus nicht abgeneigt waren, diesen Forderungen wenigstens teilweise nachzugeben. Das Resultat waren die beiden großen Heeresvermehrungen von 1912 und 1913, die insgesamt eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um beinahe 160000 Mann erbrachten. Doch der Generalstab hatte sein Ziel, die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, noch immer nicht erreicht. Die 300000, die Moltke und Ludendorff in der »Großen Denkschrift« vom Dezember 1912 gefordert hatten, waren nicht bewilligt worden. Kriegsminister v. Heeringen war es gelungen, nach heftigen internen Auseinandersetzungen und nach einem intrigenreichen Ränkespiel seinen konservativen Bedenken gegenüber einer allzu großen Vermehrung des Heeres bei Kaiser und Reichskanzler Geltung zu verschaffen. Der konservative Militarismus blockierte also nach wie vor die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, wie übrigens auch die Reformforderungen des Reichstags. Dabei blieb es bis zum Kriegsausbruch, auch wenn Generalstabschef Moltke und der Wehrverein unablässig die endliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht einklagten51. Im Juli 1914 provozierte das Deutsche Reich somit einen Weltkrieg, ohne nach seinen Möglichkeiten gerüstet zu sein52. 50 51

52

Zur Definition und Einordnung dieses Begriffs: Förster, Militarismus (wie Anm. 11), S. 8. Laut Heeringens Nachfolger im A m t des Kriegsministers, v. Falkenhayn, wurden allein im Jahre 1913 trotz der erheblichen Heeresvermehrung dieses Jahres 38000 taugliche Wehrpflichtige nicht eingezogen. Rede Falkenhayns im Reichstag, 5 . 5 . 1 9 1 4 , RT, Sten.Ber., Bd294, S. 8455f. Zu dem ganzen Komplex: Förster, Militarismus (wie A n m . 11), S. 208—296.

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5. Fazit Insgesamt aber hatten die rüstungspolitischen Auseinandersetzungen zwischen 1910 und 1914 gezeigt, daß Militärpolitik im Zeichen der allgemeinen Wehrpflicht endgültig nicht mehr eine ausschließliche Angelegenheit der Führungsinstanzen der Armee war. Die öffentliche Meinung und namentlich der Reichstag hatten ganz erheblich an Einfluß gewonnen. Politiker wie Heinrich Claß vom Alldeutschen Verband, August Keim vom Wehrverein und Ernst Bassermann von der Nationalliberalen Partei nahmen sich das Recht heraus, als Staatsbürger zur Militärpolitik Stellung zu nehmen und die Verfahrensweise der Heeresverwaltung zu kritisieren. Da sie nicht wie die Sozialdemokraten und früher das Zentrum und die Linksliberalen eine vorwiegend negative Haltung gegenüber der Armee an den Tag legten, sondern statt dessen in deren Ausgestaltung eingreifen wollten, hatten ihre Interventionen ungleich größeres Gewicht, zumal sie zumindest im Generalstab Gehör fanden. Damit aber näherte man sich allmählich jenem Zustand an, den einst Clausewitz in bezug auf die französische Revolution beschrieben hatte: Die Staatsbürger machten militärische Fragen zu ihrer eigenen Sache. Die neue Rechte betrachtete es schließlich als ihre Aufgabe, die Idee vom »Volk in Waffen« in die Praxis umzusetzen und in diesem Sinne eine moderne, militärisch effiziente Armee anzustreben53. Auf diese Weise erreichte jene Tendenz ihren vorläufigen Höhepunkt, die vor allem seit Beginn der 1890er Jahre in der immer stärker werdenden Rolle des Reichstags in der Militärpolitik zum Ausdruck kam, nämlich die allmähliche Konvergenz von kontrollierter Volksbewaffnung und politischer Partizipation des Volkes. Das Gewaltmonopol des Staates, so wie es die konservativen Militärs verstanden, nämlich die ausschließliche Kontrollgewalt der militärischen Führung über die von oben organisierte und disziplinierte Volksbewaffnung im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht, wurde damit in Frage gestellt. So war es denn nur natürlich, daß der politischen und militärischen Leitung nicht nur der steigende Einfluß des Reichstags, sondern auch die Aktivitäten des Wehrvereins unangenehm waren, die sie erfolglos zu unterbinden versuchten54. Die Partizipationsbestrebungen unter den zivilen Staatsbürgern ließen sich nicht mehr aufhalten. Doch es war die Tragödie des Kaiserreichs, daß sich diese gesteigerte Partizipation in den entscheidenden Jahren vor 1914 in Richtung auf rücksichtslose Aufrüstung auswirkte. Mehr noch, dieser Rüstungsdruck aus der zivilen Öffentlichkeit steuerte direkt in den Krieg. So forderte der nationalliberale Politiker Edmund Rebmann im Februar 1913: »Sagen wir wieder einmal dem Volke: W i r haben unsere Waffen, und wir wollen sie brauchen, der Teufel soll holen, wenn wir nicht wieder dieselbe Sache erhalten wie im Jahre 1870 5 5 !« 53

54

55

Vgl. etwa Daniel Frymann (i.e. Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser war'. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912, S. 102 f. Vgl. Klaus Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik und Öffentlichkeit im Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 2. Aufl., Düsseldorf 1970, S. 176—178, und Roger Chickering, Der »Deutsche Wehrverein« und die Reform der deutschen Armee 1912—1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 25 (1979), S. 7 - 3 5 , hier: S. 18f. Rebmann auf der Sitzung des nationalliberalen Zentralvorstands am 9 . 2 . 1 9 1 3 , zit. nach: Von Bassermann zu Stresemann. Die Sitzungen des nationalliberalen Zentralvorstandes 1912—1914, hrsg. von Klaus-Peter Reiss, Düsseldorf 1967, S. 139 f.

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Stig Förster

Noch brutaler äußerte sich Heinrich Claß, als er seiner Forderung nach Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht hinzufügte: »Oben habe ich die Ansicht bekämpft, daß wir >saturiert< seien — stellt die öffentliche Meinung sich dazu in gleicher Weise, so wird sie auch unzweideutig aussprechen: Heer und Flotte sind auch Waffen

des Angriffs, wenn die Sicherung unseres Daseins es verlangt5*'.« Unter den innenpolitischen Bedingungen des Wilhelminischen Reichs hatte die wachsende Partizipation der bürgerlichen Öffentlichkeit in militärischen Fragen vornehmlich negative Folgen, weil sie, wie einst während der französischen Revolution 57 , eine kriegstreiberische Richtung einschlug. Schließlich traten die bürgerlichen Militaristen so vehement für die volle Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ein, um das dadurch gesteigerte militärische Potential für die Aggression nach außen zu nutzen. Wehrpflicht und politische Partizipation erwiesen sich somit keineswegs als positive Errungenschaften per se, sondern es kam und kommt auf deren inhaltliche Ausgestaltung und Ausrichtung an. Für die heutige Diskussion um die Wehrverfassung gilt es deshalb festzuhalten, daß die Gleichsetzung von allgemeiner Wehrpflicht und Demokratie am Kern der Dinge vorbeigeht. Dieses Argument hatte überhaupt nur Sinn, solange es sich gegen den absolutistischen Ständestaat des 18. Jahrhunderts und restaurative Tendenzen vor dem Ersten Weltkrieg richtete, und auch hierbei ging es eher um Partizipation als um wirkliche Demokratie. Die allgemeine Wehrpflicht ließ sich nämlich, wie spätestens die furchtbaren Erfahrungen von zwei Weltkriegen gezeigt haben, für so ziemlich jede politische Zielsetzung einsetzen, wenn diese Politik populistisch ausgerichtet und abgesichert war. Die Partizipation der Staatsbürger am politischen Prozeß war schließlich nicht unbedingt gleichbedeutend mit Demokratie. Auch totalitäre Diktaturen erwarteten von ihren Staatsbürgern aktive Teilnahme in den eigens dafür eingerichteten Massenorganisationen, ja waren auf diese Mitwirkung angewiesen. So war es möglich, daß nicht nur Demokratie, sondern auch stalinistische und faschistische Diktaturen die Institution der allgemeinen Wehrpflicht erfolgreich zu ihren Zwecken einsetzen konnten. Es ist deshalb aus historischer Sicht verfehlt, von dieser spezifischen Form der Wehrverfassung einen automatischen Beitrag zur Festigung der Demokratie zu erwarten. Ob die allgemeine Wehrpflicht jedoch aus darüber hinausgehenden politischen und militärischen Gründen nach wie vor eine Daseinsberechtigung hat, ist allerdings eine andere Frage.

56 57

Frymann, Kaiser (wie Anm. 53), S. 104 (Hervorhebung im Original). Vgl. T.C.W. Blanning, The Origins of the French Revolutionary Wars, London 1986, S. 69—130.

Holger Afflerbach

»Bis zum letzten Mann und letzten Groschen?« Die Wehrpflicht im Deutschen Reich und ihre Auswirkungen auf das militärische Führungsdenken im Ersten Weltkrieg

1. Allgemeine Wehrpflicht und Absoluter Krieg Clausewitz hatte nach den napoleonischen Kriegen seine Theorie vom »absoluten Krieg« entworfen 1 . Der Krieg müsse in seiner ideal typischen Form mit der Unterwerfung des Unterlegenen unter den Willen des Siegers enden. Andere Rücksichten als diese, den Sieg zu erringen, machten den Krieg zu einem »Halbding«. Eigentlich müsse bezweifelt werden, daß der Krieg in der Wirklichkeit sich jemals seinem »ihm absolut zukommenden Wesen« annähern werde. Doch seien die Kriege Napoleons der Vorstellung des »absoluten Krieges« schon sehr nahegekommen. Im Ersten Weltkrieg, der ersten, ganz Europa umfassenden Auseinandersetzung nach 1815, fand der »absolute Krieg« eine noch weit vollständigere Umsetzung in die Realität. Die Kriegführung wurde während der französischen Revolution revolutioniert. Der 1793 erstmals eingeführten Konskription kommt bei der ungeheuren Ausweitung und Radikalisierung des neuzeitlichen Krieges eine zentrale Bedeutung zu. Nach der Definition der »Deutschen Militärgeschichte« war die »Grundidee der allgemeinen Wehrpflicht [...] die Idee des Volkes in Waffen, der Levee en masse aller Wehrfähigen des Volkes. Der Krieg als Volkskrieg, an dem sich jeder, wenn er irgendeine Waffe tragen konnte [...], zu beteiligen hatte, durchbrach die Grenzen des >gehegten< Krieges, wie er sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. [...] Jeder Angehörige des feindlichen Staates wurde somit als Feind angesehen. [...] So bedeutete der Volkskrieg, obwohl er der heroischen Grundhaltung des zur Selbstverteidigung entschlossenen freien Bürgers entsprang, zugleich einen Rückfall in die barbarischsten Formen der Kriegführung 2 .« Bei der Auseinandersetzung zwischen großen Wehrpflichtarmeen handelte es sich nicht mehr nur um den Kampf zwischen Heeren, sondern zwischen Völkern, deren Schicksal vom Verlauf und Ausgang des Kampfes abhing. Die daraus folgende Radikalisierung der Kriegführung hat der englische Militärtheoretiker J. F. C. Fuller grade in bezug auf den Ersten Weltkrieg einer herben Kritik unterzogen. Er sieht in der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einen gewaltigen zivilisatorischen Rückschritt. Sie habe Europa aus der 1

1

Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 19. Aufl., Bonn 1980, S. 952ff., 8. Buch, 2. Kapitel: Absoluter und wirklicher Krieg. Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 5, Abschn. IX, München 1979, S. 194.

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vergleichsweise kultivierten Kriegführung des Absolutismus auf das barbarische Niveau der Stammeskriege zurückgeworfen. Nun würden wieder Völker wie ganze Stämme gegeneinander kämpfen; der Krieg entscheide über das Schicksal aller und binde jeden in seinen Verlauf ein; er werde geschürt durch ungesunden, aufgepeitschten Haß gegen den Feind. Die Trennung zwischen Volk und Armee, zwischen Krieg und Zivilleben sei aufgehoben. Die militärischen Führer gingen sorgloser mit ihren Soldaten um, gehorchend den Gesetzen der neuen militärischen Logik. Fuller kritisiert vor allem, daß Menschen durch die Wehrpflicht zu leicht ersetzbar seien3. Während Fuller die militärischen Auswirkungen der allgemeinen Wehrpflicht auf den Ersten Weltkrieg analysierte, untersuchte Gerhard Ritter ihre politischen Auswirkungen auf den Kriegsverlauf 4 . Ritter sah in seinem vierbändigen Werk »Staatskunst und Kriegshandwerk« in der Heranziehung des gesamten Volkes zur Kriegführung einen politischen Radikalisierungseffekt entstehen, der einen Kompromißfrieden unmöglich und auch die vernünftigsten Staatsführungen von den nationalistischen Strömungen der Völker abhängig gemacht habe. Der Krieg, einmal begonnen, sei durch unkontrollierbare nationale Leidenschaften zum Kampf um »Sein oder Nichtsein« geworden. Der Fragestellung, welche Zusammenhänge zwischen allgemeiner Wehrpflicht und der radikalen — oder, um mit Clausewitz zu sprechen, absoluten — Kriegführung des Ersten Weltkrieges zu erkennen sind, soll im folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden.

2. Technisierung der Kriegführung Doch zunächst muß festgestellt werden, daß die seit der napoleonischen Ära erheblich gesteigerte industrielle Leistungskraft, die sich auch auf militärischem Gebiete bemerkbar machte, eine wesentliche Rolle bei der Radikalisierung der Kriegführung während des Ersten Weltkrieges spielte. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Napoleon verfügte 1815 vor der Schlacht bei Waterloo über circa 20000 Schuß Artilleriemunition, deren Gesamtgewicht etwa 100 Tonnen betrug. Die Engländer hatten zur Vorbereitung des Angriffs an der Somme Ende Juni 1916 2960000 Schuß Artilleriemunition mit einem Gewicht von 21000 Tonnen an die Front geschafft5. Reichweite und Geschoßgeschwindigkeit hatten sich seit der napoleonischen Zeit annähernd verzehnfacht 6 . Die Einführung der Eisenbahn und des Verbrennungsmotors, der Maschinengewehre, Handgranaten, Flammenwerfer, des Stacheldrahts, der Gaswaffen, Panzerkampfwagen, Flugzeuge, Torpedos, U-Boote und gepanzerten Dampfschiffe hatte die Kriegführung verändert. Die 3 4 5

6

J.F.C. Fuller, Die entartete Kunst, Krieg zu führen, 1 7 8 9 - 1 9 6 1 , Köln 1964, S. 33f., 36. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, 4 Bde, München 1954—1968. John Keegan, Das Antlitz des Krieges, Düsseldorf, Wien 1980, S. 252, 278 f. Zu beachten bleibt hierbei allerdings, daß sich die Taktik der Waffenwirkung anpaßte. Die offene Aufstellung der napoleonischen Zeit bot bei geringerer Kampfentfernung weit weniger Schutz als die Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Ebd., S. 253.

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Auswirkungen technischer Neuerungen im Kriegswesen hatten sich aber schon in den Kriegen zwischen 1815 und 1914 — vor allem im Krimkrieg, im amerikanischen Bürgerkrieg und im Russisch-Japanischen Krieg — beobachten lassen. Der Erste Weltkrieg sprengte die Dimensionen dieser schon furchtbaren kriegerischen Auseinandersetzungen bei weitem. Nur mit Hilfe der verbesserten industriellen Fertigung konnten die Millionenheere des Ersten Weltkriegs ausgestattet werden, die infolge der Erfassung der Bevölkerung durch die allgemeine Wehrpflicht zustande kamen. Ein wesentliches Merkmal der europäischen Armeen vor dem Ersten Weltkrieg war, daß sie fast alle auf dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht basierten, diese aber nicht voll ausschöpften 7 . Die Idee vom »Volk in Waffen« und die Vorstellung, tatsächlich alle Wehrpflichtigen zu erfassen, wurde zwar immer wieder vereinzelt, in massiver Form aber erst in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einer politischen Forderung erhoben.

3. Die allgemeine Wehrpflicht in der Diskussion zwischen Generalstab und Kriegsministerium in den Jahren 1913/14 Die Forderung »Volk in Waffen« war durch die gespannte internationale Lage in Europa hervorgerufen worden. Der Erste Weltkrieg stand am Ende einer Reihe schwerer internationaler Krisen, von denen jede einzelne den Kriegsausbruch fast schon herbeigeführt hätte. Besonders nach der Zweiten Marokkokrise im Sommer 1911 machte sich in weiten Teilen der deutschen Führungsschicht Endzeitstimmung breit. Zwar war der Krieg gegen England und Frankreich noch einmal vermieden worden, doch wurde der Krieg zwischen der Entente und den Mittelmächten in den kommenden Jahren als unausweichlich angesehen 8 . Vor allem nach Ausbruch der Balkankriege versuchten die kontinentalen Staaten, ihr militärisches Potential durch die weitestmögliche Ausschöpfung der allgemeinen Wehrpflicht sowie durch Verlängerung der Dienstzeiten nach Kräften zu vergrößern. Die bisherigen, erheblichen Rüstungsanstrengungen waren den Scharfmachern aller Seiten — in Deutschland beispielsweise dem »Deutschen Wehrverein« unter der Leitung des Generals Keim — als nicht ausreichend erschienen. Das Wettrüsten erhöhte die Nervosität der Staaten, die bei der Ausschöpfung ihres Potentials an Wehrpflichtigen an ihre Grenzen gestoßen waren. Frankreich tat alles, um unter äußerster Anspannung seiner Kräfte trotz erheblich geringerer Bevölkerungszahl eine Armee zu unterhalten, die der des Deutschen Reiches vergleichbar war 9 . In Deutsch7 8

9

Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 5, Abschn. IX, S. 200. Wolfgang J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914, in: Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890—1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung, hrsg. von Jost Dülffer und Karl Holl, Göttingen 1986, S. 1 9 4 - 2 2 4 . Dazu: Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 3, Abschn. V, S. 41 f.; Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht 1 9 1 3 - 1 9 1 4 , Wiesbaden 1980.

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land herrschte in den letzten Jahren vor dem Krieg eine zunehmende Beunruhigung wegen der russischen Rüstungen, und Generalstabschef Helmuth v. Moltke (d.J.) empfahl der Reichsleitung aus Angst vor weiteren russischen Heeresvermehrungen im Mai 1914 sogar den Präventivkrieg 10 . Es war sicher, daß der Umfang der zaristischen Armee zahlenmäßig niemals aufgeholt werden konnte und bei vollständiger Ausschöpfung der russischen Wehrpflicht sich der Abstand noch weiter vergrößern würde. Auch die Verbesserung der russischen Militärorganisation erregte Besorgnis. Der deutsche Generalstab versuchte folgerichtig, die Armee in der Erwartung des nahenden Krieges in den Jahren 1912 und 1913 durch die Einziehung aller Tauglichen erheblich zu vergrößern. Treibende Kraft dabei war Erich Ludendorff, damals Oberst und Chef der Aufmarschabteilung des Generalstabes, dem es gelang, in dieser Frage den Generalstabschef, General der Infanterie v. Moltke, hinter sich zu bringen. Durch Einziehung aller Wehrpflichtigen und Herabsetzung der Tauglichkeitsanforderungen wollte er das Heer, das eine Präsenzstärke von 638000 Mann hatte, um weitere 300000 Mann vergrößern. Das Kriegsministerium versuchte eine Vermehrung in dieser Höhe zu hintertreiben, teils weil befürchtet wurde, die Heeresvorlagen im Reichstag in dieser Höhe nicht durchbringen zu können, aber auch weil man annahm, eine solche Vermehrung würde die Qualität und innere Geschlossenheit des Heeres beeinträchtigen. Es gelang Moltke und Ludendorff nicht, ihre Vorstellungen vollständig durchzusetzen, aber ein Kompromiß, die vom Reichstag am 5. Juli 1913 verabschiedete Heeresvorlage, bedeutete dennoch die größte Heeresvermehrung, die das Deutsche Reich je gesehen hatte. Die Armee sollte auf einen Schlag um 117000 Mann, 15000 Unteroffiziere und 5000 Offiziere wachsen 11 . Symptomatisch für die starke Krisenstimmung in Deutschland war, daß erstmalig in ihrer Geschichte die Sozialdemokratie im Reichstag zwar nicht der Heeresvermehrung selbst, wohl aber ihrer Deckungsvorlage zustimmte. Der Generalstab war mit dem Erreichten allerdings nicht zufrieden, zumal die Franzosen als Antwort auf die deutschen Heeresvermehrungen ihre Wehrdienstzeit auf drei Jahre erhöhten. Er wollte die deutsche Wehrkraft vollständig ausgeschöpft wissen. Als der preußische Kriegsminister v. Falkenhayn am 5. Mai 1914 während der Etatberatungen im Reichstag bekanntgab, daß trotz des Mehrbedarfs von 72 000 Soldaten infolge der Wehrvorlage von 1913 38000 voll tauglich gemusterte Wehrpflichtige nicht eingestellt werden konnten12, drängte der Generalstab auf sofortige weitere Vergrößerungen der Armee. Das Kriegsministerium hingegen befürchtete, die Qualität der Armee werde unter zu hastigem Ausbau leiden. Kriegsminister v. Falkenhayn war der Ansicht, angesichts des Fehlens gut ausgebildeter Führer und Unterführer komme eine neue Heeresvermehrung 10

11

12

Zu Moltkes Drängen auf den Präventivkrieg: Egmont Zechlin, Motive und Taktik der Reichsleitung 1914, in: Ders., Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg. Aufsätze, Düsseldorf 1979, S. 95—102, besonders S. 97—99, mit der Wiedergabe eines Gespräches zwischen Moltke und Jagow im Frühjahr 1914 über den Präventivkrieg. Zahlen: Stig Foerster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890—1913, Stuttgart 1985, S. 272. RT-Protokolle, Bd 294, S. 8455. Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, bearb. im Reichsarchiv, Anlagenband zum ersten Band, Berlin 1930, Nr. 67.

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»einer Verwässerung und Verschlechterung gleich. Sie wäre daher zwecklos.« Außerdem seien die entstehenden hohen Kosten vor dem Reichstag nicht zu vertreten 13 . Der Kriegsminister wollte statt dessen den inneren Wert der Armee erhöhen und den qualitativen Vorsprung der deutschen Armee bewahren helfen. Er wies auch darauf hin, daß ein numerisches Wettrüsten aussichtslos sei, da der voraussichtliche Feind im Osten ohnehin jede Heeresvermehrung zahlenmäßig leicht überbieten könne. Generalstabschef v. Moltke war prinzipiell anderer Ansicht, da er ganz in den Kategorien des kommenden, ihm unvermeidlich scheinenden Krieges dachte. Er forderte im Mai 1914 im Hinblick auf die großen russischen und französischen Heeresvermehrungen, »daß wir jeden wehrfähigen deutschen Mann zum Waffendienst ausbilden, soll uns nicht dereinst der vernichtende Vorwurf treffen, nicht alles für die Erhaltung des Deutschen Reiches und der deutschen Rasse getan zu haben.« Die nicht eingezogenen 38000 Dienstfähigen entsprächen der Stärke eines Armeekorps, das Deutschland für den »Entscheidungskampf der Völker« fehlen werde. Zur Finanzierung des Vorhabens konnte er aber nur sehr allgemeine, geradezu unsinnige Vorschläge machen: »Die erforderlichen Geldmittel, die — soweit ich unterrichtet bin — im Lande reichlich vorhanden, müssen dafür beschafft werden, ich weise hierzu nur auf die ungeheuren Summen hin, die das deutsche Volk jährlich für Genußmittel wie Getränke und Tabak verausgabt14.« Das Kriegsministerium sah die Problematik der Finanzierung und der politischen Durchsetzbarkeit mit größerem Realismus. Bis in den Juli 1914 hinein beharrte es auf seiner Ansicht, daß eine weitere Aufrüstung innerhalb kurzer Zeit nicht durchzuführen sei. Hier wurde nicht nur militärisch, sondern auch politisch gedacht: Bereits Ende 1912 hatte Generalleutnant v. Wandel, Direktor des Allgemeinen Kriegs-Departements des Kriegsministeriums, den ihn bedrängenden Ludendorff gemahnt: »Wenn Sie es so weiter treiben mit Ihren Rüstungsforderungen, dann bringen Sie das Deutsche Volk zur Revolution 15 .«

4. Ein Volk in Waffen — Der Mannschaftsbestand des Deutschen Heeres vom Kriegsausbruch bis zum Waffenstillstand Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfügte Deutschland bei 67,8 Millionen Einwohnern über ein Heer von 119754 Offizieren und 3702696 Unteroffizieren und Mannschaften 16 . Dadurch, daß nicht alle Wehrpflichtigen tatsächlich hatten eingezogen werden können, gab es im Juli 1914 in Deutschland außerdem noch 5474000 unausgebilde13

Oberstleutnant Tappen, Chef der Aufmarschabteilung im Generalstab, schrieb neben eine Passage des Textes, in der über die zu hohen Kosten gesprochen wurde: »Das ist nicht Sache des Kriegsministers, den Reichsschatzsekretär zu spielen.« Kriegsrüstung (wie Anm. 12), Nr. 66.

14

Moltke an Bethmann Hollweg, Mai 1914, nicht abgesandt, ebd., Nr. 65.

15

Erich Ludendorff, Mein militärischer Werdegang, München 1933, S. 152.

16

Dabei sind das Feldheer mit 84341 Offizieren und 2 3 1 3 5 4 9 Unteroffizieren und Mannschaften und das Besatzungsheer mit 3 5 4 1 3 Offizieren und 1 3 8 9 1 4 7 Unteroffizieren und Mannschaften zusammengezählt. Zahlen: Reichsarchiv, Kriegsrüstung, Bd 1 (wie Anm. 12), S. 217.

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te, taugliche Wehrpflichtige 17 . Von den insgesamt 10494700 wehrpflichtigen Männern in Deutschland waren also nur 36,5% bei Kriegsausbruch tatsächlich bei der Armee; nicht nur die unausgebildeten, sondern auch circa 1,2 Millionen ausgebildete Wehrpflichtige wurden nicht eingezogen 18 . In den deutschen Streitkräften (Heer und Marine) dienten bei Kriegsausbruch 6% der Bevölkerung. Ein Vergleich: Frankreich, das bei Ausbruch der Feindseligkeiten den höchsten Mobilisierungsgrad aller kriegführenden Staaten vorweisen konnte, hatte 9,1 % seiner Bevölkerung unter Waffen und sein Potential an Wehrpflichtigen zu 60% ausgeschöpft 19 . Diese Tatsache diente den Aufrüstungsbefürwortern nach dem Kriege dazu, immer wieder auf die schuldhaft nachlässige Vorkriegsrüstung hinzuweisen und festzustellen, daß Deutschland, hätte es seine Wehrkraft in gleichem Grade wie Frankreich ausgeschöpft, bei Kriegsausbruch ein Heer von 6,1 Millionen Soldaten besessen hätte20. Dabei ließen sie natürlich außer Betracht, daß England mit seiner ca. 250000 Mann starken Armee oder auch Rußland (pro Jahrgang wurden etwa nur 53 % der Wehrpflichtigen wirklich zur zaristischen Armee eingezogen 21 ) ihre Wehrkraft bei weitem nicht im französischen Maßstab ausgeschöpft hatten. Wäre dies geschehen, hätte sich Deutschland bei Ausbruch des Krieges in einer noch viel ungünstigeren Lage befunden. Zwar hätte es sofort 6 Millionen Soldaten mobilisieren können; aber Rußland hätte dem dann eine Armee von etwa 15 Millionen Mann (statt 4,8 Millionen) und Großbritannien von etwa 4 Millionen Mann (statt 240000) entgegenstellen können. Außerdem gab es in Frankreich, anders als in Deutschland, nach Kriegsausbruch sofortige Engpässe in der industriellen Produktion, da auch die Facharbeiter kriegswichtiger Betriebe eingezogen worden waren; sie mußten dann aus dem Heeresdienst wieder entlassen werden. Im Laufe des Krieges wuchs die Zahl der Eingezogenen in Deutschland immer weiter an, und den Militärbehörden gelang die Mobilisierung der Wehrpflichtigen in großem Umfang. Das Reich hatte während des gesamten Krieges mehr Divisionen und insgesamt auch mehr Soldaten unter Waffen als Rußland mit einer etwa zweieinhalbmal größeren Bevölkerung 22 . Bei Beendigung der Kamfhandlungen standen etwa 8 Millionen Mann unter Waffen, und insgesamt wurden während des Krieges 13,25 Millionen Deutsche zum Heeresdienst herangezogen. Das waren mehr Soldaten, als es im Juli 1914 in Deutschland an wehrpflichtigen Männern insgesamt (10494700) gegeben hatte23. Das lag unter anderem daran, daß im Kriege die Altersgrenze für die Wehrpflicht — vor dem Krieg vom 17. bis zum 45. Lebensjahr — bis zum vollendeten 60. Lebensjahr heraufgesetzt worden war24. 17 18 19 20 21 22

23 24

Ebd., S. 219, mit detaillierter Aufschlüsselung von Ersatzreservisten, Landsturm und Zurückgestellten. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd. Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 3, Abschn. V, S. 42. Paul M. Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 407. Fritz Klein u.a., Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd3, Berlin (Ost) 1969, S. 565. Zahlen bei Dieter Dreetz, Zur Unerfüllbarkeit der personellen Ersatzanforderungen der deutschen militärischen Führung für das Feldheer im Ersten Weltkrieg, in: Internationale Zeitschrift für Militärgeschichte, Nr. 63 (1985), S. 5 1 - 6 0 .

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Im Frühjahr 1918, nach dem Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg und vor dem Beginn der großen deutschen Westoffensive, erreichte das deutsche Heer mit 241 Divisionen seine zahlenmäßig größte Stärke. Jedoch mußten wegen der sich rapide verschlechternden Ersatzlage bis zum Kriegsende 29 Divisionen wieder aufgelöst werden25. Ahnliche Belastungen lassen sich von den anderen kriegführenden Staaten berichten. Insgesamt standen während des Ersten Weltkrieges über 71 Millionen Mann unter Waffen26! Dieser ungeheure personelle Aufwand konnte nur von Wehrpflichtarmeen getragen werden. Ohne die allgemeine Wehrpflicht wären die Armeen des Ersten Weltkriegs weder aufzustellen gewesen noch hätten die ungeheuren Verluste über einen so langen Zeitraum hinweg immer wieder ergänzt werden können. Das zeigt schon der Blick auf die einzige europäische Großmacht, die mit einer Berufsarmee in den Ersten Weltkrieg eingetreten war: Großbritannien. Schon im Jahre 1915 sah sich — trotz 600000 Freiwilligenmeldungen und traditionell unpopulärem Militärdienst 27 — der Inselstaat gezwungen, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, um die Verbündeten umfassender als bislang auch zu Lande, vor allem an der Westfront, unterstützen zu können. Auch die USA führten trotz ihres traditionellen Milizsystems sofort nach Eintritt in den Krieg die allgemeine Wehrpflicht ein.

5. Wehrpflicht und Motivation Die Zahlen der Millionenheere des Ersten Weltkrieges allein sind zwar beeindruckend, sagen aber noch nichts über die Leistungsfähigkeit der Armeen im Kampfe aus. Gerade bei Wehrpflichtarmeen kommt dem Faktor Motivation eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Clausewitz rechnet zu den »moralischen Hauptpotenzen« im Kriege die »kriegerische Tugend des Heeres« und den »Volksgeist desselben«28. Unter »Volksgeist des Heeres« versteht er: »Enthusiasmus, fanatischer Eifer, Glaube, Meinung.« Im Kriege zeigt sich sehr bald, ob das Volk und damit auch das Volksheer hinter dem Kriege steht und ob die Soldaten bereit sind, wirklich zu kämpfen. Auch die Untersuchungen amerikanischer Psychologen, warum Soldaten kämpfen, haben ergeben, daß nicht angeborenes Kämpfertum, sondern soziale Anpassung die Hauptquelle militärischer Leistung ist29. Eine Wehrpflichtarmee ist, vielleicht anders als eine Berufsarmee, nicht für jede Art von Krieg effektiv einzusetzen, sondern nur dann, wenn das Volk wirklich von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt ist. Das ist dann der Fall, wenn es sich nach seiner Auffassung um einen »bellum iustum« handelt; die Bevölkerung muß den Eindruck gewinnen, daß es um Notwehr und Verteidigung des eigenen Landes geht. 25

Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 3, Abschn. V, S. 229.

26

Ebd., S. 135.

27

Keegan, Antlitz (wie Anm. 5), S. 257.

28

Clausewitz (wie Anm. 1), Erster Teil, Drittes Buch, Viertes Kapitel, S. 359.

29

Dazu Samuel Andrew Stouffer, The American Soldier, 2 Bde, Princeton 1949.

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Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war dies der Fall — und zwar, was für die Fortdauer des Krieges fatale Auswirkungen hatte, bei allen beteiligten Völkern. Die Europäer waren sehr lange davon überzeugt, für die Verteidigung der eigenen Nation gegen fremde Aggression ins Feld ziehen und das Vaterland schützen zu müssen. Das allgemeine Gefühl, im Recht zu sein und einen ungeheuren Rechtsbruch strafen zu müssen, erklärt zum Teil auch den anfänglichen überschäumenden kriegerischen Enthusiasmus in allen Ländern. Hier lassen sich aber in den einzelnen Staaten Unterschiede erkennen. Je höher das Ausbildungsniveau, der gesamtgesellschaftliche Organisationsgrad und entsprechend das kollektive Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung war, desto höher war auch die Bereitschaft, für eine vergleichsweise abstrakte Sache wie die Integrität des Vaterlandes das eigene Leben einzusetzen. So war die Moral der britischen 30 , französischen und deutschen Soldaten hoch. Aber beispielsweise für die Soldaten, die der einfachen süditalienischen Landbevölkerung entstammten, war der Krieg ein Ereignis wie eine Naturkatastrophe, der man sich zwar beugen muß, die man aber doch als unvermeidliches Unglück empfindet 31 . Der Einsatzwille der Soldaten, die einfach nur versuchten, sich persönlich durch den Krieg zu retten, war natürlich entsprechend niedriger, da ihnen das spezifisch bügerliche Verantwortungsgefühl gegenüber dem Staat fehlte — und ebenso die Notwendigkeit, vor der Gesellschaft den Beweis für die eigene soldatische Tüchtigkeit erbringen zu müssen. Da half es auch wenig, daß die italienische Armeeführung versuchte, den mangelhaften Angriffsgeist der Truppe durch exemplarische Erschießungen zu heben. Die Ausgangsmotivation war wichtig, aber damit sie im Kriege unter Todesgefahr erhalten blieb, war auch die Behandlung der Soldaten durch die Armeeführung von ausschlaggebender Bedeutung. Die russischen Soldaten beispielsweise wurden schlecht behandelt und waren schlecht ausgerüstet; während der Brussilow-Offensive wurden sie von ihren Offizieren mit Peitschen zum Angriff getrieben, und den späteren Angriffswellen mutete man zu, sich mit den Gewehren ihrer gefallenen Kameraden der vorangegangenen Angriffswellen zu bewaffnen. Ihre Verluste waren ungeheuer. Ende 1916 hatte die russische Armee, die eine Stärke von 13 Millionen Soldaten gehabt hatte, 3,6 Millionen Mann an Toten und Verwundeten, 2,1 Millionen an Gefangenen eingebüßt 32 . Es verwundert nicht, daß die russische Armee ein Jahr nach dem Pyrrhussieg Brussilows als erste Armee revoltierte und nicht mehr bereit war zu kämpfen. Die Armee, schrieb die Stawka (der russische Oberbefehlshaber und sein Stab) im Sommer 1917, »ist lediglich ein riesiger, müder, schäbiger und schlecht gekleideter Haufen wütender Männer, vereinigt nur durch gemeinsamen Hunger nach Frieden und gemeinsame Enttäuschung« 33 . Wie sehr die Erfüllung der Wehrpflicht im Kriege von der Versorgung und Behandlung der Soldaten abhing, zeigte sich auch bei der türkischen Armee. Türkische Divisionen, die in Galizien und auf dem Balkan eingesetzt worden waren und an dieser Front auch

32

Dazu Keegan, Antlitz (wie Anm. 5), S. 255—267. Dazu Angelo Bazzanella, Die Stimme der Illiteraten. Volk und Krieg in Italien 1915—1918, in: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 334—351. Kennedy, Aufstieg (wie Anm. 22), S. 401.

33

Ebd.

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gut versorgt wurden, schlugen sich dort hervorragend. In die Türkei zurückversetzt und den dortigen Verpflegungsnöten ausgesetzt, büßten dieselben Divisionen beim Eisenbahntransport durch Anatolien ein Drittel ihrer Soldaten durch Desertion ein. Ein Beispiel: Die 19. Division, die sich an der Ostfront hervorragend geschlagen hatte, verlor auf dem Weg von Konstantinopel nach Aleppo im Herbst 1917 4790 Mann durch Desertion 34 . In Deutschland war die Moral der Wehrpflichtigen bis zum Schluß des Krieges außerordentlich hoch. Wesentlicher Grund dafür war, daß es dem Reichskanzler im Juli 1914 gelungen war, vor der Öffentlichkeit den Russen, die als erste mobilisiert hatten, mit großem Geschick die Verantwortung für den Krieg zuzuschieben 35 und so auch die Sozialdemokratie zum freiwilligen Mitziehen zu bringen. Sie vereinigte sich mit allen anderen Parteien im »Burgfrieden« und stimmte den Kriegskrediten zu. Das Wort Wilhelms II.: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«, traf den Geist der Stunde vollkommen 36 . Diese Stimmung war von der politischen und militärischen Führung sehr bewußt initiiert und gesteuert worden. Der Bayerische Militärbevollmächtigte im Großen Hauptquartier, Generalmajor v. Wenninger, stellte am 21. August 1914 befriedigt fest, daß »die >ethische Politik< [...] ja ganz recht [war], um unsere Gegner ins Unrecht zu setzen und diese herrliche 1813er Stimmung in unserem Volke zu entfachen« 37 . Der nationalen Aufbruchstimmung zu Beginn des Krieges konnten sich selbst kritische, pazifistische Geister wie zum Beispiel Stefan Zweig nur schwer entziehen. Hunderttausende von Freiwilligenmeldungen machten den unverzüglichen Einsatz repressiver Maßnahmen zur Durchsetzung der Wehrpflicht unnötig. Im Gegenteil, die Freiwilligenmeldungen übertrafen die Kapazität der Armee. Trotzdem glaubte die Armeeführung, die Gunst der Stunde nutzen zu müssen und keinen Freiwilligen zurückweisen zu dürfen. Am 16. August 1914 gab der Preußische Kriegsminister, Generalleutnant v. Falkenhayn, den Befehl, bis zum 10. Oktober 1914 fünf neue Armeekorps aufzustellen; im November 1914 ordnete er für Januar 1915 die Aufstellung von vier weiteren Armeekorps an38. Die gewaltige Vermehrung — etwa ein Viertel des Feldheeres vom August 1914 — konnte zwar durch die zahllosen Freiwilligenmeldungen des August 1914 problemlos abgedeckt werden. Viele militärische Fachleute im Kriegsministerium und Generalstab meldeten aber ihren Zweifel an, ob die hastig ausgebildeten Einheiten, denen es zwangsläufig an gut ausgebildeten Offizieren und an Ausrüstung fehlen mußte, in der kurzen Zeit tatsächlich einsatzfähig sein würden. Falkenhayn entgegnete auf entsprechende Einwände hin, es komme darauf an, die herrschende Begeisterung auszunutzen und die Ströme

34

35

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Jehuda L. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1 8 3 5 - 1 9 1 9 , Düsseldorf 1976, S. 212. Bethmann Hollweg legte vor dem Preußischen Staatsministerium am 3 0 . 7 . 1 9 1 4 »größten Wert darauf, [...] Rußland als den schuldigen Teil hinzustellen«, in: Protokoll der Sitzung vom 3 0 . 7 . 1 9 1 4 , Akten der Reichskanzlei, BA, R 43 F 1269/1. Diese Aussage ist von Gerhard Ritter als der »weitaus wirksamste Ausspruch, den Wilhelm II. je getan hat«, charakterisiert worden. Staatskunst (wie Anm. 4), Bd 3, S. 32. Tagebucheintrag von Wenninger, 2 1 . 8 . 1 9 1 4 , Bayerisches Kriegsarchiv München, HS 2546. Dazu demnächst: Holger Afflerbach, Falkenhayn — Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, Kapitel V. 2.

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von Kriegsfreiwilligen in Bassins zu sammeln und festzuhalten. Der Enthusiasmus müsse ausgenutzt werden, bevor er verraucht sei39. Hier läßt sich deutlich erkennen, wie sich die deutsche Führung schon im August 1914 um den Fortbestand der »herrlichen 1813er Stimmung« in Volk und Heer sorgte. Tatsächlich war diese Sorge unbegründet. Die deutsche Führung konnte auf die Einsatzbereitschaft ihrer Soldaten unbedingt vertrauen. Mehr noch: Oft hatten die politischen Führer und sogar die Generalität den Eindruck, die Truppe leiste mehr, als eigentlich von ihr erwartet werden könne — und dürfe. Hierzu einige Urteile, die den außerordentlichen Einsatzwillen der wehrpflichtigen deutschen Soldaten zeigen — Urteile, deren Zahl beliebig vermehrt werden könnte. So schrieb Major Raynal, Kommandant des von den Franzosen mit äußerster Erbitterung verteidigten Fort Vaux, während der Kämpfe vor Verdun am 1. Juni 1916 in sein Tagebuch: »Wie auch der erhaltene Befehl lauten möge, der Deutsche führt ihn aus, selbst wenn es sicher ist, daß er dabei fällt. Man muß zugeben, er ist ein furchterregender Soldat 40 .« Auch die Moral der sozialdemokratischen Soldaten war hoch, wie der Reichskanzler, aber auch der Kriegsminister Wild v. Hohenborn bereitwillig zugaben 41 . Selbst unter den härtesten Kampfbedingungen war der Einsatzwille und die Leidensfähigkeit der wehrpflichtigen Soldaten außerordentlich. So gab Reichskanzler v. Bethmann Hollweg bei einem Frontbesuch während der Champagneschlacht am 7. Oktober 1915 »sein Erstaunen offen zu, daß unsere Leute in der Hölle aushalten«. Der Oberbefehlshaber der dort kämpfenden 3. Armee, Generaloberst v. Einem, teilte sein Erstauen. Am 22. Oktober 1915 stellte er folgende Rechnung an: »Ein einziges Bataillon des bayerischen 14. Inf.-Regts. hat folgenden Segen erhalten: 430 22-cm-, 300 15-cm, 150 12-cm-Granaten, 800 schwere und 100 leichte Minen in 24 Stunden. Das sind 2670 [sie!] große Geschosse. Wenn jedes auch nur in 10 Teile zerspringt, so sind 26700 Geschoßteile in den Abschnitt eingeschlagen. Es ist unglaublich, daß unter einem solchen Hagel noch Menschen leben können 42 .« Und Kriegsminister Wild v. Hohenborn schrieb am 3. Juli 1916 nach einem Frontbesuch an der Somme an seine Frau: »Ich war gerade [...] in der Nähe der englisch-französischen Einbruchsstelle. Das [Artillerie]feuer war einfach überwältigend — ich meine akustisch. Welche Hölle muß es für die Leute in vorderer Linie sein43!« 39 40

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Ebd. Zit. in: Alexander Schwencke, Martin Reymann, Die Tragödie von Verdun 1916, Bd 2, Berlin 1928, (= Schlachten des Weltkrieges, Bd 14), S. 85. Wild v. Hohenborn schrieb am 8 . 1 0 . 1 9 1 4 in einem Brief an seine Frau: »Die Sozen in der Front sind untadelhaft. In der Armee gibts keine Sozen! nur brave Soldaten!« Zit. in: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 bis 1918, bearb. von Wilhelm Deist, 2 Teile, Düsseldorf 1970, Teil 1, S. 205, Anm. 6. Karl v. Einem, Ein Armeeführer erlebt den Weltkrieg. Persönliche Aufzeichnungen des Generalobersten v. Einem. Hrsg. von Junius Alter, Leipzig 1938, S. 166 und 173 f. Brief Wilds an seine Frau, 3 . 7 . 1 9 1 6 , in: Adolf Wild v. Hohenborn. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Generals als Kriegsminister und Truppenführer im Ersten Weltkrieg, hrsg. von Helmut Reichold und Gerhard Granier, Boppard a.Rh. 1986, S. 174. Oberst v. Thaer schrieb am 2 . 8 . 1 9 1 6 : »Jedenfalls hat der Herrgott unserem Volk so gute Soldaten beschert, wie's wohl noch nie gegeben hat. Sie wissen doch alle, daß ein Korps nach dem anderen erst hier verbluten muß

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Erst nach maßloser Überforderung der Opferwilligkeit der Soldaten durch die Führung, die diesen Opfergeist als selbstverständlich bei ihren Planungen voraussetzte, ließ sich erkennen, daß die Moral des Heeres abnahm. Die ersten konkreten Anzeichen dafür ließen sich während der Schlacht von Verdun im Frühjahr und Sommer 1916 wahrnehmen. Legationssekretär Erich v. Luckwald, Gesandter des Auswärtigen Amtes im Großen Hauptquartier, schrieb am 17. August 1916 an den Reichskanzler: »Verdun kostet nicht nur Menschen, nicht nur Munition. Das sinnlose Schlachten kostete Moral. [...] Noch nicht ernstlich fühlbar, aber doch so, daß man nicht fehlgeht, wenn man von Kriegsmüdigkeit und lebhafter Sehnsucht nach Frieden spricht. Als ich vor einigen Tagen aus Coblenz mit dem Nachtzug hierher fuhr, war ich unbeobachtet und unbeabsichtigt Zeuge von Gesprächen zahlreicher Mannschaften auf den Gängen, die alles andere wie zuversichtlich waren. Es fielen seitens gewöhnlicher Soldaten Ausdrücke wie >preußischer KadavergehorsamKanonenfutter< u. dergl., welche Rückschlüsse auf die Stimmung der Leute zulassen. Vor der Unternehmung gegen Verdun war wenig dergleichen zu spüren 44 .« Auch der k. u. k. Militärbevollmächtigte im Großen Hauptquartier, Generalmajor KlepschKloth v. Roden, hatte im Mai 1916 den Eindruck gewonnen, daß der deutsche Generalstab »den Pulsschlag der Truppe nicht fühlt, die Grenze äußerster Leistungsfähigkeit nicht erfaßt« 45 . Im Herbst 1918 hatte Ludendorff die Möglichkeiten des deutschen Heeres endgültig überspannt. Doch selbst in der krisenhaften Situation, die durch seine fehlerhaften Planungen hervorgerufen worden war, verlor nicht die — nach vier Jahren Krieg allerdings stark angeschlagene — Armee, sondern ihr oberster militärischer Führer die Nerven. Gegen alle Ratschläge von politischer Seite bestand Ludendorff in seiner Panik, der Feind werde durchbrechen, auf einem Waffenstillstand innerhalb von 48 Stunden. Daß das Heer, nachdem die Oberste Heeresleitung selbst den Krieg verloren gegeben hatte, danach nicht mehr zu motivieren war; daß kaum ein Soldat bereit war, sein Leben für eine offenkundig verlorene Sache einzusetzen; daß auch die Matrosen der Hochseeflotte sich nicht in sinnloser Seeschlacht verheizen lassen wollten, versteht sich von selbst. Bis zu diesem Zeitpunkt befanden sich Moral und Kampfwillen der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg auf hohem Niveau.

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wie eine Zitrone in der Presse, bis es wieder abreisen darf. Das dauernde Ausharren vorn in dieser Hölle mit diesem Bewußtsein ist eine Anforderung ungeheurer Art. Ich glaube kaum, daß ich mit meinen Nerven für lange ihr gewachsen wäre. Ich muß das hier zur Ehre unserer Truppen bekennen. Man hat es nicht für möglich gehalten, daß kultivierte Menschen das über sich gewinnen.« Zit. in: Gotthard Breit, Das Staats- und Gesellschaftsbild deutscher Generale beider Weltkriege im Spiegel ihrer Memoiren, Boppard a.Rh. 1973, S. 72. Luckwald an den Reichskanzler, 1 7 . 8 . 1 9 1 6 , in: Bundesarchiv Koblenz, Akten der Reichskanzlei, R 43 F 2466/6, Allgemeine Militär- und Marineberichte aus dem großen Hauptquartier, Bd 1: 1915— 1916. Klepsch-Kloth an Conrad, 2 5 . 5 . 1 9 1 6 , in: Kriegsarchiv Wien, A O K 600.

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6. Volksheer, Volkskrieg und Friedensschluß Doch wofür und warum setzten die Soldaten ihr Leben ein? Das Ziel ihres Einsatzes an der Front ist zum Gegenstand der historiographischen Analyse geworden. Gerhard Ritter behauptet, daß die politische Führung des Deutschen Reiches, vor allem Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, der von ihr selbst bei Kriegsausbruch hervorgerufenen nationalen Leidenschaften nicht mehr Herr geworden sei. Die Notwendigkeit, das gesamte Volk für Armee und Kriegsrüstung einzusetzen, habe einen Radikalisierungseffekt gehabt, der einen Kompromißfrieden ausschloß; das deutsche Volk habe in seiner Verblendung und schlecht informiert über den tatsächlichen Stand der Lage einen Verständigungsfrieden abgelehnt. Anders als ein vergleichsweise leidenschaftslos geführter Kabinettskrieg, bei dem am Schluß kühl verhandelt werde, habe sich der Erste Weltkrieg nicht so leicht beenden lassen46. Gerade weil in den kriegführenden Nationen die Uberzeugung lebendig gewesen sei, von der jeweils anderen Seite überfallen worden zu sein, hätten die europäischen Nationen in nationaler Verblendung nach Schwächung des Gegners sowie nach »Sicherung vor erneuten Kriegen« verlangt. Im deutschen Fall hieß das: Belgien und das Erzgebiet von Longwy-Briey sollten als Aufmarschbasis gegen die Westmächte in einem künftigen Kriege unter deutsche Kontrolle kommen. Im Osten verlangte die deutsche Führung als Mindestforderung, die auch im Falle eines russischen Separatfriedens durchgesetzt werden sollte, den »polnischen Grenzstreifen«; ein Territorium, das die doppelte Größe Elsaß-Lothringens gehabt hätte. Fritz Fischer ist dagegen der Ansicht 47 , die deutsche Führungsschicht habe den Ersten Weltkrieg planmäßig entfesselt und durchgehalten, um für das Deutsche Reich eine Weltmachtposition zu erreichen. Der Erste Weltkrieg, der »Griff nach der Weltmacht«, ist für Fischer ein Phänomen der politisch Herrschenden. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Wehrpflicht stellen sich dabei folgende Fragen: War der Erste Weltkrieg ein Massenphänomen, hervorgerufen durch Strömungen im Volke wie Nationalismus und Militarismus? Oder war er ein Phänomen der politischen Herrschaft? Und trug zu seiner Radikalisierung die Basis — das Volk und das Volksheer — durch Haß und Vernichtungswillen gegen den Gegner bei, oder handelte es sich auch hier um Entscheidungen innerhalb der Führungsschicht, auf die das Volk und die Soldaten der Armee gar keinen Einfluß nehmen konnten? Bei der Erörterung dieser Fragen bedarf es der genauen Differenzierungen, vor allem nach einzelnen Phasen des Krieges. In den ersten Monaten war die Begeisterung nach übereinstimmender Aussage aller Quellen in Führung, Volk und Armee eine ganz allgemeine Erscheinung, und ebenso allgemein war der Wunsch nach umfangreichen Annexionen, zumal das Erlebnis des fremden »Überfalls« noch frisch und der Wunsch, das »Unrecht« zu bestrafen, lebendig war. Außerdem glaubten alle, der Krieg werde bald vorbei sein. Der Kaiser hatte seinen Truppen zugerufen: »Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt 48 .« 46 47 48

Gerhard Ritter, Staatskunst (wie Anm. 4), passim. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, 4. Aufl., Düsseldorf 1971, passim. Klein u.a. Deutschland im ersten Weltkrieg (wie Anm. 23), Bd 1, S. 309.

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Doch im Laufe des unerwartet langen und auch unerwartet verlustreichen Krieges änderten sich die Dinge. Die Verluste, die kaum eine Familie verschonten, die Angst um die Angehörigen an der Front und die Sorge um die Familie, die Lebensmittelknappheit in Folge der englischen Blockade führten dazu, daß dieser Enthusiasmus rasch abnahm und sich in eine verbissene Verteidigung gegen fremden »Vernichtungswillen« wandelte. Das Ziel war defensiv; es ging um die Verteidigung der Integrität des eigenen Territoriums. Wahrscheinlich wünschte sich die Mehrheit der Armee, möglicherweise auch die Mehrheit der Bevölkerung schon im Jahre 1915 nur den Frieden zu erträglichen Bedingungen; die Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegszielen nahm seitdem rapide zu. Ein guter Indikator für die allgemeine Stimmung ist die im Herbst 1915 zunehmende Angst der deutschen Führung, das Volk — und damit auch die Armee — werde einen weiteren Kriegswinter psychologisch und materiell nicht mehr durchstehen. Die Flucht in den unbeschränkten U-Boot-Krieg läßt sich nur aus dieser Verzweiflung erklären, den nicht endenwollenden Krieg irgendwie — und zwar bald — zum Abschluß bringen zu müssen. Die Verknüpfung zwischen Volkskrieg und exzessiven Kriegszielen, die Gerhard Ritter gezogen hat, muß vor diesem Hintergrund mit einem Fragezeichen versehen werden. Die ausschweifenden Kriegsziele waren bei zunehmender Kriegsdauer die Ziele einer Minderheit — einer allerdings sehr aktiven und einflußreichen Minderheit, der es gelang, maßgebenden Einfluß auf die politische Leitung des Reiches zu nehmen. Die wehrpflichtigen Soldaten der Armee indes waren in der großen Mehrheit allenfalls an der Erhaltung des Status quo interessiert; für die Eroberung von Belgien und Briey begeisterte sich kaum jemand 49 . Entsprechende Indoktrinationsversuche durch den »vaterländischen Unterricht« im Sommer 1917 oder durch Vorträge der Vaterlandspartei stießen bei den Frontsoldaten auf Spott und Verärgerung50. Weder Volksheer noch Volk waren Kriegsverlängerer oder verantwortlich für die Radikalisierung des Krieges durch expansionistische Kriegsziele. Der italienische Kriegseintritt im Jahre 1915 läßt, wenn auch unter nicht übertragbaren Umständen, die Unterschiede zwischen den Ansichten der Mehrheit des Volkes und jenen der aktiven Minderheit der Interventionisten deutlich werden, die auch später mit den Vertretern expansiver Kriegsziele identisch war. Die Präfektenberichte zeigen in diesem Fall klar den Gegensatz zwischen der Bevölkerung — und damit der Armee —, die den Frieden wollten, und der interventionistischen Regierung Salandra-Sonnino 51 . Im übrigen — dies sei hier der Vollständigkeit halber eingeschoben — wurde der Reichskanzler bis 1916, bis zur Ablösung der 2. Obersten Heeresleitung, auch nicht vom Generalstab zu Annexionen und Kriegsverlängerung angetrieben. Im Gegenteil läßt sich beobachten, daß Generalstabschef v. Falkenhayn in deutlicher Erkenntnis der Leistungsgrenzen der Mittelmächte seit November 1914 wiederholt zum Friedensschluß mahnte und den Verzicht auf Annexionen vorschlug. Der Reichskanzler wollte aber in der Ansicht, die Opfer müßten sich gelohnt haben, den Krieg weiterführen und einen »Siegespreis« 49 50 51

Dazu: Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 3, Abschn. 5, S. 129. Zum Vaterländischen Unterricht: Militär und Innenpolitik (wie Anm. 41), Teil 2, S. 803—985. Zum Gegensatz zwischen Interventionisten und Bevölkerung im Italien des Jahres 1915 siehe besonders Brunello Vigezzi, L'Italia di fronte alia Prima Guerra Mondiale, Vol. 1: L'Italia Neutrale, Milano/Napoli 1966.

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erringen. Mit dem Amtsantritt Hindenburgs und Ludendorffs Ende August 1916 änderte sich allerdings diese Situation grundlegend.

7. Die Auswirkungen der allgemeinen Wehrpflicht auf den militärischen Verlauf des Ersten Weltkrieges Der Erste Weltkrieg war an der Westfront als Folge des damaligen Standes der Waffentechnik — Artillerie, Maschinengewehr, Stacheldraht, Schützengraben; gleichzeitig auf dem Schlachtfeld eine geringe taktische Beweglichkeit — im November 1914 definitiv zum Schützengrabenkrieg erstarrt. Das Gleiche geschah, verbunden mit extrem schwierigen Geländebedingungen, an der italienischen Front 1915. Auch an der Ostfront dominierte in langen Phasen der Stellungskrieg. Allerdings führte hier die Weite des Raumes immer wieder dazu, daß der Schützengrabenkrieg durch große bewegliche Operationen — wie Tannenberg im August 1914, Gorlice-Tarnow im Mai 1915, die Operationen in Russisch-Polen 1915, die Brussilow-Offenive 1916 — unterbrochen wurde. Dominierend für das Kriegsbild des Ersten Weltkrieges waren bei Zeitgenossen und Nachwelt aber die Kampfbedingungen an der Westfront. Deprimiert stellten die Experten im deutschen Generalstab — Falkenhayn, Groener, Kühl — schon im Spätherbst 1914 fest, daß die für eine erfolgversprechende Angriffsoperation im Stellungskrieg als notwendig erachtete Stärke — mindestens 24 Angriffsdivisionen 52 — auf unabsehbare Zeit unter den Bedingungen des Zweifrontenkrieges nicht verfügbar sein werde. Auch diese Zahlen scheinen noch zu niedrig gegriffen, da Engländer und Franzosen in der Champagne 1915 und vor allem an der Somme im Sommer 1916 in etwa dieser Stärke angriffen und erfolglos blieben. Generalstabschef v. Falkenhayn gab nach den Erfahrungen bei Ypern — dem deutscherseits letzten strategischen Durchbruchsversuch an der Westfront vor Ludendorffs Märzoffensive 1918 — die Hoffnung auf den Durchbruch auf, das heißt die Hoffnung darauf, den Krieg durch klassische Manöver des Bewegungskrieges im Westen beenden zu können. Durchaus berechtigterweise: Bei den Frühjahrsangriffen der Franzosen 1915 hatte der Angriff örtlich eine Überlegenheit von 1:16 gegenüber dem deutschen Verteidiger, ohne aber den Durchbruch erzwingen zu können 53 . Statt dessen begannen beide Seiten zu hoffen, die andere Seite würde als erste ihre Reserven erschöpfen, und die zu dünne Mauer des Stellungskrieges würde dann reißen, der wankende Gegner dann im Bewegungskrieg bezwungen werden können. In diesem Denken wurde die allgemeine Wehrpflicht zum unmittelbaren Instrument auch taktischer Überlegungen: Beide Seiten versuchten, den Krieg über die Verlustliste zu entscheiden. Das heißt: Die Leistungsfähigkeit des eigenen Rekrutierungssystems und die Möglichkeit, dem Gegner auch ohne eigenen Geländegewinn, durch den massiven Einsatz der 52

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Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend — Generalstab — Weltkrieg, hrsg. von Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, Göttingen 1957, S. 225. Erich v. Falkenhayn, Die Oberste Heeresleitung 1914—1916 in ihren wichtigsten Entschließungen, Berlin 1920, S. 54; Karl-Heinz Janßen, Der Kanzler und der General. Die Führungskrise um Bethmann Hollweg und Falkenhayn (1914—1916), Göttingen 1967, S. 90.

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Artillerie, dauernd hohe Verluste zuzufügen, nährte die Hoffnung auf den Sieg. Die Generalstabsunterlagen in Deutschland und Osterreich waren seit dem Beginn des Stellungskrieges voll von Berechnungen, wie lange das eigene »Menschenmaterial« noch ausreichen würde und wie lange die Gegner wahrscheinlich noch durchhalten könnten. Der wehrpflichtige Soldat wurde zum Nachschubartikel, der mit anderen Materialien in direkte Beziehung gesetzt wurde. Ein Beispiel: Falkenhayn kündigte im April 1916 an, daß vor Verdun »Mannschaften und Munition« gespart werden müßten 54 . Er versuchte vor Verdun, die französische Moral durch hohe Verluste zu unterminieren und das Umschlagen des überbeanspruchten französischen Opfergeistes in Resignation herbeizuführen. Gleichzeitig setzten die Engländer ihre Hoffnungen darein, den Krieg durch die Erschöpfung des Gegners zu gewinnen und es in der Zwischenzeit darauf anzulegen, »to kill as many Germans as possible« 55 . Wie sehr der Soldat, durch die Wehrpflicht leicht verfügbar und ersetzbar, zum Material geworden war, zeigt folgende Äußerung Ludendorffs: »Der Krieg verbraucht Menschen. Das liegt in seinem Wesen56.« Ludendorff will damit sagen: Im Krieg sterben Soldaten. Doch er benutzt das Wort »verbrauchen«, das die der militärischen Führungskunst anvertrauten Menschen zu Verbrauchsartikeln wie Benzin oder Gummireifen degradiert. Diese Haltung ist allerdings älter als der Erste Weltkrieg. Napoleon I. brüstete sich gegenüber Metternich im Jahre 1813, er schere sich nicht um das Leben einer Million Menschen 57 . Im übrigen war sich die militärische Führung des Zynismus bewußt, der darin bestand, daß im Abnutzungskrieg der Soldat in der strategischen und taktischen Planung zur bloßen Ziffer wurde. Kriegsminister Wild schrieb am 5. August 1915 an seine Frau58: »Man gewöhnt sich allmählich fast daran, die tiefen Wunden, die dieser Krieg schlägt, rein geschäftsmäßig zu bewerten. Wenn der Monatsschluß mit seinen oft jammervoll hohen Verlustziffern vorliegt, dann kenne ich auch den Stand des [personellen] Ersatzes, und wenn letzterer gut ist, dann hat man das Gefühl eines Geschäftsmannes, der über die Geschäftsunkosten im Hinblick auf seine großen Aktiva hinwegsehen kann. Das klingt grausam; aber der Krieg ist es eben auch.« Diese Art des Abnutzungskrieges resultierte aber nicht aus der Borniertheit und Unfähigkeit blutrünstiger Generale, wie in Überzeichnung (Karl Kraus: »Die letzten Tage der Menschheit«, Stanley Kubrick: »Wege zum Ruhm«, aber auch Politiker wie Bethmann Hollweg und Lloyd George) damalige wie heutige Kritiker immer wieder angenommen haben, sondern aus den technischen Grundbedingungen der damaligen Krieg54

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Bethmann Hollweg an das Auswärtige Amt, 2 8 . 4 . 1 9 1 6 , PA/AA Bonn, Weltkrieg Nr. 18 geh. adh., Bd 5, A S 1498. Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt a.M. 1967, S. 257, Fußnote 10. Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914—1918, Berlin 1919, S. 470; Breit, Staats- und Gesellschaftsbild (wie Anm. 43), S. 71. Metternichs Unterredung mit Napoleon in Dresden 1813, aus Metternichs Memoiren, abgedruckt bei Ernst Molden, Der Fürst von Metternich, Leipzig 1917, S. 19—29, Zitat S. 25. Fuller, Kunst (wie Anm. 3), S. 36, schreibt ohne Quellenangabe, Napoleon habe sich im Jahre 1805 gegenüber Metternich in Schönbrunn gebrüstet, im Monat 30000 Soldaten verbrauchen zu können. Wild an seine Frau; 5 . 8 . 1 9 1 5 , in: Wild, Briefe (wie Anm. 43), S. 79.

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führung. Das Grundübel war der Krieg selbst; dem Generalstab, mehr aber noch den Politikern ist der Vorwurf zu machen, trotz aller Opfer an der Fortführung des Kampfes bis zum Sieg festgehalten und nicht energisch eine rasche politische Lösung des Krieges angestrebt zu haben. Die Generale glaubten, den Krieg bis zur Erschöpfung des »Menschenmaterials« fortsetzen zu können. Dieses nach Möglichkeit zu vergrößern, war eines ihrer Hauptanliegen. Das führte in Deutschland im Jahre 1915 schon zu einer Auseinandersetzung zwischen der Industrie, in diesem Falle den Krupp-Werken, und dem Kriegsministerium um die dringend benötigten Arbeitskräfte, die zum Heer eingezogen werden sollten. Generalstabschef v. Falkenhayn glaubte, diesen Streit durch den Vorschlag, ein »Kriegsarbeitsamt« einzurichten, sowie durch eine allgemeine Arbeitspflicht im Stile der schon in ÖsterreichUngarn, Frankreich und Großbritannien existierenden entschärfen zu können. Doch wurde dieser Vorschlag vom Kriegsministerium abgeblockt, das Schwierigkeiten mit der SPD und den Gewerkschaften befürchtete und der Ansicht war, daß die freiwillige Arbeitsleistung schon sehr gute Ergebnisse und wahrscheinlich bessere als die Zwangsleistung bringe. Die diesem Vorschlag zugrundeliegende Idee wurde dann von der 3. Obersten Heeresleitung im Rahmen des »Hindenburg-Programms« realisiert und führte durch die Uberspannung der inneren Kräfte zu großen kriegswirtschaftlichen Fehlentwicklungen 59 . Die wohl erstaunlichste Idee, das eigene Menschenpotential zu vergrößern, war der Gedanke, Angehörige der Feindstaaten einzuziehen. Dieses Verfahren hatte durchaus schon Tradition; bereits Napoleon hatte in den von ihm besetzten oder neugeschaffenen Staaten die Wehrpflicht sofort eingeführt, und seine Grande Armee bestand zu großen Teilen aus Nichtfranzosen 60 . Die deutsche Führung kam im August 1915, kurz nach der Eroberung Warschaus und damit fast ganz Russisch-Polens, auf die Idee, eine politische Armee aufzustellen, um mit dieser künftig die geschwächten Russen in Schach halten zu können. Doch zunächst behinderten staatsrechtliche Bedenken die Realisierung dieser Idee. Polnischen Soldaten drohte im Falle ihrer Gefangennahme durch die Russen die Erschießung; im übrigen wollte die deutsche Regierung noch kein eigenständiges Polen einrichten, um mögliche Separatfriedensverhandlungen mit den Russen nicht durch eine solche, unumkehrbare Aktion unmöglich zu machen. Außerdem verstießen Aushebungen in besetzten Gebieten gegen das Völkerrecht. 59

Zur Thematik generell: Gerard F. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914—1918, Berlin 1985; Wilhelm Deist, Armee und Arbeiterschaft 1905—1918, in: Militärgeschichte. Probleme, Thesen, Wege. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes ausgewählt und zusammengestellt von Manfred Messerschmidt, Stuttgart 1982, S. 171—189; zum Hilfsdienstgesetz siehe Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd 5, Stuttgart 1978, S. 105—115; Ritter, Staatskunst (wie Anm. 4), Bd 3, S. 417—433; zur Bewertung des Hindenburgprogramms als weitgehenden Fehlschlag vgl. Kennedy, Aufstieg (wie Anm. 22), S. 408 ff.

60

Napoleon unterschied in der zitierten Unterhaltung mit Metternich von 1813 zwischen seinen deutschen und französischen Soldaten und meinte sogar in seiner Erregung: »Die Franzosen können sich nicht über mich beklagen; um sie zu schonen, habe ich die Deutschen und die Polen geopfert. Ich habe in dem Feldzug von Moskau dreimalhunderttausend Mann verloren, es waren nicht mehr als dreißigtausend Franzosen darunter.« Molden, Metternich (wie Anm. 57), S. 25.

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Der Gedanke wurde im Sommer 1916, in einem Moment äußerster Anspannung infolge des alliierten Allfrontenangriffes (Brussilow im Osten, Somme, Isonzo) wiederbelebt. Falkenhayn griff im Juli 1916, kurz vor seiner Ablösung, den Gedanken einer polnischen Armee wieder auf, wobei er an Freiwilligenverbände dachte. Seine Nachfolger Hindenburg und Ludendorff hatten weitergehende Pläne, und ebenso der deutsche Generalgouverneur in Warschau, v. Beseler: Er glaubte an die Möglichkeit, zuerst vier bis fünf polnische Freiwilligenverbände aufstellen und später eine ganze Million polnischer Soldaten durch die Wehrpflicht ausheben zu können' 1 . Ludendorff, einem ausgesprochenen Verächter der Polen, ging es dabei erklärtermaßen nur um die Ausnutzung des polnischen »Menschenmaterials«. Generaloberst Frhr. Conrad v. Hötzendorf, der österreichisch-ungarische Generalstabschef, blieb gegenüber diesen abwegigen deutschen Plänen Realist: Er meinte, »ohne polnischen Staat sei auch keine polnische Armee zu haben« 62 , und deshalb müsse man vorher einen König oder Regenten sowie eine polnische Regierung einsetzen. Doch darauf vermochten sich die Mittelmächte, die sich über die Zukunft Polens nicht verständigen konnten, nicht zu einigen. Der Plan, die polnische Wehrkraft auszuschöpfen, endete als Fehlschlag. Die Polen-Proklamation der Mittelmächte wurde durch den gleichzeitigen Aufruf zum freiwilligen Waffendienst entwertet; zu deutlich war die Absicht, mit dem politischen Schritt polnische Soldaten zu gewinnen. Bis Ende April 1917 meldeten sich nur 4700 Freiwillige 63 . Trotzdem waren die historischen Folgen dieser Aktion beachtlich, denn aus ihr resultierte, wenn auch unbeabsichtigt, die Wiederbegründung der polnischen Eigenstaatlichkeit. In die Reihe dieser Versuche, fremde Volkskraft für die eigenen militärischen Ziele einzusetzen, gehörten auch die Zwangsdeportationen belgischer Arbeiter nach Deutschland, die in der deutschen Rüstungsindustrie eingesetzt werden sollten.

8. »Bis zum letzten Mann und letzten Groschen?« Angesichts dieser zahlreichen Versuche der militärischen Führung, das Kriegspotential des Deutschen Reiches zu erhöhen, stellt sich die Frage, bis zu welchem Punkt Generalität und politische Führung den Krieg fortzusetzen entschlossen waren. Alle Staatsführungen des Ersten Weltkrieges zeigten einen geradezu fanatischen Durchhaltewillen, der, solange die jeweilige Koalition hielt, auch durch schwerste Niederlagen nicht zu erschüttern war. Die Armee des vollständig von den Mittelmächten eroberten Serbiens führte den Krieg von Saloniki aus weiter. Die russische Regierung unter Kerenski war ebenfalls entschlossen, den Krieg an der Seite der Entente fortzusetzen, was zu ihrem Sturz führte. Obwohl fast das ganze Land und die Hauptstadt vom Feinde besetzt waren, kämpften die Rumänen am Sereth weiter. Wie weit wollte der deutsche Generalstab den Kampf fortführen? 61 62 63

Ritter, Staatskunst (wie Anm. 4), Bd 3, S. 275. Ebd. Ebd., S. 279.

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General v. Falkenhayn hatte den Reichskanzler schon im November 1914 auf die Notwendigkeit hingewiesen, einen politischen Ausweg aus dem Kriege zu finden; die Armee sei ein »zertrümmertes Werkzeug« und nach dem Scheitern des Schlieffenplans nicht mehr in der Lage, den Sieg zu erkämpfen. Statt dessen drohe mit zunehmender Kriegsdauer die »Erschöpfung« der Mittelmächte. Doch sollte dieser Frieden nicht zustande kommen, war der General offensichtlich zum äußersten entschlossen. Im Januar 1915 hatte er in einem Interview angekündigt: »Wenn wir in diesem Krieg [...] untergehen sollten, dann werden wir in Ehren untergehen, indem wir bis zum letzten Fußbreit Erde und bis zum letzten Mann kämpfen 64 .« Diese Meinung blieb konstant. Am 29. November 1915 versicherte er, Deutschland sei gezwungen, gegenüber dem feindlichen Vernichtungswillen »den letzten Mann und den letzten Groschen« einzusetzen 65 . Falkenhayn wollte den Krieg tatsächlich »bis zum bitteren Ende« führen 66 und ebenso seine Nachfolger Hindenburg und Ludendorff. Als Ludendorff seine Nervenkrise im Herbst 1918 überwunden hatte und erkannte, daß der von ihm so stürmisch geforderte Waffenstillstand — gedacht als Erholungspause zur Neugruppierung des Heeres — einer Kapitulation gleichkam, verlangte er die Fortführung des Krieges67. Er wollte lieber den Verzweiflungskampf aufnehmen, als sich dem Diktat Wilsons beugen. Auch Hindenburg verlangte, sollten sich die alliierten Bedingungen als zu demütigend erweisen, den »Kampf bis zum letzten Mann«. Ihm wurde daraufhin seitens der politischen Führung nur geantwortet, das sei ein kaum durchführbarer Vorschlag, wo es um 65 Millionen Menschen gehe68. Die zivilen Gewalten verschlossen sich aus Verantwortungsgefühl dem Gedanken, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Reichskanzler Prinz Max von Baden schrieb: »Der Wunsch, in Ehren unterzugehen, liegt sicher für den einzelnen nahe, der verantwortliche Staatsmann muß aber damit rechnen, daß das Volk in seiner breiten Masse ein Recht hat, nüchtern zu verlangen, zu leben, statt in Schönheit zu sterben69.« Ludendorff war politisch untragbar geworden und wurde vom Kaiser seines Amtes enthoben. Sein vorübergehendes Eingeständnis, der Krieg sei verloren, und die daraus resultierende Bitte um Waffenstillstand ist eine wesentliche Ursache dafür, daß Deutschland im Ersten Weltkrieg nicht wirklich »bis zum letzten Mann« gekämpft hat. Wie das möglicherweise praktisch hätte aussehen können, zeigten die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges, in denen Deutschland bei den Kämpfen auf dem eigenen Territorium mehr Menschen (eingerechnet auch die Zivilisten) verlor als im gesamten übrigen Krieg. Doch auch ohne daß es zum Endkampf kam, war der Erste Weltkrieg ungemein verlustreich. Am Ende sollen wieder Zahlen stehen, die verdeutlichen, welche Verluste die deutsche Wehrpflichtarmee während des Ersten Weltkrieges erlitten hat: Uber 2 Millionen 64 65

66 67 68 69

Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 2 4 . 1 . 1 9 1 5 ; vgl. Afflerbach, Falkenhayn (wie Anm. 38). Falkenhayn an Bethmann Hollweg, 2 9 . 1 1 . 1 9 1 5 , in: Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914—1918, Bd 10, Berlin 1936, S. l f . Siehe dazu Janßen, Kanzler (wie Anm. 53), S. 187. Siehe dazu Basil Liddell Hart, Strategie, Wiesbaden 1955, S. 2 6 2 - 2 6 4 . Michael Balfour, Der Kaiser. Wilhelm II. und seine Zeit, Berlin 1967, S. 431 f. Zit. bei Ritter, Staatskunst (wie Anm. 4), Bd 4, S. 442; Zitat aus einem Memorandum Max von Badens vom 1 6 . 1 0 . 1 9 1 8 .

»Bis zum letzten Mann und letzten Groschen?«

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deutsche Soldaten verloren ihr Leben, etwa 4,2 Millionen wurden verwundet, von denen wiederum über 1,5 Millionen bleibende Schäden davontrugen. Etwa 3% der deutschen Gesamtbevölkerung oder 15% der Soldaten waren gefallen. Insgesamt sind im Ersten Weltkrieg zwischen 7 bis 8 Millionen Menschen ums Leben gekommen, etwa 20 Millionen wurden verwundet oder blieben lebenslänglich verkrüppelt 70 .

9. Allgemeine Wehrpflicht und Radikalisierung des Krieges Abschließend bleibt noch eine Bilanz zu ziehen. Welchen Einfluß hat die allgemeine Wehrpflicht auf Verlauf und Führungsdenken des Ersten Weltkrieges genommen? Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, verbunden mit der Steigerung der industriellen Leistungskraft, hat die großen europäischen Kriege sehr verlustreich gemacht. »Da [die Wehrpflichtheere] leichter zu ergänzen waren und selbst hohe Verluste leichter ausgeglichen werden konnten, wurden sie im Kriege aber auch weniger geschont als die alten Berufsheere. Die Folge war eine aufs Ganze gesehen energischere Kriegführung, die das Risiko sehr viel weniger scheute 71 .« Die Kriegführung folgt Gesetzen der Logik, und wenn Soldaten leicht zu ersetzen sind, werden sie mit geringeren Bedenken eingesetzt als zum Beispiel in kleinen und teuren Söldnerheeren oder Berufsarmeen, wo jeder einzelne Mann nur schwer zu ersetzen ist. Dieser zentrale Gedankengang J. F. C. Fullers ist in seiner Einfachheit überzeugend und wohl auch unwiderlegbar. Fuller überspitzt jedoch seine Argumentation und läßt andere Faktoren außer acht, wenn er die totale Kriegführung beider Weltkriege direkt auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und ihre Auswirkungen zurückführt 72 . Die »allgemeine Wehrpflicht« vergrößerte die europäischen Armeen im Frieden und führte zu einer gewaltigen militärischen Leistungssteigerung, die zwangsläufig die Kriegführung verlustreicher gestaltete. Im Grunde war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht der Beginn der größten Aufrüstungswelle der Menschheitsgeschichte, die bis in die Zeit des Kalten Krieges hinein anhielt 73 . Die Radikalisierung der Kriegführung, vor allem das zähe Festhalten an Kriegszielen, die einen Kompromiß unmöglich machten, war jedoch im Ersten Weltkrieg weniger eine Auswirkung der Massenbeteiligung am Kriege, der Wehrpflicht, sondern eher ein Phänomen des Denkens der politischen Führungsschicht. Schwer zu beurteilen sind die geistesgeschichtlichen Auswirkungen eines solchen Volkskrieges. Die Grundidee der allgemeinen Wehrpflicht, die Erfassung der gesamten Nation 70 71 72 73

Klein u.a., Deutschland im ersten Weltkrieg (wie Anm. 23), B d 3 , S. 565f. Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 5, Abschn. IX, S. 191. Fuller, Kunst (wie Anm. 3), S. 34. Dieser Trend zur Durchmilitarisierung der Gesellschaft, die sich auf den großen zwischenstaatlichen Konflikt vorbereitet, scheint aber inzwischen gebrochen zu sein. Die Akzeptanz der Wehrpflicht nimmt mit der äußeren Bedrohung ab. Das Sicherheitsproblem der näheren Zukunft scheint weniger in großen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen wie z.B. den beiden Weltkriegen als in kleinen, spontaneren, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen (»low level conflicts«) zu bestehen.

90

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durch den Krieg für den Krieg, nahm maßgeblichen Einfluß auf das Entstehen der Theorie von Clausewitz vom »absoluten Krieg«. Es ist wahrscheinlich, daß sie auch direkten Einfluß auf das Entstehen der sozialdarwinistischen Vorstellungen vom Kampf der Nationen ums Dasein genommen hat 74 . Der Krieg, den die europäische Aufklärung als der Kulturmenschen unwürdiges, barbarisches Geschehen verurteilt hatte, wurde im 19. Jahrhundert für einen biologisch determinierten Vorgang gehalten. Diese Form des Sozialdarwinismus ist im Grunde eine biologistische Variante des »absoluten Kriegs«: Der Kampf ums Dasein wird bis zur Vernichtung des Schwächeren fortgesetzt; Kompromisse zwischen Sieg und Niederlage sind nicht denkbar. Entzündet hat sich diese Vorstellung am Volkskrieg; am Kampfe, an dem alle Wehrfähigen eines Volkes teilnehmen — eben an jener Idee, die der Levee en masse zugrunde lag. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich, daß der Schritt vom Einsatz des Volksheeres hin zum »absoluten« oder »totalen« Krieg sehr klein war. Die allgemeine Wehrpflicht war Voraussetzung und unverzichtbares Instrument dieser Radikalisierung. Sie hatte im 19. Jahrhundert zur Entstehung jener Grundhaltung beigetragen, die dazu führte, daß die politischen und militärischen Führer der kriegführenden Staaten des Ersten Weltkrieges bedenkenlos genug waren, unter bewußtem Verzicht auf politische Kompromißlösungen zur Niederwerfung des Gegners einen mörderischen Krieg »bis zum letzten Mann und letzten Groschen« durchfechten zu wollen. Heeresstärken bei Kriegsausbruch 1914 Einwohner in Mill.

Heer insgesamt

davon Feldheer

Gesamtzahl der Vorhand. Ausgebildeten

67

3 823 000

2 398 000

4 900 000

Österreich-Ungarn

51,3

2 500 000

1 421 000

3 034 000

Mittelmächte insgesamt:

118,3

6 323 000

3 819 000

7 934 000

Deutschland

Frankreich

39,6

3 580 000

1 867 000

4 980 000

Rußland

173,3

4 800 000

3 420 000

6 300 000

England

45,3

350 000

155 000

1 000 000

Belgien

7,6

222 000

117 000

400 000

Serbien

4,0

300 000

240 000

400 000

Montenegro

0,3

40 000

25 000

60 000

270,1

9 292 000

5 824 000

13 140 000

Entente insgesamt

Quelle: Reichsarchiv, Kriegsrüstung (wie Anm. 12), Bd 1, S. 221 f. 74

Schon im Jahre 1813 behauptete der sächsische Oberst v. Rühl, daß es der Wille der Natur sei, »daß weder Krieg noch Friede auf Erde vorhanden seyn, sondern daß aus dem Wechsel beyder gemeinschaftlich ein ewig reges und frisches Leben erzeugt werden solle.« Zit. nach: Militärgeschichte (wie Anm. 2), Bd 5, Abschn. IV, S. 195.

Wolfram Wette

Deutsche Erfahrungen mit der Wehrpflicht 1918—1945. Abschaffung in der Republik und Wiedereinführung durch die Diktatur

Wer sich in die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert einzulesen versucht, um den berühmten »roten Faden« zu entdecken, der uns bei der Erörterung dieser vielschichtigen Thematik den Weg zum Kern des Problems zeigen könnte, macht eine überraschende Feststellung: Die deutsche historische Forschung, die fachlich zuständige Spezialdisziplin der Militärgeschichte eingeschlossen, hat sich diesem Problemfeld bislang kaum gewidmet. Einschlägige Monographien sind jedenfalls eine Rarität. Solchen Seltenheitswert besitzt etwa das Buch des Generals Hans v. Beseler1 über die allgemeine Wehrpflicht aus dem Jahre 1913. Allerdings muß sogleich hinzugefügt werden, daß es sich bei dieser Veröffentlichung weniger um eine historische Darstellung mit analytischem Anspruch handelt als vielmehr um ein Plädoyer für eine extensive Anwendung der allgemeinen Wehrpflicht im Dienste des preußisch-deutschen Imperialismus. Dagegen kann das Werk des schwedischen Militärhistorikers Torsten Holm 2 , das 1953 in deutscher Ubersetzung erschien, den berechtigten Anspruch erheben, einen kritischen historischen Uberblick über die Geschichte der Wehrpflicht von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu bieten. Erst seit etwa 1989/90 läßt sich bei interessierten Historikern, Politik- und Sozialwissenschaftlern sowie einigen Politikern und Publizisten eine intensivere, sich in Fachaufsätzen niederschlagende Beschäftigung mit unserem Thema beobachten3. Die neu aufgeflammte Diskussion hat zweifellos etwas mit der aktuellen politischen Lage zu tun. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, der deutschen Einigung, den vertraglichen Abmachungen über eine beträchtliche Verringerung der deutschen Stneitkräfte, der wachsenden Wehrungerechtigkeit und schließlich in der Erwartung weiterer personeller Abrüstungsmaßnahmen in den kommenden Jahren ist es ein offenes Geheimnis, daß vielerorts über eine mögliche Abschaffung der Wehrpflicht nachgedacht wird. Um die Vorbemerkungen zum Forschungsstand noch ein wenig zu präzisieren: Was über die eher spärliche Forschung zu unserem Thema im allgemeinen gesagt wurde, gilt auch für die hier näher zu erörternde Zeitspanne von 1918 bis 1945. So ist beispielsweise der po1 2

3

Hans von Beseler, Die Allgemeine Wehrpflicht. Ein Gedenkwort zum 17. März, Berlin 1913. Torsten Holm, Allgemeine Wehrpflicht. Entstehung, Brauch und Mißbrauch (aus dem Schwedischen von Werner v. Grünau), München 1953. Vgl. hierzu die Literaturübersichten in: Jürgen Kuhlmann/Ekkehard Lippert, Wehrpflicht ade? Argumente wider und für die Wehrpflicht in Friedenszeiten (= SOWI-Arbeitspapier Nr. 48), München, März 1991, S. 42—50, und Joachim Giller, Demokratie und Wehrpflicht (= Studien und Berichte der Landesverteidigungsakademie), Wien 1992, S. 214—223.

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litische Meinungsbildungsprozeß der Amerikaner, Engländer und Franzosen, der schließlich zu der Verbotsregelung im Versailler Vertrag führte, noch nicht im einzelnen untersucht worden. Weiterhin fehlen Forschungen über die tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Wehrgesetzes von 1935, mit dem Hitler die Wehrpflicht wieder einführte. Auf der Basis der vorhandenen Literatur läßt sich bislang nicht einmal exakt klären, wie viele Millionen deutscher Männer aufgrund dieses Gesetzes Kriegsdienst leisten mußten und wie viele dabei ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Besonders zu bedauern ist das Fehlen fundierter Forschungsarbeiten, die sich mit der Geschichte der Wehrpflicht unter dem Aspekt der Ideologiekritik auseinandersetzen. Denn die politischen Legitimationen der Wehrpflicht, denen wir in der jüngeren deutschen Geschichte begegnen, vermitteln den Eindruck, daß wir es mit einem Gegenstand zu tun haben, der in hohem Maße mit ideologischem Ballast beladen ist. In dieser Situation ist es für Historiker eine verantwortungsvolle Aufgabe, den Versuch zu machen, die ideologischen Zwiebelschalen eine nach der anderen abzublättern, um den Kern des Problems freizulegen. Was die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, so hat der liberale Politiker und spätere Bundespräsident Theodeur Heuss ganz maßgeblich zur Ideologiebildung beigetragen. Im Jahre 1949, bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates, also der Verfassunggebenden Versammlung des westdeutschen Teilstaates, über die — vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges bedeutsame — Frage, ob man in der künftigen Verfassung die Kriegsdienstverweigerung als ein Grundrecht verankern solle oder nicht, sprach sich Heuss deutlich gegen diese aus. Er befürchtete einen »Massenverschleiß des Gewissens«. In diesem Beratungszusammenhang prägte Heuss die Formulierung, die Wehrpflicht sei »das legitime Kind der Demokratie 4 . Ihre Wiege habe in Frankreich gestanden. Seitdem ist die Behauptung, daß ein »wesensmäßiger Zusammenhang« von Wehrpflicht und Demokratie bestehe, in zahllosen Festreden deutscher Politiker und Militärs wiederholt worden. Dabei konnte man doch wissen, daß die alten Demokratien England und die USA in Friedenszeiten keine Wehrpflicht haben und daß es wohl kaum eine Diktatur auf der Welt gab oder gibt, die auf die Wehrpflicht verzichtet hätte. Gleichwohl: Der Ausspruch vom »legitimen Kind der Demokratie« hat seitdem geradezu den Charakter eines Mythos angenommen. Bis zum heutigen Tage genießt er weiterhin den Status einer politisch gültigen Aussage. Besagte Mythologisierung wurde erleichtert durch den Tatbestand, daß es diesbezüglich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland — über weite Strecken hinweg — so etwas wie einen parteiübergreifenden Konsens gab und wohl noch immer gibt. Das Fehlen einer politischen Kontroverse in dieser Frage hatte wiederum Rückwirkungen auf die historische Forschung. Jedenfalls besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen 4

Wortlaut nach dem Informationsdienst der FDP-Fraktion im Parlamentarischen Rat Nr. 8 vom 29.1.1949, wieder abgedruckt in: Bernhard W. Krack, Staatsoberhaupt und Streitkräfte. Die Positionen der Bundespräsidenten zur Bundeswehr und zur Sicherheitspolitik, Würzburg 1990, S. 141. Zum Zusammenhang vgl. Roland G. Foerster, Innenpolitische Aspekte der Sicherheit Westdeutschlands 1947—1950, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945—1956. Bd 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München, Wien 1982, S. 403—575, hier S. 425—427, und die dort angegebene weiterführende Literatur.

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dem skizzierten politischen Umfeld und dem Tatbestand, daß die Historiker eher einen großen Bogen um den Wehrpflicht-Mythos machten, als ihn historisch-kritisch zu durchleuchten: Man hätte sich »die Finger verbrennen« können. Außerdem gab es in der Bundesrepublik Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten offenbar keinen Aufklärungsbedarf über den Mythos von der demokratischen Wehrpflicht. Das vorläufige Fazit aus diesen Vorbemerkungen lautet: Der Historiker, der sich heute mit der Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland beschäftigt, muß zunächst einmal in quellennaher Arbeit ein Faktengerüst zusammenstellen. Bei der Interpretation dieser Fakten muß er gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos vom Zusammenhang von Demokratie und Wehrpflicht leisten. Die Wehrpflicht in Deutschland in der Zeit vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges: Diesen Zeitraum zu betrachten, hat einen besonderen Reiz, da er aus zwei ganz unterschiedlichen Phasen besteht. In den Jahren 1919 bis 1935 war die Wehrpflicht in Deutschland vollständig abgeschafft, und in dem darauf folgenden Jahrzehnt von 1935 bis 1945 erfuhr sie in Deutschland ihre bis dahin extensivste Anwendung. Im Hinblick auf diese Unterscheidung stellt sich spontan eine Assoziation ein, die reflektiert werden sollte: In der Zeit, in welcher die Wehrpflicht in Deutschland infolge des politischen Willens der Siegermächte des Ersten Weltkrieges — also in erster Linie Englands, Frankreichs und der USA — abgeschafft war, herrschte in Deutschland Frieden. Dagegen war die Wiedereinführung der Wehrpflicht durch Hitler im Jahre 1935 unmittelbar gleichbedeutend mit Kriegsvorbereitung und Krieg. Diese Feststellung mag trivial erscheinen. Sie trifft gleichwohl einen zentralen Punkt des Themas. Er berührt weniger die — von dem genannten Wehrpflicht-Mythos nahegelegte — Demokiatie-Diktatur-Problematik, sondern vielmehr das Krieg-Frieden-Problem. Folgendes wird ebenso allgemein wie zugleich korrekt gesagt werden können: Im Zeitalter der Weltkriege stand die Wehrpflicht in Deutschland nicht im Dienste der Friedensbewahrung, sondern im Dienste kriegerischer und aggressiver Machtpolitik. Die Wehrpflicht war die Voraussetzung für die Militarisierung der deutschen Gesellschaft sowie für die Aufstellung jener modernen Massenheere, mit denen Deutschland in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg zog. Sie war zugleich eine Voraussetzung für die Totalisierung des Krieges und für das kriegsbedingte Massensterben. Der Versailler Friedensvertrag brachte im Sommer 1919 eine erzwungene Unterbrechung der bis dahin durch Gesetz obligatorisch gemachten Zwangsrekrutierung. Im Artikel 173 legten die Siegermächte fest: »Die allgemeine Wehrpflicht wird in Deutschland abgeschafft. Das deutsche Heer darf nur im Wege freiwilliger Verpflichtung aufgestellt und ergänzt werden5!« Dieser Tatbestand kann als bekannt gelten, weniger jedoch seine Entstehungsgeschichte, die uns wertvolle Aufschlüsse über die Hintergründe der ganz unterschiedlichen Bewertungen der Wehrpflicht durch die Siegermächte zu bieten vermag. In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß seinerzeit keine andere militärische Bestimmung des Frie5

Nach dem im Reichsgesetzblatt 1919, S. 153ff., abgedruckten Vertragstext.

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densvertiages zu so heftigen Kontroversen führte wie das Problem, ob Deutschland ein Wehrpflicht- oder Freiwilligenheer erhalten sollte. Die Reduzierung der Streitkräfte hing damit unmittelbar zusammen. Die französische Friedensdelegation war zunächst bereit, Deutschland die Beibehaltung eines Wehrpflicht-Heeres mit 200000 Mann bei einjähriger Dienstzeit zu erlauben 6 . Man könnte vermuten, daß dabei die demokratischen Traditionen der großen Französischen Revolution von 1789 eine Rolle gespielt haben könnten: Also etwa die optimistische Annahme und Erwartung, daß die Bürger-Soldaten eines Volksheeres, von der Vernunft geleitet und nur die eigenen Interessen vertretend, niemals einen Angriffskrieg führen, aber unüberwindlich in der Landesverteidigung sein würden. Aber für diese Vermutung gibt es keinen Beleg. Ausschlaggebend für die französische Position waren vielmehr, so weit erkennbar, pragmatische Sicherheitserwägungen. Der Gedanke der Sicherheit Frankreichs vor dem bevölkerungsstärkeren Deutschland, der schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Hauptlinie der französischen Politik gebildet hatte, setzte sich in den Versailler Beratungen kontinuierlich fort. Wie den anderen Siegermächten ging es auch Frankreich primär darum, den deutschen Militarismus zu zerstören7, um die Gefahr zu bannen, erneut von Deutschland angegriffen zu werden. Die Frage, wie dieses Ziel am wirkungsvollsten zu erreichen war, beantwortete der führende Militär in der französischen Friedensdelegation, Marschall Ferdinand Foch, folgendermaßen: Er wollte den Deutschen die einjährige Wehrpflicht verordnen, weil er annahm, die vergleichsweise schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen seien unfähig zum Angriff und stellten demzufolge für Frankreich keine Gefahr dar. So ist es zu verstehen, wenn Foch bei dieser Gelegenheit den französischen Marschall Bugeaud aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts zustimmend zitierte, es sei besser, »es mit einer Armee von Schafen zu tun zu haben, die von einem Löwen kommandiert werde, als mit einer Anzahl Löwen, von einem Esel kommandiert« 8 . Mit »Löwen« waren die Berufssoldaten gemeint und mit den »Schafen« die nur kurz ausgebildeten wehrpflichtigen Soldaten, vor denen man sich sicher fühlen konnte. Die Identität des Esels ist nicht bekannt. Lloyd George, der englische Premierminister, beurteilte das Problem ganz anders9. Er und seine Regierung sahen einen untrennbaren Zusammenhang zwischen dem System der allgemeinen Wehrpflicht und dem preußisch-deutschen Militarismus. Daher sprach Lloyd 6

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8

9

Wilhelm Deist, Die militärischen Bestimmungen der Pariser Vorortverträge (1966), in: ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991 ( = Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 34) S. 235—247, S. 241, unter Verweis auf einen Entwurf der 2. FochKommission. So formulierte eines der führenden Mitglieder der französischen Delegation in Versailles, Andre Tardieu, in seinem Buch: La Paix, Paris 1921, S. 139f.: Das erste Ziel der Alliierten sei »la destruction du militarisme allemand«. Zit. nach Michael Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland 1919—1927, München 1966, S. 17. Die britische Position, die sich schließlich durchsetzte, wird gut herausgearbeitet in: A History of the Peace Conference of Paris, ed. by H. W. V. Temperley, vol. Π: The Settlement with Germany, London 1920, S. 127 ff.; sowie in: Lord Hankey, The Supreme Control at the Paris Peace Conference 1919. A Commentary, London 1963, Chapter XI: Military Terms of Peace, S. 87 ff.

Deutsche Erfahrungen mit der Wehrpflicht 1918—1945

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George aus Überzeugung vom »Übel der allgemeinen Wehrpflicht«, die man den Deutschen nehmen müsse10, wenn man den deutschen Militarismus auf Dauer schlagen und damit einen Zuwachs an eigener Sicherheit gewinnen wolle. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen hielten die Engländer ein Berufsheer für demokratisch kontrollierbar. Die Wehrpflicht dagegen barg aus britischer Sicht immer die Gefahr einer kontinuierlichen Militarisierung der Gesellschaft in sich, deren »kriegerische Instinkte« 11 dann von einer zur Aggression bereiten Regierung jederzeit geweckt werden konnten. Deutschland die Wehrpflicht weiter zu erlauben, sei, erklärte Lloyd George im Jahre 1919, »selbstmörderisch« 12 . Wie bekannt, setzte sich Marschall Foch nicht durch. Der französische Regierungschef Clemenceau verständigte sich, der militärischen Führung gegenüber den Primat der Politik demonstrierend, mit Lloyd George, der die Amerikaner ohnehin auf seiner Seite wußte, und so kam es zu der Regelung, den Deutschen die Abschaffung der Wehrpflicht zu verordnen. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Einschätzung der militarisierenden Rolle der Wehrpflicht wird verständlich, weshalb die Alliierten weitere Bestimmungen in den Vertrag aufnahmen, die zu einer Entmilitarisierung des öffentlichen Lebens13 in Deutschland beitragen sollten. Der Artikel 177 des Versailler Vertrages verbot allen Unterrichtsanstalten, Hochschulen, Krieger-, Schützen-, Sport- und Wandervereinen sowie allen anderen Vereinigungen, sich mit militärischen Dingen zu befassen, namentlich mit Waffenausbildung. Keiner Institution und Organisation wurde erlaubt, Verbindungen zu militärischen Behörden zu unterhalten. Aus der Sicht der alliierten Siegermächte blieb Deutschland allerdings — um diese Problematik hier wenigstens anzudeuten — trotz der erzwungenen Teilabrüstung einschließlich des Verbots der Wehrpflicht ein militärisch ernstzunehmender Faktor. So rechnete beispielsweise im Jahre 1924 ein englischer Offizier 14 , Angehöriger der Internationalen Militär-Kontrollkommission (IMKK) in Berlin, seinem Kriegsministerium in London vor, Deutschland habe — als Erbschaft des Weltkrieges 1914—1918 — noch immer etwa 4,7 Millionen Menschen, die militärisch ausgebildet seien. Wenn man Deutschland erlauben würde, diese Menschen zu organisieren und zu bewaffnen, könnte es — trotz des Verbots der Wehrpflicht — rasch eine große Armee aufstellen. Dieses Argument zielte, wie ersichtlich, nicht auf aktuelle politische Ziele der Deutschen, sondern auf die Voraussetzungen einer potentiellen künftigen Kriegspolitik. Auf die Betrachtung der Ansichten der Siegermächte des Ersten Weltkrieges über die Wehrpflicht folgt nun ein Blick auf die deutsche Politik des Jahres 1919, soweit sie sich 10

11 12 13

14

Deist, Bestimmungen (wie Anm. 6), S. 236. Lloyd George war es auch, der in den Versailler Verhandlungen die Reduzierung auf 100000 Mann erreichte (ebd., S. 242). History (wie Anm. 9), S. 128. Ebd. Rainer Wohlfeil, Heer und Republik, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 3, München 1979, Abschn. VI, S. 94. Dieser Bericht, »Das heutige Deutschland. Ausarbeitung eines englischen Offiziers von der Kontrollkommission in Berlin, die dem englischen Kriegsministerium eingereicht wurde« (Juni 1924), zirkulierte als Geheimsache auch im Reichswehrministerium. Text in: BA-MA, Ν 42/23, Bl. 20ff., hier: Bl. 21a.

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mit diesem Problem beschäftigte. Was wenig bekannt ist: In der ersten Hälfte des Jahres 1919, also vor »Versailles«, vollzog sich in der deutschen Regierung offenbar ein tiefgreifender Einstellungswandel in der politisch brisanten Frage der Wehrpflicht. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon seinerzeit wenig, und daher mag es sich erklären, daß dieser Wandel im historischen Bewußtsein nicht präsent ist. In den öffentlichen Beratungen der verfassunggebenden Nationalversammlung des Frühjahrs 1919 im Weimar traten alle Parteien von rechts bis links, mit Ausnahme der USPD15 — zumindest dem Grundsatz nach, aber aus unterschiedlichen Motiven heraus — für die Beibehaltung der Wehrpflicht ein16. Auch das für diese Frage politisch zuständige Regierungsmitglied, der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske, stellte beispielsweise anläßlich der Beratungen des Gesetzentwurfs über die Vorläufige Reichswehr (25. Februar 1919) klar, daß seine Partei nach wie vor zu ihrem Erfurter Programm von 1891 mit der Forderung nach einer »Erziehung des Volkes zur Wehrhaftigkeit« stehe. In der gegebenen Lage — nach den vier Kriegsjahren war die Kriegsunlust in Deutschland allgemein — müsse man allerdings statt der Wehrpflicht auf Freiwillige zurückgreifen17. Auf die Frage, was die — rein deklamatorisch klingende und durchaus auch so gemeinte18 — Formulierung des Gesetzestextes zu bedeuten habe, die neuen Freiwilligentruppen seien »auf demokratischer Grundlage«19 zu bilden, wußte Noske nur zu sagen, damit seien der Grundsatz »freie Bahn dem Tüchtigen« sowie das Beschwerderecht gemeint20. Es ging ihm hier also um sozialpolitische Aspekte und weniger um Demokratiepolitik. Während damals aufgrund der öffentlichen Debatten der Eindruck entstehen konnte, es gebe in Deutschland in der Frage der Wehrpflicht eigentlich nur eine, nämlich eine bejahende Meinung, zeigten die internen Beratungen der Reichsregierung, daß dieses keineswegs der Fall war. Tatsächlich nämlich stellte das Kabinett Scheidemann die Wehrpflicht vollständig zur Disposition. Die Reichsminister Erzberger (Zentrumspartei) und Dernburg (Deutsche Demokratische Partei) sowie der Völkerrechts-Professor Walter Schücking, der Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles war und ebenfalls der DDP angehörte, sprachen sich im Kabinett gegen das unbedingte Verlangen nach der Beibe15

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18 19

20

Die USPD lehnte den (in den A n m . 16 und 19 erwähnten) Entwurf des Gesetzes über die vorläufige Reichsmarine ab, weil die »demokratische Grundlage« nicht gegeben sei. Daraus ist — möglicherweise vorschnell — eine generelle Ablehnung der Wehrpflicht durch die USPD abgeleitet worden. Siehe Christian Herz, Die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Wehrpflicht sowie die Debatte in der Bundesrepublik Deutschland über ihren Gehalt an Demokratie und die Möglichkeit, auf sie zu verzichten. Diplomarbeit F U Berlin, Fachbereich Politische Wissenschaft, August 1989, S. 156. Vgl. Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd 327, 31. Sitzung vom 28. März 1919, S. 863 ff. Beraten wurde der Gesetzentwurf über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine. Ebd., Bd 326, Sitzung vom 25. Februar 1919, S. 308ff. Zum politischen Zusammenhang vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische Biographie, 2. Aufl., Düsseldorf 1988, S. 365. So auch das Urteil von Wohlfeil, Heer und Republik (wie Anm. 13), S. 85. Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 6. März 1919, in: Reichsgesetzblatt 1919, S. 295 f.; Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine vom 16. April 1919, ebd., S. 431. Wette, Noske (wie Anm. 17), S. 366.

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haltung des Wehrpflichtsystems aus, von dem man in den deutschen Vorstellungen bislang ausgegangen war 21 . Daraufhin beschloß das Kabinett am 14. April 1919 einstimmig 22 , der deutschen Friedenskommission den Vorschlag mit auf den Weg zu geben, in die »weitestgehende Abrüstung zu Lande unter gegenseitiger undd gleichzeitiger Abschaffung der Zwangsdienstpflicht«23 einzuwilligen. Auch Noske, der soeben noch an das Erfurter Programm seiner Partei erinnert hatte, stimmte zu. Im Gefolge dieses Beschlusses erklärte die Regierung in ihrer Note vom 29. Mai 1919 24 gegenüber den Siegermächten, sie wisse, daß Deutschland Opfer bringen müsse, um zum Frieden zu kommen, und bot von sich aus an, »mit der eigenen Entwaffnung allen anderen Völkern voranzugehen«. Dazu gehörte unter anderem der Verzicht auf die allgemeine Wehrpflicht. In der Kabinettsrunde sprach sich nur der Vertreter des preußischen Kriegsministeriums, General v. Wrisberg, für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus und tat damit kund, was auch die übrigen führenden Militärs dachten. Es mag in diesem Zusammenhang von Interesse sein zu erfahren, daß es zwischen Generalmajor Hans v. Seeckt, dem Leiter der militärischen Vertretung der deutschen Friedensdelegation, und Außenminister Graf v. Brockdorff-Rantzau über das Angebot der Regierung, auf die Wehrpflicht zu verzichten, zu einem regelrechten Zerwürfnis kam. Seeckt, der auf dem Wehrpflichtsystem und auf einer Truppenstärke von mindestens 300000 Mann beharren wollte, warf dem Außenminister vor, Deutschland aus tagespolitischen Erwägungen heraus »wehrlos« zu machen und sogar seine »nationale Ehre« zu opfern 25 . Hinter Seeckt stellten sich die Oberste Heeresleitung (OHL) in der Person von Wilhelm Groener und der preußische Kriegsminister, Walther Reinhardt26. Praktisch hat der erwähnte Kabinettsbeschluß vom 14. April 1919 zwar keine Bedeutung erlangt, weil die deutschen Vertreter in Versailles keine Gelegenheit erhielten, auf die Gestaltung der militärischen Vertragsbestimmungen Einfluß zu nehmen. Gleichwohl haben wir uns die Frage vorzulegen, was die Mitglieder der Reichsregierung, allesamt Demokraten aus den Parteien der »Weimarer Koalition« (SPD, Zentrum, DDP), im Jahre 1919 dazu veranlaßte, das System der Wehrpflicht von sich aus aufzugeben und den Forderungen der deutschen Spitzenmilitärs in diesem Punkte nicht zu folgen. Von beträchtlicher Bedeutung dürften taktische Motive gewesen sein. Der Friedensvertragsentwurf der Siegermächte war zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht bekannt, aber 21

Die dem Kabinett am 2 1 . 4 . 1 9 1 9 vorliegende Fassung des Entwurfs der Richtlinien für die deutschen Friedensunterhändler hatte zunächst noch die Passage enthalten: »Weitestgehend Abrüstung zu Lande. Dtl. muß aber die Befugnis zur Beibehaltung des Wehrpflichtsystems haben, da es ein Söldnerheer nicht bezahlen kann.« Siehe dazu die früheren Beratungen des Kabinetts am 17.4.1919: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, 13. Februar bis 20. Juni 1919. Bearb. von Hagen Schulze, Boppard a.Rh. 1971, Dok. Nr. 44, S. 180—184, Zitat: S. 191, Anm. 6. A m 2 1 . 4 . 1 9 1 9 kam es dann zu einem überraschenden Meinungsumschwung.

22

Protokoll der Kabinettssitzung vom 14. April 1919, ebd., Dok. Nr. 48, S. 190—192.

23

Der endgültige Text der »Richtlinien für die deutschen Friedensunterhändler. 21. April 1919« ist abgedruckt: ebd., Dok. 49, S. 193 ff., die Passage zur Wehrpflicht: S. 202.

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Zit. nach Wohlfeil, Heer und Republik (wie Anm. 13), S. 87.

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Ebd., S. 88.

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Ebd.

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die deutsche Regierung mußte davon ausgehen, daß zumal die militärischen Bestimmungen einschneidend sein würden. Was die innenpolitische Szene anbetraf, so wußte die Regierung, daß aktuell, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, eine vehemente Antikriegsstimmung herrschte, die für eine Beibehaltung der Wehrpflicht keinen Raum ließ. Außerdem hatte die Regierung der Weimarer Koalition — und dieser Gesichtspunkt war wohl der dominierende — eine außenpolitische Zukunftsvision, die wenigstens dem Grundsatz nach das rein machtpolitische Denken zu überwinden versuchte. Nach den Schrecken des Weltkrieges — so die außenpolitische Zukunftserwartung der Demokraten — würde es im internationalen Rahmen zu einer allgemeinen Abrüstung unter der Aufsicht des noch zu errichtenden Völkerbundes kommen. Dem deutschen Verzicht auf die Wehrpflicht würde der Verzicht der anderen Staaten folgen. So waren es also nicht nur die außen- und innenpolitischen Zwänge, die der Reichsregierung den Weg wiesen, von sich aus auf die Wehrpflicht zu verzichten, sondern auch die eigenen Vorstellungen von einer künftigen deutschen Außenpolitik, die — wie vage auch immer — am Gedanken der internationalen Verständigung, am Postulat der Abrüstung und an der welthistorisch neuen Institution des Völkerbundes orientiert waren. Uber diese außenpolitische Perspektive hinaus ist die Frage aufzuwerfen, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß das demokratische Wehrpflicht-Ideal, das mit der Hoffnung verknüpft war, der Wehrpflicht könnten Demokratisierungstendenzen innenwohnen, bereits am Ende des Ersten Weltkrieges als nicht mehr tragfähig angesehen wurde. Die Erfahrungen mit dem preußisch-deutschen Militarismus in den zurückliegenden Jahrzehnten machte es doch im Grunde genommen schon damals unmöglich, weiterhin — im Denkhorizont der idealistischen Aufklärer des späten 18. Jahrhunderts, zum Beispiel Immanuel Kants — von den friedenstiftenden und demokratiefördernden Wirkungen der Wehrpflicht überzeugt zu bleiben. Denn die Wehrpflichtigen waren doch immer wieder von einer Politik instrumentalisiert worden, die nichts weniger als Frieden und Demokratie im Sinn hatte. Solche Gedanken wurden nun in jenen pazifistischen Kreisen erörtert, welche die Notwendigkeit der Landesverteidigung und damit auch der Wehrpflicht bislang akzeptiert hatten, was bis 1914 beim überwiegenden Teil nicht nur des deutschen, sondern des europäischen Pazifismus insgesamt der Fall gewesen war. Noch während des Ersten Weltkrieges hatte der langjährige Vorsitzende der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG), der spätere Friedens-Nobelpreisträger Ludwig Quidde, eben dieses als neue Aufgabe formuliert: »Besonders scharfer Prüfung bedarf die Frage, ob die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Tat eine Forderung der Demokratie und der Kultur war 27 .« Unmittelbar nach dem Kriege kam es dann innerhalb der DFG zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung über diese Frage. Sie wurde im Herbst 1919 durch den Mehrheitsbeschluß entschieden, die Abschaffung der Wehrpflicht in das Programm der DFG aufzunehmen 28 . Unter den gegebenen Bedingungen — in Deutschland war die Wehr27

28

Ludwig Quidde, Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914—1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hrsg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat, Boppard a. Rh. 1979 (= Schriften des Bundesarchivs, 23), S. 170. Friedrich-Karl Scheer, Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892—1933). Organisation, Ideologie, po-

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pflicht ja ohnehin verboten — kam diesem Programmpunkt in der deutschen innenpolitischen Auseinandersetzung zwar wenig praktische Bedeutung zu. Gleichwohl bleibt es eine bemerkenswerte Tatsache, daß in der Zwischenkriegszeit nicht nur von den Radikalpazifisten, die Gewalt ohnehin grundsätzlich ablehnten, sondern auch von den gemäßigten Pazifisten, die sich eher am Völkerrechtsgedanken orientierten, die Wehrpflicht mit zunehmender Konsequenz abgelehnt wurde, und zwar ebenso in Deutschland wie international. Eine ausschlaggebende Rolle spielte dabei der Aspekt, daß von der Wehrpflicht die Gefahr einer gesellschaftlichen Militarisierung und von dieser wiederum eine Kriegsgefahr ausgehe. Es war derselbe Gesichtspunkt, der die angelsächsischen Siegermächte in Versailles veranlaßt hatte, auf ihren diesbezüglichen Forderungen zu beharren. Auch bei einigen fortschrittlichen Offizieren brachen sich ähnliche Erkenntnisse Bahn. Der bayerische Major außer Diensten und Schriftsteller Franz Carl Endres29 jedenfalls konstatierte in seinem 1919 veröffentlichten Buch über »Reichswehr und Demokratie«, im 19. und 20. Jahrhundert sei »das Wesen der allgemeinen Wehrpflicht in sein Gegenteil verkehrt« worden, indem man es in den Dienst von Angriffs- und Eroberungskriegen gestellt habe30. Er meinte also, daß »das Wesen« der Wehrpflicht defensiv sei. Ob auch die Mitglieder des Reichskabinetts Scheidemann Überlegungen dieser Art anstellten, wofür einige Vermutungen sprechen, ist bislang nicht erforscht worden. In diesem Zusammenhang mag jedoch der Tatbestand von Interesse sein, daß die stärkste demokratische Partei der Weimarer Zeit, die SPD, auch später nicht auf die Wehrpflicht zurückkam. In ihren 1929 auf dem Magdeburger Parteitag verabschiedeten »Richtlinien zur Wehrpolitik« 31 war viel von Abrüstung und Frieden die Rede, auch von der Notwendigkeit einer Umgestaltung der Reichswehr, nicht aber von einer wünschbaren Wiedereinführung der Wehrpflicht oder auch nur von einem Bedauern, daß es sie seit 1919 nicht mehr gab. 27 Jahre später — dieser Blick in die Zukunft32 mag erlaubt sein —, bei der Beratung und Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes im Deutschen Bundestag 1956, sollte die SPD die Wehrpflicht dann erneut ablehnen33. Für diese Entscheidung scheinen allerdings weniger grundsätzliche Erwägungen ausschlaggebend gewesen zu sein, abgeleitet aus einer bestimmten politischen Tradition, sondern vielmehr aktuelle Gegebenheiten,

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30 31

32 33

litische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1981, S. 474. Kurzvita von F. C. Endres in: Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Osterreich und in der Schweiz, hrsg. von Helmut Donat und Karl Holl, Düsseldorf 1983 (= Hermes Handlexikon), S. 102 f. Ernst Carl Endres, Reichswehr und Demokratie, München/Leipzig 1919, S. 1. Sozialdemokratischer Parteitag Magdeburg 1929. Vom 26. bis 31. Mai in der Stadthalle. Protokoll, Berlin 1929, S . 2 8 8 f . Vgl. dazu den Beitrag von Wilhelm Meier-Dörnberg in diesem Band. Die SPD-Bundestagsfraktion trat damals für ein Berufsheer ein und stimmte am 7. Juli 1956 im Bundestag gegen das Wehrpflichtgesetz. Verteidigung im Bündnis. Planung, Aufbau und Bewährung der Bundeswehr 1950—1972, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1975, S. 12 f.; sowie die Darstellung von Hans-Jürgen Rautenberg, Wehrpflicht und Wehrdienst in Widerstreit. Aus den Debatten im Deutschen Bundestag, in: Wehrdienst aus Gewissensgründen. Zur politischen und ethischen Legitimation der Verteidigung, hrsg. von Hartmut Bühl und Friedrich Vogel, Herford, Bonn 1987, S. 3 5 - 4 6 .

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nämlich die heikle deutschland-politische Situation, die damals in der Formel »Deutsche schießen nicht auf Deutsche« einzufangen versucht wurde. Zur Meinungslage über die Wehrpflicht in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges soll eine These formuliert werden, die als Tendenzaussage verstanden werden sollte: Die Rolle der Wehrpflicht-Befürworter, die im 19. Jahrhundert als fortschrittlich galten, war bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Anhänger einer nationalistischen Machtpolitik34 übergegangen. Diese paßten sich an den republikanischen Zeitgeist lediglich insoweit an, als sie — und dies in der Regel in durchaus demagogischer Absicht — in ihrer politischen Rhetorik fortan ihrerseits einen Zusammenhang von Wehrpflicht und Demokratie suggerierten. Charakteristisch hierfür waren zum Beispiel die Debattenbeiträge der Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der Abgeordneten Oberfohren und Graf zu Dohna, in der Weimarer Nationalversammlung. Sie traten dort für die Erhaltung der Wehrpflicht ein mit dem bezeichnenden Argument, »daß die allgemeine Wehrpflicht das demokratischste Prinzip darstellt, das sich überhaupt denken läßt«35. Im Hinblick auf die eigene politische Klientel, bei welcher das Wort Demokratie durchaus Irritationen hervorzurufen in der Lage war, fügte einer der DNVP-Politiker dann abschwächend hinzu, statt »demokratisch« hätte er lieber den Begriff »volkstümlich« gesehen. Hier wird unmittelbar deutlich, daß die Politiker der Rechten das Wort Demokratie nicht im Sinne eines Rechts zur Teilnahme an der politischen Willensbildung und damit an der politischen Macht im Staate verwendeten, sondern — darin bestand der nur schwer durchschaubare rhetorische Kunstgriff — im Sinne einer gleichmäßigen Lastenverteilung. Es ist bekannt, daß die Angehörigen der deutschen militärischen Führungsschicht die durch Versailles erzwungene Abschaffung der Wehrpflicht immer als eine Ubergangserscheinung ansahen und daher den sogenannten Paramilitarismus unterstützten, der in der deutschen Gesellschaft der zwanziger Jahre weit verbreitet war36. Damit sind alle jene Unternehmungen gemeint, die das Ziel verfolgten, unter Umgehung der Versailler Vertragsbestimmungen eine breite Militarisierung der Gesellschaft zu bewirken. Die Politik der deutschen Regierung während der Genfer Abrüstungskonferenz 1932, die in der Forderung nach »Gleichberechtigung« ihren Ausdruck fand, ist bereits als eine Vorstufe zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zu bewerten. Seinerzeit, 1932, brachten einzelne Politiker37 neben den militärischen Gründen für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auch einen innenpolitischen Aspekt in die Debatte, nämlich die Idee, die Wehrpflicht im Sinne einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Entlastung des Arbeitsmarktes einzusetzen. 34

Der Tatbestand, daß die linksliberale DDP auch in den 20er Jahren für die Wehrpflicht eingetreten ist, scheint dieser These zu widersprechen. Diese Forderung war jedoch im linksliberalen Lager umstritten. Die dort gegebenenfalls geführten Kontroversen sind m.W. bislang nicht aufgearbeitet.

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Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (wie Anm. 16), 31. Sitzung am 28. März 1919, S. 865 (Oberfohren) und 867f. (Graf zu Dohna).

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Vgl. Wohlfeil, Heer und Republik (wie Anm. 13), S. 221 ff. Diesen Vorschlag machte zum Beispiel der Magdeburger Oberbürgermeister Carl Goerdeler: Brief Goerdelers an Reichskanzler v. Papen vom 8. August 1932, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer

37

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Da Hitler es war, der 1935 — die Bestimmungen des Versailler Vertrages in den Wind stoßend — die allgemeine Wehrpflicht wieder einführte, ist es naturgemäß von Interesse zu erfahren, welche Rolle die Wehrpflicht in seiner Weltanschauung spielte. Im allgemeinen wird man sagen können, daß er in bezug auf dieses Problem die Anschauungen aller anderen Anhänger einer nationalistischen Machtpolitik teilte, die sich in dem Satz zusammenfassen lassen: Der Zukunftskrieg, der irgendwann geführt werden mußte, wollte man die Weltmachtstellung Deutschlands wiedergewinnen, hatte zur Voraussetzung, daß die Regierung über das Instrument der Wehrpflicht verfügen konnte, da nur sie es ermöglichte, die deutsche »Volksgemeinschaft« in ihrer Gesamtheit in größtmöglichem Ausmaß kriegstüchtig zu machen. Dieser Grundgedanke ist schon in den frühesten öffentlichen politischen Äußerungen Hitlers nachweisbar38. Er wurde nie revidiert. Als Hitler 1933, wenige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, vor die Befehlshaber des Heeres und der Marine trat und ihnen mitteilte, daß er die »Stärkung des Wehrwillens mit allen Mitteln« betreiben wolle, war klar, daß dies die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht einschloß39. Klar war auch, daß diese Maßnahme nur ein Etappenziel auf dem Wege zur Erreichung der von Hitler offen angesprochenen Aggressionsziele — »Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung« — sein werde. Das bedeutete, daß das Potential der Wehrpflichtigen planmäßig und zielstrebig für den Aufbau eines offensiven Kriegsheeres ausgenutzt werden sollte40. In den beiden folgenden Jahren schufen die NS-Regierung und die militärische Spitze der Reichswehr in denkbar größter Ubereinstimmung die politischen und militärischorganisatorischen Voraussetzungen für eine möglichst rasche Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht41, die dann durch das »Gesetz zum Aufbau der Wehrmacht« vom 1 6 . März 1 9 3 5 4 2 erfolgte. Auf die Reaktionen des Auslandes kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden43. Statt dessen soll hier der ideologisch-propagandistischen Begründung unsere besondere Aufmerksamkeit gelten, wie sie vom ersten Propagandisten des NS-Regimes, nämlich

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Republik. Das Kabinett von Papen. 1. Juni bis 3. Dezember 1932, Bd 1, Boppard a.Rh. 1989, Nr. 97, S. 357f. (Ziff. 14). Vgl. die Edition: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905—1924, hrsg. von Eberhard Jäckel zus. mit Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 214, 218, 583, 728. Aufzeichnung des Generalleutnants Liebmann über diese Besprechung in: Thilo Vogelsang, Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2 (1954), S. 397—436, hier: S. 434 f. Ebd., S. 422. Einzelheiten bei Wilhelm Deist, Die Aufrüstung der Wehrmacht, in: Ders., Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette, Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 1), S. 408—412, sowie bei Hans Jürgen Rautenberg, Deutsche Rüstungspolitik vom Beginn der Genfer Abrüstungskonferenz bis zur Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht 1932—1935, Phil. Diss. Bonn 1973. Siehe auch Ders., Drei Dokumente zur Planung eines 300000-Mann-Friedensheeres aus dem Dezember 1933, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 2/1977, S. 103—139. Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, in: Reichsgesetzblatt 1935, Teil I, Nr. 52, S. 6 0 9 - 6 1 5 . Vgl. dazu Michael Salewski, Die bewaffnete Macht im Dritten Reich 1933—1939, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte (wie Anm. 13), Bd4, Abschn. VII, S. 134—140.

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Adolf Hitler selbst, der Öffentlichkeit unterbreitet wurde. In seiner weitschweifigen, mit endlosem Zahlenmaterial bestückten und mit erneuten Friedensbeteuerungen 44 garnierten Erklärung »An das deutsche Volk« 45 operierte Hitler im wesentlichen mit den bekannten revisionistischen Argumenten, also mit außenpolitischen Gesichtspunkten, und fügte dann hinzu, die getroffenen Maßnahmen würden die »Ehre, Würde und Sicherheit« des Deutschen Reiches wiederherstellen. In einer während des Parteitages der NSDAP von 1935 gehaltenen »Rede an die Soldaten« trieb Hitler die ideologischen Überhöhungen des soldatischen Dienstes und damit auch der Wehrpflicht noch weiter, indem er wahrheitswidrig behauptete, der Dienst an der Waffe sei für das deutsche Volk seit jeher »kein Zwangsdienst«, sondern »ein höchster Ehrendienst« gewesen. Rhetorisch suggerierte er, und dies ist im Hinblick auf den Mythos von der demokratischen Wehrpflicht wahrlich bemerkenswert: »Zu allen Jahrhunderten« hätten die deutschen Männer diesen Dienst »freiwillig geleistet«, und sie seien »stolz auf diese Leistung« gewesen46. Man fragt sich angesichts solcher Behauptungen unwillkürlich, weshalb dann eigentlich die Wehrpflicht mit Gesetzeskraft eingeführt werden mußte. Der Sinn solcher Wehrpflicht-Propaganda war klar: Wer den militärischen Zwangsdienst ablehnte, sollte als ehrloser Pazifist oder als Volksverräter gebrandmarkt und ins gesellschaftliche Abseits verbannt werden können. Bekanntlich gab es in der NS-Zeit kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, somit auch keine Möglichkeit, sich dem Wehrdienst auf legalem Wege zu entziehen. Wer es dennoch versuchte, wie zum Beispiel der evangelische Pazifist Hermann Stöhr 47 , hauptamtlicher Sekretär des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes, wurde vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Es soll in der NS-Zeit etwa 6000 Kriegsdienstverweigerer 48 gegeben haben, die fast alle aus religiösen Motiven handelten. Die meisten waren Zeugen Jehovas 49 . Sie wurden in Konzentrationslager verschleppt; nur wenige von ihnen überlebten. Ideologische Überhöhungen der Wehrpflicht waren in der NS-Zeit gang und gäbe. Sie müssen als eine Strategie zur gesellschaftlichen Militarisierung verstanden werden. Eine jener Organisationen, die sich der Propagierung dieser ideologischen Glaubenssätze mit besonderem Eifer annahmen, war die »Deutsche Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften« 50 . 44

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Vgl. im einzelnen Wolfram Wette, Ideologien, Propaganda und Innenpolitik als Voraussetzungen der Kriegspolitik des Dritten Reiches, in: Deist, Messerschmidt, Volkmann, Wette, Ursachen und Voraussetzungen (wie Anm. 40), S. 113—121. Wortlaut in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932—1945, Bd 1, Würzburg 1962, S. 4 9 1 - 4 9 5 . Weitere Hitler-Rede vom 15. September 1935 »An die Soldaten«: ebd., S. 539. Siehe dazu die Kurzvita von Hans Gressel, Hermann Stöhr, in: Die Friedensbewegung (wie Anm. 29), S. 377f., und die dort angegebene Spezialliteratur. Diese Zahl ebd., S. 239. Uber die Rolle der Zeugen Jehovas im Dritten Reich informiert demnächst die Dissertation von Detlev Garbe, Hamburg (Hinweis von Guido Gründewald, Köln). Vgl. paradigmatisch den Vortrag des Ministerialrats und Reichsamtsleiters Wilhelm Haegert, Nationalsozialismus und Allgemeine Wehrpflicht, in: Wehrfreiheit. Jahrbuch der »Deutschen Gesellschaft

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Nun ein paar Angaben zu den gesellschaftlichen Folgen des Wehrgesetzes von 1935: Während des Zweiten Weltkrieges wurden insgesamt etwa 20 Millionen Männer (also ungefähr die Hälfte der Gesamtzahl der männlichen Bürger) zum Kriegsdienst eingezogen51. Geht man davon aus — genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln —, daß ungefähr 1 bis 2 Millionen Soldaten Freiwillige waren, so resultiert daraus, daß etwa 18 bis 19 Millionen Angehörige der Wehrmacht aufgrund der Wehrpflicht Kriegsdienst leisteten, also als Zwangsverpflichtete. Das heißt, daß die Wehrmacht des NS-Staates — quantitativ betrachtet — eine Wehrpflichtigen-Armee mit einem vergleichsweise kleinen Anteil an Berufsmilitärs und anderen Freiwilligen war. Als Bürger schon in der Vorkriegszeit mit den totalitären Erfassungsmechanismen des NS-Staates konfrontiert und in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft eingegliedert, wurden die wehrpflichtigen Männer mit dem Betreten der Kasernen vollends einem rigiden Befehl-Gehorsam-System unterworfen und im Hinblick auf ihre künftigen Zerstörungsaufgaben hin ausgebildet. Mehr noch als die Ausbildung in der Kaserne sollte dann der Krieg selbst dazu beitragen, bei den wehrpflichtigen Soldaten die natürlichen Tötungshemmungen zu beseitigen. Hinzu kam, daß die Absolutheitsansprüche des militärischen Herrschaftssystems und die Existenz verbrecherischer Befehle — zumal unter den physischen Belastungen des Krieges — bei vielen wehrpflichtigen Soldaten zu einem dramatischen Verlust des Bewußtseins von individueller Verantwortungs- und Schuldfähigkeit führten sowie zu Deformationen des Humanitäts- und Rechtsempfindens. Die militarisierte Volksgemeinschaft der Deutschen — geformt auf der Basis des Systems der allgemeinen Wehrpflicht — verlor in diesem Kriege in einem erschreckend hohen Ausmaß jene humane Orientierung 52 , von der man bis dahin geglaubt hatte, sie mache den Status einer Kultur- und Industriegesellschaft aus. Fast überflüssig zu betonen: In der Wehrmacht des Jahrzehnts von 1935 bis 1945 war von den Idealen der demokratischen Wehrpflicht-Befürworter des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nichts geblieben. Die optimistischen Annahmen der Aufklärer, daß wehrpflichtige Bürger-Soldaten eine Garantie für die Friedensbewahrung sein könnten, lagen unter den gegebenen Umständen völlig außerhalb der Realität. Die Wirklichkeit der unter nationalzozialistischem Vorzeichen militarisierten deutschen Volksgemeinschaft war eine vollständig andere. Der Verlauf der Schlacht von Stalingrad

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für Wehrpflicht und Wehrwissenschaften« 1935, Hamburg o. J. (1935), S. 20—25, mit dem mythologisierenden Gerede vom »Wehrrecht des deutschen Mannes«, das als »das heilige Vermächtnis seiner Väter« angesehen werden müsse (S. 20). Vgl. dazu Burkhart Mueller-Hillebrand, Das Heer 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , Bd 3, Frankfurt 1969, S. 253, mit folgenden Zahlenangaben: Einberufungen in die Wehrmacht und Waffen-SS vom 1.6.1939 bis 30.4.1945: 1 7 8 9 3 2 0 0 . Bei Kriegsende lebten von diesen noch 7 5 9 0 0 0 0 . — Nach dieser Statistik wäre von 10 Millionen Wehrmacht-Toten auszugehen. Vgl. zu diesen Zahlen die Untersuchung von Rüdiger Overmans, Die Toten des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Bilanz der Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Wehrmacht- und Vertreibungsverluste, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, im Auftrage des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1989, S. 8 5 8 - 8 7 3 . Ich übernehme hier den Begriff von Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987, S. 11 u.ö.

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symbolisiert sie durchaus treffend. Diese Volksgemeinschaft war nach außen hin aggressiv und hinreichend effektiv, um ihren Krieg bis an die ferne Wolga vorzutreiben, aber nach innen hin war sie von der — alles rationale Denken dominierenden — militärischen Disziplin geradezu gelähmt53. Mit den Worten von Manfred Messerschmidt ausgedrückt: »Soldat und Bürger wurden zum Material degradiert, nie krasser als in der nationalsozialistischen Zeit, als allgemeine Wehrpflicht und Demokratie die größten Gegensätze darstellten54.« Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges soll es — neueren Forschungen über die Wehrmachtjustiz zufolge55 — in der Wehrmacht hunderttausende Fälle von Desertion, Fahnenflucht und »Wehrkraftzersetzung« gegeben haben. Gleichwohl wird auch künftig kaum an der These zu rütteln sein, daß die durchmilitarisierte nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«, deren bewaffneter Teil überwiegend aus gefügigen Wehrpflichtigen bestand, in ihrer Gesamtheit »bis zum bitteren Ende« durchgehalten und, anders als 1918, nicht revoltiert hat. Die Revolution der Wehrpflichtigen blieb 1944 und 1945 aus. Es war also genau das eingetreten, was besonders die englischen Politiker nach dem Ende des Ersten Weltkrieges befürchtet hatten und was sie hatten verhindern wollen. Aus diesem Grunde berieten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1945 in Potsdam nicht mehr, wie noch im Jahre 1919 in Versailles, darüber, ob Deutschland künftig ein Wehrpflicht· oder ein Berufsheer unterhalten dürfe. Sie griffen statt dessen zu der sehr viel konsequenteren und radikaleren Lösung einer »völligen Abrüstung und Entmilitarisierung« Deutschlands56. Die historische Wirklichkeit in dem hier näher betrachteten Zeitraum mag uns also folgende Erkenntnis vermitteln: Sieht man einmal von der kurzen Phase der Novemberrevolution 1918 ab, in der wehrpflichtige Soldaten der kaiserlichen Marine die Rolle des politischen Signalgebers für revolutionäre Veränderungen spielten — und damit erstmals den Befürchtungen der antidemokratisch eingestellten Berufsmilitärs und gleichzeitig den Hoffnungen revolutionärer Demokraten gerecht wurden —, so ist von einer demokratisierenden oder gar pazifizierenden Wirkung der Wehrpflicht nirgendwo etwas zu entdecken. In der Zeit des deutschen Nationalstaates hat sich vielmehr durchgängig die militaristische Inanspruchnahme der Wehrpflicht durchgesetzt. Die Streitkräfte wurden jeweils »von oben geprägt«, durch das Berufsmilitär, und nicht etwa »von unten«, durch die wehrpflichtigen Soldaten, die am Ende der Befehlshierar53

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Vgl. dazu jetzt den Sammelband: Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, hrsg. von Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, Frankfurt a.M. 1992, der dieses Ereignis aus der Sicht »von unten«, das heißt aus der Perspektive des einfachen Soldaten, analysiert. Manfred Messerschmidt, Allgemeine Wehrpflicht — Bürger in Uniform, in: Französische Revolution. Impulse, Wirkungen, Anspruch, Heidelberg 1990 (= Sammelband der Vorträge des Studium generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 1989), S. 93—101, Zitat S. lOOf. Vgl. Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987; und Fritz Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 1991. Das »Abkommen von Potsdam« vom 2. August 1945. Teil »Politische Grundsätze«, Ziff. 3, in: Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der »Großen Drei«, hrsg. von Ernst Deuerlein, München 1963, S. 354.

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chie standen und außer Gehorsamsbekundungen nichts zu sagen hatten. Anderslautende demokratische Hoffnungen, denen einst kein geringerer als Friedrich Engels anhing, haben sich immer wieder als Illusion erwiesen. Tatsächlich war die allgemeine Wehrpflicht im 19. und 20. Jahrhundert — bis 1945 jedenfalls — jeweils ein Instrument zur Zwangsrekrutierung von Soldaten, mit denen die politische und militärische Führung tun konnte und auch tat, was sie wollte. U m diese Zusammenhänge wußte auch der verteidigungspolitische Sprecher der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Fritz Erler. Anläßlich der Beratungen des Wehrpflichtgesetzes im Deutschen Bundestag am 23. März 1956 führte er hierzu, die ablehnende Haltung seiner Partei begründend, folgendes aus: »Der Geist der Gesamtarmee hängt — auch wenn Sie die Wehrpflicht einführen — nicht von der Gesinnung der Wehrpflichtigen, sondern von der Gesinnung des Kerns und der Vorgesetzten ab, [...] denn der ist in beiden Fällen identisch 57 .« Angesichts des historischen Befundes ist die eingangs gestellte Frage noch einmal aufzugreifen, wie es nach 1945 — trotz der Erfahrungen der beiden Weltkriege — zu einer Wiederbelebung des demokratischen Wehrpflicht-Mythos kommen konnte. Die erkennbaren tagespolitischen Absichten der Nachkriegspolitiker — nämlich, erstens, die von der deutschen Gesellschaft im Grunde genommen nicht gewollte Wiederbewaffnung zu legitimieren und, zweitens, die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die jetzt unter den politischen Rahmenbedingungen einer Demokratie ins Auge gefaßt wurde, vom vermeintlichen »Mißbrauch« der Wehrpflicht in der NS-Zeit abzugrenzen —, vermögen ja nicht hinreichend zu erklären, weshalb der Mythos offenbar auch geglaubt wurde. Die Antwort ist keineswegs einfach, weil sich in ihr die facettenreiche und widersprüchliche Ideen- und Realgeschichte der Wehrpflicht in Deutschland widerspiegelt. Wie ich zu zeigen versuchte, trugen zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Strömungen zu dieser Mythenbildung bei. Die eine Strömung, in die auch das Heuss-Zitat von der Wehrpflicht als dem »legitimen Kind der Demokratie« einzuordnen ist, folgte der aufklärerischen, an der Idee des Friedens orientierten Theorie, derzufolge der »Bürgersoldat« oder »Milizionär« vernunftgemäß handeln, den Frieden bewahren, sich jedenfalls zu Angriffskriegen nicht mißbrauchen lassen würde. Die andere Strömung war die militaristische, die zugleich die historische Wirklichkeit repräsentierte. Sie bediente sich des Demokratie-Arguments in propagandistischer, ja manipulativer Absicht, um die Wehrpflicht zu legitimieren. Der Tatbestand, daß es in Deutschland kaum praktische Erfahrungen mit der politischen und gesellschaftlichen Demokratie gab, erleichterte es den nationalistischen Machtpolitikern, jenen massenhaften Zwang, den die Wehrpflicht tatsächlich darstellte, sprachlich umzumünzen in eine demokratische Angelegenheit, obwohl die Wehrpflicht für die von ihr Betroffenen doch keine politischen Rechte eröffnete, sondern immer nur Lasten. In der Summe betrachtet, ist es den Vertretern dieser militaristischen Richtung gelungen, ihre Sicht zur herrschenden Meinung zu machen. 57

Erler-Zitat nach: Die parlamentarischen Väter der Bundeswehr. Debatten und Entscheidungen in Bundestag und Bundesrat, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1985, S. 192 und 194.

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Kann man aus dem historischen Befund eine Schlußfolgerung ziehen, die im Hinblick auf die aktuelle politische Debatte über Fortbestand oder Abschaffung der Wehrpflicht von Bedeutung sein könnte? Ganz allgemein läßt sich sagen, daß sich Wehrform und Staatsform »allenfalls indifferent zueinander« 58 verhalten, wie die »Unabhängige Kommission für die Aufgaben der Bundeswehr« unter der Leitung des Bonner Professors für Politikwissenschaft Hans-Adolf Jacobsen 59 dies kürzlich völlig zu Recht festgestellt hat. Die Kommission schlußfolgerte dies in erster Linie aus einem internationalen Vergleich. Sie konstatierte, daß es die allgemeine Wehrpflicht in den Diktaturen Hitlers und Stalins (und man könnte die Liste der Diktaturen mit Wehrpflicht beliebig verlängern) ebenso gegeben habe wie in der demokratischen Schweiz, während England, ein anderes Land mit langer demokratischer Tradition, seine Streitkräfte als Berufsarmee organisiert habe. Daß es im Hinblick auf die innere Struktur keine Ähnlichkeit zwischen Demokratie und Wehrpflicht gibt, weil beide Lebensbereiche völlig gegensätzlichen Herrschaftsprinzipien folgen, ist im Grunde genommen eine Binsenweisheit. Der bedeutende sozialdemokratische Rechtspolitiker Adolf Arndt (1904—1974, MdB 1949—1969) hat sich anläßlich der Beratungen der Wehrgesetze im Deutschen Bundestag am 28. Juni 1955 gleichwohl die Mühe gemacht, den Gegensatz noch einmal in der wünschenswerten Deutlichkeit herauszuarbeiten: »Demokratie und Militär sind bei allen Völkern und zu allen Zeiten schwer miteinander vereinbare Gegensätze gewesen. Demokratie ist ihrem Wesen nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Das Gesetz des Militärs aber ist der Gehorsam in einem Verband, der durch Befehl regiert wird. Demokratie ist Aufteilung der Macht und Gleichgewicht durch gegenseitige Kontrolle. Militär ist Zusammenballung der Macht und Unterordnung 60 .« Sein Parlamentskollege Fritz Erler faßte diese Erkenntnis wenig später in der lapidaren Formel zusammen: »Die Gleichung Wehrpflicht = Demokratie geht nicht auf 61 .« Man wird aus dem historischen Befund wie auch aus dem internationalen und dem strukturellen Vergleich folgern dürfen, daß mit einer möglichen Abschaffung der Wehrpflicht keineswegs ein Verlust an demokratischer Substanz verbunden sein würde. Die Fragen der Wehrform und des Umfangs von Streitkräften sind vielmehr von allen historisch gewachsenen ideologischen Überhöhungen zu befreien und pragmatisch anzugehen. Wer die Zukunftsaufgaben so sieht, daß es das primäre Ziel der Politik sein sollte, das gewaltfreie Spielregelsystem in den inneren wie in den äußeren Beziehungen zu fördern, der ist auf den Weg einer »Zivilisierung« verwiesen. Auf diesem Wege könnte die Abschaffung der Wehrpflicht einen wichtigen Schritt nach vorne bedeuten.

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Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr: Die künftigen Aufgaben der Bundeswehr. Abschlußbericht und Empfehlungen, Bonn, 24. September 1991, S. 21. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Adolf Jacobsen in diesem Band. Arndt-Zitat nach: Väter der Bundeswehr (wie Anm. 57), S. 92. Fritz Erler, Heer und Staat in der Bundesrepublik, in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd 3, Tübingen 1958, S. 229. Zit. nach Rautenberg, Wehrpflicht (wie Anm. 32), S. 36.

Wilhelm Meier-Dörnberg

Die Auseinandersetzung um die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland

Am 1. April 1957 rückten die ersten Wehrpflichtigen, knapp 10000 Mann des Jahrgangs 1937, in die Kasernen ein. Was millionenfache Routine werden sollte, war ein in der Öffentlichkeit vielbeachteter und kritisch verfolgter Vorgang. Die Bundeswehr zählte zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 100000 Berufssoldaten oder Längerdienende. Musterungen und Einberufungen waren störungsfrei verlaufen. Von 15000 zur Musterung aufgeforderten jungen Männern waren fast alle erschienen. Nur 0,3 % beriefen sich auf das Recht der Kriegsdienstverweigerung. Etwa 8 % der Einberufenen entschlossen sich sogar zur Verlängerung des Grundwehrdienstes von 12 Monaten. Presse, Funk und Fernsehen berichteten durchweg positiv 1 . Das war keineswegs vorherzusehen. Denn außer der Grundsatzentscheidung, ob es überhaupt wieder deutsche Soldaten geben sollte, war die Einführung der Wehrpflicht im Sommer 1956 wegen ihrer einschneidenden persönlichen, aber auch gesellschaftlichen und politischen Folgen unter den etwa 20 Wehrgesetzen besonders umstritten. Damit stellt sich die Frage, warum sich das Wehrpflichtsystem dennoch durchsetzen konnte und die Alternative einer Berufsarmee nicht zum Zuge kam. Dem Für und Wider soll im folgenden nachgegangen werden. Jede Betrachtung hat dabei die konkrete historische Situation zu berücksichtigen, in der sich der Entscheidungsprozeß vollzog. Der Aufbau der Bundeswehr bot zwar die Chance des Neubeginns, doch geschah dies nicht in einem politischen Vakuum, das es erlaubt hätte, ein gewissermaßen ideales und zeitloses Streitkräftemodell zu entwerfen und zu verwirklichen. Auch Wehrpflicht und Wehrdienstdauer waren das zeitbedingte Resultat ganz bestimmter außen- und innenpolitischer Faktoren. Der Streit über das Wehrsystem der Bundesrepublik hing zentral mit der Frage des personellen Umfangs der Bundeswehr zusammen. Selbst Befürworter einer Berufsarmee wie der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Fritz Erler, stellten nie in Abrede, daß von einer bestimmten Zahl an der Bedarf nur über die Wehrpflicht gedeckt werden konnte. Zuverlässige Angaben über einen solchen Grenzwert gab es nicht, doch war klar, daß ein Friedensumfang von rund 500000 Mann, wie ihn der EVG-Vertrag vom 27. Mai 1952 2 1

Information für die Truppe, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Jg 1957, H. 8, S. 5.

2

Im EVG-Vertrag selbst findet sich die Zahl 5 0 0 0 0 0 nicht. Das Vertragswerk legte nur Zahl, Umfang, Typ und Präsenzstufen der zu stellenden Verbände fest. Je nach Anwendung der verschiedenen Kategorien konnte der personelle Gesamtumfang des deutschen Kontingents daher schwanken. Siehe dazu: Wilhelm Meier-Dörnberg, Die Planung des Verteidigungsbeitrages der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der EVG, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945—1956. Bd 2: Die EVG-Phase, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1990, S. 699 ff.

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bindend vorschrieb und wie ihn die Bundesregierung auch nach dem Scheitern der supranationalen »Europa-Armee« am 30. August 1954 ihren Planungen zugrunde legte, nicht einmal annähernd nach dem Freiwilligenprinzip zustande kommen konnte. Gegner der Wehrpflicht zielten deswegen besonders darauf ab, die Notwendigkeit einer Armee in dieser Größenordnung zu widerlegen. Die Wehrpflichtdebatte entwickelte sich daher ganz wesentlich zu einer Umfangdebatte, die andererseits untrennbar mit bündnispolitischen, operativen und waffentechnischen Aspekten, letztlich mit dem Kriegsbild eines Ost-West-Konfliktes verknüpft war. Am 8. Februar 1956 verabschiedete das Bundeskabinett den Entwurf des Wehrpflichtgesetzes. Es sah einen Grundwehrdienst von 18 Monaten vor und enthielt Regelungen über das Wehrersatzwesen, das Musterungsverfahren und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung3. Noch bevor sich der Bundestag damit beschäftigte, lehnte der Bundesrat am 23. März 1956 auf Antrag Baden-Württembergs den 18monatigen Wehrdienst als zu lang ab und schlug statt dessen wegen der Arbeitsmarktlage und der beruflichen Auswirkungen einen Dienst von nur 12 Monaten vor. Um in der Kernfrage überhaupt weiterkommen zu können, wurde die Dienstzeitdauer ausgeklammert und einem späteren Gesetz vorbehalten. Die Bundesregierung stand unter großem Zeitdruck, unter den sie sich selbst gebracht hatte. Statt die noch aus dem EVGVertrag stammenden, äußerst knappen und — das war vorherzusehen — kaum einzuhaltenden Fristen zu revidieren, hatte sie der NATO in einer Art Selbstverpflichtung die Aufstellung der 500000 Mann innerhalb von drei Jahren zugesagt. Davon sollten 270000 Wehrpflichtige sein4. Wollte man die Zusage einhalten, mußte mit der Einberufung der ersten Quote im Frühjahr 1957 begonnen werden. Die Vorarbeiten verlangten ein Inkrafttreten des Gesetzes spätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 1956. Im Bundestag fand die erste Beratung am 4. Mai 1956 statt. Für die Bundesregierung begründete Verteidigungsminister Blank das Gesetz. Er war sehr schlecht beraten, ausgerechnet mit der Behauptung zu beginnen, die Bundesrepublik sei zu einem Verteidigungsbeitrag von rund 500 000 Mann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht verpflichtet. Er berief sich dabei auf die von den Außenministern unterzeichnete Schlußakte der Londoner Neunmächtekonferenz vom 3. Oktober 1954, die den Pariser Verträgen, d.h. dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und WEU, vorausgegangen war und die noch auf den EVG-Zahlen basierte, und konstruierte daraus eine völkerrechtlich bindende Wirkung 5 . Mühelos und geradezu genüßlich zerpflückte Erler, Hauptredner der Opposition, die unhaltbare Position, indem er den WEU-Vertrag zitierte, der die EVG-Zahlen in Höchststärken umgewandelt hatte und in dem es heißt: »Die Festlegung dieser Höchststärken verpflichtet keinen der Hohen Vertragschließenden Teile, Streitkräfte dieser Stärke aufzustellen oder zu unterhalten, beläßt ihnen aber das Recht, dies, wenn erforderlich, zu tun 6 .« Was konnte klarer sein als dieser Text? Aus NATO- und WEU-Vertrag 3 4

5 6

Archiv der Gegenwart vom 8.2.1956, S. 5609f. »Warum brauchen wir die Wehrpflicht?«, Denkschrift der Bundesregierung, hrsg. durch das Presseund Informationsamt der Bundesregierung, April 1956, S. 25. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 143. Sitzung, 4.5.1956, S. 7480ff. Ebd., S. 7495.

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jedenfalls konnte die Blanksche Behauptung nicht begründet werden. Nur sie aber waren vom Bundestag ratifiziert worden und damit maßgebend. Unwiderlegbar konnte Erler daher feststellen: »Es gibt keine völkerrechtliche Verbindlichkeit, eine Armee von einer halben Million aufzustellen und die Wehrpflicht einzuführen7.« Erler kannte natürlich als Mitglied des Verteidigungsausschusses und Wehrexperte der SPD die Rechtslage genau, und es bleibt unerfindlich, warum Blank sich auf dieses fadenscheinige Argument überhaupt einließ. Auch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Richard Jaeger, CSUAbgeordneter und Befürworter der Wehrpflicht, gab Erler in diesem Punkt ausdrücklich recht. Blieb die Frage, ob ein Bundeswehrumfang von 5 0 0 0 0 0 Mann nicht nach Geist und Bestimmung des westlichen Verteidigungsbündnisses, aber auch aus deutschem Interesse erforderlich war. Handelte es sich bei den WEU-Höchststärken demnach nicht doch um etwas wie Mindeststärken? Die Bundeswehr war keine Armee eines nationalen Alleingangs. Anders als alle übrigen Streitkräfte setzte sie die Allianz voraus. Sie war ihrem Ursprung und Wesen nach eine Armee im Bündnis, eine Bündnisarmee. Ohne NATO hätten die Westmächte der Wiederbewaffnung niemals zugestimmt. Sie erfolgte unter dem Patronat und der Kontrolle der Westmächte. Wichtiger noch für dieses Thema: Sie wurde konzeptionell auf die NATO zugeschnitten, die einem arbeitsteiligen Prinzip folgte, wonach, grob gesagt, die anglo-amerikanischen Staaten vorwiegend strategische, die kontinentaleuropäischen vorwiegend operativ-taktische Aufgaben zu übernehmen hatten. Die NATO sollte keine bloße Addition der verschiedenen nationalen Kontingente verkörpern, sondern eine möglichst ausgewogene und geschlossene Streitmacht. Von den Mitgliedern wurde daher ein nach Umfang und Bewaffnung nicht nur angemessener, sondern spezifischer Beitrag erwartet, der sich — ausgehend von der großen Überlegenheit des Ostens bei den konventionellen Streitkräften — für die Bundesrepublik auf 12 gepanzerte Divisionen, eine taktische Luftwaffe mit ca. 1300 Kampfflugzeugen und eine kleine Küstenmarine mit 1 8 6 Bootseinheiten im Gesamtumfang von rund 5 0 0 0 0 0 Mann einschließlich einer Territorialkomponente belief. Mit den Truppenkontingenten der anderen Bündnispartner ergab dies nach Auffassung der Allianz das militärische Minimum, um einen Angriff östlich des Rheins mit Aussicht auf Erfolg abwehren zu können beziehungsweise den Gegner von einer Aggression überhaupt abzuhalten. Bereits in der für die deutsche Auffassung grundlegenden Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950 war mit Blick auf entgegengesetzte Überlegungen der Alliierten gefordert worden: »Deutschland darf auf dem Lande nicht als Vorfeld einer am Rhein etwa beabsichtigten Hauptverteidigung angesehen werden8.« Bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes blieb das Prinzip der »Vorneverteidigung« eine Konstante deutscher Sicherheitspolitik. 1950 hätte nicht einmal die Rheinlinie gehalten werden können. Vor den Franzosen geheimgehaltene amerikanisch-britische Pläne sahen daher bis weit in die fünfziger Jahre Rückzugsbewegungen auf die britischen Inseln, Spanien, Süditalien und Nordafrika 7 8

Ebd., S. 7497. Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 21/1977, S. 1 3 5 - 2 0 6 , S. 169.

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vor, um von dort aus wie im Zweiten Weltkrieg nach vorangegangenem strategischen Bombereinsatz gegen die Sowjetunion Westeuropa zurückzuerobern 9 . U m so mehr mußte, aus diesem Blickwinkel jedenfalls, eine 500 000-Mann-Streitmacht gerade im deutschen Interesse liegen. Diese unter der steuernden Hand der NATO bei den Pariser EVG-Verhandlungen zustande gekommene und im Militärischen Sonderabkommen des EVG-Vertrages festgelegte Größenordnung war nicht nur deutsche und EVG-Planungsgrundlage, sondern auch die der im Aufbau begriffenen NATO. Festgelegt waren ferner Aufstellungszeit, hohe Präsenz, schnelle Einsatzbereitschaft sowie Zahl und Typ der deutschen Kampfverbände. All dies nach Vorgaben und in Abstimmung mit der NATO, für die der deutsche Beitrag eine wesentliche, im Hinblick auf die Verteidigung Westeuropas sogar herausragende Funktion besaß. Eine ins Gewicht fallende Umfangsreduzierung, wie sie eine Berufsarmee zwangsläufig bewirkt hätte, mußte schwerwiegende Folgen für die Verteidigungsfähigkeit der NATO haben und die um Vertrauen, Anerkennung und Einfluß bemühte Bundesrepublik ins bündnispolitische Abseits stellen. Es kam noch etwas hinzu: Bis auf Kanada galt in allen NATO-Staaten die Wehrpflicht. Schon deswegen konnte die Bundesrepublik kaum aus der Reihe tanzen. Im übrigen hatte Frankreich von Anfang an ein deutsches Berufskontingent aus politischen Gründen strikt abgelehnt. Das Wehrsystem der EVG beruhte auf der Wehrpflicht. Der Vertrag schrieb eine 18monatige Dienstzeit vor und erlaubte keine Freiwilligenverbände. Als Adenauer 1952 aus wahltaktischen Gründen mit Blick auf die Bundestagswahl 1953 die Einberufung der ersten Wehrpflichtigen nicht in die Wahlkampfzeit fallen lassen wollte und vorschlug, erst einmal mit reinen Freiwilligenverbänden anzufangen, mußte ihm mühsam beigebracht werden, daß dies Vertragsbruch gewesen wäre, abgesehen davon, daß sein Vorschlag die gesamte Aufstellungsplanung der Dienststelle Blank umgeworfen hätte 10 . Der Streit um Mindest- oder Höchststärken offenbarte die Zwiespältigkeit des Vertragswerkes. Die französische Idee der supranationalen EVG war geboren worden, um durch die Europäisierung des deutschen Kontingents der Bundesrepublik die nationale Verfügungsgewalt über ihre eigenen Soldaten zu verwehren und gleichzeitig ihre Mitgliedschaft in der NATO zu verhindern. Nach dieser Vorstellung konnte die Bundesrepublik nur indirekt auf dem Wege über die EVG auf die NATO und damit auf das für die Sicherheitspolitik und die westliche Verteidigung entscheidende Bündnis einwirken. Nach dem Scheitern dieses Projekts und dem deutschen Beitritt zur NATO hatte die aus dem Brüsseler Beistandspakt von 1948 hervorgegangene WEU, wenn auch in abgemilderterer Weise, diese Kontroll- und Beschiänkungsfunktion zu übernehmen, indem sie nicht nur Höchststärken, sondern auch speziell die Bundesrepublik betreffende Rüstungsbeschränkungen vorschrieb und eine entsprechende Uberprüfungsbehörde einrichtete. Der Brüsseler Beistandspakt hatte militärisch nichts bewirkt und war durch die NATO überholt worden.

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Christian Greiner, Die alliierten militärstrategischen Planungen zur Verteidigung Westeuropas 1947—1950, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945—1956. Bd 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München, Wien 1982, S. 171 ff. Meier-Dörnberg (wie Anm. 2), S. 730.

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Der Zweck der W E U lag nicht darin, dies zu ändern. Im Gegenteil: Der Vertrag erklärte ausdrücklich den »Aufbau einer Parallelorganisation zu den militärischen NATO-Stäben [für] unerwünscht« 11 . Dahinter stand eine amerikanisch-britische Forderung, die von vornherein dem Entstehen einer separaten Armee einen Riegel vorschieben wollte. Umstände und Absicht der WEU-Gründung machen deutlich, warum spätere Versuche, sie mit wirklichem Gehalt zu füllen, bis heute über Ansätze nicht hinauskamen. Sie war tatsächlich ein Verhinderungsinstrument und konnte sich nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten war, aus dieser Realität nicht mehr befreien. Richard Jaeger bezeichnete sie in der Wehrpflichtdebatte als »eine Größe zweiter oder dritter Ordnung in dem ganzen Vertragswerk« 12 . Für ihn und die Bundesregierung blieben die Erfordernisse der NATO maßgebend, das heißt, die WEU-Höchststärke bedeutete zugleich das zu leistende NATO-Minimum. Die Wehrpflichtdebatte fiel zusammen mit der vom NATO-Rat im Dezember 1954 beschlossenen Umstellung auf taktische Nuklearwaffen. Die noch von einer konventionellen Verteidigung Westeuropas ausgehenden Lissaboner Vereinbarungen vom Februar 1952 waren mit ihrem 90-Divisionen-Programm, weil unrealistisch, aufgegeben worden. Nukleare Feuerkraft sollte das Fehl an Truppen ersetzen. Nach den Worten des Obersten Befehlshabers der NATO in Europa, General Gruenther, bildeten die taktischen Nuklearwaffen das »taktische Rückgrat der westlichen Verteidigung« 13 , was nichts anderes hieß, als daß sie bei einem sowjetischen Angriff auf jeden Fall eingesetzt würden. Ende Juni 1955 machte das atomare Luftmanöver »Carte Blanche« die verheerenden Folgen einer solchen Kriegführung deutlich. Spielte es dann überhaupt noch eine Rolle, 100000 oder 500 000 Mann aufzubieten, und mußte nicht gerade die Bundesrepublik als potentielles Hauptkampfgebiet unter diesen Umständen an einem möglichst kleinen Truppenkontingent interessiert sein? Diesen Standpunkt vertrat die SPD. Der Sicherheitsausschuß der Partei bestritt den militärischen Sinn einer 500000-Mann-Streitmacht und stellte in einer am 11. April 1956 an den Parteivorstand gerichteten Empfehlung fest: »Angesichts der heutigen Lage kann der Bundesrepublik nur die Aufgabe zukommen, als militärisches Gleichgewicht der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands [SBZ] zu wirken. Für die Erfüllung dieser Aufgabe ist ein stehendes Heer auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht nicht erforderlich 14 .« Gemeint waren nicht etwa sämtliche auf dem Boden der SBZ stehenden Truppen, sondern nur die NVA, damals rund 105000 Mann. In dieser Größenordnung sollte sich demnach auch das Freiwilligenkontingent der Bundesrepublik bewegen. Für die Bundesregierung war eine solche Lösung bündnispolitisch und militärisch inakzeptabel. Sie sah trotz der waffentechnischen Revolution keinen Anlaß, von dem geplanten 11 12 13

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N A T O Informationsabteilung Brüssel, NATO — Tatsachen und Dokumente, Brüssel 1971, S. 339. Verhandlungen (wie Anm. 5), S. 7531. Christian Greiner, General Adolf Heusinger (1897—1982). Operatives Denken und Planen 1948 bis 1956, in: Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford, Bonn 1988, S. 237. Franz W. Seidler und Helmut Reindl, Die Wehrpflicht. Dokumentation zu Fragen der allgemeinen Wehrpflicht, der Wehrdienstverweigerung und der Wehrgerechtigkeit, München 1971, S. 54.

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Umfang abzugehen. In ihrer im April 1956, also unmittelbar vor der Bundestagsdebatte veröffentlichten Denkschrift »Warum brauchen wir die Wehrpflicht?« erklärte sie: »Art und Wirkung der neuen Waffen verlangen eine größere Auflockerung und Beweglichkeit, nicht aber eine Verminderung der Stärke. Sie verlangen >keine kleineren Heereviele kleine Verbände^5.« Die Denkschrift stammte aus dem Verteidigungsministerium, wo man intern allerdings differenzierter dachte. General Heusinger, dem Vorsitzenden des Militärischen Führungsrates, bereitete die »Nuklearisierung« des Bündnisses erhebliche Sorgen. Der eigentliche Wert der Atomwaffen bestand für ihn in ihrer abschreckenden Wirkung. Als Gefechtsfeldwaffen schienen sie ihm nur als letztes Mittel tauglich. Schon gar nicht wollte er einen Einsatz »auf jeden Fall«. Deswegen beharrte er auf der Alternative einer konventionellen Gefechtsführung, was ihn zwangsläufig in Gegensatz zur NATO bringen mußte. Dies belegen mehrere unter ihm angefertigte Studien vom Herbst 1956. Mit dem Anwachsen des deutschen Verteidigungsbeitrages erhoffte er sich eine größere Einflußnahme auf die NATOPlanungen. Es ging ihm um eine Fortentwicklung »klassischer Traditionen« deutscher Operationsführung. »Das deutsche Interesse« müsse »darauf hinzielen, [...], die Abwehrkraft so zu erhöhen, daß im taktischen Rahmen auf die Unterstützung durch NATOeigene Atomwaffen auf deutschem Boden möglichst weitgehend verzichtet werden« könne16. Das lief — zur hohen Zeit der »Massive Retaliation« — auf das erst eine Dekade später offiziell eingeführte NATO-Konzept der »Flexible Response« hinaus. Gerade deswegen setzte er sich für starke konventionelle Streitkräfte und damit für die Wehrpflicht ein. Im europäischen Mittelabschnitt zwischen Ostsee und Alpen verfügte die NATO ohne deutsche Truppen über nur 17 Divisionen. Erst mit den 12 deutschen Divisionen war nach allgemeiner Auffassung die Stärke erreicht, die einen Überraschungsangriff von Osten unwahrscheinlich machte und die Sowjetunion zu einem längeren, für sie sehr riskanten Aufmarsch zwang. Mit dem geplanten deutschen Beitrag wuchs demnach das Abschrekkungsmoment erheblich. Dies alles konnte allerdings frühestens nach dem Aufbau der Bundeswehr erreicht werden. Hier lag die Schwäche, aber auch die Chance der Konzeption. Die Vorstellung der Opposition war demgegenüber perspektivlos. Ihr Argument, durch einen geringeren Beitrag die internationale Abrüstung voranzubringen, ging an den Realitäten des Ost-West-Konfliktes weit vorbei. Mit einem 100000-Mann-Kontingent — Belgien stellte 145 000 Mann — wäre andererseits eine Vorverlegung der Abwehr vom Rhein an die Elbe unmöglich geworden. Ein Erfolg ihres Kurses hätte sowohl die deutsche Position in der Allianz schwer erschüttert und eine Einflußnahme im Heusingerschen Sinne deutlich geschwächt als auch die noch im Aufbau befindliche NATO, die fest mit den 12 Divisionen rechnete, in eine Krise gestürzt. War die Bundeswehr nicht ohne NATO denkbar, so traf dies auch umgekehrt zu. Die USA hatten der Entsendung von Kampftruppen nach Europa nur unter der Bedingung eines angemessenen deutschen militärischen Beitrages zugestimmt. Von den Leistungen der Europäer waren sie ohnehin enttäuscht. Die vorgeschlagene Reduzierung hätte zumindest die isolationistischen 15 16

»Warum« (wie Anm. 4), S. 8. Greiner, Heusinger (wie Anm. 13), S. 252.

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Tendenzen in den USA gestärkt und den alten Gedanken einer peripheren Verteidigung wieder aufleben lassen. Die außen- und sicherheitspolitische Dimension der Wehrpflichtfrage kann kaum überschätzt werden. Ein sehr ernstzunehmendes Argument gegen die Wehrpflicht bestand in den zu erwartenden negativen Auswirkungen auf die Zusammengehörigkeit der Deutschen in Ost und West. Die Bundesregierung wischte diese Bedenken in ihrer Denkschrift mit dem Satz beiseite: »Die Behauptung, daß eine allgemeine Wehrpflicht die Spaltung des Landes vertiefe, ist unrichtig. Im Gegenteil 17 .« Die nachfolgende Begründung war gänzlich unglaubwürdig. Blank ging auf diesen Punkt gar nicht erst ein, weil sich die Wehrpflicht nun wirklich nicht als Mittel zur Uberwindung der Teilung eignete. Die nachteiligen Folgen, die sich aus der Wehrüberwachung für den Reiseverkehr und die menschlichen Kontakte hüben und drüben ergeben mußten, konnten überhaupt nicht übersehen werden. Darauf verwies besonders Erler, aber auch Erich Mende, der Wehrexperte der FDP, der sich im übrigen für eine allgemeine Dienstpflicht aussprach. Ein möglicher Bruderkrieg verschärfte noch das Problem und mußte Gewissenskonflikte hervorrufen. Man fürchtete ein unmittelbares Nachziehen der DDR, die diesen Schritt tatsächlich aber erst nach dem Bau der Mauer gewagt hat, weil ihr sonst noch mehr junge Männer im wehrpflichtigen Alter den Rücken gekehrt hätten. Daß diese Bedenken nicht aus der Luft gegriffen waren, wird aus einer auf dem Höhepunkt der Debatte gemachten Umfrage ersichtlich. Auf die Frage: »Manche jungen Männer in Westdeutschland haben ja Verwandte in der Ostzone, die dort in der Armee dienen müssen. Sollten diese jungen Männer das Recht haben, den Kriegsdienst zu verweigern?«, antworteten 54% mit ja und nur 22% mit nein. Selbst bei CDU-Wählern war das Verhältnis ähnlich. In derselben, vom SPIEGEL veröffentlichten Befragung hatten im übrigen von 100 befragten Männern 44% für eine Wehrpflicht- und 37% für eine Berufsarmee gestimmt. Bei den jungen Männern zwischen 18 und 29 Jahren war das Ergebnis allerdings umgekehrt 51% zu 38 %18. Eine andere, etwa zeitgleich durchgeführte Umfrage, die auch die Frauen einbezog, ergab, daß die Bevölkerung mehrheitlich die Wehrpflicht ablehnte. 49% wollten eher eine Berufs-, 39% eher eine Wehrpflichtarmee 19 . Neben den bündnis-, verteidigungs- und deutschlandpolitischen Faktoren der Wehrform spielten Fragen ihrer innen-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Einschätzung eine kaunm geringere Rolle. Eine Fülle pragmatischer und aus der Geschichte abgeleiteter ideologischer Argumente wurde je nach Standpunkt herangezogen, um die jeweiligen Vorteile der Wehrpflicht- oder der Berufsarmee herauszustellen. Als abschreckendes Beispiel einer Berufsarmee diente die Reichswehr. In bemerkenswerter Vereinfachung der Weimarer Verhältnisse und Verkennung der für den Aufbau der Bundeswehr verfassungsmäßig ganz anderen Ausgangslage beschwor die Denkschrift mit dem Schlagwort vom »Staat im Staate« die Gefahren, die gleichsam automatisch von einer Berufsarmee ausgingen. Dem künftigen Berufssoldaten blickte sie offensichtlich voller Mißtrauen entge17 18 19

»Warum« (wie Anm. 4), S. 13. Der Spiegel, 10. Jg, Nr. 29 vom 18.7.1956, S. 29. Seidler/Reindl, Wehrpflicht (wie Anm. 14), S. 64 f.

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gen, da »in einem Berufsheer nur schwer jener Typ des Offiziers« herangebildet werden könne, »der sich der demokratischen Verfassung verpflichtet« wisse20. Größere Uberzeugungskraft besaß das staatspolitische Argument, im Falle eines Angriffes dürfe die Verteidigung nicht nur Berufssoldaten überlassen werden, weil sonst der allgemeine Verteidigungswille verkümmere. Unter Berufung auf Scharnhorst, Gneisenau, Carnot, Jaures, Bebel und schließlich Theodor Heuss wurde ein Berufsheer als »Schöpfung des absolutistischen Staates«, also als reaktionäre Wehrform verworfen. Die Denkschrift betonte den höheren sittlichen Wert einer mit dem ganzen Volk verbundenen Wehrpflichtarmee, glaubte aber auch an ihre praktische Überlegenheit: »Der militärische, operative Wert eines Berufsheeres ist niedriger als der Wert einer Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht21.« Hinter diesem Urteil stand unverkennbar die historisch tiefverwurzelte, populäre und idealistisch überwölbte Tradition der deutschen Wehrpflichtarmee seit den Befreiungskriegen. Die meisten Deutschen, vor allem die in der Dienststelle Blank, später im Verteidigungsministerium am Aufbau der Bundeswehr maßgebend beteiligten Soldaten, konnten sich diese aus innerster Uberzeugung nur als Wehrpflichtarmee vorstellen. Die Isolierung der Reichswehr, wie sie im Ulmer Reichswehrprozeß offenkundig geworden war, hatten viele selbst als Mißstand empfunden. Die Reichswehr war in ihren Augen die von den außenpolitischen Verhältnissen aufgezwungene, schädliche Ausnahme. Der spätere Generalinspekteur, General Jürgen Brandt, seit Oktober 1950 in der Dienststelle Blank, schreibt rückblickend, für die Einführung der Wehrpflicht seien Finanzierung — das heißt geringere Kosten —, Personalumfang und Reservistengewinnung zwar von wichtiger, aber nicht entscheidender Bedeutung gewesen, vielmehr das staatspolitische Interesse, eine Isolierung der bewaffneten Macht zu vermeiden, die Jugend unmittelbar in die Verantwortung für Sicherheit und Frieden einzubeziehen und, nicht zuletzt, die Kluft zwischen Armee und Arbeiterschaft zu überwinden 22 . Diese eher subjektive als beweiskräftige Aussage entsprach einer breiten Auffassung in der Bevölkerung, die für die Annahme des Wehrpflichtgesetzes ohne Zweifel mit ausschlaggebend gewesen ist. Die Sozialdemokratie hatte sich seit Liebknecht bis zur Zeit Schumachers in der Regel gegen eine Berufsarmee und für eine allgemeine Volksbewaffnung auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht eingesetzt. Die bisher beschworenen Gefahren eines »Staates im Staate« für die Demokratie wollte sie jetzt nicht mehr gelten lassen, da, wie Erler sich ausdrückte, »der Geist der Gesamtarmee [...] nicht von der Gesinnung der Wehrpflichtigen, sondern von der Gesinnung des Kerns und der Vorgesetzten [abhänge]«23. Unter Verweis auf die USA und Großbritannien einerseits, die Wehrmacht unter Hitler andererseits, stellte er zu Recht fest, daß die von der Regierung gern gebrauchte Gleichung »Wehrpflicht = Demokratie« nicht aufgehe. In der von ihm mit durchgesetzten erweiterten parlamentarischen Kontrollmöglichkeit der neuen Streitkräfte sah er außer20 21 22

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»Warum« (wie Anm. 4), S. 22. Ebd., S. 23. Jürgen Brandt, Zur Wehrverfassung, in: Ulrich de Maiziere. Stationen eines Soldatenlebens, hrsg. von Lothar Domröse, Herford, Bonn 1982, S. 27. Verhandlungen (wie Anm. 5), S. 7501.

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dem eine Gewähr, daß sich frühere Fehlentwicklungen kaum wiederholen konnten. Die völlige Schwenkung der SPD kam zu plötzlich, um wirklich überzeugen zu können. Wahltaktische Gründe dürften dafür nicht weniger ausschlaggebend gewesen sein. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes beschloß der SPD-Parteitag in München, im Falle eines Wahlsieges die Wehrpflicht wieder abzuschaffen. Es brachte ihr keinen Gewinn. Nach Godesberg war davon nicht mehr die Rede. Als dritte Möglichkeit der Wehrform war von ehemaligen Offizieren im Gegensatz zu den in der Dienststelle Blank vertretenen Auffassungen ein Nebeneinander von kleiner Berufsarmee und milizartiger Heimatschutztruppe vorgeschlagen worden. Ahnliche Uberlegungen hatte bereits Seeckt angestellt. Die Massenheere hielt er für überholt und plädierte für ein kleines, präsentes, hochwertiges Operationsheer aus Soldaten mit gestaffelter Dienstzeit, das durch Landesverteidigungskräfte auf der Grundlage einer allgemeinen Dienstpflicht ergänzt werden sollte24. In dem Militärpublizisten Adelbert Weinstein von der »Frankfurter Allgemeinen« besaß diese Schule einen eifrigen Befürworter. Pläne dieser Art waren schon seit 1952 an die Dienststelle Blank herangetragen, wegen ihrer bündnispolitischen Unverträglichkeit aber immer wieder abgelehnt worden. In diese Richtung zielten vor allem auch die in der Öffentlichkeit Aufsehen erregenden Denkschriften des in der Dienststelle Blank tätigen Obersten a.D. Bogislaw v. Bonin, der deswegen im März 1955, also kurz vor dem ΝΑΤΌBeitritt der Bundesrepublik, als Störfaktor den Dienst quittieren mußte 25 . Während der Wehrpflichtdebatte lebte die Idee wieder auf. Von mittlerweile im Bundesgrenzschutz eingesetzten ehemaligen Wehrmachtoffizieren war der sogenannte »Schwert und Schild«-Plan entwickelt worden. Das »Schwert« bildete demnach eine moderne, in die NATO eingegliederte und für eine atomare Kriegführung ausgerüstete Berufsarmee von etwa 300000 Mann, den »Schild« eine ortsfeste, unter deutschem Kommando stehende Miliz von bis zu zweieinhalb Millionen Mann, die aus einem dichten Netz tiefgestaffelter und atomgeschützter Stützpunkte heraus nicht nur einen gegnerischen Angriff bis zum Einsatz des »Schwertes« bremsen sollte, sondern mit ihren Einrichtungen auch zum Schutz der Zivilbevölkerung gedacht war 26 . Eine Nationalmiliz in dieser Größenordnung hätten die Westmächte schwerlich akzeptiert. Im Bundestag verfocht Erich Mende diesen unausgewogenen Plan für die FDP auf der Grundlage einer über die klassische Wehrpflicht weit hinausgehenden allgemeinen Verteidigungspflicht, die beispielsweise auch eine Tätigkeit im Bergbau einschließen sollte27. Die Kombination von Berufsarmee und Miliz blieb ebenso chancenlos wie die reine Berufs24

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Heinz-Ludger Borgert, Grundzüge der Landkriegführung von Schlieffen bis Guderian, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648—1939, Bd 5, Abschn. IX, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1979, S. 529 ff. Hierzu ausführlich Heinz Brill, Bogislaw von Bonin im Spannungsfeld zwischen Wiederbewaffnung — Westintegration — Wiedervereinigung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Bundeswehr 1 9 5 2 - 1 9 5 5 , Baden-Baden 1987. Eine neue Wehrkonzeption: »Schwert und Schild«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.5.1956; siehe auch: Der smarte General, in: Der Spiegel, 10 Jg, Nr. 27 vom 4 . 7 . 1 9 5 6 , S. 24 f. Verhandlungen (wie Anm. 5), S. 7520ff.

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armee. Nach einer bis zur physischen Erschöpfung gehenden 18stündigen Marathonsitzung am 6. und 7. Juli 1956 verabschiedete der Bundestag das Wehrpflichtgesetz mit 269 gegen 166 Stimmen bei 20 Enthaltungen 28 . Nach Zustimmung des Bundesrates trat es am 25. Juli in Kraft. Für die Einführung der Wehrpflicht hatten vor allem bündnispolitische und militärische Gründe gesprochen. Die sich im Sommer und Herbst 1956 anschließende Auseinandersetzung um die Wehrdienstdauer wurde demgegenüber überwiegend von innenpolitischen Faktoren bestimmt. Aus militärischen Gründen sprach alles für eine Dienstzeit von wenigstens 18 Monaten; dies war NATO-Durchschnitt. Eine vom Verteidigungsausschuß berufene Expertengruppe, der Generalfeldmarschall v. Manstein und die Generale a.D. Busse, Sixt und Reinhardt angehörten, hatte in einer ausführlichen Anhörung diesen Standpunkt bekräftigt und eine Dienstzeit von nur 12 Monaten hauptsächlich deswegen verworfen, weil mit ihr eine Felddiensttauglichkeit unter Berücksichtigung der komplizierter gewordenen Waffensysteme nicht erreicht werden könne 29 . Neben einer intensiveren Ausbildung spielten aber auch personelle Überlegungen eine wichtige Rolle. Eine Dienstzeit von 12 Monaten verlangte wesentlich mehr Berufssoldaten oder Längerdienende, wenn an dem Friedensumfang von 500 000 Mann festgehalten werden sollte. Nach den Berechnungen des Verteidigungsministeriums brauchte man dann 300000 Freiwillige. Damit stiegen nicht nur die Kosten, fraglich blieb vor allem, ob sich so viele überhaupt finden ließen. Am 14. September rief Adenauer Verteidigungsminister Blank und führende Militärs des Verteidigungsministeriums zu sich, um ihnen zu erklären, daß nur eine Dienstzeit von 12 Monaten durchsetzbar sei. Anderenfalls komme es zu einer Mehrheit der SPD, dann gebe es überhaupt keine Wehrpflicht. Alle militärischen und bündnispolitischen Gegenargumente fruchteten nichts30. Innerhalb der C D U / C S U hatte sich allerdings ein Meinungsumschwung vollzogen, der nicht zuletzt durch Einflußnahme verschiedener Wirtschaftsverbände herbeigeführt worden war. Wirtschaft, Industrie und Handel wollten wegen der sich abzeichnenden Vollbeschäftigung nicht nur eine möglichst kurze Wehrpflichtdauer, sie wandten sich vor allem wegen der volkswirtschaftlichen Konsequenzen gegen Tempo und Ausmaß der nach ihrer Meinung überstürzten Aufrüstung. Gefordert wurde ein Interessenausgleich zwischen ökonomischen, bündnispolitischen und militärischen Erfordernissen, was auf eine Streckung und Revision des Blankschen Aufrüstungsprogramms hinauslief 31 . 28

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Von der C D U / C S U stimmten 242 Abgeordnete mit Ja, ein Abgeordneter enthielt sich der Stimme. Die SPD stimmte mit den anwesenden 141 Abgeordneten geschlossen mit Nein, 19 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Weitere Parteien: G B / B H E : 1 Ja-, 13 Nein-Stimmen; DP: 15 Ja-Stimmen; FVP: 11 Ja-Stimmen; zwei fraktionslose Abgeordnete stimmten mit Nein. Angaben nach Seidler/ Reindl, Wehrpflicht (wie Anm. 14), S. 39 f. »Einvernahme militärischer Sachverständiger zu den Fragen des Wehrpflichtgesetzes«, Stenographisches Protokoll der 99. Sitzung des Ausschusses für Verteidigung, Bonn, den 20.6.1956, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), BW 2/2378. Ulrich de Maiziere, In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, Herford, Bonn 1989, S. 191 f. Ausführlich zu den wirtschaftlichen Konsequenzen der Wehrpflicht und zur Haltung der deutschen

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Die CSU-Landesgruppe, angeführt von dem damaligen Bundestagsabgeordneten Franz Josef Strauß und Richard Jaeger, unterstützte diesen Kurs und setzte sich mit ihrem revidierten militärpolitischen Programm durch. Adenauer ließ Blank fallen und ernannte am 16. Oktober 1956 im Zuge einer Regierungsumbildung Strauß zu dessen Nachfolger, der als erste Maßnahme eine Anpassung der Aufstellung an die Realitäten einleitete. Blanks Dreijahresprogramm wäre allein schon am Mangel an Kasernen gescheitert. Strauß eröffnete den Alliierten, daß bis 1960 lediglich 360000 Mann aufgestellt werden könnten32. Anfang Dezember wurde die Wehrdienstdauer auf 12 Monate festgelegt. Die Revision der ursprünglichen Planung entsprach etwa dem, was an Korrekturen notwendig war, um den innenpolitischen Konsens zwischen der Bundesregierung und den sie stützenden Macht- und Einflußgruppen wiederherzustellen33. Andererseits forderte sie eine massive Kritik der Bündnispartner heraus. Das Dilemma der Bundesregierung zwischen innen- und außenpolitischem Interessenausgleich wurde vollends im Zusammenhang mit dem sogenannten Radfordplan vom Sommer 1956 offenbar. Amerikanische Überlegungen gingen dahin, durch eine drastische Umfangreduzierung ihrer Streitkräfte die finanziellen Mittel für den Ausbau der Atombewaffnung freizubekommen. In Europa, insbesondere bei Adenauer, rief diese vollends auf eine Nuklearstrategie hinauslaufende Ankündigung tiefe Besorgnis hervor. Dem amerikanischen Außenminister Dulles schrieb er einen Brief, der seine Betroffenheit deutlich machte, und entsandte Heusinger nach Washington und zur NATO, um die deutschen Bedenken vorzutragen34. Aber wie konnte die Bundesregierung auf Änderung hoffen, wo sie selbst durch Reduzierung der Wehrdienstdauer und Streckung des Aufstellungsplanes zur Schwächung des konventionellen Elementes einer Kriegführung beitrug? Ihr Widerstand war auch nur von kurzer Dauer. Sie paßte sich schnell der neuen Strategie an. Mit Wissen und Billigung Adenauers verlangte Strauß auf der NATO-Ratssitzung im Dezember 1956 die Ausstattung auch der deutschen Verbände mit taktischen Atomwaffen, weil sie nicht schlechter ausgerüstet sein sollten als die neben ihnen eingesetzten verbündeten Truppen35. Die Eingangsfrage lautete, warum die Bundeswehr auf der Grundlage der Wehrpflicht und nicht als Berufsarmee entstand. Zusammenfassend läßt sich dazu sagen: Die Wehrpflicht lag in der Konsequenz der Wiederbewaffnung unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Bündnispolitische und militärische Erfordernisse machten sie notwendig. Sie hatten Vorrang vor deutschlandpolitischen Rücksichten. Ost-West-Konflikt und militä-

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Wirtschaft und Industrie: Gerhardt Brandt, Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik, in: Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, Dritte Folge, hrsg. von Georg Picht, Witten, Berlin 1966 (= Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, hrsg. von Günter Howe, Bd 21/111). Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 276 f., 283 und 301 f. Siehe zu diesem Aspekt Brandt, Rüstung (wie Anm. 31), passim. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952—1967, Stuttgart 1991, S. 291 ff.; vgl. auch Strauß, Erinnerungen (wie Anm. 32), S. 319 ff., und de Maiziere, In der Pflicht (wie Anm. 30), S. 199 f. Schwarz, Adenauer (wie Anm. 34), S. 330f.

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rische Blockbildung waren ausschlaggebender als Anstrengungen zur Überwindung der Teilung Deutschlands. Das Kriegsbild orientierte sich zwar nicht mehr an den vielfachen Millionenheeren des Ersten und Zweiten Weltkrieges, doch standen sich trotz atomarer Waffen immer noch quantitativ große Streitkräfte gegenüber, die auf beiden Seiten ohne Wehrpflicht nicht unterhalten werden konnten. Hinzu kam, daß eine Berufsarmee am Widerstand der ehemaligen Siegermächte gescheitert wäre und überdies nicht deutscher Tradition entsprach. Sämtliche Bundesregierungen haben in der Folgezeit an der Wehrpflicht festgehalten. Ein Abgehen davon wurde allerdings nicht ausgeschlossen. Das Weißbuch 1973/1974 der Bundesregierung »Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr« zitiert den Bericht der Wehrstruktur-Kommission von 1972. Dort heißt es: »Erst wenn eine wesentliche Änderung der Sicherheitslage beträchlich weniger präsente Verbände erlauben würde, könnten Freiwilligen-Streitkräfte in Betracht gezogen werden36.« Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden.

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Weißbuch 1973/1974. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr. Im Auftrage der Bundesregierung hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1974, S. 78.

Rüdiger Wenzke

Die Wehrpflicht im Spiegel der marxistisch-leninistischen Theorie und der »realsozialistischen« Praxis in der DDR

Am 2. Oktober 1990 endete die Geschichte jener deutschen Armee, die von sich selbst behauptet hat, eine wahrhafte, sozialistische Armee des Volkes zu sein, in der die Lehren der »Klassiker« des Marxismus-Leninismus ihre schöpferische Verwirklichung fanden. Die Rede ist von der Nationalen Volksarmee der DDR, die — mitten im Kalten Krieg — am 18. Januar 1956 offiziell gegründet wurde und 34 Jahre später in einer völlig veränderten internationalen Situation im Sog des Zusammenbrechens des »realsozialistischen« Gesellschaftssystems ihre Existenzgrundlage verlor und mit der DDR unterging. Der Staat, den sie zu verteidigen hatte, die Partei, unter deren Einfluß sie stand, und nicht zuletzt die Ideologie, aus der sie ihre historische Legitimation, ihre Motivation und ihre Ideale bezog, waren gescheitert. Die Aufgaben, Ziele und Organisationsformen des Militärs in einem sozialistischen Staat wurden von der Partei bestimmt; in der DDR bekanntermaßen von der SED. Sie erhob den Anspruch, als einzige gesellschaftliche Kraft eine wissenschaftliche Weltanschauung zu besitzen: den Marxismus-Leninismus. Seine Lehren sowie die Erkenntnisse und Erfahrungen der »internationalen Arbeiterbewegung« bildeten offiziell die »wichtigste, nie versiegende Quelle für die Beantwortung aller auftretenden theoretischen und praktischen Probleme beim Aufbau, bei der Gestaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Landesverteidigung«1. Hier ist das ideologische Gebäude etwa in Form der »Lehre von der Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes« zu finden, auf das letztlich die Begründung und die Legitimation der Wehrpflicht im Sozialismus propagandistisch zurückgeführt wurde. Im folgenden soll deshalb in einem kurzen Uberblick auf einige Aussagen zur Wehrpflichtproblematik im kommunistischen Wehrdenken, insbesondere von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin eingegangen werden. Dabei lassen sich nur wenige Leitlinien vermitteln, zumal darauf verzichtet werden muß, die Genesis der proletarischen Militärauffassungen im einzelnen und in ihren vielfältigen Wandlungen nachzuvollziehen. In einem zweiten, sich anschließenden Teil sollen einige historische Aspekte der Wehrpflichtpraxis in der DDR und ihrer Armee dargestellt werden. Sucht man in den theoretischen Schriften der »Klassiker« des Marxismus-Leninismus nach konkreten Stellungnahmen zur Problematik der allgemeinen Wehrpflicht, so lassen sich zwei Schwerpunkte erkennen. Zum einen betreffen sie allgemeine Aussagen über das Ver1

Friedrich Engels und der militärische Schutz des Sozialismus, hrsg. von Horst Fiedler und Gustav Urbani, Berlin (Ost) 1981, S. 8.

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hältnis der Arbeiterbewegung zur bereits bestehenden Wehrpflicht im bürgerlich-kapitalistischen Staat selbst, zum anderen sind sie im weitesten Sinn — eingebettet in die proletarische Revolutions-, Staats- und Militärtheorie — in programmatische Überlegungen für die Militärorganisation der Arbeiterklasse in der Revolution und in einer künftigen Gesellschaft integriert. Seit Mitte des 19. Jahrhundert befaßten sich Marx und Engels im Rahmen der Ausarbeitung ihrer kommunistischen Klassenkampf- und Gesellschaftstheorie auch mit Fragen der Militärpolitik. Ihre Erkenntnisse gewannen sie primär aus der Analyse von politischen und militärischen Ereignissen ihrer Zeit sowie in Auseinandersetzung mit anderen damaligen gesellschaftstheoretischen Ansichten. Es war vor allem Friedrich Engels, selbst ehemaliger preußischer Artillerist, der sich intensiv mit militärischen Problemen beschäftigte und sich eigentlich als einziger »Klassiker« auch dezidiert der Problematik der allgemeinen Wehrpflicht zuwandte. In seiner 1865 — vor dem Hintergrund der preußischen Heeresorganisation — erschienenen Schrift »Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei« kam Friedrich Engels zu der Ansicht, daß die allgemeine Wehrpflicht im Vergleich zu jeder anderen bisherigen militärischen Organisationsform einen »enormen Fortschritt« darstelle und auf die Dauer nicht mehr abgeschafft werden könne 2 . Dabei orientierte sich Engels vor allem am Grundgedanken des preußischen Gesetzes von 1814, nach dem jeder Staatsbürger, der körperlich dazu in der Lage war, auch verpflichtet war, während seiner waffenfähigen Jahre »persönlich die Waffen zur Verteidigung des Landes zu führen« 3 . Er hielt allgemein eine zweijährige Dienstzeit für ausreichend, denn seiner Meinung nach würden die Wehrpflichtigen im dritten Jahr nichts mehr lernen, sondern sich eher langweilen und die Zeit nur dazu nutzen, über Vorgesetzte schlechte Witze zu machen 4 . Den großen Wert der allgemeinen Wehrpflicht als einer demokratischen Institution sah Engels 1865 vor allem in der Tatsache, daß die stärkere Einbeziehung von Arbeitern in die Armee »unpopuläre« Kriege und Staatsstreiche verhindern könnte5. Zugleich würde es gelingen, so Engels, die Abschottung der Armee gegen demokratische Ideen und Kräfte zu durchbrechen sowie die Arbeiter im Waffengebrauch zu üben und militärisch zu schulen. Deshalb seine Forderung: »Je mehr Arbeiter in den Waffen geübt werden, desto besser 6 .« Friedrich Engels erkannte die Möglichkeiten und »setzte« auf die Vorteile der allgemeinen Wehrpflicht. In ihrer optimalen Nutzung, bei gleichzeitiger Verkürzung des aktiven Dienstes, sah er lange Zeit ein wichtiges Mittel zur demokratischen Umgestaltung des bestehenden Heeres unter direktem Einfluß der Arbeiterklasse. Nach 1871 verlor nach Ansicht der Marxisten diese Einschätzung allmählich ihre Geltung, da die »militaristisch-reaktionären Kräfte« die allgemeine Wehrpflicht zunehmend in den Dienst einer aggressiven Außen- und Innenpolitik stellten und damit ihren fortschrittlichen Inhalt Friedrich Engels, die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd 16, Berlin (Ost) 1962, S. 44. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 52. s Ebd., S. 63. 6 Ebd., S. 66. 2

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verfälschten. Der Kampf gegen das stehende Heer und die Zwangsdienstpflicht im Kaiserreich wurde nunmehr zu einem Hauptbestandteil der Militärpolitik der Arbeiterbewegung. Dem Ideal, demokratische Streitkräfte auf der Grundlage einer voll verwirklichten uneingeschränkten allgemeinen Wehrpflicht zu schaffen, blieb man aber verpflichtet. Erste Gedanken über die Wehrfrage in einer künftigen Gesellschaft entwickelte Friedrich Engels in seinen Elberfelder Vorträgen 1845. Er kam dabei zu der Auffassung, daß im Kommunismus der Zukunft die Notwendigkeit eines stehenden Heeres entfalle. Als Ubergangslösung sollte eine allgemeine Volksbewaffnung dienen, die darauf beruhte, daß bereits im Frieden jedes fähige Mitglied der Gesellschaft neben seiner beruflichen Tätigkeit so weit in der »wirklichen, nicht parademäßigen Waffengewandtheit« geübt werden müsse, »als zur Verteidigung des Landes nötig« sei7. Engels meinte damals vorauszusehen, daß Freiwilligkeit, Einsatzbereitschaft und Begeisterung aller Bürger zur Übernahme der erforderlichen Verteidigungsaufgabe außer Frage stünden. Auch die unter Beteiligung von Marx und Engels erarbeiteten »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland« von 1848 postulierten die allgemeine Volksbewaffnung »von unten« als entscheidende militärpolitische Aufgabe 8 . Nach 1849, die Erfahrungen der Revolutionskämpfe verarbeitend, begann Engels, seine ursprünglichen Vorstellungen über eine militärische Organisation der siegreichen Arbeiterklasse zu modifizieren und zu revidieren. Er schlug nunmehr vor, die Streitkräfte zur Verteidigung der Revolution aus einer Kombination von regulärer Armee und Volksmilizen zusammenzusetzen 9 . Damit wandte sich Engels — im Gegensatz zu Karl Marx, der im wesentlichen an einer Milizvariante festhielt — von einem reinen »Milizheer mit sozusagen gar keiner Dienstzeit« ab und plädierte für ein auf der Wehrpflicht beruhendes Rahmenoder Kaderheer mit einer »zur Erlernung des Soldtenmetiers absolut notwendigen« Wehrdienstzeit, ergänzt durch vormilitärische Ausbildung der Jugend und durch die Bildung eines schnell mobilisierbaren örtlichen »Reservekadres« mit Hilfe der aus der Armee entlassenen Wehrpflichtigen10. Ursache für diese Wandlung war die aus seinen militärischen Studien hervorgegangene Erkenntnis, daß bereits in der bürgerlichen Gesellschaft eine »pure Miliz« infolge der rasanten Entwicklung der Militärtechnik keine Alternative zu einem stehenden Heer darstellen konnte, da ein Milizsystem aufgrund der unzureichenden Dienstzeit und des Fehlens qualifizierter Kader den technischen Anforderungen der modernen Kampfhandlungen, die auch Angriffshandlungen einschlossen, nicht mehr genügte. Im Jahre 1868 betonte Engels, daß »jede rationelle Militärorganisation irgendwo zwischen der preußischen und der schweizerischen in der Mitte liegt — wo? f...] Erst eine kommunistisch eingerichtete und erzogene [Hervorhebung im Original — R. W.] Gesellschaft kann sich dem Milizsystem sehr nähern und auch da noch asymptotisch11.« 7 8 9

Engels, Zwei Reden in Elberfeld (1845), I, in: MEW, B d 2 , Berlin (Ost) 1962, S. 543. MEW, Bd 5, Berlin (Ost) 1964, S. 3 ff. Engels, Bedingungen und Aussichten eines Krieges der Heiligen Allianz gegen ein revolutionäres Frankreich im Jahre 1852 (1851), in: MEW, B d 7 , Berlin (Ost) 1960, S. 488.

10

Engels, Die preußische Militärfrage (wie Anm. 2), S. 54. Ders., Brief an das Organisationskomitee des internationalen Festes in Paris (13. Februar 1887), in: MEW, Bd21, Berlin (Ost) 1962, S. 345.

11

Brief von Engels an Marx (16. Januar 1868), in: MEW, Bd32, Berlin (Ost) 1965, S. 21.

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Von Karl Marx, dem eigentlichen Namensgeber der kommunistischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, liegen zwischen 1850 und 1870 kaum militärtheoretische Äußerungen vor. Die Ereignisse der Pariser Kommune 1871 auswertend, erhob er die Zerschlagung der alten bürgerlichen Armee zur Bedingung einer siegreichen Revolution und sah in einem darauf aufbauenden Milizsystem die für die allgemeine Volksbewaffnung und die proletarische Masse angemessene Wehrform 12 . Der Gedanke der allgemeinen Volksbewaffnung bestimmte auch die Forderungen der deutschen Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert, deren linke Kräfte eine milizartige Volkswehr favorisierten, die dem Prinzip des stehenden Heeres gegenüberstand 13 . Auch Engels wandte sich in seinen letzten Lebensjahren wieder — unter der Sicht eines heraufziehenden Weltkrieges und der Notwendigkeit der Abrüstung — dem Milizgedanken zu 14 . Es ist hier nicht der Ort, auf die die Arbeiterbewegung und ihr militärpolitisches Denken lange Zeit beherrschende Milizdiskussion einzugehen. Aber in ihr spiegelte sich das Spannungsverhältnis wider, vor dem nicht nur Marx und Engels in einer für das Proletariat und seiner »historischen Mission« lebenswichtigen Frage standen: nämlich vor der Entscheidung für ein aus militärischen Sachzwängen resultierendes stehendes schlagkräftiges Heer mit Wehrpflicht einerseits oder für eine mehr nach ideologischen Gesichtspunkten aufgebaute proletarische Milizorganiation auf der anderen. Auch Wladimir I. Lenin plädierte ursprünglich dafür, das stehende Heer durch eine allgemeine Volksbewaffnung zu ersetzen. Damit Schloß er sich dem Milizgedanken der Sozialdemokratie an, er forderte aber eine »vom Proletariat geführte Miliz« 15 . Sie sollte durch die Teilnahme der gesamten werktätigen Bevölkerung, einschließlich der Frauen, durch eine Lohnfortzahlung für die Milizangehörigen und durch die Übernahme militärischer Aufgaben und polizeilicher Funktionen charakterisiert sein. Nach der Oktoberrevolution der Bolschewiki von 1917 in Rußland wurde sichtbar, daß die Milizformationen den praktischen Anforderungen eines Krieges gegen Konterrevolution und Intervention nicht genügten. Dazu kam, daß die Verteidigung der neuen politischen Macht, verbunden mit der Idee, die kommunistische Ordnung letztendlich überall auf der Welt zu errichten, die Schaffung eines modernen Massenheeres unumgänglich 12 13

14 15

Dazu u.a. Marx, Brief an Kugelmann (12. April 1871), in: MEW, Bd 33, Berlin (Ost) 1966, S. 205. Zur Problematik der Herausbildung der Wehrideologie bei Marx und Engels sowie in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts siehe u. a.: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Militärpolitik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1830 bis 1917, hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Jürgen Lampe, Berlin (Ost) 1990; Hajo Herbell, Staatsbürger in Uniform, Berlin (Ost) 1969; Peter Jungermann, Die Wehrideologie der S E D und das Leitbild der Nationalen Volksarmee vom sozialistischen deutschen Soldaten, Stuttgart 1973; Günter Nickolaus, Die Milizfrage in Deutschland von 1848 bis 1933, Berlin 1933; Heinz Oeckel, Volkswehr gegen Militarismus. Zur Milizfrage in der proletarischen Militärpolitik in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, Berlin (Ost) 1962; Jehuda Wallach, Die Kriegslehre von Friedrich Engels, Frankfurt a.M. 1968. Engels, Kann Europa abrüsten? (1893), in: MEW, B d 2 2 , Berlin (Ost) 1963, S. 371 ff. Wladimir I. Lenin, Über die proletarische Miliz (1917), in: ders., Werke (LW), B d 2 3 , Berlin (Ost) 1964, S. 342.

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machte. Lenin ordnete daher die Bildung einer regulären, aber noch aus Freiwilligen bestehenden Armee an. Dabei sollte die Rote Armee »ausschließlich aus dem Proletariat und den ihm nahestehenden halbproletarischen Schichten der Bauernschaft gebildet werden«16. Bereits kurze Zeit später, im Mai 1918, erfolgte jedoch angesichts der sich zuspitzenden militärischen Situation die Einführung der Wehrpflicht für alle Werktätigen, um rasch ein Millionenheer schaffen zu können. Die Angehörigen der »Ausbeuterklassen« waren davon noch ausgeschlossen. Lenin bezeichnete jetzt die reguläre Armee als »Merkmal der gefestigten Macht jeder Klasse, darunter auch des Proletariats« 17 ; die Soldaten wurden zu »Vaterlandsverteidigern« erklärt. Gleichwohl hielt aber Lenin den späteren Ubergang zu einem sozialistischen Milizsystem für möglich. Bekanntlich wurde die Rote Armee — nach einer Phase der Verschmelzung von Kadertruppen mit territorialen Milizverbänden — als reguläre Wehrpflichtarmee, ab 1939 dann auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht für alle Sowjetbürger, aufgebaut. Die Wehrpflicht war ein notwendiges Mittel der kommunistischen Diktatur, die militärische Macht des totalitären Staates zu instrumentalisieren und das Gewaltmonopol zu gewährleisten. Ihr Mißbrauch nach innen und außen war vorprogrammiert. Die weitere wehrideologische Profilierung als Armee »neuen Typs« erhielt die Rote Armee in diesem Sinne vor allem in den 30er Jahren durch Stalin. Ihr Vorbild wurde seitdem zum eigentlichen Muster für den militärischen Aufbau im »realen« Sozialismus. Es wäre jedoch zu einfach, behaupten zu wollen, daß hiernach in der D D R die Problematik der Wehrpflicht nur noch dem Gang der Geschichte der Sowjetunion zu folgen hatte, was für andere Bereiche durchaus zutraf 18 . Dagegen sprach nicht nur die konkret-historische Situation im geteilten Deutschland, sondern auch das allgemein als pazifistisch einzuschätzende Wehrverhalten eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit. Als dann im Januar 1956 die offizielle Gründung der DDR-Volksarmee erfolgte, verzichtete die SED-Führung auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Daß dieser Entschluß nicht im Alleingang oder gar gegen die Interessen der UdSSR erfolgte, ist wohl anzunehmen. Die D D R baute also ihre Streitkräfte zu diesem Zeitpunkt, fast vier Jahre nach Verkündung des sozialistischen Gesellschaftszieles durch die SED, abweichend von den damals bestehenden Wehrverfassungen der Sowjetunion und der anderen »Bruderländer« im Warschauer Vertrag als »Freiwilligenarmee« auf. Das galt aber nur für das Auffüllungssystem, ansonsten wurde generell dem sowjetischen Muster gefolgt. Insofern war die D D R , um mit Friedrich Engels zu sprechen, ein »Ausnahmefall«, denn dieser hatte bereits 1865 festgestellt, daß die Werbung im Gegensatz zum Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht veraltet und nur noch in Ausnahmefällen möglich sei19.

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Zit. nach: Lenin und die sowjetischen Streitkräfte, Berlin (Ost) 1970, S. 53. Lenin, Plenum des Gesamtrussischen Zentralrates der Gewerkschaften (1919), in: LW, B d 2 9 , Berlin (Ost) 1963, S. 280. Siehe dazu Bernd Eisenfeld, Kriegsdienstverweigerung in der D D R — ein Friedensdienst? Genesis, Befragung, Analyse, Dokumente, Frankfurt a.M. 1978, S. 35. Engels, Die preußische Militärfrage (wie Anm. 2), S. 44.

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Der politischen Führungsschicht der DDR waren ohne Zweifel die Vorzüge und die Notwendigkeit einer Wehrpflichtarmee klar, zumal die Sowjetarmee prinzipiell als Vorbild galt und die internationale Situation des Kalten Krieges sowie der Aufbau der Bundeswehr als unmittelbare Bedrohung perzipiert wurden. Dennoch ging die DDR einen anderen Weg. Angesichts der noch offenen Grenzen zum Westen blieb ihr auch kaum eine andere Wahl. Die DDR-Spitze erhoffte sich mit der Entscheidung gegen die Einführung der Wehrpflicht eine politische und moralische Aufwertung der Nationalen Volksarmee (NVA), indem sie die »Freiwilligkeit« in der DDR dem »Zwang der imperialistischen Wehrpflicht« in der Bundesrepublik propagandistisch gegenüberstellte. Zugleich hatte man die Vorstellung, die Bestrebungen »fortschrittlicher« Kräfte in Westdeutschland gegen die dortige Wehrpflicht unterstützen zu können. So bot man Wehrdienstverweigerern aus dem Westen in der DDR eine neue politische Heimat an. Die Nichteinführung der Wehrpflicht im Osten Deutschlands wurde zudem als Zeichen des guten Willens der DDR deklariert und mit dem ehrlichen (?) Vorschlag verbunden, daß sich im Interesse der Abrüstung und Entspannung beide deutsche Staaten verpflichten sollten, die Wehrpflicht nicht einzuführen 20 . Die Beibehaltung des »Freiwilligensystems« in den ersten sechs Aufbaujahren der NVA hatte aber noch andere Gründe. Die Werbung von »Freiwilligen«, deren Dienstzeit in der Regel zwei bis drei Jahre betrug, wurde gerade in der Aufbauphase genutzt, um einer Grundforderung der leninistischen Lehre bei der Schaffung einer sozialistischen Armee nachzukommen: der Durchsetzung des sogenannten Klassenprinzips. Man ging davon aus, daß sich in der Regel die »bewußtesten«, also die der SED-Politik ergebenen Menschen, insbesondere aus der »Arbeiterklasse«, freiwillig für den Armeedienst meldeten. Diese Kader sollten zusammen mit einem neuen Offizierkorps den Kern einer späteren Wehrpflichtarmee bilden und unter Führung der Partei der Garant für die Treue und Zuverlässigkeit der Armee im Sinne der SED sein. In der Tat erreichte man, nicht zuletzt durch den bereits am Ende der 40er Jahre begonnenen Aufbau getarnter Militärformationen, daß sich die Streitkräfte in ihrem Stamm vor allem aus der Arbeiterschaft rekrutierten und sich von Anfang an durch hohe politische Zuverlässigkeit auszeichneten. Die NVA der DDR blieb also während ihrer Aufbaujahre bis 1962 offiziell — und damit im Bündnis des Warschauer Paktes als Ausnahme — eine »Freiwilligenarmee«. Die DDRFührung konnte bis zu diesem Zeitpunkt zumindest formal den Nachweis erbringen, daß es in ihrem Machtbereich keiner gesetzlichen Pflicht bedurfte, die Wehrbereitschaft ihrer Bürger sicherzustellen. Der Anspruch der »Freiwilligkeit« und die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus der Streitkräfte machten aber spätestens Anfang der 60er Jahre das Dilemma zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR immer deutlicher sichtbar. Zu keiner Zeit bis zum Jahr 1962 konnten die personellen Sollstärken der NVA erreicht werden. Agitation, Uber20

Neues Deutschland (30.5.1956); Vorschlag an den Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd VI, Berlin (Ost) 1958, S. 92 f.

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zeugungsarbeit und auch Einschüchterungen, die den »freiwilligen« Dienst von Jugendlichen in der NVA erzwingen sollten, verstärkten nur noch deren Abwehrhaltung. Selbst administrative Maßnahmen, die bereits seit Mitte der 50er Jahre Formen einer versteckten Wehrpflicht angenommen hatten, blieben erfolglos, so u. a. der Beschluß der Sicherheitskommission des Zentralkomitees vom März 1955, der alle SED-Mitglieder zwischen 18 und 22 Jahren zum Eintritt in die »bewaffneten Organe« verpflichten sollte21. Vor allem die offene Grenze machte es noch jedem möglich, dem zunehmenden Druck auszuweichen. Allein 1960 verließen nach internen Angaben der SED 9968 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren und 24248 Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahre »illegal« die DDR 22 . Wenn auch die Gründe zur Flucht individuell unterschiedlich waren, so schwächte der Weggang der Jugendlichen objektiv das Wehrpotential der DDR. Berücksichtigt man dazu die Abnahme der Jahrgangsstärken, z.B. umfaßte der Jahrgang 1943 126 880 männliche Bürger, der Jahrgang 1945 aber nur noch 83 000, so war die notwendige Sollzahl allein für die NVA von jährlich etwa 35 000 Mann auf der Grundlage der Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet. Im Prinzip hätten sich für die Jahre 1961 bis 1965 zwei von drei Jugendlichen freiwillig für die Armee melden müssen — nach der ursprünglichen marxistisch-leninistischen These über die Interessenidentität zwischen Volk, Staat und Armee theoretisch eigentlich kein Problem. Der reale Widerspruch zwischen der Bewußtseinslage der Mehrheit der DDR-Bevölkerung und dem Willen einer Minderheit in Gestalt der SED war jedoch auch im Wehrverhalten der Menschen ohne Zwang auf die Dauer praktisch nicht zu lösen. Erst nach dem Mauerbau im August 1961, der ja schlagartig die Möglichkeit der Flucht versperrte, konnte die DDR zu einem systematischen Aufbau der NVA auf dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht übergehen. Innerhalb weniger Monate wurden die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet, die mit der Einführung des Wehrpflichtgesetzes vom 24. Januar 1962 ihre gesetzliche Grundlage erhielten. Zur ideologisch-propagandistischen Begründung der Wehrpflicht berief sich die SED auf die von der »aggressiven Politik des westdeutschen Unrechtsstaates« ausgehende Bedrohung sowie auf die These, daß allein die NVA eine wahre, vom und für das Volk geschaffene Armee sei. »Die Pflicht zum Waffendienst ist in einem sozialistischen Staat besonders hoch«, so hieß es weiter, »weil der Soldat seinem eigenen Staat, seinem Volk und der gerechten Sache des Sozialismus und des Friedens dient« 23 . Die Wehrpflicht erhielt den Status einer »Schule der politisch-militärischen Ausbildung und Erziehung« der Jugend 24 .

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Beschluß der Sicherheitskommission des ZK der SED über die Werbung für die Kasernierte Volkspolizei, 17.3.1955, Bundesarchiv, Militärisches Zwischenarchiv Potsdam (BA, MZAP), Pt 2062, Bl. 1 ff. Entwurf einer Beschlußvorlage für den Nationalen Verteidigungsrat, 12.6.1961, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv (SAPMO-BArch, ZPA), IV 2/12/58, Bl. 187. Heinz Hoffmann, Waffendienst — Ehrendienst für Frieden und Sozialismus. Rede zur Begründung des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht auf der 21. Tagung der Volkskammer der DDR am 24. Januar 1962, in: Militärwesen. Zeitschrift für Militärpolitik, Militärtheorie und Militärtechnik, H. 2 (1962) (Beilage), S. 4. Ebd., S. 11.

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Die allgemeine Wehrpflicht, deren Einführung man noch vor wenigen Jahren öffentlich und vehement abgelehnt hatte, galt nunmehr im Selbstverständnis der DDR-Führung als für die moderne Landesverteidigung notwendig sowie als »das zweckmäßigste System der Auffüllung einer sozialistischen Armee«. Damit bezog man sich jetzt uneingeschränkt vor allem auf die Erfahrungen der Sowjetarmee als auch auf die Erfahrungen der anderen »Bruderarmeen«, die ausnahmslos nach diesem Prinzip aufgebaut waren25. Obwohl der generelle Unterschied zur »imperialistischen« Wehrpflicht, der im Klassencharakter der Streitkräfte liege, immer wieder betont wurde, orientierte man sich organisatorisch eher am »Nachbarn« Bundeswehr als an der sowjetischen Regelung, wie interne Stellungnahmen des damaligen DDR-Verteidigungsministers Heinz Hoffmann belegen. Das betraf z.B. die Festlegung der Grundwehrdienstzeit auf 18 Monate (in den anderen Armeen des Warschauer Pakts zumeist länger) und die Beibehaltung eines Freiwilligensystems, das besonders für die Marine und andere Spezialverwendungen von Bedeutung war2'. Die rechtlichen Regelungen für die Wehrpflicht in der D D R wurden vor allem in drei Gesetzen fixiert: Das erste Wehrpflichtgesetz aus dem Jahre 1962 erklärte die Wehrpflicht und den freiwilligen Wehrdienst zu den grundlegenden Prinzipien der Auffüllung. Die Wehrpflicht erstreckte sich auf die männlichen Bürger der D D R vom 18. bis zum vollendeten 50. Lebensjahr. Bei Offizieren endete sie mit der Vollendung des 60. Lebensjahres. Im Verteidigungsfall unterlagen alle männlichen Bürger zwischen 18 und 60 Jahren der Wehrpflicht. Die allgemeine Wehrpflicht umfaßte die Verpflichtung, sich zur Erfassung zu melden, zur Musterung und Diensttauglichkeitsuntersuchung zu erscheinen, den Wehrdienst als aktiven Dienst und Reservistendienst abzuleisten und Veränderungen zur Person mitzuteilen27. Die Dauer des Grundwehrdienstes betrug 18 Monate, die Gesamtdauer des Reservistendienstes durfte für Soldaten und Unteroffiziere 21 Monate nicht überschreiten. Erwähnenswert ist, daß auch ein neuer Fahneneid nach sowjetischem Muster eingeführt wurde. Die erste Verfassung der D D R aus dem Jahre 1949 enthielt ursprünglich keinen Hinweis auf eine künftige Wehrregelung. Weder Festlegungen für eine Wehrpflicht noch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung — wie es ζ. B. das Grundgesetz der Bundesrepublik festschrieb — waren darin enthalten. Als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Wehrpflicht erwies sich jedoch die bereits im September 1955 vorgenommene Verfassungsergänzung, die nunmehr den Dienst zum »Schutze des Vaterlandes« und der »Errungenschaften der Werktätigen« als eine ehrenvolle Pflicht der Bürger bezeichnete. In der zweiten DDR-Verfassung von 1968 wurde das Problem denkbar knapp behandelt, dennoch aber mit einer deutlichen Aussage. Danach war jeder Bürger für den Dienst zur Verteidigung der D D R verpflichtet. Das bedeutete u.a., daß auch Frauen im Mobilmachungs- oder Verteidigungsfall zum Wehrdienst herangezogen werden durften. Eine Wehrpflicht für 25 26

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Ebd. Siehe dazu: Beschlußvorlage Hoffmanns für den Nationalen Verteidigungsrat, 1962, BA, MZAP, VA-01/8754, Bl. 198. Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht (Wehrpflichtgesetz), 24. Januar 1962, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1962, Teill, Nr. 1, S.2ff.

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Frauen bestand damit in der DDR nicht, wenngleich sie sich aber freiwillig zum Wehrdienst melden konnten. Erneut mit der Verschärfung der äußeren Bedrohung begründet, beschloß die Volkskammer der DDR am 25. März 1982 ein neues Wehrdienstgesetz, das alle Regelungen zur »sozialistischen« Wehrpflicht umfaßte 28 . Dem Inhalt nach änderte sich für die Wehrpflichtigen im wesentlichen nichts. Neu aber im Vergleich zum Gesetz von 1962 war die stärkere politisch-ideologische Ausrichtung und die umfassendere Einbindung der Wehrpflicht in das SED-System. Der sogenannte Klassenauftrag an die bewaffneten Kräfte der DDR, mit dem die SED auf ihren Parteitagen Schwerpunkte ihrer Militärpolitik propagandistisch alle fünf Jahre neu festlegte, wurde seinem Inhalt nach zum Gesetz. Das galt ebenso für die Verpflichtung, mit dem nationalen Wehrdienst die Einheit und Verteidigungsfähigkeit des Warschauer Vertrages zu stärken. Zur Wehrpflicht gehörte, aktiven Dienst in der NVA oder den Grenztruppen der DDR, Reservistenwehrdienst bzw. einen Dienst zu leisten, der der Ableistung des Wehrdienstes entsprach. Darunter wurde ein Dienst im Ministerium für Staatssicherheit, in den Kasernierten Einheiten der Volkspolizei, in der Zivilverteidigung und in den Baueinheiten verstanden. Die Wehrpflichtigen bildeten ab dem 18. Lebensjahr außerhalb ihrer aktiven Dienstzeit die Reserve der NVA. Neuer Bestandteil des Wehrdienstgesetzes wurden nunmehr auch die »vorbereitenden Maßnahmen«. Hier knüpfte man — neben den sowjetischen Erfahrungen — offensichtlich bewußt in der Absicht, »Kontinuität« beweisen zu wollen, auch an Engels an, der bekanntlich vorgeschlagen hatte, die Jugend bereits vor ihrem eigentlichen Militärdienst körperlich zu schulen, sie das »Marschieren« und die »Kommandos« zu lehren, da man später »reichlich dafür bezahlt« werden würde 29 . In der DDR waren alle Betriebe und Institutionen verpflichtet, die Bürger auf den Wehrdienst vorzubereiten. Gleiches galt für die Schulen und das Hoch- und Fachschulwesen. Eine spezielle Organisation, die bereits 1952 gegründete Gesellschaft für Sport und Technik (GST), hatte dabei spezifische Aufgaben in der vormilitärischen Ausbildung durchzuführen. Diese allseitige Militarisierung der Gesellschaft trug Früchte. Konnten beispielsweise 1962 im ersten Jahrgang der Wehrpflichtigen etwa 30% der Rekruten vormilitärische Kenntnisse nachweisen, so gab es in den 80er Jahren in der DDR kaum einen Jugendlichen, der nicht in irgendeiner Form auf seinen Wehrdienst — sei es in speziellen Lagern mit militärischer Laufbahnausbildung, in technischen Zirkeln, im Wehrsport oder im Schulunterricht — vorbereitet worden war. Als sich im Herbst 1989 in der DDR die politische Situation zu ändern begann, kam es im militärischen Bereich zu Reformbestrebungen, die auch die Frage der künftigen Stellung der Wehrpflicht berührten. Diskussionen für und wider die Wehrpflicht bzw. eine Berufsarmee wurden kontrovers geführt. Aber sowohl der Mitte Dezember 1989 gebildete »Runde Tisch« im Verteidigungsministerium als auch Pfarrer Rainer Eppel28

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Gesetz über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik — Wehrdienstgesetz, 25. März 1982, ebd., 1982, Teill, Nr. 12, S. 2 2 I f f . Engels, Die preußische Militärfrage (wie Anm. 2), S. 54.

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mann in seiner Funktion als letzter Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR sprachen sich für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus. Im Februar 1990 wurde der Entwurf eines neuen Wehrpflicht- und Wehrdienstgesetzes veröffentlicht. Darin war die allgemeine Wehrpflicht mit einem Grundwehrdienst von 12 Monaten festgelegt. Die Regelungen beider Gesetze, die sich völlig von früheren Wehrgesetzen der DDR unterschieden, garantierten den Armeeangehörigen eine hohe soziale und Rechtssicherheit und entsprachen im wesentlichen dem Standard demokratischer Wehrverfassungen30. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 in der DDR konfrontierte alle männlichen Bürger der Republik zwischen dem 18. und dem vollendeten 50. Lebensjahr erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg direkt mit dem Wehrdienst. Die Reaktionen der Bevölkerung darauf waren unterschiedlich. Die SED-Propaganda verbreitete offiziell ein Bild grenzenloser Zustimmung der Bevölkerung, zumal die Argumentation, daß man als souveräner Staat nur etwas nachvollzog, was in der Bundesrepublik bereits 1956 eingeführt worden war, Wirkung zeigte. Der größte Teil der Bevölkerung verhielt sich jedoch abwartend — weder zustimmend noch ablehnend —, viele sahen aber in der Einführung der Wehrpflicht ein Zeichen der Kriegsvorbereitung. Dazu kam die Angst, daß Deutsche auf Deutsche schießen müßten. Unter den betroffenen Jugendlichen gab es naturgemäß eine ablehnende Haltung. Äußerungen wie »Wir beschuldigen die Partei des Wortbruchs« oder »Wenn wir die Gewehre erst haben, kann es passieren, daß wir diese auf Euch [gemeint waren SEDFunktionäre] richten«, waren nicht selten. Anonyme Flugblätter und Parolen an Musterungsstützpunkten riefen die Jugendlichen zum Widerstand gegen die Wehrpflicht auf 1 . Die Diskussionen über die Notwendigkeit der Ableistung des Wehrdienstes verloren später zunehmend an Bedeutung. Generell wurde es für die Masse der jungen Männer in der DDR gezwungenermaßen zu einer Selbstverständlichkeit, daß man in der Armee »diente«. Der 18-Monate-Wehrdienst bildete für sie eine fest einzuplanende Lebensetappe, die man ohne Begeisterung anging und möglichst unbeschadet hinter sich bringen wollte32. In den 80er Jahren waren bis zu 40 % derjenigen, die zum Wehrdienst herangezogen wurden, sogar bereit — wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen —, freiwillig länger (ζ. B. drei Jahre) zu dienen. Dennoch stellte die Wehrpflicht in ihrer Absolutheit und unausweichlichen Form für einen Teil der Bevölkerung, der vor allem aus politischer und religiöser Überzeugung dem SED-Staat ablehnend gegenüberstand, einen ernsten inneren Konflikt dar. Anders als in der Bundesrepublik gab es bis 1990 in der DDR kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, keine verfassungsmäßige Normierung. Die erste DDR-Verfassung von 1949 enthielt nur den Passus, daß kein Bürger an kriegerischen Handlungen teilnehmen dürfe, die der Unterwerfung eines Volkes dienten. 30

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32

Siehe dazu: Gesetz über die Rechte und Pflichten der Wehrdienstleistenden und über den Dienstverlauf — Wehrdienstgesetz — (Entwurf), in: Volksarmee, Nr. 7 (1990), S. 6 f f . Information der Sicherheitsabteilung des ZK der SED über Stimmungen zum Wehrpflichtgesetz, 2 5 . 1 . 1 9 6 2 , SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/12/57, B1.7ff. Zur Problematik der Sicht »von unten« gibt der Bericht eines NVA-Wehrpflichtigen interessanten Aufschluß: Thomas Spanier, In Erinnerung an meine Dienstzeit. 18 Monate als Wehrpflichtiger in der NVA, in: NVA. Ein Rückblick für die Zukunft. Zeitzeugen berichten über ein Stück deutscher Militärgeschichte, hrsg. von Manfred Backerra, Köln 1992, S. 27 ff.

Die Wehrpflicht im Spiegel der marxistisch-leninistischen Theorie in der D D R

129

Jeder Ablehnung oder Infragestellung des Wehrdienstes und der Wehrpflicht trat die SED nach 1962 mit aller Schärfe entgegen. Gegner der Wehrpflicht wurden mit Feinden des Friedens und des Sozialismus gleichgesetzt33. Daß man sich in Partei und Staat dennoch dem Problem der Wehrdienstverweigerung stellen mußte, war vor allem dem Widerstand jugendlicher Wehrpflichtiger und dem Engagement der evangelischen Kirche zu verdanken. Ein Bericht an die NVA-Führung vom Mai 1963 machte auf die sich zuspitzende Situation aufmerksam. Danach war die Anzahl der Wehrdienstverweigerer vom Frühjahr 1962 bis Frühjahr 1963 von 231 auf 439 gestiegen34. Selbst diese relativ geringe Zahl führte bei den verantwortlichen Militärs zu starken Verunsicherungen, da man auf diese Problematik überhaupt nicht vorbereitet war. Um nicht zuzulassen, daß die Verweigerung des Wehrdienstes aus religiösen oder anderen Gründen »prinzipiell zu einer Befreiung vom Wehrdienst führt«, schlug man vor, Möglichkeiten des Wehrdienstes ohne Waffe einzuführen35. Damit beugte sich die SED-Führung zugleich dem Druck der Kirche, deren Vertreter schon längere Zeit in zähen Verhandlungen und unter Einschaltung von KPdSU-Chef Chruschtschow versucht hatten, eine Regelung für einen waffenlosen Dienst in der DDR zu erreichen36. Mit der Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 7. September 196437 wurde religiös gebundenen Bürgern die Möglichkeit eines waffenlosen Wehrdienstes gegeben und entsprechend sogenannte Bausoldateneinheiten in der NVA geschaffen. Diese auch als Spatensoldaten bezeichneten Angehörigen der NVA hatten vor allem die Aufgabe, Arbeitsleistungen im militärischen und öffentlichen Bauwesen zu erbringen. Sie erhielten keine Ausbildung an Waffen und brauchten statt eines Fahneneides nur ein Gelöbnis abzulegen. Erwähnt werden muß, daß das Bekenntnis zur Wehrdienstverweigerung in der DDR für die Betroffenen, deren Zahl durchschnittlich nur etwa zwischen 1 und 1,5% aller Wehrpflichtigen pro Jahr betrug, stets mit Diffamierung sowie beruflichen und persönlichen Nachteilen verbunden war. Totalverweigerer hatten in jedem Fall mit einer Verurteilung zu rechnen. Die DDR-Führung hatte mit der Einführung des waffenlosen Wehrdienstes eine Möglichkeit gefunden, die wehrpolitische Disziplinierung aller männlichen Bürger ohne größere Konflikte auf der Grundlage einer hohen Wehrgerechtigkeit durchzusetzen. Die legalisierte Wehrersatzdienstleistung in der DDR stellte nicht nur — ebenso wie die Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik — ein Novum in der deutschen Geschichte, sondern auch eine Besonderheit in der damaligen internationalen Wehrpraxis dar. Für

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34

35 36

37

Siehe dazu auch Eisenfeld, Kriegsdienstverweigerung (wie Anm. 18), S. 115 ff. Wehrpflicht, Wehrrecht und Kriegsdienstverweigerung in beiden deutschen Staaten, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 15ff. Bericht des NVA-Hauptstabes über »Erscheinungen der Verweigerung des Wehrdienstes«, in: BA, MZAP, VA-01/22663, Bl. 11. Ebd., Bl. 14. Interview mit Propst Dr. Hans-Otto Furian, in: Junge Welt (1992). Siehe dazu auch: Eckhard Biechele, Konfliktfall Wehrpflicht, in: Beiträge zur Konfliktforschung, H. 4 (1972), S. 61 ff. Uber die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1964, Teil I, Nr. 11, S. 129 f.

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Rüdiger Wenzke

die Armeen des Warschauer Paktes galt die DDR-Regelung lange Zeit als einmalig, fast exotisch, denn die Alternativen dort hießen zumeist Gefängnis oder Arbeitslager. Selbst im Vergleich zu einigen westlichen Armeen brauchten sich die DDR-Bestimmungen, zumindest in dieser Frage und für die 60er Jahre, nicht zu verstecken. Die NVA war fast drei Jahrzehnte lang eine Wehrpflichtarmee mit hohem Freiwilligenanteil, in der annähernd 2,5 Millionen Wehrpflichtige und Soldaten auf Zeit ausgebildet wurden und dienten. In diesem Sinne stellte sie tatsächlich eine mit dem Volk verbundene Armee dar, deren Soldaten in der Mehrheit bereit waren und es als normal ansahen, ihrer Pflicht zur Verteidigung des Staates nachzukommen. Als notwendiges Mittel zur personellen Verstärkung und Qualifizierung der Streitkräfte sowie zur Bereitstellung umfangreicher Reserven angesehen, bildete die allgemeine Wehrpflicht die Grundlage für den Aufbau einer ernstzunehmenden militärischen Kraft im Osten Deutschlands, die im Interesse der politischen Machterhaltung und -Sicherung des Regimes genutzt wurde. Die Möglichkeiten der Wehrpflicht, insbesondere des Wehrdienstes, nutzte der SED-Staat, um in einem völlig überzogenen, rigiden Dienst- und Disziplinarsystem die Wehrpflichtigen zu disziplinieren und ideologisch im Sinne der Parteipolitik zu indoktrinieren. Zwar waren dem Sodaten ζ. B. das Wahlrecht und andere Grundrechte offiziell gesichert, demokratische Kontroll- oder Mitwirkungsmöglichkeiten für die Wehrpflichtigen in der Armee fehlten dagegen fast völlig. In den 80er Jahren machten sich die Folgen der verkrusteten und unzeitgemäßen Wehrdienstgesetzgebung immer deutlicher bemerkbar. Während zum Beispiel für die Unterbringung von Technik und Waffen stets hohe Investitionen getätigt worden waren, verbesserten sich die sozialen Bedingungen für die Wehrpflichtigen in den Standorten kaum. Die offen artikulierte Unzufriedenheit auch über derartige Zustände brachte an der Jahreswende 1989/90 den Dienstbetrieb in der NVA fast zum Erliegen. Nicht zuletzt galt die Pflicht zum Wehrdienst als Mittel zur Lösung wirtschaftlicher Probleme in der DDR. So waren allein 1989 etwa 40000 Soldaten der NVA als billige und überall verfügbare Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft eingesetzt. Festzustellen bleibt, daß die Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR weder den demokratischen Idealen der Wehrpflicht und wohl kaum auch den ursprünglichen Vorstellungen von Marx und Engels über eine wahre Volksbewaffnung entsprach, wie es die SED-Propaganda immer wieder zu suggerieren versuchte. Wehrpflicht und Wehrdienst bildeten insgesamt ein spezifisches Abbild der politischen und sozialen Verhältnisse der DDR. Sie waren institutionalisierte Formen der gesellschaftlichen Militarisierung und wurden in diesem Sinne instrumentalisiert. Da die Aufarbeitung der Geschichte der DDR und ihres Militärs gerade erst begonnen hat, können diese Ausführungen zum jetzigen Zeitpunkt nur den Versuch einer ersten Bestandsaufnahme darstellen. Sie sollen vor allem zu einer weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Themenkomplex anregen.

Teil III Wehrpflicht im Ausland

Gerd Krumeich

Zur Entwicklung der »nation armee« in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

Volksbewaffnung, Massenaushebung, allgemeine Dienstpflicht und die Identifizierung des Staatsbürgers mit dem Soldaten haben ihren Ursprung in der französischen Revolution. Deren militärische Seite war ja nicht von ungefähr diejenige, die am stärksten und am direktesten auf Gesamteuropa eingewirkt hat. Der Revolutionskrieg, der den »Bürger in Uniform« in seiner französisch-jakobinischen Variante, als soldat citoyen, gebar, veränderte nicht nur die Landkarte Europas. Von nun an war allen Regierungen ad oculos gezeigt, was der Krieg in seiner nahezu absoluten Form sein konnte, und widerstrebend wurden Reformen eingeführt, um die Armeen auf den Stand der französischen zu bringen. Carl v. Clausewitz hat einen Großteil seiner Einsichten und Lehren aus der direkten und unvergleichlich genauen Beobachtung insbesondere der napoleonischen Feldzüge gezogen und formuliert. Und wenn auch Clausewitz sich in seinem Hauptwerk »Vom Kriege« merkwürdigerweise nur ganz kursorisch zum französischen Wehrsystem äußert, so entsprang seine Lehre vom Volkskrieg doch der genauen Beobachtung der Veränderungen des Rekrutierungssystems. »Es ist wahr, auch der Krieg selbst hat in seinem Wesen und in seinen Formen bedeutende Veränderungen erlitten, die ihn seiner absoluten Gestalt nähergebracht haben; aber diese Veränderungen sind nicht dadurch entstanden, daß die französische Regierung [den Krieg] gewissermaßen emanzipiert, vom Gängelbande der Politik losgelassen hätte, sondern sie sind aus der veränderten Politik entstanden, welche aus der französischen Revolution sowohl für Frankreich als für ganz Europa hervorgegangen ist. Diese Politik hatte andere Mittel, andere Kräfte aufgeboten und dadurch eine Energie der Kriegführung möglich gemacht, an welche außerdem nicht zu denken gewesen wäre«.

Und an anderer Stelle: »Das Requisitionssystem, die Anschwellung der Heere zu ungeheuren Massen, vermittelst desselben und der allgemeinen Dienstpflicht, der Gebrauch der Landwehren sind alles Dinge, die, wenn man vom ehemaligen engbegrenzten Militärsystem ausgeht, in derselben Richtung liegen 1 .«

Clausewitz' »Vom Kriege« ist das beredteste Zeugnis für die Tatsache, daß der Mythos der militärischen Ereignisse der Revolution und der napoleonischen Ära das Bewußtsein auch der intelligentesten Zeitgenossen entscheidend prägte. Für die Wehrpflichtfrage im gesamten 19. Jahrhundert, also bis zum Weltkrieg von 1914, ist sowohl die rein militärische als auch die politische Dimension der verschiedenen Etappen der Massenrekrutierung während der Revolution entscheidend geblieben — im übrigen weit über deren tatsächliche faktische Bedeutung hinaus. Die erbitterten politischen Fehden um das Konzept der nation armee und des soldat citoyen sind nicht verständlich, wenn man nicht 1

Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 19. Aufl., Bonn 1980, S. 997f. und 799.

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Gerd Krumeich

die affektive Bedeutung des Erlebens und Nacherlebens der Revolution — bis in den militärpolitischen Diskurs der Pariser Commune und das für die sozialistische Militärdoktrin Frankreichs maßgebende Werk »l'Armee nouvelle« von Jean Jaures hinein — als konstitutiv für die französische memoire collective begreift. In den konkreten militärpolitischen Debatten Frankreichs bis hin zum Ersten Weltkrieg taucht immer wieder — ganz unvermittelt auch in rein technischen Debatten — die Erinnerung an die levee en masse und die Tugenden (bzw. die politischen Untugenden) des Bürgersoldaten auf. Und nicht von ungefähr hat die Sozialistische Partei Frankreichs in ihrem Aufruf vom 28. Augsut 1914 zur nationalen Verteidigung gerade diese Erinnerung an die unwiderstehliche, zur Verteidigung des Vaterlandes stets bereite nation armee evoziert und als ihr eigenes Vermächtnis in Anspruch genommen. »Es ist nötig, daß in einem heroischen Elan, wie er zu ähnlich schweren Stunden in unserer Geschichte immer aufs Neue entstanden ist, die gesamte Nation sich zur Verteidigung ihres Bodens und ihrer Freiheit erhebe [...] In allen schweren Stunden, 1793 wie 1870, waren es Sozialisten und Revolutionäre, in die die Nation ihr Vertrauen setzte [...] Sie werden die Massenerhebung ins Werk setzen. Sie werden dafür sorgen, daß alle Kräfte der Nation wirklich genutzt werden 2 .«

Der folgende Uberblick über die Rekrutierungsprobleme und diversen Gesetzgebungsetappen im Frankreich des 19. Jahrhunderts fängt deshalb mit einem Blick auf das Werk der Revolution an. Es folgt eine kursorische Schilderung der verschiedenen hauptsächlichen Rekrutierungsgesetze in ihrem politischen Zusammenhang, wobei ganz besondere Aufmerksamkeit den Facetten des republikanischen Programms gilt — die Debatte um die tatsächliche Form der nation armee ist am intensivsten zwischen den verschiedenen Gruppen der Republikaner selbst geführt worden. Denn die Auseinandersetzung um die nation armee im 19. Jahrhundert war stets ein integrierender Bestandteil des Kampfes um die »Republikanisierung« Frankreichs3. Stets ging es um einen Ausgleich zwischen politischen und militärischen Erfordernissen. Hinter »rein militär-technischen« Erwägungen verbargen sich immer politische Ideologien, oft auch Weltanschauungen, deren Antagonismen gerade in militärpolitischen Debatten gehäuft zum Ausdruck kamen — und nicht selten zum Eklat führten: beispielsweise die Frage, wieviele Jahre des Aufenthaltes in der Kaserne nötig seien, um einen gut ausgebildeten Soldaten zu produzieren. Über das ganze Jahrhundert hinweg waren hier — kurioserweise viel stärker als in 2

3

Zit. nach Annie Kriegel/Jean-Jacques Becker, 1914, La Guerre et le mouvement ouvrier franfais, Paris 1964, S. 232 f. (Übers, von G.K.). Die Literatur zum Thema ist erst für die Zeit nach 1870 reichhaltig. Einen guten Uberblick für die Zeit von der Revolution bis zum Ersten Weltkrieg mit umfangreicher Bibliographie bieten: Histoire militaire de la France, Bd 2: 1715—1871, Bd 3: 1871—1940, hrsg. von Jean Delmas, Paris 1992; insgesamt das immer noch grundlegende, anregende und problemorientierte Werk von Raoul Girardet, La societe militaire dans la France contemporaine, 1815—1939, Paris 1953. Für die Revolutionszeit besonders wichtig ist Jean-Paul Bertaud, La revolution armee. Les soldats-citoyens et la Revolution franjaise, Paris 1979; wichtige Monographien für die erste Jahrhundert-Hälfte: Louis Girard, La Garde nationale, 1814—1871, Paris 1964; Bernard Schnapper, Le remplacement militaire en France, Paris 1968; Pierre Chalmin, L'officier franjais, 1815—1870, Paris 1957; William Serman, Les origines des officiers fransais, 1848—1870, Paris 1979.

Zur Entwicklung der »nation armee« in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

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Deutschland — ideologische Grundsätze im Spiel 4 . Lange versus kurze Dienstzeit, was ist ein »gut ausgebildeter Soldat«? Einer, der das technische Rüstzeug beherrscht, oder braucht es dazu mehr, ζ. B. die Einübung sozialer Disziplin? Die Armee als Disziplinierungsinstrument versus den demokratischen freien Staatsbürger ist ein lebendiger Topos in der säkularen Debatte 5 . Die avisierten Zeiträume des Kasernenaufenthaltes modifizierten sich ja nach den Zeitverhältnissen auf oft skurril erscheinende, aber signifikante Weise. Im Jahre 1830 erschienen den Konservativen sieben Jahre unverzichtbar, und noch 1975 galt vielen Abgeordneten die Forderung nach einer fünfjährigen Dienstzeit nahezu als Aufforderung zur sozialen Revolution. 1913 hingegen waren die drei Jahre, die 1872 als das Nonplusultra gerade linker Vorstellungen einer kurzen Dienstzeit galten, Ausweis des hartgesottensten Konservativismus 6 . Aber die signifikante Struktur dieser Debatte liegt bei allen zeitbedingten Modifikationen darin, daß es immer wieder um die Frage der »kurzen« und der »langen« Dienstzeit ging, was also alles andere als eine rein technische Frage war.

1. »Levee

en masse«

und »nation

armee«·.

die Militärpolitik der französischen Revolution Mit dem Ausbruch der Revolution am 14. Juli 1789 erfuhr die französische Armee unmittelbar tiefgreifende Umformungen, die indes weniger einer gezielten Planung entsprangen, sondern mehr ein Produkt der revolutionären Wirren waren, die allerdings weitreichende Folgen haben sollten. Zunächst zu nennen ist hier die Dissoziierung von regulärer Armee und Nationalgarde. Letztere war zunächst eine Selbstschöpfung der Bürger überall in Frankreich als Reaktion auf die Zersetzung der alten Armee. Zum ersten Mal setzte sich hier der Gedanke in die Tat um, daß der Bürger sich selber bewaffnen müsse, um die Ordnung im Inneren und die Verteidigung nach außen zu wahren — ein Grundbestandteil aller Varianten des soldat citoyen der folgenden Zeit. Diese Nationalgarde unter Lafayette diente zunächst u. a. auch dem Schutz der Bürger vor der marodierenden Soldateska und wurde im Februar 1790 als alleinige Ordnungshüterin gesetzlich anerkannt, 4

Eine vergleichende deutsch-französische Untersuchung der Konzepte von »nation armee« und »Volk in Waffen« steht aus. Vgl. ansatzweise Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Zum Problem des »Militarismus« in Deutschland, 4 Bde, München 1954 ff.; Colmar Frhr. von der Goltz, Das Volk in Waffen, Berlin 1896; Jules Faivre, Les nations armees, Paris 1990. Zur Zurückhaltung der führenden deutschen Sozialisten gegenüber der Milizidee: Detlef Haritz, Zwischen Miliz und Stehendem Heer. Der Milizgedanke in der sozialdemokratischen Militärtheorie 1848 bis 1917, Diss. phil. Berlin 1983 (mschr. Ms.).

5

Vgl. hierzu auch Richard D. Challener, The French Theory of the Nation in Arms, New York 1955; Joseph Monteilhet, Les institutions militaires de la France, 1814—1932, 2. Aufl., Paris 1932; Gerd Krumeich, Zur Problematik des Konzepts der »nation armee« in Frankreich, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 28 (1980), S. 35—43.

6

Eine sehr typische Ausprägung dieser Debatte im Fall des Wehrgesetzes von 1872 bei Allen Mitchell, Thiers, Mac Mahon and the Conseil Superieur de la Guerre, in: French Historical Studies, 6 (1969), S. 2 3 2 - 2 5 2 .

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Gerd Krumeich

wohingegen die reguläre Armee nach dem Willen der Nationalversammlung nur noch für den auswärtigen Krieg eingesetzt werden durfte7. Der Protagonist der Nationalgarde und rührigste Militärpolitiker der Revolution, Edmond Dubois-Crance, brachte im Dezember 1789 zum ersten Mal die Idee des soldat citoyen und der conscription vor die Assemblee Nationale mit der folgenden Begründung: »Es ist das Recht aller Franzosen zu dienen, es ist eine Ehre, Soldat zu sein. Ich stelle als Axiom fest, daß in Frankreich jeder Bürger Soldat sein muß und jeder Soldat Bürger8.« Dubois-Crance verurteilte im übrigen jegliche Idee einer Stellvertretung (remplacement), weil er wie die gesamte äußerste Linke der Auffassung war, daß die sakrosankte egalite sich vor allem an diesem Gebot des »service personnel et obligatoire pour tous« messe. Diese Vorstellungen waren indessen nicht mehrheitsfähig: Die Mehrheit der Nationalversammlung verwarf sie im Namen des anderen großen Prinzips der Revolution, der »liberte«, die es jedem nach seinen ökonomischen Möglichkeiten erlauben sollte, sein Leben frei zu gestalten. Und dazu gehörte nach liberaler Auffassung auch das Recht, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Dieses Argument wurde auch heftig mit militärischen Argumenten begründet: Die Einbeziehung aller wehrfähigen Staatsbürger in das Militär setze eine kurze Dienstpflicht voraus, in der man wiederum das Soldatenhandwerk nicht hinreichend lernen könne. In diesem Projekt ist in nuce bereits die gesamte Problematik der nation armee im 19. Jahrhundert angedeutet. Die Ausdifferenzierung zwischen einem radikal-republikanisch-egalitären Lager einerseits und einem liberal-konservativen andererseits sollte auch weiterhin die militärpolitischen Debatten strukturieren. Zunächst aber trieben die Ereignisse der Revolution, insbesondere der Krieg, die militärpolitische Entwicklung Frankreichs weiter. Die wichtigsten Etappen seien kurz genannt: Zunächst erfolgte eine Verstärkung der auf 100000 Mann gebrachten Nationalgarde, die ab März 1791 die Linientruppen bei der Verteidigung der Festungen und befestigten Städte ersetzte. Da der Sold hier höher war als in der Linie und zudem die Dienstzeit erheblich kürzer, ging diese Bewegung zur Nationalgarde eindeutig auf Kosten der Freiwilligen-Aushebung für die Linie. Ein Dekret vom Januar 1798 rief die Bürger auf, sich für drei Jahre in der regulären Armee zu verpflichten, wozu auch die Prämien angehoben wurden9. Allerdings hatte auch diese Maßnahme keinen durchschlagenden Erfolg, zumal sich zeigte, daß die auf diese Art in die Armee integrierten Truppen zum Teil wenig zuverlässig waren, häufig desertierten und beispielsweise bei der Niederschlagung des Vendee-Aufstandes nicht gut zu gebrauchen waren. Angesichts der Zuspitzung der internationalen Lage ging der Konvent im Februar 1793 noch einen Schritt weiter. Für das gewünschte 500000-Mann-Heer mußten 300000 Mann zusätzlich gewonnen werden, was aber interessanterweise immer noch auf Freiwilligen-Basis zu geschehen hatte. Das einzige Zwangselement dieser Maßnahme war, daß die Kommunen verpflichtet wurden, auf welche Weise auch immer ihre Kontingente aufzufüllen. 7

8 9

Gilbert Bodinier, La Revolution et l'armee, in: Histoire militaire de la France (wie Anm. 3), Bd 2, S. 195 ff. Zit. ebd., S. 235. Larousse, Grand dictionnaire universel du 19e siecle, Paris 1869, Art. »Recrutement«.

Zur Entwicklung der »nation armee« in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

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Die berühmte levee en masse des August 1793 ist äußerst mythenbildend geworden. Noch mehr als hundert Jahre später galt sie den linksrepublikanischen und sozialistischen Verfechtern der nation armee als Ausweis dessen, was diese im Ernstfall zu leisten imstande sein werde. Die nationale Geschichtsschreibung über die Revolution, von Michelet bis Jaures, hat diesen Mythos immer wieder bestätigt und verfestigt10. Tatsächlich beschloß der Konvent auf Drängen der radikalen Sansculotten eine Mobilisierung aller waffenfähigen Bürger. Angesichts des drastischen Mangels an Gewehren und anderer Ausrüstung wurde diese armement general du peuple allerdings bald auf eine Einberufung der 18bis 25jährigen reduziert. Eine Stellvertretung war nicht statthaft, aber viele Wehrpflichtige wurden vom Dienst freigestellt, um beispielsweise in den Waffenfabriken zu arbeiten. Diese — wie auch immer beschränkte — erste tatsächliche Aushebung erbrachte 400000 Mann, aber man blieb weit davon entfernt, tatsächlich die ganze wehrfähige Bevölkerung zu den Waffen zu rufen. Das berühmte Dekret vom 23. August 1793 sollte wohl durch radikale Sprache und Propaganda das tatsächliche Zögern überdecken. Alle Franzosen wurden nunmehr zum Kriegsdienst verpflichtet: Nicht wehrfähige sollten Waffen schmieden, Frauen sollten Kleider nähen, Kinder sollten Lumpen zu Verbandsmaterial zerrupfen, und die Alten sollten durch zündende Reden den Mut der Krieger stählen und den Haß auf die Monarchien und das Heil der Republik predigen. Wurde der Krieg hier ansatzweise »absolut« im Sinne von Clausewitz, so blieb doch die umfassende Rekrutierung ein Ausnahmefall — bereits im Jahre 1794 wurde die Massenaushebung nahezu gänzlich zurückgenommen. Erst im September 1798 kam es mit der Loi Jourdan zu einer neuen Etappe der Wehrpflicht in Frankreich. Dieses Gesetz war zwar weit weniger spektakulär als das vorangehende, ist aber insofern von großer Bedeutung, als hier Prinzipien festgeschrieben wurden, die ihrerseits das Rekrutierungssystem des 19. Jahrhunderts für lange Zeit prägten. Die wichtigsten Bestimmungen der Loi Jourdan waren folgende: Im Kriegsfall können alle waffenfähigen Männer einberufen werden; die Friedensarm ae besteht aus Freiwilligen und einem Kontingent von Dienstpflichtigen, dessen Stärke jährlich von der gesetzgebenden Körperschaft festgelegt wird. Alle ledigen männlichen Franzosen im Alter von 20 bis 25 Jahren sind wehrpflichtig, jeder Jahrgang bildet eine classe. Die Regierung bestimmt das Aufkommen pro Departement, und die Departementsverwaltung legt die bons numeros und mauvais numeros fest. Wer eine »schlechte Zahl« erhält, muß tatsächlich für fünf Jahre dienen. Ein Freikauf ist nicht vorgesehen11. Dieses System war nicht gerade populär: Im Jahre 1799 wurden von den ca. 400000 Einberufenen tatsächlich nur 250000 eingezogen, weil sich etwa 155000 der Einberufung durch Desertion entzogen12. Es ist interessant zu sehen, daß Napoleon keine substantiellen Erweiterungen des Wehrpflichtgedankens vornahm, sondern sich mit dem System der Loi Jourdan begnügte, allerdings das Konskriptionssystem mit großer administrativer Schärfe durchsetzen ließ. 10

11 12

Vgl. besonders Jean Jaures, L'Armee nouvelle, Paris 1915, Kap. VI: »La tradition revolutionnaire franfaise«. Historique des diverses lois sur le recrutement, Paris 1902. Bodinier (wie Anm. 7), S. 244.

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Gerd Krumeich

Napoleons Originalität in dieser Hinsicht liegt wohl allein in der Bevorzugung des recrutement local. Er stellte eine ganz enge Verbindung zwischen Regimentskommando und den jeweiligen Unterpräfekten der Verwaltungsarrondissements her, die Hand in Hand arbeiten und somit die Möglichkeiten des recrutement local ohne allzu großen administrativen Aufwand ausnutzen konnten. Dies ist hier besonders zu betonen, weil in dem Maße der Zentralisierung und Republikanisierung Frankreichs dieses recrutement local faktisch verschwand, als »demokratische« Forderung bei Radikalsozialisten und Sozialisten aber bis zum Weltkrieg stets präsent blieb, wozu die mythisierte Erinnerung an die napoleonische Zeit natürlich beitrug. Tatsächlich hatte zur Zeit des größten Prestiges des Siegers von Jena und Auerstädt die Konskription einen riesigen Erfolg: So bestanden die fünf classes 1806 bis 1810 aus ca. 1,9 Millionen Wehrpflichtigen, von denen ca. 560000 einberufen wurden — tatsächlich dienten 563000 Mann13. Erst als 1812 die Konskriptionsschraube stark angezogen wurde, als das Kriegsglück sich wendete, wurde auch Widerstand wach, und die Zahl der Deserteure stieg an.

2. Restauration, liberale Monarchie und cäsaristisches Empire: Remplacement, exoneration und der Beginn allgemeiner Dienstpflicht Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft war eine der populärsten Maßnahmen der Restauration der Artikel 12 der Charta von 1814, in der ausdrücklich die Konskription abgeschafft wurde14. Die Ultras der Restauration wollten alle Erinnerung an die Grande Armee auslöschen und setzten gegen die Erfahrung der Massenarmee — die ja bereits Clausewitz als den eigentlichen Grund der napoleonischen Überlegenheit diagnostiziert hat — strikt auf die »Qualität« einer reinen Freiwilligen- und Berufsarmee. Selbstverständlich erhob sich hiergegen sofort liberaler Protest, der die demokratischegalitären Attribute der Wehrpflicht nicht einfach abschaffen lassen wollte. Die Auseinandersetzung um »Quantität« und »Qualität« der Armee, um den Platz der Reservisten in der mobilisierten Armee, durchzieht von nun an die militärpolitische Debatte des 19. Jahrhunderts mit bemerkenswerter Konstanz und Stereotypie. Dies ist anderswo auch der Fall, beispielsweise im Verfassungskonflikt in Preußen, lange aber nicht so ideologisch polarisiert wie in Frankreich, wo doch in einem weit geringeren Maße »rein militärische« Erwägungen akzeptiert wurden als in Preußen. Meistens wurden Kompromisse zwischen quantite und qualite ausgehandelt, wie vor allem in der epochalen Loi Gouvion Saint Cyr von 181815. Gouvion Saint-Cyr, Kriegsminister in der Restaurationszeit und Verfasser einer Reihe wichtiger kriegsgeschichtlicher Studien, war ein Exponent der »liberalen« Phase der Restauration und bemühte sich, gegen die extrem konservativen Stimmen das liberale Element der militärpolitischen Entwicklung zu stärken. So ist auch 13 14

15

Ebd. Vgl. Vom Konsulat zum Empire liberal. Ausgewählte Texte zur französischen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Michael Erbe, Darmstadt 1985, S. 152. Hierzu ausführlich Larousse (wie Anm. 9), Art. »recrutement«; Historique des diverses lois (wie Anm. 11).

Zur Entwicklung der

»nation arm.ee«

in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

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die Loi Gouvion Saint Cyr vom 10. März 1818 als ein signifikanter Kompromiß zwischen liberalen und konservativen Forderungen zu sehen. Ihre Hauptmodalitäten waren folgende: Alle Männer im Alter von 20 Jahren, auch die verheirateten, sind prinzipiell wehrdienstpflichtig. Jedem wird eine Nummer zugeteilt, und gemäß dem geforderten Jahreskontingent an Einberufungen werden die bons numeros und die mauvais numeros festgelegt. Wer ein bon numero gezogen hat, ist fortan vom Wehrdienst ganz befreit, wer ein mauvais numero erhalten hat, dient für sechs Jahre. Entscheidend waren aber weniger diese Modalitäten als die Einführung des »remplacement«: Wer ein mauvais numero gezogen hatte, konnte sich einen Ersatzmann kaufen — wodurch natürlich die Armee langfristig nur noch aus Mitgliedern der armen Schichten vor allem der bäuerlichen Bevölkerung bestand. In kürzester Frist entstanden nun überall im Lande die sogenannten bureaus de remplacement, in denen ein regelrechter Menschenhandel getrieben wurde — und es gab auch schon Versicherungsverträge gegen die Folgen eines mauvais numero16. Dem Geist der Zeit entsprechend kümmerte sich die Loi Gouvion Saint Cyr nahezu ausschließlich um die aktive Armee, die nunmehr aus langzeitverpflichteten Freiwilligen und — zum größten Teil — aus langdienenden Wehrpflichtigen (der unteren sozialen Klasse) bestand. Eine Ausbildung aller, so daß im Kriegsfall auf ausgebildete Reservisten hätte zurückgegriffen werden können, war nicht vorgesehen. Die Konsequenz hieraus war natürlich, daß das Friedenskontingent enorm hoch gehalten werden mußte (ca. 400000 Mann). Die Wehrpflicht wurde nach 1824 sogar auf acht Jahre verlängert. Die Juli-Monarchie von 1830 änderte an dieser Gesetzgebung nicht sonderlich viel. Ihre militärpolitische Aktivität erschöpfte sich fast zur Gänze in der Loi Soult vom April 1832, die aber die wesentlichen Maßgaben der Loi Gouvion Saint Cyr weiterführte. Theoretisch wurde hier zwar eine Reserve der aktiven Armee konstitutiert, in der Praxis aber ebenfalls vergessen — übrigens genauso wie die Nationalgarde, die nach dem Gesetz von 1832 aus dem 2. Aufgebot des nicht inkorporierten Kontingents bestand und der Linienarmee »bei der Verteidigung der Grenzen und Küsten« helfen sollte17. Die plutokratischen Aspekte dieser Gesetzgebung empörten zwar immer wieder die liberal-nationale Öffentlichkeit, blieben aber im wesentlichen über mehr als drei Jahrzehnte nicht angetastet. Ein auswärtiger Krieg drohte nicht und somit keine Massenmobilisierung, die Bourgeoisie wurde immer wohlhabender, und damit war die Möglichkeit, sich einen remplagant (Ersatzmann) zu schaffen, für immer mehr Bürger gegeben: Das Auseinanderklaffen von liberalem Anspruch und bürgerlichem Interesse ist selten einmal so evident wie im Fall der französischen Militärgesetzgebung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch die Revolutionäre von 1848 vermochten — oder wollten — hieran nichts Wesentliches änderen. Zwar wurde in der Constituante heftig gegen das undemokratische remplacement polemisiert — und im Artikel 4 der Verfassung wurde festgehalten, daß jeder Franzose im Prinzip wehrpflichtig sei. Aber die Befreiung vom Wehrdienst hielt man aus16 17

Hierzu insgesamt die Arbeit von Schnapper (wie Anm. 3). Jean Delmas, Les Francis et l'obligation militaire de Gouvion-Saint-Cyr a Niel, in: Histoire militaire de la France (wie Anm. 3), B d 2 , S. 409 ff.

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drücklich offen. Allerdings spiegelt sich der radikalere Geist dieser Versammlung in dem Projekt, daß anstelle des remplacement, wo jeder sich seinen Ersatz gewissermaßen auf dem »Arbeitsmarkt« suchen konnte, eine exoneration vorgesehen wurde: Von nun an sollte man gegen eine feste Prämie vom Wehrdienst loskommen können, die nicht der remplagant erhielt bzw. dessen Vermittler, sondern der Staat unmittelbar, der mit diesem Geld sich die Soldaten kaufen konnte, die er zu brauchen glaubte. Das war seit langem eine Forderung der Offiziere, die auf dem Wege über das remplacement meist unwillige und untaugliche Leute zur Ausbildung erhielten, teilweise aber auch ein Zeichen des neuen radikalen Republikanismus, der — wie auch immer bürgerlich — sich vor allem als zentralistisch-etatistisch verstand18. Wegen des Scheiterns der Revolution wurde dieser Ersatz des remplacement durch die exoneration allerdings erst im Jahre 1855 konkret in Gesetzesform gebracht — zu einem Zeitpunkt, als der Krimkrieg zum ersten Mal seit Jahrzehnten daran gemahnte, daß man u.U. eine schlagkräftige Armee plötzlich würde brauchen können. War die exoneration sicherlich effizienter als das remplacement, so hatte diese Maßgabe doch eine interessante Dialektik. Unter dem Regime des remplacement war die Wehrpflicht prinzipiell persönlich gewesen, nunmehr wurde die Plutokratie, die Herrschaft der Begüterten, durch den Staat selbst organisiert, und die traditionelle Idee des soldatcitoyen versank vollends. Erst der Schock der Ereignisse von Königgrätz weckte 1866 die französische Regierung aus der wohligen Ruhe, die von den außenpolitischen Glanztaten der Gloire-Politik Napoleons III. ausgegangen war. Sadowa zeigte, daß Frankreich nicht auf einen Waffengang vorbereitet war, daß von seinen nominell 400000 Soldaten höchstens 280000 wirklich dienten; eine Einberufung von dienstfähigen Reservisten war nicht vorgesehen. Zum ersten Mal erschien das preußische System kurzer Dienstzeiten und energischer Ausbildung der Reserve als echte und eventuell kriegstauglichere Alternative. Ein erster Niederschlag dieses Umdenkens findet sich in der Loi Niel, dem 1868 verabschiedeten neuen Rekrutierungsgesetz, tatsächlich ein erster Schritt zur allgemeinen Dienstpflicht: der Dienst in der aktiven Armee dauerte fünf Jahre, in der Reserve vier Jahre. Das Kontingent bestand aus zwei Teilen, der erste Teil hatte fünf Jahre unter den Fahnen zu dienen, der zweite nur fünf Monate. Die vom Dienst Befreiten wurden in die garde nationale mobile eingereiht, die im Kriegsfall einberufen werden sollte. Anstelle der exoneration trat nun wieder das remplacementDie republikanische Opposition gegen das Empire liberale, vertreten etwa durch Gambetta oder Jules Simon, hatte in ihrem erbitterten Kampf gegen die Loi Niel weniger deren außenpolitisch-militärische Konsequenzen im Blick als vielmehr die Propaganda gegen das verhaßte cäsaristische Regime Napoleons III. Sie benutzte vor allem das remplacement, um gegen die undemokratische Klassengesellschaft des 2. Empire zu polemisieren und demgegenüber die strikt egalitäre Republik zu entwer18

19

Leider gibt es noch keine gedruckte Monographie zur Militärpolitik der 1848er. Die ungedruckte Dissertation von Zaniewicki, L'armee fran^aise en 1848, 3 Bde, Paris 1966, war mir nicht zugänglich. Vgl. den Uberblick bei Delmas (wie Anm. 17). Historique des diverses lois (wie Anm. 11), S. 45.

Zur Entwicklung der

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in Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg

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fen. »In der Demokratie«, so Jules Simon, »darf es keine Unterscheidung in reiche und arme Klassen beim Militärdienst geben, hier darf es nur noch Bürger geben, die vor dem Gesetz gleich sind«, was im übrigen eine ganz kurze Dienstzeit in der aktiven Armee zur Folge haben müsse20. Parlament und bürgerliche Öffentlichkeit stellten die Militärdebatte unter einen strikten Primat der Innenpolitik, und außenpolitische Argumente bzw. der Verweis auf die preußische Armee wurden als ideologische Verschleierung konservativer Interessenpolitik abgelehnt. Zu stark war man auch auf Seiten der Linken in den Gloire-Träumen des 2. Empire, der mythisierten Erinnerung an die Heere der Revolution und die levee en masse von 1793 befangen, um militärischen Erwägungen über das notwendige encadrement der Wehrpflichtigen bzw. um den absoluten Vorrang der aktiven Armee Glauben zu schenken. Dies um so mehr, als ja oft genug dem militärtechnischen Denken solch konservative Ideologien von Seiten ihrer Verfechter ganz offen unterlegt wurden21.

3. 1872-1914: Die Republikanisierung der Armee Deutlich wird dies besonders in der Diskussion um das Große Militärgesetz von 1872, das ein wesentlicher Bestandteil der französischen Erneuerung nach der vernichtenden Niederlage im Kriege gegen Deutschland 1870/71 sein sollte. Dieses Gesetz war insofern ein entscheidender Schritt nach vorn, als hier wiederum (und diesmal definitiv) der »service militaire personnel et obligatoire« festgelegt wurde als Bestätigung der citoyennete und der republikanischen egalite. Dies war eine echte Konzession der Notabein, die durch den Aufstand der Pariser Kommune vom März 1871 auch insofern sehr betroffen waren, als sich hier die Dialektik der im Substituten-System gegebenen Bewaffnung der niederen Klassen zeigte: Wurden diese sich politisch bewußt oder sogar revolutionär, dann drohte dem System, das sich daran gewöhnt hatte, sich von diesen schützen zu lassen, große Gefahr. Auch die Notabein der assemblee nationale sahen nun ein — so der Marquis de Chasseloup-Laubat im Mai 1872 vor der Versammlung —, daß allein das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht soziale Unzufriedenheit lösen könne, eben dadurch, daß die Armeezugehörigkeit keine soziale Diskriminierung mehr darstelle22. Allerdings blieb der alte Freikauf-Mechanismus im volontariat d'un an noch in Resten erhalten. Wer 1500 FF für seinen Unterhalt zahlte, diente nur ein Jahr, das bedeutete 60000 Mann jährlich. Zudem blieb die Dienstzeit lang (fünf Jahre), was ganz unzweideutig mit den Notwendigkeiten der »sozialen Erziehung« der Soldaten begründet wurde. In der Armeekommission drückte der liberal-konservative Regierungschef Adolphe Thiers diesen Gesichtspunkt ganz unumwunden aus: Das Fehlen traditioneller Moral und Disziplin in der französischen Bevölkerung, gerade erst durch die Commune ad oculos demonstriert, manche 20

Ebd., S. 50.

21

Vgl. Jean Casevitz, Une loi manquee, la loi Niel, 1866—1868, Paris 1960.

22

Vgl. Historique des diverses lois (wie Anm. 11), S. 63.

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Gerd Krumeich

eine lange Präsenzzeit zur »Formierung« der Soldaten nötig, ganz im Unterschied zu Preußen, wo die Bürger die Disziplin ohnehin von klein auf verinnerlicht hätten. Aus demselben Grund wurde das recrutement local abgelehnt, welches die Linke forderte. Die konservativen Republikaner und antirepublikanischen Konservativen wollten verhindern, daß bei einem allfälligen Einsatz der Armee gegen streikende Arbeiter oder demonstrierende Weinbauern verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Beziehungen der Soldaten zu den Streikenden die Disziplin der Truppe untergraben könnten 23 . Die republikanische Kritik am 1872er Gesetz entzündete sich vor allem an der Länge der Dienstzeit und an der noch nicht wirklich realisierten egalite. Vehement versuchte man in den folgenden Jahren, das durchzusetzen, was Georges Clemenceau, der Anführer der Radikalen Republikaner, in seinem Programm von 1876 formuliert hatte: »Gleicher Militärdienst für alle, keinerlei Privileg«. Daneben wurde auf der äußersten Linken auch immer wieder der Milizgedanke vertreten, so etwa von Louis Blanc, der 1872 die allgemeine Volksbewaffnung forderte, oder Ledru-Rollin, der überhaupt das stehende Heer abschaffen und durch eine Miliz ersetzen wollte24. Eine Realisierungschance hatten diese Vorstellungen der äußersten Linken nicht, wenngleich sie, auf dem Mythos der Revolution von 1789 aufbauend, sehr viel populärer waren als etwa deutsche Milizideen. So blieb auch bei der gouvernementalen Linken um Clemenceau in gewisser Weise der radikale Mythos lebendig, wie etwa Clemenceaus Wahlprogramm von 1885 zeigt: »Service militaire obligatoire et egal pour tous, reduction immediate du service actif a trois annees, substitution progressive des milices nationales aux armees permanentes. L'Armee exclusivement employee a la Defense du Territoire et de la Republique 25 .« Einen kleinen Schritt in diese Richtung bedeutete das Wehrgesetz von 1889, das zu Teilen bereits von Boulanger 1886 ausgearbeitet worden war und das nunmehr jeden Franzosen zum Wehrdienst verpflichtete, die aktive Zeit auf drei Jahre reduzierte und dafür in der insgesamt 25jährigen Gesamtdienstpflicht sieben Jahre in der Reserve, sechs Jahre in der Territorialarmee und neun in der reserve de l'armee territoriale stipulierte26. Wenn dies den Wünschen der äußersten Linken entsprach, so konnte doch von tatsächlicher gleicher Dienstpflicht für alle keine Rede sein. Zunächst wurde das Losverfahren beibehalten: Je nach Größe des jährlichen Kontingents konnten nach wie vor gute oder schlechte Nummern verteilt werden. Wer eine gute Nummer zog, brauchte nur ein Jahr aktiv zu dienen. Zudem wurden die Angehörigen vieler professions liberales, Lehrer, Arzte, Rechtsanwälte usw. befreit; auch blieben — was die Linke irritierte — Priester und Ordensgeistliche vom Militärdienst befreit. Die Forderung, daß auch die Priester die Uniform anzulegen hätten — le cure sac au dos — wurde von da an zum populären Slogan der

23

Vgl. Mitchell (wie Anm. 6), S. 238; Girardet (wie Anm. 3), S. 163 f.

24

Vgl. insgesamt die Darstellung und die abgedruckten Dokumente bei Jacques Kayser, Les grandes batailles du radicalisme 1820—1901, Paris 1961, bes. S. 324ff.

25

Zit. ebd., S. 335.

26

Es gibt bislang keine gedruckte Monographie zum 1889er Gesetz, merkwürdigerweise geht die reichhaltige Boulanger-Literatur hierauf nicht ein. Vgl. die Magisterarbeit von Dieter Wolf, General Boulanger und die Wehrvorlage von 1886, Freiburg 1991 (mschr. Ms.). Vgl. Paul M. de La Gorce, La Republique et son armee, Paris 1962, S. 39 ff.

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Linken. Das 1889er Gesetz war also ein liberal-demokratischer Formelkompromiß, der ganz deutlich die innenpolitischen Machtverhältnisse der »opportunistischen« Republik jener Jahre spiegelte. Auch hier war wieder das eingetreten, was für die französische Militärgesetzgebung im 19. Jahrhundert überhaupt charakteristisch ist: Eine langdauernde Friedenszeit hatte die Armeefrage zu einer rein innen- bzw. sozialpolitischen werden lassen. Am militärischen Bereich interessierte das Parlament stets allein die Frage der Wehrpflicht, und dies um so mehr, je stärker die politische Gestaltung von der Notabeln-Republik auf die Republikaner des Massenzeitalters überging. Radikal-egalitäre Forderungen gingen nun immer stärker überein mit dem Versuch, die Dienstzeit möglichst kurz zu halten — beides war populär, allerdings auch sachlich kontraproduktiv27. Kulminationspunkt dieses in säkularer Perspektive eigentlich ungebrochenen Trends zur »Republikanisierung« der Wehrverfassung war das Gesetz vom Jahre 1905, die Loi de Deux Ans, das nicht einmal einen Monat vor dem Ausbruch der ersten Marokkokrise verabschiedet wurde, somit immer noch unter einem radikalen Primat der Innenpolitik stand. Dieses Gesetz war eine klare Kampfmaßnahme der »radikalen Republik« gegen die vermuteten bzw. tatsächlichen antirepublikanischen Tendenzen der societe militaire, wie sie in der Dreyfus-Affäre seit 1894 offensichtlich zu Tage getreten waren. Dieses Gesetz von 1905, das die Dienstpflicht in der aktiven Armee auf zwei Jahre reduzierte und jegliche Exemption kategorisch ausschloß, war eine rein innenpolitisch motivierte Maßnahme. Die rhetorisch immer wieder evozierte Realisierung der nation armee blieb insofern ein Fetisch, als die eigentlich unabdingbar dazu gehörende Einberufung der Reservisten zu jährlichen Wehrübungen ab 1907 schlicht nicht mehr stattfand. Unter der Behauptung, die nation armee realisiert zu haben, war in Wirklichkeit eine nunmehr stark reduzierte armee de caserne entstanden, mehr als notwendiges Übel toleriert denn als ein wahrer Ausdruck der Nation in Waffen28. Man hat oft die intellektuelle Verspannung der französischen Militärs kritisiert, die ohne Rücksicht auf die tatsächliche Militärverfassung ihres Landes ab etwa 1909 zu einer immer strikteren offensiven Kriegsplanung übergingen, die Theorie des kurzen Krieges mit besonderer Hartnäckigkeit vertraten und strategisch umsetzten, weitaus verbohrter und uneinsichtiger gegen Kritik als ihre deutschen Kollegen2'. Vielleicht müßte man zur Erklärung dieser unbezweifelbaren Tatsache stärker als bislang geschehen die Kluft berücksichtigen, die sich in den Jahren nach 1905 zwischen der militärischen und der zivilen Gesellschaft erneut aufgetan hatte und die wie immer schon ihren Ausdruck in der Form eines Wehrgesetzes fand. So wenig wie die republikanischen politischen Verantwortlichen die nation armee in Wirklichkeit ernst nahmen, so wenig war die societe militaire bereit, sich auf diese zu stützen, zumal ja auf Seiten der Militärs manch eingewurzeltes Vorurteil gegenüber der Massenarmee aus Wehrpflichtigen weiterhin vorherrschte. So gelangte man dazu, als den Kern der Armee bzw. als die eigentliche Armee allein die Präsenzarmee zu verstehen. Bei der reduzierten Anzahl von Präsenzdienst leistenden und 27 28 29

Vgl. insgesamt die Darstellung von Challener (wie Anm. 5). Vgl. hierzu insgesamt Krumeich (wie Anm. 5), dort auch die Spezialliteratur. Bes. Monteilhet (wie Anm. 5); ebenso Ralston, The Army of the Republic, Cambridge (Mass.) 1967.

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Gerd Krumeich

leidlich ausgebildeten Soldaten galt es natürlich, den Krieg möglichst kurz zu halten, eine Forderung, die durch strikt offensive Kriegführung gewährleistet schien. Als aber die außenpolitische Situation ernst wurde, als nach der Agadir-Krise von 1911 die Zeichen auf Sturm standen, als schließlich Deutschland im Jahre 1912 die Periode des extremen Wettrüstens einläutete, erwiesen sich alle diese aus der Not geborenen Annahmen als nicht mehr stichhaltig. Deshalb wurde im März 1913 dem Parlament das Gesetzesprojekt einer Rückkehr zur dreijährigen Dienstpflicht unterbreitet, allerdings weiterhin ohne jegliche Befreiung vom Wehrdienst. Die Linke wehrte sich energisch gegen diese als »reaktionär« empfundene Maßnahme, die aus ihrer Perspektive einen Ausbruch aus der Logik des Wehrsystems darstellte, zu dem Frankreich im Laufe eines Jahrhunderts der kontinuierlichen (wenngleich manchmal sprunghaften) Republikanisierung gelangt war. Es war vor allem der Führer der Sozialistischen Partei, Jean Jaures, der sich bemühte, die linksrepublikanische Militärtheorie fortzuentwicklen und aus der nation armee eine soziale Realität zu machen. Im Jahre 1911 veröffentlichte er seine »Armee nouvelle«, die ein erster Baustein seiner geplanten umfassenden »Organisation socialiste de la France« sein sollte — ein Werk, dessen Fertigstellung durch Jaures' Ermordung am 31. Juli 1914 verhindert wurde. »L'Armee nouvelle« ist heute noch in Frankreich eines der bekanntesten Werke der sozialistischen Theorie — zur Zeit sind nicht weniger als drei verschiedene Ausgaben »auf dem Markt«. In diesem Buch, das kurioserweise zunächst als Anhang zu einer parlamentarischen Gesetzesinitiative der Sozialisten entstand, bemühte sich Jaures, die organische Entwicklung der republikanischen Militärtheorie hin zur sozialistischen zu demonstrieren und die Wege aufzuzeigen, die aus der bislang nur unvollkommen realisierten Debatte der nation armee eine soziale Realität machen konnten. Aber das Telos dieses epochalen Werkes war weiter gefaßt; deshalb interessiert es noch heute: Jaures ging es vor allem darum, die Organisation der Armee dergestalt umzuformen, daß Eroberungskriege ausgeschlossen, ein Verteidigungskrieg aber mit größter Aussicht auf Erfolg geführt werden konnte. Programmatisch heißt es deshalb im Artikel 16 der »Proposition de Loi« von 1911: »Die so [im Sinne der nation armee] umgeformte Armee hat als einzige Aufgabe, die Unabhängigkeit und den Boden des Landes gegen jede Aggression zu schützen ...«. Dennoch gelang es der militärischen Führung, einer knappen Mehrheit des Parlaments und der Öffentlichkeit klarzumachen, daß nicht reaktionäre Bestrebungen Anlaß für die Dienstzeitverlängerung gewesen seien. Allein die Notwendigkeit, einen festen Deich gegen die drohende deutsche Flut zu errichten, habe die Verlängerung der Präsenzzeit in der Armee nötig gemacht. Ich habe an anderer Stelle nachgewiesen, wie stark diese Rüstung in Wirklichkeit nicht mit der Furcht vor einer attaque brusquee der Deutschen, sondern mit der eigenen Offensivplanung im Zusammenhang stand30. Aber das Dilemma dieser Planung war, daß sie sich als unvereinbar erwies mit der wie auch immer stereotypen Theorie der nation armee. Die Linke, auch die Sozialisten, waren ohne weiteres bereit, nunmehr das Reservistensystem durch energische Maßnahmen wirklich zum Funk30

Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht 1913—1914, Wiesbaden 1980.

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tionieren zu bringen, tatsächlich einen menschlichen Deich aller wehrfähigen Bürger gegen die deutsche Flut zu errichten. Es war ihnen indessen auf Dauer auch mit erheblichen Indoktrinierungsanstrengungen nicht klarzumachen, daß nur ein politisch »rückständiges« Wehrsystem den Schutz Frankreichs vor einem deutschen Angriff würde bewerkstelligen können. Tatsache ist, daß das Wehrgesetz von 1913, unverzichtbar für die Durchführung der französischen Offensivstrategie, im Frühsommer 1914 unmittelbar vor seiner Abschaffung stand, was — ohne daß das Parlament es wußte — den offensivstrategischen Kriegsplan illusorisch gemacht hätte31. Man kann nur darüber spekulieren, was diese Perspektive für die Entscheidungen der politischen und militärischen Führung Frankreichs im Juli 1914 bedeutet hat, wie weit sie sie gezwungen hat, viel stärker, als eigentlich gewollt, auf das russische Bündnis zu setzen. Doch die innenpolitischen Restriktionen der Außen- und Militärpolitik sind ein anderes Thema. Dieser Uberblick über die Entwicklung des französischen Wehrsystems sollte zeigen, in welch hohem Maße doch im Grunde die Entwicklung des französischen Rekrutierungssystems im 19. Jahrhundert in Richtung auf eine »Republikanisierung« der militärischen Institutionen, auf eine Koordinierung von Staatsverfassung und Heeresverfassung zielte und wie sehr andererseits diese Entwicklung stets politisch kontrovers umkämpft war. Denn es ging ja in der militärpolitischen Diskussion Frankreichs zwischen der Revolution von 1789 und dem Ersten Weltkrieg nie allein um militärische Probleme. Diese waren immer eng verknüpft mit der Frage, ob das Heer wie die Republik eher liberal-konservativen oder radikal-republikanischen Ordnungsmustern folgen sollte.

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Vgl. ebd., Kap. IX.

Adam Marcinkowski und Andrzej Rzepniewski Die Wehrdienst- und Wehrpflichtformen in Polen zwischen der Verfassung von 1791 und der Gegenwart

Es liegt in der Geschichte Polens der letzten 204 Jahre begründet, daß die Perioden uneingeschränkter Souveränität des Landes mit Zeiten der Abhängigkeit von den großen Nachbarstaaten verzahnt waren — sehr lange Perioden, in denen die staatliche Existenz Polens ausgelöscht blieb. Auf sieben Jahrhunderte stolzer Staatsgeschichte folgten zwei Jahrhunderte, in denen die Selbständigkeit Polens entweder bedroht oder völlig verloren war. Das hat sich selbstverständlich auch auf grundsätzliche Weise auf die Frage der polnischen Wehrpflicht ausgewirkt. Das Verhältnis der Polen zur Wehrpflicht — im Gegensatz zu den Bürgern europäischer Großmächte — konnte niemals distanziert und ausgewogen bleiben. Das Schicksal der Polen hat ihnen eine entweder extrem positive oder entsprechend negative Einstellung zur Wehrpflicht aufgezwungen. Die Schlüsselfrage war und blieb: War die Wehrpflicht ein Mittel für oder gegen ihre nationale und staatliche Unabhängigkeit ?

I. Der Untergang der polnischen »Adelsrepublik« 1788-1794 Die knapp sieben Jahre von 1788 bis 1794 waren in der polnischen Geschichte vom Bewußtsein einer dramatisch zugespitzten Lage der »Adelsrepublik« gekennzeichnet. Nicht nur die führenden Politiker, sondern beide Nationen, die polnische und die litauische, waren sich des Ernstes der Lage bewußt. Zwei wichtige Ereignisse beweisen das überzeugend: die Verfassung von 1791 und der Kosciuszko-Aufstand. 1. Die Wehrpflicht in der Verfassung vom 3. Mai 1791 und während der Reformversuche 1788-1792 Die besorgniserregende innere Lage der »Adelsrepublik« sowie ihre Bedrohung von Seiten der mächtigen Nachbarn haben die »patriotische Partei« des Adels zusammen mit König Stanislaus August Poniatowski zu einer vierjährigen Arbeit an der Staatsverfassung angespornt. In diesem Werk machte man sich die positiven Beispiele der um ihre Freiheit ringenden Vereinigten Staaten und des revolutionären Frankreichs zunutze, insbesondere im Hinblick auf militärische Reformen. Kern der militärischen Reformen, die in der Verfassung vom 3. Mai 1791 ihren Ausdruck fanden, war die Abkehr von dem ganz unwirksam gewordenen »Adelslandsturm« und

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Adam Marcinkowski und Andrzej Rzepniewski

das Streben nach einem modernen »Hunderttausend-Mann-Heer«. Die Landesverteidigung sollte nicht mehr eine Aufgabe nur des Adels sein, sondern auch die anderen Stände einbeziehen. Zum erstenmal in der Geschichte Polens sollte der Adel besteuert werden. 10% seines Einkommens nebst 20% des Einkommens der Geistlichkeit sollten in Verbindung mit anderen Steuern und einer Auslandsanleihe die finanzielle Grundlage des Hunderttausenderheeres darstellen. Die Kavallerie sollte sich nach altem Brauch überwiegend aus dem Adel ergänzen. Die übrigen Waffengattungen waren anfänglich auf freiwillige Werbung — hauptsächlich unter den Bauern — angewiesen. Da diese Methode ab 1789 nicht mehr die erwünschten Ergebnisse brachte, führte man am Ende dieses Jahres die Zwangsaushebung ein (ein Rekrut je 50 »Rauchfänge« in den königlichen und geistlichen Gütern und Städten, ein Rekrut je 100 »Rauchfänge« in den Erbgütern und -Städten — wobei »Rauchfang« als Synonym für eine Familie zu verstehen ist). Die Rekruten im Alter von 18 bis 35 Jahren sollten sechs bis acht Jahre lang dienen. Als mittlere Kommandobehörden wurden im November 1789 die Divisionen eingeführt. Sie sollten aus Infanterie-, Kavallerie- und Artillerieeinheiten, dann auch aus Schützenverbänden zusammengestellt werden. Das Heer der polnischen Krone sollte aus vier, das litauische Heer aus zwei Divisionen bestehen. Bis auf die traditionell adlige Kavallerie sollten die übrigen Waffengattungen und Dienste zum großen Teil aus Bauern und armen Stadtbewohnern rekrutiert werden. Damit machte sich die die Militärreform einleitende »Patriotische Partei« die Ideen der Aufklärungsepoche zunutze. In ihrer Propaganda hat sie stets die Überlegenheit des »SoldatenPatrioten« über den Söldner, den »Sklaven in Uniform«, herausgestellt. Das Hundertausenderheer sollte von milizartigen Formationen unterstützt werden, deren Aufstellung geringere Ausgaben verursachen sollte. Zum wunden Punkt der beabsichtigten Heeresreform sollte die übermäßig ausgebaute, aber uneffektive Kavallerie werden. Trotzdem sorgte man auch für die Entwicklung der Artillerie und Genietruppen. Die Verwirklichung dieser militärischen Reformen wurde entscheidend von Geldknappheit gehemmt. Infolgedessen litten sowohl die Ausbildung wie auch Waffenherstellung und -einkauf, vor allem aber wurde die Aufstellung neuer Formationen behindert. So oder so — der östliche Nachbar Polens, das Zarenreich, war selbst durch die beschränkten polnisch-litauischen Militärreformversuche beunruhigt. Der russisch-polnische Krieg von 1792 war die Folge. 2. Der Abbau des polnisch-litauischen Heeres nach dem polnisch-russischen Krieg von 1792 Der Krieg von 1792 und die nachfolgende zweite Teilung Polens hatten die direkte Einverleibung eines großen Teiles von zwei in den Ostgebieten der »Adelsrepublik« stationierten polnischen Divisionen (etwa 28 000 Mann) in die Zarenarmee zur Folge; der Rest wurde entwaffnet. Die Wirtschaftskrise in den bei Polen und Litauen verbliebenen Gebieten führte zunächst zur Verelendung von Offizierkorps und Soldaten, die unbezahlt blieben. Danach zwang sie zum Abbau der Etatstärken. Einen Teil der Truppen übernahm

Die Wehrdienst- und Wehrpflichtformen in Polen

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der Großadel als Privatarmee, die übrigen sollten um 57% verringert werden. Von 36000 Mann sollten nicht einmal 15500 bei den Fahnen bleiben. Die Geldknappheit war jedoch so empfindlich, daß noch nicht einmal Mittel vorhanden waren, den entlassenen Soldaten und Offizieren ihre Verabschiedungsgelder auszuzahlen. Die Truppe vegetierte also den Winter 1793/1794 über dahin und bereitete sich auf ihre Entlassung im März/April 1794 vor. Eine leichte Beute witternd, wurden nun die russischen Werber sehr aktiv, um die polnischen und litauischen Soldaten in die Zarenarmee zu locken. Ihre Anstrengungen brachten jedoch keinen Erfolg. Trotz der unsicheren Zukunft blieben die polnischen und litauischen Soldaten bis März 1794 bei ihren Einheiten. Die Verwirklichung des vom russischen Botschafter in Warschau, Generalleutnant Josef Andrejevitsch Igelström, angestrebten Ausbaus der polnisch-litauischen Truppen führte vielmehr zur Beschleunigung des Kosciuszko-Aufstandes. 3. Die Wehrpflichtformen in der aufständischen Armee zur Zeit der Kosciuszko-Insurrektion von 1794 — eine polnische Variante der »levee en masse«? Im Jahre 1794 versuchte die polnische »Patriotische Partei« den drohenden Niedergang des polnischen Staates abzuwenden. Der nationale Aufstand unter Führung des polnischen Generals Tadeusz Kosciuszko, der am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1776—1783 und am polnisch-russischen Krieg 1792 teilgenommen hatte, richtete sich anfänglich gegen Rußland, dann auch gegen Preußen, das durch die Teilnahme an der Schlacht bei Szczekociny den Aufstand offen bekämpfte. Die Habsburgermonarchie blieb neutral, besetzte jedoch den von den Russen verlassenen südlichen Teil des polnischen Gebiets. Tadeusz Kosciuszko nutzte bei der Aufstellung seiner aufständischen Armee polnische, amerikanische und französische Erfahrungen. Diese Armee sollte aus regulären Truppen, territorialen Milizen sowie einer polnischen Eigenentwicklung bestehen: bäuerlichen »Sensenkämpfer«-Truppen. Dazu aus einem Landsturm, der praktisch alle waffenfähigen Männer umfassen sollte. Aus den Erfahrungen der Jahre 1788—1792 wurde die Idee einer hunderttausend Mann starken Armee aufgegriffen. Der Erlaß des Obersten Nationalrates vom 6. Juni sah die Aushebung je eines Rekruten für die Infanterie »aus je fünf Rauchfängen« vor. Diese Rekruten sollten auch die technischen Truppen der regulären Armee sowie die territorialen Milizen auf der Wojwodschafts- und Kreisebene auffüllen. Die Organisation des Wehrdienstes und die Regelung der Abgaben für militärische Zwecke oblagen den Landbesitzern sowie allen Ebenen der Territorialbehörden. Eine nach obengenannten Grundsätzen aufgestellte Armee mußte zu einem relativ hohen Prozentsatz aus Bauern und Stadtbewohnern bestehen. U m die Moral dieser Armee zu heben und die ärmeren Schichten des Landes zum verstärkten Kriegseinsatz anzuspornen, nutzte Tadeusz Kosciuszko amerikanische und französische Vorbilder, um Grundsätze einer Bürgerarmee zu verwirklichen. Er hat auch die Notwendigkeit sozialer Reformen nach einem Sieg nicht verschwiegen. Es kam darauf an, alle Schichten der Nation für die Idee der Verteidigung des Vaterlandes zu gewinnen.

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Im Laufe eines schweren siebenmonatigen Kampfes gegen russische und preußische Armeen gelang es Kosciuszko, die Stärke seiner regulären Armee auf 83000 Mann zu heben. Die Milizen eingerechnet, überschritt sie die Hunderttausend-Mann-Grenze. Der Einsatz des polnischen und litauischen Volkes während des Kosciuszko-Aufstandes war also bedeutsam. Der Aufstand von 1794 sollte sich im Laufe der Zeit zu einem der ruhmreichsten Höhepunkte der polnischen Geschichte entwickeln. Wenn er auch den Rang der »levee en masse« der französischen Revolution nicht erreicht hat, so nicht wegen eines Mangels an revolutionärem Elan. Eine wichtige Rolle spielte vielmehr auch der Mangel an materiellen Elementen der Macht. Sie existierten in einem so stark industriell entwickelten Staat wie Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts, aber noch nicht in der eher rückständigen Polnisch-litauischen Monarchie.

II. Die Bestrebungen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens 1795—1831 Die 36 Jahre währende Periode nach der dritten Teilung Polens, die sich teilweise mit der napoleonischen Ära deckte, war in der polnischen Geschichte eine Zeit der Reaktion auf die Bemühungen der Teilungsmächte, Polen als Staat von der Bildfläche verschwinden zu lassen. 1. Werbungsgrundsätze bei den Legionen von Generalleutnant Jan Henryk D^browski in Italien 1 7 9 7 - 1 8 0 7 Die Furcht vor der Rache der Teilungsmächte hat nicht nur die aktiven Politiker des Kosciuszko-Aufstandes, sondern auch zahlreiche Offiziere und Soldaten zur Emigration bewogen. Allen gemeinsam war jedoch der Gedanke der Unabhängigkeit Polens. Trotz der schlimmen polnischen Erfahrungen mit der Hilfsbereitschaft der französischen revolutionären Bewegung für den Kosciuszko-Aufstand waren dennoch die Hoffnungen der polnischen Emigranten nach 1794 mit eben dieser Revolution verknüpft. Von Bonaparte unterstützt, begann Anfang 1797 Generalleutnant J. H. D^browski, in der Lombardei polnische Freiwilligentruppen — Legionen genannt — aufzustellen. Diese Legionen — mit französischen Halbbrigaden vergleichbar — bestanden aus drei Waffengattungen: Infanterie, Kavallerie und Artillerie. D^browski — ein Berufsoffizier der alten sächsischen Schule — hatte den Geist der neuen Zeit begriffen. Mit sicherer Hand stellte er seine Truppen auf, gleichermaßen ihre militärische Ausbildung wie ihren Bürgersinn fördernd. Nur der beherzte, von seiner Sache überzeugte Legionär verstand es, »la tactique de tirailleurs« wirksam anzuwenden. Nur er vermochte es, in zahlreichen Kämpfen alles Neue der französischen, österreichischen, russischen und englischen Taktik zu erlernen und einzusetzen. Das zeigte sich in jeder neuen Schlacht bei allen Waffengattungen der Legionen. Die Legionen wurden zu einer großen Schule — zuerst für 6000 Freiwillige, die im Mai 1797 zwei Verbände dieser Art auffüllten, dann — bis 1807 — für insgesamt 33 000 Legionäre, die General D^browski unter seinem Befehl hatte. Merkwürdig, daß ein Großteil

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seiner Soldaten aus ehemaligen Gefangenen oder Deserteuren bestand, die — zwangsweise in fremde Uniformen gepreßt — immer eine Gelegenheit zu finden verstanden, sich den Weg zu dem berühmten General zu bahnen, dessen Taten im Text der polnischen Nationalhymne ihren Ausdruck fanden. Vielleicht "kann man sagen, daß es gerade die polnische Katastrophe, die Niederlage des Kosciuszko-Aufstandes und die dritte Teilung Polens 1795, war, die das polnische Nationalgefühl förderte. Der Pole nach 1795 wollte kein fremder Söldner bleiben; sobald er eine Gelegenheit dazu fand, meldete er sich zu den Fahnen der Legionen. Eine bedeutsame Rolle spielten auch die großen Leitgedanken der französischen Revolution: Liberte, egalite, fratemite, die das Bürgerdenken der Legionäre D^browskis so tief beeindruckten. Nicht ohne Grund besaßen sie von Anfang an, das heißt seit Januar 1797, das Bürgerrecht der Lombardei. 2. Wesen und Formen der Wehrpflicht bei der Armee des Großherzogtums Warschau 1806-1814 Nach der Niederlage Preußens und Rußlands 1806 und 1807 schuf Napoleon 1807 (Tilsiter Vertrag mit Rußland und Preußen, Dresdner Verfassung) das Großherzogtum Warschau und machte den Sachsenkönig Friedrich August zum Erbmonarchen. Das Großherzogtum bestand aus den preußischen Anteilen der polnischen Teilungen von 1793 und 1795, nach dem Feldzug von 1809 kamen die bisherigen österreichischen Anteile hinzu. Es ist nicht zu leugnen, daß Napoleon sowohl die Legionen D^browskis wie auch das Großherzogtum Warschau in gewissem Sinne instrumental einsetzte. Andererseits sahen die Polen im Empire Napoleons eine Chance, ihren Staat wiederherzustellen, um dann die von drei Nachbarmächten besetzten Gebiete der alten »Adelsrepublik« mit dem Großherzogtum zu vereinigen. Die Mehrheit der politischen Elite wie auch die beiden Völker — das polnische und das litauische — unterstützten daher den »Kaiser der Franzosen«. An der Wende 1806/1807 begann General D^browski, das polnische Heer aufzubauen. Nach früherem polnischen Brauch wurde zuerst je ein Rekrut von je zehn »Rauchfängen« und je ein ausgerüstetes Pferd ausgehoben, danach verringerte man die Anzahl der zum Dienst bei der Armee gezogenen Pferde: Man zog je ein Pferd von je 40 »Rauchfängen«. Jedes Vorwerk war verpflichtet, einen Schützen zu stellen. Die Praxis gestaltete sich schwieriger. Die früheren preußischen Aushebungen von Rekruten und die finanzielle Ausbeutung der polnischen Gebiete sowie die neuen Einquartierungen des 30 000 Mann starken Korps von Marechal Louis Nicolas Davout ließen eine derart gespannte ökonomische und demographische Lage entstehen, wie sie noch Ende des 18. Jahrhunderts undenkbar gewesen war. Auch die Lage des polnischen Offizier- und Unteroffizierkorps bereitete General Dabrowski und dann — sei Ende 1807 — dem neuen Kriegsminister und späteren Oberbefehlshaber, Prinz Josef Poniatowski, erhebliche Schwierigkeiten. Nicht alle Führungskader der Legionen hatte D^browski aus Italien nach Polen zurückführen können. Ein Teil der Offiziere der alten polnischen Armee zeigte sich den Anforderungen der neuen Zeiten nicht gewachsen. Dagegen stellte sich der Großteil der bei der preußischen Armee neu

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ausgebildeten Offiziere und Unteroffiziere polnischer Herkunft relativ gut auf die neuen Anforderungen um. Es bildete sich recht schnell ein einheitliches Führerkorps, was sich in einer guten Ausbildung des Heeres widerspiegelte. Ein Sonderwunsch Napoleons betraf die Schöpfung eines adligen »kavalleristischen Landsturms«. Im übrigen war die Truppe nach französischem Muster gegliedert und ausgebildet. Es gab drei Legionen — aus verbundenen Waffen zusammengestellt — zu je 13 000 Mann, dazu noch polnische Truppen bei der französischen Armee und selbst bei der kaiserlichen Garde. Im Zuge der Anlehnung an die französische Ausbildung und Organisation wurden die Legionen zu Divisionen ausgebaut. Ihre Ausbildung erreichte ein hohes Niveau: Rekruten entwickelten sich schnell zu vollwertigen Soldaten. Das Heer des Großherzogtums Warschau bestand die Feuertaufe des Krieges gegen Osterreich 1809 glänzend, wurde dann auf 75000 Mann ausgebaut und nahm in dieser Stärke an Napoleons Feldzug gegen Rußland teil, schließlich noch auf 87000 Mann erweitert. Dazu kamen die erwähnten polnischen Truppen beim französischen Heer. Die polnischen Verluste im Feldzug 1812 waren relativ schwer: Sie näherten sich 70000 Mann, dazu kamen noch 30000 Gefallene und Vermißte in früheren napoleonischen Kriegen. Erwähnenswert ist der relativ schnelle und gelungene Wiederaufbau der polnischen Kavallerie nach der Niederlage von 1812. Im Gegensatz zur französischen Kavallerie, die 1813/14 ihre frühere Qualität nicht wieder zu erreichen vermochte, hat die polnische Kavallerie nach 1812 das frühere Ansehen des Kaisers Napoleon bis zum Ende vollständig bewahrt. Frankreichs Niederlage ließ die Absicht der Polen, ihren Staat in seinen historischen Grenzen wiederaufzubauen, nicht Wirklichkeit werden. Die bisherigen menschlichen Verluste und materiellen Entbehrungen schienen 1814/15 umsonst gewesen zu sein. Selbst die staatliche Existenz Polens stand in jener Zeit unter einem Fragezeichen, bis das Interesse des Zaren Alexanderl. an Polen 1814 die Wende brachte. 3. Der Wehrdienst im Königreich Polen. Das Beispiel der Armee eines nichtsouveränen Staates 1815-1830 Das Königreich Polen war 1815 ein Ergebnis des Wiener Kongresses. Polnischer König wurde in Personalunion der russische Zar. Das Territorium entsprach dem des Großherzogtums, allerdings mit Ausnahme Westpolens (der Raum um Posen), das dem Königreich Preußen eingegliedert wurde. Alexander I. gestand dem Königreich eine äußerst liberale, auf polnischen Entwürfen beruhende Verfassung zu. Im April 1814 nahm in Fontainebleau Alexander I. mit der polnischen, bisher dem Kaiser der Franzosen treu gebliebenen Generalität Verbindung auf, eine Initiative, die den Wiederaufbau des polnischen Heeres ermöglichte. Des Zaren älterer Bruder, Großfürst Konstantin, wurde zum Statthalter im Königreich Polen und Oberbefehlshaber des polnischen Heeres ernannt. Die Soldaten der polnischen Armee wurden 1816—1830 auf den König von Polen vereidigt. Im Vergleich zu dem Heer des Großherzogtums Warschau schrumpfte die Sollstärke des Heeres des Königreichs Polen erheblich. Die Werbung stellte also kein Problem

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mehr dar, da aus der Gesamtheit der Männer im Alter von 20 bis 30 Lebensjahren kaum 12% zum Wehrdienst gezogen wurden — überwiegend arme Bauernsöhne, seltener junge Männer aus der Stadtbevölkerung. Der Wehrdienst sollte ähnlich wie in Frankreich sechs Jahre dauern. Es war möglich, ihn für weitere fünf oder zehn Jahre zu verlängern. Das Offizierkorps stammte natürlich aus der Armee des Großherzogtums Warschau und ergänzte sich aus dem polnischen Adel nicht nur der russischen, sondern auch der preußischen und österreichischen Gebietsanteile. Beförderungen der Offiziere und Unteroffiziere waren sehr selten. Bei dem bestehenden System konnten auch keine nennenswerten Reserven ausgebildet werden. Im Vergleich mit dem polnischen Heer der napoleonischen Zeit war das Heer des Königreichs Polen in zweierlei Hinsicht rückständig. Unter dem unmittelbaren Einfluß von Konstantin schwand der bisherige Bürgergeist, was sich am krassesten in Konstantins Versuchen widerspiegelte, Körperstrafen für Soldaten einzuführen. Die im napoleonischen Geist erzogene polnische Generalität und das Offizierkorps empfanden diese Art der Strafe als erniedrigend. Im Laufe der Zeit gelang es, Konstantin von ihrer Anwendung abzubringen. Das einst während der napoleonischen Kriege so gut ausgebildete polnische Heer war in der 15jährigen Zeit des Königreichs Polen erheblich geringer taktisch geübt. Statthalter Konstantin erwies sich dagegen als ein überzeugter Enthusiast von effektvollen Paraden auf dem Warschauer Sachsenplatz, wo die Formationen des polnischen Heeres über jedes vernünftige Maß gedrillt wurden. Nicht Initiative und Einfallsreichtum des Soldaten und Offiziers, sondern Bravour und blinde Disziplin wurden von Konstantin verlangt. Allgemein gesagt, wurde die 15 Jahre währende Ära des Königreichs Polen für das polnische Heer zu einem Vorspiel seiner Rolle in den Jahren 1944 bis 1989, besonders aber 1949 bis 1956: Das war die Rolle des Militärs eines nichtsouveränen Staates. Was hier von ihm verlangt wurde, widersprach seinem tiefsten Wesen; weder entsprach es dem polnischen Nationalcharakter noch seinem — in der napoleonischen Zeit so tief verwurzelten — Bürgergeist. 4. Die während des Novemberaufstandes 1830/1831 herausgebildeten Dienstpflichtformen Gegen die russische Vorherrschaft, insbesondere gegen Zar Nikolaus I. und den Großfürsten Konstantin, richtete sich der Novemberaufstand der polnischen patriotischen Bewegung 1830/31. Getragen vor allem von Adel, städtischem Bürgertum und Offizierkorps hatte der Aufstand durchaus Erfolgschancen, zumal es gelang, ein eigenständiges polnisches Heer aufzubauen und einen regulären Krieg bis in das Herz des Königtums hineinzutragen. Insgesamt scheiterte er jedoch an unklaren Zielsetzungen und der Unfähigkeit der politischen Führung der Aufständischen, durch eine radikale Agrarreform die breite bäuerliche Schicht auf dem Lande für die Sache zu gewinnen. Die militärische Führung, teilweise an einer Kompromißlösung mit dem Zaren interessiert, agierte nur halbherzig und wenig energisch, so daß nach einer schweren Niederlage der Polen am

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26. Mai 1831 bei OstroJ^ka die Erstürmung Warschaus Anfang September 1831 durch die Russen das Schicksal des Aufstandes besiegelte. Das Königreich Polen verlor mit der Auflösung des Reichstags und seines Heeres praktisch die Selbständigkeit und wurde nach russischem Vorbild in Gouvernements aufgeteilt. Ein Großteil der geistigen und militärischen Elite floh nach Deutschland und vor allem nach Frankreich, wo ihr, getragen vom Geist des Liberalismus, ein triumphaler Empfang bereitet wurde. Zu Beginn des Aufstandes war das Heer kaum 27000 Mann stark und verfügte über nur 96 Geschütze. Die aufständische Regierung ordnete an, bei allen Infanterie- und Kavallerieregimentern zusätzliche Kompanien und Schwadronen aus den früher entlassenen Soldaten zu formieren. Außerdem sollten 80 Bataillone »garde mobile« aufgestellt werden — eine Grundlage für den späteren Ausbau der regulären Armee. Dank dieser Vorhaben erreichte das aufständische Heer schon im Frühjahr 1831 eine Stärke von über 80 000 Mann, was ihm erlaubte, im Krieg gegen Rußland zunächst die Initiative zu ergreifen. In der veränderten politischen Lage griff man auf die Tradition der Legionen von D^browski und des Heeres des Großherzogtums Warschau zurück. Die wegen ihrer Servilität dem Großfürsten Konstantin gegenüber verhaßten Generäle und Offiziere mußten die Fahnen verlassen. Sie wurden durch jene Offiziere ersetzt, die früher von Konstantin aus dem Dienst ausgestoßen worden waren. Die Reihen des Heeres füllten die jungen, vom Geist der Freiheit durchdrungenen Freiwilligen, denen leider Ausbildung und Erfahrung fehlten. Die wachsende aufständische Armee begann schnell, am Mangel an erfahrenen Offizieren und Unteroffizieren zu leiden. Außerdem machten sich die Folgen der Konstantinischen Erziehung bemerkbar: an entscheidenden Stellen unzulängliche Initiative und die Unfähigkeit zur richtigen Einschätzung des Faktors Zeit, von revolutionärem Elan ganz zu schweigen. Unzureichende Fürsorge für den Soldaten machte dessen Leben noch schwerer, was sich im Sommer 1831 in Desertionen widerspiegelte — einer bis 1815 bei der polnischen Armee fast unbekannten Erscheinung. Die im Laufe des Jahres 1831 sichtbar werdende fehlende Unterstützung seitens eines passiven und abwartenden Europas ließ dem Zaren Nikolaus I. freie Hand, die »polnische Frage« nach seinem Geschmack zu lösen. Was er dann auch tat.

III. Von der Karte Europas verschwunden — eine staatenlose Nation 1832—1918 Wenn auch das Großherzogtum Warschau und das nunmehr völlig von Rußland abhängige Königreich Polen gebietsmäßig an die Grenzen der »Adelsrepublik« nicht im entferntesten heranreichten und ihre Selbständigkeit begrenzt war, hatten diese wenigstens gewisse Formen eines staatlichen Daseins Polens dargestellt. Von 1832 bis Ende 1918 fehlten selbst solche rudimentären Ansätze. Diese 87 Jahre dauernde Periode bedeutete einen Tiefstpunkt der Geschichte Polens. Und alles im Wesen dieser jetzt staatenlosen Nation nahm andere Erscheinungsformen an als irgendwo anders. So auch die Wehrpflicht, mit der sich die polnische Nation nunmehr konfrontiert sah.

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1. Der Wehrdienst in der Urform des polnischen Untergrundstaates. Der Januaraufstand 1863/64 Dem Januaraufstand gingen polnische Befreiungsversuche voran, die insbesondere in Galizien und Großpolen (Raum Posen) 1846 bis 1848 einen relativ breiten Widerhall fanden und auf die polnischen Planungen vor dem Aufstand 1863 Einfluß genommen haben. Da ein eigener — selbst ein nichtsouveräner — Staat fehlte, mußten sich alle Aufstandsabsichten auf einen Guerillakrieg beschränken, der zwangsläufig die erste Etappe jedes Befreiungskrieges darstellt. Erst nachdem ein Raum freigekämpft sein würde, der zur Basis weiterer Kampfhandlungen eines »offenen« Krieges werden konnte, sollte der Guerillakrieg entweder beendet oder zur Hilfsform des eigentlichen Befreiungskrieges reduziert werden. Unter den aufständischen Führern gab es solche, die danach strebten, in den vom Feind gesäuberten Gebieten die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und dann eine reguläre Armee aufzubauen. Die anderen dagegen wollten patriotische Parolen mit sozialen verknüpfen, um auf diese Weise die Masse der Bauern zu gewinnen und den nationalen Freiheitskampf mit dem Kampf um die Abschaffung der Leibeigenschaft zu verbinden. Das schien um so wichtiger, als man in allen Aufstellungsplänen der aufständischen Armee in jedem Bataillon je vier »Sensenkämpfer«-Kompanien neben ein bis zwei Schützenkompanien vorsah. Und ähnlich wie im Kosciuszko-Aufstand 1794 sah man auch 1863/64 als Sensenkämpfer grundsätzlich die Bauern vor. Da aber vor und nach dem Ausbruch des Aufstandes dessen Anführer nicht imstande waren, die Abschaffung der Leibeigenschaft eindeutig zu klären, blieben die erhofften Bauern in großer Zahl den aufständischen Reihen fern. Im Ergebnis erreichten die Aufständischen nie die von Theoretikern und Praktikern des Befreiungskampfes erwartete Stärke. Andererseits begannen die von ihnen vor 1863 unterschätzten russischen Behörden eine sehr energische, konsequente und vor allem rücksichtslose, oft barbarische Bekämpfung der zersplitterten und nicht zentral gelenkten aufständischen Truppen. Insgesamt nahmen an den Kämpfen ungefähr 120000 Aufständische teil, wobei aber ihre Stärke in keinem Moment 30000 Mann überschritt. Der breite Zustrom von Freiwilligen, vor allem aus den Adelsfamilien, wurde vom unbarmherzigen Terror der russischen Behörden und Truppen gegen alle Adels- und Bauernfamilien auf dem Lande, die der Sympathie und Unterstützung von aufständischen Truppen verdächtigt waren, gehemmt. Niederbrennen von adligen Höfen und Bauernhäusern, Beschlagnahme von Gütern, öffentliche Hinrichtungen von gefangengenommenen Aufständischen gehörten zur täglichen Wirklichkeit der Jahre 1863/64. In der Praxis des Januaraufstandes wechselte die Herrschaft. Auf dem Lande herrschten die Russen dort, wo sie ihre Truppen massiert einsetzen konnten. In größere Wälder gingen sie ungern. In den Städten dagegen waren und blieben die russischen Behörden die »offiziellen Herrscher«. Aber im Untergrund gab es ein relativ gut eingespieltes und anstandslos funktionierendes geheimes polnisches Verwaltungsnetz, dessen Anordnungen von der polnischen und litauischen Bevölkerung im allgemeinen befolgt wurden. Dieses Netz versorgte polnische Partisanengruppen auf dem Lande und stärkte den Wider-

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standswillen der polnischen und litauischen Bevölkerung in den von Russen besetzten Städten, Ortschaften und Dörfern. Auf solche Weise entstand bereits 1863/64 eine Urform des polnischen Untergrundstaates, so wie wir ihn aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges kennen. Besondere Wirksamkeit erreichte die aufständische »Nationale Regierung« in Warschau, als deren Leitung von Romuald Traugutt, einem ehemaligen russischen Offizier, im Oktober 1863 übernommen wurde. Er behielt sie bis zum April 1864. Im Laufe von zwei Jahren von 1863 bis 1864 ließ das ungleiche Kräfteverhältnis die Idee der Führer des Aufstands, die russischen Besatzungstruppen in Polen von ihrem Hinterland abzuschneiden, nicht wirksam werden. Der Aufstand von 1863 blieb jedoch eine wichtige Quelle der Erfahrung für polnische Freiheitskämpfer bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges. 2. Die Polen angesichts der Wehrpflicht in den Heeren Rußlands, Preußens und Österreich-Ungarns Vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den europäischen Staaten pflegten die drei Annexionsmächte jene jungen Polen zum Wehrdienst heranzuziehen, die ihnen verdächtig schienen, an der polnischen Unabhängigkeitsbewegung beteiligt zu sein. Danach strebten die preußischen und vor allem die russischen militärischen Behörden danach, die polnischen Rekruten für möglichst lange Zeit in möglichst großer Entfernung von Polen dienen zu lassen. Polen waren so manches Mal in Gewissenskonflikte verstrickt, wenn sie z.B. gegen die für ihre Freiheit kämpfenden kaukasischen Völker oder 1870/71 gegen Frankreich geschickt wurden. Diese Probleme nahmen noch zu nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die alle jungen Polen damit bedrohte, für ihre Feinde gegen ihre Freunde kämpfen zu müssen. Die logische und einzig mögliche Konsequenz war eine extrem negative Einstellung gegenüber dem Dienst in den Armeen und Flotten der Annexionsmächte. In einer anderen Lage befanden sich jene jungen Polen, die eine Karriere als Berufsoffiziere oder -Unteroffiziere bei den Streitkräften der Annexionsmächte anstrebten. Die meisten Fälle dieser Art gab es bei der russischen, die wenigstens bei der preußischen Armee und der Flotte des deutschen Kaisers. In der Mehrzahl betraf dies die Söhne verarmter Adelsfamilien, die keine Mittel für eine zivile Ausbildung besaßen. Seltener geschah etwas, was die Polen nach ihrem größten Dichter Adam Mickiewicz eine »Konrad-Wallenrod-Idee« nannten (Unterwanderungsprinzip): Danach tritt in einem fiktiven historischen Epos von Mickiewicz der Litauer Konrad von Wallenrode, 1391—1393 Hochmeister des Kreuzritterordens, in den Orden ein, um sein Land zu rächen. Es kam dabei also darauf an, die polnischen Adelssöhne absichtlich ins Milieu des Feindes zu schicken, um es »von innen« kennenzulernen; vor allem aber darauf, den Offizier- und Unteroffizierberuf zu erlernen, um in weiterer Zukunft bei der ersehnten Wiedergeburt Polens die eigenen Streitkräfte aufbauen zu können. Diese Idee war auch jenen Polen nicht ganz fremd, die im Zuge der allgemeinen Wehrpflicht bei den Armeen und Flotten der Annexionsmächte den Soldatenberuf erlernten.

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3. Der Wehrdienst in den polnischen militärähnlichen Organisationen 1908—1914 Schon in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts und besonders seit 1908 entstanden zahlreiche polnische militärähnliche Organisationen — auch der Skauting (Pfadfinderbewegung) war sehr aktiv dabei. Sie befanden sich nicht nur auf polnischem Gebiet, sondern auch in polnischen Immigrationszentren in Deutschland und in den Vereinigten Staaten. Sie befaßten sich mit Leibesübungen, Schießausbildung, kurz, mit Vorbereitung von Kadern für eine künftige polnische Militärorganisation. Solange es kein freies Polen gab, konnte die Grundlage des Wehrdienstes nur auf freiem Willen beruhen. Für später, nach der Befreiung, sah man eine allgemeine Wehrpflicht in einer von den europäischen Mächten entwickelten Form vor. Die wichtigste dieser Organisationen war der 1908 von Jozef Pilsudski im österreichischen Gebietsanteil als eine elitäre Führungsorganisation geschaffene illegale »Bund des aktiven Kampfes«. Pilsudski, im russischen Polen von der zaristischen Geheimpolizei verfolgt, nahm selbst an den Gesprächen mit den k. u. k. Offizieren, die durchweg polnischer Nationalität waren, nicht teil, um sich nicht durch Kontakte mit Militärbehörden der Besatzungsmacht zu kompromittieren. Selbstverständlich bestand ein Gegensatz zwischen den Bestrebungen von polnischen paramilitärischen Organisationen, die Kader für künftige polnische Armeen aufbauen wollten, und den Mobilisierungsabsichten der Annexionsmächte. Dieser Gegensatz war durch politische Vereinbarungen mit österreichisch-ungarischen, nach Kriegsausbruch auch mit russischen Militärbehörden gemildert. Jozef Pilsudski, der bei diesen Vorbereitungen eine wesentliche Rolle zu spielen begann, sah als vorrangige Rolle der polnischen militärähnlichen Organisationen die Vorbereitung von Kadern, weniger für den Kampf an den Fronten, als vielmehr für eine Partisanentätigkeit im rückwärtigen Gebiet des russischen Heeres im Königreich Polen vor. 4. Der polnische Gewissenskonflikt: Dienstpflicht bei den Armeen der Annexionsmächte, freiwilliger Dienst bei den polnischen Formationen Die Massenheere Rußlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns, im August 1914 aufgestellt, haben im Ersten Weltkrieg bis 1916 ungefähr drei Millionen wehrfähiger Polen mobilisiert, die der Wehrpflicht der jeweiligen Staaten unterlagen. Sie fühlten sich — soweit sie an die Front in Polen geworfen wurden — in einen für sie sinnlosen und tragischen Kampf verwickelt. Für fremde Interessen sollten sie sich gegenseitig töten, für fremde Interessen sollten sie ihr eigenes Land verwüsten. Und die Kriegsmaschinerie aller Annexionsmächte war in den ersten Jahren dieses Krieges leistungsfähig genug, ihre Soldaten polnischer Nationalität in diesem sinnlosen Totentanz bei der Fahne zu halten. Die scheinbar einzig mögliche Lösung, die Gefangenschaft — soweit überhaupt möglich —, brachte zusätzliche Erniedrigungen mit sich und konnte nicht alle Probleme lösen. Nur die Gefangennahme an der französischen, oder — seit 1915 — an der italienischen Front war mit der Perspektive verbunden, vielleicht die von 1917 an in Frankreich aufgestellte Armee des ehemaligen k. u. k. Generalleutnants Jozef Haller zu erreichen, die unter anderem aus polnischen Immigranten bestand.

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In einer anderen Lage befanden sich die Polen, die in von Rußland und Österreich anerkannten Legionen Dienst taten, seit August 1914 durchweg Angehörige der polnischen Militärorganisation im österreichisch-ungarischen, seltener im russischen Machtbereich. Nach Kriegsausbruch füllten sie die Reihen der polnischen »Legionen« bei der k . u . k . Armee und der »Legion von Pulawy« im russischen Heer. Sie konnten hoffen, einen langen und dornenvollen Weg hin zu Polens Freiheit betreten zu haben. Ihr Vorhandensein gab den polnischen Politikern die Berechtigung, zunächst die Frage einer begrenzten Autonomie, im weiteren Verlauf des Krieges die der nationalen Unabhängigkeit Polens in die politische Diskussion einzubringen. Peinlich genau wurde deshalb auch darauf geachtet, sie in irgendeiner Form einem polnischen politischen Repräsentationsgremium zu unterstellen (beim Wiener Parlament und bei der Duma), nicht direkt »fremden« Kommandobehörden. Sie dienten ausschließlich freiwillig, ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz von ihnen entstammte der polnisch-litauischen Intelligenz. Die wichtigste Rolle unter ihnen spielten in den Jahren 1914—1916 die aus drei Brigaden mit sechs Schützenregimentern zusammengesetzten »Legionen« von Pil sudski. Die Verluste dieser polnischen Einheiten während der Kriegseinsätze waren verhältnismäßig hoch. Ab 1917 kamen zu den bisherigen polnischen Formationen die Einheiten der erwähnten Armee von General Haller in Frankreich sowie von drei schwachen polnischen Korps in Rußland hinzu — aufgestellt aus in der ehemaligen Zarenarmee dienenden Polen. Das Schicksal aller dieser freiwilligen Formationen — bis auf die Soldaten der HallerArmee — war dramatisch; aber am Kriegsende Oktober/November 1918 stellten sie erfahrene und bewährte Kader für eine künftige polnische Armee dar. Die damals völlig intakte und erstklassig ausgerüstete Haller-Armee bestand aus freiwilligen polnischen Immigranten aus Frankreich und den USA sowie aus ehemaligen Gefangenen der preußischen und der k.u.k. Armee. Diese den regulären Formationen entstammenden Kader ergänzten die Freiwilligen der geheimen »Polnischen militärischen Organisation« (Polska Organizacja Wojskowa), die im besetzten Polen — besonders unter der deutschen Okkupation — in den letzten Kriegsjahren systematisch ausgebaut wurde.

IV. Die 21 Jahre der Unabhängigkeit 1918-1939 Die polnische Zweite Republik war nach einem mehrjährigen komplexen politischen Prozeß, der am 11. November 1918 abgeschlossen war, entstanden. Bis sie mit den letzten Schüssen des deutschen Polenfeldzugs 1939 unterging, gilt sie in der neueren Geschichte Polens als erster souveräner polnischer Staat seit 1794. Die labile ökonomische Lage dieser Republik setzte allerdings ihrer politischen Unabhängigkeit bestimmte Grenzen; dennoch konnte sie ihre Innen- und Außenpolitik selbständig gestalten. Das traf auch für ihre Wehrpflicht zu.

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1. Wesen und Formen der Wehrpflicht im wiedergeborenen Polen während seines Kampfes um die Staatsgrenzen 1918—1921 Die Wiedergeburt des polnischen Staates, nachdem er 123 Jahre nicht existiert hatte, rief verständliche Freude und Genugtuung unter den Polen hervor. Andererseits dämpften die schrecklichen menschlichen und materiellen Verluste des Krieges und eine allgemeine Kriegsmüdigkeit den Wehrwillen von Hunderttausenden nach Polen zurückkehrender Soldaten und Gefangenen. In konkreten Zahlen: bei den preußischen Streitkräften waren 110000, bei den österreichisch-ungarischen 220000, beim russischen Heer und der Flotte ungefähr 200000 Soldaten polnischer Nationalität gefallen oder wurden vermißt. Unter diesen Umständen blieben die Revolutionen in Rußland und in Deutschland ebenfalls nicht ohne Eindruck auf die Gefühle der kriegsmüden Polen. Diese Lage führte zu einer unentschiedenen Haltung der Militärbehörden des neuentstandenen polnischen Staates in der Frage freiwilliger Eintritt oder Aushebung von ersten dienstpflichtigen Jahrgängen. In Großpolen und Oberschlesien war der freiwillige Eintritt in die Armee zur Regel geworden. Im ehemaligen russischen und österreichischungarischen Gebietsanteil wuchs das polnische Heer bei anfänglich überwiegender Freiwilligenwerbung schon Mitte 1919 auf 110000 Mann. Die im ehemaligen preußischen Gebietsanteil — insbesondere in Großpolen — entstandenen Truppen erreichten im Mai 1919 eine Stärke von 72000 Mann — dann wurden sie in das polnische Heer eingegliedert. Das Vorläufige Gesetz über den Wehrdienst vom März 1919 wurde zur rechtlichen Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht. Im Jahre 1919 wurde das militärische Ersatzwesen aufgebaut. Im Verlauf der langwierigen Kämpfe an den Ost- und Westgrenzen wuchs die Stärke des Heeres unaufhaltsam — trotz schmerzlicher Verluste. Die dramatischen Sommermonate 1920, als Warschau von der Roten Armee bedroht wurde, brachten einen noch nie dagewesenen Zustrom von Freiwilligen. Insgesamt kann man ihren Anteil an der Gesamtstärke des Heeres auf ungefähr 30% schätzen. Trotz der Verluste an Toten und Vermißten, die bis Ende 1920 ungefähr 250000 Mann erreichten, hat das polnische Heer bis zum Kriegsende die Gesamtstärke von fast einer Million zu halten vermocht. Unabhängig davon entstanden die schlesischen Truppen, örtliche polnische Freiwilligentruppen in Oberschlesien, die während dreier kriegsähnlicher Aufstände 1919, 1920 und 1921 gegen die westlichen Anliegerstaaten für die Westgrenze Polens in Schlesien kämpften. Sie wurden von freiwilligen Offizieren und Soldaten — teilweise mit Legionerfahrung — aber auch von beherzten Schuljungen aus dem ganzen Staatsgebiet unterstützt. Ihre Stärke betrug vor dem ersten Aufstand am 1. August 1919 etwa 23200 Vereidigte, lediglich mit 6200 Gewehren und Pistolen bewaffnet. Ihre Bewaffnung und Ausrüstung besserte sich im Laufe der Zeit. Am Höhepunkt der Kämpfe — am 15. Juni 1921 — wuchsen die Reihen der Aufständischen auf 50300 Mann an.

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2. Wehrpflicht in der Zweiten Republik: Beispiel eines souveränen Staates mit beträchtlichem Minderheitenanteil 1921—1939 Die von blutigen Verlusten angeschlagene Nation und das zerstörte und von einer langjährigen Okkupation vollständig ausgeplünderte Land sah sich Anfang 1921 vor enorme Aufgaben gestellt: Das Heer wurde demobilisiert und die Grundlagen seiner Friedenspräsenz in den Gesetzen über die allgemeine Wehrpflicht von 1924 und 1938 festgelegt. Die Wehrpflicht erfaßte Bürger zwischen dem 21. und 60. Lebensjahr. Der Dienst bei den Heeres- und Fliegerverbänden sollte zwischen 18 und 24 Monate, bei den Grenztruppen 24 Monate und bei der Kriegsmarine 27 Monate dauern. In der Reserve blieben Soldaten bis zum 40., Offiziere bis zum 50. Lebensjahr. Abgestimmt in polnisch-französischen Generalstabsgesprächen — Frankreich hatte seit Ende 1918 Polen wirksam unterstützt und 1921 ein Bündnis mit anschließender Militärkonvention geschlossen —, betrug die Friedensstärke 30 Infanteriedivisionen und 10 Kavalleriebrigaden; 17000 Offiziere sowie 275000 Unteroffiziere und Mannschaften stellten den Friedensetat dar. Dies überforderte jedoch die vorhandenen ökonomischen Möglichkeiten der geschwächten Wirtschaft Polens. Zwei negative Entwicklungen waren die Folge. Vom Friedenshaushalt der Streitkräfte mußte ein zu großer Anteil für die Betriebskosten ausgegeben werden: zu wenig Geld blieb also für die Erneuerung der abgenutzten und heterogenen Ausrüstung. Und im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Heeren war das polnische nicht imstande, im Zuge seiner Mobilmachung die Zahl der Infanteriedivisionen zu verdoppeln. Praktisch konnten die 30 Infanteriedivisionen des Friedensheeres nur von 10 Reserve-Infanteriedivisionen ergänzt werden. Die polnischen Nachkriegshistoriker sind zu dem Schluß gekommen, daß 1922 eine Begrenzung des polnischen Friedensheeres auf nur 20 Infanteriedivisionen es erlaubt hätte, genügend Reserven für 40 Infanteriedivisionen des Kriegsheeres auszubilden und damit einen bedeutend höheren Prozentsatz des Friedensbudgets — von 1923 an — für Rüstungszwecke freizumachen. Damit hätte man im Endergebnis im Jahre 1939 über ein besser ausgerüstetes und nicht schlechter ausgebildetes Heer verfügt — allerdings mit einer geringeren Zahl von ausgebildeten Reserven, die 1939 auf 3,3 Millionen Mann geschätzt wurden. Diese Situation hat sich negativ auf die Modernisierungsmöglichkeiten des polnischen Heeres in den dreißiger Jahren ausgewirkt, das deutlich sichtbar von der schnell ausgebauten und mit moderner Technik ausgerüsteten Roten Armee einerseits und der deutschen Wehrmacht andererseits überholt wurde. Es war aber nicht nur die Frage der ungenügenden Finanzmittel und Fertigungsmöglichkeiten in einem industriell unterentwickelten Lande, sondern auch eine Frage des Mangels an technisch ausgebildeten jungen Leuten bei den zum Wehrdienst berufenen Jahrgängen — insbesondere während und nach der großen Krise. Eine weitere beträchtliche Komplikation kam hinzu. Die polnischen Gesetze über die Wehrpflicht mußten den Normen des Internationalen Rechts wie auch der polnischen Verfassungen von 1921 und 1935 gerecht werden, die auf dem Grundsatz rechtlicher Gleichheit aller Staatsbürger beruhten. In der Praxis aber waren die politischen und mili-

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tärischen Behörden in Polen von 1918 bis 1939 nie von der unbedingten Loyalität der nationalen Minderheiten überzeugt, die in jener Zeit ungefähr ein Drittel aller Bürger ausmachten. Die Behörden fühlten sich also veranlaßt, eine Personalpolitik zu betreiben, die in bestimmten, für die Verteidigungsfähigkeit des Staates wichtigen Schlüsselstellungen nur Bürger polnischer Nationalität zuließ. Diese Politik schwankte zwischen verschärfenden und entspannenden Maßnahmen. So stellten z.B. in den letzten Vorkriegsjahren unter den Berufsoffizieranwärtern die Nationalpolen zwischen 96 und 98 %, unter den Unteroffizierschülern 95 %. Im letzteren Fall hatte der seit 1935 mit dem Dienstposten des Generalinspekteurs der Streitkräfte betraute Divisionsgeneral (seit November 1936: Marschall von Polen) Edward SmiglyRydz den Regimentskommandeuren die Berechtigung erteilt, mehr als 5 % Soldaten aller Minderheiten an die Unteroffizierschulen abzukommandieren. Wichtige Stellen wie MG-Schützen und Richtschützen, Panzerbesatzungen, fliegendes Personal sowie ganze Waffengattungen wie das Nachrichtenwesen, die Kriegsmarine, Gendarmerie, Eisenbahnund Kraftfahrtruppen sollten ausschließlich mit Nationalpolen besetzt werden. Unter den nationalen Minderheiten genossen Weißruthenen und Juden ein relativ großes, die ex-zaristischen, besonders die georgischen Offiziere ein fast unbegrenztes Vertrauen der polnischen Militärbehörden. Georgische Offiziere studierten als Hospitanten an der Höheren Kriegsschule in Warschau. Bei den Infanterie- und Kavallerieregimentern waren konkrete Prozentsätze für einzelne Nationalitäten vorgeschrieben. Eine sehr wichtige Rolle spielte dabei das sogenannte exterritoriale Ergänzungssystem, das die Rekruten bewußt nicht ausschließlich aus dem nahen Umkreis ihrer Einheit einzog und fern von ihrer Heimat dienen ließ. Das sollte ihr bürgerliches polnisches Bewußtsein fördern. Dieses System bewährte sich so lange, wie die bei den jeweiligen Einheiten ausgebildeten Reservisten im Mob-Fall denselben Einheiten zugewiesen wurden — also bis 1925/ 1926. Später wurde ein neues Mob-System eingeführt, das auf einem anderen Grundsatz aufbaute. Es sah die Einberufung der Reservisten zu den ihrem letzten Wohnort nächstgelegenen Einheiten vor. Dort aber waren sowohl die mobilisierten Reserveoffiziere wie auch die Reservisten oftmals ganz unbekannt. Eine Beschleunigung der Mobilisierung wurde mit der geringeren Effizienz der mobilgemachten Einheiten erkauft. In der Ära des Blitzkrieges waren ungenügend eingespielte Einheiten ein schwerwiegender Nachteil, der am stärksten die Infanterie traf, da sie die Hauptmasse der Reservisten aufnahm. Das Heer der Zweiten Republik hatte noch mit anderen Problemen zu kämpfen. Die ungenügende allgemeine Schulbildung der Rekruten, besonders der Analphabetismus zwang zur wiederholten Schulungen. Der Gesundheitszustand der Rekruten war unbefriedigend. Im Vergleich zu Deutschland mußten die Ersatzbehörden in Polen einen niedrigeren Prozentsatz an diensttauglichen jungen Männern feststellen. Dennoch war es möglich, das Anfang 1939 rund 256000 Mann zählende polnische Friedensheer (darunter 17700 Offiziere und 49400 Unteroffiziere) bis Mitte 1939 auf rund 440000 Mann zu erhöhen. Ende August erreichten die mobilgemachten Streitkräfte ungefähr 950000 Soldaten bei einer vorgesehenen Mob-Stärke von 1,5 Millionen Mann.

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V. Im Kampf für Freiheit und Selbständigkeit (1939-1989) Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bereits löschte das polnische Staatswesen aus und drängte die Nation an die Schwelle der physischen Vernichtung. Er zwang Polen zunächst einen fünfjährigen Kampf um Uberleben und Freiheit auf, dann einen 45jährigen Kampf um eine Souveränität, deren Unabhängigkeitsgrad in einzelnen Perioden unterschiedlich, jedoch nie vollständig war. Diese Lage hat sich sowohl in den Formen der Wehrpflicht wie auch in der grundsätzlichen Einstellung der polnischen Jugend zur Wehrpflicht widergespiegelt. 1. Wehrdienst als moralische Pflicht: Polen während des Zweiten Weltkrieges Im Verlauf des Krieges von 1939 wurde Polen von zwei großen Nachbarstaaten überfallen und besetzt. Das konfrontierte die wehrpflichtigen Polen mit drei unterschiedlichen Problemen, die nacheinander aufgezeigt werden sollen. a) Polen während der Besatzungszeit September 1939 bis Februar 1945: die Wehrorganisationen des polnischen Untergrundstaates Von Beginn der Okkupation an schufen die Polen eine geheime militärische Untergrundstruktur. Sie wurde von der polnischen Exilregierung in Frankreich, später in England geleitet und laufend unterstützt. Die militärische Organisation des Widerstandes, aufgebaut und geführt von Berufsoffizieren der Vorkriegszeit, strebte im Rahmen des »Bundes des bewaffneten Kampfes«, ab 1942 »Heimatarmee« genannt, nach einer einheitlichen Struktur. Sie erstreckte sich schon im Spätherbst 1939 auf das gesamte Gebiet der ausgelöschten Zweiten Republik. Auf geheimen Wegen — vor allem über Budapest und die Tatra, ab Ende 1941 hauptsächlich auf dem Luftweg — wurde sie mit Geld, leichten Waffen, Munition und — vor allem — mit entsprechend ausgebildeten Offizieren versorgt. Die Zugehörigkeit zu dieser Organisation glich eigentlich einem Wehrdienst, und der Anteil von Frauen und Mädchen — besonders bei Verbindungs- und Sanitätsdiensten — erreichte ein vor dem Kriege nicht gekanntes Ausmaß. Grundsätze der Konspiration setzten besondere Einsatzformen auf dem Lande und in den Kleinstädten voraus, weil dort fast die gesamte polnische Bevölkerung den deutschen oder sowjetischen Besatzungsbehörden bekannt war; anders verhielt es sich in den Großstädten. Dort war es relativ leichter, mit falschen Dokumenten unterzutauchen. Auch zwangen konspirative Grundsätze dazu, bekannte Politiker und Offiziere der Vorkriegszeit während der Besetzung in andere Gegenden zu schleusen, wo sie der örtlichen Bevölkerung und den Besatzungsbehörden unbekannt bleiben konnten. Im Laufe der Kriegsjahre wurde der Kreis der Berufs- und Reserveoffiziere, die das Rückgrat der konspirativen Führungskader bildeten, durch Fähnriche und junge, erst im Untergrund ausgebildete »Offiziere auf Kriegszeit« ergänzt. Die deutschen und sowjetischen Besatzungsbehörden bekämpften den polnischen Untergrundstaat und seine militärischen Organisationen rücksichtslos. Sie scheuten nicht davor

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zurück, im Widerspruch zu geltendem Völkerrecht Hunderttausende von Polinnen und Polen aus den dem Reich eingegliederten Gebieten Pommerns und Großpolens ins Generalgouvernement zu deportieren. Noch extremere Schritte unternahmen die Sowjets. Millionen von Polen wurden unter unbeschreiblichen Bedingungen von 1939 bis 1941 und auch 1944 und später nach Sibirien und in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken umgesiedelt. Trotz alledem verstanden es die Polen, ihre militärische Organisation im Untergrund auf etwa eine halbe Million Mitglieder auszubauen. Ohne zu übertreiben kann man sagen, daß sich — besonders in Warschau und in anderen Großstädten des Generalgouvernements wie Krakau, Lemberg, Lublin, Kielce und Radom, aber auch in den übrigen Gebieten Polens — fast jeder junge Mann und die meisten Mädchen in unterschiedlichster Form an der Untergrundbewegung beteiligt haben. Im Gegensatz zur Lage bei den kriegführenden Großmächten war im okkupierten Polen der allgemeine Wehrdienst im Untergrund für die Polen keine Frage eines staatsgelenkten Zwanges, sondern vor allem eine Angelegenheit des Pflichtgefühls, nicht abseits zu stehen, sondern mitzuwirken. Dabei erhebt sich die Frage, wie diese breit angelegte Teilnahme an der Widerstandsbewegung mit den Regeln der notwendigen Geheimhaltung einer Untergrundarmee in Einklang gebracht werden konnte. Die anfängliche Terrorwelle der Gestapo, die sich der in Polen wohnenden Volksdeutschen und polnischer Denunzianten bediente, sowie der NKWD-Dienststellen, die sich auf die örtlichen Kommunisten stützten, ließ den polnischen im Aufbau begriffenen Untergrundorganisationen sehr rasch die absolute Notwendigkeit der strengen Beachtung aller Geheimhaltungsregeln bewußt werden. Decknamen sowie Chiffriertechniken fanden allgemein Anwendung. Verschwiegenheit wurde zur Überlebensfrage. Die Infiltration der polnischen Widerstandsbewegung durch die Gestapo und die Abwehr zwang die polnischen Gegenspionageorgane, im Gegenzug konspirativ Gestapodienststellen zu durchdringen. Die Korrumpierung von deren Angehörigen sowie sonstiger Besatzungsbehörden wurde zu einem wichtigen Mittel in diesem Kampf. Selbst die berüchtigte Warschauer Zentrale der Gestapo konnte sich der Beobachtung durch das Kommando der Heimatarmee nicht entziehen. Unter äußerst schwierigen Bedingungen vollzog sich die militärische Ausbildung der Heimatarmee — selbst in unmittelbarer Umgebung von Warschau. Wann immer ihr Ausbildungsstand und ihre Bewaffnung es zuließen, wurden die Einheiten der Heimatarmee in entlegenen Gegenden und in den Wäldern mobilgemacht. Dies geschah in breitem Umfang 1944 im Laufe der Operation »Gewitter«, eines seit 1941 geplanten Unternehmens zur militärischen Befreiung und administrativen Verwaltung der von Deutschland besetzten Gebiete Polens, als die auf ungefähr 300000 Mann aufgestockten Einheiten der Heimatarmee sich bei der Bekämpfung der zurückweichenden deutschen Truppen voll eingesetzt haben. Schon vorher gelang es, eine Elitetruppe der Heimatarmee aufzustellen, die der sogenannten »Diversionsleitung« unterstand. Ihr Betätigungsfeld waren besonders gefährliche Einsätze gegen die deutschen Verwaltungs- und Polizeiorgane sowie die Vollstreckung

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der von den Untergrundgerichten gegen Verräter, V-Leute der Gestapo und der Abwehr sowie besonders berüchtigte Funktionäre der Gestapo gefällten Urteile. Ein Höchstmaß an Können und Durchhaltevermögen zeigte die Heimatarmee des Warschauer Aufstandes im August und September 1944. Ungefähr 40000 Soldaten der Heimatarmee beiderlei Geschlechts verstanden es, sich 62 Tage lang gegen die Truppen des SS-Obergruppenführers von dem Bach-Zelewski, die von schweren Waffen und der Luftwaffe unterstützt wurden, zu behaupten. Dies stellt ein einzigartiges Beispiel für die Leistungsfähigkeit einer im Untergrund gebildeten Armee dar! b) Die polnischen Land-, Luft- und Seestreitkräfte im Exil Oktober 1939 bis Mai 1945 Ahnlich wie bei den im Untergrund aufgebauten militärischen Organisationen in Polen stützte sich auch bei den regulären polnischen Truppen — mit französischer, britischer oder sowjetischer Unterstützung aufgestellt — der Wehrdienst fast ausschließlich auf moralische Grundlagen. Nur bei der Armee des Exil-Generals Wladyslaw Sikorski in Frankreich 1939/1940 war ein Teil der polnischen Immigranten von den französischen Behörden mobilisiert und dann den polnischen Einheiten überstellt worden. Im übrigen haben sich bei den polnischen Streitkräften in Großbritannien, bei der Armee des Generals Wladyslaw Anders 1941 und bei der Armee des Brigadegenerals (seit 1944 Divisionsgenerals) Zygmunt Berling 1943 bis 1944 in der Sowjetunion fast alle Soldaten freiwillig gemeldet. Diese aus ehemaligen Offizieren und Soldaten der polnischen Vorkriegsarmee, polnischen Immigranten und — in der UdSSR — Zwangsdeportierten aufgestellten polnischen Verbände haben erhebliche Stärken erreicht: die Sikorski-Armee in Frankreich 1939/1940 80000 Mann, die Anders-Armee in der Sowjetunion 70000 Mann und die Berling-Armee 1943 bis 1944 107000 Mann. Uber das Ausmaß dieser polnischen Anstrengungen können zwei weitere Zahlen orientieren. Zu Kriegsende haben die polnischen Streitkräfte im Westen — Fliegertruppe und Kriegsmarine eingerechnet — eine Gesamtstärke von 195000 Mann, das polnische Heer und die Fliegertruppe im Osten eine Gesamtstärke von 400000 Mann erreicht. Nach den Streitkräften der Großmächte war damit die Gesamtstärke der polnischen Streitkräfte durchaus den Armeen Jugoslawiens und Frankreichs vergleichbar. c) Die Zwangsrekrutierung von Polen in die Wehrmacht und in die Rote Armee von September 1939 bis Mai 1945 Das Schicksal eines Teils der polnischen Wehrpflichtigen war auf die einseitigen Beschlüsse der deutschen Besatzungsbehörden über die Eingliederung von Gebieten ins Dritte Reich zurückzuführen, die von Preußen 1772 bis 1795 annektiert und 1919 bis 1921 von der Republik Polen zurückgewonnen worden waren. Dasselbe galt für die einseitigen sowjetischen Beschlüsse vom November 1939 zur Eingliederung der östlichen Gebiete der Republik Polen in die UdSSR. Beide Entscheidungen führten zur Zwangsrekrutierung von Polen in die Armeen der jeweiligen Eindringlinge. Für die in die Wehrmacht eingezogenen Polen blieb als einziger Ausweg die Desertion oder das Uberlaufen zu den polnischen Truppen der britischen oder sowjetischen Streitkräfte. Auf diese Weise erreichten zahlreiche Polen das polnische 2. Korps von General

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Anders in Italien in der Zeit von 1944/45 und die polnischen Divisionen der BerlingArmee zur selben Zeit. Für die in die Rote Armee gepreßten Polen, die ab 1941 zum großen Teil den Baubataillonen dieser Armee überstellt wurden, war der einzige Ausweg der Versuch, in die Berling-Armee überzuwechseln. In der Regel war das aber nicht einfach. 2. Die Wehrpflicht im Nachkriegspolen: Staat und Heer zwischen Souveränitätsstreben und dem Druck des »sozialistischen Lagers« (Juli 1944 bis November 1949) Am 22. Juli 1944 entstand offiziell der Staat, der später »Volkspolen« genannt wurde. Die sich widersprechenden Tendenzen von Souveränitätsstreben einerseits und nach Unterordnung unter den östlichen Nachbarn Sowjetunion auf der anderen Seite spiegelten sich im Wesen und in den Formen der Wehrpflicht. Es wurde auch in dieser Hinsicht an nationale Traditionen angeknüpft. So blieb das letzte vorkriegszeitliche Gesetz über die Wehrpflicht aus dem Jahre 1938 mit Modifikationen von 1946 bis 1950 in Kraft. Bis Kriegsende wurde die polnische Volksarmee systematisch ausgebaut. Aber schon im Herbst 1944 veränderte sich das Verhältnis der Angehörigen dieser Armee zu den dorthin — teils zwangsweise — überführten Soldaten der »Heimatarmee«. Die Offiziere der Heimatarmee wurden nicht regelmäßig und die höheren Offiziere dieser Armee selten in die Volksarmee übernommen. Sehr oft dagegen kam es vor, daß sie entweder vom N K W D ermordet oder tief in die UdSSR hinein zwangsdeportiert wurden. Den Kern der Mannschaften der Volksarmee im letzten Kriegsjahr stellten die aus der Sowjetunion zurückgekehrten oder östlich der Curzon-Linie mobilisierten wehrpflichtigen Polen, die dort vor dem Kriege gewohnt hatten. Ein Teil der Offiziere der Volksarmee stammte aus der Roten Armee, wobei die sowjetischen Militärbehörden es vorzogen, die Offiziere polnischer Abstammung und mit polnischen Familiennamen in die polnische Volksarmee abzuschieben. Verhältnismäßig wenige Offiziere des polnischen Vorkriegsheeres, denen das Schicksal von Katyn, die Ermordung durch das N K W D 1940, erspart geblieben war und die dann 1941/42 den Weg zur Armee von General Anders nicht gefunden hatten, meldeten sich später zur Verfügung von General Berling. Nach Kriegsende fand eine Demobilisierung, insbesondere der älteren Jahrgänge, statt. Die Geburtsjahrgänge 1921 bis 1925 wurden bevorzugt im Dienst belassen, allmählich auch die Jahrgänge 1925 und 1926 einberufen, die schon Anfang 1947 45% der Soldaten ausmachten. Die Wehrpflicht in der Nachkriegszeit betraf die 21jährigen Rekruten, die 24 Monate lang dienen sollten. Da die Etatstärke des Heeres in der Nachkriegszeit mit 150000 Mann so niedrig angesetzt war, daß sie es nicht erlaubte, alle Rekruten auszubilden, versuchte der Generalstab des Heeres 1948, einen Teil der Infanteristen, Artilleristen und Pioniere in ein- bis viermonatigen Wiederholungskursen (insgesamt sieben Monate Dienstzeit binnen zwei Jahren) auszubilden. Diese Lösung brachte jedoch nicht die erwünschten Ergebnisse. Andererseits zwang das niedrige Niveau der allgemeinen Schulbildung der Nach-

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kriegsjahrgänge dazu, in die Offizierschulen Bewerber ohne Reifeprüfung aufzunehmen (was vor dem Kriege undenkbar gewesen war!) und Rekruten mit begonnener Oberschulausbildung bevorzugt in die Unteroffizierschulen zu leiten. In den Jahren 1945 bis 1947 wurde das Profil des Offizier- und Unteroffizierkorps umgestaltet. Ein Teil ehemaliger Generäle und Stabsoffiziere der Roten Armee wurden in diese Armee zurückversetzt: die übrigen allerdings hatten fast sämtliche Schlüsselstellungen im polnischen Nachkriegsheer inne. Die zahlreichen Berufs- und Reserveoffiziere des polnischen Vorkriegsheeres, 1945 aus deutschen »Oflags« befreit, aus den polnischen Streitkräften in Großbritannien und Italien kommend, aber auch aus der Heimatarmee stammend, wurden in die Volksarmee aufgenommen. Ahnliche Verhältnisse herrschten im Unteroffizierkorps. 3. Die Wehrpflicht in einem »Satellitenstaat«: Das polnische Volksheer zwischen 1949 und Oktober 1956 Die siebenjährige Periode von November 1949 bis Oktober 1956, die schwerste in der ganzen Nachkriegsgeschichte der osteuropäischen Länder, hat sich auch auf das Schicksal der polnischen Streitkräfte negativ ausgewirkt. Die Stalinisierung des Staates und seiner Streitkräfte führte zu den bekannten Begleiterscheinungen. Weitverbreitetes Mißtrauen, hysterische Suche nach dem Klassenfeind, eine goldene Zeit für rücksichtslose Karrieremacher. Die Ablösung des bisherigen Verteidigungsministers, eines Piludski-Legionenoffiziers aus dem Ersten Weltkrieg, Marschall Micha! Rola-Zymierski, durch den Sowjetmarschall polnischer Herkunft Konstantin K. Rokossowskij, leitete den Prozeß der Sowjetisierung der polnischen militärischen Führungselite ein. Die Vertreibung fast aller Offiziere des Vorkriegsheeres (auch bei der Fliegertruppe und der Kriegsmarine), die Verhaftung vieler von ihnen — es fehlte nicht an provokatorischen Prozessen und Gerichtsmorden-, Mißtrauen gegenüber der Intelligenz und allen denkbaren Klassenfeinden: das waren die typischen Kennzeichen jener Epoche, auch bei der polnischen Volksarmee. Fliegertruppe und Kriegsmarine litten vielleicht noch mehr unter diesen Verhältnissen. Solche Erscheinungen hatten zwangsläufig eine allgemeine Ablehnung der Berufsoffizierlaufbahn bei einem großen Teil der polnischen Intelligenz als dauerhafte soziale Erscheinung zur Folge. Das erwähnte Mißtrauen gegen eine Vielzahl möglicher Klassenfeinde richtete sich Anfang der fünfziger Jahre auch gegen zahlreiche Wehrpflichtige; die politisch Verdächtigen unter ihnen wurden nicht zum Militärdienst eingezogen, sondern zur Zwangsarbeit in die Uranerz- und Kohlegruben geschickt. Insgesamt leiteten diese Erscheinungen einen äußerst verhängnisvollen Prozeß ein: den Niedergang des so tief in der polnischen Tradition verwurzelten Gefühls der Hingabe an das Militärwesen, des Enthusiasmus, der sich im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte bei den jungen Generationen in sein Gegenteil verkehrte. Angesichts dieser niederschmetternden politischen Wirklichkeit verblaßten einige positive Modifikationen der frühen fünfziger Jahre im Bereich der Wehrpflicht, wie etwa das neue Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht vom Februar 1950. Es setzte das Rekru-

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tenalter vom 21. auf das 20. Lebensjahr herab, beließ den zweijährigen Dienst nur beim Heer und bei der Flak, verlängerte ihn bei den Grenztruppen auf 27 Monate, bei der Fliegertruppe und bei der Kriegsmarine auf bis zu drei Jahre. Darüber hinaus führte es den territorialen Dienst, also den Dienst am Wohnort sowie den Vertretungsdienst ein. Ab 1948 folgte die Aushebung einmal jährlich: nach der Ernte. Der allmähliche Ausbau der Streitkräfte führte bereits 1952 zu einem Mangel an Rekruten wie auch an Unteroffizier- und Offizieranwärtern. In der letzteren Gruppe verschärfte sich das Defizit zusätzlich infolge der neueingeführten »Klassenprinzipien«: Nur 10% der Offizieranwärter durften der Bildungsschicht, 30% dem armen und mittleren Bauernstand entstammen; alle anderen hatten sich aus der Arbeiterklasse zu rekrutieren. Das unbefriedigende allgemeine Bildungsniveau vieler junger Soldaten zwang die militärischen Behörden zu umfangreichen zusätzlichen Maßnahmen, um die schmerzlichsten Mängel zu beheben. Hierfür wurden nicht nur Offiziere und Unteroffiziere, sondern auch bessergebildete Soldaten im Rahmen einer Selbsthilfe herangezogen. 4. Wehrpflicht in einem abhängigen Staat: Volksrepublik Polen zwischen dem »Polnischen Oktober« 1956 und dem Jahr 1985 Dem seinerzeit bekannten »Polnischen Oktober« ist ein Ereignis vorangegangen, das das Gefüge des polnischen Heeres erschüttert hat: die Teilnahme an der Niederschlagung des Posener Arbeiterprotestes im Juni 1956. Der »Polnische Oktober«, der Versuch, sich nach der Zerstörung des Stalin-Mythos von Moskau zu lösen und die inneren Verhältnisse zu liberalisieren, erlaubte den Streitkräften Polens, sich im Gegensatz zu Ungarn auf dem Wege einer Verständigung der allmächtigen sowjetischen Bevormundung zu entledigen. Marschall Rokossowskij und zahlreiche sowjetische Generäle kehrten in ihr Vaterland zurück. Sie wurden von jüngeren polnischen Offizieren, die überwiegend der Berling-Armee von 1943/44 entstammten, ersetzt. Damit wurden die polnischen Streitkräfte und auch ihre Tradition »repolonisiert«. Zwei wesentliche Faktoren blieben jedoch bestehen: Zum einen die polnische Beteiligung an dem im Mai 1955 abgeschlossenen Warschauer Vertrag, der mit einer »begrenzten Souveränität« Polens gleichzusetzen war; und zum anderen die absolute Unterordnung der Streitkräfte unter die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, der übrigens 80% aller Berufsoffiziere angehörten. Im Zusammenhang mit dieser völlig veränderten militärpolitischen Lage mußte auch die Wehrpflicht auf eine neue Grundlage gestellt werden. Dies geschah 1959 mit dem neuen Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht, das 1963 teilweise modifiziert wurde. Mit diesem Gesetz verbreiterte sich die Basis der allgemeinen Wehrpflicht, neue Formen wurden eingeführt, so etwa die militärische Ausbildung von Studenten. Schon früher, in den Jahren 1957 bis 1959, löste man allmählich die Bau- und Grubenbataillone auf. Die Gesamtstärke der Streitkräfte nahm, ähnlich wie bei den anderen Streitkräften des Warschauer Vertrages, ab, was auch die personellen Probleme des Heeres bedeutend milderte.

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Einen neuen Versuch, nicht nur die Wehrpflicht, sondern die Gesamtverpflichtung der Bevölkerung im Falle eines Krieges zu erfassen und in rechtlicher Hinsicht zu regeln, stellte das Gesetz vom 21. November 1967 »zur allgemeinen Pflicht der Verteidigung der Volksrepublik Polen« dar. In den ersten Jahren nach dem »Polnischen Oktober« verbesserte sich auch das vor 1956 erheblich gesunkene Ansehen des Militärs in der Gesellschaft, besonders bei der Jugend. In seinen Streitkiäften wollte das Volk eine Garantie für seine Unabhängigkeit sehen. Diese Einstellung beeinflußte das Verhältnis der Jugend zur Wehrpflicht zunächst positiv. Aber die in den sechziger und siebziger Jahren zu beobachtende Bindung der Streitkräfte an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei und an den Warschauer Vertrag ließ dieses positive Gefühl, insbesondere bei der Jugend, und das Vertrauen in die Streitkräfte in demselben Grad schrumpfen, in dem die Zweifel an der Partei und an der von ihr befohlenen offiziellen »Liebe zur Sowjetunion« wuchsen. Katastrophal haben sich in diesem Zusammenhang zwei Ereignisse ausgewirkt: die Beteiligung der Truppe an der blutigen Niederschlagung von Arbeiterprotesten in den polnischen Küstenstädten im Dezember 1970 und die Rolle des Heeres bei der Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981. Sowohl die jungen Männer, die Wehrdienst leisten mußten, wie auch ein beträchtlicher Teil des Unteroffizier- und Offizierkorps fühlten sich mit der eigenen Nation konfrontiert. Die Abneigung der Wehrpflichtigen dem Wehrdienst gegenüber mußte dadurch nur weiter zunehmen. 5. Die Wehrpflicht in Polen zur Zeit von »glasnost« und »perestrojka«; die Endphase des Warschauer Vertrages 1986 bis Juni 1989 Die grundlegenden Veränderungen der weltpolitischen Lage in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mußte sich auch auf die Wehrpflicht in Polen auswirken. Die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen dem Warschauer Vertrag und den NATOStaaten ging beträchtlich zurück. Diese Tatsache im Zusammenhang mit der zunehmend schwierigeren ökonomischen Lage der osteuropäischen Länder zeigte ihre Wirkung in einem weitgehenden Abbau der militärischen Ausgaben, also auch in der Reduktion der Personalstärken der Streitkräfte. In Polen konnten sie von 400000 auf 250000 Mann verringert werden. Im Zusammenhang mit der sichtlichen Besserung der internationalen politischen Atmosphäre begann die bisherige Abneigung eines erheblichen Teiles der polnischen Jugend der Wehrpflicht gegenüber nachzulassen. Gleichzeitig begann die polnische Jugend im Verein mit der gesamten Nation, sehr feinfühlig gegenüber der Frage der Souveränität Polens nach der Auflösung des Warschauer Vertrages zu werden. Kernfrage dieser Souveränität war und blieb der Abzug aller fremden Truppen aus dem Gebiet von Polen.

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VI. Vor neuen Perspektiven. Die Wehrpflicht in der Dritten Republik Polen (seit Juni 1989) Die polnischen Parlamentswahlen vom 4. Juni 1989 gelten als Geburtstag der Dritten Republik, die die Volksrepublik Polen abgelöst hat. Dieses Ereignis kann als wichtiges Glied in der Kette politischer Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa gelten. Richtung und Charakter dieser grundsätzlichen Veränderungen sind geeignet, auch das Wesen und die Formen der Wehrpflicht in der polnischen Dritten Republik zu beeinflussen und zu bestimmen. In kurzfristiger Perspektive ist zu erwarten, daß sich die derzeitige politisch-ökonomische Annäherung Ungarns, der Tschechischen Republik, der Slovakei und Polens auch in ihrem gegenseitigen militärischen Verhältnis widerspiegeln wird. Das Schlüsselproblem der Sicherheit dieser Länder ist die politische Entwicklung in den ausgedehnten Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Verläuft diese Entwicklung auf eine relativ ruhige, die Sicherheit ihrer westlichen Nachbarn nicht bedrohende Weise, so kann man in Polen an die Möglichkeit eines Berufsheeres denken. Die Vorbedingung der Umstellung auf ein Berufsheer bleibt jedoch eine allgemeine Besserung der polnischen Wirtschaftslage, um dem Staat die hierfür unbedingt notwendigen höheren finanziellen Mittel zur Verfügung stellen zu können. Dabei sind bei einer solchen Entwicklung auch Zeitfaktoren zu berücksichtigen, um alle personellen und materiellen Probleme des Berufsheeres zu lösen. Die jetzige politische und ökonomische Lage Polens erlaubt, ähnlich wie in vielen anderen Staaten Europas, lediglich an eine Lösung zu denken, die nur einen bestimmten Prozentsatz an Berufssoldaten zuläßt. Die im Gesetz über die allgemeine Verteidigungspflicht der Republik Polen vom 11. Dezember 1991 vorgesehenen Bestimmungen regeln daher die Wehrpflicht in der Republik Polen aus der Perspektive der nächsten Jahre. Die Wehrpflicht bei den Männern beginnt mit dem 18. Lebensjahr, dem Jahr der ersten Musterung, der eigentliche Wehrdienst mit dem 19. Lebensjahr. Die Dienstpflicht endet bei den Soldaten und Unteroffizieren (bis zum Oberstabsfeldwebel) mit dem 50., bei den Fähnrichen und Offizieren mit dem 60. Lebensjahr. Die Wehrpflicht für Frauen erfaßt praktisch bestimmte Berufe im Sanitäts- und Nachrichtenwesen sowie ähnlichen Diensten; sie beginnt mit dem 18., endet bei Soldaten- und Unteroffiziergraden mit dem 40., bei den Fähnrichen und Offizieren mit dem 50. Lebensjahr. Der aktive Dienst im Heer dauert zur Zeit 18 Monate, in der Zukunft kann er auf 12 Monate verkürzt werden. Die nach dem aktiven Dienst in die Reserve entlassenen Soldaten sind zu einer insgesamt neunmonatigen Übungszeit verpflichtet, wenn sie ihre volle aktive Dienstzeit hinter sich haben. Eine zwölfmonatige Übungszeit ist für Soldaten nach einem gekürzten aktiven Dienst sowie für Unteroffiziere vorgesehen. Die gesamte Übungszeit der Fähnriche und Offiziere darf 18 Monate nicht überschreiten. Das künftige polnische Offizierkorps soll sich aus Berufsoffizieren sowie aus Offizieren auf Zeit zusammensetzen. Die letzteren können Dienst in bis zu drei fünfjährigen Zeitabschnitten leisten. Danach besteht die Möglichkeit, in die Laufbahn der Berufsoffiziere übernommen zu werden.

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Die Ausbildung ist straff geregelt. Das Gesetz von 1991 strebt danach, Unteroffiziere und Offiziere grundsätzlich vor Übernahme jeder neuen Verwendung und vor jeder Beförderung zu verpflichten, einen Lehrgang von bis zu zwölfmonatiger Dauer zu absolvieren. Für die höhere Offizierausbildung sind Militärakademien vorgesehen. Seeoffiziere sowie die übrigen Offiziere der Kriegsmarine werden in der Akademie der Kriegsmarine ausgebildet. Die Berufssoldaten (Offiziere und Unteroffiziere) sind grundsätzlich berechtigt, nach 15 Jahren Dienstzeit in die Reserve überzutreten. Der planmäßige Ubertritt von Berufssoldaten in die Reserve erfolgt je nach Dienstgrad zwischen dem 45. und dem 60. Lebensjahr. Nach vollendetem 60. Lebensjahr treten die Berufssoldaten in den Ruhestand. Die neuen Grundsätze der Wehrpflicht sehen einen apolitischen Charakter der Streitkräfte vor. Ein Soldat darf demnach keiner politischen Organisation, Partei oder Gewerkschaft angehören. Es ist jedoch einem Berufssoldaten erlaubt, sich für höchstens fünf Jahre beurlauben zu lassen, so etwa bei der Wahl zum Sejm- oder Senatsabgeordneten oder bei einer Tätigkeit in der staatlichen oder kommunalen Verwaltung. Der Dienst eines polnischen Soldaten bei einer fremden Armee setzt die Erlaubnis seiner Vorgesetzten voraus. Bei einer Doppelstaatsbürgerschaft ist es zulässig, den Wehrdienst bei den Streitkräften des eigentlichen Wohnlandes abzuleisten. In der jetzigen militärpolitischen Lage Ostmitteleuropas beruht die Sicherheit Polens auf geregelten, friedlichen Beziehungen zu seinen Nachbarländern. Die ersten Schritte in dieser Richtung wurden bereits gegenüber der für die polnischen Sicherheitsbedürfnisse sehr wichtigen Republik Ukraine unternommen. Mit der ukrainisch-polnischen Annäherung will Polen ein Beispiel für die Gestaltung seiner Beziehungen zu seinen anderen östlichen Nachbarn setzen, d.h. ein Beispiel für die künftige Gestaltung solcher Beziehungen, die der Republik Polen die Notwendigkeit der allgemeinen Wehrpflicht, eines Massenheeres und einer Ausweitung ihrer Rüstungsindustrie erspart. Es bleibt zu hoffen, daß sich im Laufe der Zeit auch die Möglichkeit einer Annäherung Polens an die N A T O ergeben wird, die diesem Land helfen könnte, personelle wie auch materielle Probleme seiner Streitkräfte zu lösen. So oder so — Polens Schicksal wird einen Teil des Schicksals von Europa darstellen. So war es auch in der Vergangenheit, selbst dann, als Europa daran nicht glauben wollte.

Vladimir V. Lapin

Wehrpflicht im zaristischen Rußland

Das feudale Adelsaufgebot bildete bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die Grundlage für die russische Heeresorganisation. Adlige, die Land und Bauern als Lehen erhalten hatten, waren verpflichtet, mit einer bestimmten Anzahl vollständig ausgerüsteter bewaffneter Männer zum Waffendienst zu erscheinen. Im 16. und 17. Jahrhundert erhielt ein Adliger vom Zaren zwischen 50 und 350 Hektar Land mit den entsprechenden Bauern und eine bestimmte Summe Geldes. In Friedenszeiten lebte der Dienstadel auf seinem Besitz, trat in einem bestimmten Turnus zum Dienst an und versammelt seine Männer nur in Kriegsjahren in voller Stärke. Im 16. und 17. Jahrhundert waren das insgesamt etwa 50000 Soldaten. Außer den Adligen und ihren Abteilungen dienten in der russischen Streitmacht noch sogenannten Strelitzen und städtische Kosaken (gorodovye kasaki). Beide Gruppen rekrutierten sich aus Freien, die zwei bis vier Hektar Land in der Nähe einer Stadt oder 10 bis 15 Hektar in größerer Entfernung von ihr besaßen. Sie erhielten ein geringes Entgelt und wohnten in eigenen Siedlungen. Die Anzahl der Strelitzen und Kosaken schwankte, sie betrug etwa 50000 Mann. Außer diesen zog das Reich Einheiten freier Kosaken und nichtrussischer Völkerschaften zum Dienst heran. Zusätzlich ergänzten etwa 2000 bis 4000 ausländische und fremdstämmige Söldner die Streitmacht. Die steuerpflichtige Bevölkerung dagegen wurde zum Militärdienst nur im Kriegsfall eingezogen und ausschließlich in den Hilfskontingenten eingesetzt. Diese Heeresorganisation und das System der Rekrutierung beruhte auf den sozialökonomischen und kulturellen Gegebenheiten jener Zeit. Die vorherrschende Naturalwirtschaft erhob die Landwirtschaft zum wichtigsten Bestandteil der Versorgung der Soldaten. Die Ausbeutung der Bauern rief soziale Spannungen hervor, und infolgedessen mußte ihr Einfluß im Heeresverband möglichst gering sein. Gutsbesitz, Militärdienst und die sozialpolitische Dominanz des Adels waren unter diesen Bedingungen eng miteinander verknüpft. Die Kampfkraft des russischen Heeres war wegen mangelnder systematischer Ausbildung, unzureichender Organisation und veralteter Bewaffnung nicht sehr hoch: Die Auseinandersetzungen mit den Polen und Schweden zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigten die Notwendigkeit, ein stehendes Heer zu schaffen. In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts begann die Rekrutierung der Regimenter im »neuen Stil«: Freie Männer wurden für die Kavallerie und die Infanterie angeworben, erhielten nach westeuropäischem Vorbild Sold, eine einheitliche Bewaffnung und Uniformen. Da die Anwerbung nicht die notwendige Anzahl von Soldaten erbrachte und zudem große Mittel verschlang, sah sich der Zar gezwungen, Bauern zu rekrutieren, die nach Maßgabe der Regierung von den Gemeinden selbst in die Armee geschickt wurden. Der-

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gestalt wurden neue Einheiten auf zwei Wegen rekrutiert — durch freiwillige und durch Zwangsanwerbung. Diese Regimenter zeigten hohe Kampfkraft, wurden aber bei Kriegsende wegen fehlenden Geldes wieder aufgelöst. Auch die nachfolgenden Versuche im 17. Jahrhundert, ein stehendes Heer zu schaffen, mißglückten, weil dem Land die wirtschaftlichen Grundlagen fehlten. Peter der Große versuchte zu Anfang des 18. Jahrhunderts, das westeuropäische System zu kopieren: Er warb soziale Außenseiter an. Einige Regimenter bestanden aus zwar persönlich freien, aber unterprivilegierten und armen Männern, den sogenannten »Vol'nicy«. Aber schon bald zeigte sich, daß die Formierung einer großen Söldnerarmee dreier Grundlagen bedurfte: 1. eine gut gefüllte Staatskasse, 2. eine große Zahl persönlich freier und zugleich armer Männer, die bereit waren, für einen geringen Sold zu dienen, und 3. die Entwicklung einer staatlichen und militärischen Organisationsstruktur, die in der Lage war, dem stehenden Heer alles Notwendige zur Verfügung zu stellen, aber auch diejenigen Soldaten in Zaum zu halten, die zu asozialem Verhalten neigten. Im Rußland des 18. Jahrhunderts fehten alle drei Voraussetzungen. Besonders deshalb wurde bei der Vervollständigung von Armee und Flotte mit Soldaten das System der Rekrutierung zugrundegelegt. So entsandten Gutsbesitzer nach Gutdünken und die Staatsbauern der Reihe nach oder je nach Vertrag mit dem Gemeindevorstand junge Leute zum Militärdienst: im 18. Jahrhundert noch auf Lebenszeit, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für 25 Jahre. A m 20. Februar 1705 erschien ein Ukas über die Besteuerung der Bauern, die gewöhnlich als erste als Rekruten einberufen wurden. Er legte auch Rekrutierungsregeln fest, die Maßnahmen gegen Fahnenflucht, Aufruhr und Amtsmißbrauch vorsahen. Wie bei allen Maßnahmen der Obrigkeit herrschte zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei der Rekrutierung Willkür und Unordnung: Fristen, die Anzahl der Rekruten und das Gebiet der Aushebung wurde von konkreten Erfordernissen des Augenblicks bestimmt. Die Massenrekrutierungen erzeugten auch Massendesertionen: 10 bis 50% der neu eingezogenen Rekruten flüchteten. Rekrutenabteilungen, die zur Marine geschickt wurden, desertierten in voller Stärke, wenn sie nicht besonders bewacht wurden. Seit 1772 war die Grundlage für die Erhebung der Steuern zum Unterhalt des Militärs nicht mehr die Zahl der Höfe, sondern die Zahl der Köpfe (Seelen). Alles in allem ergab dies 5967000 steuerzahlende Leibeigene. Davon waren 419000 von der Rekrutierung befreit, und 463 000 dienten unter besonderen Bedingungen — zum Beispiel in der Landmiliz oder den sibirischen Truppen. In jenem Jahr erhielten Kaufleute und einige Gruppen von Handwerkern das Recht, sich loszukaufen oder einen Söldner an Stelle ihrer selbst zu dingen, was auch schon früher praktiziert worden war. Seit 1737 waren Geistliche vom Armeedienst befreit, mußten aber 200 Rubel Gebühr entrichten, eine damals sehr hohe Summe. 1726 wurde die Aufnahme von »VoPnici« verboten, die aber zu dieser Zeit schon keine bedeutende Rolle mehr gespielt haben. Die Armee fungierte nun als sozialer Filter, der sehr streng alle aus dem bestehenden System herausgefallenen Männer aussiebte. Die örtlichen Verwaltungen erhielten die Anordnung, alle festgesetzten Deserteure, die zum Dienst tauglich waren, den Regimentern zurückzuführen. Im Ganzen gab es im 18. Jahrhundert 72 Aushebungen, in deren Verlauf 2,3 Millionen Männer unter Waffen gestellt wurden.

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Die Rekrutierungspflicht wurde auch großzügig für die Entfernung unerwünschter Elemente aus dem Dorf genutzt. Laut Ukas vom 6. Juli 1757 und 13. Dezember 1760 konnte ein Landbesitzer seinen Leibeigenen zu den Soldaten schicken, ohne eine Rekrutierung abzuwarten, oder ihn als Rekruten nach Sibirien verbannen. Der Militärdienst dort galt als einer der schwersten. Von einem sozialen Trauma sprachen sogar solche Leute, die man schwerlich des Mitleids verdächtigen kann, wie etwa der Chef der Gendarmerie, L. V. Dubel't. Das mit Mängeln behaftete Rekrutierungssystem, die Unmöglichkeit, eine nennenswerte, ausgebildete Reserve aufzustellen, und die hohen Ausgaben für die Unterhaltung der riesigen Armee in Friedenszeiten forderten von der Regierung, neue Wege der Rekrutierung zu suchen. Dies führte zur Gründung der Militärsiedlungen im Jahre 1817. Einige Infanterie- und Kavallerieregimenter bezogen in jenen vier Gouvernements Quartier, die eine besondere territorial-administrative Einheit bildeten und vollständig durch die Heeresverwaltung kontrolliert wurden. Die Bewohner der Militäransiedlungen sollten stufenweise einen besonderen Stand ausformen, aus dem die Rekrutierung eines stehenden Heeres erfolgen konnte. Die übrige Bevölkerung mußte dann keinen Militärdienst leisten. Auf der einen Seite entlastete dieser Versuch den Druck auf den Militärhaushalt, sorgten die Soldaten doch selbst für ihre Versorgung. Das war eine Hinwendung zum Ansiedlungsprinzip und darf als typisch für die vorpetrinische Heeresorganisation bezeichnet werden. Dies um so mehr, weil rudimentäre Strukturen der Regimentswirtschaft, des Soldatenartels (gemeinsame Wirtschaftsführung in Kompanien), der Einquartierungspflicht und der Unterstützung adliger Offiziere durch Grundbesitz schon im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierten. Auf der anderen Seite konnten die Militärsiedlungen als Versuch verstanden werden, eine große Bevölkerungsgruppe zu verwestlichen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbreiterte sich die Kluft zwischen der traditionellen Kultur, die im bäuerlichen Milieu verhaftet war, und der westeuropäischen oder wenigstens europäisierten Kultur, wie sie sich in der Regierung und ihrem bürokratischen Apparat sowie im Adel darstellte. Sogar die reguläre Armee erschien als ein Element westlicher Kultur. Die Rekruten, die die Reihen der Bataillone und Schwadronen füllten, waren dagegen die Träger der traditionellen Kultur, und es erforderte größte Anstrengungen, durch Drill und Reglementierung aus einem Bauern einen Soldaten zu machen. Die russische Armee zeichnete sich durch wirtschaftliche Autonomie aus, und nach meiner Ansicht war die Idee der Militärsiedlungen gleichzusetzen mit dem Streben nach sozialer Autonomie. Die Armee wollte im buchstäblichen Sinn des Wortes zum Staat im Staate werden, über eine vollständige Exterritorialität verfügen, ihre Reihen auf eigener Grundlage auffüllen und nur in geringem Umfang von der sie umgebenden Welt abhängig sein. Der Schöpfer des neuen Heerwesens, General Arakceev, und seine Anhänger wollten die Ansiedlungsgebiete, die das Militär verwaltete, verwestlichen und so das Problem des Kulturdualismus lösen. Die Kasernenordnungen verdeckten nur das unbestreitbare Faktum, daß alle mit Willkür durchgesetzten Neuerungen darauf ausgerichtet waren, die Bevölkerung dem europäischen Lebensstil anzugleichen.

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Dieses sozialökonomische Experiment endete mit einem Mißerfolg. Einer der Hauptgründe war der Verstoß gegen die Grundregel der Aufteilung der Gesellschaft in Dienstleute und Steuerpflichtige. Der Siedler empfand nämlich eine zweifache Belastung — als Dienender und als Arbeiter. Die Militärverwaltung versuchte beharrlich, die schon früher existierenden verschiedenen Elemente der Militärwirtschaft in einem künstlichen, schlecht durchdachten System zu verbinden. Das Resultat war, daß sich viele dieser Elemente entweder als wirkungslos offenbarten oder einander widersprachen. Der Zusammenbruch der Militärsiedlungen zwang die Regierung abermals, der Verbesserung des Rekrutierungssystems ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Im Jahre 1827 wurde die Rekrutierungspflicht auch auf Juden ausgeweitet. 1831 wurde die Geistlichkeit aufgefordert, alle im Einberufungsalter stehenden Kinder von Geistlichen, die keine Gemeinde betreuten oder nicht in einem Seminar studierten, in die Kasernen zu schicken. Seit 1831 galt ein neues Rekrutierungsstatut, das keine prinzipiellen Änderungen brachte, die Prozedur der Anwerbung und der Entsendung der Rekruten an die Regimenter lediglich klarer reglementierte. Nach der alten gesetzlichen Grundlage gehörte die Durchführung der Rekrutierung zu den Aufgaben der Dorfgemeinde (»obscina«). Es war gestattet, das Individuum durch Steuerzahlungen zu ersetzen, je nach Verlangen des allmächtigen Staates. Die Dienstpflicht, wie auch alle übrigen Pflichten der steuerzahlenden Bevölkerung, hatte keinen persönlichen, sondern kollektiven Charakter. Stadt- und Dorfgemeinden waren verpflichtet, eine bestimmte Zahl von Männern abzustellen. Das Rekrutierungssystem, das einen praktisch lebenslänglichen Dienst bedeutete, übte einen wesentlichen Einfluß auf sozial-ökonomische Prozesse aus. Hier sei vor allem die These von der Armee als einem sozialen Filter erwähnt: Tausende von Menschen, die ständisch nicht eindeutig zugeordnet waren, gerieten unter die Soldaten, so daß sich der Prozeß der Unterspülung des Ständesystems verlangsamte. Die langjährige Entfremdung des Soldaten von seinem sozialen Milieu rief einen tiefen Bruch mit alten Gewohnheiten hervor. Ein starker psychologischer Einfluß der militärischen Umgebung, die Pflicht der Soldatenkinder, in die Fußstapfen ihrer Väter zu treten, all dies trug zur Verwandlung der Soldaten in einen Stand mit besonderen sozialen Interessen und Mentalitäten bei. Die Abgeschlossenheit des Militärstandes führte dazu, daß niedere Ränge und zum Kriegsdienst untaugliche Männer die Garnisoneinheiten ergänzten und Polizeiaufgaben übernahmen, was seinerseits den Grundstein legte für die Tradition einer großzügigen Verwendung der regulären Armee für repressive Maßnahmen im Inneren. Wegen der in der Armee erworbenen handwerklichen Fertigkeiten, aufgrund seines erweiterten Horizontes, der Alphabetisierung, der Gewöhnung an städtisches Leben in Verbindung mit einer Reihe von Vergünstigungen galt der verabschiedete Soldat bald als eine wichtige Quelle für das Anwachsen der städtischen Bevölkerung. Sogar unter den Soldaten, die in die Dörfer zurückkehrten, befand sich ein hoher Anteil von Handwerkern und Gewerbetreibenden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als alle staatlichen Kräfte auf den Kampf gegen das napoleonische Frankreich gerichtet waren, entschied sich die Regierung dafür, auch diejenigen einzuziehen, die nicht unter die Rekrutierungspflicht fielen und auch nicht Offizie-

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re im Adelsrang werden konnten. Es ging vor allem um die sozial differenzierte Bevölkerung der Städte und Dörfer Litauens, Weißrußlands und der Westukraine, Gebiete, die nach den polnischen Teilungen an Rußland gefallen waren. Viele ihrer Einwohner gehörten keinem bestimmten Stand mit festgelegter Dienstpflichtform an. Mit den üblichen Anwerbungsmitteln — Speis' und Trank — sammelte man einige Husaren- und Ulanenregimenter, in denen Männer verschiedener Nationalitäten und sozialer Herkunft dienten. Die Schlamperei der Anwerber veranschaulicht die Anekdote der »Kavallerie-Jungfrau« Nadezda Durova, die ohne größere Mühe in ein Ulanenregiment eintrat. Später wurden diese Einheiten aufgelöst oder gingen in reguläre Verbände über. Die Vervollständigung von Regimentern zu Beginn des 19. Jahrhunderts war nur in den westlichen Gouvernements möglich, in Zentralrußland fanden sich einfach nicht genügend Männer. Bezeichnend dafür ist die Geschichte eines Regiments, das 1812 von Fürst Dmitriev-Mamonov aus eigenen Mitteln aufgestellt wurde. Die Truppe bestand fast vollständig aus Landstreichern, die wegen ihrer Undiszipliniertheit den Spitznamen »Mamaevcy« (= Barbaren, nach dem tatarischen Khan Mamaj, der im 14. Jahrhundert gegen die Russen kämpfte) bekamen. Das Regiment wurde nicht in Kampfgebieten eingesetzt und später auf andere Einheiten verteilt. Der Ural war eine weitere Gegend Rußlands, in der Soldaten angeworben wurden. Im 18. und 19. Jahrhundert galt als wirtschaftliche Grundlage der Uralkosaken der einträgliche Fang und Verkauf von Stör. Unter diesen Bedingungen erschwerten sich die Umstände der Werbung: die während der ganzen Zeit zunehmende Entwicklung des Söldnertums, die Existenz armer, aber persönlich freier Männer und auch anderer, die zwar zum Dienst verpflichtet waren, dies aber nicht wollten, erforderten bedeutende Summen. So sehr das Söldnerwesen zu einer Gewohnheit der Uralbewohner wurde, so zäh war der spätere jahrzehntelange Kampf der Regierung um dessen Ausrottung. Eine der Maßnahmen war zum Beispiel die Umsiedlung von mehreren hundert Familien nach Zentralasien. Neben regulären Truppen im Bestand der russischen Armee existierten auch irreguläre, insbesondere Kosakeneinheiten, die sich auf besondere Weise rekrutierten. Das russische Kosakentum als militärisches und gesellschaftliches System war eine wahrhaft einzigartige Erscheinung: Entstanden im 16. Jahrhundert, lebte es wohlbehalten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts fort, als es im Zuge der stalinistischen Veränderung von Staat und Gesellschaft liquidiert wurde. Die historischen Wurzeln des Kosakentums gingen vom traditionellen Abwehrkampf der Grenzbewohner aus, der bäuerliche Arbeit und Dienst mit der Waffe verband. Der Kosakenstand gliederte sich bis zu seiner gesetzlichen Fixierung im 18. Jahrhundert in drei große soziale Gruppen: freie Kosaken, verschiedenartige Gruppen, die an den Grenzen Militärdienst leisteten, und das ukrainische Kosakentum. Die Expansion des Russischen Reiches nach Südosten und in den Osten erforderte nicht nur die Eroberung, sondern auch die Kolonisierung der besetzten Gebiete. Deshalb begann die zarische Regierung seit dem 18. Jahrhundert mit der Übersiedlung von Kosaken aus den inneren Gebieten an die Grenzen. Die Donkosaken wurden an die Wolga, in das Kuban- und Terekgebiet übersiedelt. Solche Verwaltungsmaßnahmen spielten eine große Rolle bei der Schaffung des Gebietes der Kubankosaken sowie bei der Formierung der Kosakenregionen von Semirecensk, Orenburg, Sibirien, des Ussuri, der Amur- und

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Bajkalregion. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstreckte sich längs der südlichen Grenzen Rußlands vom Asowschen bis zum Japanischen Meer eine Kette von Kosakengebieten. 1895 lebten in elf Kosakengebieten 2,8 Millionen Menschen, die dem Kosakenstand angehörten und etwa 353 000 Soldaten stellen konnten. Unter Peter dem Großen machten die Kosaken ein Viertel, im Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert 10% und im Jahre 1891 16% der russischen Armee aus. Die Rolle der Kosaken in der Kavallerie war noch bedeutender: Unter Peter dem Großen hatten sie dort einen Anteil von 50%, im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhunderts 30% und 1891 19%. Auf den Schlachtfeldern des 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwiesen sich die Kosaken als hervorragende leichte Reiterei, fähig zum Angriff auf die Flanken des Gegners und zu Aufklärungs- und Sicherungseinsätzen. Die hohen Kosten für die Unterhaltung einer regulären Reiterei waren ein Grund, warum die Führung es für nötig hielt, die Kosakenkavallerie im russischen Heer zu bewahren. Kosaken waren die idealen Soldaten für die Durchführung von Strafaktionen im Inneren aufgrund ihrer bereits fortgeschrittenen Entfremdung vom Bauerntum, der Fähigkeit zur Eigeninitiative in kleinen Gruppen und ihrer Beweglichkeit. Reguläre Einheiten blieben so von diesen unpopulären Einsätzen befreit. Das Kosakentum und auch die reguläre Armee dienten als eine Art gesellschaftliches Sammelbecken, weil ihnen Personen, die der starre Standesrahmen nicht erfaßte, gewaltsam zugeordnet wurden. In ihren Reihen befanden sich alle Personen, die im Kosakengebiet lebten, und in gewisser Weise auch diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in der regulären Armee dienen konnten. Die Dienstpflicht, der die Kosaken unterlagen, gründete sich gesetzlich auf ihre Befreiung von der Kopfsteuer und von anderen staatlichen Abgaben und Pflichten. Dafür war jeder aus dem Kosakenstand zu lebenslangem Dienst verpflichtet, das heißt, solange er in der Lage war, Waffen zu tragen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Anzahl der Kosaken, die aus dem Dienst austraten, und die entsprechende Anzahl der Einberufenen, ihr Alter und vieles mehr von der Balance zwischen den Erfordernissen des Staates und der Leistungsfähigkeit der Bevölkerung innerhalb der Kosakengebiete bestimmt. In Friedenszeiten nahm der Dienst einen Umfang an, der eine normale Wirtschaftsführung erlaubte; in Kriegszeiten standen praktisch alle wehrtauglichen Männer unter Waffen. Das Soldatenleben teilte sich in Feld- und inneren Dienst auf. Der Felddienst bestand aus Außendienst außerhalb des eigentlichen Territoriums und Etappendienst an den Grenzlinien in Heimatnähe. Im Inneren versahen sehr junge Männer und Veteranen den Garnisondienst. Stufenweise formierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Kosakengebieten die allgemeine Wehrpflicht in der klassischen Variante: Alle zum Dienst tauglichen Männer wurden bei Erreichen des 19. Lebensjahres zum aktiven Einsatz für drei Jahre einberufen und zählten danach 25 Jahre lang zur Reserve, die sich »L'gota« (Befreiung) nannte. Die Reserve nahm an Appellen, Manövern und Paraden teil. In Kriegsjahren wurde sie mobilisiert. Das Offizierkorps der Kosakenabteilungen rekrutierte sich aus den eigenen Reihen. Unteroffiziere avancierten nach einer gewissen Dienstzeit zu Offizieren. Die Kosakengebiete waren für die russische Regierung ein Experimentierfeld, wo die allgemeine Wehrpflicht

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bis zu ihrer Einführung in großen Teilen des Landes erprobt wurde. Dieses Experiment war ziemlich erfolgreich. Zum Beispiel stellten die Donkosaken jährlich 6100 Mann für den Militärdienst, während die nicht zum Stand der Kosaken zählende Bevölkerung nach dem Gesetz aus dem Jahre 1874 bei gleicher Einwohnerzahl nur 1700 Rekruten abstellten. In Reserve befanden sich im Jahre 1890 etwa 89000 Kosaken, aber nur 21000 »Bauern« unter Waffen. Während des russisch-türkischen Krieges der Jahre 1877/78 wurden in den Kosakengebieten Probemobilmachungen der Regimenter der ersten und der zweiten Linie vorgenommen, die mustergültig verliefen, was von vielen Heereseinheiten, die stark mit Reservisten aufgefüllt worden waren, nicht gesagt werden konnte. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den Kosakengebieten ergab sich aus folgenden Faktoren: 1. die wirtschaftlich starken Familienbetriebe der Kosaken schufen eine ausreichende Vorratshaltung, so daß man drei Jahre ohne besondere Arbeitskräfte auskam, Landarbeiter verdingte und nicht genutzten Boden verpachtete; 2. die traditionelle Loyalität der Kosaken zur Regierung erübrigte die Frage der Gefahr einer allgemeinen militärischen Ausbildung für die herrschenden Gruppen; 3. in Kosakengebieten gab es größere Gruppen bürgerlich-demokratischer Gesellschaftsschichten als in anderen Regionen Rußlands, und die allgemeine Wehrpflicht erfordert eben ein bestimmtes Niveau an bürgerlichem Bewußtsein. Radikale Veränderungen im Rekrutierungssystem der Armee setzten nach der Inkraftsetzung des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht im Jahre 1874 ein. Grundlage des neuen Systems war das Prinzip, daß alle Untertanen ohne Ausnahme der Wehrpflicht unterlagen, es sei denn, medizinische Gründe sprachen dagegen. Dieses Prinzip der Verpflichtung für alle Stände schlug eine tiefe Bresche in die klare Trennung der russischen Gesellschaft in Dienstleute und Steuerzahlende und war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der bürgerlichen Umgestaltung des Landes. Nach den neuen Gesetzen mußte jeder, der das 20. Lebensjahr erreicht hatte und wehrtauglich war, an einer Losziehung teilnehmen. Jedes dritte Los bedeutete ein Einberufung für sechs Jahre Aktivdienst und für neun Jahre Dienst in der Reserve. Für die Flotte galten entsprechend sieben und zwei Jahre. Diese tiefgreifenden Veränderungen der Rekrutierung wurden möglich, weil Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg ernsthafter Reformen des Staats- und Gesellschaftsaufbaus einschlug: 1861 war das Jahr der Bauernbefreiung. 1864 erhielten die Provinzen prinzipell das Recht der Selbstverwaltung, das sechs Jahre später auch auf die Städte erweitert wurde. 1864 wurden im Land Geschworenengerichte eingeführt, und seit 1863 besaßen auch die Universitäten das Recht der Selbstverwaltung. Seit 1865 erweiterte sich dank des neuen Zensursystems die Pressefreiheit. Vom Ende der fünfziger bis zu den siebziger Jahren schwächte sich die polizeiliche Kontrolle des Staates in den Bereichen der Kultur, Ökonomie und des gesellschaftlichen Lebens merklich ab. Das wirtschaftliche Wachstum, die Zunahme des Bürgertums an Zahl und politischem Gewicht, das erhöhte Bildungsniveau aller Schichten war die Grundlage für die Einführung der neuen Formen der Rekrutierung. Eine große Rolle spielten auch äußere Faktoren. Der Krimkrieg 1853 bis 1856 brachte die Rückständigkeit der Bewaffnung, der Ausbildung und Organisation von Armee und Flotte Rußlands an den Tag, doch über die Aufhebung der Dienstpflicht sprach man in

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Regierungskreisen nur sehr vorsichtig. Besondere Aufmerksamkeit verwandte man bis zum Beginn der siebziger Jahre auf die technische Waffenentwicklung und auf die Verbesserung überalterter Formen der Führung und Versorgung. Der preußisch-österreichische und der deutsch-französische Krieg zeigten die Effizienz der allgemeinen Wehrpflicht und die Möglichkeit, Heeresverbände aus Reservisten zu bilden. Auf der anderen Seite erlaubten die gestiegenen Kosten für Bewaffnung, Munition und Ausbildung nicht den Unterhalt einer großen Armee in Friedenszeiten. Die erfolgreiche Durchführung der Landreformen und der Aufstieg des Bürgertums gaben jedoch den Anstoß zur Umgestaltung des Rekrutierungsmodus. Die allgemeine Wehrpflicht forderte völlig klare sozial-ökonomische und politische Grundlagen: 1. verhältnismäßig geringe soziale Spannungen in einer Gesellschaft mit hohem Anteil militärisch gesinnter Menschen; 2. einen ausreichenden Lebensstandard; 3. keine Hindernisse mehr für einen freien Standeswechsel der Rekruten; 4. ein hohes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte des Landes, die es in den Stand setzten, für die Armee Bewaffnung, Munition und Transportmittel zur Verfügung zu stellen. Im Rußland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlten diese Grundlagen für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht: Die Regierung war sich der Loyalität ihrer Untertanen nicht sicher, die Landwirtschaft konnte keine ausreichenden Reserven schaffen, die Wirtschaft des Landes war weder in der Lage, eine große Armee mit Gerät und Munition zu versorgen noch ein zureichendes Transportsystem zu schaffen, das militärische Einheiten an den Kriegsschauplatz bringen konnte. Die Grenzen der Reform zeigten sich im Fehlen eines wichtigen Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht: der Einheit von Rechten und Pflichten des Bürgers bei der bewaffneten Verteidigung des Vaterlandes. Eine problematische Situation entstand dadurch, daß die bürgerlich-demokratische Konstruktion der allgemeinen Wehrpflicht nicht auf einer zivilen Gesellschaft, sondern der Untertanenschaft beruhte. Die Grenzen der Reform offenbarten sich weiterhin in zahlreichen Ausnahmen und Privilegien, die allerdings nicht den Adel begünstigten, wie die sowjetische Historiographie behauptet hat. Nur 0,3% der Rekruten hatten Vorrechte aufgrund ihrer höheren Bildung, 0,04% wegen ihres Besitzes. Das Abschaffen dieser Privilegien hätte der Armee keine Vorteile gebracht, wäre aber ein Schlag gegen die Interessen der Bildungsschichten und der Handels- und Industriekreise gewesen. Die langen Dienstzeiten erlaubten es, die Soldaten, die ja den Eid auf den Zaren geleistet hatten, so eng an seine Person zu binden, daß die Armee auch weiterhin zur Unterdrückung von Volksaufständen eingesetzt werden konnte. Zur Katastrophe kam es aber erst 1916/17, als in die Armee riesige Mengen ungebildeter Bauern und Arbeiter einströmten, die auf die Mechanismen der Kriegsmaschinerie nicht vorbereitet waren. Faktisch blieben diese Männer Untertanen, denen man Waffen in die Hände gedrückt hatte. Der Zusammenbruch des Heeres war deshalb nur eine Frage der Zeit. Die Wehrpflicht, der Kriegsdienst erwiesen sich als wichtige Kanäle für einen horizontal und vertikal wirkenden Ausgleich innerhalb der Bevölkerungsschichten. Steuerpflichtige, die Waffen trugen, wechselten in eine andere gesellschaftliche Schicht. Adlige, die in den Militärdienst traten, erwarben Rechte, die typisch für die Beamtenschaft waren:

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Besoldung, Pension und ein Amt in der Zivilverwaltung. Einfache Soldaten, ehemalige Bauern, konnten sich empordienen und sogar einen Offizierrang und mit ihm Rechte des Adels erhalten. Adlige Offiziere konnten bei Verstößen ihren Status verlieren und auf die Stufe eines gemeinen Soldaten gestellt werden. Da der Großteil der Armee vom 18. bis ins 20. Jahrhundert in den westlichen Gouvernements stationiert war, dienten auch Tausende von neueingezogenen Rekruten aus dem Osten in der westlichen Ukraine, in Polen, Weißrußland und im Kaukasus. Weil sie in den Häusern der örtlichen Bevölkerung wohnten, hatten sie engen Kontakt mit ihr. Die Regimentswirtschaft, die Teilnahme von Soldaten an der allgemeinen Arbeit führte dazu, daß sie auch mit den Arbeitsgewohnheiten, Geräten und Materialien der Bevölkerung vertraut wurden. Die Soldaten, die auf das Land verteilt waren, übermittelten der Bevölkerung Traditionen, sprachliche Besonderheiten, Folklore u.ä. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Heer und besonders die Marine zu einem Zentrum der Berufsausbildung von Industriearbeitern. Jährlich gewöhnten sich Tausende von Menschen an die Arbeit mit Dampf- und Elektromaschinen, mit Pumpen, mit Metall und anderem mehr. In den achtziger Jahren entstanden Probleme mit technisch spezialisierten Unteroffizierkadern, weil auch eine Erhöhung der Besoldung dem Drang der Schiffsmechaniker, der Heizer und anderer Spezialisten nach besser bezahlten Arbeitsstellen nicht abhelfen konnte. Der Dienst in den Streitkräften trug zudem zur Eingliederung fremder Nationalitäten, wie Balten, Ukrainer, Weißrussen, Mordwinen, Tataren und anderen, in den russischen Kulturkreis bei. Das Militär diente zudem als Wegbereiter für die Einbindung georgischer, armenischer, tatarischer und aserbaidschanischer privilegierter Gruppen in den russischen Adel. In der vorpetrinischen Zeit bestand das Offizierkorps aus Erbadligen und Bojaren, wobei Prominenz und die Nähe zum Thron über die Feldherrnwürde entschieden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts änderte sich diese Gewohnheit: Verdienste und Kompetenz standen fortan an erster Stelle. Die Beförderung von Offizieren aufgrund von Verdiensten im Krieg erlaubte es selbst bäuerlichen Aufsteigern, einen Rang und die Adelswürde zu erhalten. Vom 18. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren etwa 10% der Offiziere Adlige der ersten Generation. Der Militärdienst war daher einer der Kanäle zum Aufstieg in die Reihen des russischen Adels. Der Militärdienst galt als die vornehmste Beschäftigung eines Adligen und wurde von jungen Edelleuten als Pflicht aufgefaßt. Die Armee und insbesondere die Garde waren ein hervorragendes Sprungbrett für eine zivile Karriere, da die rasche Beförderung in der Armee es schon 30- bis 35jährigen erlaubte, in ein beliebiges Ministerium als Wirklicher Staatsrat oder Geheimrat einzutreten. Dabei stellten die Militärs ihre Altersgenossen, die in den Kanzleien der Zivilverwaltung arbeiteten, bei weitem in den Schatten. Der Militärdienst und der Eid, der den Adel an den Thron band, bestimmten auch dessen politische Aktivitäten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhöhte sich die Zahl der Offiziere, die aus nicht privilegierten Schichten der Bevölkerung aufgestiegen waren. In der Garde und in der Marine allerdings erhielt sich der Anteil der Erbadligen. In diese Zeit fällt auch eine Demokratisierung des Offizierkorps. Ausgestattet mit Adels-

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Privilegien, wurden aus ehemaligen Bauern und Kaufleuten, die den Geist des neuen Standes atmeten, ergebene Diener der Monarchie. Ungeachtet dessen, daß in Rußland sowohl Mannschaftsdienstgrade als auch Offiziere Sold empfingen, unterschied ihre Lage und Mentalität sie von Söldnern. Für die unteren Dienstgrade war der Dienst eine unausweichliche Pflicht, für Offiziere aber ein ehrenvoller Brauch und galt als hochgeachtete Beschäftigung für einen Mann von Adel oder guter Herkunft. Ungeachtet der Filterfunktion der Armee, fanden sich in ihr nur wenige soziale Außenseiter. Bis 1874 existierte in Rußland Verne persönliche Wehrpflicht, sie war eine Angelegenheit des Standes. Sogar Adlige, die bis 1763 ihrer feudalen Dienstpflicht nachkommen mußten, konnten sich ihr entziehen, wenn sie in einen anderen, im gesellschaftlichen Status niedrigeren Stand — etwa den des Kaufmanns — überwechselten. So waren im vorrevolutionären Rußland alle Formen des Wehrdienstes auf das Prinzip des Untertanenverbandes gegründet und nicht auf eine demokratische Gesellschaft. Damit war die Dienstpflicht bis ins späte 19. Jahrhundert ein wichtiger Hemmschuh auf dem Weg in eine bürgerliche Demokratie.

Herman Amersfoort

Der Untergang der Berufsarmee. Die Wehrpflicht in den Niederlanden im Spannungsfeld von Verfassung und Landesverteidigung 1813—1829

Die Geschichte der Wehrpflicht ist heutzutage für einen niederländischen Militärhistoriker in mindestens zweierlei Hinsicht von aktueller Bedeutung. Erstens haben die Niederlande seit dem Ende des Kalten Krieges in stärkerem Maße als vorher Truppen für Friedenssicherung und Krisenmanagement, sei es für die Vereinten Nationen, sei es in einem anderen Verband, zur Verfügung gestellt. Alle drei Teilstreitkräfte waren bei den Operationen »DESERT SHIELD« und/oder »PROVIDE COMFORT« durch Einheiten vertreten. Die drei Teilstreitkräfte tragen momentan zum Friedensprozeß in Kambodscha bei, und das Königlich-Niederländische Heer hat der U N O im ehemaligen Jugoslawien eine Fernmeldeeinheit und Transportverbände zur Verfügung gestellt. Beim Personal handelte bzw. handelt es sich dabei in der Hauptsache um Berufssoldaten oder Wehrpflichtige, die sich freiwillig gemeldet haben. Das niederländische Gesetz erlaubt zwar, Wehrpflichtige auch gegen ihren Willen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes einzusetzen, aber ein Votum des Parlaments erfordert zusätzlich die Zustimmung des Parlaments in diesem Fall. Zweitens war unser Land Schauplatz einer gesellschaftlichen Diskussion geworden, die sich um die Frage drehte, ob in Zukunft die Wehrpflicht als Träger des Streitkräfteaufkommens erhalten bleiben sollte oder ob die Niederlande zu Berufsstreitkräften übergehen sollten. Diese Diskussion war vor allem für das Heer von Bedeutung, das jährlich ungefähr 30 000 wehrpflichtige Jugendliche einberuft. Marine und Luftwaffe machen kaum von der Wehrpflicht Gebrauch. In dieser Diskussion machte sich wachsender Widerstand gegen die Wehrpflicht bemerkbar. Sie wird als sozial ungerecht angesehen, weil nur ungefähr ein Drittel der Jahrgänge zum aktiven Wehrdienst einberufen wird. Zudem stellt sich das Problem, daß Wehrpflichtige, wie bereits bemerkt, nicht ohne Zustimmung des Parlaments außerhalb des NATO-Bündnisgebietes eingesetzt werden können. Für die neuen Aufgaben der niederländischen Streitkräfte scheinen unmittelbar und überall einsetzbare Berufssoldaten geeigneter als Wehrpflichtige. Der Verteidigungsminister hat deshalb eine Kommission ins Leben gerufen, die ein Gutachten über Beibehaltung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht vorlegen soll. Diese Kommission hat sich Ende September 1992 für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen, wenn auch unter bestimmten Bedingungen. Es war zu diesem Zeitpunkt schwer vorhersehbar, was Ministerrat und Volksvertretung damit anfangen würden. Einerseits war der Moment, daß sich die Niederlande von der Wehrpflicht verabschiedeten, näher gerückt als je zuvor, andererseits herrschten große Zweifel, ob durch Freiwilligenwerbung innerhalb des eigenen Landes ausreichend Personal für die Aufrechterhaltung eines

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Berufsheeres rekrutiert werden konnte. Die Stärke des Wehrpflichtsystems war immer, daß ein Kader-Miliz-Heer billiger ist als ein Berufsheer und daß das Personalaufkommen weniger von den Wechselfällen und Beschränkungen des einheimischen Arbeitsmarktes abhängig ist. Der Sinn des Ganzen würde doch wohl nicht sein, mit einer Wiederaufnahme der Ausländerwerbung in den Schweizer Kantonen und in deutschen Gebieten wie den Hansestädten, Nassau oder Mecklenburg-Schwerin alte Zeiten Wiederaufleben zu lassen! Schon im Januar 1993 ist diese Diskussion beendet worden, als der Verteidigungsminister vorschlug, zwar nicht die Wehrpflicht abzuschaffen, aber dennoch die tatsächliche Einberufung von Wehrpflichtigen zum Jahre 1998 auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Ministerrat und Parlament sind diesem Vorschlag gefolgt. Die Niederlande haben also eine historische Entscheidung hinter sich. Dies scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, der Frage nachzugehen, was die Geschichte uns über die Wehrpflicht zu sagen hat. Und was liegt mehr auf der Hand, als zu den allerersten Anfängen zurückzukehren, der Einführung des ersten eigenen Milizsystems, also die napoleonische Konskription außer acht lassend. Für diejenigen, die mit der niederländischen Geschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts weniger vertraut sind, sind möglicherweise ein paar kurze Anmerkungen hilfreich. Nach der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 drangen russische Vorhuten auf niederländisches Territorium vor. Sie waren zu schwach, die Franzosen zu vertreiben, zwangen sie jedoch, sich in einige Festungen zurückzuziehen. Die Franzosen sollten die letzte dieser Festungen übrigens erst im Mai 1814 übergeben. Von einem niederländischen Heer konnte zum damaligen Zeitpunkt keine Rede sein. Die in den Niederlanden ausgehobenen Truppen waren in Rußland untergegangen oder in alliierter Kriegsgefangenschaft verschwunden. Im Land befanden sich lediglich französische Besatzungstruppen. A m 21. November 1813 trat eine provisorische Regierung an, die es sich zur Aufgabe stellte, eine eigene bewaffnete Streitmacht zu formieren und Wilhelm Friedrich, den Erbprinzen von Oranien, ältesten Sohn des 1795 vertriebenen Statthalters, aus England in die Niederlande zu holen, um ihm die Krone anzubieten. Der Erbprinz kam am 30. November und akzeptierte am 2. Dezember unter dem Namen Wilhelm I. die Regierung mit dem Titel »Souveräner Fürst«. Der Königstitel wurde wegen der republikanischen Vergangenheit aus der Zeit vor 1795 noch vermieden, aber Wilhelm I. sollte sich am 16. März 1815 zum König ausrufen. Zu dieser Zeit war auf dem Wiener Kongreß bereits beschlossen worden, die Nördlichen mit den Südlichen Niederlanden, die 1713 von Osterreich geerbt worden waren, in nächster Zukunft zu einem Staat zu vereinen, als Bollwerk gegen eine eventuelle erneute französische Expansion. So wagte Wilhelm I., sich auch zum König über die Südlichen Niederlande zu erklären. Von der Annahme der Krone Anfang Dezember 1813 an war es also Wilhelm I., von dem Initiativen für den Wiederaufbau des Niederländischen Heeres erwartet werden durften 1 . 1

Den Wiederaufbau des niederländischen Heeres nach 1813 habe ich eingehend beschrieben in: Koning en Kanton. De Nederlandse staat en het einde van de Zwitserse krijgsdienst hier te lande 1814—1829, Den Haag 1988, S. 5 5 - 1 0 7 , 2 2 7 - 2 3 9 und 2 7 9 - 3 0 5 .

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1814: Ein neues Heer Bereits am 20. Dezember 1813 verkündete der Fürst das Reglement für die Allgemeine Volksbewaffnung, mit dem die Landmiliz ins Leben gerufen wurde 2 . Man muß sich jedoch vor Augen halten, daß ihr militärischer Wert äußerst bescheiden war. Ihr Umfang wurde im Januar 1814 vom Fürsten auf noch nicht einmal 22000 Mann festgelegt. In normalen Zeiten sollte sie nur einmal pro Jahr für die Herbstübungen einberufen werden. Sie hatte zudem keinen Friedenskern, weil auch das gesamte Unteroffizier- und Offizierkorps aus den Reihen der Milizpflichtigen rekrutiert werden sollte. Die Landmiliz existierte also mehr als zehn Monate im Jahr schlichtweg nicht. Sie war zu Hause, »am häuslichen Herd«, den häuslichen Beschäftigungen überlassen. Ihre Aufgabe stellte sich dementsprechend bescheiden dar: die Verteidigung des »heimatlichen Bodens« durch Besetzung von Festungen und die Sicherung des Hinterlandes für das Feldheer, dessen Reserve es zudem bilden sollte. Sie war ungeeignet, bei Feldzügen oder Feldschlachten selbständig zu operieren. Aus diesen Tatsachen läßt sich bereits ableiten, daß für den Fürsten die Wehrpflicht nicht der wichtigste Träger des Heeresaufkommens werden sollte. Im Gegenteil, Wilhelm I. stand etwas ganz anderes vor Augen: ein Berufsheer nach dem Muster des 18. Jahrhunderts. Die Anwerbung hierfür begann bereits im Dezember 1813, einige Tage nachdem Wilhelm I. die Krone angenommen hatte. Am 9. Januar legte er den Umfang dieses Stehenden Heeres auf gut 30000 Mann fest. Es sollte sich schnell zeigen, daß dieser Plan zu ehrgeizig war, so daß der Souveräne Fürst die Formation im September 1814 auf gut 24 000 Mann verringerte. Der heimische Markt hatte sich für die Anwerbung als zu knapp erwiesen. Zur Beseitigung dieses Defizits und zur weiteren Verstärkung des Heeres ließ Wilhelm I. 1814, 1815 und 1816 darüber hinaus Korps im Ausland anwerben, und zwar zwei Regimenter in Nassau 3 und vier in der Schweiz 4 , beides traditionelle Gebiete für die Freiwilligenwerbung, auf die man im 18. Jahrhundert auch ständig zurückgegriffen hatte. Die Formationsstärke dieser ausländischen Truppen betrug 1815 insgesamt gut 11500 Mann. Das heißt, daß ungefähr ein Drittel des geplanten Heeres aus Ausländern bestehen würde, was auch nach den Maßstäben des 18. Jahrhunderts viel war. Die Erklärung für diesen hohen Ausländeranteil ist einfach. Erstens stand Wilhelm I. unter Zeitdruck. Die Franzosen hielten noch bis weit ins Frühjahr 1814 hinein Festungen innerhalb seines Reiches besetzt, die Verbündeten erwarteten von ihm einen Beitrag zum Krieg gegen Frankreich, und er selbst hegte bis 1815 Expansionspläne, die sich auf das Gebiet zwischen Rhein, Maas und Mosel richteten. Zweitens wünschte der Fürst ein im Vergleich zum Bevölkerungsumfang großes Heer. Die Vereinigung der Nördlichen und Südlichen Niederlande, die auf dem Wiener Kongreß 1815 beschlossen worden war, hatte doch zum Zweck, einen Wall gegen mögliche künftige Aggressionen Frank-

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Reglement van Algemene Volkswapening, Staatsblad van het Koninkrijk der Nederlanden 1813—1814, nr 14. Amersfoort, Koning en Kanton (wie Anm. 1), S. 97—105. Ebd., S. 1 0 9 - 1 8 6 .

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reichs zu errichten. Ohne ein starkes Heer war dies nicht möglich. Vor allem die Briten, in der Person Feldmarschall Wellingtons verkörpert, beobachteten die Stärke des Heeres Wilhelms I. mit Besorgnis5. Nach britischer Auffassung hatte das niederländische Heer die Aufgabe, beim nächsten Konflikt mit Frankreich die Südlichen Niederlande nicht aus der Hand zu geben, so daß ein britisches Expeditionsheer an der flämischen Küste landen konnte, um von diesem Brückenkopf aus in den Kampf einzutreten und den Franzosen ein neues Waterloo zu bescheren. Die Briten gingen davon aus, daß das Königreich Wilhelms I. für diese Aufgabe jederzeit kurzfristig mindestens 50000 Mann für den Fronteinsatz ins Feld führen mußte. Sie bezweifelten allerdings ernsthaft, daß dies je gelingen würde. Vor diesem Hintergrund war für den König ein starkes Heer ein unentbehrliches Instrument seiner Außenpolitik, und das um so mehr, als in jener Zeit der Umfang des Heeres einer der wichtigsten Maßstäbe für die Rangordnung der Mächte war. Schließlich und endlich spielte das Heer eine Rolle bei den inneren Verhältnissen des Landes. In den Garnisonen überall im Königreich Niederlande repräsentierten die einsatzbereiten Truppen die Präsenz der Staatsgewalt. Dies wurde am nachhaltigsten sichtbar, wenn zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die Streitkräfte zu Hilfe gerufen wurden. Aber auch in friedlichen Zeiten bestimmten die Soldaten das Straßenbild in viel stärkerem Maße als heute. Auch war das Heer und insbesondere das Offizierkorps einer der Stützpfeiler des Thrones. Auch in dieser Hinsicht blieb Wilhelm I. mit seinem Stehenden Heer in der Tradition des 18. Jahrhunderts.

Stehendes Heer und Nationale Miliz Kein Wunder also, daß Wilhelm I. einem starken Stehenden Heer eine so große Bedeutung beimaß. Es stand viel für ihn auf dem Spiel. Das erklärt auch sein Zögern, als er durch die unten eingehender erklärten Umstände gewzungen wurde, nach einer Alternative Ausschau zu halten. Eine Alternative war natürlich die Wehrpflicht. Im Kriegsministerium hatte sich ziemlich schnell, bereits Mitte des Jahres 1814, der Gedanke festgesetzt, daß es auf die Dauer unvermeidbar sein werde, für die Aufrechterhaltung des Heeres stärker auf die eigene Bevölkerung zurückzugreifen, und zwar auf der Grundlage eines Wehrpflichtsystems: das einzige effektive Mittel. Dem unsicheren Aufkommen aus der Freiwilligenwerbung im In- und Ausland stand der gut vorhersehbare Umfang der jährlichen Aushebungen gegenüber. Zudem war eine nationale Personalausstattung, hauptsächlich mit Milizionären, billiger. Eine Berechnung Anfang des Jahres 1819 lehrte Graf d'Aubreme, zu diesem Zeitpunkt Leiter dieses Ministeriums, daß der niederländische Soldat ein Viertel weniger als sein im Ausland angeworbener Kamerad kostete6.

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Wellington an Castlereagh, 2 9 . 4 . 1 8 1 6 , in: Gedenkstukken der algemene geschiedenis van Nederland van 1795 tot 1840, ed. H.T. Colenbrander, lOBde, Den Haag 1 9 0 5 - 1 9 2 2 , BdVII-1, S . 3 1 . D'Aubreme an Willem I, 2 9 . 3 . 1 8 1 9 , La Y2, Algemeen Rijksarchief ( A R A ) Den Haag, Archiv Ministerie van Oorlog Geheim Archief 1813—1844 (MVO geheim) inv. nr 19.

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Den Plänen des Königs zu Beginn des Jahres 1814 zufolge sollte das Stehende Heer das eigentliche Heer werden, innerhalb der Landesgrenzen unterstützt von einer Miliz von bescheidener militärischer Bedeutung. Von diesen idealen Vorstellungen ist bitter wenig zustande gekommen. Mitte 1814 hatte sich der Aufbau des Heeres völlig festgefahren. Das Freiwilligenaufkommen für das Stehende Heer blieb bereits damals weit hinter dem Bedarf zurück, und die Qualität ließ sehr zu wünschen übrig. Angesichts dieser Probleme rief Wilhelm I. am 24. Juli 1814 eine Kommission ins Leben, die Kommission für das Wehrwesen, die innerhalb des Kriegsministeriums arbeiten sollte. Zu Anfang fiel ihr auch nichts Besseres ein, als die Ausländerwerbung um die Hälfte des bereits geplanten Umfangs auf die Sollzahl von 18000 zu erhöhen. Eine so hohe Zahl sprengte jedoch jeden Rahmen. Es mußte etwas anderes geschehen. Die einzige Möglichkeit, die übrig blieb und der sich auch die Kommission nicht verschließen konnte, bestand darin, stärker auf die Miliz zurückzugreifen und ihr Aufgaben zu übertragen, die vordem dem Stehenden Heer vorbehalten waren. Das war allerdings nicht so ohne weiteres möglich. Die Landmiliz hatte Wilhelm I. noch durch die einfache Verkündung eines Reglements, des Reglements für die Völksbewaffnung vom 20. Dezember 1813, aufstellen können. Seit der ersten Versammlung der Generalstaaten im Mai 1814 hatten sich jedoch die politischen Umstände geändert. Das Stehende Heer war auf Grund der Verfassung unverändert die Domäne des Fürsten. Wollte er aber die Wehrpflicht, die auf dem Volk lastete, verschärfen, würde er mit dessen Repräsentanten verhandeln und zu Konzessionen bereit sein müssen. Von jetzt an gehörte die Heeresstruktur zum Instrumentarium im Machtstreit zwischen dem Fürsten und der Opposition in den Generalstaaten und dies — seit der Einführung der Verfassung im Jahre 1815 — vor allem in deren Zweiter Kammer. Das Gesetz über die Nationale Miliz vom 27. Februar 1815, ein gemeinsames geistiges Produkt des Innenministeriums und der Kommission für das Wehrwesen, stellte den ersten Kompromiß zwischen dem Souveränen Fürsten und den Generalstaaten dar 7 . So kurz nach dem Ende der Kriege gegen Napoleon konnte Wilhelm I. noch ein günstiges Ergebnis durchdrücken. Die Trennung zwischen Stehendem Heer und Miliz blieb erhalten, weil beide Parteien darauf Wert legten. Der Fürst behielt so sein Berufsheer, und die Generalstaaten wußten auf diese Weise zu vermeiden, daß die Milizionäre, wenn sie unter Waffen standen, mit den Freiwilligen in Berührung kamen. Die Generalstaaten befürchteten nämlich, daß Milizionäre nach ihrer Eingliederung leichter den Verlockungen der Werber für das Stehende Heer erliegen würden, als wenn sie sich zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung aufhielten. Auch konnten die Generalstaaten es als Gewinn betrachten, daß neben der Stellvertretung (ein durch das Los zum Wehrdienst Bestimmter kauft sich einen Ersatzmann) nun auch der Nummerntausch (ein durch Losentscheid nicht Wehrpflichtiger tauscht freiwillig das Los mit einem Wehrpflichtigen) erlaubt war. Viel interessanter war allerdings, daß dieses Gesetz den Blankoscheck, den sich der Fürst durch das Reglement für die Allgemeine Volksbewaffnung selbst ausgestellt hatte, einzog. Die Rechtssicherheit nahm für Milizionäre beträchtlich zu, denn nun wurden erstmals die 7

Amersfoort, Koning en Kanton (wie Anm. 1), S. 76 ff.

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Lasten der Wehrpflicht genau definiert: der Umfang der Aushebungen, die Dauer von Wehrpflicht, Grundausbildung und Reserveübungen, die Bedingungen für Frei- und Zurückstellung, die Verfahren für Einschreibung, Einberufung und Eingliederung; all dies stand nun schwarz auf weiß und konnte dem Bürger bekannt gemacht werden. Für das Kriegsministerium war die wichtigste Veränderung, daß die Miliz jetzt einen festen Friedenskern erhielt. Im Herbst nämlich, wenn die Miliz beurlaubt wurde, verblieb ein Drittel bis zum darauffolgenden Frühjahr unter Waffen. Dank dieses Anteils würde die Miliz in Kriegszeiten im Prinzip die gleichen operativen und taktischen Aufgaben erfüllen können wie die Berufskorps. Er garantierte, so jedenfalls war die Erwartung, eine bessere Einsatzbereitschaft. Die Bestimmungen des Reglements, die die Miliz an lokale, statische Aufgaben banden, entfielen ebenfalls. An ihre Stelle traten zwei neue Einschränkungen, und zwar, daß die Miliz nur mit Zustimmung der Generalstaaten über die Landesgrenzen und unter keiner Bedingung in die Kolonien entsandt werden durfte. Trotz dieser Beschränkungen hatten sich die Milizbataillone von Territorialeinheiten zu Einheiten entwickelt, die für das Feldheer mehr oder weniger brauchbar waren. Das neue Verhältnis zwischen Miliz und Armee wurde bald auf die Probe gestellt. Die Landung Bonapartes am 1. März 1815 bei Golfe-Juan und sein Triumphmarsch nach Paris signalisierten erneute Kriegsgefahr. Wilhelm I. rief sich zum König der Vereinigten Nördlichen und Südlichen Niederlande aus, gab den Befehl zur Aufstellung eines aus Berufsund Milizbataillonen bestehenden Feldheeres und verfügte die Ausweitung des Geltungsbereichs des Milizgesetzes auf den südlichen Teil seines Reiches. So war es möglich, daß niederländische Milizbataillone am 15. Juni 1815 bei Quatre Bras und zwei Tage später bei Waterloo in den vorderen Reihen, Seite an Seite mit den in- und ausländischen Korps des Stehenden Heeres, im Feuer standen. Obwohl das niederländische Feldheer die Feuerprobe im allgemeinen gut überstand und Wilhelm I. auf diese Weise bewies, daß sein Land mit der Aufgabe, die ihm die Großmächte auf dem Wiener Kongreß zugeteilt hatten, nicht überfordert war, ließ sich nicht verbergen, daß sich die Werbung für das Stehende Heer in einer Sackgasse befand. Insbesondere das Kriegsministerium und die dort tätige Kommission für das Wehrwesen waren sich dessen sehr bewußt. Der Kommission zufolge waren Kampfeinheiten notwendig, die in ihrer Personalausstattung weniger von der Freiwilligenwerbung abhängig waren. Dieser Gedanke führte zu einer Reorganisation der Infanterie, die der König am 8. Oktober 1815 verkündete8. Die verfügbaren 28 nationalen Berufsbataillone, die personell oft weit hinter der vorgeschriebenen Stärke zurückblieben, wurden zu 17 Bataillonen neugeordnet. Diesen standen 51, also dreimal soviele Bataillone Nationale Miliz gegenüber. Aus den insgesamt 68 Bataillonen wurden 17 Abteilungen (Regimenter) mit jeweils einem Berufsbataillon und drei Bataillonen Wehrpflichtiger gebildet. Durch die Schaffung dieser gemischten Abteilungen war es unvermeidlich, daß Armee und Miliz fortan auch taktisch zusammengehören und in Kriegszeiten dieselben Aufgaben durchführen würden. Eine kaum verhüllte Absicht dieser Zusammenlegung war, die Wehrpflichtigen mit den Berufssoldaten in näheren Kontakt zu bringen, in der Hoffnung, daß die Milizionä8

Ebd., S. 81 ff.

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re die Laufbahnperspektiven des freiwilligen Dienstes entdecken und sich bei der Armee verpflichten würden. Irgendwelcher Widerstand gegen diese Reform seitens der Mitglieder der Zweiten Kammer ist nicht bekundet. Der Feldzug gegen Bonaparte im selben Jahr war noch zu frisch im Gedächtnis. Sowohl der König als auch die Generalstaaten sahen Vorteile in der Aufstellung von gemischten Abteilungen. Der König konnte jetzt in noch größerem Umfang als vorher Milizbataillone für dieselben Operationen einsetzen, die vorher dem Stehenden Heer vorbehalten waren. Er zahlte dafür allerdings einen Preis, der gleichzeitig einen Gewinn für die Generalstaaten bedeutete. Dieser Preis war, daß die Armee als eigenständige Heeresorganisation im Machtbereich des Königs mit einer selbständigen und ihr vorbehaltenen Aufgabe praktisch aufhörte zu bestehen. Nur noch die ausländischen Korps waren von ihr übriggeblieben; die allerdings waren zu schwach, um auf sich allein gestellt ins Feld zu ziehen. Die wohlwollende Haltung der Generalstaaten hielt auch im Jahre 1816 an. Die geringen Probleme, die der König hatte, ein neues Wehrpflichtgesetz durch die Kammern zu schleusen, bezeugen dies. Das Gesetz war nötig, um auch in den südlichen Ländern die Wehrpflicht auf eine gesetzliche Basis zu stellen. 1817 schlug die Stimmung in der Kammer um. Die Finanzpolitik des Königs, die große Haushaltsdefizite nach sich zog und der Kammer wenig Einfluß auf die öffentlichen Ausgaben zugestand, fing an, Widerstand auszulösen. Stein des Anstoßes waren natürlich die hohen Beträge, die für Zinsen und Tilgung der hohen Staatsschulden aufgewendet werden mußten, aber daran ließ sich kurzfristig nichts ändern. Nur der Etat eines einzigen Ministeriums, und zwar der des Kriegsministeriums, erreichte den Umfang des Finanzetats oder übertraf ihn sogar manchmal 9 . Er machte jährlich ungefähr ein Drittel des Staatshaushaltes aus. Bei der Behandlung des stark umstrittenen Haushaltsplans für 1817—1818 drängte beinahe die gesamte Kammer auf Sparmaßnahmen. Das Kriegsministerium stand ganz oben auf ihrer Liste. Es paßte nicht, so behauptete sie, mitten in Friedenszeiten Beträge für das Heer aufzuwenden, als befände sich das Land im Krieg. In den Jahren nach 1817 änderte die Kammer ihre Haltung nicht. Einen Höhepunkt stellte die Behandlung des ersten Zehnjahreshaushaltsplanes Ende 1819 und Anfang 1820 dar. Auf Wunsch Wilhelms I. war nämlich in der Verfassung von 1814 die Unterscheidung zwischen außerordentlichem oder einjährigem Haushalt einerseits und ordentlichem oder zehnjährigem Haushalt andererseits festgeschrieben worden. Dem Fürsten lag natürlich alles daran, so viele Ausgaben wie möglich im zehnjährigen Haushaltsplan unterzubringen. Die zweite Kammer dachte darüber natürlich anders. Der erste Zehnjahreshaushalt sollte von 1820 bis einschließlich 1829 gelten. Insgesamt zweimal, und zwar mit mehr als ausreichender Mehrheit, hat die Zweite Kammer nun diesen Haushaltsplan abgelehnt und ihn erst in seiner dritten Fassung angenommen. Die wachsenden Einwände in der Kammer gegen den Kriegsetat kamen Wilhelm I. sehr ungelegen. Eine erneute Abänderung des Wehrpflichtsystems stand an. Der Personalbestand der Bataillone des Stehenden Heeres war nämlich weiterhin rückläufig, weil dieje9

Ebd., S. 232 ff.

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nigen, die sich für den Soldatenberuf entschieden, lieber bei der Miliz als Stellvertreter in Dienst traten, als sich bei der Armee zu verpflichten. Der Betrag, den ein Stellvertreter sich ausbedingen konnte, belief sich schnell auf das Zehn- bis Zwanzigfache des Handgeldes, das eine Verpflichtung einbrachte. Das Freiwilligenaufkommen blieb weit hinter dem Bedarf zurück, und auch Altgediente des Stehenden Heeres gingen nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst lieber als Stellvertreter zur Miliz. Der Personalbestand des Heeres flöß allmählich in die Miliz ab. Die Berichte von Truppenkommandeuren, die zu d'Aubreme ins Ministerium kamen, waren in diesem Punkt unmißverständlich 10 . Die Defizite des Freiwilligenaufkommens mußten, zu diesem Schluß kam d'Aubreme, auf die eine oder andere Art durch eine verstärkte Einberufung von Milizionären ausgeglichen werden. Gleichzeitig mußte der Kriegshaushalt, der unter dem Druck der Kammer stand, gekürzt werden. Auch dies zeigte in die Richtung, stärker auf Wehrpflichtige zurückzugreifen. Wehrpflichtige, die ja für den Großteil der Zeit beurlaubt -waren, kosteten nun einmal weniger als Berufssoldaten. Der König mußte sich, ob er wollte oder nicht, erneut vor die Kammer begeben, um das Wehrpflichtsystem ändern zu lassen. D'Aubreme fand die Lösung in einer weiteren Reorganisation großen Stils vom 1. Januar 181911. Sie betraf vorläufig nur die Hauptwaffengattung: die Infanterie. Die Reorganisation wurde durch einen Gesetzentwurf zur Ergänzung des Milizgesetzes unterstützt, der nach einigen Änderungen auf Ersuchen der Kammer am 28. November 1818 im Gesetzblatt erschien. Der neue Kompromiß zwischen König und Kammer folgte der durch die Reorganisation von 1815, bei der die gemischten Abteilungen ins Leben gerufen worden waren, vorgegebenen Richtung. Kern des Gesetzes und der Reorganisation war, daß der Mangel an Berufssoldaten durch zusätzliche Einberufung von bis zu 2900 Wehrpflichtigen pro Jahr ergänzt werden durfte. Nach fünf Aushebungen würde das Heer dann maximal 14 500 Wehrpflichtige zusätzlich haben. Dies war nur möglich, wenn innerhalb der Abteilungen auch das festgelegte Verhältnis von einem Berufsbataillon zu drei Milizbataillonen aufgegeben wurde. Das Bataillon des Stehenden Heeres wurde deshalb auch aufgehoben und das Personal vollzählig auf die drei Milizbataillone verteilt. Durch dieses Amalgam blieb vom Stehenden Heer, abgesehen von den ausländischen Korps, absolut nichts mehr übrig. Bis hinein in die Kompanien dienten nun Berufssoldaten und Milizionäre unterschiedslos neben- und miteinander. Bevor die Kammer dieser weiteren Militarisierung der Miliz zustimmte, mußte der König einige Zugeständnisse machen; und zwar: vorzeitige Beurlaubung und Freistellung von Reserveübungen für bestimmte Kategorien von Milizionären sowie Verkürzung des aktiven Wehrdienstes von fünf auf vier Jahre. Schließlich hat die Regierung durch den Innenminister in der Kammer erklären müssen, langfristig ein Heer anzustreben, das ausschließlich aus Niederländern zusammengestellt sein sollte, und damit von der Ausländerwerbung vollständig abzusehen. Die Reorganisation vom 1. Januar 1819 erreichte schließlich die Lösung für die Personalausstattung der Infanterie, die man bei früheren Kompromissen vergebens gesucht hat10 11

Keyzer an d'Aubreme, 28.5.1818, nr 10 A R A MVO geheim inv. nr 11. Amersfoort, Koning en Kanton (wie Anm. 1), S. 85—88.

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te. Auch die geplanten Einsparungen wurden realisiert. Dank dieses Eingriffes sank der Kriegsetat auf einen Schlag um mehr als 10%. In den darauffolgenden Jahren wurden auch bei den anderen Waffengattungen Miliz und Heer integriert: 1823 die Artillerie, 1824 die Kavallerie und 1828 schließlich die Pioniere. Der neue Kompromiß zwischen König und Kammer war also ein Erfolg, aber er beendete nicht die Kritik aus der Kammer. Noch immer repräsentierten die vier Schweizer Regimenter ein Überbleibsel des alten Stehenden Heeres. Die beiden Nassauischen Regimenter hatten bereits abgedankt, und zwar 1815, kurz nach der Schlacht von Waterloo, sowie im Jahre 1820. Das Versprechen, daß das Heer langfristig wirklich ein nationales sein sollte, mußte der König noch einlösen. Kammermitglieder, die Gegner hoher Aufwendungen für das Heer waren, in der Hauptsache südniederländische Abgeordnete, sprachen sich dann auch speziell gegen die Schweizer aus12. Diese Stimmen sollten nach 1821 allerdings zeitweise verstummen, weil die Ausgaben für die Schweizer als Teil des Zehnjahreshaushalts vorläufig noch der Zustimmung der Kammer entzogen waren. 1828, während der Vorbereitungen für den nächsten zehnjährigen Haushaltsplan, in einem Jahr, in dem die Spannung zwischen dem König und der südlichen Opposition erneut anstieg, fielen die beiden Schweizer Korps schließlich doch. Damit war der Kompromiß von 1819 auf eine logische Art und Weise zu Ende geführt. Die Niederlande erhielten das KaderMiliz-Heer, das sie heute noch haben.

Ein Heer des Königs oder ein Heer des Staates? Aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung wissen wir, daß darin zwei Prinzipien um den Vorrang stritten. Einerseits das monarchische Prinzip, demzufolge die Führung im Staat beim König liegt, und andererseits das Prinzip, daß der Staat in der Tradition der alten Republik von unten her aufgebaut wird. Diesem dualen System, wie es Bornewasser genannt hat, war der Streit zwischen dem König und jedenfalls dem liberalen Teil der Generalstaaten um die Führung im Staat inhärent 13 . Ein frühes Beispiel für diesen Machtkampf ist der Konflikt um die Wehrverfassung. Der Konflikt entstand, als der König an der harten Realität des Arbeitsmarktes scheiterte und es sich zeigte, daß er die Kammer für die Personalausstattung des Heeres brauchte. Für den König war die Wehrverfassung eng mit seiner Machtstellung, sowohl national als auch international, verbunden. Ein königliches Berufsheer, das Stehende Heer, konnte sie am besten garantieren. Für die Opposition und die Zweite Kammer stand die Heeresbildung ebenfalls im Zeichen der Macht. Dort gab man einem Wehrpflichtheer den Vorzug. Die Verhandlungen über die verschiedenen Milizgesetze gaben nämlich der Kammer die Gelegenheit, die Prärogative des Königs bei der Heerespolitik, die in der Verfassung

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13

Zum Beispiel Verslag der handelingen van de Staten-Generaal gedurende de vergaderingen van 1820— 1821, Anlagen, S. 186. Johannes Antonius Bornewasser, De zelfstandige eenheidsstaat in de Noordelijke Nederlanden gegrondvest 1 8 1 3 - 1 8 1 4 , in: Algemene Geschiedenis der Nederlanden, 15 Bde, Weesp 1 9 7 7 - 1 9 8 3 , Bd XI, S. 216.

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verankert waren, in gewissem Umfang zu durchbrechen. Überdies verschwand das Stehende Heer als eigenständige Organisation. Dies ermöglichte schließlich Einsparungen beim zweithöchsten Ministerialetat. Mit dieser Politik präsentierte sich die Kammer als eigenständiger Träger des Staates: unabhängig vom König und gegebenenfalls im Gegensatz zu ihm, mit einer eigenen Auffassung über die Staatsbelange. Die Kammer distanzierte sich auf diese Weise ebenfalls von den machtpolitischen Ambitionen des Fürsten. Die Streitkräfte waren in allererster Linie für die Verteidigung des eigenen Territoriums bestimmt. In dieser Auseinandersetzung um das Heer gab es noch eine weitere Partei, das Kriegsministerium. Einerseits mußte es den Direktiven des Königs folgen, aber andererseits handelte es auch aus seiner eigenen Amtslogik heraus. In den Augen der Kommission oder eines Mannes wie d'Aubreme ging es doch vor allem darum, daß das Heer über genügend Personal verfügte und ausreichend einsatzbereit gehalten wurde, so daß es im Kriegsfalle seiner Aufgabe gewachsen war, und daß die verfügbaren Finanzmittel zweckmäßig verwendet wurden. Dies war nur durch Demontage der kostspieligen Berufsarmee und die Akzeptanz der Miliz als Träger des Heeresaufkommens möglich. Nicht machtpolitische, mit der Person des Königs verbundene, sondern pragmatische und technische Erwägungen gaben dabei den Ausschlag. Der Druck, den das Kriegsministerium und die Liberalen in der Kammer gleichzeitig, aber im übrigen völlig unabhängig voneinander auf den König ausübten, sollte schließlich Erfolg haben. Das ursprünglich königliche Heer war auf dem besten Wege, ein Heer des Staates zu werden. Wie dies abgelaufen wäre, läßt sich schwer sagen, denn die politische und militärische Krise von 1830 brach die Entwicklung abrupt ab. Der kämpferischste Teil der Opposition kam in einem neuen Staat, Belgien, unter. Im Norden scharte sich die Nation um den Oranier-Thron. Unter diesen Umständen entpuppte sich eben das Kader-MilizHeer als ein brauchbares Instrument für die königliche Außenpolitik. Mit Begeisterung marschierten im August 1831 die Milizionäre und sogar die Schützen (lokale Einheiten wehrhafter Männer zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die auch als Armeereserve auftraten) auf, um den rebellierenden Belgiern eine Lektion zu erteilen. Einen wirklichen Durchbruch bei den Machtverhältnissen hatte die Kammer also noch nicht erreicht. Im Laufe der dreißiger Jahre sollte sich zunehmend zeigen, daß der König seinen Kredit überschätzt hatte, sowohl zu Hause als auch bei den Großmächten auf der Londoner Konferenz. Nach dem Rücktritt des enttäuschten Königs im Jahre 1840 sollten die Liberalen den 1830 abgerissenen Faden wiederaufnehmen, und dann mit mehr Erfolg. Dennoch beschäftigte die Frage der Wehrverfassung, die kurz vor 1820 entstanden war, die niederländischen politischen und militärischen Instanzen bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich Wilhelm II. ein ausgedehntes Festungssystem in den Kopf, diesmal vom Kriegsministerium, der »Bauwaffengattung« Pioniere und den Konservativen im Parlament unterstützt. Dazu sollte noch ein starkes Feldheer kommen, das im äußersten Fall, bei Verletzung der Neutralität des Landes, auch für einen Einsatz im Bündnis geeignet sein sollte14. Die Liberalen hatten 14

Willem Bevaart, Koning Willem II en de geconcentreerde defensie, in: Mededelingen van de sectie militaire geschiedenis, XIII (1990), S. 5—42.

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für diese Art machtpolitischer Spielchen wenig übrig. In ihren Augen zeigten die Entwicklungen Frankreichs unter Napoleon III. und Preußens unter dem Kanzler Bismarck, wie gefährlich Kriege für die inneren Kräfteverhältnisse zwischen der Monarchie und der noch jungen parlamentarischen Demokratie sein konnten. Lieber nahmen sich die Liberalen die Volksbewaffnung der Schweizer Kantone zum Vorbild. Dort sahen sie eine militarisierte, aber defensiv eingestellte Nation, ohne Kasernen, die mit einsatzbereiten Truppen gefüllt waren, und ohne beeindruckendes militärisches Gepränge. Es ist womöglich bezeichnend für die gemäßigten, bürgerlichen Niederlande, daß sie weder in das eine noch in das andere Extrem verfielen. Schrittweise entwickelte sich das Land zu einer parlamentarischen Demokratie mit einer konstitutionellen Monarchie. So wurde auch auf dem Gebiet der Wehrverfassung ein Kompromiß erreicht. Die Heeresgesetze von 1912 bescherten dem Land ein stärkeres Heer, als es je hatte, ohne daß dies zu politischen Abenteurertum führte 15 .

15

W i m Klinkert, Het vaderland verdedigd. Plannen en opvattingen over de verdediging van Nederland 1 8 7 4 - 1 9 1 4 , Den Haag 1992, S. 3 3 5 - 4 6 5 .

Hans Rudolf Fuhrer

Das Schweizer System. Friedenssicherung und Selbstverteidigung im 19. und 20. Jahrhundert

I. Problemstellung Bundesrat Kaspar Villiger, Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements, hat am 27. Juni 1992 1200 militärische Kommandanten zu einem Rapport in die Bundeshauptstadt Bern eingeladen. Er wollte aus erster Hand über die neue Sicherheitspolitik, über das aus dieser sicherheitspolitischen Konzeption abgeleitete neue Armeeleitbild 95 und über die geplante Armeereform informieren. Vertiefte Integration in Europa oder neutraler Alleingang? Militärisches Bündnis oder Selbstverteidigung? Allgemeine Dienstpflicht oder allgemeine Wehrpflicht? Das sind nur einige der Problemstellungen der Planung Armee 95. Bundesrat Villiger hat die aktuelle Krisenlage, die eine tiefgreifende Armeereform zur Folge hat, so beschrieben: »Nichts ist zur Zeit in unserem Land unangefochten. Während sich Europa im Aufbruch befindet und beharrlich das historische Ziel der politischen Einigung verfolgt, durchlaufen wir eine Phase der inneren Verunsicherung, der Selbstzweifel und der politischen Unrast. W i r bekunden Mühe, unsere Identität im heutigen Europa neu zu definieren. Das Spektrum der Meinungen reicht von der Illusion, nur Abschottung nach außen rette unsere Identität, bis zur Uberzeugung, die Idee Schweiz habe ausgedient, und der Auflösung der Schweiz im neuen Europa stehe eigentlich nichts entgegen 1 .«

Die Jahre, in denen die Militärorganisation sich änderte, waren bisher immer Schlüsseljahre der schweizerischen Militärgeschichte. Sie deuteten auf sicherheitspolitischen Wandel hin und ergeben deshalb eine brauchbare Periodisierung der Schweizer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Noch ist nicht absehbar, ob 1995 wirklich zu einem Schlüsseljahr werden wird. Die Unsicherheit in der Frage nach einem neuen sicherheitspolitischen Konzept ist jedoch nicht erst seit dem Berner Rapport sichtbar.

II. Die drei Grundpfeiler des Schweizer Systems Nach dem Schweizer Staatsrechtler des ausgehenden 19. Jahrhunderts Karl Hilty ist das Verständnis eines jeden Wehrwesens nicht möglich, wenn es nicht im Zusammenhang des gesamten Staatslebens, mit allen seinen inneren und äußeren Erscheinungen und in 1

Berner Rapport. Ansprache von Bundesrat Kaspar Villiger, Vorsteher des Militärdepartements, anläßlich des EMD-Rapportes mit rund 1200 Offizieren in Bern am 27. Juni 1992, in: documenta 2, Bundeskanzlei, Bern 1992, S. 2 9 - 3 5 .

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seinen Wechselwirkungen mit den übrigen Funktionen des Staates beurteilt wird 2 . Eine Beschränkung dieser Ausführungen auf die allgemeine Wehrpflicht allein könnte dem Schweizer Wehrwesen nicht gerecht werden. Wir wollen aus diesem ganzheitlichen Ansatz heraus drei für die Zielsetzungen dieser Tagung besonders wichtige historische Grundlagen, die das Schweizer System bisher bestimmt haben, auswählen 3 : die bewaffnete Neutralität, die allgemeine Wehrpflicht und das Milizsystem. Zu jedem der drei Wesensmerkmale soll eine These formuliert und interpretiert werden. In Form einer Erfolgsanalyse soll in einem dritten Teil vor allem die Frage nach dem Erfolg des schweizerischen Systems in diesen zwei Jahrhunderten und insbesondere die Frage nach der Kriegstauglichkeit der schweizerischen Milizarmee beantwortet werden. In einer Schlußbemerkung wollen wir dann die Ergebnisse zusammenfassen. 1. Bewaffnete Neutralität: Friedenssicherung durch Verteidigungsbereitschaft These·. Die dauernde bewaffnete Neutralität war bis heute das wichtigste Instrument, um die außen- und innenpolitischen Ziele der Schweiz zu erreichen: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt. Die dauernde bewaffnete Neutralität stand bisher im Interesse Europas und im Interesse der Eidgenossenschaft. Als erfolgreiches außenpolitisches Konzept ist sie Teil der schweizerischen Identität geworden. Der Historiker Edgar Bonjour hat in seiner »Geschichte der schweizerischen Neutralität« gezeigt, daß die Ausbildung des europäischen Gleichgewichtes mit der Entstehung der schweizerischen Neutralität zusammenfällt. Dieser strategische Spannungszustand der Großmächte ist geradezu zur Voraussetzung der schweizerischen Neutralität geworden 4 . Die bewaffnete Neutralität der Schweiz lag nach den Mailänderkriegen (ab 1515) im Interesse Europas. Als Hüter der Alpenpässe und wegen der Möglichkeit, hier kampftüchtige Söldner anzuwerben, waren die eidgenössischen Orte geschätzt. Der Verzicht auf territoriale Vergrößerung trotz relativer militärischer Stärke und die Garantie der Gebietsverteidigung gegen jeden Angreifer machten die Schweiz berechenbar. Eine ein-

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3

4

Nach: Karl Haitiner, Struktur, Tradition und Integration der schweizerischen Miliz, Vortragsmanuskript 1985, Eidgenössische Militärbibliothek (EMB) MF 283/625, S. 1. Hans Rudolf Kurz, Geschichte der Schweizer Armee, Frauenfeld 1985, S. 10—21, nennt zehn hervorstechende Besonderheiten der schweizerischen Armee: 1. Instrument der Notwehr; 2. Völkerrechtliche Pflicht als dauernd neutraler Staat zur Territorialverteidigung; 3. Instrument zur Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern; 4. Allgemeine Wehrpflicht; 5. Wehrform der Miliz; 6. Zweipolige Wehrstruktur (Bund und Kanton); 7. Superiorität der politischen über die militärische Gewalt; 8. Armee nur Teil einer Gesamtverteidigung; 9. Kriegstauglichkeit im Rahmen des Möglichen und des finanziell Tragbaren; 10. Armee eines demokratischen Staates mit Grundsätzen der Hierarchie, der Disziplin und der uneingeschränkten Befehlsgewalt der Vorgesetzten. Erich A. Kaegi, Probleme der Milizarmee, in: Sicherheitspolitik und Armee, Frauenfeld 1976, S. 135—148, betont als schweizerische Besonderheit das Milizsystem. Die Beschränkung auf diese drei Faktoren des schweizerischen Wehrwesens kann durch die Arbeiten vieler, für die Schweiz maßgebender Historiker, Politologen und Militärs legitimiert werden. Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Außenpolitik, 9 Bde, Basel 1975.

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seitige Parteinahme in europäischen Konflikten hätte sie kulturell oder konfessionell auseinandergerissen. Die dauernde Neutralität diente der Schweiz somit nicht nur nach außen, sondern auch nach innen 5 . Die Beherrschung des Kontinents durch einen einzelnen Staat oder gefährliche Spannungen zwischen den Großmächten haben für die Schweiz jeweils eine Bedrohung dargestellt. Die schweizerische Neutralität als Mittel der Friedenssicherung mit der Möglichkeit, Kriegführenden nützlich zu sein, sowie die Armee als Instrument zur Selbstverteidigung im Angriffsfall waren in der Vergangenheit kaum umstritten. Im heutigen veränderten strategischen Umfeld müssen diese bisherigen Konstanten eidgenössischer Politik jedoch zwangsläufig in einer Krise stecken. Für unsere Fragestellung ist aber nach wie vor vom Grundsatz auszugehen, daß die dauernde bewaffnete Neutralität einen ersten Grundpfeiler und zugleich die Voraussetzung des modernen schweizerischen Wehrwesens darstellt. 2. Die allgemeine Wehrpflicht: Kriegswehrpflicht, Friedenswehrpflicht und Pflicht zur persönlichen Leistung These: Die allgemeine Wehrpflicht ist ein bedeutendes Element für die traditionelle Integration des Militärischen ins politische und soziale System der Schweiz. Dies soll anhand von drei zeitlichen Abschnitten, 1815 bis 1848, 1848 bis 1874 und 1874 bis heute erläutert werden.

a) Der Staatenbund 1815-1848 Die alte Eidgenossenschaft war 1798 unter dem Ansturm französischer Revolutionsheere zusammengebrochen. Der Widerstand der eidgenössischen Orte war nur punktuell. Die kantonalen Zeughäuser waren zwar voll, doch die Wehrpflichtigen faßten die Waffen nicht. Ebenso waren die Regimenter in fremden Diensten nicht zur Stelle. Damit hatten nicht nur die Friedenssicherung durch eine glaubwürdige bewaffnete Neutralität, sondern auch das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht versagt, als die Schweiz angegriffen wurde. Es folgten 26 Jahre der Unselbständigkeit mit allen Erfahrungen einer harten Besetzungszeit. Die Schweiz blieb 1815 ein Staatenbund, ein Bund souveräner Kantone mit losen gemeinsamen politischen und militärischen Institutionen (ζ. B. Tagsatzung [zentrale Regierung], Eidg. Militäraufsichtsbehörde, Zentrale Militärschule in Thun, etc.)6. Mit gewissen zusätzlichen Einschränkungen ab 1848 entwickelten sich die politischen und militärischen Verhältnisse bis 1874 vorwiegend kantonal individuell. Das erste »Allgemeine Militärreglement für die schweizerische Eidgenossenschaft« von 1817 war somit eine Mischung aus föderalistischer Tradition und neuen zentralistischen Ansätzen, gründend auf den

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Vgl. dazu u.a. Alois Riklin, Die Neutralität der Schweiz, St. Gallen 1991 (= Schriftenreihe des Instituts für Politikwissenschaft, Nr. 166). Vgl. Heinrich Christof Affolter, Die eidgenössische Centraimilitärschule in Thun 1819—1874, Licentiatsarbeit Universität Bern 1982.

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eidgenössischen Defensionalen des 18. Jahrhunderts. Die Tagsatzung war berechtigt, von den Bundesgliedern, den Kantonen, Kontingente für die Bundestruppe zu verlangen. Der Schlüssel war zwei Mann auf 100 Einwohner. Das ergab eine Bundesstärke von 32886 Mann. Die Kosten für deren Ausbildung und Bewaffnung wurden vollumfänglich von den Kantonen getragen. Das Einheitliche für alle Betroffenen war das eidgenössische Kreuz auf der Armbinde jedes einzelnen Soldaten. Weder die Mediationsverfassung von 1803 noch der Bundesvertrag von 1815 hatten eine Wehrpflicht des einzelnen Bürgers unmittelbar gegenüber dem Bund festgelegt7. Wehrpflichtig waren die Kantone als Bundesglieder. Die individuelle Wehrpflicht ihrer Bürger wurde von den Kantonen jeweils der Tradition gemäß unterschiedlich gehandhabt. Es würde zu weit führen, die Unterschiede herauszuarbeiten. Halten wir aber die wenigen Gemeinsamkeiten fest. Da war zum einen die Kriegswehrpflicht. Die eidgenössische Tradition kannte aus alten, auch alemannischen Wurzeln eine obligatorische Kriegswehrpflicht, eine sogenannte Landsturmpflicht. Im Kriegsfall hatten alle waffenfähigen Männer ihre persönliche Kampfkraft dem Kanton zur Verfügung zu stellen. Sie hatten mit ihrer persönlichen Schutzund Trutzbewaffnung anzutreten. Das Prinzip von »Ehr und Wehr« galt in der ganzen Eidgenossenschaft seit ihren Ursprüngen. Wer beispielsweise durch ein Verbrechen ehrlos geworden war, galt nicht als berechtigt, Waffen zu tragen. Noch heute wird die bürgerliche Ehrenfähigkeit des männlichen Landsgemeindeteilnehmers in Appenzell mit dem Tragen des Degens, des Offizierdolchs oder des Bajonetts sichtbar dargestellt. Dieses Beispiel zeigt, daß die allgemeine Wehrpflicht in der Schweiz immer eine stark normative Funktion hatte. Die Forderung nach einer Hausbewaffnung durch mindestens ein Gewehr mit Munition wurde im Kanton Luzern beispielsweise erst 1877 aufgehoben. Die übrigen Bürger hatten die Pflicht, für Verpflegung und die weiteren Bedürfnisse der Soldaten aufzukommen. Die Kriegswehrpflicht als militärisches Mittel der Notwehr hatte in der Eidgenossenschaft somit einen doppelten Aspekt: Erstens die Pflicht zur persönlichen Leistung und zweitens die Pflicht, Sachleistungen für die Wehrdienstbefreiten zu erbringen. Die Dienstpflichtdauer hat sich seit 1815 immer wieder verändert. In der Regel begann sie für die Mannschaft mit dem 20. Altersjahr, in Einzelfällen schon mit dem 16. und endete zwischen dem 44. und 60. Altersjahr. Für Offiziere galten erweiternde Bestimmungen. Die zweite Gemeinsamkeit bestand in der Friedenswehrpflicht. Sie war die Grundlage für die Ausbildung der Miliz. Diese wurde ab 1815 teilweise durch den Bund übernommen (zuerst nur die Ausbildung der Spezialwaffen Artillerie, Kavallerie und Genie [Pioniere], später auch der Scharfschützen), blieb aber für die Infanterie nach verbindlichen Bundesweisungen bei den Kantonen. Wir halten fest: Bis 1848 hatten die kantonalen Behörden die Kompetenz, den allgemeinen Grundsatz »Jeder männliche Einwohner des Kantons ist Soldat« nach ihren eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Die einen Kantone begnügten sich mit dem Bundeskon7

Vgl. dazu u.a. Werner Baumann, Die Entwicklung der Wehrpflicht in der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1803—1874, Diss. phil. Universität Zürich 1932.

Das Schweizer System

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tingent, andere stellten einen eigenen kantonalen Landsturm auf. Die meisten Kantone bestimmten die Restanzahl des Bundeskontingentes nach Ausschöpfung der Freiwilligen durch Losentscheid. Einige schufen die Möglichkeit des Loskaufes, andere erlaubten die Möglichkeit, einen Ersatzmann zu stellen, oder die Kombination dieser beiden Befreiungsmöglichkeiten. Die meisten Kantone dispensierten Familienväter und bestimmte Berufskategorien (z.B. Studenten, Lehrer, öffentliche Beamte). Solche flexiblen Lösungen öffneten dem Mißbrauch Tür und Tor. In einzelnen Kantonen ergaben Musterungen, daß für rund die Hälfte der Aufgebotenen Ersatzmänner angetreten waren. 16jährige standen neben 60jährigen. Alle diese Mißstände belasteten das Prinzip der Gleichheit und der Wehrgerechtigkeit und weckten starke Gegenkräfte, die sich aber vorerst noch nicht durchsetzen konnten.

b) Die Anfänge des Bundesstaates 1848 bis 1874 Die Bundesverfassung von 1848 brachte eine bundesstaatliche Ordnung. In Artikel 18 wurde die allgemeine Wehrpflicht erstmals in einer schweizerischen Verfassung niedergelegt. Die Ausübung und Kontrolle vollzog sich jedoch weiterhin nur in den Kontingenten der Kantone, welche die Bundesarmee bildeten8. Drei Mann statt der bisherigen zwei auf 100 Seelen der Bevölkerung bildeten den Auszug (das erste Aufgebot) und die Reserve (Hälfte des Auszuges). Die Volkszählung von 1850 ergab den Sollbestand von 104354 Mann für Auszug und Reserve9. Die überzähligen Wehrpflichtigen der Kantone mußten als zweite Reserve formiert werden, standen aber nur im Bedarfsfall zur Verfügung des Bundes (Art. 19 BV). Ein Antrag auf völlige Unterstellung dieser Uberzähligen unter die Bundesgewalt wurde abgelehnt. Stellvertretung und Loskauf waren nach 1848 ausgeschlossen. Wer keinen Dienst leistete, mußte eine Militärpflicht-Ersatzsteuer bezahlen. Uber die Tauglichkeitsbestimmungen und die übrigen Möglichkeiten der Dispensation konnten die Kantone die Anzahl der Auszubildenden steuern. Die Minimalforderung des Bundeskontingentes war für einzelne Kantone weiterhin die Richtschnur. Die Grenzbesetzung als Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 machte die Mißstände im Wehrwesen (Ausbildung, Ausrüstung, Führung etc.) offensichtlich. Die gesetzlichen Vorschriften waren von vielen Kantonen nicht erfüllt worden. Vieles mußte improvisiert werden. Der gute Wille ersetzte die mangelnde Erfahrung nicht.

c) Die revidierte Bundesverfassung

1874 bis heute

Erst die Revision der Bundesverfassung vom 31. Januar 1874 brachte den Durchbruch und schränkte die Rechte der Kantone weiter ein. Das Kontingentsystem wurde endgültig aufgehoben. Die Gesetzgebung über das Heerwesen wurde allein Sache des Bundes. Den Kantonen blieb aber immer noch die Verfügungsgewalt über die Wehrkraft ihres 8

9

Vgl. u. a. zu diesem Zeitabschnitt Kurt Imobersteg, Die Entwicklung des schweizerischen Bundesheeres von 1850 bis 1874, Diss. phil. Universität Bern 1973. 12 Sappeur-Kompanien; 6 Pontonier-Kompanien; 63 Kompanien Artillerie; 12 Park-Kompanien; 42 Kompanien und 9 Halb-Kompanien Kavallerie; 71 Scharfschützen-Kompanien; 105 Bataillone, 20 HalbBataillone und 22 Einzel-Kompanien Infanterie.

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Hans Rudolf Fuhrer

Kantonsgebietes, soweit nicht die verfassungsmäßigen und gesetzlichen Ansprüche des Bundes beeinträchtigt wurden. Der aus der Verfassung von 1848 vollständig übernommene Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht wurde ergänzt durch die Bestimmung, daß die Wehrmänner ihre erste Ausrüstung, Bekleidung und Bewaffnung vom Bund unentgeltlich erhalten sollten. Diese Regelung hat eine beträchtliche Kostenüberwälzung von den Kantonen zum Bund gebracht. Man verpflichtete den Wehrmann wie von alters her, die persönliche Ausrüstung zu Hause aufzubewahren. Der Hauptvorteil dieser Regelung bestand in der Beschleunigung der Mobilmachung. Die Truppe hatte nur noch das kollektive Korpsmaterial in den Zeughäusern zu fassen und war marschbereit. Dieses System gilt noch heute. Durch die Abgabe von Munition und einer AC-Schutzausriistung ist der einzelne Soldat ab Türschwelle selbstschutzfähig. In der Schweiz gibt es heute wohl kaum ein Haus ohne Sturmgewehr mit Munition. Von einer schweizerischen allgemeinen Wehrpflicht, die auch wirklich durchgesetzt worden ist, kann somit erst seit 1874 gesprochen werden. Seit es diese Militärorganisation gibt, wird das personelle Wehrpotential voll ausgeschöpft. Das Ende der persönlichen Wehrpflicht wurde in Schritten kontinuierlich auf das 60. Lebensjahr angehoben, wobei die engere Militärdienstpflicht für Soldaten mit dem 50., für Offiziere mit dem 55. Jahr endet. Anschließend folgt eine Zivilschutzpflicht. Uber das Mittel der Tauglichkeitsanforderungen und die Dispensationspraxis hätte sich das System steuern lassen. Die »Wehrgerechtigkeit«, die allen Bürgern gleiche Pflichten auferlegen wollte, ließ solche Manipulationen nicht zu. Selbst in den für die Armee schwierigen frühen dreißiger Jahren kämpften die bürgerlichen Politiker erfolgreich für die Erhaltung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Hauptargumente leuchten im Statement von Bundesrat Rudolf Minger am 17. Dezember 1930 im Ständerat exemplarisch auf: »Ich bin der Meinung, an der allgemeinen Wehrpflicht dürfe nicht gerüttelt werden. Denn unsere Armee muß im Volk verwurzelt sein, sowohl aus militärischen Gründen, als aus Gründen der Volkserziehung. Wir dürfen die Armeebestände nur herabsetzen, wenn wir den Ausfall durch technische Verbesserungen wettmachen können 10 .« Die allgemeine Wehrpflicht als ein Bezugspunkt nationaler Kontinuität ist nicht nur 1930 ein bedeutsames Element der Integration des Militärischen ins politische und soziale Leben der Schweiz gewesen. Erst in jüngster Zeit ist nach zwei vergeblichen Anläufen 1977 und 1984 ein gewisser Einbruch in die absolute Forderung »jeder Schweizer ist wehrpflichtig« gelungen. Aufgrund einer dritten Volksabstimmung 1991 zum gleichen Thema müssen nun die gesetzlichen Grundlagen für die Bildung eines zivilen Erstazdienstes geschaffen werden. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die allgemeine Wehrpflicht (wie die bewaffnete Neutralität) hat in der Schweiz seit vielen Jahrhunderten eine Symbolfunktion entwickeln können. Die Unterscheidung der männlichen Bevölkerung in »Taugliche« und »Untaugliche« ist nicht nur militärisch relevant geworden. Sie hat durch die diskriminierende Wortwahl oft auch eine gesellschaftliche Klasseneinteilung der Bevölkerung be10

Protokoll der Sitzung des Ständerates vom 17.12.1930, Bundesarchiv Bern (BAB), Ε 27 138.

Das Schweizer System

199

wirkt". Am Anfang war es altschweizerische Pflicht, an der Verteidigung des Landes gegen äußere oder innere Feinde teilzunehmen, und gleichzeitig Zeichen der bürgerlichen Ehrenfähigkeit. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die allgemeine Wehrpflicht dann ein Symbol für die demokratische Gleichheit der Lasten, der sogenannten Wehrgerechtigkeit und der nationalen Einheit. 3. Das Milizsystem These: Das Milizprinzip prägt als Leitvorstellung das gesamte politische Leben der Schweiz. Es ist nach seiner Bedeutsamkeit den politischen Prinzipien des Föderalismus und der direkten demokratischen Mitbestimmung zumindest gleichwertig. Das Milizsystem in der schweizerischen Armee geht Hand in Hand mit dem Prinzip der »allgemeinen Wehrpflicht«. Gleich zu Beginn sind zwei Abgrenzungen wichtig: Zum einen hat die schweizerische Miliz nichts zu tun mit bewaffneten parlamentarischen Verbänden, die vorwiegend für Polizeiaufgaben zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Innern eingesetzt werden. Zum anderen ist die schweizerische Miliz auch keine »Reserve« im Sinne ausländischer Wehrordnungen. Die schweizerische Miliz ist in vielen Beziehungen ein Sonderfall. Vorerst gilt es zur Kenntnis zu nehmen, daß der aus dem römischen Wehrwesen stammende Begriff in der Schweiz eine Erweiterung auf alle Bereiche des Staates erfahren hat. Das schweizerische Milizprinzip ist seit der Bundesgründung ein Wesensmerkmal des Staates überhaupt 12 . In allen gesellschaftlichen Bereichen galt die Forderung an die »Wägsten« und »Fähigsten«, sich unter persönlichen, zeitlichen und materiellen Opfern für den Dienst an der Gemeinschaft einzusetzen und sich unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Gemeinnutz hatte vor Eigennutz zu stehen. Die Unentgeltlichkeit hat zwar selten uneingeschränkte Gültigkeit erreichen können. Die Entschädigung sollte aber nie zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichen. Dies galt selbst für schweizerische Parlamentarier. Das System hat Stärken (Freiwilligkeit, Nähe zum Staat, Ausschöpfung des gesamten Potentials, Ausnützung des zivilen Könnens für alle Bereiche des Staates, Kostengünstigkeit etc.) und Schwächen (Amateurismus, Uberforderung des einzelnen Bürgers, Amterkumulation etc.)13. Dies gilt für das Milizsystem im Staat und in der Armee. Exemplarisch für die Stärke des Milizsystems kann das ihm innewohnende Prinzip der Bereitschaft zur Freiwilligkeit angeführt werden, für seine Schwäche die mangelhafte Professionalität der Miliz. Hierauf soll im folgenden eingegangen werden. 11

12

13

Vgl. Karl Haitiner, Das Militär im Wandel der Werte, Vortragsmanuskript, Militärische Führungsschule der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (MFS/ETHZ), Au 1992. Vgl. u. a. Erich A. Kaegi, Die gesellschaftsbildende Kraft des Milizsystems, in: Schweizerischer Arbeitskreis Militär und Sozialwissenschaften (SAMS), Informationen, Nr. 1 (1978), S. 41—50; Ulrich Klöti, Das Milizsystem als Merkmal schweizerischer Politik, in: Milizverwaltung in den Gemeinden, hrsg. von Ulrich Klöti, Bern 1988 (= Schriftenreihe der schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften, Bd 9); Alois Riklin, Milizdemokratie, in: Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger, hrsg. von Georg Müller et al., Basel 1982. Der Politologe Ulrich Klöti hat die folgenden vier Gegebenheiten genannt, die die Stärke des Miliz-

200

Hans Rudolf Fuhrer

a) Die Miliz als Verkörperung des Prinzips der Freiwilligkeit Bei der Armee ist die Mitwirkung aus der subjektiven Sicht von jungen Männern nicht ganz freiwillig. Die Freiwilligkeit gilt aber weitgehend für die Besetzung von Kaderplätzen. Eine gewisse Einschränkung besteht darin, daß der militärdiensttaugliche Schweizer zu dem Dienstgrad und den entsprechenden Beförderungsdiensten (Ausbildungszeit für eine neue Funktion) gezwungen werden kann, zu denen ihn die militärischen Vorgesetzten als fähig erachten. Dieses »kann« wurde bisher in der Regel nur für den Unteroffiziersdienstgrad durchgesetzt, wenn die Anzahl der Freiwilligen dem Sollbestand nicht entsprach. Ein Zwang zur Offizierslaufbahn oder zur Übernahme eines Kommandos war bis heute in der Regel nur in seltenen Fällen notwendig. Der Aufstieg im Militär verlangt einen weit über das Minimum der Pflicht hinausgehenden Aufwand (siehe Tabelle 1). Was hat die Schweizer bisher bewogen, diese Mehrbelastung auf sich zu nehmen? Auch wenn ältere, insbesondere umfassende Untersuchungen fehlen, kann aufgrund moderner Forschung und Meinungsumfragen festgestellt werden, daß in der Regel die militärische Karriere im weitesten Sinne Vorteile für die zivile Karriere gebracht hat und umgekehrt. So gehörten beispielsweise im Jahr 1987 von 485 in eine Untersuchung einbezogenen Spitzenmanagern der Privatindustrie 53 % dem Offizierkorps an, davon stand rund die Hälfte im Dienstgrad mindestens eines Majors. Unter ihnen befanden sich zudem überdurchschnittlich viele Angehörige des Generalstabs14. Ferner hat eine Befragung von 106 Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmungen im Sommer 1992 ergeben, daß acht von zehn den militärischen Dienstgrad in der Anstellungsbeurteilung als relevant bewerteten. Je höher die Position in der Unternehmenshierarchie war, desto größer war das Interesse an einem höheren militärischen Rang 15 . Vergleiche mit einer älteren Studie16 zeigen allerdings, daß das Interesse der Wirtschaft an Angestellten mit Offizierserfahrung tendenziell im Sinken ist. Diese Verflechtung von Armeeführung und ziviler Führungsschicht, von Kritikern als »Filz« bezeichnet, ist zum Ansatzpunkt für Kritik geworden. Den bisherigen Höhepunkt dieser periodisch virulenten Armeefeindlichkeit auch aus gesellschaftlichen Gründen bildet systems ausmachen: 1. Wo es gelingt, eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern am Geschehen der Gemeinschaft teilhaben zu lassen, wo viele bereit sind, freiwillig mehr zu tun als ihre Pflicht, profitieren Gesellschaft und Politik. 2. Wer seinen Dienst an der Gemeinschaft freiwillig und ehrenamtlich, d. h. unentgeltlich leistet, bleibt in seinen Entscheidungen unabhängiger als der, dessen materielle Existenz mit einem A m t verbunden ist. Außer Prestige hat er nichts zu verlieren, wenn er zurücktritt. 3. Miliz schafft größtmögliche Nähe zur Verwaltung, zur Politik und zur Armee. 4. Miliz ist kostengünstig und effizient. Als Grenzen des Systems nennt er: 1. Uberforderung und mangelnde Professionalität des Milizfunktionärs. 2. Motivation der Bürgerin und des Bürgers zur Übernahme einer Milizaufgabe. Siehe Klöti, Milizsystem (wie Anm. 12), S. 7. 14

Hans Hollenstein, Spitzenmanager in der Schweiz, Bern, Stuttgart 1987, S. 228 ff.

15

Stefan Bühler und Daniel Binzegger, Empirische Untersuchung über die Wertschätzung der Offiziersausbildung in zivilen Unternehmungen 1992. Semesterarbeit an der Militärischen Führungsschule der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Abteilung für Militärwissenschaften, Au 1992.

16

Rico Camponovo, Empirische Untersuchung der Bedeutung der militärischen Ausbildung und Karriere in der Privatwirtschaft. Betriebswissenschaftliche Semesterarbeit an der Universität Zürich, Zürich 1981.

201

Das Schweizer System Tabelle 1

G e s a m t - M i l i t ä r d i e n s t l e i s t u n g s t a g e des Füsiliers bis zum R e g i m e n t s K o m m a n d a n t e n ; l e t z t e Verwendung

Territorial-Dienst Total

Soldat

331

Korporal

511

Wachtmeister

557

Fourier

646

Feldweibel

647

Leutnant

829

Hauptmann

1191

Major

1373

Oberst

1549

200

400

600

1000

1200

1400

1600

Rekrutenschule

Wiederholungskurs.Ergänzungskurs, Landsturmkurs, Kadervorkurs

Kaderschulen

Taktisch-Technische Kurse

Nicht berücksichtigt sind ungezählte Tage für außerdienstliche Tätigkeiten (Administration, Arbeitsvorbereitungen für Kurse, Schiedsrichterdienste, Kurse, Weiterbildung etc.). Die Kosten für diese weitgehend unbesoldeten Dienstleistungen trägt der selbständig Erwerbende persönlich. Sie müssen vom Arbeitgeber übernommen werden, wenn der Angehörige der Armee nicht ausschließlich Freizeit für diese Tätigkeiten einsetzen kann. Quelle: Hans Rudolf Kurz, 1 0 0 Jahre Schweizer Armee, Thun 1 9 7 8 , S. 2 7 2 .

202

Hans Rudolf Fuhrer

die 1989 durchgeführte Abstimmung über eine Volksinitiative zur Abschaffung der Schweizer Armee17. Zusammenfassend kann gesagt werden: Das freiwillige militärische »Weitermachen« war bisher für die bürgerliche Elite der Schweiz ein eigentliches Muß. Offizier sein war gleichbedeutend mit der für die Gesellschaft sichtbaren Bereitschaft zur Mehrleistung und Übernahme von zusätzlicher Verantwortung und ging einher mit einer in der Regel gehobenen sozialen Stellung und Karrierevorteilen im beruflichen Umfeld. b) Der mangelhafte Ausbildungsstand der Miliz Durch das Verbot der Aufstellung eines stehenden Heeres in Artikel 13 der Bundesverfassung von 1848 ist Berufssoldatentum innerhalb der Schweizer Armee nicht möglich. Von der bis zu diesem Zeitpunkt in fremden Kriegsdiensten erworbenen Kriegserfahrung von Mannschaften und Kadern konnte nicht mehr profitiert werden. Um einem drohenden Dilletantismus zu entgehen, wurde ein hoher Ausbildungsstand neben den Kriterien Wehrwillen und Rüstung (Können, Wollen und Haben) zum entscheidenden Faktor der Friedenssicherung durch Verteidigungsbereitschaft. Bestrebungen, die Ausbildung zu verbessern, setzten an verschiedenen neuralgischen Punkten an. Die folgenden drei sollen besonders hervorgehoben und kurz kommentiert werden. 1. Verlängerung der Ausbildungszeit. Die Bemühungen um eine Verlängerung der Ausbildungszeit steht im Spannungsfeld zwischen dem militärisch Notwendigen und dem gesellschaftlich Tragbaren. Es scheint, als ob die ständig sich verlängernde Dienstzeit mit der Armeereform 95 eine Trendwende erfahren dürfte, weil beispielsweise in den bisherigen Vorberatungen eine Reduktion von 331 auf 300 Diensttage für einfache Soldaten empfohlen worden ist. Grundsätzlich soll aber weiterhin die Besonderheit gelten, daß nach relativ kurzer Grundausbildung die weitere Ausbildung während der ganzen Wehrpflicht in den Kampfverbänden stattfindet (siehe Tabelle 2). 2. Verbesserung des Systems der nichtprofessionellen Ausbilder. Zu den wahrscheinlich einmaligen Besonderheiten des schweizerischen Ausbildungssystems gehört das Phänomen, daß in den Rekrutenschulen jede Kaderstufe zugleich Lehrender und Lernender ist. Der Korporal, der höhere Unteroffizier, der Leutnant und der Kompaniekommandant bilden nach einer je unterschiedlich langen Kaderschule vier Monate ihre Gruppen, Züge und Kompanien aus und bestätigen damit ihren Dienstgrad (sogenanntes »Abverdienen«). Auch der Bataillonskommandant erhält seinen Dienstgrad erst nach dem Bestehen der Ausbildungsschulen und des Abverdienens in einer Rekrutenschule. Die militärischen Lehrer, die Instruktoren, leiten das Milizkader durch eine Art Dienstaufsicht in ihrer neuen Aufgabe an. Sie sind nur in den eigentlichen Kaderschulen (Unteroffizierschule, Offizierschule, Schießschule, Zentralschule, Generalstabsschule) und nur für Teile der Spezialistenausbildung als Führer und Ausbilder verantwortlich. 17

Karl Haitiner/Arbeitsgruppe DANI, Nachbefragung zur Abstimmung vom 2 6 . 1 1 . 1 9 8 9 (Initiative »Schweiz ohne Armee«) im Auftrag des Ausbildungschefs der Armee 1990, Militärische Führungsschule Au/Schweiz.

203

Das Schweizer System

Tabelle 2 Die Entwicklung der militärischen Ausbildungsdienste in Tagen seit 1874 Wiederholungsdienste im Truppenverband Jahr

Rekrutenschule

Wiederholungskurs im Auszug

1874

45

jedes Jahr 16 4 χ 16 = 64

1907

67

1935

Ergänzungskurs in der Landwehr

Landsturmkurse

Gesamtdienstleistung

-

-

109

7 χ 13 = 91

13

-

171

90

7 χ 13 = 91

13

-

194

1938

90

7 χ 20 = 140

20

-

250

1939

118

7 χ 20 = 140

20

-

278

1949

118

8 χ 20 = 160

24

-

302

1952

118

8 χ 20 = 160

40

-

318

1962

118

8 χ 20 = 160

40

13 (ab 1.1.64)

331

Quelle: Hans Rudolf Kurz, 100 Jahre Schweizer Armee, Thun 1978, S. 273.

Ein Vergleich mit den entsprechenden Kameraden in anderen Wehrpflichtarmeen ist deshalb nur bedingt möglich. Die schweizerischen Instruktoren leisten in ihren Stammeinheiten die jährlichen Wiederholungskurse. Sie müssen in ihrer Miliztätigkeit die Qualifikation zur Beförderung oder für den Eintritt in den Generalstabsdienst erwerben. Sie stehen in ihren Stammeinheiten in Konkurrenz mit den reinen Milizoffizieren. Es ist deshalb selbstverständlich, daß die Kriegserfahrungen fremder Armeen in der Schweiz besonders intensiv ausgewertet werden müssen. 3. Verbesserung der persönlichen Kriegstüchtigkeit außer Dienst. Alle Angehörigen der Armee werden angehalten, sich neben den obligatorischen Truppenkursen außer Dienst im Rahmen der persönlichen Verantwortung weiterzubilden. Der Versuch, die Jugend durch ein wehrsportliches Obligatorium auf den Wehrdienst vorzubereiten, um auf einer soliden Grundlage das eigentliche Waffenhandwerk vermitteln zu können, ist nie gelungen 18 . Zu den erwähnten drei Verbesserungsversuchen kommen u. a. noch die Verbesserung der Rekrutierung bzw. Aushebung, die Modernisierung der Waffenplätze und der Ausbildungsmittel. Diese Bereiche können hier aber nicht weiter ausgeführt werden. 18

Vgl. A r t u r o Hotz, Jeder Lehrmann ein Wehrmann. Die Diskussion über die allgemeine Einführung der Militärpflicht des Lehrers in den Jahren 1862—1874, dargestellt aufgrund von Zitaten aus der Schweiz. Lehrerzeitung. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Lehrers, Seminararbeit, Historisches Seminar Universität Zürich 1977.

204

Hans Rudolf Fuhrer

III. Erfolgsanalyse Wir kommen damit zur Frage nach der Einsatztauglichkeit der schweizerischen Milizarmee. War denn dieses Schweizer System der Friedenssicherung und Selbstverteidigung im 19. und 20. Jahrhundert erfolgreich? Läßt es sich im Lichte der bis heute zugänglichen Quellen als Alternative zum stehenden Heer und als mögliches Konzept für eine strukturelle Angriffsunfähigkeit für andere Wehrpflichtarmeen propagieren? Vordergründig müßte man diese Frage mit Ja beantworten. Der Erfolgsausweis ist eindrücklich. Seit 1815 hat die Schweiz ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit wahren können. Bundesrat Scheurer hat diese unbestreitbare Meinung am 19. Dezember 1922 so in Worte gefaßt: »Die Tatsache, daß wir ungeschlagen durch den Krieg gekommen sind, predigt stärker als die heftigsten Reden.« Er hätte diese Worte auch nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholen können. Die Analyse ausländischer Stimmen zum schweizerischen Milizsystem in unserem Zeitabschnitt mahnen aber zu einer kritischeren Beurteilung. Die Nachrichtendienste kriegführender Generalstäbe haben der Schweizer Armee trotz erkannter Mängel die hartnäckige Verteidigung des Territoriums zugetraut. Es läßt sich auch eine hohe Einschätzung der allgemeinen Wehrpflicht belegen. Von Lentulus über Engels bis zum »Kleinen Orientierungsheft Schweiz« von Ende September 1942 werden vaterländische Einstellung und soldatischer Geist der Wehrmänner zum Teil überschwenglich gelobt, Ausbildung und Bewaffnung hingegen mehr oder weniger scharf kritisiert 19 . Wir wollen hier nur je ein Urteil aus den beiden für die Schweiz gefährlichsten Zeitabschnitten im Ersten und Zweiten Weltkrieg anführen. So rechnete das 3eme Bureau der französischen Armee de l'Est im Winter 1915/16 im Angriffsfall nur mit einer geringen Verteidigungskraft der schweizerischen Truppen: »Sans vouloir douter de la bravoure de ces divisions suisses (dont 2 sont de race franjaise) il reste sage d'escompter que l'armee d'une nation qui n'a jamais fait la guerre et ne possede pas d'Artillerie lourde moderne eprouvera une surprise analogue a celle a laquelle nous n'avons pas echappe nousmemes en aoüt 1914 [...] Les forces suisses ne paraissent pas devoir etre ni un obstacle serieux ni une aide de valeur a Tun quelconque des belligerents 20 .«

Ferner kommt einer der ersten Planer eines Angriffs gegen die Schweiz im Auftrag des OKH, Hauptmann v. Menges, am 8. August 1940 zu folgender Beurteilung der Schweizer Armee: »Ein zweckmäßig organisiertes, schnell verwendungsbereites Kriegsheer. Der Ausbildungsstand wird durch die lange Mobilmachungszeit gehoben sein. Nur theoretisch geschulte Führer. Methodische Führung. Mängel in der Bewaffnung (Artillerie, Panzer und Panzerabwehr, Luftwaffe, Flak). Der einzelne Soldat ist ein zäher Kämpfer und guter Schütze. Die Gebirgstruppen sollen besser als ihre südlichen Nachbarn sein. Der Kampfwert der im Westen lebenden Schweizer ist mäßig, während die südlich 19

20

Walter Schaufelberger, Ausländische Stimmen zum schweizerischen Milizsystem, in: ASMZ, Nr. 10 (1978), S. 5 1 1 - 5 2 4 . G Q G des Armees de l'Est, Etat-Major, 3eme Bureau, Memoire relatif a l'Utilisation du Territoire suisse par un de Belligerents. 1 8 . 1 1 . 1 9 1 5 . Service historique de l'Armee de Terre, Vincennes/Paris, 16 Ν 1938. Vgl. Hans Rudolf Fuhrer, Historische Erfahrungen im Umgang mit der Neutralität, in: ASMZ, Nr. 3 (1992), S. 1 1 2 - 1 1 6 , und Nr. 4 (1992), S. 1 6 7 - 1 6 9 .

Das Schweizer System

205

Konstanz lebenden Leute erbitterte Gegner sein werden. Endurteil: Nur für die Verteidigung geeignetes Heer, das dem deutschen voll unterlegen ist 21 .«

Streicht man die jeweils ideologisch gefärbten Zusätze weg, so muß auffallen, daß weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg die Abschreckungskraft der Schweizer Armee allein genügt hätte, den potentiellen Aggressor abzuhalten. Es wäre deshalb unrichtig, der Schweizer Armee das ganze Verdienst an der Bewahrung der Schweiz zuzuschanzen. Ebenso unhaltbar ist aufgrund der Quellen jedoch die Behauptung, die Armee hätte keinen Einfluß auf die jeweilige Kosten-Nutzen-Rechnung des potentiellen Angreifers gehabt.

IV. Schlußbemerkungen Wir sind von der Grundannahme ausgegangen, daß als die drei Grundpfeiler des Schweizer Systems die bewaffnete Neutralität, die allgemeine Wehrpflicht und das Milizprinzip anzusehen sind. Wir haben gezeigt, daß keiner dieser drei Faktoren des schweizerischen Wehrwesens in der heutigen Form von Anfang an bestanden hat. Alle drei haben sich jedoch im 19. und 20. Jahrhundert in allen Krisenlagen bewährt, als anpassungsfähig erwiesen und durchgesetzt. Die heutige Form der schweizerischen Landesverteidigung ist das Ergebnis eines langwierigen historischen Prozesses und Ausdruck eines sich wandelnden, demokratischen, politischen Willens. Es ist das Bild geprägt worden, die Schweiz habe keine, sondern sie sei eine Armee. Die Durchdringung von Zivil und Militär war im betrachteten Zeitabschnitt besonders ausgeprägt. Die aktuelle Krise läßt allerdings Zweifel offen, ob das auch in Zukunft so bleiben wird. Zum Schluß seien die wichtigsten Gedanken zur allgemeinen Wehrpflicht im Schweizer System im Sinne einer Standortbestimmung thesenartig zusammengefaßt: 1. Beim schweizerischen Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht handelt es sich um eine geschichtliche Tradition, die um vieles älter ist als die »levee en masse« der Französischen Revolution. Im 19. und 20. Jahrhundert sind die beiden historischen Wurzeln im Sinne einer Synthese zusammengewachsen. 2. Erst seit 1874 ist die allgemeine Wehrpflicht durchgesetzt und das volle Wehrpotential ausgeschöpft worden. 3. Bürgerrecht und Wehrpflicht, Demokratie und allgemeine Wehrpflicht bilden im historischen Verständnis eine untrennbare Einheit. Gleiche Rechte und Pflichten gelten im politischen wie im militärischen Bereich. Deshalb ist die allgemeine Wehrpflicht stark normativ belegt. Eine Armeereform 95 ist deshalb mindestens ebensosehr eine politische wie eine militärische Frage. 4. Das schweizerische Milizsystem ist die der allgemeinen Wehrpflicht angepaßte Organisationsform, die es dem neutralen Kleinstaat ermöglicht, das gesamte personelle Potential in Friedenszeiten für zivile Zwecke zu nützen, im Kriegsfall aber trotzdem voll 21

Hans Rudolf Fuhrer, Spionage gegen die Schweiz. Die geheimen deutschen Nachrichtendienste gegen die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, 1939—1945, Frauenfeld 1982, Anm. 19, S. 136.

206

Hans Rudolf Fuhrer

zur Verfügung zu haben. Ausbildungs- und Rüstungsbedürfnisse der Armee stehen in Konkurrenz zur Belastbarkeit der Wirtschaft und zur finanziellen Machbarkeit. Die beiden Weltkriege haben die Grenzen dieses Modells deutlich aufgezeigt. 5. Die Schweizer Armee wird wohl nur dann weiterhin auf die Freiwilligkeit der männlichen Wehrpflichtigen zur Übernahme von Kaderpositionen zählen können, wenn — die Wirtschaft wie bisher bereit ist, die militärischen Zusatzbelastungen des Kaders zu tragen, und die Armee auf die besonderen zivilen Ausbildungsbedürfnisse des Wehrmannes bestmöglich Rücksicht nimmt 22 , — die beim Militär erworbenen zusätzlichen Ausbilder- und Führerkompetenzen auch zivil geschätzt und durch verbesserte Aufstiegschancen honoriert werden, — die Armee nicht zur Bürgerwehr verkommt, für die sich der freiwillige Mehraufwand nicht lohnt. 6. Die schweizerische allgemeine Wehrpflicht ist ein Notwehrmodell, nur zur Territorialverteidigung bestimmt. Die Bereitschaft der Bevölkerung, die Leistungen für die Landesverteidigung auf sich zu nehmen, sind nicht zuletzt von der subjektiv und objektiv wahrnehmbaren Bedrohungslage abhängig. Eine vollständige Befriedung Europas und die Bildung eines kollektiven europäischen Sicherheitssystems sowie die vermehrt geforderten friedensfördernden Einsätze im Rahmen der U N O stellen die allgemeine Wehrpflicht, das Milizsystem und die bewaffnete Neutralität grundsätzlich in Frage. Welcher der drei »Dominosteine« als erster fällt, ist Spekulation. Es ist möglich, daß alle drei ein weiteres Mal die Krise überstehen. Die traditionelle schweizerische Vorsicht neigt jedenfalls nicht zum voreiligen Handeln.

22

Vgl. u.a. Gerhard Aschinger, Milizarmee versus Freiwilligenarmee, in: ASMZ, Nr. 11 (1981), S. 715—719; Silvio Borner, Effizienz, allgemeine Wehrpflicht und Milizsystem: Ein paar kritische Gedanken aus preistheoretischer Sicht, Basel 1978; Alois Riklin und Louis Bosshart, Tatsachen über unsere Milizarmee, in: A S M Z , Nr. 1 (1982), S. 5 - 8 .

Brian Bond

The British Experience of National Service, 1947-1963

It ist now thirty years since the last national serviceman was demobilized, so a tradition — never deeply rooted in Britain — has been broken. Though public opinion on this issue has not recently been tested, it is difficult to believe that the present generation of young men — and women — would react favourably to the re-imposition of any compulsory military obligation to Queen and country. Much against its political philosophy, it was the Labour government which introduced the National Service Bill in March 1947, essentially to meet global imperial commitments and to create a large reserve of trained manpower. Male citizens between the ages of 18 and 26 were liable to periods of service varying between twelve and eighteen months until, with the advent of the Korean war in 1950, the period was increased permanently to two years, followed by three and a half in the reserves. By 1951 recruiting had fallen to such a low ebb that national servicemen made up 50% of the Armys's total manpower (the other two Services could afford to be more selective and were never anywhere near so dependent on conscripts). In all nearly 1 1 / 2 million national servicemen joined the Army, including officers, raising its establishment fromt 380,000 in 1949 to 440,000 in 1953. They were used to meet home defence requirements, supplement the British Army of the Rhine (BAOR) and garrison the outposts of a diminishing, but still far-flung and troublesome empire. During the period of national service the Army was involved in 57 officially recognised actions; between 1945 and 1963 not a single year passed without British soldiers seeing action of one kind or another. Even after the yielding of independence to India and Pakistan, successive British gouvernments in the 1950's proved unwilling to surrender the important bases in Cyprus, Libya, Palestine, Egypt and Aden. In addition there were 13 infantry batallions in the Far East, 18 infantry and eight armoured regiments in "West Germany, and 30 infantry and 17 armoured regiments in Britain and Northern Ireland. In other words, Britain was clinging to pre-war imperial pretensions despite a recession, shortages of fuel and food and a shattered economy. In retrospect one can only be surprised that a drastic reappraisal, especially as regards military manpower, was put off until the later 1950's. In view of the modern influence of the news media, particularly the press and television, it is also perhaps surprising that national servicemen experienced combat in substantial numbers in all the significant conflicts of the period, including Korea, Malaya, Kenya, Cyprus and Suez without more public protest, though opinion polls suggested that the Korean war in particular seriously undermined public approval of national service. During the period of national service 2,912 servicemen were killed in action of whom 395 were conscripts.

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Brian Bond

Throughout the 1950's the pros and cons of national service were constantly debated within the Army, and to a lesser extent in the other two Services. Some senior officers supported conscription, not merely as a measure to keep the forces up to strength and provide a reserve, but also as a means of improving quality. Against this there was strong feeling, probably on the part of a majority of career officers, that a really professional service could not be achieved until the last national serviceman had left. In addition there was understandable anxiety lest the Army become so dependent on conscription that it would completely fail to attract sufficient recruits when that prop was eventually removed. It was, however, on the political front that the drawbacks of national service were most apparent. National Service was truly »defence on the cheap« in terms of pay and maintenance: regulars cost about four times as much to pay and twice as much to keep as conscripts. This discrepancy might be tolerable to conscripts straight from school who had never held paid employment, but it was irksome to those whose careers had been interrupted, particularly if they were married or had other family obligations. Only the general public's understanding that national service was universally binding and exemptions a rare exception could render the loss of earnings and liberty acceptable, and this became harder to maintain through the 1950's since neither the Services nor the economy could cope with the large numbers annually involved. As regards the economy, an annual intake of about 160,000 meant a loss to civil employment of approximately double that number, with the curious result that in some sectors industry faced acute manpower shortages in a period of relatively high employment. Small businesses and family firms were seriously affected by the temporary loss of key personnel. Social surveys also suggested that conscription could have an unsettling effect. Whereas students going on to higher education on the whole probably benefited from the two year's break, industrial trainees and agricultural workers were more likely to be unsettled by the experience — only 50% of the latter, for example, returned to their former jobs according to the National Farmers Union. By the mid-1950's both the main parties were promising defence cuts and the Labour Party pledged itself to phase out National Service. Shortly before becoming Prime Minister, the Conservative leader Anthony Eden remarked at an election meeting that »everybody wants to reduce the period of National Service«; while his new Minister of Defence, Selwyn Lloyd, admitted that conscription would have to go because it was proving to be an expensive and inefficient liability. Accordingly, in October 1955 Eden announced that the strength of the armed forces would be reduced from 800,000 to 700,000; that there would be three instead of four registration dates a year; and that the call-up age would be raised from eighteen to nineteen. His main justification for these steps was that Britain no longer needed such a large strategic reserve. Also by this time senior serving officers were coming to appreciate the drawbacks of national service. The Royal Air Force (RAF) and the Royal Navy could afford to be more selective regarding educational and other qualifications and take in a smaller proportion of conscripts, but the Army too was dissatisfied at having to commit so many of its regular N C O ' s and junior officers to boring training routines which yielded only a short-

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term product in trained soldiers. Two years was too short a period to train men properly and then get an adequate return in length of active service. Reserve service was not always taken seriously by men who had hated their time in the Army. But the key issue was that National Service was now producing more men than were actually required for service at home. Several enquiries, most notably the committee chaired by Sir John Wolfenden, reported adversely on the current organisation of National Service as a waste of manpower resources. A further consideration in the debate was the emergence of Britain as a nuclear power. The first British atomic bomb was exploded in 1952, and the first thermonuclear bomb was dropped from a Valiant jet bomber in May 1957. The government's defence policy in these years was moving towards a reliance on nuclear strategy. Given the high cost of developing nuclear weapons and their delivery systems such a doctrine would necessarily imply a reduction in manpower levels and the creation of smaller, more professional armed forces. In the aftermath of the disastrous Suez operation, it was also widely felt that nuclear weapons would restore some of Britain's prestige and allow her more independence of action. In short, in the later 1950's the concept of nuclear deterrence enjoyed considerably more prestige and a higher political priority than the maintenance of large manpower establishments. The determined and abrasive politician who tackled the issue of National Service was Duncan Sandys, the new Minister of Defence in Macmillan's government in January 1957. Although Martin Navias has argued convincingly that the Sandys Defence Review was driven more by political considerations concerning the national economy than by strategic arguments, the fact remains that Sandys was a strong believer in the future of nuclear weapons and in Britain's ability to remain a »superpower« with her own delivery systems. His celebrated Defence White Paper (April 1957) was based on the assumptions that defence expenditure had placed too great a burden on the nation's economy, and that there could be no realistic victor in a nuclear war — hence the premium must be placed on deterrence. Britain must tailor her defence coat according to the available cloth which she could afford. It is not necessary here to outline all the features of the White Paper: the crucial one for our purposes is that conscription would be phased out by 1962, by which time aggregate service manpower levels would have fallen from 690,000 to 375,000. Sandys estimated that the overall savings as compared to the previous year's defence budget would be £ 180 million, but his longer-term aim was to reduce defence costs by £ 300 million. The Chiefs of Staff remained unconvinced that the doctrine of nuclear deterrence and the forces' future manpower needs had been properly integrated or reconciled, but Sandys ignored their reservations and objections. Air Marshal Sir John Slessor and other Service chiefs were forced to accept that the rationale behind the ending of national service was economic and political rather than strategic. In sum, as Martin Navias concludes, Sandys simply overrode the objections of the service chiefs to signal the end of national service. The Army's pessimism about its ability to attract sufficient annual recruits (of good quality as well as quantity) once national service ended was understandable. General Sir Richard Hull's committee in 1956 calculated the Army's minimum needs at anytime as 220,000

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men, whereas Sandys' allowance for the early 1960's was only 165,000. Only greatly improved pay, terms and conditions of service and incentives could hope to bridge the gap in the recruiting (and retention) of regulars once conscription ended. Radical reforms were proposed by the Grigg Advisory Committee which reported in November 1958. Its recommendations included: a review of service pay every two years; an increase in pensions; improvements in service accommodation; and a broader social and educational basis for the recruitment of officers, too many of whom were shown to be drawn from a narrow group of famous public schools. Despite these reforms and improvements, recruiting was not surprisingly disappointing in the early 1960's when the system was in confusion as national service was being phased out. In 1962 9,000 national servicemen experienced the nightmare of having their commitment extended by six months due to a manpower shortfall caused by the Berlin Crisis; while sappers and other specialists were employed as infantrymen in the emergency in Aden. Thereafter, however, recruiting through the 1960's remained healthy: the problems lay rather in shortage of equipment and key personnel. Simultaneously, as the flow of conscripts dried up, the Territorial Army also suffered acute manning problems, and its structure and roles remained in flux through the 1960's. Trevor Royle aptly describes the last years of national service as »its least useful and unhappiest period«, with the regulars understandably losing interest in training reluctant conscripts and with the gulf between conscripts' and civilians' pay and working conditions at their widest. However, once the traumatic tansitional phase ended in 1963, most senior officers welcomed the opportunity to put their house in order with a »leaner«, bettertrained, all-regular professional Army in prospect. The rapid reduction in manpower and reserves also caused a strategic reappraisal, resulting in a reduced N A T O commitment, the closing down of some outdated overseas garrisons, and the introduction of modern weapons systems and transport. As Trevor Royle fairly sums up: the termination of national service »marked the end of Britain's claim to be a global power, for without large armed forces it simply could not maintain the post-war chain of bases and the massive overseas military presence.« In weighing up the advantages and disadvantages of national service it cannot be overstressed that for both politicians and service chiefs its essential purpose throughout was military rather than social, i.e., to supplement the regular, professional forces and expand the trained reserves. In this limited aim it succeeded pretty well by contributing to the defence of Western Europe at what seemed to be a critical time (the last years of Stalin); covering the extremely rapid and in some cases violent withdrawal from Empire; and assisting in the counter-insurgency operations that accompanied that withdrawal in nearly every part of the world. Given post-1945 war weariness, the unattractiveness of the Services as a career after six years of total war, and the inability of governments to make Service pay and conditions competitive, it is hard to see how purely voluntary forces could have coped without the absolutely reliable supplement of national servicemen whose physical and educational standards were generally good. Since a great many conscripts could draw on the recent experience of their fathers and elder brothers in the Second World War and its aftermath, it is not so surprising (as it

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would certainly be now) that the majority passively accepted their two »lost years« of service to the state without protest or even much curiosity. Yet these, in Royle's apt title, were »the best years of their lives«. Never such docility again! Nevertheless it may be suggested that in the »no man's land« between political and military responsibilities a wonderful opportunity was missed to explain the civil and military reasons for national service. Why, for example, were young men asked to risk their lives in Malayan jungles or the desolate hillsides of Korea or spend interminable months at dreary stations such as Catterick, a bleak camp in Yorkshire? Royle cites several examples of such bewilderment. Indeed the author recalls NCO's accounting for the British military presence in Germany in the crude terms of »preventing the Russians from raping your sister«, to which it was not deemed politic to reply that you were an only child! Thus although there were undeniably social and civilizing benefits derived from national service, these were so to speak, by-products rather than the result of any conscious policy. The British forces have not traditionally been regarded by politicians, or regarded themselves, as »a school of the nation« for well-known historical reasons, but here was a unique opportunity in the aftermath of a struggle for freedom when social and educational reforms were creating a »new Britain«. In retrospect it is both astonishing and depressing that so little was attempted, with the result that for many young men national service resembled a prison sentence. For many such »victims«, then, national service could be stultifying, unimaginably tedious and malign in its influence on the individual's character. Some of the worst aspects were »bull«, boredom in isolated barracks and the tyranny of moronic NCO's whose »reading« might consist of comics more suitable for ten year olds. The very low educational standards of a proportion of national servicemen on entry was an unpleasant revelation. The Army did a useful job in trying to combat illiteracy but was not well equipped (in terms of instructors, facilities or time) to remedy the failings of civil education. Perhaps the attribute most encouraged by national service, in the absence of any sense of idealism or higher purpose, was »skiving«, that is skill in evading personal duties, chores, and responsibilities by any kind of subterfuge: looking after »Number One« was all-important — the only rule being not to get caught! On the other hand for the numerous young men with initiative, ambition and energy (and a reasonable educational basis) national service could offer wonderful opportunities for sport (skiing in Switzerland, football and cricket in Berlin), travel (without necessarily risking combat) and learning languages (especially for a gifted minority, Russian). As well as their unpleasant aspects, the early weeks of basic training also provided an unforgettable enforced mix of classes, schools, regions and accents. Some regional dialects were utterly impenetrable; others so unintentionally comic that the present writer for a few days vainly expected »Brummies« or »Scousers« to drop their outlandish speech patterns in favour of »normal« and »proper« English. Whether these edifying social contacts produced lasting benefits may by questioned, but at the time they certainly obliged tens of thousands of shy and socially isolated young men to co-operate and socialize with an amazing variety of fellow squaddies with an intense shared sense of being victims of the system at the mercy of unpredictable, choleric NCO's.

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The benefits of national service were most immediately obvious to those who obtained a commission. This brought a more comfortable and interesting life-style with greatly increased responsibilities (e.g., leading a battery of guns through the centre of Hamburg to the Baltic coast firing range!), and in many cases a genuine, if fleeting, pride in membership of a famous regiment or brigade (»The Desert Rats«!). Quite apart from in-service benefits, the brief experience of holding a commission was often considered an asset by those going on to study at university, and a bonus when applying for a job. Royle quotes a typical commissioned officer as saying »I certainly matured greatly during that period, made friends who have turned out to be lifelong and believe that [...] I enjoyed Oxford much more than might otherwise have been the case. It was a fantastic opportunity for an eighteen year old to command a platoon.« Even for those who did not obtain a commission, a genuine pride could be taken in the uniform and smart turn-out. A former lance-corporal later recalled that he had found very little cynicism amongst his comrades at the time. »Most of us did feel proud to be part of an army which had only recently won the war. I feel sorry that modern youth cannot experience such feelings.« Self-discipline, pride in one's regiment and an intense experience of comradeship constituted a worthwhile legacy for many. Thus, while national service was undoubtedly for some an utterly negative and depressing experience, with a bit of luck and positive effort it could be both profitable and enjoyable even providing, as the official guide book claimed, »an education in itself«. Perhaps in retrospect more national servicemen would admit to benefiting from their experience than whilst they were impatiently ticking off the days to »demob«? This was certainly the impression gained by one senior researcher (General Sir Anthony Farrar-Hockley). In 1969/70 he conducted a survey of attitudes to national service among 3,000 males representing a variety of social classes and occupations and ranging in age from 16 to 79 years. He asked them: A. Do you favour the reintroduction of national service in the armed forces for young men for up to two years? B. Do you favour the reintroduction of national service for young men up to two years in any one of the following (armed forces, police, fire services, etc.) with a degree of choice? He was very surprised to find that an average of 30% of boys aged 16 to 18 favoured conscription into the armed forces, and just under 50% favoured conscription for the range of options suggested unter Β. In the age group 40 to 49 years as many as 75 % favoured conscription under A. and a staggering 9 4 % under B. Clearly those who had undergone conscription in war and peace tended to favour it. It was understandable that those who had served themselves might be expected to feel that the next generation should do the same. Much more surprising was the readiness, in principle, of a substantial percentage of young men in the military age bracket to be willing to serve even after all the implications — loss of liberty etc. — had been explained. Farrar-Hockley found the most common reason given by these young men (nearly 40%) was simply »Something to do«. Despite these interesting statistical discoveries, however, Farrar-Hockley concluded in his report that for both political and professional military reasons the reintroduction of any form of military conscription in the foreseeable future was unthinkable.

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At precisely this time (early 1970's), however, several writers and speakers were prepared to »think the unthinkable«. In a notable lecture at the Royal United Service Institution (published in the issue for June 1970) the historian Correlli Barnett examined »The British Armed Forces In Transition«. H e contended that the Sandys reforms had created a nonsense: an imperial army in a European role; »a small elite force of regulars where our recent history tells us that we need a large field army formed by massive mobilisable reserves«. Barnett boldly concluded that Britain needed some form of national service so that in event of a war we could put into the field an army capable of fighting a long campaign with conventional weapons. This was the »lesson« of 1914 and 1939. Failing a clear decision in this direction Barnett feared that selective compulsory service might be unavoidable to supplement volunteering, bringing with it bitter feelings of resentment and a sense of injustice — as over the American use of the draft for Vietnam. H e called for a survey of public opinion hinting, as Farrar-Hockley's research also suggested, that this might not be so hostile to conscription as the political parties assumed. Barnett's ideas were echoed in occasional military journal articles and, more recently in the 1980's there have been quite frequent references to the possible return of compulsory military service as a cure-all for the national problem of youthful unemployment, anti-social behaviour and criminality. For a variety of understandable reasons these rhetorical appeals have met with an unenthusiastic response from both the political and military authorities. Let us look briefly at some of these responses and the wider arguments against the return of conscription. First and foremost, all the services have developed a proud tradition as all-volunteer institutions dependent upon well-educated, highly trained and disciplined professionals. If anything the Services will become even more particular about their recruits in the 1990's as they are forced to reduce their establishments. O n the day this is written the Daily Telegraph announces »Army to be cut by 6,500« as part of a scheduled reduction of 40,000 over three years. Thus in military terms, there is likely to be ever less need for conscripts and, even if regular recruiting should falter, the solution would seem to lie within the present structure of rewards and conditions of service, rather than in a resort to any form of selective service which would be terribly difficult to operate fairly. Secondly, as explained earlier, it is a long time since the British Services have regarded themselves as reformatories for young offenders and social drop-outs. Their specialist instructors are even less suited than in the era of national service to take on such a thankless task. Thirdly, though there could be some social and financial gains, the overall costs of any form of conscription would surely be prohibitive. Truly universal induction into the services, as distinct from the obligation to serve if selected, would be terribly wasteful; whereas any kind of selection would add to social tensions and resentment given the present fierce competition for worthwhile jobs. Another fundamental change from the previous era of national service would surely be the inclusion of females. Could they all be given some form of military training even if this was agreed to be desirable? This leads immediately to the superficially attractive scheme of compulsory service to the state but for a wide variety of options, by no means all of them military. If a stronger

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tradition of public service for young people in peacetime existed in Britain there would be much to be said in favour of devising the necessarily complex options and the administrative structure to make them practicable. But in the post-Thatcher atmosphere of robust individual competition in the market place with spectacular rewards for the successful, it is difficult to envisage the revolutionary change in attitudes that would be necessary to make any such system workable. Among other obstacles there would be fierce opposition from some trade unions. Finally, however desirable in principle some form of compulsory service may be, it is an issue of political dynamite (a sure election loser?) which none of the main parties is likely to touch. So far have we travelled, socially and politically, since 1963 and with the Soviet threat now seemingly ended the previous strategic justification for large conventional forces and reserves of trained reservists has disappeared. The final obstacle to the return of any form of national service concerns recent operational experience and an assessment of the kind of future conflicts in which British forces are likely to participate. In short, there seems no reason to dispute the folk wisdom which believes that British forces would not have recaptured the Falklands or played a prominent part in the Gulf War had conscripts been involved. Indeed there was vociferous protest in the media at the loss of British service personnel in both conflicts even though they were all volunteers and so knew the ultimate risk of the profession they had chosen. One must also ask, without comment on the political problems, whether the British military presence in Northern Ireland could have been maintained with anything short of volunteer, professional forces: the French experience in Algeria suggests not. Even if Britain sends troops as part of an international »peace-keeping« force to the Balkans or other trouble spots it will surely be a condition that they should be regular soldiers in a volunteer army. Some polemicists might seize on the implicit paradox here to suggest that the way for Britain to avoid military conflicts is precisely to make herself dependent on national service personnel, but this would be to »put the cart before the horse«. A more practical pacifist case would be, by political decision, to remove the physical means of participating in overseas operations, as very nearly occurred fortuitously at the time of the Falklands conflict. Continuing economic recession would inevitably further curtail Britain's strategic options. Of course political and military conditions could theoretically change radically in the next decade so that, for example, defence of the home islands could again appear as relevant as in 1803,1914 and 1940. But even then it is hard to envisage the enemy as a sovereign state, and conscripts would be ill-suited in every respect to counter terrorism or subversion. It remains to confront the question as to why Britain (and a few other nations) maintains her traditional hostility to conscription whereas most Continental countries still retain it, albeit in various forms. The obvious answer is that Britain has been (and still is — just) an island where a powerful navy supplemented by small, improvised home defence forces like the traditional militia (based on compulsion it should be noted) have sufficed to keep invaders at bay since the 11th century. As a corollary, the people have no deep sense of gratitude to the Army for first creating and then protecting the state.

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On the contrary the British people have been deeply suspicious of, and even hostile, to the very concept of a standing army, supposedly dating back to the brief rule of Oliver Cromwell and his major-generals in the mid-17th century. There are, of course, at least two large flaws in this political stance. A universal obligation to serve the state, if fairly implemented, enshrines the principle of equality of sacrifice and should obviate the injustice and inefficiency that occurred in the First World War when the issue of full-scale conscription was not tackled until 1916. Secondly, there is the realistic and even urgent issue of the relationships between the armed forces and civil society. Between 1939 and 1963 conscription played a vital role in bridging the gulf which had existed earlier. Most families through these decades had members serving and were generally approving of the armed forces as social institutions. This has ceased to be the case and there are now areas of the country and sections of the community with no links to the armed forces or knowledge of service life. Whether or to what degree this should be a cause for concern is a matter of public interest. While there seems no danger whatever at present of an anti-democratic »barrack mentality« developing in the armed forces, it may be argued that it is politically unhealthy in the longer term for the military forces to become too physically separate (in location and personnel) from the society which they serve. This provides the strongest theoretical basis for a reconsideration of some element of compulsory military service to be reintroduced in the 1990's. But, as this paper has argued, for a variety of compelling reasons — military, political, financial and social — such a revival of national service seems inconceivable in the forseeable future.

Select Bibliography Books listed approximately in order according to the extent they have been drawn upon in this paper. Trevor Royle, The Best Years of Their Lives: The National Service Experience, 1945—1963, London, 1988. M y indebtedness to Royle's excellent survey is evident throughout. Michael R. D. Foot, Men in Uniform. Military manpower in modern industrial societies, London, 1961. Martin S. Navias, Nuclear Weapons and British Strategic Planning, 1955—1958, Oxford, 1991. Martin Shaw, Post-Military Society, London, 1991. William P. Snyder, The Politics of British Defence Policy, 1945-1962, Columbus, OH 1964. Anthony H. Farrar-Hockley (Major-General), National Service and British Society, Thesis as Defence Fellow, Exeter College, Oxford, 1968—1970 (unpubl.). Correlli Barnett, The British Armed Forces in Transition, in: RUSI Journal (June 1970), pp. 1 3 - 2 1 . I should also like to thank my colleague Dr. Chris Dandeker for bringing Martin Shaw's book to my attention and for his illuminating insights into the sociological aspects of conscription in various nations.

Wolfgang Etschmann

Wehrpflicht in der Zweiten Republik Osterreich. Vorgeschichte und Entwicklung einer Wehrpflichtarmee zwischen den großen Blöcken von 1945 bis heute

Die rapiden Veränderungern in Europa seit dem Herbst 1989 haben selbstverständlich auch auf die österreichische Sicherheitspolitik massive Auswirkungen gehabt. Neue Fragestellungen um Österreichs Rolle in den Vereinten Nationen, bei der beabsichtigten europäischen Integration, das bisherige Selbstverständnis der Neutralität sowie Sinn und Aufgaben österreichischer Streitkräfte haben interessante und seriöse, aber auch unsachliche und wenig hilfreiche Beantwortungsversuche ergeben. Die Geschichte dieser Wehrpflichtarmee nach 1955 war manchmal von heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet, so daß jene des Frühjahrs und des Sommers 1992 an sich keine Überraschung darstellen dürften. Die Diskussionen um das österreichische Bundesheer in den letzten Jahren bewegen sich von der starken Tendenz innerhalb der Grün-Alternativen Liste, das Bundesheer völlig abzuschaffen, bis hin zu einer radikalen Veränderung der Wehrform, die bis zur Forderung der Freiheitlichen Partei Österreichs geht, so bald wie möglich eine Berufsarmee zu schaffen. Ein kurzer historischer Rückblick auf 125 Jahre allgemeine Wehrpflicht in Österreich scheint daher angebracht.

Historische Wurzeln. Eine Rückblende auf die Jahre 1867 bis 1945 Die katastrophale Niederlage Österreichs im Krieg gegen Preußen, die u.a. durch die überlegene Nutzung des preußischen Menschenpotentials bedingt war, führte auch in Österreich neben zahlreichen anderen Reformen im militärischen Bereich zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Das Wehrgesetz vom Dezember 1868 sah eine Reduzierung der Dienstpflicht von real acht Jahren auf drei Jahre aktive Dienstzeit im gemeinsamen Heer, sieben Jahre in der Reserve und zwei Jahre in der Landwehr vor. 1912 wurde die aktive Dienstzeit bei der Infanterie nochmals auf zwei Jahre verkürzt. Schon die ersten Monate des Ersten Weltkrieges bedeuteten für eine Armee, die de facto 36 Jahre keinen größeren bewaffneten Konflikt mehr geführt hatte, eine gewaltige Umstellung. Im Juni 1914 betrug der Friedensstand der k. u. k. Armee 415 000 Mann. Nach Beginn des Krieges wurden bis zum Jahresende 1914 noch zusätzlich 2,5 Millionen Mann (inkl. Landwehr und Landsturm) mobilisiert. Die Monarchie war bis dahin noch nie mit ähnlichen Größenordnungen der Mobilisierung und der Führung eines letztlich totalen Krieges konfrontiert worden. Bis zum Ende des Krieges, der mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und ihrer multinationalen Armee führte, hatten die

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hohen Verluste zur Mobilisierung von rund acht Millionen Soldaten (Bevölkerung Österreich-Ungarns 1914: 52 Millionen) geführt1. Noch in der Gründungsphase der Republik Deutschösterreich, im November 1918, hatte der Unterstaatssekretär für Heerwesen, Dr. Julius Deutsch, die Volkswehr, eine reine Freiwilligen-Truppe, aufgestellt. Sie war territorial organisiert (ein Bataillon pro politischem Bezirk) und bestand bis zum Ende des Jahres 1919. Der Staatsvertrag von St. Germain schrieb Osterreich ein Berufsheer in der Höchststärke von 30000 Mann vor, das in sechs Brigaden zu gliedern war. Es war jedoch in den folgenden Jahren kaum möglich, mehr als 23 000 Mann unter Waffen zu halten. Finanzielle Gründe und der Mangel an Freiwilligen — trotz hoher Arbeitslosigkeit — führten zu diesem Phänomen. Mit dem 1. April 1936 war die allgemeine Wehrpflicht im Ständestaat Osterreich wieder eingeführt worden, wodurch das österreichische Bundesheer in den nächsten 21 Monaten eine beachtliche Verstärkung erfuhr. Ende Jänner 1938 war das Bundesheer in acht Divisionen und eine selbständige Brigade gegliedert; stärkere Luftstreitkräfte waren im Aufbau. Insgesamt betrug der Personalstand 68 000 Mann. Nach einer Mobilisierung sollten 12000 Mann zur Verfügung stehen2. Die Übernahme eines großen Teils der Soldaten und Offiziere in die Wehrmacht 1938 hatte natürlich auch in den folgenden Jahren, vor allem nach Kriegsausbruch, massive Auswirkungen auf die Ausnützung der österreichischen Wehrkraft durch das Deutsche Reich. Bis Kriegsende 1945 dienten in den Waffengattungen der Deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS und anderen militärisch eingesetzten Organisationen des Dritten Reiches über 1,2 Millionen Österreicher. 247000, also etwa 20% der Mobilisierten, waren gefallen oder blieben dauernd vermißt. Zu Ende des Jahres 1948 befanden sich 165000 Kriegsinvalide, 197000 Hinterbliebene (Witwen und Waisen) von Gefallenen und 112000 Angehörige von noch nicht heimgekehrten Kriegsgefangenen und Vermißten in der Fürsorge der Kriegsopferversorgung3.

Der Neuansatz der Zweiten Republik Der Zweite Weltkrieg hatte also schwere Opfer unter der österreichischen Bevölkerung gefordert, und dadurch war auch — verständlicherweise — die Bedeutung des Militärischen in den ersten Nachkriegsjahren in der psychologischen Situation des österreichischen Volkes, das noch dazu mit den Besatzungstruppen ausländischer Mächte zu leben hatte, nicht allzu hoch anzusetzen. 1

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Joachim Giller, Demokratie und Wehrpflicht, Landesverteidigungsakademie: Studien und Berichte, Wien 1992, S. 104, sowie allgemein zum Personalersatz des k. u. k Heeres im Ersten Weltkrieg: Rudolf Hecht, Fragen zur Heeresergänzung der Gesamten Bewaffneten Macht Österreich-Ungarns während des Ersten Weltkrieges, Wien, phil.Diss. 1969. Erwin Steinböck, Österreichs militärisches Potential im März 1938, Wien 1988. Die Bevölkerungsverluste Österreichs -röhrend des Zweiten Weltkrieges, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, H. 3 (1974), S. 219f.; 60 Jahre Kriegsopferversorgung in Österreich, hrsg. vom Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien 1979, S. 57.

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Die politischen Realitäten in Mitteleuropa liefen jedoch während der Anfangsphase des Kalten Krieges in eine andere Richtung. Bezeichnend war hierfür, daß schon in der provisorischen Regierung Renner des Jahres 1945 ein Heeresamt aufgebaut wurde, das jedoch kaum mehr als acht Monate existierte und schließlich auf Druck der Alliierten Kontrollkommission am 10. Dezember 1945 aufgelöst werden mußte. Aber kaum mehr als ein Jahr später wurden neben westalliierten Überlegungen, die ein österreichisches Heer in der Größenordnung von 58 000 bis 65 000 Mann vorsahen, vom nunmehrigen Wehrexperten der SPO, Dr. Julius Deutsch, Überlegungen für die Aufstellung eines Heeres mit milizartigem Charakter angestellt4. Die politische Position der OVP unterschied sich zu jener Zeit in dieser Frage nicht wesentlich von jener der SPO. Bereits im April 1948 hatte das US-Hauptquartier in Osterreich eine Meinungsumfrage durchgeführt, die ein überraschendes Ergebnis erbrachte: 42% der Befragten plädierten für eine allgemeine Wehrpflicht, 28% für ein Berufsheer. Nur 15% lehnten eine Wiederbewaffnung völlig ab5. Die kommunistisch initiierten Unruhen des Oktober 1950 führten zum Ausbau der im Herbst 1949 konzipierten Alarmbataillone der Gendarmerie in Westösterreich. Die Aufnahme kriegsgedienter Offiziere in diese Alarmbataillone führte am 1. August 1952 zur Konstituierung der sogenannten »B-Gendarmerie«, die sich, dem Innenministerium unterstellt, als eine reine Freiwilligentruppe, vollmotorisiert und mit leichten Infanteriewaffen ausgerüstet, sehr vom späteren Bundesheer unterschied, wobei aber ihre Kader für den späteren Aufbau des Heeres den Grundstock bilden sollten. Bis Ende 1954 bestanden bereits neun Infanteriebataillone und ein Pionierbataillon sowie zwei Fernmeldeund drei Panzerspähkompanien mit etwa 7000 Mann 6 . Es gab zur Zeit des Abschlusses des österreichischen Staatsvertrages im Lager der OVP, aber auch innerhalb einiger Gruppierungen der SPÖ starke Vorbehalte gegen ein Heer im klassischen Sinn und Bestrebungen, es auch nach dem Mai 1955 bei der kleinen überschaubaren B-Gendarmerie zu belassen, die dazu in der Lage gewesen wäre, im Falle einer Verletzung österreichischen Territoriums jene oft zitierten »fünf Schuß« abzufeuern, die als Symbol einer Verteidigung stehen sollten. Trotzdem änderte sich im Spätherbst 1955 die Lage rasch, da nun alle Parteien — die KPO eingeschlossen — ein Milizheer nach Schweizer Muster bevorzugten. Bereits am 27. Juli 1955 waren die bisherigen Gendarmerieschulen in provisorische Grenzschutzabteilungen umbenannt worden. Das Bundesheer wurde jedoch letztlich nach vielen Diskussionen als Rahmen-Kaderheer konzipiert. Das Wehrgesetz vom 7. September 1955 brachte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit einer Wehrdienstzeit von neun Monaten. Man könnte dies wohl eine »österreichische Lösung« nennen — die OVP hatte zuletzt für zwölf Monate, die SPO 4

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Manfried Rauchensteiner, Die Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Österreich 1945—1955, in: Entmilitarisierung und Aufrüstung in Mitteleuropa 1945—1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford, Bonn 1983 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 4), S. 57—79. Giller, Demokratie und Wehrpflicht (wie Anm. 1), S. 164 f. Gendarmerie-General i.R. Otto Rauscher, Gendarmerie, Bundesheer. Errichtung von Gendarmerie-Alarmabteilungen, und Manfried Rauchensteiner, Die B-Gendarmerie — mehr als eine Episode, beide in: Truppendienst. Die Zeitschrift für Führung und Ausbildung, H. 4 (1992), Beilage: 40 Jahre B-Gendarmerie.

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für sechs Monate plädiert 7 . Die Einführung des Wehrsystems der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Wehrgesetz 1955 ist sowohl auf außen- und auf innenpolitische Gründe zurückzuführen. U m eine glaubhafte Verteidigung der Souveränität und Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln durchführen zu können, war aus quantitativer Beurteilung ein Wehrpflichtheer notwendig. Die innenpolitischen Gründe lagen wohl in der starken Ablehnung eines Berufsheeres durch die SPO wie auch einer pragmatischen Beurteilung der innenpolitischen Lage durch die OVP. Von Ende August bis Oktober 1955 überführten die USA gemäß dem MarshallPlan-Abkommen vom 14. Juni 1955 das »Livorno-Paket« — Rüstungsgüter für etwa 28000 Mann — in fast 2000 Güterwaggons nach Osterreich. Dieses Material — dem Äquivalent von zwei US-Infanteriedivisionen entsprechend — sollte nun dem österreichischen Heer in seiner neuen Gliederung von acht Infanteriebrigaden und leichten Panzereinheiten, zur Verfügung stehen. Am 15. Oktober 1956, also etwa eine Woche vor Beginn der Revolution in Ungarn, waren die ersten Wehrpflichtigen eingezogen worden, insgesamt knapp 13000 Mann. Zu dieser Zeit verfügte das Bundesheer über ein Kaderpersonal von knapp 7400 Mann. Die ersten Wehrpflichtigen standen nach dem Ende der Kämpfe in Ungarn für den Grenzsicherungseinsatz, der am 24. Oktober begonnen hatte, erst Ende November bereit, also zu einem Zeitpunkt, als die Kämpfe in Ungarn bereits abgeflaut waren. Trotz vieler Schwierigkeiten bei der Sicherung der Grenze (»Neutralität auf dem Prüfstand«, wie es Manfried Rauchensteiner treffend formulierte), hatte sich das junge Heer bewährt. Panzerabwehrwaffen und schwere Infanteriewaffen waren während des Einsatzes nur in geringer Zahl vorhanden, und auch die militärische Bauinfrastruktur befand sich in Ostösterreich in katastrophalem Zustand 8 . Der für den stetigen Aufbau des Bundesheeres nach den Planungen von 1955 und 1956 notwendige, jährlich anfallende Investitionsbedarf wurde von allen politisch Verantwortlichen unterschätzt. Personalkosten, Betriebskosten und Bauaufwand machten etwa 90% der Ausgaben aus, für Neuanschaffung und Modernisierung der Wehrtechnik standen jedoch in den Folgejahren nie ausreichende Mittel zur Verfügung. Praktisch mußten die durchaus nicht großzügigen Planungen bereits 1958 revidiert werden. Für die Aufstellung — drei Gruppen (schwache Korps) mit insgesamt acht Brigaden zu je vier Bataillonen — waren die Mittel nicht vorhanden. Die neunmonatige Dienstzeit ließ praktisch die Bildung eines Reserveheeres kaum zu. Die 60000 Mann in den drei Gruppen waren nun aber wirklich nicht »alle jene zu Gebote stehenden Mittel« (und Männer), mit denen nach dem Neutralitätsgesetz von 1955 Österreich seine Neutralität verteidigen sollte. Obwohl man in den beiden großen politischen Lagern prinzipiell positiv zur Landesverteidigung stand, fehlte nach den Grundsatzerklärungen immer wieder der politische Mut zu fallweise nicht populären Maßnahmen. Lichtblicke ergaben sich aber trotzdem immer wieder. 7

8

Peter Gerlich, Die Landesverteidigung im Konzept der politischen Parteien, in: Schild ohne Schwert. Das österreichische Bundesheer 1955—1970, hrsg. von Manfried Rauchensteiner und Wolfgang Etschmann Graz, Wien, Köln 1991 ( = Forschungen zur Militärgeschichte, B d 2 ) , S. 193—209, S. 196. Dazu Manfried Rauchensteiner, Spätherbst 1956. Die Neutralität auf dem Prüfstand, Wien 1981, und Reiner Eger, Krisen an Österreichs Grenzen, Wien 1981.

Wehrpflicht in der Zweiten Republik Österreich

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Im April des Jahres 1960 kam es zu sehr fruchtbaren Arbeitsgesprächen zwischen Außenminister Kreisky und hohen Offizieren des Verteidigungsministeriums, bei denen Kreisky am 29. April in einer Besprechung feststellte: »Die Aufgabe der Außenpolitik besteht darin, dem Land die ruhige Atmosphäre und Reputation zu geben, die es braucht, um im Inneren die maximale Entwicklung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten. Eine Außenpolitik auf der Grundlage der ständigen Neutralität ohne moderne Landesverteidigung ist daher nicht denkbar [...]. Je stärker die österreichische Luftabwehr sei, umso eher werden es sich fremde Generalstäbe überlegen, österreichisches Gebiet zu überfliegen.« Zur Raketenfrage (Artikel 13 des Staatsvertrages) bemerkte er: »Was zur Verteidigung der Neutralität dient, kann uns nicht verwehrt werden. Dafür übernimmt das Außenministerium die volle Verantwortung. Alles was einer wirksamen Landesverteidigung dient, soll ruhig und bedenkenlos geschehen9.« Moderne Landesverteidigung bedeutet aber auch, ausreichend präsente, gut ausgebildete Kräfte zur Verfügung zu haben. War es nun um die Modernisierung der Ausrüstung der österreichischen Streitkräfte bis 1965 recht gut bestellt (so verschwand der »Typensalat« und die »Schmetterlingssammlung« in den verschiedenen Waffengattungen und den bei ihnen eingeführten Waffensystemen sehr rasch), so zeigte sich, daß die gute wirtschaftliche Entwicklung in Osterreich, so positiv sie insgesamt gesehen werden muß, dem Bundesheer speziell im Unteroffiziers-Bereich und bei den Chargen (höheren Mannschaftsdienstgraden) nicht jenes Potential an motivierten jungen Menschen zuführen konnte, das bei dem erhöhten Bedarf der nunmehr neun Brigaden (davon ab 1964 drei Panzergrenadierbrigaden) eben notwendig war. Die »Reform 1962/63« war letztlich nur ein Nachjustieren nach diesen Gegebenheiten oder auch das Eingeständnis, daß der Ministerratsbeschluß am 11. Jänner 1956, »einem Angreifer schon an den Staatsgrenzen mit eigenen Streitkräften wirkungsvoll entgegentreten zu können« 10 , als Endziel bislang nicht erreicht werden konnte. Bewegte man sich also wieder auf die symbolische Verteidigung zu? Immerhin, auf den ersten Blick war der Erfolg zwischen 1955 und 1964 augenscheinlich. 1956 hatte man 500 Einheiten konzipiert, 1964 existierten bereits 334. Allerdings hatten sich die Personalkosten um 137%, die sonstigen Fixkosten um 107% erhöht. Der Wert der »Geschenke« der abziehenden Signatarmächte des Staatsvertrages hatte in diesem Zeitraum acht Milliarden Schilling betragen. Osterreich selbst hatte aber nur 1,7 Milliarden Schilling für Ankäufe von Rüstungsgütern ausgegeben11. »Ein Heer das nicht einmal zwei Milliarden Schilling hat, kann niemals eine Einsatzstärke von 100000 Mann haben. Das ist aber die Mindestzahl, die wir brauchen, um unsere Aufgabe nach § 2 Wehrgesetz zu lösen [...] Hat alles noch Sinn?« fragte der Generaltruppeninspektor, General Fussenegger, in seinem Tagebuch 196112. Die Trennung von Ausbildungs- und Einsatzverbänden führte 1962 zur Bildung 9

10

11 12

Zit. nach: Manfried Rauchensteiner, Landesverteidigung und Außenpolitik — Feindliche Brüder?, in: Schild ohne Schwert (wie Anm. 7), S. 147f. Mario Duic, Das Erbe von Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Schild ohne Schwert (wie Anm. 7), S. 8 9 - 1 2 8 , S. 101. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114.

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von sieben Einsatzbrigaden (»Knopfdruckbrigaden«) mit etwa 25000 einsatzbereiten Soldaten. Reservekader waren so gut wie nicht vorhanden (von einzelnen Grenzschutzkompanien ab Ende 1962 abgesehen), wenige Sicherungs-, Wach- und Sperrkompanien wurden aufgestellt. Es sollte aber noch bis in die siebziger Jahre dauern, bis das 1963 erarbeitete Konzept mit 300 Reserveeinheiten Gestalt annahm. Ein Mobilmachungsgesetz wurde 1965 von der SPO verhindert. So wurde schon vor genau 30 Jahren in einem Memorandum festgestellt, »die allgemeine Wehrpflicht würde in Osterreich ihren Sinn verlieren, wenn die laufend ausgebildeten Reservisten nicht in die Landesverteidigung einbezogen werden konnten 13 .« Seit 1963 beruhte das österreichische Verteidigungskonzept darauf, daß nach der Schild/Schwert-Theorie der mobilzumachende Grenzschutz den Einsatzverbänden jene Zeit schaffen sollte, die sie zur Herstellung der vollen Schlagkraft brauchen würden. Während der dreijährigen Amtszeit Karl Schleinzers (OVP) als Verteidigungsminister schwankte das Bild des Bundesheeres in der Öffentlichkeit zwischen Streitkräften, die einfach alles zu können hatten, und solchen, die — in welchem bewaffneten Konflikt auch immer — einfach chancenlos waren. Und doch gab es in dieser Phase des »therapeutischen Nihilismus«, wie es der Wiener Politologe Peter Gerlich mit einem Ausdruck der »Wiener Medizinischen Schule« einmal bezeichnete, bemerkenswerte Leistungen des Heeres zu vermelden 14 . 2,2 Millionen Arbeitsstunden in den Jahren 1965/66 bei den großen Hochwasserkatastrophen in der Steiermark und in Kärnten wurden von Soldaten im Assistenzeinsatz (Hilfestellung auf Anforderung ziviler Behörden) geleistet. Und schon im November 1960 hatte die Beteiligung an friedenserhaltenden Einsätzen der Vereinten Nationen mit der Einrichtung eines Feldlazaretts im Kongo und ab April 1964 auf Zypern begonnen. Mittlerweile haben bis heute 32000 österreichische Soldaten im Einsatz der Vereinten Nationen gestanden15. Zu Beginn des Jahres 1968 mußte der Organisationsrahmen des Heeres um 30 Einheiten verkleinert werden. Die im Februar 1968 geschaffene Landwehr sollte als »Territorialtruppe« in den nächsten fünf Jahren gestärkt werden. Als personelle Maßnahme sollten 150000 Angehörige des Reserveheeres schrittweise in die Landwehr überführt werden. Ein neues Schockerlebnis für den gesamten österreichischen Staat, aber letztlich auch deprimierende Erfahrungen für das österreichische Bundesheer selbst brachte der Einmarsch von Truppenverbänden des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968. Aus außenpolitischen Gründen (es sollte der Eindruck verhindert werden, daß Osterreich Mobilmachungsmaßnahmen ergriffen hätte) durften sich die österreichischen Verbände der Staatsgrenze nur auf eine Entfernung von 30 Kilometern nähern. Im Jahre 1969 mehrte sich das Unbehagen innerhalb und außerhalb des Heeres. Die personellen und die Budgetprobleme wurden gravierend. Die Vorbereitungen für ein Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres und für eine »unbewaffnete Neutralität« liefen auf Hochtouren. Im Zuge der Wahlkampfaussagen innerhalb der S P O kam es zu dem Slogan »6 Monate sind genug«, der schließlich auch das Wahlergebnis beeinflussen sollte.

13

Ebd., S. 105.

14

Gerlich, Landesverteidigung (wie Anm. 7), S. 194.

15

Auskunft der Gruppe für auslandsorientierte Aufgaben/BMLV vom 9. Oktober 1992.

Wehrpflicht in der Zweiten Republik Österreich

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1970 — Die Zäsur Die Änderung der politischen Verhältnisse nach dem März 1970 mit dem Wahlsieg der SPO unter der Führung Bruno Kreiskys hatte markante Auswirkungen auf das österreichische Bundesheer. Eine aus 55 Mitgliedern bestehende Bundesheer-Reformkommission trat am 15. Mai 1970 zum ersten Mal zusammen, um die angestrebte Wehrdienstzeitverkürzung auch in einem überschaubaren Zeitraum mit den notwendigen organisatorischen Umgliederungen zu verwirklichen. Bereits im Oktober des Jahres erging ein abschließender Bericht an den Ministerrat, in dem ein neues operatives Konzept die Gesamtraumverteidigung aufzeigte und eine starke Landwehr neben einer neu zu schaffenden Bereitschaftstruppe (die Bildung des Aufstellungsstabes erfolgte am 1. Oktober 1972) als erforderlich erachtet wurde. Im Februar 1971 übernahm Brigadier Karl Lütgendorf das Verteidigungsressort. Seine Hauptaufgabe bestand nach der Verabschiedung der gesetzlichen Voraussetzungen im Juli darin, die Verkürzung der Wehrdienstzeit auf sechs Monate, die Einführung von Truppenübungen und die Ausarbeitung von Richtlinien für die Aufstellung der Bereitschaftstruppe durchzuführen. Der Mob-Rahmen sollte bei 150000 Mann bleiben, die Bereitschaftstruppe sollte in einer Panzergrenadierdivision zusammengefaßt werden, 48 000 Mann waren für die mobile Landwehr, 52000 Mann für die raumgebundene Landwehr vorgesehen. Für die Ausbildung dieses erforderlichen Rahmens stand in diesen Jahren aber kaum genug Kaderpersonal zur Verfügung. Einige Beispiele mögen dies schlaglichtartig verdeutlichen. Im Herbst 1972 hatten sich nur 350 Wehrpflichtige als Einjährig-Freiwillige zur Ausbildung zum Reserveoffizier entschlossen, von diesen brach aber etwa ein Drittel die Ausbildung ab. Im September 1975 wurden schließlich nur 25 Leutnante aus der Theresianischen Militärakademie ausgemustert, im folgenden Jahr, 1976, nur 3616! Nicht viel anders war die Lage auf dem Unteroffiziers- und Chargensektor. Vielleicht lassen sich diese Personalprobleme auch — das könnten Soziologen eher beantworten — als ein Nachbeben der Revolten und Ideen des Jahres 1968 bezeichnen. Die wirtschaftliche Lage trotz Öl-Schock und der hohen Inflationsrate war darüber hinaus so gut, daß die Beamtenbezüge im Bundesheer mit der Privatwirtschaft in keiner Weise mithalten konnten. Der Budgetanteil für Landesverteidigung an den Gesamtausgaben des Staates bis 1975 war weiter geschrumpft (3,69%), und manchen war ohne viel Prophetie klar, daß das Raumverteidigungskonzept — von General Spannocchi entwickelt und propagiert — eben nicht nur eine größere Anzahl von Soldaten erfordern würde, sondern auch eine große Menge an zweifellos moderner (und teurer) Ausrüstung und Bewaffnung, speziell an Panzer- und Luftabwehrwaffen. Auch die »Verteidigung ohne Schlacht« mußte es beispielsweise den Sperrtruppen und der im Jagdkampf agierenden leichten Infanterie möglich machen, gegen feindliche Luftangriffe und Angriffe feindlicher mechanisierter Verbände einigermaßen bestehen zu können. 16

Jahrbuch der Theresianischen Militärakademie 1975 und 1976, Wiener Neustadt 1975 und 1976.

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Das letzte Jahrzehnt — Versuch einer Bilanz und eines Ausblicks Der Jahresbeginn 1979 brachte eine tiefgreifende organisatorische Veränderung innerhalb der Friedensorganisation des Bundesheeres. Die Ausbildungsverbände für die Landwehr — vorerst 29 Landwehrstammregimenter — wurden geschaffen, wobei diesen Verbänden auch die Materialerhaltung für die Verbände der mobilen und raumgebundenen Landwehr oblag. Obwohl die Wehrgesetznovelle 1977 die Pflichtkaderübungen gebracht hatte, war von einer Entspannung auf dem personellen Sektor vorerst nicht allzuviel zu bemerken. Schwierigkeiten ergaben sich vor allem deshalb, weil von den Soldaten eines Einrückungstermins oft nur knapp 25% für die Einsatzorganisation ausgebildet werden konnten, der Rest fungierte als Systemerhalter. Die Befreiungen vom Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen stiegen Ende der siebziger Jahre stärker an. Zwischen 1956 und 1980 betrug die Gesamtsumme der tauglichen Wehrpflichtigen etwa 1,035 Millionen Mann; insgesamt 45000 Wehrpflichtige waren aus wirtschaftlichen und familiären Gründen vom Wehrdienst dauernd befreit worden 17 . Im Jahre 1980 betrugen die genehmigten Anträge auf Zivildienst der 1975 geschaffenen Zivildienstkommission für dieses Jahr bereits 2420. Der Mangel an Ausbildungspersonal, besonders in Ostösterreich, erreichte bereits einen Höhepunkt. Zahlreiche altgediente Unteroffiziere traten in den Ruhestand, weil sie bereits im Pensionsalter waren, und immer weniger Soldaten, die freiwillig verlängerten Grundwehrdienst leisteten, entschlossen sich für eine Unteroffiziers-Laufbahn. Während sich nun wieder ausreichend junge Männer für den Offiziersberuf entschieden, fehlte es an Gruppen- und Zugskommandanten in der Gruppe der Chargen und Unteroffiziere. Dem Versuch, ab 1983 mit »Zeitsoldaten« über die Hürden zu kommen, waren schließlich nur temporäre Teilerfolge beschieden. Mangelnde soziale Sicherheit und vergleichsweise schlechte Bezahlung führten dazu, daß im Unteroffiziers- und Chargenbereich 1980 nur knapp 40% der erforderlichen Zeitsoldaten, die auch die Verbände der Bereitschaftstruppe stärken sollten, zur Verfügung standen. In den meisten Fällen war der Zeitsoldat wohl nur eine Zwischenstufe, aus der sich jedoch kaum ein System der Übernahme zum Berufsoffizier entwickeln konnte. Bei der Tagung »Der Landesverteidigungsplan — Analyse und Perspektiven« resümierte der frühere Armeekommandant, General i.R. Spannocchi, daß die jährlich zwischen 6000 und 10000 zum Feldeinsatz ausgebildeten Reservisten, die in den für 1986 mit 186000 Mann festgelegten Mob-Rahmen hineingeführt werden sollten, nicht ausreichen würden, um die Endausbaustufe von 300000 Mann zu erreichen. Seine Rechnung, gemäß Schweizer Vorbild 40000 Mann eines Einrückungsjahrganges jährlich für die Einsatzorganisation auszubilden, wies auf die Notwendigkeit hin, statt der »Systemerhalter« nunmehr 30000 Zivilbedienstete einzusetzen, die erhöhte Personalkosten von ca. 5 Milliarden Schilling jährlich verursachen würden. Generell hätte sich 17

Michael Schaffer, Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, H. 6 (1981), S. 4 5 1 - 4 5 5 .

Wehrpflicht in der Zweiten Republik Österreich

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das Verteidigungsbudget um ca. 25 Millionen Schilling zu erhöhen, zugleich hätte man den Mob-Rahmen schrittweise auf das Schweizer Niveau von etwa 700000 Mann vergrößern müssen18. Wie schon erwähnt, sah die Realität wesentlich anders aus. Schon Mitte der achtziger Jahre gaben führende Offiziere des Bundesheeres offen zu, daß die »Zwischenstufe 1986« — 186000 Mann Mob-Rahmen — personell und materiell nicht zu erreichen sein würde. 1,4% des Bruttonationalprodukts wurde 1985 für die Landesverteidigung ausgegeben (im Vergleich dazu die Schweiz mit 2,2 % und Schweden mit 2,9%). Für Neuanschaffungen standen nur noch 23% des Budgets zur Verfügung, und sogar dieser geringe Anteil sollte sich noch bis 1989 auf 18% verringern. Man war also wohl trotz Teilerfolgen da und dort und vielen motivierten Soldaten am Ende einer Sackgasse angekommen. Die neue OVP-SPO Koalitionsregierung, die Ende 1990 ihr Amt antrat, mußte im Landesverteidigungsrat rasch zu Entscheidungen gelangen. Im Sommer 1990 hatte die Diskussion um die Wehrdienstzeit einen neuen Höhepunkt erreicht. In Anlehnung an den Slogan der Jahre 1969/70: »6 Monate sind genug«, entstand die Losung: »4 Monate sind genug«, die vom Zentralsekretär der SPO, Marizzi, propagiert wurde, während die Jugendorganisation der SPO — genauso wie die Grün-Alternative Liste — die völlige Abschaffung des Bundesheeres forderte. Die durchaus optimistische, positive Beurteilung der Sicherheitslage führte aber auch im bürgerlichen Lager zur Frage, was denn ein Heer mit über 220000 Mann Mob-Stand nach Wegfallen der gefährlichsten Bedrohung außer der Stellung von »Grünhelmen« (Umwelt- und Katastrophenschutz) und »Blauhelmen« für friedenserhaltende Einsätze noch für einen Sinn haben sollte. Der beginnende Angriff der jugoslawischen Bundesarmee auf Slowenien im Sommer 1991 traf Osterreich freilich nicht völlig unvorbereitet, vor allem was den Bereich der Aufklärung und die zu treffenden Lagebeurteilungen betraf. Trotzdem traten während des Sicherungseinsatzes an der Grenze Probleme auf, die man wohl schon 1956 erlebt hatte, die nun aber unter anderen Rahmenbedingungen sichtbar wurden: Verbände der Bereitschaftstruppe und Rahmenverbände der raumgebundenen und mobilen Territorialverteidigung in Südostösterreich übernahmen die Überwachung der Grenze. Die Soldaten, die seit Jänner 1991 ausgebildet worden waren, hatte man in den letzten Junitagen in die Reserve entlassen und auch nicht erwogen, sie wenigstens für zwei Wochen zurückzubehalten. Milizverbände aus Kärnten, der Steiermark und des Burgenlandes hatte man nicht einberufen und aufgeboten. Außenpolitische Motive waren wohl dafür maßgebend. Plötzlich sah man, wie eng der personelle Rahmen des Heeres geworden war und wie nahe massive Kriegshandlungen dem österreichichen Territorium gekommen waren19. Der Wegfall der Gewissensprüfung vor der Zivildienstkommission führte wenige Monate später, in der ersten Hälfte des Jahres 1992, zu mehr als einer Verdreifachung der Meldungen zur Ableistung des Zivildienstes. Mehr als 3000 Anträge im ersten Quartal ließen die Zahlen für das Jahr 1992 auf über 12000 (das sind 33% des Stellungsjahrganges) 18

19

Emil Spannocchi, Die militärische Komponente des Landesverteidigungsplanes, Zielvorgabe und Rahmenbedingungen, in: Der Landesverteidigungsplan. Analyse und Perspektiven, hrsg. von der Gesellschaft für Politisch-Strategische Studien, Wien 1986, S. 45. Othmar Tauschitz, Die Nichtaufbietung des Miliz- bzw. Reserveheeres in Krisenfällen. Angst vor der allgemeinen Wehrpflicht?, in: Osterreichische Militärische Zeitschrift, H. 5 (1992), S. 385—390.

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Wolfgang Etschmann

hinaufschnellen, für 1993 ist mit einer noch höheren Zahl zu rechnen. Da derzeit nur etwa 4500 Zivildienstplätze pro Jahr angeboten werden, wird sich eine Wartezeit auf die Einberufung zur Ableistung des Zivildienstes von zwei bis vier Jahren ergeben 20 . Verbunden mit einem dramatischen Absinken des Zuwachses an Wehrpflichtigen (von 1986 bis 1990 von 62700 auf 50300 — das bedeutet einen Rückgang um fast 20%) war die Heeresplanung 1992, die von einer jährlichen Anzahl von 34000 Grundwehrdienern (1990 noch 42600) bei einer Einbeziehung immer schwächerer Geburtenjahre ausging, bald vor extreme Schwierigkeiten gestellt21. Bis in die ersten Dezembertage des Jahres 1993 konnten sich beide Koalitionsparteien auf eine Neuregelung des Zivildienstes — nach dem Ende 1991 vereinbarten zweijährigen Beobachtungszeitraum — nicht einigen. Die SPO unter Bundeskanzler Vranitzky lehnte eine Erhöhung der Dauer des Zivildienstes auf 12 Monate strikt ab und forderte »mehr Attraktivität des Wehrdienstes«, die von dem von der O V P gestellten Verteidigungsminister Fasslabend »endlich umgesetzt werden sollte«. Die innenpolitische Pattstellung, die mit den kommenden Nationalratswahlen des Jahres 1994 zusammenhängen dürfte, sollte jedoch um der Sicherheit Österreichs willen bald aufgegeben werden. In einer Zeit wachsender Unsicherheit in vielen Teilen der Welt, besonders aber durch die Explosion der Gewalt in Südosteuropa und verstärkte Wanderungsbewegungen, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges Osterreich in diesem Ausmaß nicht mehr betroffen haben, wurde beispielsweise die Grenzüberwachung und -Sicherung, vorerst auch durch Heeresteile (seit Spätsommer 1990), als notwendig erachtet. Eine möglichst emotionslose und vernünftige Diskussion über die Beibehaltung der Wehrpflicht, möglicherweise sogar über ihre Ausweitung und eine Verlängerung des Wehrdienstes sollte, ja muß in den nächsten Monaten möglich sein. 1,5 Millionen Österreicher, die seit 1956 Wehrdienst geleistet haben, haben immerhin ein Recht auf eine seriöse Bilanz, die noch wesentlich ausführlicher als in diesem Uberblicksbeitrag erstellt werden muß.

20

Erich Reiter, Zivildienst als Alternative zum Wehrdienst, in: Truppendienst, H. 5 (1991), S. 399—405.

21

Thomas Sautner, In Zivil sind's zuviel, in: Wirtschaftswoche, Nr. 42 (15. Oktober 1992), S. 34.

Martin van Creveld

Conscription Warfare: the Israeli Experience

The purpose of this paper is to provide a brief discussion of the Israeli system of, and experience with, conscription warfare. The period covered is from the establishment of the state to the present; in addition to military factors, political, ideological, and social ones will be touched upon. As a modern, Western, democratic society Israel is well documented from most of these points of view. However, to this writer's knowledge the Israel Defense Force (IDF) has made available very little material on the social composition of conscripts, their motivation, and the way in which they — as opposed to other people — see the world. Hence, some of what follows is necessarily based on impressions. The IDF and the State of Israel were both established at the same time, i.e. during the War of Independence of 1948/49. However, the Jewish Community (Yishuv) in what was later to become Israel already possessed considerable armed forces before that date. During the British Mandate some of those forces were illegal, others semilegal. The right wing extremist terrorist organizations, Etzel and Lehi, were committed to the overthrow of British rule by force of arms and, therefore, clearly illegal. Their membership, running into the hundreds with perhaps a few thousand »soft core« supporters, was self-appointed and co-opted. Financing was carried out at least partly by robbing banks. By contrast Haganah, founded in 1920 on the basis of some older organizations (Hashomer), had as its objective the protection of the Jewish population against attacks by the local Arabs. Until the last years of the mandate its existence, and some of its activities as well, were quietly tolerated by the British. In 1936 to 1942 it even cooperated with the Mandatory authorities, first in putting down the Great Rebellion, then in the invasion of Syria and finally in preparing Palestine against the possibility of a German invasion; for all these tasks it provided intelligence, Arab-speaking guides, and some auxiliary manpower. Politically speaking Haganah was the military arm of the Histadrut, or Labor Federation, which in turn was dominated by Mapai (subsequently to become the Israeli Labor Party). The financial resources that Haganah could command were greater by far; from the 1930s on it even possessed a full-time, professional general staff, consisting of personnel who had gained their military experience in the Russian service. Gradually it was able to build up and maintain embryonic land, air, and naval forces, the latter two being disguised as sports clubs. It smuggled some arms into the country and made a beginning towards the local manufacturing of others. It also ran regular training courses of every

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Martin van Creveld

sort for enlisted personnel, some kinds of specialists, and commanders up to company level inclusive. By 1947 it had grown into a militia with a membership of approximately 43,000, including 11,000 hard core activists 1 . Haganah under the British Mandate naturally did not have the legal right to conscript the men and women that it wanted. However, the social pressures that it could exercise on them to join were tremendous and very effective; to refuse or acquire a reputation for unreliability could mean putting one's livelihood in danger, since Histadrut was at the same time the community's largest single employer. Histadrut owned the largest food processing and vending organization. It also established housing- and road-building companies; ran the bus transportation network; maintained the social security system; set up sport- and leisure activities clubs; operated publishing houses; and managed the sick insurance fund, including a network of clinics and hospitals. The network comprised by these institutions provided an excellent infrastructure for military and paramilitary activities, as well as cover for them. Outside the main cities Haganah's powers to mobilize the population and provide it with military training were, if anything, even greater. It lay in the nature of things that many of Haganah's activities were located in rural settlements, both because these were subject to frequent petty harrassment by Arab gangs coming from neighboring villages and because they were less exposed to British supervision. In these settlements, be they Kibbutzim or Moshavim (these are different systems of communal organization) practically everyone was a Haganah member from the day he or she could be taught how to walk and when not to talk. C o m i n g from such a background, the forces with which the Jewish C o m m u n i t y entered the War of Independence that began in November 1947 were originally a miscellany of militias. Besides Etzel, Lehi, and Haganah itself there were Palmach (the Haganah's semi-regular crack troops, perhaps 3,000 strong, which financed itself by working on the Kibbutzim), Mahal and Gahal. The latter two comprised foreigners, both Jewish and non-Jewish, w h o were not Israeli citizens but had come to join in the fight for a Jewish Homeland. Some, such as the famous American Colonel Marcus, served for idealistic reasons, others simply for pay. Their numbers were small, but they included a high percentage of specialized personnel (pilots) as well as technicians — skills which were as important as they were rare. The dismantling of these various militias and their fusion into a single military establishment was the responsibility of Prime Minister David Ben Gurion. H e ecountered considerable opposition to the point that, on one occasion, artillery fire had to be used in order to bring rebels to heel 2 . O n 26 May 1949, a mere 12 days after the last British soldier sailed from Haifa, the establishment of the I D F was proclaimed. By 1 November, the task of unification was officially completed. The new force was immediately thrown into fighting what, by that time, had developed from Sarajevo-like bloody clashes with the local population into full scale international war. 1 2

For detailed figures see Sefer Ha-Palmach, vol. I, Tel Aviv 1953, pp. 860—862. See Edward N . Luttwak and Dan Horowitz, The Israeli Army, London 1975, pp. 38 ff.

Conscription Warfare: the Israeli Experience

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The struggle against the invading armies of five Arab states (Egypt, Jordan, Syria, Lebanon, and Iraq) strained every muscle that the country possessed; the extent of participation in the effort may be gauged from the fact that, by the time the armistice was signed in May 1949, Israel had 100,000 men and women under arms out of a total population of less than 650,000. An effort of this magnitude could only be mounted on the basis of de facto general conscription combined with service for the duration. Nevertheless, the law that regularized this system, known as Khok Sherut Bitakhon Leumi, was only passed by the Knesset (parliament) in June of 1949. With minor modifications it remains in force to the present day. Under the provisions of this law, men and women who are citizens of Israel receive their summons for enlistment at 17. Upon reaching 18 years of age, those of them who are found physically and mentally fit — up to 90% of the men, perhaps 60% of the women3 — are called up; the men originally for two and a half years (there exists no clear legal basis for the period of service), the women for two. Most Arab citizens are exempt, though Christians and Bedouins are allowed to volunteer. Also exempt are students of religious instituts of higher learning (Yeshivas) who attend religious academies of higher learning and girls who, coming from an orthodox background, sign a declaration that military service is incompatible with their upbringing. As is the case in other modern Western countries that have the draft, deferments for study at an institution of higher learning are obtainable; however, they are for the IDF to grant as a matter of policy, not for the draftee to demand as a matter of right. Moreover, deferments are conditioned upon him or her studying in a field that is approved by the EDF. Members of the »Academic Reserve« are designated either for staff duty or for officer training. They must participate in military exercises during study-breaks and sign on in advance to do an extra year of service later on. Somewhat similar provisions apply to soldiers who join the Air Force as pilots, or enlist in naval commando units, or are selected to take up certain slots in the Intelligence Corps. All of these must also serve an extra year or two4. While conscripts make up most of the standing army, most senior positions are held by the members of the professional, standing, force (keba). The system also results in tens of thousands of trained troops being released into the reserves each year. Reserve units make up about two thirds of the IDF, more in the case of the ground forces. Both men 3

The discrepancy arises from the fact that the IDF, while taking any men regardless of education, will not induct women with less than eight years of formal schooling. The results of this policy are twofold: O n the one hand it means that the average qualifications of draftee women are higher than those of the men. O n the other, the IDF by failing to induct low-quality women reinforces the social handicap from which they are suffering. O f all the system's elements, this one is probably the least fair. See Prime Minister's Office, Report on the Status of Women, Jerusalem 1978 (Hebrew).

4

During the period 1968 to 1976, the only one for which statistics are available, 21 % of all male conscripts served for less than three years, 5 1 % for three, and 2 8 % for more. See Victor Azarya and Baruch Kimmerling, New Immigrants as a Special Group in the Israeli Armed Forces, in: Israeli Society and Its Defense Establishment, ed. by Moshe Lissak, London 1984, p. 131. For an analysis of Israeli law as it applies to conscription see Zeev Schiff, A History of the Israeli Army, 1947 to the Present, New York 1985, p. 104ff.

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and women serve, the former until they reach 55 and the latter until they reach 34. Married women are exempt; in practice only a few women, mostly those with specialized skills such as communicators or encoders, ever do reserve service and then for a limited number of years. As to the men, legally they can be made to serve either up to 35 days (enlisted personnel) or as many as 45 days (officers) per year. After they reach the age of 39, the number of days is supposed to taper off. However, this is another field where, as is often the case in Israel, the gap between theory and practice can be very wide. Depending on age, Military Occupation Specialty, and politico-military circumstances the number of reservedays put in by individuals during any specific year can vary from zero to 90 and more. The time put in may be used for refresher training, but it may also be spent patrolling the borders or policing the territories. As used to be the case in Germany before 1914, but unlike the situation today, the younger classes of Israeli reservists serve in first line units and are supposed to be 100% combat-ready. Should war break out, they can expect to enter the fight almost as soon as their regular counterparts. The Israeli system of general conscription and reserve service was initially an immense success. For this it is possible to see several reasons, here discussed in order of growing importance. First, as also happened in countries that adopted the system during the nineteenth century (for example, France and Germany) conscription had the effect of giving the country's armed forces access to the very best manpower available5. There was no question of the rich, the highly educated, and the well connected escaping service; or, conversely, of military service being relegated largely to the underprivileged, the undereducated, and the poor. Moreover, the I D F regards itself as a combat force above all. Therefore, its system of manpower selection and classification has long been deliberately geared to put the best and the brightest into the combat units, and is periodically updated to ensure that this should indeed be the case6. In this respect Israel differs sharply from some other Western countries which, historically, have kept their most qualified manpower either out of uniform or well away from the fighting lines 7 . Second, in comparison with the military manpower available to the neighboring Arab states, the I D F has always been quite small; however, measured in its own terms it was initially a force long on manpower and short on technology. Before 1956 the most important arms-producing countries maintained an embargo and refused to sell Israel weapons, whereas the country's own capabilities in this respect were as yet insignificant. Having few heavy weapons and even fewer technological systems to maintain, repair, and

5

For the period 1968 to 1976 3 3 . 5 % of male draftees were said to have belonged to the highest intelligence class, 2 2 . 8 % to higher middle, 3 1 . 1 % to lower middle and 12.4% to lower; however, in the absence of comparable data from other armies and Israeli's own civilian population such figures mean little. See Azarya and Kimmerling, New Immigrants (as footnote 4), p. 134.

6 7

See Reuven Gal, Portrait of the Israeli Soldier, Westport, C T 1986, chapter 4. See Martin van Creveld, Fighting Power. German and US Military Performance, 1939—1945, Westport, C T 1982 (German edition: Kampfkraft. Militärische Organisation und militärische Leistung 1939—1945, 2. Aufl., Freiburg 1992), pp. 68 ff., for an analysis of the way this problem was handled by the US Army in World War II.

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operate, the IDF could quickly train the available manpower to use what little hardware that was available. Once trained, that manpower would remain in the regular forces for a considerable period of time before leaving and entering the reserves. To put it in a different way, the absence during the early years of great quantities of sophisticated arms obviated the need for large numbers of specialized personnel who take long to train and are hard to retain. To this extent, the ideal of the Nation in Arms was realizable and realized. Third, in Israel during the fifties and sixties the IDF was much more than simply a warmaking machine. Part of the founding-myth of the state had been the idea that, during almost two millenia, when they lived in the diaspora, the Jewish people, a small and powerless minority, had come to consist of cowards. Not knowing how to defend themselves they became the victims of countless pogroms, culminating in the holocaust. Thus it became one of the declared objectives of Zionism to reverse that situation and create a new Jewish man. To quote the hymn of the right-wing Etzel organization, he was to be »generous and cruel« (echoes of Nietzsche here), a type who would not only defend himself but, if possible, respond to aggression seven times over. In this way putting on uniform and serving as a soldier was to represent a living refutation of Jewish history while at the same time realizing an ideal. For the first quarter-century after the foundation of the state the IDF was considered, and considered itself, by far the best, noblest, and most important organization around. The schooling system, the media, much of popular culture, and social mores (e.g. young people wearing uniform when going on leave and attending their Friday night parties) all carried the same message: to be a soldier was to come as close to heaven as the average person could get. Fourth and possibly most important of all, always in Israel there was — and, to a considerable extent, still remains — the overriding sense of ein brera, or no choice. This was something that bound the top political leadership to the vast majority of the population: namely, the idea that the IDF was the only thing standing between Israel and death, by which they meant not merely the destruction of the state but, quite probably, the physical extermination of at least part of the nation. The significance of ein brera was that, recognizing the vital importance of military service, people entered and served willingly, without need for compulsion8. Often it caused them to volunteer for combat units such as the Air Force or the paratroopers rather than simply try to ride out their period of service in some comfortable rear-echelon job 9 . By and large, and in spite of the almost ludicrously low financial compensation that the Army offers its conscripts, this remains the case today. These factors apart, Israel during these years was engaged in a tremendous effort of nation-building. Hundreds of thousands of immigrants, many of them from backward countries where they had literally lived in caves, streamed into the country and had to be integrated into its life. It was necessary to find housing, create jobs, teach the language, 8

See Mordekhai Bar On, Education Processes in the Israeli Defense Forces, in: The Draft. A Hand-

9

Surveys on the willingness of Israelis to serve in the military have been occasionally published during

book of Facts and Alternatives, ed. by. S. Tax, Chicago, IL 1976, p. 139. the last decade, mostly against a background of accusations that this willingness is declining. See Gal, A Portrait (as footnote 6), p. 60 f., for some figures.

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and impart basic skills. The IDF's part in this effort took three principal forms. First, its own education and training programs are, in terms of the numbers that pass through it, among the largest in the country; each year they discharge into the civilian market tens of thousands of youngsters who have acquired at least some skills and experience. Second, male conscripts who are recent immigrants or who have not completed their elementary education are put through mandatory remedial courses, including Hebrew, arithmetic, history, and civics. Third, the IDF also helps educate people who do not belong to its own ranks. In practice, this means that young women-soldiers who volunteer for the job are given a deferment to study in a teachers' seminar. Next, they are sent to serve in places inhabited by backward populations so as to instruct them in modern hygiene, the three Rs (Reading, [Weighting, [Arithmetic), and elementary citizenship. Finally, as used to be the case in countries such as Germany and Fiance before World War II, doing one's conscript service in the military meant much more than just helping defend the country, undergoing some formal education, and acquiring useful skills. Rather, it was considered almost like a rite of initiation. In many ways — the seclusion from civilian society, the strange dress and haircuts, the hazing, the instruction in the country's lore, the element of bloodshed involved — it resembled those familiar from the lives of primitive tribes; its function was also similar, namely to serve as the one overwhelmingly important experience which all Israelis, whatever their place of origin and however long they had been in the country, would one day have in common10. The importance of the IDF as an institution for nation-building, as opposed to one that served military ends only, was brought out by an episode that occured in 1964. At that time, though weapons were no longer as short as they had been before the 1956 Sinai Campaign, the Army remained very poor on the whole. As large numbers of baby-boomers — those born immediately after World War II — reached the age at which they would be conscripted, it did not have sufficient equipment to arm them all. This, in turn, made it necessary to choose: either selective service — drafting only part of each age group — would have to be instituted, or else the period of conscript-duty would have to be shortened. Military considerations pointed to the former solution, since any cut in the number of months served would increase the already quite high ratio of training time to that spent in the units. It is an indication of the importance that the government attributed to the Army as »the School of the Nation« that this logic was not allowed to prevail and the length of military service cut to 26 months for men and 18 months for women11. The measure was subsequently reversed, but this had to do less with social considerations and more with the arrival of new arms from Germany among other places. 10

See Amiah Lieblich, Transition to Adulthood during Military Service: the Israeli Case, New York 1989. The extent to which military service does, in fact, act as an integrating factor is debatable. After over fourty years, an Israeli identity probably exists independently of the IDF; on the other hand, studies have failed to reveal differences in perceived military-political opinion between Israelis who served in the IDF and those who did not. See Allen Arian/Ilan Talmud/Tamar Hermann, National Security and Public Opinion in Israel, Jaffee Center for Strategic Studies, Boulder, C O 1988, chapter 5.

11

Bar On, Education Processes (as footnote 8), p. 146.

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Throughout this period, the IDF relied on conscription not merely for enlisted personnel but, which is much more unusual, for its officers. Most countries that adopted general conscription in the nineteenth century took volunteer cadets. Their training was carried out in specialized military academies, and indeed historically speaking many of those academies antedated conscription by a century or more. Not so the IDF, in which future officers are drafted like anybody else. Having gone through basic and squad commanders' training, they were selected for Officer Candidate School on the basis of their superiors' recommendation and competitive examinations 12 . The school's graduates were commissioned as second lieutenants and made to serve as platoon commanders or equivalent. Their period of service over, all but a small minority — those joining the Keba Army — are expected to leave, to be registered with the reserve units where they can advance up to the rank of lieutenant colonel. The greatest advantage of the system may be economic, since it means that officers are acquired very much on the cheap. Over the years, it has produced a type of junior commander who was academically less qualified than many of his Western counterparts. Balancing this deficiency — if a deficiency it is — is the fact that his hands-on practical experience is far superior to theirs. His understanding of, and sympathy for, the rank and file whom he will command in peace and war are also probably greater. The successes registered by the IDF during the first nineteen years of the state's existence, culminating in the brilliant victory of June 1967, vindicated its structure. It was shown that, thanks to the excellent manpower that made up its combat units and the high motivation of those who enlisted, the IDF was capable of taking in short-term conscripts and training them until they became officers and soldiers second to none in the world. The effect of the Six Day War itself was to raise the social prestige of the Forces even higher, and indeed during this period to wear uniform was to be regarded at least as a demigod. Young people entered service even more willingly than before, often applying connections in order to enli.n with elite units. From time to time the media would report strange stories: e.g. of a youngster who had drowned himself while undergoing self-designed training for a diving course and others who, having been rejected for physical or mental reasons, went out to perform feats of heroism on their own initiative as a way of proving themselves. Conversely, during those years for a person to express conscientious objections, let alone to regard the IDF as evil and refuse to serve in it, was considered not so much a legitimate form of protest as a kind of mental illness. For this draftees could be, and were, committed to a psychiatric hospital. Though 1967 was the greatest victory ever won by the IDF, like many other victories its effect was to increase rather than reduce the problem of security. The Arab menace during the three weeks that proceeded the War and the deployment of massive enemy forces along the country's frontiers had vividly brought home the feeling of ein brer a. Once the War was over the other side, supported by the USSR, engaged in a rearmament-program of unprecedented dimensions. The borders with all of the country's immediate neighbors — Egypt, Syria, Jordan, and ultimately Lebanon too — became far 12

See Gal, A Portrait (as footnote 6), p. 90ff., for the procedures used.

234

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more active, requiring large numbers of troops to guard them on a day to day basis. Lines of communications also became longer, especially on the southern front. This made it necessary to engage in a massive construction effort, adding various logistics and maintenance echelons where previously there had been none. In addition, for the first time since 1948 there emerged within the borders of Israel a significant internal threat. A million and a half Arabs who resented occupation and military rule could not be handled by the police and security services on their own but had to be reinforced by the IDF, at first periodically and then on a permanent basis. All this caused a growing strain on the available manpower. To cope with the problem, the lenght of the period that young people were made to serve was increased to 36 months, which itself meant an increase of 25 % in the size of the standing conscript force. The law that regulated the annual period of reserve service was not changed. However, in practice many people found themselves serving far longer than the allotted 35 or 45 days. Another factor that affected the IFD's manpower policies during these years was the massive influx of American-built military technology. After 1967 the situation whereby the army had been manpower-rich and weapon-poor began to change, at first slowly and then very rapidly until, in comparison to its size, it became one of the heaviestarmed force in the whole of history. Already in 1973 Israel, then a country of three million people (including just over two and a half million Jews), possessed more tanks than did such »medium powers« as France or Britain. By the time the buildup peaked in the mid eighties, it had almost twice as many as the two of them combined 13 . Some of the new technology, such as the F-4 Phantom fighter bombers that came into service in 1969/70, was much more sophisticated than anything previously operated by the IDF, leading to particularly heavy demands in term of maintenance, repairs, logistic organization, etc. The outcome was a huge demand for specialists of every kind, including engineers, technicians, computer operators, and administrators, which could not be met from the ranks of short-service conscripts. The IDF's reaction to these developments took two forms. First, it beefed up the standing forces; given competition from the civilian sector (the years 1967 to 1973 in particular were a period of full employment and rapid economic growth), this also entailed a considerable raise in the regulars' pay and other emoluments. Next, it started contracting out some of its technical workload, thus helping create a Military Industrial Complex that, relative to the country's size, soon grew to monstrous dimensions 14 . Looking at the defense-establishment as a whole, the introduction of massive amounts of modern, sophisticated military technology thus acted to diminish the relative role played by conscripts and conscription. In this respect the Israeli experience bears some resemblance to that of other developed countries, including Germany, most of its European 13

14

The figures are: 1973 - Britain 920, France 820, Israel 1,700; 1982 - Britain 900, France 1,140, Israel 3,600. See The International Institute for Strategic Studies (IISS), The Military Balance 1973/74, London 1973, pp. 17, 20, 33; and IISS, The Military Balance 1982/83, London 1983, pp. 30, 34, 57. See Alex Mintz, The Military-Industrial Complex: the Israeli Case, in: Israeli Society (as footnote 4), pp. 103—127; also Aharon Klieman and Reuven Pedatzur, Rearming Israel: Defense Procurement through the 1990s, Jaffee Center for Strategic Studies, Tel Aviv 1991.

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NATO Allies, the United States and, during the last years of its existence, the former Soviet Union. All have this in common that, compared to the period before 1939, the role of conscription has declined15. In more ways than one, the 1973 War proved to be a watershed in the IDF's history. While hindsight permits us to say that the existence of the state was never in danger, that was not the perception at the time. The War was seen as a desperate struggle whose outcome was decided by a hair's breadth. The first conclusion that the government drew from the War was the need for a much larger and more sophisticated military force; during the next few years, this led to the IDF's order of battle being more than doubled. The increase in the size the Keba corps apart, this growth was achieved by instituting several measures. First, a survey of the country's population was carried out. Low-class manpower that had previously been exempt for physical, mental, and social reasons — including, in some cases, a petty criminal record — now became subject to the draft. Second, from 1977 on those who would be taken into Officer School had to sign on in advance for another year (in the case of women officers, six months) of service. Third, the percentage of women being drafted was increased and the uses to which they were put were altered. Previously IDF women had been confined very largely to traditional roles. Most were active in clerical positions or else as communicators, psycho-technical examinors, teachers, entertainers, etc. Now they took up numerous Military Occupation Specialities (MOS), such as technicians, instructors and intelligence-operatives, that had previously been closed to them16. As will be readily apparent, none of these three measures was cost-free. The increased reliance on categories of manpower previously considered marginal or unsuitable itself meant a decline in quality and, though this has never been documented, probably a corresponding drop in the forces' social prestige. The policy under which officers were made to serve an extra year meant that at least some qualified personnel dropped out, being unwilling to commit themselves (in the late seventies and early eighties there was even a time when compulsion had to be used to induce conscripts to volunteer for officer training)17. Last but not least, the increased reliance on women probably contributed to a situation where top quality male personnel no longer considered the IDF a suitable place in which to exercise their talents and obtain high status. Such personnel found itself drawn into the civilian sector which, during those very years, was undergoing a process of unprecedented modernization and integration into the world market. 15

16 17

See Jacques van D o o m , The Decline of the Mass A r m y in the West: General Reflections, in: Armed Forces and Society, vol. 1, no. 2 (Winter 1975), pp. 147—158; and Maury D. Feld, Military Professionalism and the Mass Army, in: ibid., pp. 191—214. For a brief discussion of MOS open to women see Schiff, A History (as footnote 4), p. 111. In 1980, only 6 0 % of those qualified to become officers announced their intention of doing so. See Pinchas Amiad, Attitude Survey among Conscripts Regarding Service in the IDF (Hebrew), paper read at the 18th Conference of the Israeli Psychological Association, Haifa, February 1982, partly published in: Bamakhaneh (21.4.1982), pp. 44—46. Since then, there has been a lively debate as to whether the officers who choose to serve in the standing forces are »the best« or represent negative selection.

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To put it in a nutshell, breakneck expansion altered the IDF's social makeup. The prestige that it could command in Israeli society never quite recovered from the blow of 1973, which in turn affected its ability to attract top level manpower originating in the country's social elite. This led to at least a temporary drop in quality during the years when General Mordechai Gur was Chief of Staff (1974—1978). Whether that drop has since been corrected is moot18. Above all, the 1973 War proved to be a watershed in the way Israeli society perceived war and the profession of soldiering. As has been noted above, hitherto both had been to some extent ends in themselves. Now the glorification ceased, and they became means pure and simple. The change was most visible on Independence Day, which was and remains Israel's only non-religious holiday. Previously by far the most important element in the festivities had been an IDF parade, comprising several thousand troops and held in one of the three major cities in turn. Now the parades were cancelled, and not even prime minister Menachem Begin — a man who loved military display and would have liked nothing better than to review troops and receive the salute — was able to revive them. The parades gone, the celebrations lost their focus. Most people now spend the day by knocking each others on the head with plastic hammers — a curious custom that seems to have risen out of nowhere — and holding family picnics. The death of over 2,700 men in a mere three weeks of battle and the feeling that the country had been on the verge of disaster largely destroyed the bloom of excitement which, hitherto, had surrounded things military. As the years went on, other factors emerged and probably worked in the same direction. First, and following the route previously taken by other important countries from the superpowers down, Israel's defense came to be based less on conventional weapons and more on nuclear ones19. The existence of those weapons and their delivery vehicles has never been officially acknowledged; however, after 1976 or so the bulk of international publications and various oblique references by Israeli leaders from Moshe Dayan down could no longer be ignored. Clearly, responsibility for looking after the country's ultimate security was being taken out of the hands of the IDF. Instead it was gradually transferred to a very small group of technicians whose exact identity nobody knew and whose weapon-systems would never be put on public display. Next came the invasion of Lebanon which Menachem Begin and Ariel Sharon launched in 1982. For the first time in its history this conflict found Israel acting in a Clausewitzian, »strategic« manner, using war as a continuation of politics and departing from the hitherto accepted model of ein brera20. Much like America's war in Vietnam, and for the same reasons, the Lebanese adventure divided public opinion almost from the first. It quickly gave birth to any number of public demonstrations, opposition articles in 18

19

20

See Emmanuel Wald, The Wald Report: the Decline of Israeli National Security since 1967, Boulder, C O 1992, pp. 142 ff. and passim. See most recently Seymour E. Hersch, The Samson Option: Israeli's Nuclear Arsenal and American Foreign Policy, New York 1991. See Dan Horowitz, Israel's War in Lebanon: New Patterns of Strategic Thinking and Civilian-Military Relations, in: Israeli Society (as footnote 4), pp. 82—102.

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the written media (less so in the electronic ones, which are government owned), cynical marching cadences among the troops who felt they were being sacrificed to no good purpose, as well as an attitude known as rosh katan, or jughead: a derisive term corresponding to the German Mitläufer. The war was to create a situation where small but significant numbers of troops — including a few high ranking officers — refused to serve, either resigning or going to prison21. In the end the minister of defense, the chief of staff, and a corps commander were put on trial by an official Committee of Inquiry. The former was found guilty and sent home in disgrace; the other two were severely censured. Finally, the advent of the Palestinian intifada in late 1987 put an end to what could almost be termed the age of Israeli innocence. Previously much of the citizenry had been able to delude itself that relations with the Arab population, while scarcely idyllic, were at any rate tolerable22. As the outcome of the recent elections has proved, since then a hail of rocks convinced even the most obtuse Israelis that indefinite military occupation is intolerable and that a solution of one kind or another would have to be found. By and large the military effect of the uprising was and still remains small23, though the impact it has had on training and readiness should not be underestimated. Meanwhile, its true significance consisted in that it divided Israelis from each other. Some, mainly on the political right, sought to counter the intifada by using greater force against the Arab population. Many others, mostly on the left, went out of their way to denounce the use of force as foolish, immoral, or both. Though there has always been room for a few extreme doves in Israel's political spectrum, now for the first time the righteousness of its cause came to be seriously questioned by a considerable part of the nation, including much of its educated elite. Against this background, there were even isolated instances of politically motivated violence and, which had previously been unheard-of, ideologically inspired espionage24. A state whose military consist of professional regulars, such as Britain or the United States, may to some extent isolate the forces from political developments. Not so a country like Israel, in which every family is likely to have at least one (often, more than one) member serving in the DDF either as a conscript or as a reservist. While the effects of the above developments on Israel's conscripts have never, to this author's knowledge, been documented it is probable that each separately, and all together, have contributed to a decline in the motivation of the troops in general and of conscripts in particular. 21

See Ruth Linn, Conscientious Objection in Israel During the War in Lebanon, in: Armed Forces and Society, vol. 12, no. 4 (Summer 1986), pp. 489—511, for a discussion of this problem.

22

See e.g. Shabtai Teveth, The Cursed Blessing: the Story of Israel's Occupation of the West Bank, London 1970, and, as late as 1984, Baruch Kimmerling, Making Conflict a Routine, in: Israeli Society (as footnote 4), p. 34.

25

Minister of Defense Yitzhak Rabin at one point claimed that only 4 % of the military budget were being spent dealing with the intifada,

whereas patrolling the border accounted for 8 % ; Ha-Aretz

(Hebrew), (5 January 1990). 24

The most notorious case of espionage was that of Mordechai Vanunu, a technician employed in the Dioma Nuclear Reactor who at one point decided he had to warn Israelis about the dangerous things their leaders were doing. See Frank Barnaby, The Invisible Bomb: the Nuclear Arms Race and the Middle East, London 1989, for the most detailed account.

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In 1988 to 1991 the number of conscientious objectors — including some serving in elite units — who preferred to do time in prison rather than serve in the territories rose sharply. As also happened in the United States during the Vietnam war era, a few went so far as to denounce the IDF in public, refuse to put on uniform, and leave the country. Forming a sharp contrast with the situation before 1973, among young people the feeling of belonging to an elite is no longer absolutely conditioned on joining the army. Dodging military service, while not yet widespread25, has become socially acceptable to the point where it is at least discussed in many homes. More and more often, reserve service is seen as a burden to be avoided if possible. Doing so has become not only acceptable but, to some extent, institutionalized26. As these pages have argued, there were many reasons why the Israeli system of conscription warfare was well suited to prevailing socio-politico-military circumstances and, therefore, a huge success. However, whether this is still the case — whether the forces are as good as they used to be — is moot. The Government of Israel and IDF authorities deny that any kind of change has taken place; from time to time they release statistics whose objective is to show that the troops in general, and conscripts in particular, are as willing to serve as ever. Whatever credence these data should be given — and, in the absence of any alternative sources of information, it is difficult to say — several facts indicate that the authorities are aware that a problem exists and are trying to counter it. First, as of 1990 the Manpower Branch has felt the need to institute formal pre-enlistment programs that attempt to calm the fears of conscripts and overcome the resistance of parents. Second, all kinds of inducements — both financial and other — have been introduced to sweeten the pill for those who serve in the occupied territories where they are most likely to encounter the intifada. Third, the Army has treated its conscientious objectors with kid gloves; it denied the existence of the majority, imprisoned others for relatively short periods (normally 15 to 30 days), and, instead of prosecuting to the end, gave up on repeated offenders by dismissing them from the service. Fourth, and continuing a trend already evident since 1973, there appears to be a growing tendency to rely on high-tech, stand-off weapons which by the nature of things are less manpower intensive. The extent of the difficulties should not be exaggerated. The last few years have witnessed the peace-process, the destruction of Iraq as the largest Arab military power, and the growth of Israel's own nuclear arsenal. Against this background the importance of conventional forces in general, and of conscription in particular, has been declining. At the same time, the number of young people reaching military age is showing unprecedented 25

26

One reason why it is not widespread is because of the considerable penalities now attached to avoiding service: including denying those concerned access to a driver's license, employment in the public sector, government-subsidized housing loans, and social-security child-support benefits. In January 1992 a number of officers were put on trial for letting people off reserve service in return for financial contributions to the IDF. In their defense, they — and their superiors, w h o were called to testify — claimed that it had long been the accepted practice to let rich individuals off the hook by making them donate money for special events such as parties etc. See Ha-Aretz (15 and 16 January 1992).

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growth. Far from being pressed for manpower, which used to be the case during much of its history, the I D F is now able to reject or discharge those whom it considers unsuitable. The resulting rise in the quality of conscripts has probably helped to cancel out any negative influences. Still, in the long run it is not self-evident that the system of conscript cum reserve service is in fact the most suitable for an I D F which, instead of preparing to fight in a full scale ein brera war against the country's neighbors, is increasingly made to perform police-type duties against a politically divisive background. Whether that system is the best solution for a force as dependent on, and permeated by, high technology as the I D F is equally doubtful. For these reasons, it is possible that the time may have come to review the number and kind of M O S that should be entrusted to professional specialists who do not have to be discharged once they are fully trained. Yet the forces of inertia are strong. So long as the country continues to see the overriding threat to its existence as coming from its potentially much stronger neighbors, little change can be expected. In 1985/86 this author was acting as an instructor at the Command and General Staff College. He asked 140 students, ranking from captain to lieutenant colonel, whether the time had not come for a thorough reconsideration of the Army's structure — its division into regulars, conscripts, and reservists — to be undertaken. N o t a single affirmative answer was received, and there the matter rests.

Charles Ε. Kirkpatrick

Entscheidung für den Berufssoldaten. Die Armee der Vereinigten Staaten und die Aufhebung der Wehrpflicht gegen Ende des Vietnamkrieges 19691

A m 27. März 1969 löste Präsident Richard M. Nixon sein im Jahr zuvor gemachtes Wahlkampfversprechen ein und gab für Amerika die Aufhebung der Wehrpflicht bekannt mit dem Hinweis, die Streitkräfte würden dazu übergehen, sich ausschließlich aus Freiwilligen zu rekrutieren 2 . Die Reform war keineswegs ein neues Thema, sie hatte vielmehr bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur Debatte gestanden. In den Jahren 1968 und 1969 hatte die Frage der Wehrpflicht, die im direkten Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg und der daraus resultierenden wachsenden Unzufriedenheit über den nicht enden wollenden Konflikt stand, allerdings eine neue Dringlichkeit erlangt. Nixons Entscheidung war folgerichtig rein politischer Natur. Gleichwohl läßt sich die Akzeptanz einer solchen Regelung durch die beiden großen Parteien zumindest seit 1964 belegen, und zwar durch einen bereits von Senator Barry Goldwater unterbreiteten Vorschlag ähnlicher Art. Dennoch waren die Reaktionen auf die Entscheidung des Präsidenten keineswegs einhellig. Naturgemäß zeigten radikale Kriegsgegner eine positive Resonanz, zumal sich für sie mit dem Ende der Wehrpflicht das Ende des Vietnamkrieges anzukündigen schien 3 . Einige Mitglieder des Kongresses — und hier insbesondere jene der Verwaltungsebene, soweit sie sich auf die Zielsetzungen von Präsident Lyndon Johnsons »Great Society« eingestellt hatten — befürworteten ebenfalls die Aufhebung der Wehrpflicht. Schon 1967 war ein informeller Kongreßausschuß, der als »Wednesday Group« bekannt wurde, gebildet 1

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3

Überarbeitete Fassung eines Referats mit dem Titel »Decision for a Professional A r m y : The United States Military at the End of the Vietnam War (1973)«, gehalten auf der 34. Internationalen Tagung Militärgeschichte am 17. September 1992 in Potsdam. Aus dem Amerikanischen übertragen von Helga Grosman M . A . , Dipl. Ubers. »Statement Announcing Appointment of the President's Commission on an All-Volunteer Armed Force«, in: Public Papers of the Presidents of the United States. Richard Nixon. Containing Public Messages, Speeches, and Statements of the President. 1969, Washington, D.C. 1971, H. 135, S. 258 f. Mitte der sechziger Jahre hatten die Untergrundzeitungen und die Presse der verschiedenen Studentenbewegungen eine höchst ausdrucksstarke Rhetorik. Zu den verständlicheren Darstellungen gehören Bruce K. Chapman, The Wrong Man in Uniform: Our Unfair and obsolete Draft and How We can Replace It, New York 1967; George Wilson, Let's End the Draft Mess, New York 1967; Michael Unseen, Conscription, Protest, and Social Conflict: The Life and Death of a Draft Resistance Movement, New York 1973; James W. Davis, Kenneth M. Dolbeare, Little Groups of Neighbors: The Selective Service System, Chicago 1968, und Jean Carper, Bitter Greetings: The Scandal of the Military Draft, New York 1967.

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worden, um Alternativen auszuarbeiten 4 . Nach Nixons Wahl nahm die Unterstützung im Kongreß allmählich zu, weil durch die geplante Aufhebung der Wehrpflicht der lautstark vorgetragene Protest, mit dem verschiedene Wählergruppen auf die Abgeordneten des Senats und Repräsentantenhauses Druck ausübten, etwas reduziert wurde. Trotz allem blieb das liberale Lager uneins. Einige Abgeordnete, von denen man durchaus Unterstützung für die Abschaffung der Wehrpflicht hätte erwarten dürfen, opponierten gegen die sich abzeichnende Entwicklung. Aus ihrer Sicht war die Verteidigung der Republik allein Sache des Bürgers als Soldat. Verfechter dieser Denkrichtung fürchteten die Konsequenzen aus der Heranbildung einer militärischen Klasse, die sich zunehmend von der amerikanischen Gesellschaft isolieren würde. Diese Gruppe ging von der Vorstellung einer Bürger-, d. h. Wehrpflichtigenarmee als bestem Garanten der Demokratie aus. Andere Kritiker wiederum äußerten öffentlich die Befürchtung eines militärischen Staatsstreichs und führten die französische Armee zum Ende des Algerienkrieges als Beispiel an. So waren die Autoren eines Zeitschriftenartikels besorgt, daß das Konzept einer Freiwilligenarmee das Treueverständnis der Berufssoldaten dieser Armee verändern und sich letztlich »Neue Legionen« Amerikas entwickeln könnten. Einzig ein Caesar und ein Rubikon 5 seien dann noch erforderlich, hieß es. Obwohl nicht alle Kritiker eine so extreme Meinung vertraten, gab es nicht wenige, die das ganze Konzept beunruhigte, weil sie davon ausgingen, daß der Militärdienst dem Bürger das Gefühl der Mitverantwortung für die Nation vermittelte. Ein anderer Einwand ergab sich aus der Sorge, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit (fairness) sei nicht gewährleistet. Senator Edward Kennedy drückte es politisch aus. Er hielt eine Freiwilligenarmee für ungeeignet, Angehörige der sozialen Mittelschicht anzusprechen, und folgerte, die Armee werde sich zwangsläufig aus der Schicht der Armen und Minoritäten rekrutieren; und dies besonders in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, wenn sich für fähige Arbeitskräfte auch gute Beschäftigungsmöglichkeiten ergaben. Ein weiterer wichtiger Einwand war, daß die Regierung weniger gewillt sein würde, eine Armee in Kampfeinsätze zu schicken, wenn sie sich aus Truppen rekrutierte, die politisch wie sozial einen Querschnitt der Nation darstellten. Auf eine Armee der Mittellosen, eben jene, die politisch ohne Einfluß seien, werde hingegen weniger politische Rücksicht genommen, folglich könne diese auch mit weniger Bedenken hinsichtlich politischer Konsequenzen eingesetzt werden. Was Kennedy und Kritiker ähnlicher Couleur noch zusätzlich besorgt gemacht haben dürfte, waren darüber hinaus die zwangsläufig hohen Kosten für eine Freiwilligenarmee. Eigenartigerweise tendierte auch der lautstarke Gegner jedweden Krieges, der als wehrpflichtiger Soldat dienen mußte, dazu, gegen die Bildung einer Freiwilligenarmee zu opponieren. Die anfängliche Freude darüber, daß »meine Freunde nicht gezwungen sein werden, an einem rechtswidrigen Krieg teilzunehmen«, wich, nachdem die Radikalen die

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Diese Gruppe veröffentlichte ihre Beratungen in: Robert T. Stafford u. a., How to End the Draft: The Case for an All-Volunteer Army, Washington 1967. Eine der schroffsten Abhandlungen dieser Themenrichtung ist: David Syrett und Richard H. Kohn, The Dangers of an All-Volunteer Army, in: Military Review, Nr. 6 (1972), S. 70—74.

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Angelegenheit überdacht hatten. Einige prognostizierten denn auch, daß eine Freiwilligenarmee als Streikbrecher werde dienen müssen, um »die amerikanischen Arbeiter daran [zu] hindern, ihre verfassungsmäßigen Rechte zu erlangen«. Schlimmer noch, eine Freiwilligenarmee werde niemals gegen den Krieg in Vietnam protestieren, wie es die Armee der Wehrpflichtigen tat. »Sicherlich ist die Armee zur Zeit in einem schlechten Zustand,« schrieb ein Kritiker, »aber es wäre noch schlechter um sie bestellt ohne jene Menschen, die die Armee und die von ihr vertretenen Ideen und Ziele von innen her bekämpfen 6 .« Soziale Gerechtigkeit war das Thema eines anderen Verfassers: »Junge Menschen, die sich die Muße eines College-Studiums leisten können, werden nicht mehr zum Militärdienst einberufen werden. Nur noch jene werden der Armee angehören, die die Vorteile solcher Muße nie genießen konnten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, das allernötigste zum Leben zusammenzutragen. Jugendliche Angehörige der Arbeiterklasse, Jugendliche aus den ländlichen Gebieten Amerikas und aus den Gettos, eben jene, die keine Arbeit finden können, werden sich für den Militärdienst verpflichten. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich bei diesen Bewerbern nicht um Freiwillige 7 .«

Wie aber sahen militärische Entscheidungsträger das Problem? Im Zuge dieser lebhaften Debatten hatte die Armee 8 der Vereinigten Staaten keineswegs einen leichten Stand, und sie war durchaus weit entfernt von der oppositionellen Haltung, die ihr von den Ideologen der Kriegsgegner zugeschrieben wurde 9 . Die meisten Offiziere waren hinsichtlich der Abschaffung der Wehrpflicht persönlich sehr wohl in ihrer Auffassung ambivalent, hielten es im Interesse der Armee selbst jedoch für erforderlich, eine Freiwilligenarmee als die geeignetste Lösung zu akzeptieren. Es soll deshalb hier die Logik einer aus politischen und pragmatischen Überlegungen hervorgegangenen Entscheidung aufgezeigt werden, einer Entscheidung, die letztlich den geordneten Ubergang von einer Bürger- zu einer Berufsarmee ermöglichte.

Politische Gründe Im Jahre 1968 war die Armee der Vereinigten Staaten der eigentliche Nutznießer einer selektiven Wehrpflicht, die mit nur kurzer Unterbrechung schon seit 1940 bestand. Die Auswahl der Wehrpflichtigen beruhte auf einem umfangreichen Kriterienkatalog, der insbesondere Alter, Familien- und Bildungsstand, Gesundheit sowie besondere Familienverhältnisse berücksichtigte. Die Armee hatte sich an den stetigen und geregelten Zugang neuer Rekruten gewöhnt. Die Wehrpflicht aufzuheben, während das Land einen Krieg 6 7 8

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Jeff Budd, Justification of the Draft, in: Left Face, April 1970, S. 1. »Where We Stand«, in: Left Face, Februar 1971, S. 1. Anm. d. Ubers.: »Armee der Vereinigten Staaten« (the A r m y of the United States) oder auch »amerikanische Armee« (U.S. Army/United States Army) und die im Text häufig verwandte Kurzform »Armee« (Army) sind im Amerikanischen sowohl offizielle als auch historisch belegte Bezeichnungen für die Landstreitkiäfte der Vereinigten Staaten. Andere Bezeichnungen, wie z.B. US-Armee, Pazifik, kennzeichnen hingegen einen großen Truppenverband der Landstreitkiäfte der USA. Siehe u. a. Bruce Bliven, Jr., Α Reporter at Large: All-Volunteer I, in: New Yorker, 24. November 1975, S. 5 5 - 9 1 ; ders., All-Volunteer II, in: New Yorker, 1. Dezember 1975, S. 1 3 7 - 1 5 6 ; David Smith, The Volunteer Army, in: Atlantic Monthly, Bd 234, Nr. 1 (Juli 1974), S. 6 - 1 2 .

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führte, schien wirklich keine gute Entscheidung zu sein. Doch aufgrund des Charakters des 1968er Wahlkampfes hielt der neue Stabschef der Armee, General William C. Westmoreland, einen solchen Schritt für möglich, zumindest schien ihm eine gewisse Reform des Wehrpflichtsystems unumgänglich zu sein. Wichtiger waren für ihn jedoch pragmatische Gründe. Weil die im selektiven Verfahren ermittelten Wehrpflichtigen mehrheitlich der Armee zugute kamen, wurde die Armee in der Öffentlichkeit wie keine der anderen Teilstreitkräfte mit diesem Wehrpflichtverfahren identifiziert 10 . Die Kritik an der Wehrpflicht und den tatsächlichen Problemen, die mit dem System der selektiven Wehrpflicht einhergingen, traf somit in erster Linie die Armee. Sie wurde zur Zielscheibe einer wachsenden antimilitaristischen Einstellung, was zur Folge hatte, daß das Ansehen der Armee mit der in der Öffentlichkeit zunehmenden Empörung über den Vietnamkrieg und die Wehrpflicht merklich abnahm. Meinungsumfragen belegten einen allmählichen Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der Armee: hatten 1958 noch etwa 70% aller 26jährigen Männer ihren Militärdienst abgeleistet, sich die selektive Wehrpflicht und die Armee allgemeiner Zustimmung erfreut 11 , so war dies im Jahre 1968 nicht mehr der Fall. Noch signifikanter war der Meinungsumschwung bei den Gedienten: Nicht einmal 50 % bewerteten ihre Erfahrungen als positiv; über 75 % der Befragten sprachen sich für den Militärdienst bei anderen Teilstreitkräften, nicht aber bei der Armee aus12. Die öffentliche Meinung hatte allerdings ein sehr überzeichnetes Bild von einer Wehrpflichtigenarmee. Denn während der gesamten Dauer des Vietnamkrieges war die Zahl derer, die sich freiwillig meldeten, etwa viermal höher als die der einberufenen Wehrpflichtigen; hinzu kommt, daß nur ein sehr geringer Prozentsatz der für die Wehrpflicht in Frage kommenden Bevölkerung in Vietnam dienen oder überhaupt den Militärdienst

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Aufgrund der massiven Verstärkung von U.S. Truppen in der Republik Vietnam in den Jahren 1965 und 1966 erhielt die Armee von den fast 340000 Einberufenen insgesamt 3 1 7 5 0 0 Wehrpflichtige zugewiesen. Während der Dauer des Vietnamkrieges blieb der Anteil der für die Armee bestimmten Soldaten proportional ungefähr gleich; vgl. zu speziellen Daten: [Department of Defense], Annual Report for Fiscal Year 1966, Washington, D.C. 1967, und die nachfolgenden Ausgaben. Review of the Administration and Operation of the Selective Service System, 89th Congress, 2nd Session, House Report No. 75, Washington, D. C. 1966, S. 9927 und 10005; Louis Harris, Public Opinion and the Draft, in: Dialogue on the Draft, hrsg. von June Α . Willenz, Washington, D. C. 1967, S. 65 f. [Directorate of Personnel Studies and Research, Office of the Deputy Chief of Staff for Personnel], PROVIDE: Project Volunteer In Defense of the Nation, Bd 1, Executive Summary, Washington, D.C. 1969, S. 8; K.H. Kim, Susan Farrell und Wean Clague, The All-Volunteer A r m y : A n Analysis of Demand and Supply, New York 1971, S. 90. Vgl. auch Hal Β. Rhyne, The Image of the A r m y in 1970, Seminararbeit, U.S. A r m y War College, Carlisle Barracks, Pennsylvania, 9. März 1970. Obwohl das Ansehen der Armee in absoluten Zahlen sank und damit auch die Bereitschaft, in die Armee einzutreten, ließen andere Daten darauf schließen, daß für die Armeeführung eigentlich kein Anlaß zur Besorgnis hätte bestehen sollen. David R. Segal und John D. Blair, Public Confidence in the U.S. Military, in: Armed Forces and Society, Bd 3, Nr. 1 (November 1976), S. 3—11, folgerten, die abnehmende Unterstützung für die Armee müsse im Zusammenhang gesehen werden mit dem bei Amerikanern während des Vietnamkrieges feststellbaren allgemeinen Vertrauensverlust gegenüber der Führung aller gesellschaftlichen Institutionen Amerikas; so betrachtet sei das dem Militär entgegengebrachte Vertrauen relativ hoch gewesen.

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ableisten mußte. Der Anteil der amerikanischen Bevölkerung an der sogenannten Vietnamgeneration lag bei 52,9 Millionen Menschen, davon waren 26,7 Millionen männlich. Insgesamt 15,9 Millionen Männer haben nie Militärdienst geleistet; 8,7 Millionen meldeten sich bei den anderen Teilstreitkräften; und 2,2 Millionen wurden schließlich einberufen. Von denjenigen, die Militärdienst leisteten, beendeten 2,3 Millionen ihren Dienst vor Beginn des Vietnamkrieges, und 8,6 Millionen dienten während der eigentlichen Kriegsphase. Aus dieser letztgenannten Gruppe wurden 6,4 Millionen nie nach Vietnam entsandt. Von insgesamt 26,7 Millionen Wehrpflichtigen wurden schließlich in einem Zeitraum von acht Jahren 2,15 Millionen Freiwillige und Wehrpflichtige der vier Teilstreitkräfte zum Dienst in Vietnam verpflichtet 13 . Diese Zahlen geben jedoch nur einen Teil der Wahrheit wieder. Die Kritiker der selektiven Wehrpflicht wiesen zu Recht auf die Ungerechtigkeiten hin, die sich aus einem umfangreichen Kriterienkatalog für Zurückstellungen ergaben. Vor Beginn des Vietnamkrieges waren solche Möglichkeiten für die numerische Begrenzung der zum Militärdienst einberufenen jungen Wehrpflichtigen entscheidend gewesen14. Mit verstärkter Einberufungspraxis verzerrten jedoch Zurückstellungsanträge, die beispielsweise wegen einer noch nicht beendeten Ausbildung gestellt wurden, die dem selektiven Wehrpflichtsystem zugrundeliegenden demographischen Daten. Eine Zurückstellung wegen Ausbildung ließ sich leicht erreichen. Dies erklärt, warum nur 2 % aller Einberufenen einen Collegeabschluß hatten15. Verallgemeinernd kann gesagt werden: Je besser die wirtschaftlich-soziale Situation des einzelnen oder je höher die Reputation seiner Universität war, um so geringer war für den Betroffenen die Wahrscheinlichkeit, den Militärdienst leisten zu müssen. Die Harvard-Studentenzeitschrift Crimson stellte denn auch in ihrer Studie über die Absolventen des Jahrgangs 1970 fest, daß nur 56 von 1200 Graduierten Militärdienst leisteten16. Eine umfangreichere Studie, die von der Universität Notre Dame erstellt wurde, verifizierte in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Faktors Ausbildung. College-Absolventen leisteten wesentlich seltener Militärdienst als diejenigen, die nicht an einer Universität studierten oder keinen Universitätsabschluß erwarben 17 . Die Zurückstellung konnte auch aufgrund einer medizinischen Indikation erfolgen; und es fanden sich immer Ärzte, Zahnärzte und Psychiater, die bereitwillig ein gesundheitliches Pro13

[Department of Defense, Office of the Assistant Secretary of Defense (Comptroller)], Selected Manpower Statistics, Washington, D. C., May 1975, S. 39 und 61; sowie [Department of Commerce], Statistical Abstract of the United States, Washington, D. C. 1973, S. 31, Abb. 35. Gemeint sind im obigen Kontext die Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie das Marinekorps.

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James M. Gerhardt, The Draft and Public Policy: Issues in Military Manpower Procurement, 1945—1970, Columbus, Ohio 1971, erörtert die Entwicklung der Wehrpflicht und Meinungen zum allgemeinen militärischen Pflichtdienst; eine zusammenfassende Darstellung der Nutzung von Zurückstellungsmöglichkeiten zur numerischen Korrektur bei Anwachsen des für den Wehrdienst in Frage kommenden Bevölkerungsanteils und gleichzeitig abnehmenden Bedarf an Soldaten: ebd., insbesondere S. 212f. und 2 3 8 - 2 4 2 .

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Davis und Dolbeare, Little Groups (wie Anm. 3), S. 12.

16

James Fallows, What Did You Do in the Class War, Daddy?, in: Washington Monthly (Oktober 1975).

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Lawrence M. Baskir und William A. Strauss, Chance and Circumstance: The Draft, the War, and the Vietnam Generation, New York 1978, S. 9.

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blem und damit eine für den Militärdienst bestehende Untauglichkeit attestierten18. Die meisten Zurückstellungen waren jedoch nur für die Söhne der Mittelschicht leicht zu erlangen; denn nur wenige Schwarze oder Angehörige der niedrigen Einkommensgruppen kannten diese Möglichkeiten. Die Wehrpflichtigen kamen zunehmend aus Arbeiterfamilien oder Familien der unteren Mittelschicht und hatten entweder keinen »High School«-Abschluß, oder, wenn sie ihn besaßen, keine Perspektiven für eine Weiterbildung. Es zeichnete sich die Tendenz ab, junge Männer aus der Schicht der Armen und ethnischen Minoritäten in unverhältnismäßig hoher Zahl einzuberufen 19 . Gleichzeitig akzeptierte die Armee aber auch Freiwillige aus der für den Wehrdienst in Frage kommenden Bevölkerungsgruppe. Zur Anzahl der direkt Einberufenen gibt es unterschiedliche Schätzungen. Das Verteidigungsministerium legte Zahlen vor, wonach 38% aller Wehrdienstleistenden des Jahres 1964 und 54% der Wehrdienstleistenden des Jahres 1968 bereit gewesen wären, die Einberufung zu umgehen 20 . Da die Freiwilligen das Recht hatten, ihren militärischen Ausbildungsbereich selbst zu bestimmen, wählten sie vorwiegend eine technische oder andere fachorientierte Ausbildung, für die sie aufgrund ihrer vermutlich besseren Bildungsvoraussetzungen geeignet schienen. Im »Armed Forces Qualification Test« (Qualifikationstest der Streitkräfte) erreichten die Freiwilligen bei der Überprüfung der intellektuellen Reife wesentlich häufiger ein überdurchschnittliches (Kategorie I) oder durchschnittliches Ergebnis (Kategorie Π) als die zum Wehrdienst Einberufenen, deren Leistungen nicht selten den Kategorien III und IV zugeordnet werden mußten. Angehörige der zuerst genannten Gruppe waren deshalb auch eher in den technischen Bereichen einer zunehmend technologischer orientierten Armee zu finden als in den Unterkünften der kämpfenden Truppe. Tatsächlich lag der Anteil aller Freiwilligen bei den Kampftruppen unter 5%, bei der Infanterie betrug er sogar nur 1,7 %21. Solches Glück hatten die üblicherweise unterprivilegierten Gruppen hingegen nicht; sie fanden sich in der Grundausbildung für Infanterie-, Artillerie-, Panzer- und Pioniereinheiten wieder. Der renommierte Militärhistoriker Brigadegeneral S. L. A. Marshall bemerkte hierzu, daß 50% aller Männer einer durchschnittlichen, in Vietnam ein18 19

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Ebd., S. 47 f. Unseen (wie Anm. 3), S. 82f., 106—108. Es wurden verschiedene Anleitungen zur Umgehung der Wehrpflicht veröffentlicht, u. a. auch David Suttler, IV-F: Α Guide to Draft Exemption, New York 1970; Conrad J. Lynn, How to Stay Out of the A r m y : A Guide to Your Rights Under the Draft Law, New York, London 1971. Eine sowohl der Kritik an der Wehrpflicht als auch der Kritik an einer Freiwilligenarmee entgegengesetzte Position nimmt Harry G. Summers, Jr., ein, der in seinem Artikel »Another View of an All-Volunteer Army«, in: Military Review, Bd 52, Nr. 6 (1972), S. 75—79, Zit. S. 77, schrieb: »Bruno Bettelheim hat beispielsweise behauptet, daß der durch den Vietnamkrieg ausgelöste Dissens größtenteils auf Schuldgefühle der Studenten zurückzuführen ist, weil sie wußten, daß die Schwarzen, die Armen und die völlig Mittellosen an ihrer Stelle in Vietnam eingesetzt wurden; daß die Studenten, die in bezug auf Wohlstand und Stellung in der Gesellschaft am meisten begünstigt wurden, der Gesellschaft die geringste Gegenleistung erbrachten. Infolgedessen entsprach es für sie einem moralischen Imperativ, den Krieg als rechtswidrig, unmoralisch und ungerecht anzuprangern, was bedeutet, daß er >ihres Dienstes nicht würdig< war.« [Department of Defense, Assistant Secretary of Defense, Manpower], Sample Survey 1964—1968, Washington, D.C. 1969. [Department of Defense], Selected Manpower Statistics, Washington, D.C., 15. April 1970, S. 42.

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gesetzten Infanteriekompanie sich aus wenigen ethnischen Gruppen rekrutierte, nämlich aus Schwarzen, Amerikanern mexikanischer Herkunft, Puertorikanern, Guamesen und japanischen Einwanderern der zweiten Generation 22 . Eine weitere Konsequenz des bestehenden Wehrpflichtsystems war also, daß der Einberufene mit viel größerer Wahrscheinlichkeit für den Kampfeinsatz vorgesehen wurde als derjenige, der sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte, um die offizielle Einberufung zu umgehen. Die Folgen dieser Praxis wurden bald offenkundig. Gegen Ende der sechziger Jahre war die seit 1965 stetig ansteigende Verlustrate unter den Einberufenen höher als bei den Freiwilligen. Allein die Zahl der Gefallenen spricht für sich, ganz zu schweigen von anderen Verlustursachen. Im Jahre 1965 ließen sich 28 % aller im Krieg Gefallenen der Gruppe der Einberufenen zuordnen; im Jahre 1966 lag für dieselbe Gruppe der Anteil bei 34% und im Jahre 1967 bei 57% der Gesamtrate 23 . Eine entsprechende Studie über Cook County, Illinois (im Einzugsgebiet von Chicago), bestätigte die von vielen schon lange geäußerte Vermutung, daß die in Vietnam erlittenen Verluste nicht einfach durch den Militärdienst an sich bedingt waren, vielmehr bestand ein Zusammenhang mit dem sozio-ökonomischen Status der Soldaten. Es ließ sich nachweisen, daß nicht nur Bildungsstand und Militärdienst im umgekehrten Verhältnis zueinander standen, sondern gleiches galt auch für das Verhältnis von Bildungsstand und Verlusten. Soldaten aus Familien mit niedrigem Einkommen dienten doppelt so häufig in Kampfeinheiten wie Soldaten aus Familien der mittleren oder hohen Einkommensgruppierungen; und je länger der Krieg andauerte, desto deutlicher wurde diese Praxis erkennbar 24 . U m den in der Öffentlichkeit weithin bekanntgewordenen Ungerechtigkeiten des bestehenden Wehrpflichtsystems entgegenzutreten, schien es offensichtlich geboten, die Möglichkeiten für eine Zurückstellung von der Wehrpflicht drastisch zu reduzieren, wenn nicht gar völlig aufzugeben, und statt dessen ein System der militärischen Pflichtausbildung einzuführen. Personalsachverständige der Armee stellten in diesem Zusammenhang jedoch schnell fest, daß ein solches theoretisch äußerst wünschenswertes Ziel sich nicht umsetzen lassen würde. Zwei Millionen erreichten jedes Jahr das Wehrpflichtalter, und die Armee verfügte weder über ausreichende Einrichtungen noch über die erforderliche Zahl von Offizieren und Unteroffizieren, um die Gesamtheit der Wehrpflichtigen unterzubringen, selbst wenn 50% ihrer Altersgenossen für wehruntauglich erklärt worden wären. In praxi würde ein gerechtes Wehrpflichtverfahren dieser Art eine weit größere Armee hervorgebracht haben, als das Land tatsächlich benötigte, sich wünschte oder sich finanziell hätte leisten können. Zudem war eine für alle Betroffenen obligatorische Militärausbildung unvereinbar mit der vorherrschenden Stimmung in einem Land, das nicht nur kriegsmüde zu sein schien, sondern in dem auch Zweifel darüber laut geworden waren, ob Regierungen überhaupt rechtmäßig handeln, wenn sie Militärdienst erzwingen 25 . Marshall, zit. in: [BDM Corporation], Α Study of Strategie Lessons Learned in Vietnam, Bd VII: The Soldier, McLean, Virginia, April 1980, S. 1 - 3 1 . " Ebd. 24 Gilbert Badillo und G. David Curry, The Social Incidence of Vietnam Casualities: Social Class or Race?, in: Armed Forces and Society, Bd 3, Nr. 2, Frühjahr 1976, S. 402. 25 Jack R. Butler, The All-Volunteer Armed Force — Its Feasibility and Implications, in: Parameters, 22

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Während des 1968er Wahlkampfes erkannte und akzeptierte General Westmoreland deshalb, daß eine umfassende Änderung des selektiven Wehrpflichtsystems unabdingbar sein werde. Westmoreland, der nicht bloß reagieren, sondern in Vorwegnahme kommender Entwicklungen handeln wollte, ernannte am 3. September 1968 eine Arbeitsgruppe beim Generalstab, die den Auftrag hatte, die »Möglichkeiten des Ubergangs von der Wehrpflicht zu einer aus Freiwilligen bestehenden Streitmacht zu prüfen« 26 . Mit Hilfe der Erkenntnisse dieser und nachfolgender Arbeitsgruppen war die Armee in der Lage, die sich aus dem Wechsel zu einer Freiwilligen-Streitmacht ergebenden Probleme aufzuzeigen und damit die Schlußfolgerungen der bekannteren, später vom Präsidenten eingesetzten Kommission hinsichtlich der Umsetzung einer solchen Entscheidung vorwegzunehmen. Aus rein politischer Sicht lautete die wichtigste Empfehlung der ersten der durchgeführten Untersuchungen, sich dem Aufbau einer Freiwilligen-Streitmacht nicht zu widersetzen. Der Leiter dieser Arbeitsgruppe folgerte, daß Widerstand seitens der Armee gegen die Aufhebung der Wehrpflicht und Bildung einer aus Freiwilligen bestehenden Streitmacht »zu weiteren Divergenzen führen und dem Ansehen der Armee schaden« könnte 27 .

Praktische Erwägungen Es gab somit hinlänglich überzeugende Gründe für die Aufhebung der Wehrpflicht. Die Einführung einer Freiwilligenarmee war jedoch nicht nur aus politischen, sondern auch aus anderen Gründen wünschenswert. In den Jahren 1965 bis 1969 blieb der Vietnamkrieg der wichtigste Auftrag der Armee. Infolgedessen erhöhte sich die Zahl derer, die Militärdienst leisteten, rasch; denn die Truppenstärke mußte für den jeweils einjährigen Kampfeinsatz in Vietnam konstant gehalten werden. Ständig war ein Drittel der Armee in Vietnam stationiert; gleichzeitig war der Einsatz eines weiteren Drittels entweder in Vorbereitung oder bereits unterwegs, während das verbleibende Drittel anderenorts die weitreichenden Verpflichtungen der U. S. Army wahrzunehmen hatte. Fraglos war die letztgenannte Gruppe durch den Vietnamkrieg am stärksten betroffen. In dieser Zeit hatte die in Europa stationierte U. S. Armee, die personell ständig bedenklich unterbesetzt und außerdem unzureichend ausgestattet war, die wohl schlechtesten Einsatzbe-

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Bd 2, Nr. 1 (1979), S. 17—29. Hinweise auf weitere Beiträge zum Problem der selektiven Wehrpflicht: Selective Service and American Society, hrsg. von Roger W. Little, New York 1969; Steven L. Canby, Military Manpower Procurements, Lexington, Mass. 1972; The Draft and Its Enemies: A Documentary History, hrsg. von John O'Sullivan und Alan Μ. Meckler, Urbana 1974; [Report of the National Advisory Commission on Selective Service], in: Pursuit of Equity: W h o Serves When Not All Serve?, Washington, D.C., Februar 1967. Report of the Chief of Staff of the United States Army: 1 July 1968 to 30 June 1972, Washington, D.C. 1977, S. 76. Jack R. Butler, Briefing for the Chief of Staff Army, ohne Datum, Center of Military History Background Collection. National Archives and Records Administration, Washington National Records Center, Record Group 319 (NARA. WNRC. RG 319). Kopie: U.S. A r m y Center of Military History. Historical Research Collection. Southeast Asia (USACMH. HRC. SEA).

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dingungen; sie diente im wesentlichen als Nachschubdepot für Vietnam. Dem Oberkommandierenden in Europa, General Michael S. Davison, zufolge »mußten wir wegen der Kriegführung in Vietnam die 7. Armee auseinanderreißen«. Davison vertrat ferner die Meinung, daß sämtliche Probleme, mit denen sich die Armeeführung generell konfrontiert sah, in Europa um ein Vielfaches größer seien. So gab es in Deutschland Bataillone, die von einem Oberstleutnant, einem Major oder Hauptmann sowie 18 bis 20 Leutnanten geführt wurden; und auf der Ebene der Kompanien kam es alle drei bis vier Monate zum Wechsel der Kompaniechefs28. Westmoreland räumte in diesem Zusammenhang ein, daß die Ausbildung, Einsatzfähigkeit und das professionelle Niveau dieser in Europa stationierten, jedoch nicht für den Einsatz in Vietnam vorgesehenen Teile der Armee vernachlässigt wurden, und zwar als Folge der den Landstreitkräften auferlegten Personalpolitik. Aufgrund einer Entscheidung des amerikanischen Präsidenten wurden nämlich weder die Reservisten und Angehörigen der Nationalgarde (National Guard) einberufen, noch wurde die allgemeine Mobilmachung beschlossen, was dazu führte, daß aktive Offiziere wie Unteroffiziere mehrfach im Kampfgebiet in Vietnam eingesetzt werden mußten. Ihre Erfahrung und Fähigkeiten blieben daher den in USA und Europa stationierten Truppen versagt29. So zeichnete sich allmählich, bedingt durch die in der Gruppe der jüngeren Offiziere und Unteroffiziere auftretenden Verluste, eine relative Verringerung der für Führungspositionen erforderlichen Leistungsvoraussetzungen ab. Ein hoher Prozentsatz des Unteroffizierkorps aus der Zeit vor dem Vietnamkrieg absolvierte erfolgreich die Offizieranwärterschule, um den ständigen Bedarf an Leutnanten zu decken; gleiches kann für die Ausbildung der damals immer häufiger benötigten Hubschrauberpiloten gesagt werden. Allerdings wurde die Reduzierung der Eingangsvoraussetzungen für Berufsoffiziere erst offen praktiziert, nachdem das Reservoir des Unteroffizierkorps erschöpft war. Viele Anwärter, die 1962 chancenlos gewesen wären, konnten daher im Jahre 1968 ihr Offizierpatent erwerben. Die Praxis, Offiziere mit unzureichenden Führungsqualitäten zu übernehmen, war schließlich mitverantwortlich für Katastrophen wie etwa das Massaker von My Lai. Ein namentlich nicht genannter General wurde hierzu in der Washington Post wie folgt zitiert: »Wir hätten Männer wie Calley nicht nehmen sollen. Aber wir mußten es. Viele nur mittelmäßig Qualifizierte erhielten ihr Patent. Und auch das mußten wir eben tun. W i r behielten sogar Soldaten, die normalerweise entlassen worden wären, im Militärdienst, weil wir die Erfordernisse [des Vietnamkrieges] zu berücksichtigen hatten 30 .«

Seit 1970 wurden die negativen Auswirkungen dieser Praxis offenkundig. Der Befehlshaber der US-Armee Pazifik, General Ralph Haines, sah sich deshalb veranlaßt, wie folgt an General Westmoreland zu schreiben:

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General Michael S. Davison; zit. in: Haynes Johnson u. a., A r m y in Anguish, New York, Ν. Y. 1971, S. 19 f. Ein Infanteriebataillon wird normalerweise von einem Oberstleutnant, zwei Majoren, zehn Hauptleuten und ca. 21 Leutnanten geführt. Report of the Chief of Staff of the U. S. A r m y (wie Anm. 26), besonders Kapitel 7. Zit. in: Johnson u.a., A r m y in Anguish (wie Anm. 28), S. 173.

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»Die durch Vietnam bedingten Erfordernisse und die damit einhergehenden raschen Beförderungen haben zu einer generellen Reduzierung der Qualität und daher auch des Ansehens unserer jungen Offiziere geführt. Diese Situation wird meiner Meinung nach zusätzlich noch dadurch erschwert, daß viele unserer freiwillig in den Militärdienst eingetretenen Offiziere sich nicht als Berufsoffiziere verstehen, sondern eigentlich als >Einberufene mit Offizierpatent< [>commissioned draftees