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German Pages 1332 Year 2012
Die Wehrmacht Mythos und Realität
Die Wehrmacht Mythos und Realität Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann Sonderausgabe
Oldenbourg Verlag München 2012
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Titelbilder: Heldengedenktag in Berlin 1935; 2. Weltkrieg, Ostfront, Deutscher Unteroffizier nach der Schlacht von Kursk; beide Fotos: Ullstein bild Satz: Schmucker-digital, Feldkirchen b. München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Thomas Buchbinderei, Augsburg Dieses Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706 ISBN 978-3-486-59207-8
Inhaltsverzeichnis Vorwort
XI
Einführung Rolf-Dieter Müller Die Wehrmacht - Historische Last und Verantwortung. Die Historiographie im Spannungsfeld von Wissenschaft und Vergangenheitsbewältigung
3
I. Anspruch und Selbstverständnis der Wehrmacht Wilhelm. Deist Einführende Bemerkungen
39
Hans-Erich Volkmann Von Blomberg zu Keitel Die Wehrmachtführung und die Demontage des Rechtsstaates
47
Gerhard L. Weinberg Rollen- und Selbstverständnis des Offizierkorps der Wehrmacht im NS-Staat
66
Karl-Heinz Janßen Politische und militärische Zielvorstellungen der Wehrmachtführung .
75
II. Die Wehrmacht im Urteil auswärtiger Mächte Klaus-Jürgen Müller Einführende Bemerkungen
87
Hew Strachan Die Vorstellungen der Anglo-Amerikaner von der Wehrmacht
92
Kurt Arlt Die Wehrmacht im Kalkül Stalins
105
Hans-Rudolf Fuhrer Die Wehrmacht aus Schweizer Sicht
123
Göran Andolf Die Einschätzung der Wehrmacht aus schwedischer Sicht
147
VI
Inhaltsverzeichnis
III. Strategisches Denken, Professionalität und militärische Verantwortlichkeit der Wehrmachtführung Martin van Creveld Einführende Bemerkungen
175
Karl-Heinz Frieser Die deutschen Blitzkriege: Operativer Triumph - strategische Tragödie
182
Bernd Wegner Defensive ohne Strategie. Die Wehrmacht und das Jahr 1943
197
Michael Salewski Die Abwehr der Invasion als Schlüssel zum „Endsieg"?
210
Heinrieb Schwendemann Strategie der Selbstvernichtung: Die Wehrmachtführung im „Endkampf" um das „Dritte Reich"
224
Sänke Neitzel Der Bedeutungswandel der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg. Das militärische und politische Gewicht im Vergleich
245
Guntram Schulze-Wegner Seestrategie und Marinerüstung
267
James S. Corum Stärken und Schwächen der Luftwaffe. Führungsqualitäten und Führung im Zweiten Weltkrieg
283
Williamson Murray Betrachtungen zur deutschen Strategie im Zweiten Weltkrieg
307
Martin van Creveld Die deutsche Wehrmacht: eine militärische Beurteilung
331
IV. Zur Sozial- und Strukturgeschichte der Wehrmacht Detlef Bald Einführende Bemerkungen
349
Wolfgang Petter Militärische Massengesellschaft und Entprofessionalisierung des Offiziers
359
Bernhard R. Kroener „Frontochsen" und „Etappenbullen". Zur Ideologisierung militärischer Organisationsstrukturen im Zweiten Weltkrieg
371
Inhaltsverzeichnis
VII
Ralf Schabet Wenn Wunder den Sieg bringen sollen. Wehrmacht und Waffentechnik im Luftkrieg
385
Bernd Wegner Anmerkungen zur Geschichte der Waffen-SS aus organisations- und funktionsgeschichtlicher Sicht
405
Hans-Ulrich Thamer Die Erosion einer Säule. Wehrmacht und NSDAP
420
Franz-Werner Kersting Wehrmacht und Schule im „Dritten Reich"
436
Rolf Schörken „Schülersoldaten" - Prägung einer Generation
456
Norbert Haase Wehrmachtangehörige vor dem Kriegsgericht
474
Dieter Beese Kirche im Krieg. Evangelische Wehrmachtpfarrer und die Kriegführung der deutschen Wehrmacht
486
Johannes Güsgen Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge in Deutschland von 1933-1945
503
V. Mentalitäten und Kriegsalltag Gerhard Hirschfeld Einführende Bemerkungen
527
Thomas Kühne Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht . . .
534
Rene Schilling Die „Helden der Wehrmacht" - Konstruktion und Rezeption
550
Klaus Latzel Wehrmachtsoldaten zwischen „Normalität" und NS-Ideologie, oder: Was sucht die Forschung in der Feldpost?
573
Benjamin Ziemann Fluchten aus dem Konsens zum Durchhalten. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Erforschung soldatischer Verweigerungsformen in der Wehrmacht 1939-1945
589
Paul Heider Reaktionen in der Wehrmacht auf Gründung und Tätigkeit des Nationalkomitees „Freies Deutschland" und des Bundes Deutscher Offiziere
614
VIII
Inhaltsverzeichnis
Wolfgang Schmidt „Maler an der F r o n t " . Zur Rolle der Kriegsmaler und Pressezeichner der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
635
Heidrun Ehrke-Rotermund Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches"
685
Birthe Kundrus N u r die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 Ein Forschungsbericht
719
VI. Die Wehrmacht als Teil des NS-Unrechtsstaates Eberhard Jäckel Einführende Bemerkungen Hans
739
Umbreit
Die Verantwortlichkeit der Wehrmacht als Okkupationsarmee
. . . .
743
Die Zusammenarbeit von Wehrmacht und Stapo bei der „Aussonderung" sowjetischer Kriegsgefangener im Reich
754
Jörg Osterloh „Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung . . . " - Die Wehrmacht und die Behandlung der sowjetischen Gefangenen in Deutschland
783
Gerhard Schreiber Die italienischen Militärinternierten - politische, humane und rassenideologische Gesichtspunkte einer besonderen Kriegsgefangenschaft .
803
Lutz Klinkhammer Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941-1944
815
Timm C. Richter Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten der Sowjetunion
837
Knut Stang Hilfspolizisten und Soldaten: Das 2./12. litauische Schutzmannschaftsbataillon in Kaunas und Weißrußland
858
Bernhard Chiari Die Büchse der Pandora. Ein D o r f in Weißrußland 1939 bis 1944 . . .
879
Reinhard
Otto
Inhaltsverzeichnis
IX
Klaus Schmider Auf Umwegen zum Vernichtungskrieg? Der Partisanenkrieg in Jugoslawien, 1941-1944
901
Peter Klein Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, Juden als Partisanen „auszurotten"
923
Jürgen Förster Wehrmacht, Krieg und Holocaust
948
VII. Der Krieg und die Folgen Hans-Erich Volkmann Einführende Bemerkungen
967
Arthur L. Smith, jr. Angloamerikanische Umerziehungsprogramme für deutsche Kriegsgefangene. Ein Vergleich
974
Peter Steinbach „Die Brücke ist geschlagen". Die Konfrontation deutscher Kriegsgefangener mit der Demokratie in amerikanischer und britischer Kriegsgefangenschaft
980
Stefan Karner Deutsche Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion 1941-1956
1012
Traugott Wulfhorst Der „Dank des Vaterlandes" Sozialpolitik und -Verwaltung zur Integration ehemaliger Wehrmachtsoldaten und ihrer Hinterbliebenen
1037
Jörg Echternkamp Wut auf die Wehrmacht? Vom Bild der deutschen Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ruth Bettina
1058
Bim
Wehrmacht und Wehrmachtangehörige in den deutschen Nachkriegsprozessen Gerhart Hass
1081
Zum Bild der Wehrmacht in der Geschichtsschreibung der D D R . . . .
1100
Rüdiger Wenzke Das unliebsame Erbe der Wehrmacht und der Aufbau der D D R - V o l k s armee
1113
χ
Inhaltsverzeichnis
Jürgen Danyel Die Erinnerung an die Wehrmacht in beiden deutschen Staaten. Vergangenheitspolitik und Gedenkrituale
1139
Peter Steinbach Widerstand und Wehrmacht
1150
Ulrich de Maiziere Die Bundeswehr - Neuschöpfung oder Fortsetzung der Wehrmacht?
1171
Hans-AdolfJacobsen Wehrmacht und Bundeswehr Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema soldatischer Traditionspflege
1184
Epilog Hans-Erich
Volkmann
Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht
1195
Abkürzungsverzeichnis
1223
Literaturverzeichnis
1232
Personenregister
1298
Bildquellenverzeichnis
1309
Autorenverzeichnis
1310
Vorwort Die Wehrmacht umfaßt in der Geschichte deutscher Streitkräfte nur den verhältnismäßig kurzen Zeitabschnitt von knapp mehr als einem Jahrzehnt. Erwartete die Militärelite nach Hitlers Machtübernahme am Anfang den Aufbruch zu neuer nationaler Größe, so hieß die bittere Realität zwölf Jahre später totale Niederlage und bedingungslose Kapitulation. Am Ende verfügten die Sieger des Zweiten Weltkrieges durch das Kontrollratsgesetz Nr. 34 vom 20. August 1946 die völlige Auflösung der Wehrmacht. Dies bedeutete eine Zäsur, wie sie in der deutschen Militärgeschichte bislang ohne Beispiel war. Erst nahezu zehn Jahre später sollte es wieder deutsche Streitkräfte geben, die in einem geteilten Deutschland, eingebettet in zwei antagonistische Bündnissysteme, auf höchst unterschiedlichen Grundlagen aufbauten. Die Gründungsväter der Bundeswehr schufen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung ein „Parlamentsheer", fest eingefügt in das rechtsstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland und in die auf freiheitlichen Werten gründende transatlantische Verteidigungs- und Sicherheitsgemeinschaft. An diesem Neuaufbau, der zugleich ein politischer und moralischer Neuanfang war, hatten ehemalige Soldaten der Wehrmacht maßgeblichen Anteil - in bewußter Abkehr von den Fehlentwicklungen in Reichswehr und Wehrmacht. Dennoch beherrschte die Frage „Wie hältst du's mit der Wehrmacht?" die Diskussion über Tradition und Traditionsverständnis in der Bundeswehr bis in die jüngste Zeit. Das Thema Wehrmacht ist heute auch wieder Gegenstand eines breiten öffentlichen Interesses, das sich in höchst kontroversen und teilweise äußerst emotionalisierten Diskussionen artikuliert. Zentrale Fragen hierbei sind: Welche Rolle spielte die Wehrmacht im Machtgefüge des „Dritten Reiches"? Wie bereitwillig paßte sie sich den machtpolitischen und ideologischen Zielen des NS-Systems an, trug sie mit oder stand sie zu ihnen im Widerspruch? Inwieweit ließ sie sich von der Staatsführung für einen verbrecherischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg instrumentalisieren? In welchem Ausmaß war sie selbst an den Verbrechen beteiligt, indem sie völkerrechtswidrige Befehle ausführte oder sogar selbst ausarbeitete? Wieviel Schuld traf die oberste Führung der Streitkräfte, die verantwortlichen Befehlshaber, das Offizierkorps, die Unteroffiziere und Mannschaften? Ja, was war und wie war die Wehrmacht überhaupt? Das Militärgeschichtliche Forschungsamt hat sich in diesem Zusammenhang in seinen Veröffentlichungen schon häufig mit der Thematik befaßt. Vor allem in den bisher erschienenen Bänden der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" wird immer wieder dazu Stellung genommen, und das soll in den Folgebänden noch deutlicher geschehen. Das Amt hat sich auch frühzeitig dem militärischen Widerstand zugewandt und unter dem Leitmotiv „Aufstand des Gewissens" eine vielbeachtete Wanderausstellung erarbeitet, die stets eine an neuen Forschungserkenntnissen orientierte Ausgestaltung erfährt. Noch liegt bisher eine umfassende wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Wehrmacht nicht vor. Angesichts der „schwierigen, diffusen Kom-
XII
Vorwort
plexität Wehrmacht im Dritten Reich", wie es Hans-Adolf Jacobsen formulierte, kann dies nicht verwundern. Doch ist es wohl auch die mangelnde Distanz zu diesem Forschungsgegenstand, die das Vorhaben bislang erschwerte. Die öffentliche Diskussion über die Wehrmacht hat vielfach die Perspektive in wissenschaftlich unakzeptabler Weise auf die Frage der Kriegsverbrechen verengt. Auch hat der heftige Meinungsstreit Ausmaße angenommen, die eine vorurteilslose, an wissenschaftlichen Kriterien orientierte Aufarbeitung der angesprochenen Fragen dringlich erscheinen lassen. Von daher sieht sich die Militärgeschichtsforschung herausgefordert und verpflichtet, der selektiven Wahrnehmung dadurch entgegenzuwirken, daß sie versucht, aus vielen Facetten ein möglichst ganzheitliches Bild von der Wehrmacht zu gewinnen und in einen größeren zeitgeschichtlichen Rahmen einzuordnen. Das w a r das Kernanliegen, von dem sich das M G F A bei der Ausrichtung seiner internationalen wissenschaftlichen Tagung über „Die Wehrmacht" im Spätsommer 1997 leiten ließ. Gleichzeitig sollte auch einem aus der Forschungssituation erwachsenen Bedürfnis entsprochen werden. Es galt nämlich, die Offenheit der Militärgeschichte für jüngere gesellschaftsbezogene Forschungsansätze zu bekunden, wie sie als Mentalitätsgeschichte und Geschichte „von unten" auch auf den Sozialkörper Wehrmacht bezogen ihren Ausdruck finden. Bot diese Tagung ein international besetztes Forum zur Erörterung ausgewählter Kapitel der Geschichte der Wehrmacht, so ist es die Zielsetzung des hier vorgelegten Sammelbandes, eine Fülle historiographischer Ergebnisse zur Wehrmacht, die alleine schon die Attraktivität dieses Forschungsgegenstandes verdeutlichen, so zu bündeln, daß zunächst differenzierte und dann vielleicht sogar verallgemeinernde Aussagen möglich werden. Die von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann betreute Publikation hat es unternommen, in über sechzig Fachbeiträgen bekannte Forschungsergebnisse mit neueren Erkenntnissen in einer Weise zu verbinden, daß aus zahlreichen Mosaiksteinchen ein anschauliches, wenngleich auch entsprechend der Vielfalt der Urteile und Meinungen durchaus heterogenes Bild entsteht. Die Autoren haben versucht, dem Bestreben des M G F A nach einer Historisierung des Gegenstandes einerseits und nach Differenzierung des Urteils über eines der schwierigsten und umstrittensten Themen der jüngsten Vergangenheit andererseits Rechnung zu tragen. Bleibt zu bemerken, daß auch Zeitzeugen mit der erwiesenen Fähigkeit zu einem kritisch-nüchternen Urteil zu Wort kommen. Die unterschiedlichen thematischen Kompositionselemente werden einen nachdenklichen, in seinem Urteil differenzierenden, sicherlich aber auch nach weiteren Antworten suchenden Betrachter des Wehrmachtbildes zurücklassen. Sein Auge fällt auf eine Massenarmee mit knapp 17 Millionen Soldaten, die zugleich ein Spiegelbild der damaligen deutschen Gesellschaft war und ebenso komplex wie diese selbst: Da gibt es diejenigen, die pflichtgetreu und guten Glaubens waren, die Helden an der Front, die Deserteure, die Kriegsgefangenen, die Verbrecher und schließlich die Millionen Opfer. Er begegnet ebenso dem Kameraden w i e dem menschenverachtenden Ideologen, dem sinnlos Durchhaltenden w i e dem z u m Widerstand Entschlossenen, dem letzten Aufgebot aus Volkssturm und Kindersoldaten. Er erfährt etwas über soldatische Fähigkeiten, über militärische Verantwortung und über professionelles Versagen.
Vorwort
XIII
Ebenso wird, vielleicht etwas im Hintergrund, die Heimatfront als Reflex auf das Kriegsgeschehen erkennbar. Daß der Krieg auch eine kulturelle Dimension hat, mag paradox wirken. Schließlich wird der Betrachter gewahr, daß das Ende des Zweiten Weltkrieges den ehemaligen Wehrmachtangehörigen mit völlig neuen Lebensumständen konfrontierte. Zu Hause, wenn es denn noch eines gab, erwartete ihn nicht der erhoffte Dank des Vaterlandes, sondern eher eine auf kritische Distanz zu allem Militärischen gehende Gesellschaft, die sich dann auch schwer tat, als es galt, innerhalb eines veränderten Bedrohungsszenarios wieder Streitkräfte aufzubauen. Zum Gelingen der Tagung und des Bandes haben viele beigetragen, denen mein besonderer Dank gilt. An erster Stelle danke ich den Referenten und Autoren, die in kurzer Zeit ihre Arbeitsergebnisse publikationsfertig gemacht und damit ein zügiges Erscheinen dieses Bandes ermöglicht haben. Mein Dank gilt den beiden Herausgebern, Dr. Rolf-Dieter Müller und Professor Dr. Hans-Erich Volkmann, für ihr besonderes Engagement bezüglich der thematischen Gestaltung der Tagung und des Sammelbandes. Danken will ich nicht zuletzt meinem Vorgänger im Amte, Kapitän zur See a.D. Dr. Werner Rahn, unter dessen Verantwortung die Tagung vorbereitet und durchgeführt wurde. Schließlich danke ich all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des M G F A , die durch ihren unermüdlichen Einsatz ein gutes Ergebnis ermöglicht haben, insbesondere Ulrike Henfling für Texterfassung, technische Druckzubereitung, Erstellung des Personenregisters und — in Zusammenarbeit mit John Zimmermann Μ. A. - des Literaturverzeichnisses. Friedhelm Klein M.A. Oberst i.G. Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Einführung
Rolf-Dieter Müller Die Wehrmacht - Historische Last und Verantwortung. Die Historiographie im Spannungsfeld von Wissenschaft und Vergangenheitsbewältigung.
Auch mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Unterwerfung, Auflösung und Verfemung wird um die Wehrmacht des „Dritten Reiches" heftig gestritten. Nicht wenige der damals jungen Soldaten melden sich heute in der deutschen Öffentlichkeit wieder zu Wort, um ihr Unverständnis über die aus ihrer Sicht ungerechten Urteile über die Wehrmacht zum Ausdruck zu bringen. Ihr Unmut richtet sich gegen Historiker der jüngeren Generation, die scheinbar einen Konsens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft aufgebrochen haben. Dieser Konsens billigte der Wehrmacht eine gewisse Sonderrolle innerhalb des verbrecherischen NS-Systems zu, sah zumindest die Masse der zwangsverpflichteten Soldaten als „Verführte" oder „Nicht-Wissende". Angesichts der unübersehbaren Fülle an Literatur zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges könnte der Eindruck entstehen, daß die Historiker bereits alle wesentlichen Fragen beantwortet haben und der Streit nur ein Indiz dafür ist, daß es offenbar nicht gelang, wissenschaftliche Erkenntnisse in ausreichendem Maße auch einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln. Tatsächlich hat die neuere Forschung eine Vielfalt und Spezialisierung entwikkelt, die ein Pauschalurteil weder im Sinne einer „sauberen" Wehrmacht noch einer vorschnellen Verurteilung zulassen. Es formiert sich ein neues Bild der Wehrmacht, dessen Konturen zwar schon erkennbar sind, dem Bedürfnis einer breiten Öffentlichkeit nach einfachen Antworten aber nicht entgegenkommt und sich auch dem Medieninteresse an neuen, plakativen Formeln entzieht. Auf dem Weg zu einer zuverlässigen, wissenschaftlich ausgewogenen Gesamtdarstellung der Wehrmachtgeschichte scheint die Zeit für eine kritische Zwischenbilanz gekommen zu sein, um Leistungen und Defizite, Probleme und Perspektiven wissenschaftlicher Forschung zu skizzieren. Es sind persönliche Beobachtungen und Betrachtungen, aber auch Fragen, die aus dem Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Vergangenheitsbewältigung resultieren und hier in teils zugespitzten Thesen präsentiert werden sollen.
Juristen haben einen wichtigen Beitrag für die Aufhellung der Wehrmachtgeschichte geleistet. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Historiker der beteiligten Nationen bekanntlich die alten Schlachten noch einmal geschlagen - gegeneinander. Das wurde in Deutschland zum nachträglichen Sieg einer militärischen Geschichtsschreibung, in der die Armee rehabilitiert und glorifiziert worden ist. Mehr als 50 Jahre brauchte es, um seit Anfang der sechziger Jahre nach der sog. Fischer-
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Rolf-Dieter Müller
Kontroverse in der Historiographie einer wissenschaftlich-kritischen Darstellung zum Durchbruch zu verhelfen. Im Zweiten Weltkrieg zeigte sich Hitler entschlossen, rechtzeitig Vorsorge zu treffen, um das Bild seiner Wehrmacht in den künftigen Geschichtsbüchern bestimmen zu können. Generalmajor Walter Scherf wurde als „Beauftragter des Führers für die militärische Geschichtsschreibung" eingesetzt. In der Phase des Zusammenbruchs gab es nicht wenige überzählige Stäbe und Dienststellen, die bereits begannen, ihre Akten aufzuarbeiten und die Kriegserfahrungen zusammenzufassen. Befehle zur Vernichtung der Akten bei Kriegsende wurden meist nicht ausgeführt. So konnten mehrere Tonnen Papier aus den Stabsquartieren der Wehrmacht zur Grundlage einer künftigen Geschichtsschreibung werden. Größte Bedeutung für die spätere Historiographie zu Hitlers Wehrmacht hatte der Umstand, daß diese schriftliche Hinterlassenschaft durch die alliierten Siegermächte erbeutet und gesichtet werden konnte. Sie schufen damit die einmalige Chance, die Geschichte einer Armee aus den Quellen unbeeinflußt von politischen Rücksichtnahmen und internen Blockaden zu erforschen. Briten und Amerikaner hatten den größten Schatz und stellten ihn den Historikern fast vollständig zur Verfügung. Die Sowjets dagegen verbargen ihre Beute für mehr als fünfzig Jahre - weitgehend bis heute. Geschichtsschreibung über die Wehrmacht blieb in ihrem Machtbereich hauptsächlich auf die westlichen Archive angewiesen. Es war jedoch zunächst die Stunde der Juristen, die die Grundlage zum Geschichtsbild der Wehrmacht legten. Die Kriegsverbrecherprozesse förderten in den ersten Nachkriegsjahren, aber auch bis in unsere Gegenwart hinein maßgeblich die historische Erforschung. Die Öffnung der Quellen zur Stützung der Anklage gegen die Hauptverantwortlichen hat es einer möglichen Legendenbildung von Anfang schwer gemacht. Die Prozesse gegen hohe Militärs und ehemalige nationalsozialistische „Kriegshelden", auch gegen einzelne Soldaten, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden, haben damals in der westdeutschen Öffentlichkeit aber zugleich eine starke Solidarisierung bewirkt (Beiträge Birn und Echternkamp). Die ersten Schuldtheorien beeinflußten lediglich den intellektuellen Diskurs und richteten sich hinsichtlich der Wehrmacht meist nur gegen die verhängnisvolle Rolle des „preußischen Generalstabs" 1 . Außen vor blieben die Deserteure und Opfer der Wehrmachtjustiz, die „Uberläufer" in den sowjetischen Gefangenenlagern, die sich etwa im „Nationalkomitee Freies Deutschland" organisierten und „natürlich" auch die Emigranten, die auf alliierter Seite gegen die Wehrmacht gekämpft hatten. Allein auf britischer Seite waren mindestens 10000 Deutsche gegen die Wehrmacht in den Krieg gezogen 2 . Auf dieser Basis konnte - allen Aufklärungsbemühungen zum Trotz jene Legende von der angeblich sauberen Wehrmacht entstehen, vom „Normalkrieg", bei dem es allenfalls als Ausnahmeerscheinung moralisches Versagen
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Hermand, Rückfall. Zu den Bemühungen, hier eine Übersicht über die Schicksale zu schaffen, siehe Peter Leighton-Langer, Aus Tischler wurde Thistlethwaite, in: D e r Tagesspiegel, Berlin, vom 1 . 2 . 1998, S . W 3.
Die Wehrmacht - Historische Last und Verantwortung
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und Verbrechen gegeben haben mag - eine Einschätzung, mit der sich die wissenschaftliche Erforschung jahrzehntelang auseinandersetzen mußte 3 . Nach „Nürnberg" gaben die NS-Verfahren der bundesdeutschen Justiz in den sechziger Jahren erneute Anstöße, die Mitwirkung von Wehrmachtangehörigen an den Verbrechen des NS-Staates zu untersuchen. Die Zentrale Untersuchungsstelle in Ludwigsburg hat ebenfalls den Historikern entsprechendes Material zur Verfügung stellen können. Seit einigen Jahren sind War Crimes Sections der Justiz in Großbritannien, Kanada und Australien tätig, von denen wichtige Einzelforschungen angeregt worden sind. Zum ersten Male konnte dadurch nicht nur die Rolle der Wehrmacht, sondern auch der Polizeiverbände und einheimischer Kollaborateure intensiv untersucht werden (Beitrag Stang). Spektakuläre Einzelfälle wie die Prozesse gegen Klaus Barbie in Frankreich und gegen Erich Priebke in R o m haben in den letzten Jahren die Erforschung deutscher Kriegsverbrechen verstärkt, zugleich aber auch in den betroffenen Ländern eine intensive Debatte über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, insbesondere auch über die „Schattenseiten" und Tabus der eigenen Geschichte ausgelöst. Was Juristen und ihre historischen Berater an Quellen zutage gefördert haben, geht natürlich von der Schuldfrage aus und erfaßt nur einen Teil der Wehrmachtgeschichte. In den Gerichtssälen entstand jene Diskursformation, die bis heute die Geschichtsschreibung und das Forschungsinteresse beherrscht. Die Verbrechen waren offenkundig und kaum zu bestreiten. Es geht um Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Persönliche Schuld steht gegen vermeintlichen oder tatsächlichen Befehlsnotstand, ideologisch motivierte Uberzeugungstäter oder schlichte Kriminelle, Helfershelfer und Mitwisser sind abzugrenzen gegenüber Unbeteiligten und Ahnungslosen. Es gab nicht nur historische, sondern auch gute juristische Gründe, die Wehrmacht insgesamt nicht als verbrecherische Organisation einzustufen. Die Frage einer Verantwortung im weiteren moralischen Sinne blieb ungelöst. Auch wenn die Ermittlungen, Verhöre und Prozesse noch heute eine zentrale Quelle für die Geschichtswissenschaft darstellen, konnten die Juristen als Ankläger, Verteidiger oder Richter den Historikern, die nicht anklagen, sondern zu erklären versuchen, die Arbeit nicht abnehmen. Nicht wenige allerdings haben anscheinend alles getan, um die Aufklärung der historischen Vorgänge zu verzögern oder zu verhindern. Abgesehen von den angelsächsischen Juristen, die sich um die Aufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen intensiv bemüht haben, ist die Fortführung ihrer Arbeit durch deutsche Staatsanwälte und Gerichte in der Nachkriegszeit offensichtlich kein Ruhmesblatt der Justiz. Von Ausnahmen abgesehen hat wohl eine ganze Generation deutscher Juristen, die ihre Ausbildung zumeist noch im Zeichen des Hakenkreuzes erhalten hat, keinen Eifer gezeigt, Verbrechen des NS-Regimes und seiner bewaffneten Organe aufzuklären, oder wenigstens Beweise und Zeugenaussagen zu sichern (Beitrag Birn). Dieser Befund bestätigt die allgemeine Einsicht, daß Geschichte nur beschränkt mit juri-
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Frei, Vergangenheitspolitik.
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Rolf-Dieter Müller
stischen Mitteln aufgearbeitet werden kann, zumal wenn die Justiz selbst außerstande ist, ihre eigene belastete Vergangenheit zu bewältigen 4 . Deutsche Historiker, zumeist selbst ehemalige Angehörige der Wehrmacht und oft noch im Kaiserreich verwurzelt, reagierten in den ersten Nachkriegsjahren, wenn überhaupt, sehr verhalten (siehe Beitrag Echternkamp). Sie wichen der Frage nach Verantwortung und Verbrechen der Wehrmacht eher aus, suchten stattdessen Anlehnung am Thema des militärischen Widerstands und bemühten sich um die Einsicht in größere Zusammenhänge. Das war die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Militarismus und der verhängnisvollen Rolle der Armee in der deutschen Geschichte (Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter u. a.) 5 . Die Kontinuitätsfrage bot die Möglichkeit, an frühere positive Traditionen anzuknüpfen und ihren „Mißbrauch" im „Dritten Reich" anzuprangern. Es ist noch heute weitgehend akzeptiert, die Wehrmacht als Endpunkt der preußischdeutschen Militärtradition zu sehen. Hitlers Inszenierung am „Tag von Potsdam" 1933, mit dem er den Nationalsozialismus in die Kontinuität der deutschen Militärgeschichte zu stellen versuchte, findet sich noch heute in den Geschichtsbildern des In- und Auslandes. Dabei scheint es im Lichte der modernen Forschung angebracht zu sein, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Militärgeschichte erneut zu prüfen und zu bestimmen. Wieweit war die Wehrmacht Hitlers Schöpfung, die zu einem Sonderweg in der deutschen Militärgeschichte führte, wie ihn später unter gänzlich anderen U m ständen auch die Nationale Volksarmee der D D R beschritt, oder die Inkarnation unheilvoller Traditionen und Geisteshaltungen, die sich mit Hitler und seinem Regimes verbunden haben? (Beiträge Volkmann, Weinberg, Janßen) Auch wer in der Gründungs- bzw. Formationsphase der „Wehrmacht" 1933/35 stärkere Elemente der Kontinuität als der Veränderung oder gar einen Bruch sehen will, folgt vielleicht allzu schnell dem Klischee, das die borussische Traditionslinie des deutschen Militärs produziert hat und einem Preußenbild, das kritisch zu befragen ist. Wenn jedenfalls Hitler sich selbst als eine Art von „Enkel" Friedrich des Großen gesehen hat, so braucht der Historiker dieser angeblich direkten Linie zwischen dem Preußenkönig und dem Demagogen aus dem österreichischen Braunau nicht zwingend zu folgen. Sieht man die Bilder von der Parade der Wehrmacht an Hitlers 50. Geburtstag im April 1939, kurz vor Kriegsbeginn, dann könnte man glauben, hier präsentierte sich eine siegesbewußte und kriegsbereite Armee, ein glänzendes „Schwert" in der Hand ihres Oberbefehlshabers. In welchem Ausmaß war sie aber tatsächlich auf den Diktator und seine Kriegspläne eingeschworen? Wir wissen einiges über die Haltung der Wehrmachtführung und kennen einzelne Stimmen aus dem Offizierkorps, die resignierende Einschätzung der Männer des militärischen Widerstandes, daß die Soldaten und die Masse der jüngeren Offiziere bei einem Staatsstreich gegen Hitler nicht mitziehen würden. O b das
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Siehe Müller, Juristen. Die Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit findet seit neuestem wieder großes Interesse der Forschung; als Beispiel sei auf das interdisziplinäre Forschungsvorhaben unter der Leitung von Hans-Ulrich Thamer und Reiner Schulze an der Universität Münster verwiesen. Volkmann, Historiker, S. 888 ff.
Die Wehrmacht - Historische Last und Verantwortung
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eine zutreffende Einschätzung war, wie die Stimmung und Loyalität bei der Mehrheit der Wehrmachtsoldaten gewesen ist, darüber gibt es keine gründlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sollten die unterschiedichen Spielarten politischer Gesinnung, die bei den Sympathisanten des NS-Regimes bis 1933 noch von bürgerlich-liberal, deutsch-national bis „völkisch" reichten, tatsächlich innerhalb weniger Jahre eingeebnet worden sein? Blieben nicht innerhalb der formierten NS-"Volksgemeinschaft", d.h. auch innerhalb der Wehrmacht, solche Milieus intakt? So wird man sich vorerst weiter auf die Wehrmachtführung konzentrieren müssen, auf die Frage nach ihrer Loyalität gegenüber dem „Führer", den Zweifel am Kriegskurs, den manche hegten, den Bindungen an eine ältere Militärtradition, die sich dem neuen Geist nur bedingt geöffnet hatte, aber auf dem Kurs in den Krieg und während des Zweiten Weltkrieges der „Nazifizierung" des höheren Offizierkorps fast gänzlich anheim fiel. U n d der Diktator selbst, der sich bei der Parade im April 1939 stolz im Kreise seiner Generale zeigte, war - wie wir wissen - in seiner Einschätzung der Wehrmachtgeneralität durchaus zwiespältig, schwankte zwischen Respekt und Mißtrauen, was sich bis zum Kriegsende zu regelrechten Haßausbrüchen steigerte. Die wiederholten, demonstrativen Bekundungen ihrer „Treue" zum „Führer" und der Beschwörung nationalsozialistischen Geistes als Voraussetzung für den Offizierberuf haben Hitlers Zweifel niemals beseitigen können. „Zwiespalt" sei das Merkmal der Beziehungen zwischen Hitler und der Generalität gewesen, meinte Manfred Funke in seiner Skizze 6 . Soweit den Generalen mangelnde Konsequenz und Zaghaftigkeit ihres Widerspruchs vorzuwerfen war, gab der Rückzug auf den viel diskutierten Eid die Möglichkeit, der Frage nach persönlicher Verantwortung und Schuld auszuweichen. Das Propagandabild von der Geburtstagsparade hatte seine stärkste Wirkung auf die Sicht von außen; es sollte gerade das Ausland und künftige Kriegsgegner beeindrucken. In welchem Ausmaß sind die Kriegstüchtigkeit und Loyalität der Wehrmacht tatsächlich realistisch eingeschätzt worden, welche Folgen hatte das für die Kriegsplanung in den verschiedenen Hauptstädten? Die Perzeption des Auslandes ist in der Historiographie bislang kaum beachtet worden und sicher vielschichtiger gewesen, als es die noch heute gängigen Klischees über die Wehrmacht z . B . in den angelsächsischen Massenmedien erkennen lassen. Auch die Erinnerung vieler Wehrmachtangehöriger über „freundliche" Reaktionen zumindest von Teilen der Bevölkerung in den besetzten Ländern läßt sich nicht von vornherein verwerfen, bedarf jedenfalls der präzisen Untersuchung. Das gilt auch für den „Respekt" oder gar die „Bewunderung", die der Wehrmacht nicht nur von seiten der Verbündeten und Neutralen (s. Beiträge Andolf und Fuhrer), sondern auch vom Gegner entgegengebracht worden sind. Soviel ist sicher: In den meisten europäischen Ländern, nicht nur bei Verbündeten und Neutralen, fand die Wehrmacht zumindest in den dreißiger Jahren sowie bei Kriegsbeginn durchaus einige Sympathie in den regierenden Kreisen, im konservativen Bürgertum, im Offizierkorps. Wie viele bewunderten anfänglich
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Funke, Hitler.
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sogar Hitler und seine „nationale Revolution", stimmten zumindest vielen seiner innenpolitischen Maßnahmen zu? Wie oft wurde die deutsche Aufrüstung als „Bollwerk gegen den Bolschewismus" sogar begrüßt? Es war schließlich das „Zeitalter des Faschismus" (Ernst Nolte). Und gab es nicht Bewunderung und Zustimmung für Hitler und seine Wehrmacht sogar auf sowjetischer Seite? Haß und Todfeindschaft wuchsen dann in Krieg - als ein Ergebnis deutscher Eroberungs- und Okkupationspolitik. Und dennoch blieb vielerorts eine gewisse Kollaborationsbereitschaft, knüpfte vermutlich auch an Reste eines positiven Wehrmachtbildes an. Selbst wer in Stockholm, Bern und Budapest die Niederlage Hitler-Deutschlands wünschte, dachte vielleicht nicht zwangsläufig an eine völlige Entwaffnung und Auflösung der Wehrmacht - sowie zeitweilig, aus entgegengesetzten Gründen, auch Josef Stalin. Hier ist ein innovativer Ansatz vonnöten, für den es kaum Vorbilder gibt und der vermutlich manche nationalen Tabus berührt. Für die deutsche Perspektive könnten solche Erkenntnisse aber vielleicht auch Rückschlüsse auf die zeitgenössische Sicht in Deutschland ermöglichen. Wenn damals selbst Experten in Großbritannien und Frankreich ζ. B. die politische Rolle der Wehrmacht in den dreißiger Jahren und selbst während des Krieges völlig falsch einschätzten (siehe Beitrag Strachan), wenn in neutralen Nachbarstaaten offenbar die Wehrmacht als bloßes militärisches Instrument gesehen und überschätzt worden ist (siehe Beiträge Fuhrer und Andolf), dann mag damit das Verständnis dafür wachsen, daß sich auch in Deutschland viele, denen es an tieferen Einblicken fehlte, allzu lange ein positives Wehrmachtbild bewahrten. Es besteht die Gefahr, daß der Historiker dem Reiz erliegt, mit den Verantwortlichen der Wehrmachtführung zugleich auch diese „schweigende" Mehrheit von Soldaten aus dem Blickwinkel von Nürnberg „entlarven" zu wollen. Wie weit ging aber die Hörigkeit und Identifikation mit dem verbrecherischen Regime? Die meisten Soldaten und Offiziere haben trotz der Befehle ihres „Führers" und seiner Absicht, das eigene Volk in den Untergang zu führen, den Krieg überlebt. Ist das Überleben-wollen nicht letztlich auch eine Form von Verweigerung, eine Absage an politischen Fanatismus? Die Historiographie hat das Durchhalten bis zum Schluß bis heute nicht hinreichend erklären können und mancher neigt dazu, sich statt einer umfassenden Analyse mit der These von der politischen Indoktrination und den „willigen Helfern" zu begnügen. Wie soll also das Verhalten von mehr als zehn Millionen Soldaten bewertet werden, die, anders als 1918 nicht gemeutert haben, sondern am 8. Mai 1945 in Gefangenschaft gegangen sind - eine Kernfrage der Wehrmachtgeschichte, die weder nach juristischen noch politisch-moralischen Kriterien allein zu beantworten ist. Hier kann z.B. die erfahrungs- und geschlechtergeschichtliche Perspektive etwa mit der Analyse von Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos zu erweiterten Einsichten führen (Beitrag Kühne). Die Repräsentanten der Wehrmacht haben sich in Nürnberg als Vertreter eines althergebrachten, vermeintlich unpolitischen Soldatentums dargestellt, obwohl sie in den zehn Jahren zuvor als Hitlers Gehilfen die Einheit von Nationalsozialismus und Armee lautstark propagiert hatten. Also erneut die Frage: Wie weit ging diese Verschmelzung tatsächlich und in welchen Etappen vollzog sie sich? In der frühen Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte
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bald Konsens über den grundlegenden Charakter dieses Prozesses. Gordon A. Craig u. a. konnten nach der Theorie von Franz Neumann die Wehrmacht als eine der Machtsäulen des NS-Regimes beschreiben, mit einer anfangs starken Eigenständigkeit, die durch Anpassung und Unterwerfung ausgehöhlt worden sei. Wheeler Bennett hat in seiner „Nemesis der Macht" dem Generalstab vorgeworfen, als Komplize Hitlers die Machtübernahme gefördert, zu den schlimmsten Verbrechen geschwiegen und durch sinnloses Durchhalten den Krieg unnötig verlängert zu haben 7 . Der Vorwurf der Komplizenschaft stellt immerhin noch eine gewisse Eigenständigkeit in Rechnung. Die damalige marxististische Interpretation verzichtete meist auf jegliche Differenzierungen und ging davon aus, daß die Wehrmacht mit dem Nationalsozialismus verschmolzen war, gar seine militaristische Inkarnation darstellte, wie auch die NS-Propaganda behauptet hatte - die Wehrmachtsoldaten also als seelenlose Exekutoren des Großkapitals und eines militaristischen Junkertums? Speziell die Geschichtsschreibung der früheren D D R hat neben der Verbreitung ideologischer Klischees und propagandistischer Feindbilder seit den siebziger Jahren doch auch bemerkenswerte Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung der Wehrmacht geleistet, in denen die Frage der Verschmelzung mit dem Nationalsozialismus wieder differenzierter betrachtet worden ist (Beitrag Hass). Sie hat sich schon sehr früh den verbrecherischen Aspekten der Wehrmacht zugewandt, wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse aber erst später erbracht, beispielsweise in den Forschungen von Norbert Müller über die Rolle der Wehrmacht als Teil des Besatzungsregimes. In der Bundesrepublik geriet dagegen seit den frühen sechziger Jahren die Erforschung der Wehrmachtgeschichte in der Vorkriegszeit in den Mittelpunkt des Interesses. Hier wirkten die 1969 zeitgleich von Klaus-Jürgen Müller und Manfred Messerschmidt erschienenen Arbeiten bahnbrechend. Während Müller den keineswegs zwangsläufigen Anpassungsprozeß der Heeresführung gegenüber dem Diktator bis 1939 schlüssig beschrieb und dabei die Rolle von Ludwig Beck besonders betonte, der als Generalstabchef 1938 aus Protest gegen Hitlers Kriegskurs demissionierte, untersuchte Messerschmidt zum ersten Mal umfassend und überzeugend die politische Indoktrination der Wehrmacht. Er zerstörte den Mythos von der angeblich unpolitischen und eigenständigen Rolle der Wehrmacht im NS-Staat, was ihm den wütenden Protest mancher Veteranen, aber auch weltweite wissenschaftliche Anerkennung verschaffte. Zehn Jahre später hat Wilhelm Deist mit seinen Arbeiten auch den Nachweis geführt, daß die Wehrmachtführung, basierend auf den Vorbereitungen der zwanziger Jahre, seit 1933 konsequent und in enger, wenngleich nicht spannungsfreier Kooperation mit Hitler die Entfesselung eines zweiten Weltkrieges anstrebte. Der Münchener Zeithistoriker Hermann Graml hat kürzlich auf dieser Grundlage die politische Geschichte der Wehrmacht so skizziert: Die Reichswehr sei ein Hort reaktionärer Uberzeugungen mit einem starken innenpolitischen Einfluß in der Endphase der Weimarer Republik gewesen und zum Steigbügelhalter für Hitler geworden. Ihre Führer haben angenommen, gleichberechtigte
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Wheeler-Bennett, Nemesis; Craig, Armee; Rosinki, Armee.
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Bundesgenossen des NS-Regimes zu sein und hätten sich in eine „Komplicenschaft bei der Liquidierung von Demokratie und Parlamentarismus" 8 begeben und die Armee für die nationalsozialistische Indoktrination geöffnet. Dadurch sei die Eigenständigkeit als innenpolitischer Faktor ebenso verlorengegangen wie die innere Geschlossenheit und die spezifisch politische Zuverlässigkeit. Die politische Geschichte der Wehrmacht ist natürlich im Lichte der neueren Forschung zu prüfen (Siehe Beiträge Volkmann, Weinberg, Janßen). Auch wenn sich dabei hinsichtlich der Wehrmachtführung, ihrer maßgeblichen Rolle bei der Installierung und Festigung des NS-Regimes in den dreißiger Jahren sowie im Hinblick auf die Teilidentität ihrer Zielvorstellungen mit Hitlers Programm keine grundsätzlich neuen Interpretationen ergeben, so hat doch Hermann Graml zu Recht darauf hingewiesen, daß die Aussagen über die politische Haltung der Wehrmacht bis Kriegsbeginn bislang nur auf Einschätzungen einzelner militärischer Führer gestützt werden können. Uber viele interne Entscheidungsprozesse, über die Kommunikationsbahnen zwischen Wehrmacht und Politik, über das mittleres Offizierkorps und die tatsächliche Stimmung und Haltung in der Truppe ist kaum etwas Zuverlässiges bekannt, obwohl diese Faktoren z.B. der bei Planung für einen Staatsstreich im Jahre 1938 eine wichtige Rolle gespielt haben. Zwar hat sich seit den siebziger Jahren in der Geschichtswissenschaft ein breiter Konsens über den polykratischen Charakter des NS-Regimes entwickelt. In vielen Darstellungen über das Zusammenwirken der verschiedenen Machtträger des Regimes ist das Gewicht der Wehrmacht aber nicht immer klar erkennbar geworden. Politik und Strategie bildeten weitere Schwerpunkte der frühen Weltkriegsforschung in der Bundesrepublik, der vor allem von Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen geprägt worden ist. Hier erscheint die Wehrmacht als Instrument Hitlerscher Außen- und Kriegspolitik. Daß in Deutschland die Fragen von Politik und Ideologie sowie die zentrale Rolle Hitlers seit den sechziger Jahren im Mittelpunkt des Interesses standen, entsprach dem damaligen Interessse einer stark auf Aufklärung und politische Bildung ausgerichteten Historiographie. Das brachte gleichzeitig die Gefahr einer Verengung des Verständnisses mit sich, weil nun der Zweite Weltkrieg zumeist als „deutscher Krieg" gesehen wurde. Der Hitler-Zentrismus verstärkte die Hinwendung zu den Führungseliten - neben der Wehrmacht gerieten andere Einrichtungen wie die Kirchen, die Juristen, Arzte ect. erst in den achtziger Jahren in den Brennpunkt des Interesses. Hitlers Willen zum Krieg, sein ideologisch geprägter Fahrplan zur Weltherrschaft sowie die Mitverantwortung der Wehrmachtführung wurden in diesen Meilensteinen der wissenschaftlichen Forschung deutlich markiert und durch den ersten Band des vom M G F A herausgebrachten Serienwerkes „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" bestätigend in einen größeren Zusammenhang gestellt 9 . Die Darstellung im vierten Band hat gezeigt, daß die Mitwirkung der Wehrmachtführung bei der wichtigsten Entscheidung während des Krieges, dem 8 9
Graml, Wehrmacht, S. 369. Hillgruber, Strategie; Jacobsen, Außenpolitik, und D a s Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 1.
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Entschluß Hitlers zum Uberfall auf die U d S S R , intensiver und bedenkenloser war, als es ehemalige Verantwortliche nach dem Krieg behauptet haben. Die Vermischung ideologischer Dispositionen und strategischer Erwägungen läßt sich am Beispiel des „Unternehmens Barbarossa" am deutlichsten aufzeigen. D u r c h Aufrüstung und allgemeine Wehrpflicht war zweifellos ein grundlegender Wandel der Armee eingetreten, wie Graml meint. D i e Wehrmacht wurde vom Segment der Gesellschaft zu ihrem Abbild. In politikblinder Loyalität hätten sich die neuen Armeeführer in den Dienst der Expansionspolitik des R e gimes gestellt. Trotz anfänglicher Hemmungen seien sie schließlich bereit gewesen, auch bei der „genuin" nationalsozialistischen Bevölkerungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik mitzuwirken. Graml spricht von politischer Schwäche und Mangel an Zivilcourage, moralischer Indifferenz und partieller Übereinstimmung der Heeresführung. Zu fragen ist aber: Wie zuverlässig sind eigentlich die wissenschaftlichen Grundlagen für eine solche Einschätzung? Ist die politisch-moralische Erklärung ausreichend, um das Verhalten der Wehrmachtführung verstehen und erklären zu können? Ist die Bereitschaft, in diesem Ausmaß an Kriegsverbrechen mitzuwirken, denkbar ohne Hitlers Einwirkung, ohne den Nationalsozialismus - wohl kaum. Wie stark sind andererseits Tendenzen zur Barbarisierung der Kriegführung zu bewerten, deren Ursache nicht primär in der Ideologie liegen? D i e historische Forschung hat in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, daß spätestens der Uberfall auf die Sowjetunion die Wehrmachtführung in eine umfassende Mitverantwortung für eine verbrecherische Kriegführung gebracht hat, die beispiellos in der deutschen Militärgeschichte ist. D e n n o c h blieb es im allgemeinen wohl bei einer Trennung der Aufgaben von Wehrmacht und SS, auch wenn bei dieser Arbeitsteilung die Grenzen mehr und mehr verwischten. Millionen Soldaten der Ostarmeen kamen nie mit Aktivitäten der SS- und Polizeiverbände in unmittelbare Berührung. „Jede Kritik an der Wehrmacht muß diese auf persönlicher Erfahrung beruhende Vorstellung respektieren und Pauschalurteile über die Masse der Soldaten vermeiden", fordern wie Hermann Graml viele Kritiker jener umstrittenen Hamburger Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht, die seit 1995 einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Gesamturteil zu bündeln und zu populärisieren sucht 1 0 . Persönliche Erfahrung ersetzt freilich keinen wissenschaftlichen Beleg, und das bloße Anprangern von Kriegsverbrechen wiederum führt nicht zwangsläufig zu einem soliden historischen Urteil. D e r Angleichungsprozeß zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus im Zuge des Massenmords an den Juden führte zweifellos zu einem politischen und moralischen Fiasko der deutschen Armee, einer Institution, die sich auf Ehre und Ritterlichkeit berufen konnte. Vergleicht man das Leitbild in den „Pflichten des deutschen Soldaten" von 1935 mit dem erzieherischen Leitfaden „Wehrwesen" vom März 1945, dann tritt der tiefgreifende Wandel innerhalb von nur zehn Jahren deutlich zutage. Anstelle der Beschwörung eines „christlichen" Soldatenbildes trat das Führerwort „Nationalsozialismus ist höchstes
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Ebd., S. 376.
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Soldatentum": „Es ist daher unmöglich, daß auch nur ein Offizier, der treu zu seinem Führer steht, nicht aus tiefster Überzeugung Nationalsozialist ist" 11 . Der Ehrbegriff reduzierte sich auf die bedingungslose „Treue" zum Diktator, Ritterlichkeit galt nur noch gegenüber der „deutschen Frau". Auch wenn Leitbilder nicht ohne weiteres als Realität zu nehmen sind, so belegen doch die neueren Forschungen nicht nur die passive Hinnahme der Vernichtungspolitik, sondern bis in höhere Rängen hinein sogar nicht selten Bejahung und Unterstützung brutalster Verbrechen und rassistischer Massenmorde, wie sie von Hitler angeordnet worden waren. Dennoch gab es auch Widerspruch und Bedenken. Der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 wurde auch vom Scham über diese Verbrechen angetrieben. Das Gesamtbild der Wehrmacht ist voller Widersprüchlichkeiten. Es gab Traditionalisten im Generalstab, die unbeirrt von der NS-Ideologie, auf ein Bündnis mit den angeblichen „Untermenschen" Rußlands setzten, die sich immer wieder bemühten, verbrecherische Befehle einzugrenzen oder aufzuheben. Besonders der Partisanenkrieg scheint die fortschreitende Nazifizierung der Wehrmacht gefördert zu haben. Graml macht hier die wichtige Einschränkung, daß die gehorsame Exekution nationalsozialistischer Repressalienpolitik keineswegs immer auf ideologischer Angleichung beruhte, daß politisch naive Offiziere z.B. empfindlich auf den Vorwurf unsoldatischer „Weichheit" reagierten 12 . Der Berliner Historiker Jörg Friedrich u.a. weisen auf Spezifika des Partisanenkrieges hin, die mit NS-Ideologie wenig zu tun haben 13 (Beiträge Schmider, Chiari, Richter). In dieser extremen, damals noch weitgehend neuen Form der bewaffneten Auseinandersetzung der Effizienz einen höheren Wert als dem Recht beizumessen, war ein Verhaltensmuster, das auch bei vielen Guerillakriegen nach 1945 alltäglich, nicht zuletzt auch von den Partisanen selbst praktiziert wurde. Das Erschrecken über diese Gewaltorgie im Hinterland läßt die Differenzierung zwischen rassenideologischer Vernichtungspolitik und militärischen Repressionen sowie einer allgemeinen Barbarisierung der Kriegführung nicht entbehrlich erscheinen, auch wenn die Grenzen offensichtlich fließend waren. Hier sind wohl weitere umfassende Forschungen erforderlich, die, ausgehend von der militärischen Situation, Handlungsmuster und Motive von Wehrmachteinheiten und Soldaten gründlicher analysieren und dabei auch die Situation der betroffenen Bevölkerung angemessen in Rechnung stellen 14 . Dabei kann sich dann auch herausstellen, daß manche Überlieferungen und Augenzeugenberichte sowohl aus der Täter- wie auch der Opferperspektive subjektiv verfärbt worden sind und eine Neubewertung erfordern (Beitrag Klinkhammer). Wenn das Verhalten der Wehrmacht bewertet werden soll, dann stellt sich neben ideologischen und situativen Bedingungen - immer wieder die Bindung 11
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Leitfaden Wehrwesen, Anlage zum Schreiben von Major Dannebaum, Dienststelle General des Heeres beim Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe vom 29.3.1945, S. 85, B A - M A , R W 4/v.495. Graml, Wehrmacht, S. 382. Friedrich, Gesetz. Beispielhaft Mulligan, Reckoning; Chiari, Alltag. Wenig überzeugend und plakativ dagegen Heer, Pflicht.
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von Soldaten und Offizieren an Hitler, der absolute Gehorsam gegenüber Führerbefehlen als wichtiges Kriterium heraus. Ein solches Verhalten war freilich kein Monopol der deutschen Armee, weder im Vergleich zu anderen, wie das Beispiel der Roten Armee zeigt, noch innerhalb der deutschen Gesellschaft. „Aber vor Hitler und nationalsozialistischer Politik haben sämtliche Schichten, Klassen, Institutionen und Berufe der deutschen Gesellschaft versagt. Die Gifte der nationalsozialistischen Ideologie waren in alle Blutbahnen der Nation gelangt. Es wäre eine künstliche Trennung, vom Abbild dieser Gesellschaft, der Armee, etwas anderes zu erwarten als ebenfalls Versagen", meint Graml in seinem Uberblick 1 5 . Mit dem Bild vom Gift und den Blutbahnen wird hier noch einmal die moralisch distanzierende - und auch fragwürdige - Interpretation deutlich, die in den fünfziger Jahren von den Zeitgenossen häufig benutzt wurde, um den Nationalsozialismus und seine verbrecherische Politik als eindringenden Fremdkörper, quasi als Bazillus auch in der Wehrmacht zu verstehen. Wenn die neuere Forschung diesen Ansatz auch nicht mehr teilt und eher die zielgerichteten Gemeinsamkeiten politischer Uberzeugung, eher die fortschreitende Verschmelzung von Regime und Armee betont, bleibt die Frage wichtig, was sich als resistent in der Wehrmacht erwiesen hat, ob die Kontinuitäten zur älteren Militärgeschichte tatsächlich völlig unterbrochen wurden, oder aber in verwandelter Form bestimmende Wirkungskräfte für den Prozeß der Identifikation mit dem NS-Regime waren? Was bedeutet es z.B., daß Hitler und die Partei das Heeresoffizierkorps stets als „reaktionär" eingeschätzt haben? Vieles spricht dafür, daß erst durch die soziale Öffnung infolge der Kriegsverluste und nach dem 20. Juli 1944 ein Sog politischer Gleichschaltung stattgefunden hat, der die Affinitäten zwischen Armee und Partei verstärkte 16 . Und weiter gefragt: War die Loyalität der meisten Generale eine ausschließlich oder zumindest überwiegend politisch motivierte Haltung, oder bloßer Fatalismus, wie Bernhard Kroener für die Zeit ab 1942 feststellt 17 . Blinder Gehorsam in aussichtsloser Lage - was ist daran zwingend unmoralisch, im soldatischen Verständnis der Zeit und für Menschen, die einer totalitären Diktatur ausgeliefert sind? Politik und Moral, diese großen Fragestellungen der Historiographie lassen sich in einer Zwischenbilanz so zusammenfassen: Es besteht weitgehender Konsens unter Historikern, daß die alten Eliten im „Dritten Reich" versagt haben, sich infolge einer Teilidentät der Ziele von Hitler in seinen rassenideologischen Krieg haben verstricken lassen. Der „Aufstand des Gewissens" am 20. Juli 1944 wird als Aufbegehren der Relikte nicht-nationalsozialistischer Gesinnung begriffen, bei dem zumindest ein Teil der Armeeführung mitgewirkt hat. Ein solches Verständnis fand nach dem Krieg im Kreise ehemaliger Soldaten freilich nicht immer Zustimmung 1 8 (Beitrag Steinbach). Die Funktionszusammenhänge in der Kriegführung, die Verantwortlichkeit der Wehrmachtführung und die militärische Geschichte des Krieges sind seit mehr
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Graml, Wehrmacht, S. 384. Kroener, Bevölkerungsverteilung. Ebd. Siehe Geilen, Widerstandsbild.
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als zwanzig Jahren wichtige Themen in der breiten Grundlagenforschung des M G F A . Die Zwischenergebnisse zur Besatzungspolitik etwa, zur Organisationsgeschichte, Personalpolitik und Militärökonomie ebenso wie zu den einzelnen Feldzügen haben zusammen mit vielen wichtigen Studien anderer Forscher die Konturen unseres Bildes von der Wehrmacht beträchtlich verdeutlicht. Voraussetzung dafür war ein neues Verständnis von Militärgeschichte, die sich nach der Vorstellung von Manfred Messerschmidt zur Geschichte der Gesellschaft im Kriege entwickelt hat. Während die Einbindung der militärischen Geschichte in die allgemeine Geschichte als deren integraler Bestandteil ebenfalls neuerem professionellem Selbstverständnis der Historiker entsprach und inzwischen als weitgehend gelungen angesehen werden kann, ist bis heute der Einfluß der Militärgeschichte auf die Gesamtinterpretation des „Dritten Reiches" eher gering geblieben. Hier besteht ein Erkenntnis- und Interessendefizit der allgemeinen Historiographie. Bernd Wegner ist zuzustimmen, wenn er meint: „Offenbar wird der Krieg, obgleich zentrales Ziel nationalsozialistischer Politik, von vielen Historikern immer noch als ein für die Deutung des Systems vergleichsweise wenig ergiebiger Ausnahmezustand angesehen" 1 9 . Selbst Hitlers Rolle als Feldherr wird in der westdeutschen Historiographie meist ausgeblendet 2 0 . Im Streit zwischen Strukturalisten und Intentionalisten, ja selbst im sogenannten Historikerstreit fanden der Krieg und die Rolle der Wehrmacht kaum Beachtung. Wenn es zutrifft, daß die Universitätshistorie dazu neigt, die eigentliche Kriegführung zu marginalisieren 21 , dann muß deutlicher als bisher der Erklärungswert der Wehrmachtgeschichte für die Geschichte des „Dritten Reiches" definiert werden. Keine Institution des NS-Regimes hat so viele Darstellungen gefunden wie die Wehrmacht, und dennoch gibt es bis heute keine umfassende Gesamtdarstellung. Keine Institution des „Dritten Reiches" hat so viele Angehörige dazu veranlaßt, nach Kriegsende mit ihren Erinnerungen und Deutungen auf die Geschichtsschreibung einzuwirken. Das hat auf Historiker wohl eher abschrekkend gewirkt, weil zu dem Mißverständnis führend, die Geschichte der Wehrmacht bestehe - neben der politischen Dimension - hauptsächlich aus Kriegführung, die den thematischen Angelpunkt der Literatur aus der Feder der Zeitzeugen bildet. Dabei hat selbst die Operationsgeschichte im Laufe der Jahre einen breiteren Ansatz entwickelt, der überzeugende Ergebnisse gebracht hat. Seit Ende der siebziger Jahre wird die Selbstdarstellung der Generale durch die jüngere Historikergeneration kritisch überprüft, was schon jetzt zu erheblichen Korrekturen geführt hat 2 2 . Für die zweite Kriegshälfte ist dieser Prozeß noch nicht abgeschlossen. Es zeigt sich, daß die Wehrmacht 1939 - anders als 1914 keinen „Schlieffen-Plan" hatte, sondern eine improvisierte Kriegführung betrieb, die den Ausbruch totalen Krieges möglichst hinausschieben oder verhindern sollte und erst in hybrider Selbstüberschätzung nach dem unerwartet raschen Sieg über Frankreich das Konzept des „Blitzkrieges" entwickelte, das
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Wegner, Kriegsgeschichte, S. 104. Wegner, Siege, S. 301. Förster, Herrschaftssystem, S. 29. Siehe z.B. Frieser, Blitzkrieg-Legende; Wegner, Krieg.
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sich aber nicht realisieren ließ (Beitrag Frieser). Der Mangel an strategischem Denken und klaren Kriegszielen entsprach der schrittweisen Preisgabe traditioneller Formen der Generalstabsarbeit, der Selbstauflösung der Wehrmachtführung (Beiträge Corum und Murray), die schließlich zum willfährigen Organ des „größten Feldherrn aller Zeiten" degenerierte und dessen Strategie der Selbstvernichtung bedenkenlos umsetzte (Beitrag Schwendemann). Anfang der sechziger Jahre wurde unter Militärhistorikern in Deutschland heftig über den Wert der Operationsgeschichte gestritten 23 . Damals spielte die Sorge vor einer Wiederbelebung der applikatorischen Methode und um den wissenschaftlichen Charakter militärischer Geschichte eine große Rolle. Die Entwicklung einer modernen Konzeption von Militärgeschichte, die sich im Gleichklang mit der allgemeinen Zeitgeschichte stärker der Sozial- und Strukturgeschichte zuwandte, fand weite Zustimmung und Anerkennung. Erst allmählich wurde aber auch das Problem erkennbar, daß der Krieg und die Welt des Soldaten dabei aus dem Blickfeld geraten können. Ein neuerdings wieder verstärktes Interesse an einer Beschäftigung mit taktisch-operativen Vorgängen wäre sicher dann bedenklich, wenn es die militärische Geschichte wieder isoliert betrachten würde 2 4 . Das Studium des Krieges auf der Generalstabsebene im Sinne Halders bleibt legitim, nicht zuletzt als ein unverzichtbares Element zur Beurteilung der Wehrmacht und einzelner Heerführer (Beitrag Creveld). Es geht um die militärische „Leistung" der Wehrmacht ungeachtet der verbrecherischen Zielsetzungen, die ihr Oberbefehlshaber verfolgte, die für sich genommen durchaus eine eingehendere Betrachtung verdient und - sofern man sich nicht scheut, die herrschenden Denkmuster zu verlassen - auch im Vergleich mit anderen Armeen. Gerade auf dem „professionellen" Gebiet lassen sich Deformationen der Wehrmachtelite erkennen, die bei der Verengung der Diskussion auf die Verantwortung für Massenverbrechen leicht übersehen werden. Dabei geht es um die Verantwortung der Wehrmachtführung für eine strategische und operative Kriegführung, die Millionen Menschen, Soldaten wie Zivilisten, das Leben kostete. Der noch unerforschte mögliche Zusammenhang zwischen professioneller und moralischer Deformation gehört zu den spannendsten Komplexen einer künftigen Wehrmachtgeschichtsschreibung (Beitrag Wegner).
Angelsächsische Historiker haben bis heute immer wieder eine Vorreiter-Rolle übernommen. Die Historiographie zur Wehrmacht hat sich im im Dialog zwischen deutschen und angelsächsischen Historiker entwickelt. Dabei ist der eigentlich zu erwartende Vorsprung der Deutschen immer wieder verlorengegangen. Die starke innovative Position insbesondere der britischen und amerikanischen Historiker hat mehrere Gründe. Unmittelbar nach dem Krieg verfügten sie über einen privilegierten Zugang zu den Quellen und zu den wichtigsten Zeitzeugen. Sie 25 24
Die wichtigsten Beiträge sind abgedruckt in Militärgeschichte. Entsprechende Warnungen bei Wegner, Siege, S. 302. Ebenso Maier, Überlegungen.
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besaßen zwar eine kritische Einstellung zum Militarismus, aber auch Respekt vor soldatischen Leistungen. Diesen Respekt konnten und können deutsche Historiker im Dialog mit ehemaligen Wehrmachtsoldaten nur schwer empfinden. In Deutschland steht noch heute die Schuld- und Betroffenheitsfrage im Mittelpunkt des Interesses, geht es häufig allein um politische Aufklärung und „political correctness", während in den U S A und in Großbritannien der Faktor Ideologie in der Bewertung der Wehrmacht lange Zeit vernachlässigt worden ist. In der angelsächsischen akademischen Landschaft sorgen schon die zahlreichen Lehrstühle für Militärgeschichte - in der Bundesrepublik anscheinend undenkbar - dafür, daß auch den primär militärischen Fragestellungen gebührend Raum gewidmet wird. Die Frage nach Kampfkraft, Logistik, Feindperzeption, Intelligence etc., gilt dort nicht als Spielwiese für Exoten 2 5 . Eine der wichtigsten neuen Entwicklungen, das Thema der soldatischen Erfahrungen, wird - wie der kürzlich erschienene Sammelband „Time to Kill" von Paul Addison und Angus Calder zeigt 26 - selbstverständlich komparatistisch angelegt und ohne nationale Scheuklappen behandelt. Nebenbei gesagt: Briten, Amerikaner und Israelis können über Militärgeschichte fast im Plauderton schreiben, während die deutsche Historiographie gerade bei diesem Thema oft einem angestrengt eifernden und belehrenden Ton anschlägt. Auch die neue Uberblicksdarstellung zur militärischen Geschichte der Wehrmacht von Philippe Masson besticht, abgesehen von ihren fachlichen Schwächen im Detail und der Überbewertung der „Leistungsfähigkeit" der Wehrmacht, ein Ergebnis wohl der mangelnden Kenntnisnahme neuerer deutscher Forschungen und fehlender Sprachkenntnisse, durch ihren feuilletonistischen Stil 27 . Selbst auf den Gebieten, die in Deutschland mit besonderem Interesse erforscht werden, der Frage nach Kriegsverbrechen der Wehrmacht und der politischen Indoktrination, sind in den letzten Jahren mit den Arbeiten von Theo Schulte, Christopher Browning und Omer Bartov wichtige neue Anstösse von außen gekommen. Bis in die siebziger Jahre hinein hatten angelsächsische Historiker dazu tendiert, den Faktor Ideologie bei der Geschichte der Wehrmacht zu unterschätzen, jetzt kehrte sich der Trend um (Beitrag Murray). Auch wenn damit eine weitgehende Annäherung stattgefunden hat, bleiben im internationalen Dialog Defizite. Im Hinblick auf die Wehrmacht neigt die deutsche Historiographie jedenfalls zu einem auffälligen Autismus. Angelsächsische Historiker haben sich häufiger mit der Wehrmacht befaßt, als deutsche Historiker mit der britischen oder amerikanischen Armee. Die Einrichtung der „Historical Division" hat dafür 1947 - parallel zu Nürnberg - eine wichtige Grundlage gelegt. Mehr als 300 Vertreter der Wehrmachtelite sollten damals ihre Sicht des Kriegsverlaufs, ihre Kampferfahrungen zu Papier bringen. So entstand im Geheimen ein umfangreiches Gesamtwerk von mehr als 2000 Studien als Grundlage für die Operationsgeschichte der US-Armee. Die pragmatische Fragestellung hatte durchaus positive Folgen für die 25 26 27
Wegner, Kriegsgeschichte, S. 106. Siehe Addison/Calder (Hrsg.), Time. Masson, Armee.
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Auftraggeber. So vollzog sich die Aufarbeitung der deutschen Militärgeschichte „kontrolliert" und geriet nicht in nationalistisches Fahrwasser wie nach 1918. Es könnte so scheinen, daß damit die Historiographie über den Zweiten Weltkrieg zur „Geschichtsschreibung der Besiegten" wurde, wie Bernd Wegner meint 28 . Die Arbeit der „Historical Division" hatte auch ihre Schattenseiten. Die scheinbar unpolitische, sachbezogene Arbeit förderte den Mythos von der fachlich hervorragenden, unpolitischen Wehrmacht. Es war keine wissenschaftliche Historiographie. Die Studien standen eher in der Tradition der früheren Kriegsgeschichtsschreibung des deutschen Generalstabs. In der existentiellen Ausnahmesituation sahen die Autoren eine Chance, sich zu rehabilitieren. Franz Halder als ehemaliger Generalstabschef und prominenter Uberlebender des militärischen Widerstandes konnte als idealer Doyen dieser „Kriegsgeschichte" wirken, vermochte zu vermitteln zwischen Schuldurteil und Fachurteil. Seine Absicht war klar erkennbar: Die Heeresführung als Opfer Hitlers, als mißbrauchtes Instrument für eine verbrecherische Politik darzustellen. Damit wurde die Schuldfrage zwar eingegrenzt, aber nicht völlig geleugnet wie nach 1918. In der Absicht, den Generalstab vor Angriffen zu schützen, mußte daher dessen politische Entmachtung hervorgehoben werden. Die Wehrmachtführung und ihre militärischen Leistungen wurden gleichzeitig losgetrennt von der politischen Sphäre. Damit leistete man dem Mythos von der angeblich „sauberen" Wehrmacht und der Trennung von den Verbrechen der SS Vorschub. Weitere Absicht Halders war es, möglichst keine interne Kritik aufkommen oder gar nach außen dringen zu lassen. Kurz: Durch Geschlossenheit des ehemaligen Generalstabs, des Generalstabs der alten Schule, wie er sie verstand, sollte nicht zuletzt auch den Truppen ein Denkmal gesetzt, der Wehrgedanke in Deutschland wieder gestärkt und eine Grundlage für die Führungsausbildung späterer Streitkräfte geschaffen werden. Die militärische Operationsgeschichte der ehemaligen Wehrmacht wurde durch die „Historical Division" tatsächlich erfolgreich geprägt. Den größten Einfluß hatten die Memoiren ehemaliger Heerführer wie Manstein und Guderian. Das betraf insbesondere den Ostkrieg, wo mit Blick auf die Auftraggeber der „Historical Division", die sich in einer zunehmenden Konfrontation mit dem Sowjetblock befanden, keine Hemmungen die Selbstdarstellung der Hitler-Generale bremsten. Mit diesen Schriften und als Gesprächspartner konnten sie auf zahlreiche Historiker Einfluß gewinnen - so auf Liddell Hart - und damit den Vorwürfen z.B. von Wheeler Bennett begegnen (Beitrag Strachan). Auch in Deutschland gab es lange Zeit eine große Verehrung z.B. für Halder, der politisch rehabilitiert schien und sich als Vertreter des „alten" Generalstabes als untadeliger und erfolgreicher Fachmann präsentieren konnte. Bei diesem bis heute populären Ansatz, der das Kriegsgeschehen weitgehend von der Realität der NS-Herrschaft abtrennt 29 , erscheint Hitler in der Regel als dämonischer Diktator, der „seinen" Krieg und den Einsatz der Wehrmacht dilettantisch lenkte und für die Niederlage verantwortlich war. Meinungsver28 29
Wegner, Kriegsgeschichte. Ebd., S. 102.
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schiedenheiten zwischen Hitler und seinen Generalen werden dabei nicht selten überhöht und zum Ausdruck von Eigenständigkeit und Widerspruch der Militärelite stilisiert. Halder selbst war dennoch einer der wenigen aus seiner Gruppe, der sich des begrenzten Wertes dieser Kriegsgeschichte bewußt gewesen ist, beurteilte jedoch zugleich die Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft, sich dem Phänomen des Generaslstabs in der NS-Zeit angemessen zu nähern, ebenfalls sehr skeptisch. Er beklagte rasche und oberflächliche Effekthascherei im Stil des Journalismus und bemerkte, daß sich Studenten und junge Historiker mit ihren Untersuchungen doch nur auf den Richterstuhl setzen wollten 30 . Er hoffte insgeheim auf eine künftige Generation von Historikern, die nicht „in erster Linie eine juristische Angelegenheit der Schuldfindung" betrieb, sondern mit mehr Verständnis für die Wehrmacht verstand, die Geschichte der Armee und der Kriegführung einzuordnen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Ideologie und Gesellschaft. Halder unterstützte daher z.B. die ersten Arbeiten von HansAdolf Jacobsen. Für eine solche Einordnung und Grundlagenforschung schuf die Rückführung der deutschen Akten seit Anfang der sechziger Jahre allmählich eine zuverlässige Basis. Dennoch lohnt sich für deutsche Historiker auch heute noch der Blick über die Grenzen. Reflektionen von John Keegan etwa zu einer Theorie der Kampfmotivation lassen sich derzeit kaum auf die Wehrmacht übertragen, weil es dafür keine Grundlagen gibt 31 . Das Bild des Wehrmachtsoldaten als politisch-motivierten Kämpfer im Rassenkrieg ist in der neueren Literatur übermächtig geworden. Auch andere Antriebskräfte, wie etwa den inneren Zusammenhalt durch „Kameradschaft", in die Analyse einzubeziehen, wird bisher nur in Einzelfällen versucht, führt aber zu einem differenzierteren Ergebnis (Beiträge Latzel und Kühne). Für eine weitergeherendere Schlachtanalyse z.B., wie sie Keegan für die ältere Militärgeschichte eindrucksvoll unternommen hat, fehlt es im Hinblick auf die Wehrmacht keineswegs an Einzelergebnissen. Solche meist wenig beachteten Spezialstudien, etwa zur Medizin- und Technikgeschichte, könnten Bausteine liefern für ein besseres Verständnis der eigentlichen militärischen Ereignisse, Verlauf und Ergebnis von Kämpfen manchmal zuverlässiger erklären, als die Optik der militärisch Verantwortlichen, die mit ihren hinterlassenen Akten und Memoiren bis heute weitgehend unser Bild von den Kampfhandlungen bestimmen. Eine solche beispielhafte Synthese hat Gerhard L. Weinberg mit seiner Geschichte des Zweiten Weltkrieges gewagt. Ihm ist es dabei gelungen, eine Fülle von Aspekten zusammenzuführen, sowohl technologische Entwicklungen zu betrachten und zugleich den Faktor Mensch nicht aus den Augen zu verlieren, und z . B . eine vergleichende Betrachtung der Fähigkeiten militärischer Befehls-
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Ueberschär, Generaloberst, S. 96. Keegan, Theory; Ausnahmen gibt es hinsichtlich ideologischer Motivationen, allerdings meist bezogen auf die Wehrmachtführung und ihre Anweisungen, siehe z . B . Förster, Motivation.
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haber anzustellen 32 . Dazu bedarf es der Uberwindung nationaler Befangenheit und alllzu enger wissenschaftlicher Fachgrenzen. Den Mut, eine globale Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu schreiben, hat - nebenbei gesagt - auch kein deutscher Historiker gewagt. In der nationalen Verengung der Historiographie in Deutschland sind Vergleiche mit anderen Armeen die Ausnahme, ebenso der Blick auf die Verbündeten sowie die ausländischen Freiwilligen und Zwangsrekrutierten der Wehrmacht. Dabei könnten auf diese Weise Fragestellungen und Erklärungsmuster gefunden werden, die den üblichen politisch-ideologischen Erklärungsrahmen erweitern.
Die politische Instrumentalisierung der Wehrmachtgeschichte behindert bis heute die wissenschaftliche Erforschung. Die Historiographie zur Wehrmacht ist schon von ihren Anfängen her in Deutschland hochgradig politisiert gewesen. Es geriet weitgehend in Vergessenheit, wie hitzig bereits unmittelbar nach Kriegsende über Schuld und Verbrechen der Wehrmacht in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist. Viele der Einsichten und Ereignisse, die heute die Geschichtsbücher füllen, sind schon damals bekannt geworden. Der Streit um die politisch-moralischen Schlußfolgerungen ging quer durch die Gruppe der intellektuellen Meinungsmacher und auch durch die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht (Beitrag Echternkamp). Der massive Druck in Teilen der Öffentlichkeit und Publizistik, trotz des Schattens von Nürnberg die Wehrmacht zu rehabilitieren, prallte dann besonders in der Aufrüstungsdebatte der fünfziger Jahre auf die historisch argumentierende Aufklärungskampagne der politischen Linken und ihres „programmatischen Antimilitarismus". Die Geschichte der Wehrmacht, so wie sie damals mehr aufgrund von persönlicher Erfahrung, denn auf der Basis soliden Wissens entweder verbrämt oder verteufelt wurde, verfiel der politischen Instrumentalisierung beider Seiten, angestachelt durch die Diffamierungskampagne der D D R , die eine ungebrochene Kontinuität von den Hitler-Generalen zu Bundeswehr und N A T O behauptete. Parallel dazu verstärkte sich aber die Tabuisierung der Kriegserfahrungen in breiten Teilen der Bevölkerung sowohl in Ost- wie in Westdeutschland. Die Desillusionierung und die Schuldgefühle der Masse ehemaliger Soldaten sind in beiden deutschen Gesellschaften instrumentalisiert worden, um durch die Aufforderung zur Beteiligung am „Wiederaufbau" hier bzw. am „Friedenskampf" dort das Kriegserlebnis zu verdrängen. Die Schuldfrage wurde auf die „großen" Kriegsverbrecher fokussiert (Beitrag Hass). Das Schweigen der Mehrheit sorgte freilich auch dafür, daß der Minderheit unbelehrbarer Traditionalisten in der Bundesrepublik ein ungebührend hohes Maß an Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zuteil wurde (Beitrag Danyel). Das dichotome Wehrmachtbild ist von der Forschung längst einer kritischen
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Weinberg, Welt.
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Revision unterzogen worden, aber die immer wieder aufkommenden Diskussionen um die Gefahren des Rechtsradikalismus erneuern stets den Bedarf an scharf konturierten Urteilen. O b ein plakativer Umgang mit der Geschichte die Ziele politischer Aufklärung zu erreichen vermag, sei dahingestellt, er fällt aber schnell hinter den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis zurück. Der Militarismusverdacht wurde und wird bis in die Gegenwart stets rasch geäußert, vermeinen manche, einen „Hauch von Weimar" zu spüren, obwohl in den Streitkräften beider deutscher Staaten das „Erbe" der Wehrmacht zügig überwunden wurde (Beiträge Wenzke, de Maiziere und Jacobsen). Pazifistische Grundpositionen von selbsternannten „Erinnerungsarbeitern" bedienen sich aber noch immer vorzugsweise des Beispiels Wehrmacht 3 3 , um ihren aktuellen Standpunkt zu erklären. Wenn bis heute manche Deutsche meinen, die Lehre aus der Wehrmachtgeschichte laute „Abrüstung" und „Nie wieder Krieg", dann werden damit die Erfahrungen der Anti-Hitler-Koalition schlicht ignoriert. Auch die umstrittene Hamburger Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht zog seit 1995 die Linie von der Wehrmacht zur Bundeswehr, ebenso wie in der zeitgleichen Debatte um die Rehabitierung und Entschädigung ehemaliger Deserteure der Wehrmacht eher die Klischees von einer angeblich „sauberen" oder „schmutzigen" Wehrmacht gefördert wurden, verstärkt noch durch den gerichtlichen Streit um das aufwühlende Wort Kurt Tucholskis „Soldaten sind Mörder". In einer derartig aufgeladenen politischen Debatte, wie sie in den vergangenen Jahren in Deutschland immer wieder geführt worden ist, werden Historiker natürlich gern als Zeugen und Gutachter aufgerufen, ein Umstand, der nicht jedem behagt, der um seine wissenschaftliche Unabhängigkeit und Distanz fürchtet, eine breite und intensive Hinwendung der akademischen Forschung anscheinend eher behindert. Wenn auch die Beschäftigung mit Kriegsverbrechen der Wehrmacht manche neuen Ergebnisse und Einsichten gefördert hat, so bleiben doch viele Lücken. Die Aufarbeitung von solchen Ausschnitten des Krieges, bei der eine fundierte Einordnung und Bewertung leider nicht selbstverständlich ist, führt, wie sich gezeigt hat, eher zu einer Aufheizung der politischen Diskussion statt zu einer Verbreiterung der wissenschaftlichen Forschung. So ist ζ. B. die Frage berechtigt und notwendig, warum ein gewöhnlicher Soldat auf Befehl Frauen und Kinder erschießt, warum Offiziere solche Befehle weitergeben und nicht widersprechen. Manche Historiker wissen um die Komplexität der konkreten Situation, klammern Indizien für das Unbehagen der Männer selbst in den Polizeibataillonen nicht aus. Andere können den Mangel an Widerspruch und Verweigerung nur als vermeintliches Einverständnis und als Motiv die ideologische Zustimmung erkennen - in Ermangelung weiterreichender Studien jedenfalls ein scheinbar naheliegender Schluß. Vernichtungskrieg ist zum Schlüsselbegriff geworden. Bei der problematischen Verquickung der militärischen Dimension des Krieges mit der ideologischen
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Siehe z . B . Knab, Glorie.
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Zielsetzung Hitlers erscheint der Versuch einer Differenzierung manchmal kaum noch erwägenswert. Dieser offensichtlich politisch und kulturkritisch motivierte Ansatz lehnt sich teilweise an die Holocaust-Forschung an, gerät aber auch in Konkurrenz dazu. Das Erklärungsmodell des Vernichtungskrieges wird fragwürdig, wenn es Widersprüchen ausweicht (ζ. B. bei der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen oder in Fragen der Besatzungspolitik), und kann sich leicht von einem favorisierten Modell zum Dogma entwickeln, wo empirische Forschung nur noch Belege sucht für eine umfassende Gesellschaftstheorie, die sich konform mit der Betroffenheitspflege und Opferperspektive sieht, wie sie der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen mit einer beispiellosen Resonnanz 1996/97 propagierte 34 . Wenn nur noch differenziert wird zwischen der kleinen Minderheit, die aktiven Widerstand geleistet hat, und der Mehrheit von „willigen Vollstreckern", wenn als Erklärung für Passivität, Schweigen und Hilflosigkeit nur noch politischideologische Zustimmung gelten soll, gar auf einen angeblich seit Jahrhunderten in Deutschland angelegten „exterminatorischen" Antisemitismus zurückgeführt wird, ist schnell eine Verarmung der Argumentation und der Analytik erreicht. Die Grenzen wissenschaftlicher Redlichkeit können jedenfalls dort überschritten werden, wo die Begrenztheit des empirischen Befunds durch Spekulationen und fragwürdige Hypothesen gesprengt wird. Die Frage nach Mentalität und Motivation der Soldaten sollte auch nicht losgelöst betrachtet werden von den Umständen und Folgen der Gewalttaten. Am Beispiel Weißrußlands, der wohl blutigsten Region im deutschen Machtbereich, läßt sich zeigen, daß die Wehrmacht im Zusammenspiel mit Polizei, Zivilverwaltung und anderen Einrichtungen zerstörerische Kräfte in Gang setzte, die bald nicht mehr zu kontrollieren waren. In teilweise herrschaftsfreien Randzonen entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in den die Soldaten nur partiell verstrickt wurden - aus ihrer Sicht „eine undurchschaubare, Angst einflößende und unbegreifliche Wildnis", der man besser fern blieb. Mit ideologischer Verblendung und Vernichtungskrieg hatte das wenig zu tun (Beitrag Chiari). Es ist leicht, in den offiziellen Akten und Befehlen nach ideologischen Begründungen für einzelne Kriegshandlungen und Verbrechen zu suchen, in Milliarden von Feldpostbriefen bzw. jener winzigen Zufallsauswahl, die erhalten geblieben ist, entsprechende Äußerungen von Soldaten aufzuspüren. Die wahren Motive von „Tätern und Gaffern", von verantwortlichen Offizieren und mehr oder weniger unbeteiligten Soldaten liegen damit nicht immer zutage. Die wenigen mentalitätsgeschichtlichen Einzelstudien ergeben kein eindeutiges Bild, das auch nur für eine Mehrheit der Soldaten Gültigkeit haben könnte. Wieviele Soldaten haben mit diesem Krieg tatsächlich primär politische und idealistische Motive verbunden? In welchem Verhältnis standen traditionelle, zeitlose Werte des Soldatseins wie Patriotismus, Kameradschaft und Korpsgeist, auch banale wie Abenteuerlust, Kampfgeist und Gehorsam, zu nationalsozialistischen „Idealen" und Zielen wie dem mörderischen Rassismus und bedingungsloser „Führertreue"? Waren die Männer, die in den Polizeibataillonen und einzelnen
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Goldhagen, Vollstrecker.
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Wehrmachteinheiten auf Befehl an Massenerschießungen von Juden teilnahmen, Antisemiten oder einfach amoralisch 3 5 ? Nicht jede leichtfertige Bemerkung ζ. B. über die Begegnung mit russischen Menschen, geschrieben in einem Feldpostbrief im Uberschwang des Vormarsches im Sommer 1941, die sich aus heutiger Sicht als Identifikation mit Nationalsozialismus und Lebensraumkrieg entlarven läßt, verrät einen hemmungslosen Rassenkrieger. Soldaten haben im Verlauf des Krieges ihre Einstellung ändern können, zeitweilige Affinitäten zum Nationalsozialismus und partielle Identifikation mit dem Regime konnten sich wandeln, machten den Einzelnen jedenfalls nicht zu einem bedingungslosen Schergen Hitlers. Selbst jene, die oftmals dafür gehalten werden, wie der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Karl Dönitz, haben immerhin auf Distanz zur Partei gehalten, waren keine NS-Ideologen. Trotz antisemitischer Äußerungen identifizierte er sich nicht völlig mit dem NS-Rassegedanken, und trotz uneingeschränkter „Treue" zum „Führer" war er am Ende zur Kapitulation bereit (Beitrag Neitzel). In jedem Falle dürfen Stufen der Verantwortung nicht einfach eingeebnet werden. Zwischen Aktion und Reaktion, Alleinverantwortung und Mitverantwortung, Befehlsgewalt und mit drakonischen Mitteln erzwungenem Gehorsam, zwischen Tätern, Mitläufern und Unbeteiligten zu unterscheiden, ist beileibe keine müßige Anstrengung. Wenn etwa im Fall des größten Massakers an der Ostfront, die Ermordung von mehr als 33 000 Juden in Babyi Yar, der Wehrmacht Duldung und Mitverantwortung vorzuwerfen ist, setzt das immer noch die Initiative von Hitler und der SS voraus. Notwendig ist auch die genaue Prüfung der Art von Mitwirkung, ob die Beteiligung von Wehrmachteinheiten über „Absperrung" etc. hinausgegangen ist 36 . Schließlich sollte auch nicht der Blick dafür verstellt sein, daß der Anlaß von der Roten Armee geliefert worden ist, die mit ihrem verheerenden Anschlag in Kiev offenbar erreichen wollte, daß sich die Deutschen gerade hier durch eine harte Vergeltung gegen die kooperationswillige ukrainische Bevölkerung wandten und damit ihren möglichen politischen Kredit verspielten. Daß man deshalb auf deutscher Seite - wie parallel an vielen anderen Stellen - den jüdischen Bevölkerungsteil auswählte, um den eigenen Vergeltungsdrang zu befriedigen, damit auf den ukrainischen Antisemitismus setzte und jene Opfer auswählte, die ohnehin zur Vernichtung bestimmt waren, entschuldigt nichts an diesem furchbaren Verbrechen, erklärt aber die historischen Vorgänge besser als jede plakative und pauschale Anklage. U m ein anderes Beispiel zu nehmen. Natürlich dokumentiert der berüchtigte Befehl des Oberbefehlshabers der 6. Armee Walter von Reichenau, in dem er die Mordtaten der SS — auch in Babyi Yar - rechtfertigte und „Verständnis" von seinen Soldaten forderte, vordergründig gesehen die Zustimmung zu Hitlers rassenideologischem Vernichtungskonzept. Welchen Sinn hätte aber ein solcher Befehl machen sollen, würden die Einheiten der 6. Armee mehrheitlich aus fanatischen Rassenkriegern bestanden haben? Der Reichenau-Befehl rea35
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So Doris Fürstenberg, Mein Onkel. Versuch über einen „ganz normalen Täter", in: Die Z E I T N r . 4 vom 15. 1. 1998, S. 11-13. D a z u jetzt Süß, Massaker.
D i e W e h r m a c h t - H i s t o r i s c h e Last u n d V e r a n t w o r t u n g
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gierte offensichtlich auf Ablehnung oder Distanz von Kritikern in der Wehrmacht gegenüber ihrer Mitverantwortung im Vernichtungskrieg. Der Befehl sollte die Truppen auf eine einheitliche Vernichtungslinie bringen, und, indem er die Vorstellungen Hitlers vorbehaltslos übernahm, hoffte Reichenau allem Anschein nach, dessen verlorene Gunst zurückerlangen zu können 37 . Schließlich stützte sich Reichenau auch nicht allein auf die ideologischen Argumente, sondern verwandte, um die Kritik zum Schweigen zu bringen, das viel überzeugendere, weil militärisch begründete und legitimierte Vergeltungs- und Sühnemotiv. Komplexe Zusammenhänge lassen sich nicht ohne Verformung auf eindimensionale Erklärungsmuster reduzieren. In der Auseinandersetzung mit der älteren Rechtfertigungsliteratur und den scharfen Angriffen einiger lautstarker Veteranen sowie rechtsradikaler Gruppierungen, die die Verstrickung der Wehrmacht in Verbrechen pauschal leugnen oder abschwächen, ist auch der Historiker manchmal nicht davor gefeit, über das Ziel hinauszuschießen, vom wissenschaftlichen Diskurs in die politische Argumentation zu gleiten, Argumente und Bewertungen schärfer zu konturieren, als es Quellen und wissenschaftlich redliche Erkenntnis eigentlich hergeben. Dann ist voreilig die Rede davon, daß angeblich bis heute eine „Decke des Schweigens" über den deutschen Kriegsverbrechen liege, dann wird z.B. der italienische Kriegsschauplatz einfach mit dem russischen gleichgesetzt 38 . So kann es dazu kommen, daß in einem UNO-Report 1996 behauptet wurde, deutsche Soldaten hätten im Ersten und Zweiten Weltkrieg massenhaft und systematisch Frauen vergewaltigt, ähnlich wie es in den vergangenen Jahren bei den „ethnischen Säuberungen" in Bosnien geschehen ist3 . Damit erhält das Dogma des Vernichtungskrieges auch gleich noch seine geschlechterspezifische Dimension. Der 40. deutsche Historikertag in Leipzig hat im September 1994 eine wichtige, dennoch wenig beachtete Resolution verabschiedet. Sie war getragen von der Sorge um den Mißbrauch zeithistorischer Informationen für den politischen Tageskampf und warnte vor schrillen Tönen. Es würden mit einer Leichtigkeit Grundsätze der Quellenkritik und der historischen Wahrheitsfindung über Bord geworfen, die geeignet sei, die politische Kultur unseres Landes zu beschädigen und das Ansehen der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit zu beeinträchtigen. Was gemünzt war auf die Auseinandersetzungen um die DDR-Vergangenheit, gilt zweifellos auch für die Beschäftigung mit der anderen deutschen Diktatur. Auch hier ist darauf hinzuweisen, daß der Beitrag der Geschichtswissenschaft nicht primär in „Anklage und Verteidigung, in Entrüstung oder Nostalgie, auch nicht in eilfertiger Enthüllungshistorie oder in Betroffenheitspflege" bestehen
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Siehe Simms, Reichenau, S. 439. So bei Andreae, Frauen. United Nations/Economic and Social Council, E/CN.4/Sub. 2/1996/26, 16 July 1996: Contemporary forms of slavery. Preliminary report of the Special Rapporteur on the situation of systematic rape, sexual slavery and slavery-like practices during period of armed conflicts, Ms. Linda Chavez. Mitteilungsblatt des Verbandes der Historiker Deutschlands (1995), S. 30 f.
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Das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach einfachen Antworten auf einfache moralische Fragen kann eine zunehmend spezialisierte Forschung nicht immer erfüllen 41 . Jede Aussage, die über individuelle, konkret belegbare Schuldvorwürfe hinausgeht - sei es nun durch Pauschulurteile oder eine Schuldverteilung nach dem Zentimetermaß - muß berücksichtigen, daß sich die Geschichtswissenschaft meist nur einer Typenlehre bedienen kann, die ihrerseits mit Zugaben und Abstrichen konstruiert ist. Unser Urteil wird allzu leicht vom totalitären Anspruch des Nationalsozialismus beeinflußt, was dazu führen kann, daß wir Unebenheiten der „Volksgemeinschaft", nicht-nazifizierte Strukturreste übersehen oder zu gering bewerten, resistente, wenn auch vielleicht schweigsame Strukturen, Mehrheiten und Individuen, die von den Nationalsozialisten selbst bekämpft worden sind und nach 1945 zum Fundament für einen demokratischen Neubeginn, auch in den Streitkräften geworden sind.
Die Welt des Soldaten, Krieg und Schlachtfeld sind dem Historiker fremdgeblieben. Neben der Deutschlandzentrik und der Gefahr des Provinzialismus, der Vernachlässigung komparatistischer Perspektiven und der Schwierigkeit, zuverlässige Beurteilungsmaßstäbe zu entwickeln, fällt bei der Betrachtung der Historiographie zur Wehrmacht die Distanz zum eigentlichen Kriegsgeschehen, zum soldatischen Einsatz auf. Es scheint sich hier zunächst um ein grundsätzliches Problem zu handeln. Die Realität des Krieges läßt sich vom Schreibtisch des Historikers sicher besonders schwer erfassen. „Dieser mangelnde Realitätsbezug findet sich häufig bei Wissenschaftlern, die sich zwar mit militärischen Angelegenheit beschäftigen, aber die Universität nie verlassen", meint John Keegan beobachtet zu haben 42 . Das Militär besitze eine eigene Kultur, die der zivilen Bürgergesellschaft fremdbleiben muß. Phänome, wie die Anziehungskraft des Soldatenlebens auf den Mann, ließen sich von außen nur schwer beurteilen. Militär und Krieg sind für die westlich geprägte demokratische Gesellschaft zweifellos eine erschreckende Gegenwelt. Läßt sich ein größerer Kontrast denken, als zwischen der Tätigkeit des Historikers im Freiraum akademischer Forschung und dem Einsatz des Offiziers im Krieg? Hinzu kommt die Verzerrung des Krieges in unserer Mediengesellschaft, die den Einsatz des Soldaten reduziert auf spektakuläre Aktionen, den Krieg auf Massensterben und Leid. Das sind Probleme der Militärgeschichte weltweit. In Deutschland ist der wissenschaftliche Zugang zu ihr durch zwei verlorene Kriege und die Schuldfrage sowohl hinsichtlich der Verursachung als auch, bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, hinsichtlich der Verletztung von Völker- und Menschenrechten zweifellos besonders belastet. Zwischen Veteranen als Zeitzeugen und Historikern ist auch heute noch selten ein fruchtbarer Dialog möglich. Die Frage nach Schuld, ob ausgesprochen oder nicht, ist das vermutlich wichtigste Hindernis. Die mei41 42
So Christopher Browning in einem Interview der F A Z vom 6. 2. 1997. Keegan, Kultur, S. 328.
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sten ehemaligen Soldaten konnten ihr Kriegserlebnis in der politischen Kultur der Bundesrepublik nicht unterbringen. Sie kamen - manche nach langer Gefangenschaft - in ein Land, das mit Scham und Wut auf ihre Vergangenheit reagierte. Man hatte mehr gelitten als andere, aber das Leid wurde nicht anerkannt. Die meisten sprachen nicht über ihre Erlebnisse und Empfindungen. Damit ging ein ungeheurer Informationsfundus verloren. Über die Geschichte der Wehrmacht zu berichten, blieb jener Hundertschaft von Schreiberlingen aller Dienstgrade überlassen, die sich in ihrem Rechtfertigungs- und Selbstdarstellungsdrang oft zu fragwürdigen Zeugnissen und Bekenntnissen hat hinreißen lassen. Diese Flut von Memoiren, Berichten, Landserheften und Regimentsgeschichten besitzt für Historiker einen geringen Quellenwert. Sie ist dennoch zweifellos nicht völlig wertlos. Aber die große Mehrheit der ehemaligen Soldaten ist stumm geblieben. Selbst von 32 00 Generalen und Admiralen im „Dritten Reich" haben weniger als ein Prozent ihre Erinnerungen geschrieben - hatten die anderen nichts zu berichten? War ihr Kriegserlebnis unspektakulär? Was heißt das für die Bewertung der Wehrmacht?
Die Wehrmachtforschung steht vor einem Umbruch: Historisierung und methodische Erweiterung der Forschung. Von den Historikern sind in den letzten Jahren äußerst interessante und wissenschaftlich fruchtbare Ansätze zur Alltagsgeschichte des Soldaten entwickelt worden. Unter dem Stichwort „Krieg des kleinen Mannes" ist die Aufmerksamkeit von den Führungseliten auf das Kriegserlebnis des einfachen Soldaten gelenkt worden. Die wenigen Versuche einer solchen Betrachtung leiden nicht zuletzt häufig unter einer eher zufälligen, verengten und methodisch problematischen Quellenbasis 43 . Die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte des Krieges, die auch in Deutschland erst ihren Platz in der akademischen Landschaft erkämpfen mußte, reicht derzeit selten über den Ersten Weltkrieg hinaus. Entsprechende Studien befassen sich vorzugsweise mit einzelnen vom Krieg betroffenen Bevölkerungsgruppen und zivilen Institutionen, schließen das Militär allzu häufig aus 44 . Aber selbst manche Untersuchungen zur „Militärgeschichte von unten" zeigen Berührungsprobleme gegenüber dem Militärischen und greifen letztlich nur Teilaspekte auf, vorzugsweise jene, bei denen sich einfache Soldaten als Opfer einer unmenschlichen Militärmaschinerie darstellen lassen. Die lokalgeschichtliche Perspektive des Zweiten Weltkrieges, die in den achtziger Jahren in Deutschland großen Zuspruch gefunden hat, wurde zunächst hauptsächlich von sogenannten Geschichtswerkstätten und Laien in Angriff genommen. Sie erfüllt jetzt zunehmend auch einen historisch-kritischen Anspruch, nähert sich dem Erfahrungsbereich des Soldaten aber nur zögerlich, z.B. bei der Darstellung der Auswirkungen des Luftkrieges, des Kriegsendes, einzelner KZ- und Kriegsgefangenen-Lager. Es handelt sich bestenfalls um aka43 44
Ein Gegenbeispiel stellt die umfassende Arbeit von Kühlich, Soldaten, dar. Hirschfeld u.a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Gegenbeispiel: Quellensammlung und Lesebuch von Ulrich/Ziemann (Hrsg.), Frontalltag.
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demische Einzelstudien, die wichtige Beiträge leisten können zum Wehrmachtbild, aber zumeist nur Ausschnitte darstellen. Erst weiterreichende Ansätze, die über einzelne Fallbeispiele hinausgehen, erlauben z . B . generelle Aussagen über die Zusammenarbeit von Wehrmacht und Gestapo bei der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland (Beitrag). Selbst in der Erforschung der sozialhistorischen Komponente der Militärgeschichte, die in den letzten drei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat, sind immer noch große Lücken zu erkennen: Die inneren Strukturen der Armee, Normenwandel, Wechselbeziehungen zur Bevölkerung und zum technologischen Wandel, Rekrutierung, sozialer Aufstieg, Demobilmachung und Reintegration, Invalidenversorgung, den „Kriegseinsatz" von Literatur und Kunst 4 5 . Hier müssen verdienstvolle Einzelstudien stärker beachtet und ausgeweitet werden (Beiträge in Teil IV und V). Der Wandel vom Führerheer der Reichswehr zur militärischen Massengesellschaft mit seinen Folgen für den inneren Zusammenhalt und die eigenständige Prägung der Armee 4 6 verdient dabei ebenso Beachtung wie der veränderte Stellenwert der Wehrmacht innerhalb der deutschen Gesellschaft. Konnte der Offizierberuf sein Renommee als „Erster Stand" im Staate wahren? Wie veränderte sich die Gesellschaft im Zuge der Masseneinberufungen? Wurde die „Volksgemeinschaft" zur vaterlosen Gesellschaft, die Front zum Familienersatz, w o sich die alten „Frontschweine" mit den Kindersoldaten in der Kampfgemeinschaft zusammenfanden? Wie war das Verhalten der Wehrmachtsoldaten gegenüber den ausländischen Mitstreitern und Helfern? Waren die vielen uniformierten Ausländer „Kameraden"? Ubertrug sich die Einschätzung von Verbündeten und Freiwilligen auch auf das Verhalten gegenüber der Bevölkerung in den jeweiligen Heimatländern? Welche Rolle spielten dabei Ideologie und Propaganda? Systematische Untersuchungen dazu fehlen fast völlig 47 . Uber Motivation und Mentalitäten innerhalb der Wehrmacht wissen wir abseits von Einzelbefunden, die sich zudem meist nur auf die Ostfront beziehen, relativ wenig. Das gilt besonders für jene Ausnahmesituationen des Tötens, auf dem Schlachtfeld ebenso wie gegenüber den Opfern unter der Zivilbevölkerung. Soldaten, so heißt es allgemein, waren oft Täter und Opfer zugleich. Wie lassen sich Wirkungen der Unterdrückung und Disziplinierung in einer Armee des blinden Gehorsams abgrenzen gegenüber den Wirkungen von Ideologisierung und Propaganda? Wie wurden die Spannungen zwischen Alltagsnormalität im Krieg, Verbrechen und Vernichtung ausgehalten - Fragen, die sich mit den herkömmlichen Quellen des Historikers kaum beantworten lassen. Es wird heute zumeist übersehen, daß amerikanische Militärsoziologen in den vierziger Jahre durch intensive Studien Verhalten und Motivation von Wehrmachtsoldaten zu bestimmen versucht haben 4 8 . Sie waren zu dem Ergebnis gekommen, daß
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Bernard R . Kroener, Wer den Frieden will, erkenne den Krieg. Wege, Irrwege und Ziel der Militärgeschichte in Deutschland, in: Die Welt vom 24. 5. 1997, S. G 1. Förster, Führerheer. Ausnahmen hinsichtlich der Verbündeten z . B . Schreiber, Militärinternierte und Förster, Stalingrad. Janowitz/Shils, Cohesion.
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die traditionellen Mechanismen und Verhaltensmuster eine größere Rolle gespielt haben als politische Einflüsse. Martin van Creveld zieht daraus heute die Schlußfolgerung, daß die Soldaten nicht wegen der Indoktrination der Nazis, sondern wegen besonderer Eigenschaften der Armee gekämpft und bis zum Ende durchgehalten haben (Beitrag Creveld, Einleitung). Der Widerspruch zwischen der Ideologiethese und den Erkenntnissen der Militärsoziologen bedarf dringend der Klärung! Oral History, wie sie vor vierzig Jahren auch von den amerikanischen Soziologen bereits benutzt worden ist, könnte ganz allgemein neue Weg öffnen. Wie Reinhard Rürup einräumt, war bis Ende der siebziger Jahre überwiegend Zeitgeschichte nach Aktenlage betrieben worden. Margret Boveri, die bekannte Journalistin, wies in der Einleitung zu ihren Erinnerungen an die Kriegsjahre in Berlin darauf hin, daß man in der Bundesrepublik allzu lange Zeitzeugen per se als unglaubwürdig eingeschätzt hatte und allein den Akten vertraute 49 . Erst allmählich begannen „GeschichtsWerkstätten" mit der Blickrichtung auf lokale und regionale Vorgänge nach anderen Spuren zu suchen. Auch Großvaters lästige Kriegserlebnisse konnten sich so in begehrte Zeitzeugen-Dokumente verwandeln, geschätzt vor allem dann, wenn es sich um Zeugnisse des Widerstands und der Verfolgung handelte oder um Erlebnisse, die sich für die politische „Versöhnungsarbeit" einsetzen ließen 50 . Aber der gestörte Dialog der letzten fünfzig Jahre mit der Kriegsgeneration läßt sich kaum noch nachholen. Eine umfassende Sammlung von Interviews und Aussagen, auf die Historiker zurückgreifen könnten, besteht nicht. Oral History, ζ. Β. bei den Uberlebenden des Holocaust, bei ehemaligen Fremdarbeitern, Kriegsgefangenen und Flüchtlingen 51 hat die überlebenden ehemaligen Soldaten noch nicht erreicht. Dabei sind hier zum Teil völlig neue Erkenntnisse zu erzielen, so etwa in dem Projekt von Bryan Mark Rigg, der - neben dem Quellenstudium - mit hunderten von Video-Interviews zum ersten Mal konkrete Zahlen und Schicksale von Wehrmachtsoldaten jüdischer Abstammung ermitteln konnte 52 . Eine wichtige Ausnahme stellt die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Hans Joachim Schröder dar. In seinem umfangreichen Werk hat er sich eigene Quellen geschaffen, durch 360 Interviews mit ehemaligen Mannschaftssoldaten aus der Großtstadt Hamburg. So kann er Themen behandeln, zu denen sich in den oft benutzten Wehrmachtakten kaum Material findet: der Alltag des Krieges, Kameradschaft, Beziehung zu Vorgesetzten und zur Bevölkerung, Einstellungen zum Krieg, Strapazen, Erlebnis des Tötens und der Todesdrohung, Angst, Grau-
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Boveri, Hauptstadtzeitung. Siehe z.B. Wenke, Interviews, und Goldschmidt u.a. (Hrsg.), Frieden. Hier ist v o r allem auf die großen Massendokumentationen der fünfziger Jahre zu verweisen: Maschke (Hrsg.), Geschichte, Schieder u. a. (Bearb.), Dokumentation. Bryan Mark Rigg, Riggs Liste, in: Die ZEIT Nr. 15 vom 4. 4. 1997, S. 11 f. Es gab immerhin 24 aktive Generale, die selbst oder deren Ehefrauen als „jüdische Mischlinge" v o n Hitler f ü r „deutschblütig" erklärt w o r d e n waren. Siehe Steiner/Cornberg, Willkür. W i e andere in der Wehrmacht isoliert und am Ende ausgestoßen wurden, dazu siehe Beitrag Kühne.
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samkeiten usw 53 . Diese Fallstudie, die sich hauptsächlich einfachen Heeressoldaten der Ostfront zuwandte, hat bis heute keine Verbreiterung gefunden. Der Rückgriff auf Feldpostbriefe und andere zeitgenössische Quellen hat wenige Einzelstudien ermöglicht, denen ζ. T. ein Mangel an methodischer Reflektion vorgeworfen wird. Ein plakativer, unkritischer Umgang mit solchen zufällig erhaltenen Einzelfunden, die es vermeintlich möglich machen, den „Krieg der kleinen Leute" zu rekonstruieren, die menschliche Dimension des Krieges öffnen, bleibt unbefriedigend^ Beitrag Latzel) Bernd Ulrich hat zu Recht daran erinnert, daß Feldpostbriefe schon seit dem Ersten Weltkrieg genutzt werden, um das „Erlebnis des Krieges" zu verherrlichen. Heute werden sie für die Friedenserziehung genutzt, um die Graumsamkeit und das Verbrechen des Krieges zu belegen. Welchen Wert hat also der soldatische Augenzeuge, als Briefschreiber im Krieg und als erzählender Veteran 54 ? Welche Quellen können erschlossen werden, um die Sozialgeschichte des Krieges von impressionistischer Darstellung zu einem wissenschaftlich soliden und breiteren sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Verständnis zu führen 55 ? Diese Frage bedarf noch vielfältiger Aufmerksamkeit. Eine „Sozialgeschichte des Schlachtfeldes" 56 bleibt bis auf marginale Vorstudien eine ungelöste Aufgabe, solange sich Militär- und Sozialhistoriker nicht zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit finden. Es geht um eine methodisch komplexe Verknüpfung unterschiedlicher Quellen, um eine Synthese subjektiver Wahrnehmung und objektiver Sachverhalte, um eine sinnvolle Verbindung von Erzählung und Analyse, wie sie 1995 der Amerikaner Stephen G. Fritz mit seiner Studie über die deutschen Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg versucht hat. Mit angelsächsischer Unbefangenheit werden dabei positive Urteile über „Kampfkraft", „Effizienz" und den Idealismus der Soldaten formuliert 57 , bleibt freilich die Verbindung von Fronterlebnis und Verstrickung in Verbrechen undeutlich. In schriftlichen Zeugnissen haben Soldaten über diese Problematik nun einmal nicht ausführlich reflektieren können. Die Auswertung von Tagebüchern, Memoiren und Feldpostbriefen überwiegend von Soldaten der Ostfront bleibt so in ihrer Reichweite und methodisch sicher umstritten. Martin Humburg ist mit der Auswertung von Briefserien einzelner Soldaten einen anderen Weg gegangen, der den lebensgeschichtlichen Hintergrund des Einzelnen und seine Entwicklung während des Krieges deutlicher macht 58 . Neben der Auswertung schriftlicher Zeugnisse und Erlebnisberichte sowie einer systematischen Erforschung der Lebens- und Erfahrungswelt von Soldaten durch Methoden der oral-history durch den Historiker bietet die Geschichte der Wehrmacht auch für andere Disziplinen fruchtbares Neuland. Der amerikanische Psychologe Jonathan Shay etwa hat in einer vorbildlichen Studie auf jene noch lebenden 250000 Vietnam-Veteranen mit Kampferfahrung aufmerksam
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Schröder, Jahre; ders., Vergegenwärtigung; ders., Alltagsleben. Ulrich, Militärgeschichte. Siehe dazu Latzel, Kriegserlebnis. Wegner, Kriegsgeschichte, S. 111. Jetzt in deutscher Übersetzung: Fritz, Frontsoldaten. Humburg, Feldpostbriefe (1997).
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gemacht, die bis heute an schweren posttraumatischen Persönlichkeitsstörungen leiden 59 . In dem Bemühen, „der Öffentlichkeit zu einem Verständnis der spezifischen Wirkungen katastrophaler Kriegserfahrungen" zu verhelfen, benutzt er Berichte von Veteranen und setzt sie in Bezug zur „Ilias" von Homer, weil er festgestellt hat, daß sich die dort mitgeteilten psychischen Leiden des Protagonisten Achill bei seinen Patienten wiederfinden. Shay kann zeigen, daß die Traumatisierung der Frontsoldaten im wesentlichen an zwei Erscheinungen festzumachen ist: dem Verrat „an dem, was recht ist" und dem Ausbruch von „Vernichtungsbegierden". Immer wieder finden sich ähnliche Ursachen:"Verrat, Beleidigung oder Demütigung durch einen Vorgesetzten; der Tod eines engbefreundeten Kameraden; Verwundungen; Situationen, in denen Soldaten überrannt und umzingelt werden oder in eine Falle geraten; der Anblick toter Kameraden, die vom Feind geschändet worden sind". Spezifische Verhältnisse des Guerillakrieges spielen eine große Rolle: die Kampftaktik des Gegners, die Lügen der Politiker an der „Heimatfront", Beschönigungen und Verrat der Vorgesetzten, der Verlust von Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. „Alle Gewißheiten lösten sich auf". Bei allen Unterschieden erinnert diese Diagnose doch auch an die Situation deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Aber ihre psychische Situation, die sich nur durch intensive Gespräche und Diagnosen wieder „aufschließen" läßt, hat bis heute niemanden interessiert. Hier scheinen wichtige neuen Chancen für die Wehrmachtgeschichte zu liegen! Neben der Ebene des einfachen Soldaten, die sich am ehesten durch neue Q u e l len wie Feldpostbriefe und narrative Uberlieferungen erfassen läßt und nicht durch das Niemannsland begrenzt werden, sondern möglichst beide Seiten der Front umfassen sollte, bieten auch andere Bereiche wissenschaftliches Neuland an. Zwischen der bisherigen Generalstabsperspektive und der sich erst entwickelnden Militärgeschichte „von unten" ist die organisations- und sozialgeschichtlich wichtige, mittlere Führungsebene noch völlig unbeachtet. Es gibt auch keine Geschichte der Unteroffiziere, die das eigentliche Rückgrad der Wehrmacht bildeten, keine vorbildliche und gründliche Divisions- oder Regimentsgeschichte von wissenschaftlichem Wert. Viele Phänomene, wie z . B . der Zerfall der Moral bei Kriegsende, lassen sich aber vermutlich nur auf einer solchen mittleren Ebene zuverlässig erfassen (Beitrag Ziemann). Die Integration neuer Fragestellungen der Sozial- und Mentalitätsgeschichte, der Geschlechter- und Kulturgeschichte, die auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft nicht immer unumstritten sind, muß in der Militärgeschichte geleistet werden und wird neue Horizonte öffnen. Es geht nicht um ein entweder oder. Die politische und militärische Geschichte der Wehrmacht muß sich in Zukunft noch stärker der Sozial- und Mentalitätsgeschichte öffnen, diese kann sich aber auch nicht ohne ausreichende Kenntnis der Militärgeschichte voll entwickeln. „Die Befreiung von der deutschen Wehrmacht", so ist die jüngste öffentliche Debatte über die umstrittene Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht
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überschrieben worden. Gemeint ist damit offenbar, daß Sinngebung und Identitätsstiftung mit dieser Debatte erfolgreich absolviert worden seien. Führt der mentale und politische „Abschied" der Nachkriegsgeneration von der Wehrmacht, von alten Legenden, die durch die Forschung seit Jahrzehnten widerlegt sind, tatsächlich zu mehr Objektivität, zu einer Distanz, die nüchterne wissenschaftliche Arbeit erleichtert, kurz zur Historisierung - oder zu einer Art von intellektuellem Schlußstrich, der die Wehrmacht als angeblich verbrecherische Organisation in den Orkus der Geschichte verdammt? Wenn die Forderung vieler Historiker gegenüber der Hamburger Ausstellung nach Differenzierung und Einordnung sogleich den Verdacht erregt, es verstecke sich dahinter doch nur der „Geist der Leugnung und Beschönigung", dann ist zu befürchten, daß die vermeintliche Widerlegung der Legende von der „sauberen" Wehrmacht, die zumindest im wissenschaftlichen Bereich niemand vertritt, am Ende nur dazu dient, im Bewußtsein der Öffentlichkeit eine neue Legende durchzusetzen, das Kollektivurteil über die vermeintlich verbrecherische Wehrmacht. Wer meint, je „weiter sich die Forschung auf die Geschichte der Wehrmacht einläßt, desto düsterer wird das Bild", muß sich fragen lassen, ob er nicht von Vorurteilen befangen ist 60 . Moralische Wertung und politisch-pädagogische Zielsetzung verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich nicht ausreichend auf empirische Befunde stützen können. Solange eine umfassende Geschichte der Wehrmacht fehlt und die heiklen Fragen nach Schuld und Verbrechen mit dem Verweis auf einzelne Befehle und Ereignisse beantwortet werden, muß jede Generalisierung, die sich nicht auf die Wehrmachtführung und die Wehrmacht als Organisation im NSStaat beschränkt, strittig bleiben. Nach unserem heutigen Kenntnisstand kann nicht mehr ernsthaft die Frage sein, ob und in welchem Ausmaß die Wehrmacht an Verbrechen des NS-Regimes beteiligt gewesen ist. Stattdessen muß die Motivforschung im Mittelpunkt stehen, und deshalb muß auch der Umgang mit dem Thema und die Art der Verarbeitung offen diskutiert werden können. Die Wehrmacht ist seit fünfzig Jahren Geschichte. Sie ist nicht mehr Teil unserer Gegenwart, auch nicht als ernstzunehmendes Schreckgespenst unserer politischen Kultur oder gar unserer Militärpolitik 61 . Der Weg muß von der Geschichtspolitik zur Historisierung, wieder stärker zur Wissenschaft und weg vom Lagerdenken führen! Die Geschichte gehört in die Hände der Historiker, die sich ihr mit ihrem Handwerkszeug und ihren Fragestellungen nähern. Die Historisierung des Wehrmachtthemas ist aber heute noch Aufgabe und keine Realität. Die vieldiskutierte Frage, wie man mit der Geschichte des „Dritten Reiches" umgehen solle, hat schon 1985 Martin Broszat zu der Forderung nach einer wissenschaftlichen Historisierung veranlaßt. Er beklagte, daß Hitler noch immer den Zugang zur deutschen Geschichte blockiere. Sensibilisiert durch Auschwitz-Prozeß und Atomkriegsdebatte wollten damals viele auch nichts
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Wolfram Wette, Die Befreiung von der deutschen Wehrmacht, in: Frankfurter Rundschau Nr. 117 vom 23. 5. 1997, S. 18; ders., J u d e gleich Partisan", in: Die ZEIT Nr. 19 vom 5. 5. 1995. Wette, Bilder.
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mehr hören von Kriegserlebnissen. Krieg an sich galt als sinnlos und verbrecherisch, wofür die Geschichte der Wehrmacht genug Beweis schien. Die Moralität der Betroffenheit habe sich mittlerweile stark erschöpft, meinte Broszat. Das könnte den Weg zu einer stärker differenzierende historische Einsicht freimachen. Er war sich bewußt, daß sein Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus sofort politisch verdächtig werden würde - was prompt eintrat 62 . 1985 gab es noch heftige politische Debatten um die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der als ehemaliger Wehrmachtoffizier die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und die Verbrechen der Nationalsozialisten offen beklagte. Das gab den Anstoß zu vielfältigen neuen Forschungen. Schwierigkeiten sind geblieben, wie sie Broszat beklagt hatte: Das Problem, den Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte einzuordnen und die „auffällige Kargheit der Farbgebung bei der Geschichtsschreibung über das Dritte Reich" zu überwinden 63 . Die seriöse Historiographie der Wehrmachtgeschichte hat sich stets im Fahrwasser der allgemeinen Zeitgeschichte bewegt, auch wenn sie dort nicht immer ausreichend wahrgenommen worden ist. Sie ist in Deutschland oft auch von Pädagogen, Politologen, Sozialphilosophen, Literaturwissenschaftler u. a. mehr als ein volkspädagogisches Unternehmen stilisiert, denn im Sinne interdisziplinärer Zusammenarbeit instrumentalisiert worden. Die Wehrmacht ist auch von Broszat wenig beachtet worden, der mit seinem Münchener Institut für Zeitgeschichte wesentlichen Anteil an der Erforschung des „Dritten Reiches" gehabt hat. Dort waren die Inhalte der nationalsozialistischen Politik und Weltanschauung in den fünfziger und sechziger Jahren zunächst in den Vordergrund gestellt worden. Mit zunehmender Belebung der akademischen Forschung gerieten dann die inneren Strukturen und die Bewegungsdynamik, soziale und soziologische Analysen in den Blickpunkt. Die Fragestellungen wurden damit immer stärker historisierend, innere Widersprüche, Multikausalität und Improvisation von Entscheidungsprozessen wurden erkennbar. Die Ergebnisse der Einzelforschungen konnten aber noch nicht in eine „neue Sachlichkeit" des Gesamtbildes umgesetzt worden, beklagte Broszat 1985. „In der Historiograpahie dominiert noch immer der übermächtige Eindruck des katastrophalen Endes und Endzustandes" 64 . Es regiere die Vorstellung vom systematischen Charakter, der kalkulierten Stufenfolge und der weltanschaulichen Zielrichtung der NS-Herrschaft. Die Forderung von Hans-Ulrich Thamer, „von einer bloß moralisierenden politischen Pädagogik weg zu einem historischen Begreifen zu kommen" 65 , harrt hinsichtlich der Wehrmacht noch ihrer Umsetzung. Der sogenannte „Historikerstreit" in der Bundesrepublik der späten achziger Jahre hat die Themen Wehrmacht und Krieg fast völlig ausgespart. Mit der Verspätung von einem Jahrzehnt stellte dann die öffentliche Debatte um die umstrittene Wehrmacht -
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Siehe dazu seine Einlassungen: Broszat, Historisierung. Broszat, Plädoyer, S. 375. Ebd., S. 380. Thamer, Monumentalität, S. 188.
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ausstellung das Sujet zwar in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses, aber auf die Verbrechensproblematik fokussiert. Das ist wohl kaum ein hinreichender Beitrag, um die Frage von Militär und Gesellschaft in einer Art von „gesteuerter historischer Konsensbildung" abschließend zu klären 66 . Seriöse Einzelforschungen, wie sie in diesem Band präsentiert werden, finden im öffentlichen Diskurs weniger Beachtung als plakative Formeln mit indirekten und intuitiven Schlüssen aus einseitigem Quellenmaterial. Das ist auch dem jungen amerikanischen Politologen Goldhagen mit seiner sensationellen Tournee durch Deutschland 1997 vorgeworfen worden 67 . Seine These vom gewissermaßen genetischen Willen der Deutschen zur Ausrottung der Juden macht er hauptsächlich an der Beschreibung einiger Reservepolizeibataillone fest, scheinbar „durchschnittliche" deutsche Männer, wie sie auch in der Wehrmacht dienten, keine indoktrinierten Rassenkrieger also. Was Goldhagen allerdings verschweigt, ist die nationale Zusammensetzung dieser Bataillone, die meist weniger als zehn Prozent Deutsche umfaßten. Konstruktionen von scheinbar hoher Plausibilität können nicht die Empirie ersetzen. Wenn in der breiten Öffentlichkeit solche wissenschaftlich fragwürdigen Thesen eine derartig große Aufmerksamkeit finden, dann sagt dieses Phänomen mehr über den Zustand unserer Gesellschaft und die Folgen einer problemtischen Geschichtspolitik aus als über den wissenschaftlichen Erkenntnisstand 68 . Die Erforschung der individuellen Handlungsmotivation etwa gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Historikers. Auch bei Strukturanalysen besteht die Gefahr, daß monokausale Erklärungsmodelle einen unhistorischen Determinismus produzieren. Die Öffnung der Wehrmachtgeschichte zur Sozialgeschichte ist zudem stark vom Interesse an Randgruppen wie den Deserteuren prägt worden 69 . Es mag am politischen Engagement mancher Autoren liegen, daß ihre Studien nicht immer methodisch und wissenschaftlich ausgereift sind (Zur Kritik siehe Beitrag Ziemann). Solange Armeen existieren, gab und gibt es Fahnenflüchtlinge. Die Motive sind stets vielfältig, oft profan und ganz und gar unheroisch, das ist zweifellos auch in der Wehrmacht nicht anders gewesen, auch wenn die politische Motivation bei dem Entschluß zur Desertion im Falle der Armee des „Dritten Reiches" eine größere Rolle gespielt haben sollte. In der noch heute polarisierenden Debatte in Deutschland tritt das Interesse an einer differenzierenden Untersuchung meist aber zurück, wird das Thema allzu sehr geschichtspolitisch instrumentalisiert, das Motivationsprofil dieser kleinen Minderheit der Wehrmachtsoldaten „bisweilen zu antimilitaristisch, zu antifaschistisch gezeichnet" 70 . Trotz der vielen offenen Fragen (Beitrag Haase) werden heute in der Geschichtspolitik die Deserteure allzu schnell als diejenigen dargestellt, die angesichts der verbrecherischen Dimension von Hitlers Krieg
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Mommsen, Geschichte, hier bezogen auf den „Historikerstreit". Finkelstein/Birn, Nation. Kritisch zum Goldhagen-Phänomen auch Heil/Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft. Siehe z.B. Wette (Hrsg.), Deserteure. So Bernd G. Ulrich in seiner Rezension im Tagesspiegel Nr. 16422 vom 10. 8. 1998 eines Sammelbandes, der in dieses vernachlässigte Kapitel der Militärgeschichte der Neuzeit einen anregenden und unaufgeregten Einblick bietet: Bröckling/Sikora (Hrsg.), Armeen.
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als einzige eine moralisch gebotene, achtenswerte Haltung gezeigt hätten, und die „Hoffnungsträger" für die politische Kultur der Bundesrepublik seien 71 . Im Vergleich zu der Überzeichnung dieser militärischen Randgruppe bilden feministische Fragestellungen sowohl im öffentlichen Diskurs wie in der wissenschaftlichen Forschung die absolute Ausnahme, wird die eine „Hälfte der Armee" - die weiblichen Angehörigen sowie die Mütter, Bräute und Ehefrauen der Soldaten - meist vergessen (Beitrag Kundrus). Die Mehrheit der Soldaten gerät damit insgesamt in den Hintergrund. Ihre Erlebniswelt interessiert nur dann, wenn sie im Rahmen der „Friedenerziehung" aktuellen politischen und pädagogischen Zwecken dienstbar gemacht werden kann 72 . Es gibt nur wenige Ansätze, auch bei der Frage nach den Kriegsverbrechen die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" zu berücksichtigen, die immer stärkere Anpassung der Wehrmachtsoldaten an den Typ den ideologisch motivierten Kämpfers in einer Phase einer allgemeinen Brutalisierung des Krieges 73 , während doch gleichzeitig traditionelle Verhaltensweisen in Widerstand und Verweigerung oder schlicht in die Passivität eines Uberlebenswillens mündeten, der in der Uniform der Wehrmacht den fanatischen Parolen für den Kampf bis zum Untergang trotzte. Wenn Rote Armee und Wehrmacht bei ihren Rückzügen in gleicher Weise die Strategie der Verbrannten Erde verfolgten, können die Handlungen der Wehrmacht nicht ohne weiteres als Ausdruck ideologischer Verblendung interpretiert werden. Wer differenzierte Analyse zwischen allgemeiner Brutalisierung des Totalen Krieges und spezifischen deutschen Einstellungen zum Vernichtungskrieg betreiben will, ist weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen. Es gibt keine gründlichen Untersuchungen zu solchen Fragen, und das hängt vermutlich auch mit den Tabus der „Politischen Korrektheit" zusammen. Nehmen wir das Beispiel des Partisanenkrieges in Jugoslawien, scheinbar blutigster Beweis für den Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Es sind aber vermutlich mehr Zivilisten durch Landsleute getötet worden als von Deutschen. Die NS-Ideologie kann für diesen Massenmord also nur von sekundärer Bedeutung sein. Die Besetzung des Landes 1941 war stärker durch den Zufall des Belgrader Staatsstreiches beeinflußt als von Hitlers Herrschaftsplänen. Es wäre in Jugoslawien leicht ein anderer Verlauf des Zweiten Weltkrieges denkbar. Welche Aussagekraft hat also das Paradigma des rassenideologischen Vernichtungskrieges? Ist dieser Partisanenkrieg hauptsächlich aus den inneren Konflikten des Landes, aus sich selbst heraus verständlich? In welchem Ausmaß haben deutsche Maßnahmen sogar dämpfend gewirkt oder lediglich verschärfend, damit ihre Zielsetzung, den Völkermord an den Serben durch die kroatische Ustascha einzudämmen, die Region zu befrieden, verfehlt? (Beitrag Schmider) Betrachten wir die viel diskutierte Frage nach Loyalität von Soldaten und Offizieren. John Keegan weist auf zeitlose Werte des Berufssoldaten hin, die schon in der Römischen Kaiserzeit galten: „Stolz auf eine unverwechselbar männliche Lebensweise, das Bemühen um die Anerkennung der Kameraden, die Befriedi71 72 73
Wette (Hrsg.), Deserteure. Siehe z.B. Knoch (Hrsg.), Kriegsalltag. Müller, Brutalisation, S. 236.
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gung, die ihm die Rangzeichen gewähren, die Hoffnung auf Beförderung sowie die Erwartung eines behaglichen und ehrenvollen Ruhestandes" 74 . Welches Gewicht hatten solche Prägungen gegenüber der politischen Indoktrination? Im Offizierkorps der Wehrmacht gab es während des Krieges einen tiefgreifenden sozialen Wandel, fast die Hälfte der Heeresoffiziere konnte nur den Abschluß der Volksschule vorweisen 75 . Welche Auswirkungen hat das auf Mentalität und Loyalität des Offizierkorps, auf sein professionelles Können gehabt? In der Wehrmacht der allgemeinen Wehrpflicht dienten mehrere Generationen nebeneinander, unterschiedlich sozialisiert und verschieden lange der NS-Indoktrination ausgesetzt. Nehmen wir als Beispiel den Befehlshaber des Heeresgebiets Mitte, Max von Schenckendorff, in dessen Verantwortungsbereich die wohl schlimmsten Ubergriffe gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten sowjetischen Gebieten standfanden (siehe Beitrag Richter). Schenckendorff war Jahrgang 1875 und wurde bereits 1930, bevor Hitler zur Machtübernahme ansetzte, pensioniert, dann nach Beginn des Zweiten Weltkrieges reaktiviert. Es ist zweifelhaft, ob hier die Vermutung ideologischer Ubereinstimmung mit Hitlers Programm überhaupt angebracht ist. Umfassend geprüft wurden Einstellung und Haltung der älteren Generalität, die gerade in den rückwärtigen Dienststellungen Verwendung fanden, bislang nicht. Wie müssen solche Faktoren bei der Bewertung der Wehrmacht berücksichtigt werden? Defizite sind freilich auch bei klassischen Themen wie Fragen des militärischen Kommandos, der Entschlußbildung, der Zusammenarbeit mit Verbündeten usw. festzustellen. Selbst bei den Generalsbiographien, die doch stets den größten Zuspruch finden, kann man nur auf eine handvoll neuerer Studien verweisen76. Bei den scheinbar für Allgemeinhistoriker nebensächlichen Themen wie Stabs- und Logistikstrukturen sind erst recht erhebliche Lücken zu beklagen. Bei der Untersuchung der Geschichte von Feuerkraft, Waffentechnik und Intelligence ist die angelsächsische Literatur erheblich weiter fortgeschritten als deutsche Militärhistoriker 77 . Kann die Sinnfrage des Zweiten Weltkrieges, kann ein national verengtes Kriegsbild den Zugang zu solchen Themen wirklich behindern? Zu neuen Fragestellungen muß auch eine methodische Erweiterung kommen. Neben der differenzierten und systematischen Erforschung der Kriegführung sollten jetzt auch die Erfahrungswelt der Soldaten, das Kriegsgeschehen, Mentalitäten und Einstellungen gründlicher erforscht werden. Es gilt die Anstöße der angelsächsischen Forschung aufzunehmen. In seinem fundierten Uberblick kann Hew Strachan auf nur wenige Erkenntnisse zur Wehrmacht verweisen 78 . Was wissen wir z.B. vom inneren Zusammenhalt der Truppe? War ihr Verhalten nur Ausdruck einer nur ideologischen Prägung, oder in welchem Ausmaß auch von rigider Disziplinierung 79 und Terror? Welche Rolle spielten Denunzi-
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Keegan, Kultur des Krieges, S. 3 9 0 f . Kroener, Weg. Smelser/Syring (Hrsg.), Militärelite, umfaßt 27 Skizzen. Siehe ζ. B. Graham/Bidwell, Coalitions, und für die frühe Neuzeit Parker, Revolution. Strachan, Experience. Siehe den Überblick von Bröckling, Disziplin.
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anten und die Gestapo? In Deutschland wird schnell der der Apologie-Verdacht erhoben, wenn das Verhalten der Soldaten „verständnisvoll" beschrieben wird. Dabei gibt aber wohl Dimensionen des Krieges, die auch von den Veteranen eher verdrängt werden. Realitätsflucht z . B . als Voraussetzung, um den Krieg ertragen, überleben zu können? Die Verarbeitung von Kriegserlebnissen gehört individuell und kollektiv zu den größten menschlichen Herausforderungen. Seinen Teil kann der Historiker nur dann dazu beitragen, wenn er bereit ist, enge Fachgrenzen zu überschreiten. Die historischen Anthropologie etwa bietet für vergleichende Studien eine Fülle von Erkenntnissen primitiver, antiker und nicht-europäischer Völker über das Töten im Krieg an, die bisher ungenutzt sind 80 , und sie kann kaum auf Erkenntnisse des Zweiten Weltkrieges zurückgreifen. John Keegan hat in seiner Kulturgeschichte des Krieges viele solcher Fragen übergreifend behandelt, mußte bei der Darstellung des Zweiten Weltkrieg und der Wehrmacht aber blaß bleiben. Es ist O m e r Bartov zuzustimmen, wenn er meint, daß wir keine Scheu davor haben sollten, neue Quellen in der Militärgeschichte zu erschließen. Die größten historischen Forschungsprojekte der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren sicherten die Erfahrungen und Erinnerungen von Millionen Flüchtlingen und Kriegsgefangenen. Diese Zeugnisse stellen heute unverzichtbare Quellen für die Forschung dar. Ähnliches für den Krieg selbst fehlt. Hier gilt es - in letzter Minute - einen Anfang zu wagen. Die „Dringlichkeit einer repräsentativen quantifizierenden Forschung zur subjektiven Kriegswirklichkeit von Soldaten" (Enrico Syring) ist nicht zu übersehen. Nach der „Bewältigung" der Geschichte, nach politischer Distanzierung und moralischem Entsetzen, muß jetzt die nüchterne und sachliche Wissenschaft regieren, und die bedarf der theoretischen und methodischen Neuorientierung. Erfahrungen und Bewußtsein von Menschen im Krieg künftig in den Mittelpunkt zu rücken, stellt eine der möglichen Strategien dar. Das bedeutet keine Frontstellung gegen die hergebrachte Historiographie. Den Krieg und die Wehrmacht aus dem Blickwinkel der führenden politischen und militärischen Akteure zu betrachten, bleibt unverzichtbarer Bestandteil der Militärgeschichte. Die große Politik des Krieges, den Krieg Hitlers und seiner Generale gilt es sinnvoll zu verbinden mit den neuen Ansätzen der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, der Alltags- und Sozialgeschichte. N u r ein derartig erweiterter interdisziplinärer Ansatz kann seine Krönung in einer überzeugenden Synthese der Wehrmachtgeschichte finden, die sich auch der Mühe unterzieht, Geschichte zu „erzählen", also mit literarischen Mitteln wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln.
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Stietencron/Rüpke (Hrsg.), Töten.
I Anspruch und Selbstverständnis der Wehrmacht
Wilhelm Deist Einführende Bemerkungen
In den nachfolgenden Beiträgen wird an verschiedenen Stellen nachdrücklich auf die Vorgeschichte von „Hitlers Wehrmacht" hingewiesen werden, die für das Verständnis der Entwicklungen von 1933-1945 von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen ist. Vor allem die nicht akzeptierte militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Dolchstoßlegende sowie die Kriegsunschuldlüge und schließlich die als Demütigung empfundene Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen1, sowie die daraus von führenden Soldaten gezogenen außen- und innenpolitischen Konsequenzen werden als Elemente des Handelns der Wehrmachtführung genannt. Es kommt auch zum Ausdruck, daß sich das Offizierkorps in seiner Einstellung gegenüber der Politik des Reichskanzlers Hitler und des „Dritten Reiches" kaum von den übrigen, mehrheitlich konservativ geprägten Eliten in Staat und Gesellschaft unterschied.
I.
Ich möchte diese historische Dimension noch ein wenig erweitern und auf ihren Erklärungswert nachdrücklich hinweisen. Dabei gilt es zu beachten, daß zutreffende Aussagen über das Selbstverständnis der Wehrmacht - einer Organisation, in der während des Krieges ca. 17 Millionen Männer dienten2 - nur in einem sehr beschränkten Maße möglich sind. Allerdings wird man aufgrund der streng hierarchischen Struktur3 dieser Organisation davon ausgehen können, daß die militärische Führung gerade bezüglich des Selbstverständnisses bestimmend und prägend gewirkt hat. Doch auch mit dieser Reduktion sind die Schwierigkeiten nur zum Teil beseitigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Offizierkorps allein des Heeres im Mai 1944 ca. 170000 Mann umfaßte, wovon 1250 der Generalität angehörten4. Dennoch werde ich den Begriff „militärische Führung" verwenden und beziehe mich dabei insbesondere auf die erste der von Bernhard R. Kroener vorgestellten vier Offiziergruppen vornehmlich des
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Zum Gesamtkomplex vgl. Mommsen, Freiheit; Winkler, Weimar; Heinemann, Niederlage; Herwig, Clio; Dreyer/Lembcke, Diskussion; vgl. auch die kritischen Einwände von Krumeich, Aspekte; zur Geschichte der Reichswehr vgl. noch immer Carsten, Reichswehr; zur Reaktion der Reichswehrführung auf die Besetzung des Ruhrgebietes vgl. Geyer, Aufrüstung, S. 23 ff. Vgl. Overmans, Verluste, S. 208. Vgl. hierzu die Bemerkungen von W o l f r a m Wette über die Wehrmacht als „totale Institution", in: ders., Gehorsam, S. 71. Kroener, Ressourcen, S. 896; vgl. auch ders., Weg, bes. S. 652 f.
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Wilhelm Deist
Heeres 5 . Das Selbstverständnis dieser Generale und Obersten des Zweiten Weltkrieges ist durch ihre militärische Sozialisation im Kaiserreich entscheidend bestimmt worden, in der die Traditionen der bewaffneten Macht und die Prinzipien, auf denen diese Tradition beruhte, eine entscheidende Rolle spielten. Ein Blick auf die Zusammenhänge kann und soll dazu dienen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Selbstverständnis und im Verhalten der militärischen Führung in den Jahren 1933 bis 1945 in ihren Ursachen zu erkennen. Die Geschichte der Wehrmacht endet mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945; der von Hitler begonnene Krieg hatte das Land, den Staat und die Gesellschaft auf allen ihren Funktionsebenen in die Katastrophe geführt. Wenige Monate später wurde mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki eine Waffe eingesetzt, deren Vernichtungspotential alle bisher entworfenen Kriegsbilder sprengte. Diese Ereignisse haben in Deutschland einerseits zu einem tiefen Traditionsbruch geführt, der auch durch eine selektive und krampfhafte Glorifizierung der Kriegswehrmacht nicht ungeschehen gemacht werden kann. Das atomare Vernichtungspotential hat andererseits in einem langen Entwicklungsprozeß auch zu einer grundlegenden Neudefinition der Aufgaben und Funktionen der Streitkräfte geführt. Auf diese Weise endete mit dem Jahr 1945 eine Epoche zumindest der deutschen Militärgeschichte, die in der Sicht nicht nur der preußischen Militärs in einer ähnlich empfundenen katastrophalen militärischen Niederlage ihren Anfang genommen hatte: mit dem Sieg Napoleons über die preußische Armee bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806. Dieses Ereignis setzte einen Reformprozeß in Gang, der u.a. für die Armee eine grundlegend veränderte innere Struktur zum Ziel hatte. Es ist bekannt, daß für die Durchsetzung dieser von Scharnhorst, Gneisenau und Boyen vorangetriebenen Reformen tatsächlich nur wenige Jahre zur Verfügung standen. So eingeschränkt man den dauerhaften Erfolg der Reformer auch interpretieren mag, so sind doch mit der Einführung des Prinzips der Allgemeinen Wehrpflicht (1814) und mit der Neugestaltung der militärischen Führungsorganisation mit Kriegsministerium (1808) und Generalstab (1810) Entscheidungen getroffen worden, die der Entwicklung der bewaffneten Macht eine neue Richtung gaben und eine Traditionslinie begründeten, die das Selbstverständnis des Offizierkorps dauerhaft prägte 6 . Leider neigt die Historiographie noch immer dazu, die Bedeutung dieses Kontinuums des Militärischen für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu unterschätzen 7 . 5
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Ders., Veränderungen, bes. S. 2 7 2 - 2 7 6 ; Kroener unterscheidet zwischen den Stabs- und den Frontoffizieren des Ersten Weltkrieges, die im Zweiten Weltkrieg die Ranggruppen der Generale sowie der Obersten besetzten bzw. die Masse der Stabsoffiziere der W e h r macht stellten. Der Altersstruktur entsprechend folgen - nach Kroener - die Gruppe der nicht mehr weltkriegsgedienten Offiziere und die seit 1935 ausgebildeten und ernannten Offiziere. Zur Altersstruktur der Generale vgl. Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 2 8 5 f f . Vgl. Wohlfeil, Heer; Ritter, Staatskunst, S. 6 7 - 1 4 3 ; Stübig, Wehrverfassung; ders., Ziele; vgl. auch Hagemann, Sieg. So muß man für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Bedauern feststellen, daß in dem äußerst anregenden Band von Siemann, Staatenbund, dem Militär als einer politisch und gesellschaftlich relevanten Organisation keine adäquate Aufmerksamkeit geschenkt wird, vgl. S. 59, 326ff., 379ff.; auch Nipperdey, Geschichte, begnügt sich in seinem umfangrei-
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Es besteht jedenfalls kein Zweifel darüber, daß die führenden Offiziere der Jahre 1933 bis 1945, die Generalität, sich als Glied dieser als verpflichtend empfundenen Tradition betrachteten. Ihre militärische Sozialisation hatte sich vor und im Ersten Weltkrieg vollzogen und sich am Selbstverständnis des wilhelminischen Offizierkorps orientiert 8 . Nicht minder prägend allerdings war die Erfahrung der militärischen Niederlage 1918 und der ihr folgende weitgehende Zusammenbruch des für die Armee konstitutiven Prinzips von Befehl und Gehorsam. Dem Offizierkorps war innerhalb kürzester Zeit die Armee abhanden gekommen 9 .
II. Die im Kaiserreich erfahrene Prägung hatte Konsequenzen. Das wilhelminische Offizierkorps empfand sich in einem ganz besonderen Maße als Repräsentant der Nation, sowohl in politischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Diese Position beruhte in erster Linie auf der engen persönlichen Bindung an den Monarchen und Obersten Kriegsherrn; sie kam u. a. zum Ausdruck in der gewollten und immer wieder mit Nachdruck vertretenen Uberordnung des Militärischen über das Zivile in Staat und Gesellschaft. So rangierten in dem preußischen Hof-Rang-Reglement vom 19. Januar 1878 - um nur eines von zahllosen Beispielen zu nennen - die aktiven Generale der Infanterie und der Kavallerie vor den aktiven Staatsministern und den Präsidenten der beiden Häuser des Landtages 10 . Die politischen Konsequenzen der militärischen Niederlage haben dieser hervorgehobenen Stellung des einzelnen Offiziers und des Offizierkorps einen traumatisch wirkenden Stoß versetzt. Der allgegenwärtige Zerfall der Armee, Flucht und Abdankung des Obersten Kriegsherrn, das Nicht-Verhältnis zu den nun bestimmenden, bisher mißachteten politischen Kräften und schließlich der Oktroi der militärischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages schufen eine Situation, die im Offizierkorps als eine ausgesprochen existenzielle Krise empfunden wurde 1 1 . Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß die militärische Führung die mit dem 30. Januar 1933 einsetzende Entwicklung - trotz macher irritierender Erscheinungen außerhalb des militärischen Bereichs - begrüßte und - soweit es die bewaffnete Macht betraf - voll unterstützte. Nicht nur die Wiederherstellung der traditionellen Wehr- und Führungsstruktur sowie die vehe-
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chen W e r k mit wenigen Seiten zu den Heeresreformen 1 8 0 7 - 1 8 1 4 , S. 51 ff., und zum Heereskonflikt der 60er Jahre, S. 749 ff. Vgl. hierzu die entsprechenden Passagen in der noch immer grundlegenden Darstellung von Demeter, Offizierkorps; sowie Hofmann (Hrsg.), Offizierkorps, mit den Beiträgen von Manfred Messerschmidt, Wilhelm Deist, Thomas Freiherr von Fritsch-Seerhausen, Hermann Rumschöttel, Joachim Fischer und Holger H. Herwig; Bald, Offizier. Deist, Zusammenbruch; Wette, Demobilmachung; Bessel, Germany, S. 69-90. Röhl, Hof, S. 95 ff. Wie tief die traditionellen Vorstellungen verankert waren, zeigen die von W o l f r a m Wette herausgegebenen Aufzeichnungen des „roten" Obersten Ernst van den Bergh, in: Wette (Hrsg.), Geburtsstunden, vgl. bes. S. 9 - 1 6 der Einleitung des Herausgebers.
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mente Aufrüstung mit dem Ziel der Wiederherstellung des europäischen Großmachtstatus 12 , sondern auch das damit verbundene wachsende Ansehen, das Prestige des Offizierkorps sowie die fraglos hohe Bedeutung des Militärs für die Durchsetzung der politischen Programmatik des neuen Regimes erschienen der militärischen Führung als eindeutige Signale für die Wiederherstellung der vor 1914 eingenommenen hervorgehobenen Position des Militärs in Staat und Gesellschaft. Diese hervorgehobene Stellung beruhte jedoch nicht nur auf der wirkungsvollen Selbstdarstellung des Militärs nach den siegreichen Einigungskriegen sowie der unablässigen, betonten Förderung und Bevorzugung durch den Monarchen, sondern auch auf der Sonderstellung der Armee in der Verfassung. Das in der Reichsverfassung von 1871 verankerte Vorrecht des preußischen Königs und deutschen Kaisers, u. a. die Organisation des Reichsheeres durch seine Befehlsgewalt zu regeln und die Offizierpersonalien in alleiniger Kompetenz zu handhaben, berechtigt von einer extrakonstitutionellen Stellung von Armee und Offizierkorps zu sprechen 13 . Einerseits bewirkte diese Konstellation eine verstärkte Ausrichtung der militärischen Hierarchie, jedes einzelnen Offiziers, auf den Monarchen und implizierte andererseits, daß die zivile Exekutive, einschließlich des Reichskanzlers, über keine verfassungsmäßig und rechtlich abgesicherten Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten verfügte. Allein der Reichstag besaß aufgrund des Budgetrechts zumindest Möglichkeiten der Einflußnahme, gegen die sich das militärische Establishment wiederum mit allen Mitteln abzuschirmen versuchte 14 . Die Frontstellung gegenüber den Parteien des Reichstages, insbesondere den links der Mitte stehenden, weitete sich zu einem generellen und entschiedenen Antiparlamentarismus aus. Angesichts dieser hier nur skizzierten Umstände ist das Bild vom „unpolitischen" Militär, repräsentiert in seiner Führung und seinem Offizierkorps, naiv, unzutreffend, ja geradezu grotesk. Das Fortwirken der Tradition der extrakostitutionellen Stellung zeigte sich unter den veränderten Bedingungen der Weimarer Republik in dem Ausbau der Position des Chefs der Heeresleitung 1 5 gegenüber dem Reichswehrminister durch den General von Seeckt, in der Handhabung des Artikels 48 der Reichsverfassung 16 und auch im Umgang mit dem Versailler Vertrag, dessen Verletzung - nicht nur in der Reichswehr gewissermaßen als nationale Pflicht empfunden - gleichzeitig ein Vergehen gegen ein Reichsgesetz darstellte. In der Friedensphase des nationalsozialistischen Regimes kam dieses traditionelle Element im Selbstverständnis des Militärs noch stärker zum Ausdruck, und zwar in der freudigen Akzeptanz und dem Beharren auf der „Zwei-SäulenTheorie", wonach Wehrmacht und Partei Basis und unverzichtbare Stützen des 12 13 14
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Messerschmidt, Wehrmacht (1969); Müller, Heer; ders., Armee (1987); Deist, Aufrüstung. Deist, Kaiser, bes. S. 29 f. Vgl. hierzu in erster Linie Förster, Militarismus, und die dort nachgewiesene und bearbeitete Literatur. Meier-Welcker, Stellung; ders., Seeckt, S. 252 f., 280 f, 300 f.; Erger, Putsch, S. 284-289; vgl. aber auch die manche Aspekte abweichend betonende Interpretation von Möllers, Reichswehrpolitik. Hürten, Reichswehr.
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Regimes bildeten 17 . Die damit zweifellos verbundene Reduktion der hervorgehobenen Stellung der bewaffneten Macht im Kaiserreich erschien akzeptabel, weil die politische Bewegung in erster Linie als Motor der von dem Regime intensiv propagierten Volksgemeinschaft angesehen wurde. Diese Volksgemeinschaftsideologie galt dem Offizierkorps nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges als eine durch nichts zu ersetzende Voraussetzung für jegliche kriegerische Unternehmung 1 8 . Sie kam den Militärs auch als Instrument der Ausgrenzung sehr gelegen. Die traditionelle, im Kaiserreich offen artikulierte Ablehnung der links der Mitte agierenden Parteien konnte nun erneut unverblümt zum Ausdruck gebracht werden. Bei so unterschiedlichen Repräsentanten wie Erich Ludendorff und Werner von Fritsch kombinierte sich diese Frontstellung mit einem aggressiven Antisemitismus, der sich jetzt vornehmlich aus dem Trauma von Niederlage und Revolution 1918 nährte 19 . Das von den Nationalsozialisten propagierte Feinbild vom „jüdischen Bolschewismus" war daher den Militärs durchaus vertraut. Im Kampf gegen diesen ubiquitären Feind schien jedes Mittel erlaubt. Vor diesem Hintergrund muß die weitgehende Akzeptanz der verbrecherischen Befehle im höheren Offizierkorps der Wehrmacht und die Rolle der führenden Militärs im Vernichtungskrieg gegen den sowjetischen Gegner gesehen und beurteilt werden 2 0 . In welchem Maße die mit dem Machtantritt Hitlers und seiner Gefolgschaft erhofften und - wie sich bald herausstellen sollte - begründeten hohen Erwartungen das Militär veranlaßten, ebenfalls in der Tradition fest verankerte, bisher ganz selbstverständliche Prinzipien zu mißachten, zeigte die Reaktion Blombergs und des Offizierkorps auf die Morde an den beiden Generalen von Schleicher und von Bredow 2 1 . Mit der Hinnahme, ja Sanktionierung dieses Verbrechens durch die oberste militärische Führung wurde die Korrumpierung der Wehrmacht zum ersten Mal deutlich sichtbar, erreichte mit den geheimen Dotationen an die höchsten Repräsentanten der bewaffneten Macht 2 2 einen weiteren Höhepunkt und endete schließlich in willfähriger Selbsterniedrigung, als der dienstälteste aktive Offizier, der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, den Vorsitz im sogenannten „Ehrenhof" übernahm und weisungsgemäß seine Kameraden dem Volksgerichtshof auslieferte 23 . An die Stelle einer selbstbewußten, kraftvollen Tradition war in diesem Falle Servilität getreten.
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Vgl. Müller, Heer, S. 35 ff., bes. S. 66 ff.; ders., Armee (1987), S. 49 ff. Deist, Reichswehr; Messerschmidt, Reflex. Ludendorff bezeichnete die von ihm erkannten Gegner, die „Unzufriedenen" der militarisierten rassistischen Volksgemeinschaft ganz eindeutig: das Judentum und die katholische Kirche; vgl. Ludendorff, Der totale Krieg, S. 10, 25. Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch benutzte im selben Sinne die Formel von der notwendigen „Schlacht" gegen die Arbeiterschaft, den Ultramontanismus und das Judentum, vgl. Reynolds, Brief, S. 362 f. Zum Hintergrund vgl. Herbert, Vernichtungspolitik, bes. S. 41 f. Vgl. Förster, Gesicht; Schulte, Wehrmacht. Vgl. Müller, Heer, S. 1 2 3 - 1 3 9 , 719; Gritschneder, Führer, bes. S. 41 f., 67-78. Vgl. den Beitrag Weinberg in diesem Band; sowie Winfried Vogel, „... schlechthin unwürdig", in: Die Zeit, 28. 3. 1998, S. 44. Ziemke, Rundstedt; Bemerkungen zu den Begleitumständen bezüglich des Ehrenhofes bei Meyer, Auswirkungen, S. 484 ff.
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III. Und wie verhielt es sich mit der zentralen Funktion des Militärs, d. h. der Vorbereitung auf und der gewaltsamen Lösung von Konflikten? Auf diesem Gebiet vollzogen sich tiefgreifende Prozesse mit Auswirkungen, die bisher bei dem Versuch, das Verhalten der militärischen Führung im Zweiten Weltkrieg historisch einzuordnen, kaum berücksichtigt worden sind. N o c h im 19. Jahrhundert galt der Anspruch des Militärs auf die alleinige Kriegführungskompetenz als unbestritten. Auch der nachdrückliche und im Endeffekt erfolgreiche Einspruch Bismarcks gegen bestimmte An- und Absichten Moltkes im Krieg 1870/71 änderte nichts an der Aufrechterhaltung des als selbstverständlich geltenden Anspruchs des Militärs. Der Erste Weltkrieg jedoch demonstrierte, daß diese Selbstverständlichkeit dem Militär verloren gegangen war. Moltke war bereits 1871 im Kampf gegen Gambetta's Armee an die Grenzen des ihm Möglichen gelangt, gerade weil er den Krieg als Gesamtphänomen im Auge behielt und insofern strategisch dachte. Bereits bei Schlieffen ist strategisches Denken kaum mehr erkennbar. Weder der österreichisch-ungarische Verbündete, noch der mögliche britische Gegner erfuhren in seinen Vorstellungen eine der Stärke und Position dieser Mächte angemessene Berücksichtigung 24 . Wesentliche Umstände, die nach dem Urteil der Zeitgenossen in einem Konflikt zwischen europäischen Großmächten eine Rolle spielen würden, fanden in den Planungen des Generalstabes keinen adäquaten Niederschlag. Die Industrialisierung hatte Kräfte ins Spiel gebracht, über die das Militär keine Verfügungsgewalt besaß. Schlieffen selbst brachte diese grundsätzlich veränderte Situation mit dem bekannten Diktum zum Ausdruck, daß ein langer Krieg unmöglich geworden sei, da „die Existenz der Nation auf einem ununterbrochenen Fortgang des Handelns und der Industrie" beruhe und „der Unterhalt von Millionen (Soldaten) den Aufwand von Milliarden" erfordere 25 . Die Materialschlachten des Weltkrieges hatten dann demonstriert, daß industrialisierte Volkskriege zwischen Großmächten die Mobilisierung und den Einsatz sämtlicher Ressourcen einer Nation erforderlich machten, deren sinnvoll zielorientierte Steuerung die militärische Führung schlichtweg überforderte 26 . Das hatte zur Konsequenz, daß sich die führenden Offiziere der dreißiger Jahre noch stärker auf das „Kriegshandwerk" konzentrierten, die zunehmende Technisierung des militärischen Instruments durch Spezialisierung innerhalb der Hierarchie zu bewältigen suchten, durchaus bereitwillig die Einflußnahme politischer und wirtschaftlicher Kräfte auf militärisches Handeln und Planen akzeptierten und dementsprechend die strategische Perspektive mit wenigen Ausnahmen - völlig aus ihrem Blickfeld verloren 27 . Damit waren
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In einem anregenden, w e i t e r f ü h r e n d e n u n d klar akzentuierten A n s a t z wird diese Problematik behandelt v o n F ö r s t e r , Generalstab. Zit. n. ebd., S. 79. Vgl. hierzu H ö r n e ( H r s g . ) , State, der einen guten Einstieg in diese vielschichtige T h e m a t i k bietet. D a s läßt sich u . a . an der u n g e l ö s t e n S p i t z e n g l i e d e r u n g s f r a g e u n d an der umstrittenen P o s i t i o n B l o m b e r g s s o w i e Keitels u n d ihrer Stäbe innerhalb der militärischen F ü h r u n g s organisation ablesen, vgl. hierzu jetzt M e g a r g e e , T r i u m p h .
Einführende Bemerkungen
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aber auch in diesem Bereich die Voraussetzungen dafür gegeben, daß die militärische Expertise Hitlers für ein strategisch von Anfang an aussichtsloses Unternehmen ohne Einschränkung zur Verfügung stand. Die unbestrittene operative und taktische Brillanz der militärischen Führung hat großen Anteil an dem Ausmaß der Katastrophe, die mit dem Zweiten Weltkrieg über Deutschland hereinbrach. Zu den erwähnten Ausnahmen gehört mit Sicherheit der Reichswehrminister Wilhelm Groener 2 8 und der Generalstabschef des Heeres von 1933 bis 1938, Generaloberst Ludwig Beck. Beide stehen für den Versuch, strategisches Denken in der militärischen Führung erneut zu verankern. Beide sind mit ihrem Ansatz gescheitert. Beck trat im August 1938 von seinem Posten zurück, weil ein „Krieg gegen die T s c h e c h e i . . . in seinen Auswirkungen zu einem Weltkrieg führen" müsse, „der das finis Germaniae bedeuten" werde 29 . Wie singular diese strategische Argumentation war, zeigte sich an seinem Nachfolger, General Franz Halder, der nur acht Monate nach Becks Rücktritt vor Generalen und Generalstabsoffizieren für das zentraleuropäische Deutsche Reich die völlige strategische Handlungsfreiheit unterstellte. Er äußerte die Uberzeugung, daß die Armee Polens, des nächsten Gegners, in 2 - 3 Wochen vernichtet werden könne, worauf sich die Möglichkeit biete, sich gegen die Sowjetunion oder den Westen zu wenden, wobei er mit dem Gedanken von Luftangriffen auf Paris und London spielte 30 . Es ist derselbe Halder, unter dessen Verantwortung die rassistische Ideologie des nationalsozialistischen Regimes in Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion in Befehlsform umgesetzt wurde 3 1 . Für Halder und seine Nachfolger stand die Abfolge von Feldzügen, stand die einzelne Operation — nicht der Krieg als Gesamtphänomen — im Mittelpunkt des Planens und Handelns. Sie hatten die alleinige Kriegsführungskompetenz aufgrund der veränderten Natur des Krieges als industrialisierter Volkskrieg endgültig verloren, und der diktatorische Anspruch Hitlers hat diesen Prozeß noch wesentlich beschleunigt.
IV. Für die Generalität des Zweiten Weltkrieges, so wird man mit allen Vorbehalten im Einzelnen feststellen können, bildeten Vorstellungen und Prinzipien, die sie in der sie prägenden Phase ihres beruflichen Werdeganges aufgenommen hatten, auch die Grundlage für ihr Selbstverständnis und ihr Handeln im nationalsozialistischen Deutschland. Aber da Tradition immer ein Konstrukt ist, das mit der historischen Realität meist nur wenig zu tun hat, adaptierten auch die Generale der Wehrmacht manche der überkommenen Uberzeugungen und Haltungen an die gegebenen Umstände, manchmal mit der Folge ihrer völligen Pervertierung.
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Zu Groener vgl. jetzt Hürter, Groener; sowie Deist, Aufrüstung, S. 4 5 2 - 4 5 9 . Zu Beck als Generalstabschef vgl. Müller, General, Zit. S. 552. Vgl. Hartmann/ Slutsch, Halder. Vgl. Förster, Unternehmen.
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Hat es Alternativen zu der geschilderten Entwicklung der militärischen Elite gegeben? Hier wäre in erster Linie natürlich der militärische Widerstand zu nennen, aber auch hier war die Generalität nur schwach vertreten 32 . Zweifellos hat die Masse der Generale des Heeres ihre militärischen Aufgaben mit U m sicht und persönlichem Einsatz professionell gelöst und versucht, ihrer Verantwortung gegenüber ihren kämpfenden Soldaten gerecht zu werden. Die Frage nach der Verantwortbarkeit bestimmter militärischer Operationen haben allerdings nur wenige unter ihnen ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Konsequenzen artikuliert, obwohl eine solche Haltung fester Bestandteil der Tradition war. Diese Verantwortlichkeit des militärischen Führers galt in dem hierarchisch festgefügten Offizierkorps insbesondere für die Spitzen der Hierarchie, die seit dem Rücktritt Becks diesem Anspruch ganz offenbar nicht mehr gerecht wurden 3 3 . Eine allgemeine und zutreffende Antwort auf die Frage, warum sich die Generalität in so hohem Maße dem ideologisch orientierten militärischen Diktat Hitlers, dem Gefreiten des Weltkrieges, unterordnete, wird sich kaum finden lassen. Die Antwort wird jeweils nach der Persönlichkeit, der Struktur des Entscheidungsprozesses und der Situation, aus der heraus entschieden werden mußte, zu differenzieren sein. Ein allen gemeinsames, verbindendes Element läßt sich allerdings ausmachen: Wie bei keinem anderen Berufsstand zählte für die militärische Führung, d. h. die Generaltität, die Fixierung auf den Obersten Kriegsherrn zu den unverzichtbaren Grundsätzen der Tradition. Für diese Offiziere verkörperte sich in Hitler wie in Wilhelm II., der auch im Offizierkorps durchaus nicht unumstritten war, alles, was sich mit den Begriffen Reich, Staat und Vaterland verband 34 . Sie, die die Spitze der von ihnen verinnerlichten Hierarchie erklommen hatten, waren auf diese Weise zu bloßen Funktionären des Obrigkeitsstaates geworden.
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Schmädeke/Steinbach (Hrsg.), Widerstand, S. 3 2 9 - 4 7 1 ; Ueberschär, 20. Juli 1944. Messerschmidt, Wehrmacht (1995). Wiederum mag Generalfeldmarschall von Rundstedt, geb. 1875, als ein Beispiel dienen gegenüber Hitler äußerte er am 3. 9. 1944: „Mein Führer, was immer Sie befehlen, werde ich bis zu meinem letzten Atemzug erfüllen". Vgl. Ziemke, Rundstedt, S. 490.
Hans-Erich
Volkmann
Von Blomberg zu Keitel Die Wehrmachtführung und die Demontage des Rechtsstaates
1951 richtete der Landgerichtsrat Hans Waldhausen, Sohn eines wilhelminischen Generals und Teilnehmer zweier Weltkriege, an den ehemaligen Chef der Operationsabteilung des Heeres und späteren ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, Alfred Heusinger, folgende Frage: „Warum haben zwischen 1934 und 1938 nicht wenigstens 6 der 12 damaligen Kommandierenden Generäle zum mindesten ihr Amt niedergelegt?... Spätestens ab 30.6.34" habe man gesehen, „wohin die Reise ging. Außer den Nationalsozialisten gab es aber damals ... nur noch 1 Machtfaktor, nämlich die Wehrmacht, insbesondere das Heer ... Zwischen 34 und 38 sehe ich ... ein Versäumnis, und zwar ein pflichtwidriges. Man komme hier nicht mit dem Einwurf: Die Führer des Heeres mußten sich aus der Politik draushalten. Diese enge Auslegung der Aufgabe des Militärs trifft nicht für die höchsten Führer ... zu" 1 . Die Antwort hatte bereits der inhaftierte Reichswehr- bzw. -kriegsminister Werner von Blomberg für das Nürnberger Militärtribunal Ende 1945 zu Protokoll gegeben: „Bis Hitler in die Periode der aggressiven Politik eintrat - mag man das ab 1938 oder ab 1939 rechnen, hatte das deutsche Volk keinen entscheidenden Grund zu einer Gegnerschaft" ..., am wenigsten wir Soldaten. Er hatte uns nicht nur wieder eine angesehene Stellung im Leben des deutschen Volkes gegeben, hatte alle Deutschen von dem befreit, was wir als Schmach durch den Vertrag von Versailles empfanden, sondern die Aufrüstung, die nur durch Hitler zustande kommen konnte, hatte den Soldaten einen größeren Wirkungskreis, Beförderung und vermehrtes Ansehen gebracht". Und an anderer Stelle: „Von einer Gegnerschaft war bis 1938 nichts zu spüren ... Wenn sich jetzt Generale nicht mehr dessen erinnern, so liegt es nahe, von einer zweckgesetzten Vergeßlichkeit zu sprechen" 2 . Daß es, wie in allen Eliten, auch im höheren Offizierkorps Gegner des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers gab, bedarf nicht der Hervorhebung. Daß aber, und dies anders als in den übrigen Führungsschichten, in der Generalität bis 1938 kein bemerkenswertes Revirement stattfand, weil jüdische Abstammung und demokratische Gesinnung ein lediglich peripheres Problem darstellten, wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf Sozialstruktur und politische Gesinnung der Wehrmachtspitze.
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Schreiben Waldhausens, 8. 1. 1951, an Adolf Heusinger, Nachlaß Heusinger, Depositum MGFA. Aufz. Blombergs, November 1945, Nachlaß Werner von Blomberg, B A - M A , Ν 52/7.
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Das Offizierkorps registrierte nationales Programm und wehrhaftes Gebaren der NSDAP im Prinzip mit Zustimmung, beobachtete aber, soweit es sich nicht im Dunstkreis von Reichskanzler und -wehrminister General Kurt von Schleicher bewegte, äußerst mißtrauisch den linken Strasser-Flügel und die sich mit proletarischer Attitüde und revolutionärem Anspruch, noch dazu in Konkurrenz zur etablierten bewaffneten Macht, gerierende und marodierende SA. Als aber ein Regierungschef in der Schattenfigur Adolf Hitlers immer sichtbarer am politischen Horizont aufstieg, erwog von Schleicher nur für den Fall einer gewaltsamen Machtergreifung den Einsatz der Potsdamer Garnision, und er verwarf den aufblitzenden Gedanken, Paul von Hindenburg an der Ernennung Hitlers dadurch zu hindern, daß er den Reichspräsidenten für altersbedingt unzurechnungsfähig erklären ließ 3 . Statt dessen wären er und auch der Chef der Obersten Heeresleitung, General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord, der bei Hindenburg gegen eine Berufung Hitlers vehement interveniert hatte, ebenso als Wehrminister in dessen Kabinett eingetreten wie General Werner Freiherr von Fritsch, hätten sie damals das Vertrauen des Staatsoberhauptes genossen. Als Hammerstein Anfang 1934 nicht nur, ja vielleicht nicht einmal in erster Linie, wegen politischer Unbotmäßigkeit, sondern auch unter professionellen Gesichtspunkten, nichtsdestoweniger aber unter Beförderung zum Generalobersten, seinen Abschied nahm (1939 reaktiviert), folgte ihm Fritsch als späterer Oberbefehlshaber des Heeres, über den Joseph Goebbels in seinem Tagebuch festhielt: „Er ist ganz loyal" 4 . Wo eine gewisse Distanz der konservativen Eliten gegenüber der Koalition Papen - Hugenberg - Hitler spürbar wurde, beruhte sie auf der Furcht vor dem Bruch mit den hergebrachten traditionellen Werten des Preußentums. Es stand zu bezweifeln, daß Hitler diesem wegen seiner regionalen Herkunft, dem preußischen Offizierkorps wegen seines persönlichen Werdeganges verbunden fühlte. „Militarismus? Der gehört doch nur in seiner innigen und unlösbaren Verbindung mit dem höheren Geistesleben der bürgerlichen Oberschicht zu den wertvollen Traditionen; ich meine die Linie", so schrieb einer der ganz wenigen Kritiker des Nationalsozialismus unter den Historikern, Peter Rassow, einen Tag nach Hitlers Ernennung an seinen Kollegen Siegfried A. Kaehler, „die von Gneisenau zu Schlieffen führte. Welcher Mann dieses Geistes kann von den neuen Männern auch nur einen Tag toleriert werden? Und die deutsche Bildungsschicht und endlich die Universitäten? Wer schützt uns?" 5 Hindenburg hat Hitler - ungeachtet lange gehegter Vorbehalte - letztlich nicht mehr widerstrebend, sondern in der Überzeugung ernannt, daß dieser Volk und Staat zu neuer nationaler Identität und Größe verhelfen werde. Der Reichsminister der Finanzen, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, hielt denn auch anläßlich der Vereidigung durch den Reichspräsidenten fest: „Der alte Herr begrüßte uns in einer kurzen Ansprache, in der er seiner Genugtuung über die endlich
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Tagebuchaufz. Schwerin von Krosigks, 5. 2. 1933, über die Vorgänge in Berlin am 29. und 30. Januar 1933 und die Bildung der Regierung Hitler, in: Das Kabinett Schleicher, S. 3 2 0 - 3 2 3 . A u f z . 1. 10. 1935, in: Goebbels, Die Tagebücher, S. 520. Brief Rassows, 3 1 . 1 . 1933, an Kaehler, in: Kaehler, Briefe, S. 221, Anm. 2.
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erzielte Einigung der Nationalen Rechten Ausdruck gab" 6 . Das wurde beispielhaft deutlich, als der Vorsitzende der Bayerischen Volkspartei, der spätere Bundesfinanzminister Fritz Schäffer, wenige Tage nach der Einsetzung des neuen Kabinetts beim Staatsoberhaupt wegen hartnäckiger Gerüchte um eine bevorstehende Gleichschaltung der Länder sondierte. Hindenburg versicherte bei der Gelegenheit, „er . . . habe in Herrn Hitler - nach anfänglichem Zögern - einen Mann von ehrlichstem nationalen Wollen kennengelernt und sei nun froh, daß der Führer dieser großen Bewegung mit ihm und anderen Gruppen der Rechten zusammenarbeite" 7 . Wie die Nomenklatur der mehrheitlich aus Anhängern Papens und Hugenbergs bestehenden Regierung als „nationale Erhebung" bereits verrät, intendierte der Reichspräsident keineswegs die generative Stabilisierung, sondern die Uberwindung der aus seiner Sicht mit irreparablen funktionellen Schäden behafteten ungeliebten Weimarer Republik, um die sich die Dolchstoßlegende ebenso rankte, wie sich mit ihr die vielbeschworene Schmach von Versailles verband. Die in der Forschung weit verbreitete Auffassung, der Reichspräsident habe den Reichskanzler und seine beiden der NSDAP angehörenden Minister Wilhelm Frick und Hermann Göring durch eine Mehrheit ihm getreuer Minister politisch disziplinieren wollen, muß aufgrund der nachfolgenden Entwicklung als irrig bezeichnet werden. Jedenfalls versagte Hindenburg keiner auf die Zerschlagung des Parteienstaates zielenden Gesetzesvorlage seine Unterschrift, zumal auch keiner seiner Gesinnungsfreunde im Kabinett Hitlers diktatorischen Anspruch in Frage und sich ihm und seiner Partei von Anfang an nachhaltig entgegenstellte. Insbesondere der Staatssekretär und Chef der Präsidialkanzlei, der Hindenburg-Intimus Otto Meißner, rechnete zu den Protegen Hitlers, wurde von diesem 1934 bis 1945 in gleichbleibender Funktion übernommen und zum Dank für Vasallentreue 1937 zum Reichsminister befördert. Wenn der damals im Reichswehrministerium tätige Major und spätere General Hermann Foertsch nach 1945 zu Recht bemerkte, während der Weimarer Republik hätten zahlreiche „Möglichkeiten für die Führung der Reichswehr" bestanden, „auf den Reichspräsidenten politischen Einfluß zu gewinnen, die nach der Wahl Hindenburgs durch persönliche Beziehungen verstärkt wurden, die sich wieder aus einem alten militärischen Zusammengehörigkeitsgefühl ergaben" 8 , dann muß festgestellt werden, daß weder Hindenburg über Blomberg, noch vice versa Blomberg über Hindenburg auf Hitler - mangels grundlegender Differenzen zu dessen politischen Auffassungen - mit Nachdruck im Sinne des Erhalts des demokratischen Rechtsstaates einzuwirken versuchten. Im übrigen hatte der in Kriegsverbrechen involvierte Foertsch am wenigsten Grund, nach 1945 Opposition gegen Hitler einzuklagen, zumal er sich selbst bereits Anfang der dreißiger Jahre als nationalsozialistisch indoktrinärer Politoffizier profilierte. Hitler hat seine Bestallung zum Regierungschef zwar unter Wahrung des Legalitätsprinzips gewollt, aber nur unter der Bedingung nachfolgender Reichstags-
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Tagebuchaufz. Lutz Graf Schwerin von Krosigks. 5. 2. 1933, in: Das Kabinett Schleicher, S. 323. Aufz. über den Empfang des Staatsrats Fritz Schäffer beim Reichspräsidenten, 17. 2. 1933, in: Die Regierung Hitler I, 1, S. 8 7 - 9 0 , hier S. 89. Foertsch, Schuld und Verhängnis, S. 15.
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wähl angenommen, von der er sich eine verfassungsändernde Mehrheit zur Errichtung des NS-Einparteienstaates versprach. Dessen war sich Hindenburg bewußt. Aus einer Mischung von Genugtuung und Selbstbetrug gewann er die beruhigende Uberzeugung, Kaiserreich wie Republik durch die gefundene Lösung (zumindest formal) verfassungstreu gedient, ohne einer strukturellen Umgestaltung im Sinne einer wie auch immer verstandenen nationalen Erneuerung im Wege gestanden zu haben. Hindenburg „wolle nicht mit gebrochenem Wort vor s.[einen] höchsten Richter treten", erläuterte Blomberg in seiner ersten Befehlshaberbesprechung, ,,u.[nd] wirke daher immer wieder auf Einhaltung der Verfassung hin. Sei sich aber klar, daß auch hierfür [eine] Grenze" gesetzt sei. „Jetzt solle der verfassungsmäßige Weg d.[er] Neuwahl noch einmal beschritten werden ... Nicht zu übersehen - meines Erachtens daß bei Nazis für Neuwahlen sehr stark die Hoffnung mitspreche, eigene Stellung innerhalb der Regierungskoalition noch zu stärken, womöglich von anderen Parteien ganz unabhängig zu werden" 9 . Hindenburg und Blomberg stand die zukünftige Entwicklung durchaus vor Augen, und sie förderten sie. „Hindenburg versteckte sich", so die These von Theodor Eschenburg, „hinter dem Vorwand der formalen Verfassungsloyalität und schuf faktisch die Voraussetzungen für die Verfassungszerstörung", an der die Reichswehrführung sich aktiv beteiligte10. Als Hindenburg General von Blomberg überraschend von der Genfer Abrüstungskonferenz nach Berlin beorderte11, präsentierte er einen Kandidaten für das Amt des Wehrministers, der nicht zu den Bedenkenträgern gegenüber einer Kanzlerschaft des Führers der NSDAP zählte. Mit der Vereidigung Blombergs zwei Stunden vor der des Reichskanzlers und der übrigen Kabinettsmitglieder demonstrierte Hindenburg den Militärs, daß der Reichswehrminister ausschließlich aufgrund seiner Autorität amtierte, und daß es diesen politisch ebenso zu respektieren wie es ihm als Inhaber der unmittelbaren Befehlsgewalt militärisch zu gehorchen galt. Es mag als schlechtes, wenngleich weitgehend unbemerkt gebliebenes Omen für das Rechtsverständnis der neuen Regierung gelten, daß sich die vorgezogene Bestallung Blombergs zum Reichswehrminister nicht nach den vorgeschriebenen Regularien vollzog. Laut Verfassung hatte die Ernennung eines Ministers auf Vorschlag des Reichskanzlers und seine Vereidigung nach Aushändigung der vom Regierungschef gegengezeichneten Urkunde des Staatsoberhauptes zu erfolgen. Da Blomberg vereidigt wurde, noch ehe Hitler das Amt des Reichskanzlers angetreten hatte, verstieß dies „gegen eine Grundregel der Reichsverfassung"12. Blomberg war Hindenburg und dessen zweifelhaften ostpreußischen Beratern als Befehlshaber des Wehrkreises I in Ostpreußen wohl bekannt. Der General zählte seit seiner ersten Begegnung mit Adolf Hitler 1931 zu dessen Bewunderern. Sein damaliger Stabschef und späterer Chef des Ministeramtes Walter von Reichenau - in der Nachfolge des für
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A u f z . des Generals der Infanterie C u r t Liebmann, Befehlshaber im Wehrkreis V, 3. 2. 1933, über Befehlshaberbesprechung, B A - M A , MSg 1/1668. Eschenburg, Das Problem der Unregierbarkeit, S. 178. Der genaue Hergang ist nicht mehr zu rekonstruieren, zumal Blombergs Erinnerungen über die Jahre 1 9 3 3 - 3 8 vernichtet sind. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 126.
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politisch unzuverlässig erachteten Generals Kurt von Bredow - paktierte zum eigenen Vorteil offen mit der NS-Bewegung und war nicht ohne Einfluß auf seinen Vorgesetzten. Blomberg führte am 30. Januar 1933 frühmorgens ein offensichtlich einvernehmliches Gespräch mit dem präsumptiven Reichskanzler. Dabei dürfte er die bei einem offiziellen Besuch der amerikanischen Streitkräfte 1930 gewonnenen Erkenntnisse kaum verschwiegen haben, die in wesentlichen Punkten mit Hitlers Vorstellungen deckungsgleich waren: 1. über die Notwendigkeit der Aufstellung eines technologisch modern ausgestatteten Volksheeres auf der Grundlage einer „weitgespannten industriellen Mobilmachung", 2. über die dominante Rolle einer Luftwaffe - „zwangsläufig zu Lasten der übrigen Armee" - auf der Basis einer „breit entwickelten Flugzeugindustrie" 13 und letztlich über die einem in traditionellem Denken verhafteten Offizierskorps innewohnende Gefahr, sich solchen zeitgerechten Entwicklungen zu verschließen. Blomberg war hingegen in der Reichswehr „als einer der begabtesten und neuzeitlich denkenden höheren Offiziere bekannt" 14 , ebenso Reichenau. Die als eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung erfolgte Einsetzung eines Reichskommissars für die Luftfahrt mit der von Hitler definierten Aufgabe, „der Reichswehr . . . zu der wichtigsten Waffe für die Zukunft" zu verhelfen15, geschah in vollem Einverständnis mit Blomberg. Sie bedeutete die quantitative und qualitative Erweiterung der gegen den Versailler Vertrag verstoßenden, aber schon von den Weimarer Regierungen im Prinzip gebilligten geheimen Rüstung. Da der Reichskommissar weder beim Wehrminister ressortierte, noch dort etatisiert war, sondern in der Person Hermann Görings als Minister ohne Portefeuille mit am Kabinettstisch saß, verzichtete Blomberg frühzeitig auf eine einheitliche militärische und politische Führung der Wehrmacht 16 in der Uberzeugung, daß es der alten Generalität an Einsicht und Schwung zum Aufbau dieser modernen Waffengattung fehlen werde. Das Offizierskorps der als „Schoßkind" der Streitkräfte gehätschelten Luftwaffe kontrastierte, wie später das der Panzer- und U-Boot-Waffe, nicht selten gegenüber dem traditionellen des Heeres durch jugendliche Dynamik und modernes technisches Denken. Deshalb, so resümierte Blomberg 1945, „mag die Zustimmung der jüngeren Offiziere [zum NS-Regime] lebhafter und überzeugter gewesen sein, als die der Älteren; was aber jetzt einigen Generalen als eine Ablehnung Hitlers in der Erinnerung steht, war ... der traditionelle Widerstand gegen das Neue überhaupt...: die Träger der Motorisierung, die ungewohnte Konkurrenz durch die Luftwaffe, das waren nach meinen Eindrücken die Tatsachen, die manche Generale nicht leicht ertragen konnten" 17 . Ansonsten entsprach Hitlers politische Programmatik durchaus den Vorstellungen der überkommenen Führungsriege der 1933 von ihm offiziell so titulierten Wehrmacht. Großadmiral Erich Raeder bezeugte später vor dem Interna-
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Reisebericht Blombergs, 1. 1. 1 9 3 1 , B A - M A , RH2/1825. Foertsch, Schuld und Verhängnis, S. 30. Aufz. über die Ministerbesprechung, 16. 2. 1933, in: Die Regierung Hitler I, 1, S. 6 8 - 8 6 , hier S. 82. Formal unterstand die L u f t w a f f e natürlich dem Reichswehr- bzw. -kriegsminister. Aufzeichnung Blombergs, November 1945, B A - M A , N52/7.
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tionalen Militärgerichtshof, daß Hitlers „bekanntes nationales und soziales Ziel großen Widerhall sowohl in der Wehrmacht als auch im ganzen deutschen Volk fand" 1 8 . Blomberg versprach nicht zu viel, wenn er wenige Tage nach Hitlers Einzug in die Reichskanzlei den regionalen Befehlshabern versicherte, die neue Regierung sei „Ausdruck breiten nationalen Wollens u.[nd die] Verwirklichung dessen, was viele der Besten seit Jahren angestrebt" hätten. So stünde die „Freiheit von Versailles" hinsichtlich der Aufrüstung schon jetzt nicht mehr in Frage 1 9 . Der Regierungschef versprach selbigen Abends den Befehlshabern von Heer und Marine noch mehr: die „Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie" und nachfolgend eine „straffste autoritäre Staatsführung", sowie die „Wiedererringung der politischen Macht" Deutschlands vor dem Hintergrund einer auf die Wehrpflicht gestützten Armee 2 0 . Deutschland stehe dann vor der Wahl, Exportmacht im Weltmaßstab oder „ - und wohl besser - " kontinentale Großmacht durch Eroberung rücksichtslos zu germanisierender Ostgebiete zu werden. Wer aus dem nüchtern denkenden militärischen Zuhörerkreis das Lebensraumprojekt für ein irreales propagandistisches Gebilde gehalten haben mochte, hätte sich zumindest verunsichern, wenn nicht vom Realitätsbezug dieser Zielsetzung durch die Penetranz ihter ständigen Wiederholung anderen Orts überzeugen lassen müssen. So führte der Reichskanzler vor den Spitzen der Industrie unter deren augenzwinkerndem Einverständnis aus, schon zu allen Zeiten habe das Schwert der Wirtschaft den Weg bereitet, und daran werde sich auch zukünftig nichts ändern 21 . Wenn der deutschnationale Pressezar Hugenberg in seiner Doppelfunktion als Reichsminister für Wirtschaft und Ernährung auf der Londoner Weltwirtschaftskonferenz Mitte 1933 für das „Volk ohne Raum" das Recht auf territoriale Ausdehnung einklagte, so zeigt dies die Konsensfähigkeit dieser Forderung im konservativen Lager. N u r am falschen Ort und zur falschen Zeit erhoben, bewirkte sie den Rücktritt Hugenbergs und die Auflösung der D N V P sowie der Koalition, wobei deren übrige bisherige Minister weiterhin im Amt blieben. Im Verlauf der Aufrüstungsanstrengungen nahmen diese durchaus an Zielgerichtetheit zu, wie Überlegungen zur Spitzengliederung und Führung der Wehrmacht im Kriege dokumentieren. In einer entsprechenden Denkschrift vom August 1937 für Reichskriegsminister von Blomberg zog Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch einen Feldzug gegen die Sowjetunion völlig selbstverständlich in sein Kalkül ein. Er ging sogar davon aus, daß „die Ziele eines deutschen Sieges nur in Ost-Eroberungen liegen können" 2 2 . Bemerkenswert ist, daß die Wehrmachtführung spätestens nach Hitlers Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937, auf der er unter anderem den Ein-
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Zit. η. I M T , X I V , S. 30. A u f z . L i e b m a n n s , 3. 2. 1933, in: V o g e l s a n g , N e u e D o k u m e n t e , D o k u m e n t S. 4 3 2 - 4 3 4 , hier S. 433. D i e g e d r u c k t e F a s s u n g unterscheidet sich von der maschinenschriftlichen im B A - M A , M S g 1/1668. A u f z . L i e b m a n n s ü b e r A u s f ü h r u n g e n Hitlers, 3. 2. 1933, ebd., S. 4 3 4 - 4 3 5 , hier S. 435. A u f z . über die zweite S i t z u n g des G e n e r a l r a t s der Wirtschaft, 20. 9. 1933, in: D i e Regier u n g Hitler I, 2, S. 8 0 5 - 8 2 1 , hier i n s b e s o n d e r e S. 807. D e n k s c h r i f t v o n Fritschs, A u g u s t 1937, f ü r B l o m b e r g , in: G ö r l i t z ( H r s g . ) , Generalfeldmarschall Keitel, S. 123-142, hier S. 128.
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fall in die Tschechoslowakei ankündigte 23 , in Kategorien der Erweiterung des deutschen Lebensraumes dachte, was seinen verbalen Niederschlag sogar in militärischen Weisungen Blombergs fand. So traf er Vorbereitungen für „einen Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei und damit die Lösung des deutschen Raumproblems" 24 . Eines stand außer Zweifel: Die neue Regierung würde ungeachtet aller Versailler Restriktionen in einem Maße aufrüsten, daß es zukünftig nicht nur um die im Völkerbund in Rede stehende politische und militärische Gleichberechtigung Deutschlands gehen konnte, sondern sich darüber hinaus lang gehegte revisionistische und revanchistische Ambitionen verwirklichen lassen mußten. Wie hatte sich doch ein Offizier des Wehrkreises V mit Billigung des Befehlshabers wenige Tage vor der Bestallung Hitlers zum Regierungschef vor den Vertretern der Stuttgarter Studentenschaft vernehmen lassen? Mit der Wehrfreiheit werde nicht nur „sofort der ganze innenpolitische Spuk der Jetztzeit verflogen sein ... Dann wird ... auch nicht mehr jeder winzige und lächerliche Oststaat sich ungestraft über unsere völkischen Belange hinwegsetzen können" 25 . Letztlich ist die Diskussion darüber müßig, ob und wann die Wehrmachtführung Hitlers eigentliche militärische Zielsetzung erkannte und verinnerlichte. Für die Vorkriegszeit war weniger entscheidend wozu, sondern daß gerüstet wurde. Wesentlich erschien, daß unter nationalsozialistischer Herrschaft das Wörtchen Krieg wieder in die Kategorie der Begrifflichkeit eingeordnet wurde, mit der sich Recht und Willen eines Volkes und Staates, in Sonderheit aber des Militärs, nach Selbstverwirklichung artikulieren ließ. Der die Reichswehr Weimarer Tage symbolisierende General Hans von Seeckt stellte 1935 anläßlich der Wiedereröffnung der bis dato verbotenen Kriegsakademie in Berlin mit Genugtuung fest, der deutsche Offizier habe, ungeachtet des ihm nach 1918 lediglich zugestandenen Verteidigungsauftrages, doch „nicht den kriegerischen Sinn" verloren. Schließlich liege im Begriff des Krieges „die höchste Erscheinungsform der Mannestugenden"! Und wenn der Reichswehrminister hinzufügte, der Soldat habe die Berechtigung eines Krieges nicht zu hinterfragen, sondern einzig dessen Führbarkeit zu ermöglichen, dann verpflichtete er die Wehrmacht einerseits zu bedingungsloser Vasallentreue, andererseits nahm er sie aber in Pflicht und Verantwortung für die Kriegsvorbereitungen. Daß sie geheime Aufrüstung und Kriegspräparationen nicht von der Beliebigkeit parlamentarischer Mehrheitsbeschlüsse, von administrativen Restriktionen und überkommenem etatistischen Haushaltsgebaren abhängig sehen wollte, machte die Wehrmachtführung zu Handlangern Hitlers bei der Demontage des demokratischen Rechtsstaates. Unabhängig von der immer wieder aufflackernden Debatte über das Maß der ideologischen Affinitäten zur NSDAP 26 hat die 23
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Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei, 5. 11. 1937, sogenanntes Hoßbach-Protokoll, in: Hoßbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler, S. 1 8 1 - 1 8 9 . Weisung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht, 21. 12. 1937, in: A D A P , D, VII, S. 5 4 7 - 5 5 1 , hier S. 548. Vortrag des Oberstleutnants Brand vom Stab Liebmanns, 21. 1. 1933, B A - M A , MSg 1/1670. Das Problem der ideologischen Affinitäten, die von Manfred Messerschmidt so artikulierte Teilidentität der Ziele von Wehrmacht und N S D A P bleiben im nachfolgenden, mit
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Wehrmachtführung entscheidend zur Festigung und Etablierung des NS-Staates in dessen instabilster Phase beigetragen. Ganz anders, als die bisherige Forschung dies verstanden hat, machte Blomberg bereits Mitte 1933 deutlich, daß der 30. Januar keinen normalen Regierungswechsel bedeutete, sondern synonym für nationalsozialistische Revolution stand. Von einer Gleichberechtigung der deutschnationalen Kabinettsmitglieder konnte nach seiner Auffassung gar keine Rede sein, geschweige denn von deren kontrollierender Funktion gegenüber dem nationalsozialistischen Reichskanzler. „Der Umschwung ist von der Nazi-Bewegung allein gemacht". U n d wenn er zum Ausdruck brachte, man könne nur von „ G l ü c k " sprechen, wenn die NS-Bewegung „bald zu der von ihr erstrebten Totalität" gelange, war dies der Wunsch als Vater eines Gedankens, an dessen Verwirklichung er bereits tatkräftig mitwirkte. So war es für Blomberg nur konsequent, „daß Deutschnationale und Zentrum bald verschwinden" 2 7 . In dieser grundlegenden Überzeugung traf er sich mit Joseph Goebbels, der anläßlich der Bildung der Koalitionsregierung seinem Tagebuch anvertraute: : „Hugenberg [Wirtschaft und Ernährung]..., Papen Vizekanzler. Seldte Arbeitsminister. Das sind Schönheitsfehler. Müssen ausradiert werden" 2 8 . Die jüngste Feststellung eines namhaften Historikerkollegen, die Reichswehr habe sich „bei der vollständigen Liquidierung des parlamentarischen Systems" durch „wohlwollende Neutralität" der Mittäter- und Partnerschaft bzw. durch „Passivität" der „Komplizenschaft" schuldig gemacht 29 , unterschätzt die aktiv handelnde Rolle der Wehrmachtführung und trägt, gewollt oder ungewollt, zu deren Exkulpation bei! An der geheimen Aufrüstung läßt sich sowohl das Zusammenwirken von Wehrmacht- und Staatsführung als auch beider mangelndes Rechtsbewußtsein verdeutlichen. Als Hitler, wenige Tage im Amt, erklärte, „die nächsten 5 Jahre in Deutschland müßten der Wiederwehrhaftmachung... gewidmet sein" 3 0 , und das Reichswehrministerium das schon zu Weimarer Zeiten erstellte zweite Rüstungsprogramm aus der Schublade ziehen konnte, erwirkte Blomberg eine geheime Kabinettsentschließung, wonach - entgegen den ernsthaften Bedenken des Präsidenten des Reichsrechnungshofes 3 1 - die für die Aufrüstung bestimmten Mittel, ohne Nachweis im Haushaltsplan, der Wehrmacht zur beliebigen Verwendung zur Verfügung gestellt wurden. Gleichzeitig mußte der 1928 gesetzlich verankerte Mitprüfungsausschuß zur Überwachung der geheimen Wehrausgaben seine Tätigkeit einstellen 32 . Nachdem der Reichskanzler Mitte
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A u s n a h m e des Antisemitismus, unbeachtet. Vgl. d a z u statt dessen Messerschmidt, D i e W e h r m a c h t (1969); Müller, H e e r und Hitler. A u f z . L i e b m a n n s über eine R e d e B l o m b e r g s , 1 . 6 . 1933, in B a d Wildungen, B A - M A , M S g 1/1668. Eintragung, 3 1 . 1 . 1933, in: G o e b b e l s , D i e Tagebücher, S. 3 5 7 - 3 5 9 , hier S. 358. G r a m l , Wehrmacht, S. 368. A u f z . der Ministerbesprechung, 8. 2. 1933, in: D i e Regierung Hitler, I, 1, S. 4 8 - 5 6 , hier S. 50. A u f z . des Präsidenten des R e c h n u n g s h o f e s , Saemisch, über eine B e s p r e c h u n g zur Finanzierung der A u f r ü s t u n g und zur F r a g e der Beibehaltung oder A u f l ö s u n g des Mitprüf u n g s a u s s c h u s s e s , 6. 4. 1933, ebd., S. 299-304. A u f z . der Ministerbesprechung, 4. 4. 1933, ebd., S. 2 8 9 - 2 9 0 ; Entschließung der Reichsre-
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Oktober 1933 seinen einvernehmlich mit dem Reichspräsidenten gefaßten Entschluß kundtat, die Genfer Abrüstungskonferenz und den Völkerbund zu verlassen, fand dies im Kabinett einhellige Billigung 33 . Die Schleusen für die unbegrenzte geheime Aufrüstung waren geöffnet. Reichswehrminister Blomberg wurde beauftragt, im Blick auf die verschärfte außenpolitische Lage die nötige Tarnung zu organisieren, und er behielt sich vor, alle „gegen die Bestimmungen des Versailler Diktats verstoßen[den]" Maßnahmen von seiner vorherigen Zustimmung abhängig zu machen 34 . Er übernahm also die politische Verantwortung für die geheime Aufrüstung und beanspruchte darüber hinaus die Genehmigung für alle Verstöße gegen den Friedensvertrag und die daraus resultierenden Folgen, insbesondere militärischer Natur. Daß er den Mund zu voll nahm, weil Hitler sich die entsprechenden Entschlüsse vorbehielt, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin hat die Wehrmachtführung vor der Durchführung des frühzeitig zu erkennenden Vorhabens der Besetzung der entmilitarisierten Rheinlandzone aus Furcht vor militärischen Verwicklungen nachdrücklich gewarnt. Der Chef der Heeresleitung, von Fritsch, bezeichnete die entmilitarisierte Zone im Frühjahr 1935 als „nach wie vor heißestes Eisen, an das keinesfalls gerührt werden kann.... Lage so, daß Verletzung der Tropfen ist, der z. Zt. Faß mit Sicherheit zum Uberlaufen bringt" 35 . Hitler selbst wog durchaus die Gefahren ab, aber „die Militärs" waren laut Goebbels „am bedenklichsten" 36 , um schließlich doch ihre Zustimmung zu geben, weil sie die Wiedererlangung der Souveränität in der Rheinlandzone für eine unerläßliche Maßnahme zur Stabilisierung des nationalen Selbstverständnisses aber auch der Sicherheit des Reiches nach außen erachteten 37 . Das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 befugte die Reichsregierung, wie erinnerlich, zum Erlaß von Gesetzen und Verordnungen ohne parlamentarische Beteiligung auch dann, wenn sie verfassungsändernden Charakter besaßen 38 . Mit den Stimmen der Rechten und des Zentrums verabschiedet, besiegelte es das Schicksal des föderativen und gewaltenteiligen Staates. Vom Reichspräsidenten, als Generalfeldmarschall personifizierter Ausdruck des Willens der bewaffneten Macht, unterschrieben und in Kraft gesetzt, bestand für die Wehrmachtführung keine an die Weimarer Verfassung bindende Verpflichtung mehr. Das muß, nicht zu ihrer Ehrenrettung, wohl aber zum Verständnis ihres weiteren politischen Verhaltens, gesagt werden, wie es sich beispielhaft an der Frage der Gleichschaltung der Länder durch Reichsstatthalter festmachen läßt.
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gierung, 4. 4 . 1 9 3 3 , ebd., S. 2 9 1 - 2 9 2 . Vgl. dazu Oshima, Die Bedeutung; siehe auch Beitrag Janßen. Aufz. der Ministerbesprechung, 13. u. 14. 10. 1933, in: Die Regierung Hitler I, 2, S. 903-907. Schreiben Blombergs, 1. 11. 1933, an von Neurath, in: A D A P C, II, 1, Göttingen 1973, S. 60-62. Aufz. Liebmanns über Ausführungen v o n Fritschs, 24. 4. 1935, B A - M A , MSg 1/1668. Aufz., 4. 3. 1936, in: Goebbels, Die Tagebücher, S. 5 7 8 - 5 7 9 , hier S. 578. Vgl. Hoßbach, Verantwortlichkeit, S. 2; Görlitz (Hrsg.), Generalfeldmarschall Keitel, S. 90/91. Gesetz zur Behebung der N o t von V o l k und Reich, 24. 3. 1933, in: R G B l I (1933), S. 141.
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Als der Reichskanzler die Frage des soldatischen Ehrenschutzes für diese Reichsstatthalter zu prüfen bat, brachte Blomberg gleich einen Gesetzentwurf ein, der der Beseitigung der letzten föderalen Reste des Militärwesens diente. Er sah vor und wurde auch so verabschiedet, daß die Befugnis der Landesregierungen „im Falle öffentlicher Notstände oder einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung" Truppenhilfe anzufordern, auf die Reichsstatthalter überging 39 . Schon einmal dabei, das Wehrgesetz zu ändern, wurden die Vertrauensleute als legalisierter „Ausfluß der Militärrevolte vom November 1918" aus der Truppe ebenso eliminiert wie die Heeres- und Marinekammern als eine „Art parlamentarischer Körperschaft innerhalb der Wehrmacht". Mitberatung und Mitverantwortung sind Begriffe, die dem traditionellen Verständnis von der Unteilbarkeit der militärischen Führung widersprechen, und so ist es nicht weiter erstaunlich, daß auf Initiative des Reichswehrministeriums bereits Ende März 1933 das Betriebsrätegesetz in der Weise modifiziert wurde, daß sowohl in den wehrmachteigenen wie in den für die Wehrmacht arbeitenden Betrieben „staatsfeindliche" Arbeiter - sprich Kommunisten und Sozialdemokraten - entlassen werden konnten, was bis dato aufgrund des die politische Meinungsfreiheit garantierenden Artikels 118 der Reichsverfassung ausgeschlossen war 40 . Da Hitler unter dem Motto „alles für die Wehrmacht" angeordnet hatte, die Militärbedürfnisse allen anderen staatlichen Verpflichtungen im Zweifelsfalle voranzustellen, durften zumindest aus der Sicht Reichenaus und Blombergs keine Zweifel an der Identifikation der Wehrmacht mit dem neuen Staat und seinen Zielen mehr aufkommen. Hatte der Reichswehrminister unmittelbar nach seiner Berufung der Generalität noch versichert, die Reichswehr stehe weiterhin loyal, aber selbständig neben dem Staat 41 , so galt es, sie nun als tragende Säule unter seinem Dach zu installieren. Unser „unpolitisch sein", so Blomberg, „hatte ja nie die Bedeutung, daß wir mit dem System der früheren Regierungen einverstanden waren ... Jetzt ist das unpolitisch sein vorbei und es bleibt nur eins: der nationalen Bewegung mit aller Hingabe zu dienen" 42 . Um bewußte Mitverantwortung der Wehrmacht für die Politik der Reichsregierung unter Adolf Hitler zu demonstrieren, wurde auf Initiative Blombergs das bestehende Reichsministergesetz in der Weise abgeändert, daß Soldaten bei ihrer Ernennung zum Reichswehrminister nicht wie die Beamten bei Übernahme eines Ministeramtes pensionsberechtigt ihren Dienst quittierten, sondern weiterhin aktive Wehrmachtangehörige blieben. Anfang Mai 1933 trat von Blomberg als General der Infanterie wieder ins Reichsheer ein. Ebenso Göring, Ende 1933 vom Hauptmann a. D. wegen der Tarnung der Luftrüstung zunächst zum General der Infanterie befördert, um, wie Goebbels sarkastisch vermerkte, seiner Sammlung an Uniformen ein weiteres imposantes Stück hinzufügen zu dürfen. Ab Mai 1933 war hinsichtlich der Wehrmacht die Trennung zwischen Exekutive und Legislative aufgehoben. Die Reichswehrführung saß mit der Regierung
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A u f z . über die Kabinettssitzung, 14. 7 . 1 9 3 3 , in: Die Regierung Hitler 1 , 1 , S. 6 5 9 - 6 8 7 , hier S. 681. A u f z . über die Kabinettssitzung, 31. 3. 1933, ebd., S. 2 7 9 - 2 8 1 , hier S. 280. Antrittserlaß Blombergs, 1. 2. 1933, in: Völkischer Beobachter vom 2. 2. 1933. A u f z . Liebmanns über Ausführungen Blombergs, 1. 6. 1933, B A - M A , MSg 1/1668.
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in einem B o o t und verantwortete deren Politik nach innen wie nach außen mit. Durch diese personelle Verquickung stellte sie mit Göring, u.a. Preußischer Ministerpräsident, seit 1935 Reichsminister für die Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, seit 1936 Beauftragter für den Vierjahresplan und damit oberster Wirtschaftsführer und zudem designierter Nachfolger Hitlers, den zweiten Mann im Staate, während Blomberg das bedeutendste Ressort verwaltete. Blomberg und Reichenau haben nichts versäumt, um die Wehrmacht frühzeitig und nachhaltig nicht nur als verläßliches Instrument der Reichsregierung, sondern auch des Parteiführers Hitler zu präsentieren. An beider politischer Zuverlässigkeit kamen gar keine Zweifel auf. Blomberg besaß Hitlers Vertrauen und die Wertschätzung von Goebbels, mit dem er freundschaftlich-familiären Umgang pflegte. Auch wenn der Reichskriegsminister sich bei den riskanten militärischen Manövern, z . B . Rheinlandbesetzung und Engagement im Spanischen Bürgerkrieg, nicht gerade als „Marschall Vorwärts" erwies, sondern, wie Goebbels sich ausdrückte, man ihm immer wieder „Korsettstangen" einziehen mußte, registrierte er doch: „Der General bekennt sich öffentlich außerordentlich stark zum Führer. Das gefällt mir an ihm" 4 3 . Insbesondere in Rivalität zum Stabschef der SA, Ernst R ö h m , versuchte Blomberg frühzeitig, sich eine Vertrauensstellung bei Hitler zu schaffen und auszubauen. Wie hätte sich dies wirkungsvoller bewerkstelligen lassen, als in der Judenfrage, in der sich die SA ja unrühmlich profilierte. Folglich billigte der Reichswehrminister im Kabinett nicht nur das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. 4. 1933), das zur Entlassung der nicht arischen zivilen Staatsdiener mit Ausnahme der jüdischen Frontkämpfer führte. Er übertrug vielmehr eigenmächtig und ohne rechtliche Grundlage die entsprechende Bestimmung auf die Wehrmachtsoldaten und -offiziere und verfügte, über das Beamtengesetz hinausgehend, auch die Entlassung der jüdischen Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges (28. 2. 1934). „Arierparagraph im Beamtengesetz gilt zwar nicht für Soldaten. Daran vorübergehen können wir aber nicht" 4 4 . Proteste aus dem Offizierkorps wegen dieses Treuebruchs - u.a. in einem Schreiben des damaligen Obersten und Stabschefs im Wehrkreis I I I , Erich von Manstein, an den Chef des Truppenamtes, Ludwig Beck - fruchteten nichts. Nach solch vorauseilendem Gehorsam mußte man innerhalb des NS-Regimes mit keinem ernsthaften Widerstand der Wehrmachtspitze gegen eine Verschärfung der Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bürger mehr rechnen, die man folglich auf dem Reichsparteitag im September 1935 öffentlich ankündigte, ehe zwei Monate später der Arier-Paragraph nun auch offiziell auf die jüdischen Frontkämpfer Anwendung fand 4 5 . Ein latenter Antisemitismus innerhalb der Wehrmachtführung ist gar nicht zu leugnen und geht bis in den Ersten Weltkrieg 4 6 zurück. E r kam beispielsweise bei Fritsch ebenso zum Ausdruck (der Ende 1934 auf die „Selbst-
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Aufz., 1 7 . 4 . 1937, in: G o e b b e l s , D i e Tagebücher I, 3, S. 1 1 4 - 1 1 6 , h i e r S . 114. Aufz. Liebmanns über Ausführungen Blombergs, 1. 6. 1933, B A - M A , Msg 1/1668. Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Ernst, R u f des Vaterlandes, S. 6 3 - 6 7 ; ausführlich Messerschmidt, D i e W e h r m a c h t (1969), insbesondere S. 40 ff. Vgl. dazu ders., D i e W e h r m a c h t (1992), insbesondere S. 3 8 4 f f .
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Verständlichkeit" hinwies, „daß der Offizier sich seine Frau nur in den arischen Schichten des Volkes" auswähle 47 ), wie bei Raeder, der noch bei seiner Vernehmung in Nürnberg im Mai 1946 hervorhob, „das internationale Judentum" habe aufgrund der Erfahrungen der deutschen revolutionären Geschehnisse 1918 bis 1919 „die Widerstandsfähigkeit des deutschen Volkes in erheblicher Weise zerstört und ... danach einen unverhältnismäßig großen und drückenden Einfluß auf die deutschen Angelegenheiten, sowohl in staatlicher Beziehung wie in wirtschaftlicher ..., wie auch zum Beispiel in der Justiz, gewonnen" 48 . Noch neun Monate nach seiner 1938 erfolgten Entlassung schrieb Fritsch die fatalen Sätze an die Baronin Schutzbar-Milchling: „Bald nach dem Kriege kam ich zur Ansicht, daß 3 Schlachten siegreich zu schlagen seien, wenn Deutschland wieder mächtig werden sollte. 1. Die Schlacht gegen die Arbeiterschaft, sie hat Hitler siegreich geschlagen. 2. gegen die katholische Kirche, besser gesagt gegen den Ultramontanismus u. 3. gegen die Juden. In diesen Kämpfen stehen wir noch mittendrin. Und der Kampf gegen die Juden ist der schwerste. Hoffentlich ist man sich über die Schwere dieses Kampfes überall klar" 49 . Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 machte die arische Abstammung zur Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst. Nur Arier durften Vorgesetzte sein. Durch diese Regelung schwenkte die Wehrmachtführung in der Rassenfrage voll auf die Linie der Partei ein. Ungeachtet der frühen Einbindung der Wehrmachtführung in die politische Verantwortung blieb die beanspruchte Unteilbarkeit der militärischen bis Mitte 1934 in Konkurrenz zur SA umstritten. Zwar hatte Hitler bereits im Vorfeld der Machtübernahme die Verschmelzung des Militärs mit der paramilitärischen Parteitruppe nach italienischem Vorbild ausgeschlossen. Die SA benötigte er zu antijüdischen Aktionen und politischen Säuberungen dort, wo sich der Einsatz offizieller staatlicher Organe aus innen- wie außenpolitischen Rücksichten verbot. Doch als sich die SA in der gerade unter Aufrüstungsaspekten unabdingbar notwendig erweisenden Konsolidierungsphase des Regimes nicht ohne weiteres disziplinieren und sich ihres militärischen Führungsanspruchs nicht berauben ließ, entschloß sich Hitler zur Liquidierung ihres Führerkaders. Diese erfolgte nach Absprache mit und aufgrund generalstabsmäßiger Planung wie auch durch massive logistische Unterstützung der Wehrmacht. Daß dem sich in kaum beschreibbaren Szenen abspielenden Massaker auch vermeintliche und tatsächliche Regimekritiker außerhalb der Röhm-Truppe, darunter die Generale von Schleicher und von Bredow, zum Opfer fielen, hat zwar in Wehrmachtkreisen Unruhe ausgelöst, wurde aber von der Wehrmachtführung nachträglich gebilligt. Mehr noch: Obwohl Hitler im Kabinett einräumte, das „Schuldmaß" sei nicht bei allen Umgekommenen erwiesen, dankte ihm der Reichswehrminister „im Namen des Reichskabinetts für sein entschlossenes und mutiges Handeln als Staatsmann und Soldat, durch das er das deutsche Volk vor dem Bürgerkrieg bewahrt habe". Er verband diesen Dank mit dem namens der Reichsregierung und des ganzen deutschen Volk abgelegten „Gelöbnis für Leistung, Treue
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Erlaß, 21. 12. 1934, zit. n. Messerschmidt/Gersdorff, Dokumente, S. 259f. IMT, XIV, S. 87. Reynolds, Der Fritsch-Brief, S. 370.
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und Hingabe". Nach dieser infamen Erklärung stimmte die Ministerrunde einem Gesetz zu, daß ein rechtliches Nachspiel auch bezüglich derjenigen ausschloß, die über den Rahmen der SA hinaus den Säuberungen zum Opfer gefallen waren. Es trug den Wortlaut: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni und am 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens" 50 . Die Versicherung des Justizministers Lügen strafend, man schaffe kein neues, bestätigte lediglich gültiges Recht, wurde der Staatsterror als Mittel des politischen Kampfes legalisiert, zumal die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches als Präzedenzfall dem Gesetz normative Kraft verlieh. Die als einziger Waffenträger der Nation aus dem Gemetzel hervorgetretene Wehrmacht feierte einen Pyrrhussieg. Um der formalen Aufwertung willen hatte sie ihre moralische Integrität geopfert. Eine Armee, deren Führung den Unrechtsstaat wegen des eigenen Vorteils akzeptierte, war erpreßbar geworden und hatte sich politisch paralysiert. Für den Fall aber, daß es ihr mangels Einsicht an solcher Erkenntnis fehlen sollte, traf der latent mißtrauische Hitler Vorsorge. Goebbels notierte sybillinisch in seinem Tagebuch, dem Führer stehe die fernere Aufgabe der SA nun nach deren Entmachtung deutlich vor Augen. Er sei „nur noch etwas eisig in Sachen R. [eichs] W. [ehr]. Dort sind nicht alle Blombergs" 51 . Zwei Tage nach dieser Eintragung wurde die kasernierte SS als neuer Waffenträger gegründet 52 . Als Hitler wenig später umsichtige Vorbereitungen traf, den zusehends hinfälliger werdenden Hindenburg als Staatsoberhaupt zu beerben, geschah dies nicht überraschend. Laut Goebbels war bereits Anfang Juni 1933 eine entsprechende Übereinkunft mit der Reichswehr zustande gekommen 53 . Indem Blomberg im Kabinett der Gesetzesvorlage zur Uberleitung der Funktionen des Reichspräsidenten auf Hitler zustimmte, machte er sich des zweifachen Verfassungsbruches mitschuldig: denn zum einen Schloß das Ermächtigungsgesetz alle den Reichspräsidenten betreffenden Gesetzesmaßnahmen ausdrücklich aus54, und zum zweiten sah die diesbezüglich nur mit parlamentarischer Zweidrittelmehrheit zu revidierende Verfassung den Präsidenten des Reichsgerichts als Nachfolger des Staatsoberhauptes bis zu dessen Neuwahl vor. Damit aber nicht genug: in Anwesenheit des Regierungschefs hatte Blomberg im Kabinett angekündigt, beim Tode Hindenburgs die Wehrmacht zugleich auf Hitler als Staatsoberhaupt zu vereidigen, was denn auch geschah 55 . Weder der Befehlshaber des Heeres, von Fritsch, noch der der Marine, Raeder, nahmen, vorher unterrichtet, Anstoß daran, daß es sich hierbei um einen durch keine
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Aufz., der Ministerbesprechung, 3. 7. 1934, in: Die Regierung Hitler I, 2, S. 1 3 5 4 - 1 3 5 8 , hierS. 1358. Aufz. 18. 7. 1934, in: Goebbels, Die Tagebücher I, 2, S. 474. Aretin, Der Eid, besonders S. 13. Vermerk des Ministerialrats Wienstein über gesetzliche Maßnahmen f ü r den Fall der Verhinderung oder des Todes des Reichspräsidenten, 1. 8 . 1 9 3 4 , in: Die Regierung Hitler I, 2, S. 1 3 8 2 - 1 3 8 4 , hier S. 1383, A n m . 3. Gesetz zur Behebung der N o t v o n V o l k und Reich, 24. 3. 1933, in: R G B l I (1933), S. 141. Aufz. über die Ministerbesprechung, 1 . 8 . 1934, in: Die Regierung Hitler I, 2, S. 1 3 8 4 - 1 3 8 6 , hier S. 1385.
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Rechtsgrundlage abgestützten Vorgang handelte. Zwar war die Eidesformel bereits im Dezember 1933 durch gültiges Gesetz ihres Bezugs auf die Verfassung entkleidet worden und verpflichtete den Soldaten nur noch auf das Wohl von Volk und Vaterland56. Doch enthielt sie keine Bindung an das Staatsoberhaupt. Hitler selbst und seine engste Umgebung hatten es frühzeitig abgelehnt, die Erbschaft Hindenburgs unter verfassungsrechtlichen Bindungen anzutreten. „Vor allem vom Volk bestätigen" lassen, hielt Goebbels schon im Sommer 1933 in seinem Tagebuch fest. Und er fügte hinzu: „nicht auf die Gnade der R.[eichs] W.[ehr] angewiesen sein. Die möchte sich natürlich vorschieben, um später sagen zu können, daß sie es gemacht habe"57. Nachdem es sich die Wehrmachtführung als kein geringes Verdienst zuschreiben konnte, mit von der Partie gewesen zu sein, als man ihm Röhm und Konsorten vom Halse schaffte, mußte Hitler nach der eidlichen Selbstverpflichtung der Wehrmacht auf seine Person genau die Reaktion befürchten, die Goebbels als Gefahr beschworen hatte. Er ließ sich daher durch Volksabstimmung zum Staatsoberhaupt küren58, um dann nachträglich dem geleisteten Eid per Gesetz Wirksamkeit zu verleihen59. Das war zweifellos ein Affront gegenüber der Wehrmachtführung, an dem auch ein Dankesschreiben des „Führers" an Blomberg für den Treueschwur nichts änderte60. Noch im Febuar 1934 hatte Hindenburg die in dieser Form nicht mehr veröffentlichten „Pflichten des deutschen Soldaten" verfaßt und dabei den Spannungsbogen zwischen Gehorsam und Gewissen aufgezeigt. Der war nun zusammengebrochen. „Es ist eine Eidesform", so schrieb die rechte Hand Reichenaus, der damalige Major und spätere General der Infanterie Hermann Foertsch, „die keine Vorbehalte, keinen Ausweg in sich schließt"61. Hätten die damals führenden Offiziere die Vorbehalte gegenüber Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat gehegt, von denen die Memoirenliteratur zu berichten weiß, und sich ein gesundes Rechtsempfinden bewahrt, dann hätten sie sich nach dem Tode Hindenburgs dem gesetzlich bestimmten interimistischen Staatsoberhaupt, dem Präsidenten des Reichsgerichtes, in Gehorsam zwecks Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtet gewußt. Statt dessen ließen sich die Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine, von Fritsch und Raeder, zum vierten Amtsjubiläum Hitlers das goldene Parteiabzeichen an die Uniform heften und sich stellvertretend für die ganze Wehrmacht in die NSDAP aufnehmen, deren Parteibuch die Luftwaffengenerale Hermann Göring und Erhard Milch bereits besaßen. Wie Blomberg hätte reagieren können, demonstrierte Verkehrsminister Paul Freiherr Eitz von Rübenach beim entsprechenden Akt gegenüber den noch parteilosen Kabinettsmitglie-
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Verordnung, 2. 12. 1933, aufgrund des Gesetzes über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht, 1. 12. 1933, in: R G B l I (1933), S. 1017. Aufz., 19. 7. 1933, in: Goebbels, Die Tagebücher I, 2, S. 448. Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches, 1. 8. 1934, in: R G B l I (1934), S. 747. Gesetz über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht, 20. 8. 1934, ebd., S. 785. Text des Briefes Hitlers, 20. 8. 1934, an Blomberg, in: Aretin, Der Eid, S. 19. Foertsch, Die Wehrmacht, S. 29.
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dern: Er lehnte Auszeichnung und Parteiaufnahme mit dem Hinweis auf die kirchenfeindliche Haltung der NSDAP ab und trat mit Eklat zurück. Blomberg tat es nicht. Als er gut ein Jahr später wegen einer Mesalliance demissionierte, nahm Hitler dies zum Anlaß eines größeren Stühlerückens, das schon mit der Ablösung von Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht begonnen hatte und mit dem Austausch des Außenministers Konstantin Freiherr von Neurath enden sollte. Es geschah dies in dem Bestreben, an der Schwelle zur Aggressionspolitik den Transmissionsriemen zur Übertragung seines Willens zu straffen. Die Wehrmacht verpflichtete er stärker auf seine Person und die Partei, indem er den Oberbefehl selbst übernahm, das Kriegsministerium zum Oberkommando der Wehrmacht in der Funktion eines Stabes zusammenschrumpfen ließ, an dessen Spitze ihm die Generale Wilhelm Keitel und Alfred Jodl gleichermaßen ergeben waren wie der neue Oberbefehlshaber des Heeres Walter von Brauchitsch. Hitler band Keitel in der Nachfolge Blombergs als Minister, Raeder und von Brauchitsch im Kabinettsrang in die gesamtpolitische Mitverantwortung des NS-Regimes ein. Auch wenn in der Folgezeit kaum noch reguläre Kabinettssitzungen stattfanden, ändert dies an der Qualität gesamtpolitischer Mitverantwortung nichts. Im Gegenteil: Da es keinen Reichskriegsminister mehr gab, der die Belange der Wehrmacht als Ganzes bzw. der Teilstreitkräfte gegenüber dem „Führer" vertreten konnte, übernahm Keitel nur partiell dort die Funktionen Blombergs, wo die Oberbefehlshaber der Teilstreitskräfte in Wahrnehmung des unmittelbaren Vortragsrechts bei dem Diktator ihm dazu die Möglichkeit ließen. Damit wurde organisatorisch nachvollzogen, was Blomberg schon früher im Völkischen Beobachter konstatiert hatte: „Die Wehrmacht ging auf im Staat der deutschen Wiedergeburt, im Reiche Adolf Hitlers" 62 . Wenige Tage nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch des Deutschen Reiches stellte der Historiker Kaehler die Frage, ob nach der Entlassung des Kriegsministers von Blomberg, der Ablösung des Oberbefehlshabers des Heeres und weiterer 16 Generale von hohen Kommandostellen deren Nachfolger durch eine Solidaritätserklärung die Unabhängigkeit der Wehrmacht von der NSDAP noch hätten bewirken können? Doch der ihm in Freundschaft verbundene frühere Adjutant Hitlers und spätere General Friedrich Hoßbach belehrte ihn, es sei damals bereits zu spät gewesen, „weil durch den Aufbau der Wehrmacht alle Grade des Berufssoldatentums sowohl durch die Aussicht auf sinnvolle Betätigung wie auf Befriedigung ihres militärischen Ehrgeizes derartig für das System gewonnen, andererseits schon so stark aus der Uberlieferung soldatischer Verantwortlichkeit alter preußischer Prägung herausgewachsen gewesen wären" 63 . Kaehler selbst mußte sich eingestehen, daß „der soldatische Ehrgeiz im letzten Halbjahrhundert, d. h. also seit dem Regierungsbeginn Wilhelms II., sich von jeder sittlichen Bindung freigemacht" hatte64. Nimmt man die eingangs zitierte Äußerung Blomberg hinzu, dann
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Zit. n. Chronik der deutschen Geschichte, S. 144. Brief Kaehlers, 26. 5. 1945, an seine Geschwister Martin, A n n a und Walter, in: Kaehler, Briefe, S. 3 0 2 - 3 1 0 , hier S. 306. Ebd.
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Hans-Erich Volkmann
erklärt sich die von der Wehrmachtführung eingegangene Bindung an den N S Staat nicht nur aus weitgehender Teilidentität mit den innen- und außenpolitischen Zielsetzungen, sondern zu einem Gutteil aus einem moralischen Schranken recht unbedenklich mißachtenden beruflichen Ehrgeiz. Auf der Tatsache politischer Mitverantwortung beruhte die Anklage des Nürnberger Gerichtshofs gegen die Wehrmachtführung, deren Repräsentanten allerdings weder in ihrer Eigenschaft als Regierungs-, noch als Wehrmacht- bzw. OKW-Angehörige einer verbrecherischen Organisation zugerechnet wurden. Die Beweislage hat sich seither prinzipiell nicht geändert. Ihre Verurteilung erfolgte vielmehr wegen einzelpersönlich-verantwortlicher Verstrickung in das Unrechtsgebaren des Dritten Reiches, als da aufzuzählen waren: 1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Stichworte u. a. Röhm-Affäre, Judenverfolgung und -Vernichtung); 2. Verletzung internationaler Verträge (Stichworte u.a. geheime Aufrüstung, Rheinlandbesetzung, Neutralitätsverletzung, militärische Uberfälle ohne Kriegserklärung); 3. Vorbereitung und Führen von Angriffskriegen, nicht zuletzt zwecks Eroberung von Lebensraum. In der Urteilsbegründung hieß es, daß die Angeklagten „an all diesen Verbrechen regen Anteil genommen haben . . . oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen Verbrechen begangen wurden". Und an anderer Stelle: „Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazi-Kumpane akademisch und ohne Folgen geblieben" 6 5 . Diese juristischer Logik entsprungene Schlußfolgerung läßt ein bedeutsames Kriterium der Rechtsfindung außer acht, nämlich die zeitgebundene gesellschaftliche Wirklichkeit, innerhalb derer sich politisches Verhalten vollzieht. Zu dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört, daß die aus dem Kaiserreich überkommenen, mehrheitlich national-konservativ und national-liberal geprägten Eliten auch ein mehrheitlich gleiches Verhaltensmuster aufwiesen. Dessen politischer Hintergrund hat 1938 der später als Widerstandskämpfer hingerichtete Admiral Wilhelm Canaris skizziert: „War der Offizier im Vorkriegsstaat Monarchist gewesen, so hatte ihn der Zusammenbruch 1918 aus dem persönlichen Verhältnis zu seinem Obersten Kriegsherrn herausgerissen und ihn in ein lebensfremdes . . . und abstraktes Verhältnis zu einer ebenso lebensfremden . . . .Verfassung' gebracht" 6 6 . Die übrigen konservativen Eliten litten mit dem Offizierskorps unter dem gemeinsamen Trauma der nicht verwundenen militärischen Niederlage des Ersten Weltkrieges und den nicht akzeptierten Folgen und Konsequenzen nach innen und außen. Die Wehrmachtführung konnte sich der Unterstützung der konservativen Eliten in ihrem Kampf gegen Weimar ebenso sicher sein, wie in ihrem Bestreben nach Revision und Revanche für Versailles. Und es war nicht zuletzt das Gros der nicht relegierten Historiker, das der nationalsozialistischen Politik, sieht man von der spezifischen NS-Rassenideologie ab, grundsätzlich zustimmten 6 7 . Kein geringerer als der öffentlichkeitswirksame Tübinger Gelehrte Johannes Haller zog 1939 eine erste Erfolgsbilanz: 1. Ausrottung des Kommunismus, 2. Beendigung der Arbeitslosigkeit, 65 66 67
Das Urteil, S. 119. Canaris, Politik und Wehrmacht, S. 47. Vgl. dazu Volkmann, Deutsche Historiker; weiterhin: ders., Von Haller zu Wittram.
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3. Wiederherstellung deutschen nationalen Selbstverständnisses nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, Besetzung des Rheinlandes, Einverleibung Österreichs und Auflösung der Tschechoslowakei sowie Eingliederung des Memellandes. In seinem 1923 erschienenen und noch heute käuflichen Buch „Die Epochen der deutschen Geschichte" steht der bezeichnende Satz: „Polen denken wir uns mit Recht als den Erbfeind der Deutschen im Osten", ergänzt durch eine sinngleiche Typisierung Frankreichs im Westen. So gesehen, war die Absolution für den Polenfeldzug bereits vorab erteilt. Nach dessen Abschluß schrieb der spätere Gründungsrektor der F U Berlin, Friedrich Meinecke, an seinen Göttinger Kollegen Kaehler: „Uber den glänzenden Feldzug in Polen werden auch Sie sich gefreut haben". Absender und Adressat standen der NSBewegung äußerst kritisch gegenüber. Mit dem Sieg über Frankreich erfüllte sich für Meinecke eine lang gehegte politische Sehnsucht. „Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren", schrieb er. „Und Straßburgs Wiedergewinnung! . . . Das war doch eine erstaunliche, und wohl die größte positive Leistung des 3. Reiches, in vier Jahren ein solches Millionenheer neu aufzubauen und zu solchen Leistungen zu befähigen" 6 8 . Mag solch interelitärer Beifall die möglicherweise schwache innere Stimme des Unrechtsbewußtseins innerhalb der Wehrmachtgeneralität übertönt haben, dann ließ sie sich in Anbetracht des allgemein korrumpierten Rechtsdenkens unter den Juristen vollends zum Schweigen bringen. Dazu trug insbesondere der dem national-konservativen Weimarer Lager entstammende populäre Staatsrechtler Carl Schmitt bei, Berliner Ordinarius von 1933-1945, aber schon vor der Machtübernahme als Hochschullehrer tätig. Er genoß die besondere Förderung Görings, ohne der juristischen Führungsclique der N S D A P anzugehören, was der breiten öffentlichen Akzeptanz seiner fragwürdigen Rechtsinterpretationen eher förderlich, denn abträglich war. E r hat maßgeblich zur Perversion des rechtsstaatlichen Denkens beigetragen, wenn er postulierte, der Nationalsozialismus orientiere sich nicht am Rechtsstaat, sondern dieser leite sich umgekehrt vom Nationalsozialismus ab 6 9 . Infolgedessen kommentierte er die Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches unter der Parole: „Der Führer schützt das Recht". Während eine nach seiner Deutung im liberalen Denken befangene „politisch instinktlose Zivilbürokratie" 1917 mit den Rädelsführern der meuternden Matrosen verhandelte, habe Hitler im Augenblick der Gefahr 1934 das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch „kraft seines Führertums" geschützt, indem er „als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht" schuf 70 . Welches Unrechtsbewußtsein wollte man der Wehrmachtführung beim Überfall auf Polen und später auf Frankreich denn abverlangen, wenn Carl Schmitt schon in den frühen 30er Jahren in einer weitverbreiteten Schrift dem Völkerbund vorwarf, er habe „das Versailler System mit der Würde einer echten Rechtsinstitution umkleiden wollen"? Davon abgesehen habe sich die Welt-
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Brief Meineckes, 4. 7. 1940, an Kaehler, in: Meinecke, W e r k e 6, S. 363 f., hier S. 364. Schmitt, Nationalsozialismus und Rechstsstaat, S. 3 5 - 4 2 . Ders., D e r Führer schützt das Recht, S. 947.
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organisation „als unfähig erwiesen ..., eine echte, legale Revisionsmöglichkeit zu schaffen" 71 . Was war dies anderes, als der Versuch zur völkerrechtlichen Legitimation der Liquidierung des Versailler Systems mit militärischen Mitteln? Welche Skrupel sollte eine Wehrmachtführung bei der Verletzung der belgischen und niederländischen Neutralität 1940 plagen, wenn Carl Schmitt dem ehemaligen Reichskanzler von Bethmann-Hollweg geistige Kapitulation vor dem Feind vorwarf, weil er 1914 den Einmarsch in Belgien aus subalterner Rücksicht „auf den guten Eindruck im Auslande" als Unrecht bezeichnet hatte? Und so sei letztlich der Zusammenbruch 1918 das zwangsläufige Ergebnis des Konfliktes zwischen dem militärisch Notwendigen und dem im liberalen Verfassungsstaat nur begrenzt Möglichen gewesen. Welches Unrechtsbewußtsein sollte eine Wehrmachtführung beim Einmarsch in die Tschechoslowakei, in die Sowjetunion und in die Baltischen Staaten entwickeln, wenn Carl Schmitt mit Unterstützung namhafter Vertreter der juristischen Zunft eine Großraumordnung entwarf, die den Anspruch auf deutschen Lebensraum völkerrechtlich ebenso begründete wie ein dort geltendes „Interventionsverbot für raumfremde Mächte" 7 2 ? Die hier formulierten Fragen sind nicht im Sinne einer Entlastung der Wehrmachtführung zu verstehen, sondern als Hinweis auf grundlegende politische Gemeinsamkeiten innerhalb der über das Kaiserreich hinaus mehrheitlich national-konservativ orientierten deutschen Eliten. Gerade weil der Öffentlichkeit in letzter Zeit die institutionellen und individuellen Verbrechen der Wehrmacht nachhaltig ins Bewußtsein gerückt wurden, sollten wir die Verstrickung der gesamten Eliten in das nationalsozialistische Unrechtsregime nicht aus dem Blick verlieren! Es ist - als Beispiele - an allen Schulen und Hochschulen indoktriniert, an allen Gerichten Unrecht zu Recht erklärt und an allen Landeskrankenhäusern umgebracht worden. Der sukzessive Verlust des Rechtsbewußtseins in der Wehrmachtführung läßt sich durch den gesamtgesellschaftlichen Vergleich qualitativ aber nur unzulänglich bewerten. Auch der Hinweis auf die Verstrickung in den Unrechtsstaat infolge des militärischen Leitprinzips von Pflicht und Gehorsam führt nur zu einer Teilwahrheit, weil er nicht nur aber auch Entschuldungscharakter trägt. Die historische Dimension der Einbuße der Rechtsstaatlichkeit unter tätiger Mithilfe der Wehrmachtführung erhellt nur dann, wenn man den Vergleich zum Kaiserreich bzw. zum Ersten Weltkrieg heranzieht. Wir können dann ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß das auf die Person des Kaisers ausgerichtete Offizierskorps nach 1918 wieder die personelle Anbindung an das Staatsoberhaupt suchte und über Hindenburg zu Hitler fand. Nur gab es zwischen dem wilhelminischen Deutschland und dem Dritten Reich einen gravierenden Unterschied: Er bestand darin, daß das Kaiserreich ein verfassungsmäßiger Rechtsstaat war, was man vom Staat Adolf Hitlers nicht behaupten kann. Die Feststellung in einer jüngeren Publikation, man könne die NS-Herrschaft nicht als Unrechtsregime titulieren, da es in ihm intakte Rechtsräume gegeben habe,
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Ders., Nationalsozialismus und Völkerrecht, S. 19. Ders., Großraumordnung.
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verkennt die Bemessungsgrundlage 73 : Eine Regierung, die Völker- und Menschenrecht prinzipiell außer Kraft setzt bzw. nach rassistischem Selbstverständnis formuliert, mag im Bereich des Zivil- oder des Strafrechts durchaus intakte Rechtsräume aufzuweisen haben; es bleibt unter übergeordneten Rechtsaspekten ein Unrechtsregime. Und eine letzte Bemerkung im Zusammenhang mit Befehl und Gehorsam: Die militärische Führung hat im Bewußtsein auch ihrer politischen Verantwortung den Ersten Weltkrieg in Anbetracht des nicht mehr zu erringenden Gesamtsieges beendet und dabei ihren obersten Kriegsherren samt Monarchie geopfert. Die Wehrmachtführung ließ es unter horrenden Verlusten zur lange absehbaren totalen Niederlage kommen und riskierte mit der am 8. Mai 1945 erfolgten bedingungslosen Kapitulation die existentielle Bedrohung des gesamten deutschen Staatswesens.
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Schmoeckel, Großraumtheorie.
Gerhard L. Weinberg Rollen- und Selbstverständnis des Offizierkorps der Wehrmacht im NS-Staat
Wenn wir heute den Versuch machen, das Selbstverständnis der Wehrmacht im NS-Staat zu verstehen, dann müssen wir zuerst die Leitmotive dieses Selbstverständnisses in der vorhergehenden Zeit betrachten. Die tonangebenden Persönlichkeiten in der Wehrmacht des Dritten Reiches kamen ja nicht vom Mond, sondern hatten im Ersten Weltkrieg gedient und waren in den Jahren der Weimarer Republik in wichtigen, zum Teil sogar leitenden Stellen der Reichswehr aktiv gewesen. Mit welchen Gedanken gingen sie ins Dritte Reich? Ganz kurz, und daher vielleicht etwas zu summarisch, könnte man die Leitgedanken der damaligen höheren Offiziere wie folgt zusammenfassen: Erstens stand über allem anderen die Erinnerung an den verlorenen Krieg. Wie konnte das in so vielen Schlachten siegreiche Deutsche Reich doch am Ende besiegt werden? Um diese zentrale Frage kreisten immer wieder ihre Gedanken, und diese mündeten viel zu oft in zwei verhängnisvolle Fehlschlüsse. Einer war der lange gehegte Glaube, daß der Schlieffen-Plan ein unfehlbares Siegesrezept gewesen war, und daß dessen Abänderungen den sicheren Sieg 1914 preisgegeben hatten. In der fast endlosen Diskussion hierüber gerieten zwei besonders wichtige Aspekte der Situation völlig außer Sicht: Siegesrezepte gibt es nicht - das hätten sie eigentlich von Clausewitz lernen können - , und der Einfall in Belgien war nicht der beste, sondern ein höchst zweifelhafter Weg, den eigentlichen Zweck des Zweibundes, Österreich-Ungarn gegen eine Zertrümmerung durch Rußland zu schützen, zu erreichen. Der zweite aus der Niederlage gezogene, noch gefährlichere Fehlschluß war die Dolchstoß-Legende. Ohne zu beachten, daß die deutsche Heimatfront im Weltkrieg stabiler gewesen war als die von allen anderen am Krieg beteiligten Großmächten, fanden viele der Offiziere es angenehmer, an die Fabel der Verantwortung der Heimat für die Niederlage an der Front zu glauben. Diese Sicht lenkte ihre politischen Gedanken in eine genau der Wirklichkeit entgegengesetzte Richtung. Anstatt darauf zu achten, daß es gerade die demokratischen Institutionen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten gewesen waren, die diesen Ländern über weit größere innere Schwierigkeiten hinweggeholfen hatten, die richtigen leitenden Persönlichkeiten zu finden und unter ihnen den Sieg zu erringen, glaubten die meisten deutschen Offiziere der Nachkriegszeit, daß ein demokratischer Parteienstaat den Anforderungen eines großen Krieges nicht gewachsen sein könnte. Man wollte die Wirklichkeit nicht einsehen und verarbeiten, obwohl sie eigentlich recht leicht zu erkennen war. Zur vermeintlichen Notwendigkeit einer autoritären Staatsführung gehörte der Glaube an einen neuen Krieg. In der Gefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb in sein Tagebuch: „Nach den Erfahrungen dieses Krieges wird man zukünftig bei der enormen
Rollen- und Selbstverständnis des O f f i z i e r k o r p s
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Überlegenheit (zahlenmäßig) der engl. Flotte in den Vordergrund eines Bauprogramms stellen müssen . . . " l , und dann folgen längere Ausführungen, wie man es im dritten Weltkrieg besser machen sollte. Solche Gedanken im Dezember 1945 erhellen auch die Gedankenwelt nach dem Ersten Weltkrieg. Ein neuer Krieg wurde fast für selbstverständlich gehalten, und der Sieg nur unter einer autoritären Regierung für möglich erachtet. Es war fast allen deutschen Offizieren klar, daß ein neuer Krieg nicht nur eine autoritäre Regierung, sondern auch ein großes Aufrüstungsprogramm erforderte und daher die Beseitigung der Bestimmungen des Friedensvertrages von 1919. Auch in dieser Hinsicht hatte die Niederlage die militärische Führung blind gemacht. Man konnte und wollte nicht sehen, daß die anderen Mächte in Wirklichkeit abrüsteten, daß England und die Vereinigten Staaten recht bald ihre Heere freiwillig auf fast genau dieselbe Zahl der Deutschland vorgeschriebenen reduzierten, und daß auch in der ganzen Rüstungslage ungefähr dieselbe Richtung eingeschlagen wurde. In der heutigen Rückschau auf den Zweiten Weltkrieg sieht man die Riesengeschwader der viermotorigen Bomberflugzeuge über Deutschlands Städten, ohne zu beachten, daß es am 1. September 1939 kein einziges derartiges Flugzeug in der englischen oder amerikanischen Luftwaffe gab. Genausowenig konnte und wollte man erkennen, daß, nachdem das Kaiserreich alles mögliche und unmögliche getan hatte, um die bolschewistische Partei in Rußland an die Macht zu bringen, die Trennung Deutschlands von der Sowjetunion durch einen Gürtel unabhängiger Staaten ein sehr großer Vorteil war. Hier verhinderte nicht nur die Niederlage im Krieg, sondern auch der zum Teil auf rassischen Vorurteilen basierende Haß auf Polen die Einsicht in die wirkliche Lage in Europa. Auf dieses Thema wird noch zurückzukommen sein. Es ist nur in diesem Zusammenhang verständlich, daß in den Jahren nach 1919 Eidbruch unter den Offizieren des Heeres und der Marine - salopp gesagt - zur Mode wurde. Eine kleine Anzahl verweigerte den Eid auf die Verfassung der Republik und nahm ihren Abschied. Wie man auch hierüber denkt, es war zweifellos eine ehrliche Haltung. Die meisten leisteten einen Eid auf die Verfassung von Weimar, haben diesen aber in vielen Fällen einfach vergessen. Nur einige Beispiele: der Kapp-Putsch im März 1920, der sogenannte PreußenSchlag im Juli 1932. Wohl noch wichtiger in dieser Hinsicht war, daß die in Rede stehenden höheren Offiziere einen Eid nicht nur auf die Verfassung, sondern auch auf die Gesetze der Republik leisteten. Zu diesen Gesetzen gehörte der Vertrag von Versailles und auch der Locarno-Vertrag, beide vom Reichstag verabschiedet und im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Der Bruch des Eides wurde, so oft wie nur irgendwie möglich, zur Gewohnheit. Admiral Erich Raeder, seit 1928 Befehlshaber der Marine, gab sogar 1937 eine geheime Marinedienstschrift über diese Gesetzesverletzungen heraus 2 ! Kein Wunder, daß in den letzten Jahren der Republik im Reichswehrministe-
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Aufz., 10. 12. 1945, in: Leeb: Tagebuchaufzeichnungen, S. 80, Anm. 194. Der vollständige Text ist gedruckt als Dokument C-156, in IMT, 34, S. 530-607.
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G e r h a r d L. W e i n b e r g
rium Sorgen über die moralischen Folgen des häufigen Eidbruchs für die zukünftige Haltung des Offizierskorps auftauchten 3 . Mit einer Verachtung der Demokratie, einem Glauben an die Vorteile einer autoritären Regierung, der Erwartung eines neuen Krieges und der Akzeptanz des Gedankens, daß der Zweck die Mittel heiligt, sahen die Offiziere der Reichswehr die NS-Machtübernahme. Einige hatten Zweifel, aber soweit man es heute beurteilen kann, waren die meisten mit dem, was sie für den neuen Weg Deutschlands hielten, zufrieden. Zwei Aspekte der neuen Regierung beeinflußten die positive Haltung der nun so benannten Wehrmacht. Sie glaubte, daß die schnell einsetzende und dann rasend weitergeführte Aufrüstung das richtige Ziel anstrebte. Auch wenn es ab und zu Friktionen über Teilprobleme der Aufrüstung gab, wurden alle Zweifel durch eine höchst wichtige, aber oft übersehene Begleiterscheinung des Aufrüstungsprozesses überdeckt: die schnelle Beförderung. Für Männer, die lange Jahre im niedrigen Rang warten mußten - manchmal unter dem Rang, den sie im Weltkrieg erreicht hatten - brachte der schnelle Aufbau der deutschen Streitkräfte so etwas wie eine Erlösung von scheinbar endlosem Warten. Ihre Karrieren wurden nach einem Bummelzug nun von einem D-Zug befördert; daß dieser in die Katastrophe raste, merkten die meisten erst viel zu spät. Der andere Aspekt der neuen Regierung, der in ihr Wunschbild paßte, war der ihnen sorgfältig vorgegaukelte Mythos der Zwei-Säulen-Theorie. Die Partei und die Wehrmacht sollten die sich gegenseitig stützenden, aber voneinander unabhängigen Säulen der neuen Regierung und ihrer Politik darstellen. Nach den politischen Kämpfen über militärische Fragen in den Jahren der Republik erinnert sei nur an die Frage des Baus der Panzerkreuzer - konnten die höheren Offiziere der Wehrmacht sich leicht einbilden, daß jetzt sie selbst, wenn notwendig nach Diskussionen mit der politischen Leitung, solche Probleme lösen würden. Adolf Hitler hatte allen Grund, diese Illusion zu nähren. Er hatte nach dem Fiasko des Novemberputsches von 1923 konsequent den Weg der Scheinlegalität eingeschlagen und wollte die Wehrmacht nicht herausfordern. Die ersten der von ihm geplanten Kriege mußten ja mit den alten Mitgliedern des Offizierskorps durchgeführt werden; er brauchte sie und verstand sie besser als sie ihn. In den späteren Jahren des Zweiten Weltkriegs stöhnte er immer darüber, daß er seine Generäle nicht wie Stalin in den dreißiger Jahren hatte erschießen lassen4, aber in der Zeit der Vorbereitung zum Krieg wußte er ganz genau, daß er sie nicht übermäßig provozieren konnte. Gerade im Zusammenhang mit dem Mythos der zwei Säulen sollte sich zeigen, wie weit die Generalität in ihrem Glauben, daß der Zweck die Mittel heiligt, gehen würde. Kurt von Schleicher war 1932 der erste professionelle Soldat als Reichskanzler Deutschlands seit Leopold von Caprivi. 40 Jahre nach dem Sturz Caprivis wurden Schleicher und seine Frau 1934 vom neuen Reichskanzler Hitler ermordet. 3
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Siehe Bracher, Die Auflösung, S. 2 1 0 - 2 1 1 und Anhang IV; auch ders., Die Machtergreifung, S. 7 7 8 - 7 7 9 . Ein Beispiel von vielen ist die Eintragung über eine Unterhaltung zwischen Hitler und Goebbels unter dem Datum 4. 3 . 1 9 4 4 , in: Goebbels, Die Tagebücher II, 11, S. 403.
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Diesen unglaublichen Vorgang haben die meisten Offiziere ruhig hingenommen - weil zur gleichen Zeit eine große Anzahl SA-Führer auch ermordet wurde. Das ruhige Zusehen bei dem Kanzlermord dürfte vieles, was später folgte, leichter verständlich machen. Die anderen Morde derselben Tage aber bestärkten manche in der Wehrmacht in ihrer Illusion über den Willen der NSRegierung, die Unabhängigkeit des Heeres gegen Gelüste aus der Partei zu schützen. Daß genau das Gegenteil der Fall war - der 30. Juni markierte den eigentlichen Anfang der Bewaffnung der SS (nebenbei bemerkt, mit Heereswaffen) - hat die Wehrmachtführung in ihrer Freude über die Morde an SA-Führern völlig übersehen. Die Entwicklung, die mit der Bewaffnung der SS ihren Anfang nahm, sollte der Wehrmacht immer größere Probleme bereiten. Bekanntlich wuchs die Waffen-SS von kleinen Anfängen bis es nicht nur Divisionen, sondern auch Generalkommandos und schließlich ein Armeeoberkommando gab, während Heinrich Himmler zum Oberbefehlshaber von Heeresgruppen aufstieg. Gegenüber dieser Entwicklung hat Walter von Brauchitsch als Oberbefehlshaber des Heeres - wie in jeder anderen Hinsicht - völlig versagt. Der ganze Komplex der Beziehungen zwischen dem Heer und der Waffen-SS harrt noch einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung; diese müßte auch die ganze Frage der vom Heer in die Waffen-SS übernommenen Offiziere behandeln sowie derjenigen Offiziere, die sich weigerten überzutreten. Nach einem halben Jahrhundert, in dem sich hoffentlich die Gemüter in dieser Frage etwas beruhigt haben, wäre eine solche Untersuchung wohl höchst willkommen. Eines kann aber auf jeden Fall schon jetzt gesagt werden: der konsequente Aufbau der Waffen-SS während des Krieges deutete in eine Richtung, die dem alten Selbstverständnis der Wehrmacht ein Ende bringen würde. In den größeren Zusammenhang der Parteiarmee gehört auch der Aufbau einer weiteren Armee mit mehr als zwanzig Luftwaffendivisionen; aber diese Entwicklung, zu der auch die Fallschirmjägerdivisionen gehörten, kann hier nicht behandelt werden. Sie zeigt aber, daß die Zwei-Säulen-Theorie ein Bluff war, auf den die Heeresführung hereinfiel. Aber zurück in die Jahre vor dem Krieg. Wie sah sich die Wehrmacht in den Jahren zwischen 1934 und 1939? Es gab hier und da Zweifel an der Zweckmäßigkeit einzelner Teile des Aufrüstungsprogrammes; insbesondere das Tempo erschien einigen in der Wehrmachtführung als zu rasant. Sie befürchteten, daß es unter diesen Umständen einfach nicht möglich sein würde, das Offizierskorps schnell und groß genug aufzubauen und gleichmäßig auszurichten. Im großen Ganzen aber begrüßten die meisten wohl eine Entwicklung, die angeblich zu einer Stärkung des Reiches führen sollte. Sie konnten und wollten nicht einsehen, daß die Herausforderung anderer Mächte diese zu Gegenmaßnahmen zwingen würde, und daß diese dann Deutschlands Niederlage, nicht seinen Sieg, sicherten. Wenn noch heute die Fehlgriffe der damaligen Zeit, zum Beispiel der Aufbau einer neuen Luftwaffe in einer Welt ohne schwere Bomber, manchmal als angebliche „Erfolge" der NS-Regierung zitiert werden, dürfte es leichter sein, die Blindheit der damaligen Wehrmachtführung zu verstehen. Gerade das Tempo beanspruchte aber die Aufmerksamkeit der Offiziere in einer anderen Weise: Sie hatten immer unendlich viel zu tun. In dem Drang der täglich überhasteten Arbeit gab es kaum Zeit, darüber nachzudenken, wo denn
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der D-Zug wohl hinging? Es sei darauf hingewiesen, daß dieser Aspekt der Aufrüstung, die Uberbeanspruchung der aus der Weimarer Zeit übernommenen sowie der jetzt wieder aktiven Offiziere, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die notwendige Aufmerksamkeit erhielt. Nicht nur in den Jahren des Krieges, sondern auch in der Vorkriegszeit gab es mehr als genug zu tun und recht wenig Zeit zum Nachdenken. Bekanntlich kam es aber trotz aller Übereinstimmungen doch zu Friktionen zwischen der Wehrmachtführung und der Parteileitung. Während Admiral Erich Raeder sich ganz besonders gut mit Hitler verstand, was noch in Teilen auf eine sorgfältige Untersuchung wartet, wurden der Reichskriegsminister Werner von Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres Werner von Fritsch Anfang 1938 in einer besonders schmutzigen Weise entlassen. Dies ist nicht die Stelle für eine Untersuchung dieser Krise, aber ein Teil der Entwicklung ist für das damalige Selbstverständnis der Heeresführung von großem Interesse. Als General Hans von Seeckt im Herbst 1926 durch die damalige Regierung entlassen wurde, war von Fritsch, so behauptet General Friedrich von Rabenau, „derjenige, der Seeckt mit aller Offenheit zur Gegenwehr und, wenn es sein mußte, auch zu gewaltsamen Widerstand riet" 5 - also Eidbruch und Putsch forderte, um die Stellung zu halten. Gegenüber Hitler nahm von Fritsch aber eine genau entgegengesetzte Position ein. Er blieb dessen ausgesprochener Bewunderer, wollte nichts von Gegenwehr hören und schrieb im Dezember 1938 den berüchtigten Brief, in dem er das Vorgehen Hitlers gegen die Arbeiterschaft, gegen die Katholische Kirche und gegen die Juden begrüßte. Nach dem erst einen Monat zurückliegenden Pogrom konstatierte er, daß die Judenfrage wohl die am schwierigsten zu lösende sei und erst in der Mitte stand. Zur damaligen Zeit, als 30 000 Juden in den Konzentrationslagern eingesperrt waren, darunter Tausende, die im Weltkrieg wie Fritsch gedient hatten, konnte das nur die Befürwortung von Massenmord bedeuten 6 . Die Friktionen des Jahres 1938 kreisten nicht so sehr um den Kriegskurs der NS-Regierung als um die Rolle der Heeresführung bei der Bestimmung des Kurses. Wie Klaus-Jürgen Müller in verschiedenen Arbeiten gezeigt hat, stammte der Bruch zwischen dem Generalstabschef Ludwig Beck und Hitler aus dem unterschiedlichen Verständnis beider von der Rolle der militärischen Führung bei der Bestimmung der Risikos, die das Reich unter den damaligen Umständen eingehen konnte 7 . Beck ging dann zur prinzipiellen Gegnerschaft über - früher übrigens, als Müller herausgearbeitet hat. Aber ohne Rückhalt in der neuen Heeresführung, von Brauchitsch war ja ein ausgesprochener Anbeter Hitlers und ein Mann ohne Rückgrat, stand Beck fast allein mit seiner Haltung. Das sollte am eindrucksvollsten am 20. Juli 1944 klar werden: Die Wehrkreisbefehlshaber und die anderen höchsten Befehlshaber erhielten über dieselben Fernschreiber in ihren Hauptquartieren entgegengesetzte Befehle, einmal aus Becks Stellung in der Bendlerstraße und zum anderen aus Hitlers Hauptquar5 6 7
Rabenau, Seeckt, S. 536. Reynolds, Der Fritsch-Brief. Müller, Heer und Hitler; ders., Beck.
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tier in Ostpreußen. Mit verschwindend wenigen Ausnahmen folgten die Empfänger denjenigen Hitlers. Zu dieser Zeit war der Krieg schon fast da. 1938 hatte ein Angriff auf die Tschechoslowakei, insbesondere mit der Möglichkeit, daß Frankreich und England eingreifen würden, wenig Enthusiasmus hervorgerufen, aber ein Angriff auf Polen, das war etwas anderes. Wie schon bemerkt, hatten die leitenden Persönlichkeiten der Wehrmacht nur Haß und Verachtung für Polen und nicht das geringste Verständnis für die fast lebenswichtige Rolle des polnischen Staates in Europa. Krieg gegen Polen, und besonders in einem Bündnis mit der Sowjetunion, erschien ihnen als besonders vorteilhaft. Man konnte gleichzeitig den polnischen Staat von der Landkarte wischen und der Gefahr eines Zweifrontenkrieges entgehen. Einige besonders brutale Handlungen der SS in Polen riefen unter manchen Offizieren Bedenken hervor; auch gab es mehrere höhere Befehlshaber, die sich zuerst gegen die Verletzung der Neutralität von Holland, Belgien und Luxemburg aussprachen. Es muß aber auch beachtet werden, daß Admiral Raeder die Invasion von Dänemark und Norwegen vor dem Beginn des SowjetischFinnischen Krieges und seinen Folgen befürwortete, Entwicklungen, die er in der Nachkriegszeit als Grund für diesen Neutralitätsbruch im Norden angab. Der entscheidende Bruch mit den Resten der deutschen militärischen Vergangenheit trat aber mit dem Sieg im Westen ein. Gerade weil die Niederlage im Westen im Ersten Weltkrieg so lange die Gedankenwelt der Wehrmachtoffiziere dominierte, war der schnelle Zusammenbruch Frankreichs mit dem fälschlich angenommenen bevorstehenden Sieg über England von so grundlegender Bedeutung. Erstens schien jetzt alles möglich; man braucht nur auf die weltumspannenden Pläne der Marineführung zu blicken, um hiervon ein Bild zu bekommen 8 . Zweitens glaubten die höheren Wehrmachtoffiziere, daß ihre militärischen Künste, zusammen mit der genialen Führung Hitlers, den großen Sieg herbeigeführt hätten. Daß es gerade der Deutschland gewährte, verpönte Frieden von 1919 und die Erfolge der gleichsam von ihnen verpönten Weimarer Republik waren, die dies alles möglich gemacht hatten, konnten sie nicht einsehen. Unter diesen Umständen fielen die letzten Barrieren der Bedenklichkeit. Es gab immer einzelne Ausnahmen - auf sie wird noch zurückzukommen sein - , aber die Masse der Offiziere, und soweit wir heute sehen können, auch ein großer Anteil der Mannschaften, war jetzt bereit, auch die entsetzlichsten Dinge mitzumachen. Die offene Beschreibung des kommenden Feldzuges im Osten als Vernichtungskrieg wurde ruhig hingenommen und dann in der Praxis durchgeführt. Alle vernünftigen und zivilisierten Maßstäbe wurden beiseite gelassen. Nach der eigenen Berechnung erschoß das Heer oder ließ sterben zehntausend sowjetische Kriegsgefangene - jeden Tag, sieben Tage in der Woche, in den ersten sieben Monaten des Ostfeldzuges 9 . Der Massenmord wurde zum selbstverständlichen Teil der Kriegführung. In diesem Zusammenhang gibt die Wahl der Worte hierfür einen schauerlichen 8 9
Siehe Salewski, Die deutsche Seekriegsleitung, 2, Dokumente 4 und 5. Einzelheiten bei Streit, Keine Kameraden.
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Einblick in das Selbstverständnis der Heeresführung. Die Ermordung der Juden, die damals unter „Endlösung" lief, wurde den Soldaten gegenüber als „gerechte Sühne an dem jüdischen Untermenschentum" bezeichnet 10 . Es kann die These aufgestellt werden, daß diese Erklärung wahrscheinlich gerade auf Gegenstimmen aus dem Heer antworten sollte 11 . Die Feldmarschälle Walter von Brauchitsch, Gerd von Rundstedt, Walter von Reichenau usw. sprachen in dem Zusammenhang von „Gerechtigkeit": die Erschießung von Tausenden von Kindern galt als eine gerechte Handlung; hier wird der Bruch mit allem Vorangegangenen doch besonders klar. Und daß von Rundstedt nach dem Krieg, im Nürnberger Hauptprozeß, unter Eid hierüber Lügen erzählte 12 , paßt wohl ins Bild; wir werden auf die Nachkriegssicht noch zurückkommen. Zum Selbstverständnis der Wehrmacht im NS-Staat gehört nicht nur ihr Begriff von Gerechtigkeit, sondern auch der der militärischen Ehre. Hier haben sich die Geister gespalten. Einige verantwortungsbewußte Offiziere in der Wehrmacht entschlossen sich bekanntlich, die Regierung zu stürzen und Hitler zu töten. Die überwältigende Mehrheit aber hielt zu Hitler. Hinzuweisen ist auf ein Nachspiel zum 20. Juli: Ein sogenannter „Ehrenhof" wurde aufgestellt, um diejenigen Mitglieder der Wehrmacht auszustoßen, die von der Gestapo einer Beteiligung am 20. Juli verdächtigt waren und als überführt zu gelten hatten. Also eine negative Auslese, die von Generalfeldmarschall von Rundstedt geleitet wurde. Es gibt, so viel man weiß, keine wissenschaftliche Untersuchung über den sogenannten Ehrenhof, aber wir wissen, daß kein Beschuldigter erscheinen durfte, und natürlich auch kein Verteidiger. Ein Generalfeldmarschall, General oder anderer Offizier konnte nach jahrzehntelangem Dienst in der Wehrmacht, ohne eine Sekunde gehört zu werden, einfach hinausgeworfen und dem Henker übergeben werden. Ein Verständnis vom Begriff der „Ehre", der das damals viel benutzte Wort „einmalig" bestimmt verdient. Auch in einem anderen Sinn spaltete sich die Wehrmacht. Die höhere Generalität lechzte nach riesigen, geheimen Zuwendungen von ihrem Führer. Gestohlene Rittergüter, wie General Heinz Guderian sich eines aussuchte, steuerfreie Beträge in die hunderttausende von Mark usw. gehörten zur Tagesordnung 13 . Auch ein interessantes Merkmal des Selbstverständnisses der Beteiligten. Manche einfachen Soldaten haben wohl von Zeit zu Zeit dies oder das gestohlen manchmal nur, um etwas zu essen zu haben - leider ein Begleitumstand aller Kriege und der meisten Armeen. Was aber hätten die Soldaten in den letzten Monaten des Jahres 1944 und den ersten Monaten 1945 gesagt, wenn sie damals
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Siehe ebd., S. 1 1 5 - 1 1 7 . Weinberg, World at Arms, S. 302. Die falsche Aussage von Rundstedts ist zu finden in: IMT, 21, S. 4 5 ^ 6 . Die Wahrheit ist nachzulesen bei Krausnick/Wilhelm, Die Truppe des Wekanschauungskriegcs, S. 259-260. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Angelegenheit als Ganzes steht noch aus. Vgl. Weinberg, Zur Dotation Hitlers an Leeb; auch Meroth, Vorschuß. 1997 sind mehrere Zeitungsartikel zum Thema erschienen. Diese unterscheiden aber nicht, wie doch eigentlich notwendig, zwischen öffentlich bekannten Dotationen an Heerführer und anderen öffentlichen Ehrungen, wie Erhebung in den Adelsstand nach einem Krieg und streng geheimen Zuwendungen während des Krieges.
Rollen- und Selbstverständnis des Offizierkorps
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gewußt hätten, daß in jedem Monat, den ihre Armee- und Heeresgruppenbefehlshaber den Krieg verlängern konnten, diese einen Bonus von einigen tausend Mark von Hitler auf ihre Privatkonten erhielten. Es ist kein Wunder, daß diese Zuwendungen nicht nur damals, sondern auch in den Nachkriegs jähren sorgfältig verheimlicht wurden. Es muß aber auch ein Wort über Versuche der Generalität, die ihnen anvertrauten Soldaten zu schützen, gesagt werden. Es hat bestimmt einige höhere militärische Führer gegeben, die glaubten, daß ihr Verbleiben in Hitlers Dienst den Untergebenen in der N o t des Krieges behilflich sei. Auch diese Frage müßte neu untersucht werden. Hierzu gehört die Beachtung der Wirklichkeit unter der Frage, ob das, was wie eine Rettung aussah, nicht tatsächlich für die meisten Soldaten gerade das Gegenteil bedeuten konnte. N u r ein Beispiel: Guderian plädierte lange und laut für die Räumung des Kurland-Brückenkopfes. Er stürzte ja gerade über dieser Frage als Generalstabschef. Hätte Hitler seinen Wunsch erfüllt und die letzten Divisionen aus Kurland herausgezogen und an die Hauptfront im Osten gebracht, dann wären diese Divisionen in der Winteroffensive der Roten Armee - mit riesigen Verlusten - untergegangen. Statt dessen gingen die Kurland-Divisionen im Mai 1945 in die sowjetische Gefangenschaft; bestimmt kein Erholungsurlaub, aber mit einer viel höheren Chance des Uberlebens für diese Soldaten. Dies bringt uns zur Nachkriegszeit mit ihrer systematischen Verdrehung der Vergangenheit in der fast endlosen Memoirenliteratur. D a gab es eine neue Dolchstoß-Legende, nur war es diesmal der Führer, der, weil er angeblich nicht auf seine brillante Generalität hören wollte, den Krieg verloren hatte. U n d dazu kam eine weitere Legende: die „saubere" Wehrmacht gegenüber der „schmutzigen" SS. In der Memoirenflut war nichts über den Massenmord an Kriegsgefangenen und Juden zu lesen. Die großen Geldzuwendungen verschwanden im Orkus des Verschweigens. Niemand kann in irgend einem der vielen Bücher nachlesen, wie die Gerichtsherren, also die höheren Befehlshaber, Tag für Tag Todesurteile über die eigenen Offiziere und Soldaten unterschrieben haben. Die zumeist falschen Schlüsse aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg ermutigte große Teile der Wehrmacht, einen schiefen Weg einzuschlagen 14 . Dann ging es erst langsam, und später immer schneller bergab. N u r die wenigsten machten sich über den Abstieg ins Ungeheuerliche Gedanken. Die Einwohner der Gebiete Osteuropas, die das deutsche Heer schon im Ersten Weltkrieg besetzt hatte, kamen schnell zu der Meinung: Dies ist ein ganz anderes Heer. Es soll hier nicht bestritten werden, daß es schon im Ersten Weltkrieg allerlei radikale Gedanken über ein sogenannte „Flurbereinigung" im Osten in Deutschland gab; aber erstens waren es bloße Überlegungen, und zweitens merkte die betroffene Bevölkerung von dieser Einstellung wenig. Im Zweiten Weltkrieg war es anders. Im Osten, auf dem Balkan, im besetzten Italien und anderswo wütete ein militärischer Apparat, der alle ethischen Anker verloren hatte. Wenn
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Der Prozeß ist dargestellt an dem hervorragenden Beispiel August von Mackensen bei Schwarzmüller, Zwischen Kaiser und „Führer".
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Gerhard L. Weinberg
auch in der Nachkriegszeit die ehemalige Wehrmachtführung versuchte, ihre eigene Vergangenheit umzudeuten, kann keine deutsche Streitkraft an die Wehrmacht der NS-Zeit anknüpfen. Die Geschichte und das Selbstverständnis der NS-Wehrmacht steht als Warnung vor unseren Augen.
Karl-Heinz
Janßen
Politische und militärische Zielvorstellungen der Wehrmachtführung
„Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr" 1 - so beginnt das Wehrgesetz der Weimarer Republik. Es ist hier bewußt an den Anfang gestellt worden, denn die Geschichte der Wehrmacht beginnt eben nicht erst 1935 oder 1933, sondern schon Mitte der zwanziger Jahre. Im dienstlichen Verkehr sprach man wie selbstverständlich von der Wehrmacht, mochte auch in der Regel damit nur das Reichsheer gemeint sein und nicht die kleine Reichsmarine. Zur eigentlichen Wehrmachtführung darf man die Chefs der Heeresleitung, an ihrer Spitze General Hans von Seeckt, und die Chefs und Abteilungsleiter des Truppenamtes zählen (in dem heimlich der Große Generalstab des Kaiserreichs weiterlebte) und zumindest zwei der Reichswehrminister, die sehr wohl eine militärische Rolle spielen wollten: den Generalleutnant a.D. Wilhelm Groener, der als Nachfolger Erich Ludendorffs letzter Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung gewesen war, und dessen „Ziehsohn", General Kurt von Schleicher, der zuvor das Ministeramt verwaltet hatte. Vor allem diese drei Generäle haben für Kontinuität gesorgt - sie waren die Bindeglieder zwischen dem wilhelminischen Reich und dem Dritten Reich. Sie wollten sich nicht mit der Niederlage ihres Vaterlandes im Weltkriege abfinden und trachteten im vornhinein nach einer Erneuerung der deutschen Großmacht in Europa, ja darüber hinaus nach einer Weltmachtposition. „Wenn man um die Weltmacht kämpfen will", so folgerte Groener 1919 im kleinen Kreise aus dem fatalen Ergebnis des Krieges, „muß man dies von langer Hand vorausschauend mit rücksichtsloser Konsequenz vorbereiten" 2 . Was er dem Kaiserreich vorwarf: es habe versäumt, zuvor „unsere Kontinentalstellung" festzumachen. Anderthalb Jahre später verfaßte General von Seeckt, der eigentliche Schöpfer der Reichswehr, seine „Grundlegenden Gedanken für den Wiederaufbau unserer Wehrmacht" 3 . Er fiel gleich mit der Tür ins Haus: „a) unter Milderung des Versailler Friedens: Freiheit in der Organisation. Flieger, schwere Artillerie, Tanks" - all das war den Deutschen verboten worden - ,,b) unter Aufhebung des Versailler Friedens: Einführung der allgemeinen Wehrpflicht" - sie war im Friedensvertrag gleichfalls untersagt - , „in Verbindung von stehendem Berufs-Heer und Miliz als Ubergang". Ahnliche Gedanken - die Kombination von Führerheer und Volksaufgebot - hatte, was weniger bekannt ist, zuvor schon Groener entwickelt 4 .
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Wehrgesetz, 31. 3. 1921, in: R G B l I (1921), S. 329. Zit. n. Fischer, Krieg der Illusionen, S. 2. Rabenau, Seeckt, S. 4 7 4 f. Denkschrift Groeners an Reichspräsident Friedrich Ebert, 17. 9. 1919, B A - M A , R H 1/v. 16; siehe auch R W 1/v. 15, Besprechung in Kolberg, 18. 8. 1919.
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Karl-Heinz Janßen
Ende 1923 entwarf auch Schleicher ein politisches Programm: „Das Ziel ist 1.) Stärkung der Staatsautorität, 2.) Sanierung der Wirtschaft" - Deutschland hatte gerade Aufstände von links und rechts und eine verheerende Inflation hinter sich 3.) Wiederaufbau der Wehrhaftigkeit, alles Vorbedingungen für eine Außenpolitik, die ein Groß-Deutschland zum Ziele hat" 5 . Und am 22. Juli 1926 war man denn auch in der Marine so weit, sich wieder weltpolitische Gedanken zu machen. Kapitän Wilfried von Loewenfeld erörterte mit Admiral Hans Zenker, dem Chef der Marineleitung, wie man im Osten am ehesten die Grenzen von 1914 wiederherstellen könne - durch eine Gebietsausweitung Polens im Osten auf Kosten Rußlands oder durch eine vierte Teilung Polens. Tschechien, so meinte der Kapitän, sei ohnehin dem Untergang geweiht, und Dänemark sei „für die deutsche Marine von überragender Wichtigkeit" 6 . Man muß hier freilich hinzusetzen, daß die Revision des Versailler Friedensvertrages nicht bloß eine Forderung der Soldaten war, sondern Allgemeingut der Parteien von rechts bis links. Bis tief in die Reihen der Sozialdemokratie hinein wollte das deutsche Volk das vermeintliche Schanddiktat nicht akzeptieren. Dolchstoßlegende und Kriegsunschuld-Lüge taten das ihrige, die Köpfe zu vernebeln. Die geheime Aufrüstung, zum Beispiel das Verstecken von Waffen, galt weithin als ein Kavaliersdelikt, ja, vielen Militärs geradezu als patriotische Pflicht. Da die militärischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages in Deutschland Gesetzeskraft hatten, war jeder Verstoß dagegen nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch verfassungswidrig. Nur hat das bis 1935, als Hitler unter dem Beifall seiner Militärs dem Reich die Wehrfreiheit und Wehrhoheit zurückgab, kaum jemanden gestört, einmal abgesehen von den Pazifisten und den Redakteuren der „Weltwoche". Die nach 1945 verbreitete Meinung, es sei der Reichswehr und den aus ihr hervorgegangenen Generälen wie Werner Freiherr von Fritsch und Ludwig Beck nur um eine wirksame Landesverteidigung gegangen, darf man getrost beiseite lassen, seit Carl Dirks im Frühjahr 1997 den sogenannten „großen Plan" der Reichswehr aus dem Jahre 1925 ans Licht gebracht hat 7 . Darin ist bis ins kleinste Detail der Personalbedarf und die Ausstattung eines Großen Heeres von 2,8 bis 3 Millionen Mann aufgelistet. Aus den sieben Divisionen des 100000-Mann-Heeres sollten 102 Divisionen werden, und zwar 63 Felddivisionen und 39 Grenzschutzverbände. Die Reichswehr hatte 42 Generäle; für das Große Heer waren 252 vorgesehen - genau soviele Etarstellen hatte das deutsche Heer, das 1939 ins Feld zog, natürlich mit 102 Divisionen. Die Kriegsstärke betrug am 1. September 1939 insgesamt 2,8 Millionen Mann auch das entsprach dem großen Plan von 1925. Bemerkenswert daran ist der Umstand, daß die Stärke des kaiserlichen Heeres von 1914 noch um 600000 Mann überboten wurde 8 . Das war beileibe kein Zufall. Minister Groener hatte 1931 Reichskanzler Heinrich Brüning vorgeschwärmt, man werde im Laufe
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Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit, S. 41. Schreiber, Revisionismus und Weltmachtstreben, S. 41—45. B A - M A , R H 2/1275 f.; Janßen, D e r große Plan. Deist, Die Aufrüstung, S. 4 4 7 und 433.
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von fünf Jahren ein Volksheer von einer militärischen Schlagkraft aufstellen, wie es die Deutschen noch nie vor dem (Ersten) Weltkrieg besessen hätten 9 . Dieser Ehrgeiz, noch die kaiserliche Großmacht zu übertreffen, spricht für sich. Nicht Verteidigung war das Ziel, sondern hier sollte offensichtlich ein Bedrohungspotential aufgebaut werden, das die deutsche Hegemonie in Kontinentaleuropa gewährleistete, aber auch den von vielen Deutschen herbeigesehnten Revanchekrieg ermöglicht hätte. Der große Plan war ein Resultat des Krisenjahres 1923. Bei Jahresbeginn waren französische Divisionen in das Ruhrgebiet eingerückt und hatten andere die rechtsrheinischen Brückenköpfe ausgeweitet. Begründet wurde diese Invasion mit angeblichen Verzögerungen deutscher Reparationslieferungen. Tatsächlich ließ sich die französische Regierung aber von ihren Sicherheits- und Großmachtinteressen leiten. Für das deutsche Volk war es ein Schockerlebnis - das Reichsheer hatte lediglich Munition für eine Stunde Gefecht 10 ! So blieb der Reichsregierung nichts übrig, als die Bevölkerung im Ruhrgebiet zum passiven Widerstand aufzurufen. General Hans von Seeckt und seine Mitarbeiter schienen zunächst - für den Fall weiteren französischen Vorrückens - an bewaffneten Widerstand gedacht zu haben. Jedenfalls wurde in den Wehrkreisen die Mobilmachung vorbereitet. Es hätte auch an Waffen, Munition und Geräten nicht gefehlt, nur waren sie in privater Hand, nämlich im Besitz von Wehrverbänden und ehemaligen Freikorps. Seeckt mußte einsehen, daß man nicht einfach Divisionen aus dem Boden stampfen konnte - dazu brauchte es langfristiger Planungen und statistischer Erhebungen. Anscheinend in den Monaten, als der General im Auftrage des Reichspräsidenten Friedrich Ebert die vollziehende Gewalt in Deutschland ausübte, hat er den großen Plan zusammenstellen lassen 11 . Es geschah unter strengster Geheimhaltung, denn noch reiste eine Interalliierte Militärkontrollkommission durch die Lande. Die eingesetzten Hauptleute und Majore im Truppenamt trugen Decknamen und durften nicht einmal ihre unmittelbaren Vorgesetzten einweihen 12 . Seeckt hatte allerdings 1921 noch eine zweite Möglichkeit erwogen, das Volksaufgebot: „Daß wir einen Verzweiflungskampf allein auf uns nehmen, ist nicht als völlig aussichtslos anzusehen" 13 . Diese Idee hat dann Oberst Joachim von Stülpnagel, Leiter der Heeresabteilung und einer der klügsten und ideenreichBrüning, Memoiren, S. 554 f. Joachim v o n Stülpnagel, Gedanken über den Krieg der Zukunft, Februar 1924, S. 14, B A - M A , Ν 5/10. " Planungsauftrag vom 27. November 1923, mit der Paraphe von Oberstleutnant Erich von dem Bussche-Ippenburg, dem Leiter der Organisationsabteilung (T 2) im Truppenamt, die auch „Z" (Zentrale) genannt wurde, Kopie Nachschubstab (im Waffenamt). Die „Ubersichten der Gesamtstärken und Ausrüstung der Kommandobehörden und Truppeneinheiten des Feldheeres" wurden am 1 1 . 3 . 1924 innerhalb des Truppenamts oder der Heeresleitung in 16 Exemplaren verteilt, Nachträge am 20. 1. 1925, B A - M A , R H 2/1275; s. auch Hillgruber, Großmachtpolitik und Militarismus, S. 3 4 - 3 9 ; Hansen, Reichswehr und Industrie, S. 49 f. 12 Notiz des Generalleutnants a.D. Walter Behschnitt, 10. 7. 1960, Faksimile in: Janßen, Der große Plan, S. 14. 13 Rabenau, Seeckt, S. 474. 9
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sten Köpfe der Reichswehr, aufgegriffen und daraus seine Lehre von „Krieg der Zukunft" abgeleitet 14 . Gemeint ist der sogenannte „Kleine Krieg" - heute würde man Guerilla- oder Partisanenkrieg sagen. Es war eine kühne Vorwegnahme dessen, was dann in der zweiten Jahrhunderthälfte zuerst in Vietnam und danach in Afghanistan erfolgreich praktiziert wurde, eine Kampfweise, „die auch den Schwachen den Sieg ermöglicht". Sie soll die gefährliche Ubergangsphase überbrücken helfen, in welcher die Reichswehr insgeheim umstrukturiert und hochgerüstet wird, damit sie einer französischen Strafaktion, der sich jederzeit auch die verbündeten Polen und Tschechen anschließen könnten, nicht sofort mangels schwerer Waffen und Flugzeuge hilflos ausgeliefert ist. In einer ersten Phase sollen die überlegenen Angreifer durch eine Ermattungsstrategie aufgehalten werden. Zu diesem Zweck wird ganz Deutschland zum Kriegsschauplatz. Durch kleine Stoßtrupps und durch Einzelkämpfer aus dem Hinterhalt, durch getarnte MG-Nester und Stützpunkte soll der Feind verunsichert und sein Vormarsch gebremst werden, so daß er sich durch das deutsche Gebiet regelrecht „durchfressen" muß. Inzwischen sollen im Hinterland improvisierte Truppen versammelt werden, die wie „Ziethen aus dem Busch" den Invasoren in die Flanken fahren und ihn vernichten. Das wäre dann die zweite Phase. Für diesen Befreiungskrieg soll jedes Mittel recht sein: Mord, Gift, Gas, Bakterien, ferngelenkte Geschosse usw. Auch die „Verbrannte Erde" - ein Vorgehen, das den Deutschen bereits aus Südwestafrika (1904) und Nordostfrankreich (1917) vertraut war - ist eingeplant. Rücksichtslos wird die eigene Zivilbevölkerung möglichen Vergeltungsschlägen ausgesetzt. Der Kleine Krieg ist in vielen Kriegsspielen und Manövern erprobt worden und gehörte bis 1935 zum Repertoire der Reichswehr 15 . Zum Glück sind weder die Franzosen noch die Polen einmarschiert. Das verdankten die Militärs vor allem der Verständigungspolitik des Reichsaußenministers Gustav Stresemann, der es durch Vorleistungen - geregelte Reparationszahlungen, Verzicht auf Elsaß-Lothringen, Locarno-Pakt - erreicht hatte, daß die Franzosen vorzeitig Ruhrgebiet und Rheinland räumten und Deutschland den Eintritt in den Völkerbundsrat erlaubten. Somit war die Gefahr eines Zweifrontenkrieges gebannt, und die Reichswehr konnte in aller Ruhe rüsten. Der große Plan wurde keineswegs, wie man immer wieder liest, damals aufgegeben, sondern er blieb die Richtschnur der geheimen Aufrüstung 16 . Doch so lange Deutschland immense Reparationslasten zu tragen hatte, mußte die Reichswehr den Gürtel enger schnallen und sich auf lange Fristen einstellen 17 .
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Stülpnagel, Gedanken über den Krieg der Zukunft. Das Zitat stammt aus einem Brief Stülpnagels an das Truppenamt v o m 1 8 . 3 . 1 9 2 4 , B A - M A , Ν 5/20, zit. n. Bald, Miliz, S. 6 7 - 7 0 . Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit, S. 100. Janßen, Der große Plan; Rabenau, Seeckt, S. 474. Vortrag von Hauptmann Behschnitt v o r den geheimen Arbeitsgemeinschaften Α und Β in der Heeresleitung, 4 . 4 . 1 9 2 5 , über „Die organisatorische Lage für eine personelle Heeresverstärkung vom Jahre 1931 ab". Als Denkschrift w u r d e der Text samt Anlagen
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Dies um so mehr, als sie vom Jahre 1931 an nicht mehr auf die ausgebildeten Reservisten des Weltkrieges zurückgreifen konnte. Leute über dreißig, die seit zwölf Jahren kein Gewehr mehr in der Hand gehalten hatten, taugten nicht mehr für die Front. Allerdings ließen sie sich noch für den Luftschutz, den Grenzschutz, in der Wehrverwaltung und in der Kriegswirtschaft verwenden. Vorerst mangelte es erheblich an Führern, Spezialisten und Lehrpersonal, um 2,8 Millionen ungediente junge Männer auszubilden. Es sei denn, wie einer der Planer, Hauptmann Walter Behschnitt, sagte, daß „dem Beginn des Krieges eine hinreichend lange Rüstungszeit vorangeht, innerhalb deren ohne Rücksicht auf die Bindungen des Versailler Diktats das erforderliche Personal vor Beginn der allgemeinen Ausbildung herangebildet werden kann" 1 8 . Dazu aber brauchte die Wehrmachtführung ein Bündnis mit der Politik, von der sich Seeckt möglichst ferngehalten, ja die er sogar bekämpft hatte. Unter seinem Nachfolger, dem Generalleutnant Wilhelm Heye, wurde im Truppenamt eine damals sensationelle Wendung vollzogen. Die Reichswehr machte die Regierung Wilhelm Marx zum Komplizen der geheimen Aufrüstung. Der Generalstab hatte inzwischen einigermaßen erfaßt, was in geheimen Waffendepots lagerte: 350000 Gewehre - damit ließen sich schon die 39 vorgesehenen Grenzschutzdivisionen ausrüsten außerdem 12000 Maschinengewehre, 400 Minenwerfer und 675 Geschütze 19 . Die Regierung hatte nun die Wahl: entweder lieferte sie die Waffen an die Alliierten aus, oder das Reich übernahm die Bestände. Das tat die Regierung dann auch, da die bürgerlichen Parteien und selbst Außenminister Stresemann gegen eine vorsichtige Nachrüstung im deutschen Osten nichts einzuwenden hatte. Dort hatte sich längst die Praxis eingespielt, regelmäßig sogenannte Zeitfreiwillige zu Übungen einzuberufen 20 . Die zusätzlichen Kosten, die bislang zumeist privat bezahlt wurden, übernahm nun die Regierung. Der Reichstag wurde dabei hintergangen, indem man zwei oder drei Etatansätze - blau (Heer), rot (Marine) und gelb (Fliegertruppe) herausschnitt, ehe man den Parlamentariern den weißen Etat der Reichswehr vorlegte. Die gesetzwidrigen Ausgaben wurden von einem Staatssekretärsausschuß geprüft 21 . Der neue Generalstabschef Werner von Blomberg, Pour-le-merite-Träger, ein entschlußfreudiger, welterfahrener und technisch versierter Offzier, ließ von seinem Stab das 1. Rüstungsprogramm aufstellen, das dann 1928 verabschiedet wurde: ein Fünfjahresplan, der für ein sogenanntes 16-Divisionen-Heer sechs Wochen lang die Versorgung sichern sollte. Dafür wurden jährlich etwa achtzig Millionen Mark aus einem Geheimfonds gezahlt. Ursprünglich wollte man wohl ein 21-Divisionen-Heer aufstellen, aber man hatte das Pech, daß man in die beginnende Wirtschaftskrise geriet 22 .
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( B A - M A , R H 8 1 / v . 894 a) an das Heereswaffenamt und das W e h r a m t sowie an alle W e h r kreise verteilt. Vgl. Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit, S. 101, A n m . 12. Vortrag Behschnitts, ebd., S. 41. Wohlfeil/Dollinger, Die deutsche Reichswehr, S. 177. Werner von Blomberg, Aufzeichnungen, S. 125, 184, B A - M A , N L 52, Nachlaß Bd. 2. Hansen, Reichswehr und Industrie, S. 197f.; Deist, Die Aufrüstung, S. 3 7 8 f . Ebd., S. 3 7 9 f .
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Auch hier hatte Seeckt seinerzeit schon vorgearbeitet. Er wollte das Große Heer - je nach Lage der Dinge - langsam aufbauen, und zwar nach einem Schlüssel mit der Primzahl 7. So kamen dann die Stufen 7 - 21 - 42 - 63 zustande, wobei man die Skala rauf und runter gehen konnte 23 . Mit dem 21-Divisionen-Not- oder Risiko-Heer - es sollte Angreifer abschrecken - hat der Generalstab auch noch im Dritten Reich hantiert 24 . Im Gesetz war die Divisionsstärke auf 12 000 Mann festgesetzt, so daß man etwa 250 000 Mann beisammen gehabt hätte. Doch das Ganze war ein Etikettenschwindel, denn 1925 hatte man 1 bis 1,3 Millionen Soldaten errechnet 25 ! Der Generalstab hat aber nicht nur die Regierung mit falschen Zahlen hinters Licht geführt - auch Reichskanzler Adolf Hitler ist das in der Anfangszeit seiner Regierung noch passiert - , sondern er hat der Regierung sogar den künftigen Kurs vorgeschrieben. In einer mit Decknamen versehenen Denkschrift aus dem Truppenamt vom Frühjahr 1925 heißt es selbstbewußt: „Maßnahmen der Regierung auf Betreiben der Wehrmacht" 26 . Noch in der ersten Rüstungsstufe sollte ein Reichsverteidigungsrat gebildet werden, in dem alle für die Aufrüstung wichtigen Ministerien vertreten sein sollten. Darüber wurde zwar verhandelt, doch ohne Ergebnis. Ferner sollten bei allen Verwaltungsbehörden Landesschutzstellen eingerichtet werden. Das geschah sehr schnell, so daß schon von November 1925 an jederzeit heimlich Reservisten mobilisiert werden konnten 27 . Des weiteren wurde vom Staat erwartet, daß er Industrie, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe auf ihre künftigen Aufgaben während der Rüstungszeit und im Kriege vorbereitet. Hier hatte der Generalstab von sich aus vorgesorgt. Bereits am 26. November 1924 betraute General Ludwig Wurtzbacher, der Chef des Heereswaffenamts, seinen Nachschubstab mit den Vorarbeiten für eine wehrwirtschaftliche Mobilmachung 28 . Durch die Untersuchungen von Ernst Willi Hansen wissen wir, welch durchschlagenden Erfolg man erreicht hatte: Im Oktober 1931 konnten Reichsheer und Reichsmarine im Kriegsfalle über etwa tausend Fabriken verfügen, die jederzeit mit der Massenfertigung von Rüstungsmaterial beginnen konnten (Die Siegermächte hatten lediglich 33 Fabriken eine Lizenz erteilt.) 29 . Für ebenso wichtig erachteten die Generalstäbler die sogenannte Wehrhaftmachung eines „waffenentwöhnten" Volkes. Die „Aufrüstung der Köpfe und Körper" 30 sollte mit dem Sportunterricht in den Schulen beginnen und danach durch eine vormilitärische Ausbildung in Sportvereinen und Sommerlagern ergänzt werden 31 . Auf Betreiben des Wehrministers von Schleicher gründete
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Rabenau, Seeckt, S. 474; Janßen, Der große Plan, S. 16. Geyer, Militär, Rüstung und Außenpolitik. Janßen, Der große Plan, S. 16. Vorschlag zu Alexander 872 Ui pers. v o m 1 8 . 5 . 1 9 2 5 , B A - M A , R H 2/417. Hillgruber, Großmachtpolitik, S. 38 f. Protokoll der Sitzung am 24. 11. 1924 über die Aufgabe und Arbeit des beim W a A organisierten Stabes zur wirtschaftlichen Mobilmachung, B A - M A , R H 8/v. 983. Hansen, Referat, S. 119. Vorschlag zu Alexander 872 Ui pers, B A - M A , R H 2/417. Deist, Die Aufrüstung, S. 395.
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Reichspräsident Paul von Hindenburg im Herbst 1932 ein Reichskuratorium für Jugendertüchtigung 3 2 . In der folgenden kurzen Kanzlerschaft Schleichers befand sich Deutschland schon auf dem Weg in einen Militärstaat. Während der drei Präsidialkabinette Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher Anfang der dreißiger Jahre - inmitten der Weltwirtschaftskrise - veränderte sich die militärische Lage unerwartet zugunsten Deutschlands: die Reparationszahlungen entfielen und auf der Genfer Abrüstungskonferenz wurde der deutsche Anspruch auf militärische Gleichberechtigung grundsätzlich von den Westmächten anerkannt. Das bedeutete: Die hochgerüsteten Nachbarn sollten ihr Rüstungsniveau senken, die Deutschen aber aufrüsten, um gleichzuziehen. Gleichzeitig wurde das zweite Rüstungsprogramm auf die Helligen gelegt, mit dem uns Michael Geyer bekanntgemacht hat 3 3 . Bis zum Jahre 1938 waren dafür 400 Millionen Mark veranschlagt worden. Doch als die Rüstungsindustrie in Schwierigkeiten geriet, hatte Wehrminister Groener noch eine Milliarde zusätzlich angefordert. Von diesem „Milliardenprogramm" ist zwar in der Literatur die Rede 3 4 , nicht aber von den vierzehn Milliarden, welche die Planer im Generalstab bereits im Mai 1931 in einer ausführlichen Geheimen Kommandosache als Bedarf für ein sogenanntes Α - H e e r mit 1,3 Millionen Mann und 3 6 1 0 0 0 Pferden angesetzt hatten 3 5 . Das gab bereits einen Vorgeschmack, welche Verschleuderung des Volksvermögens zu gewärtigen war, wenn Adolf Hitler die Sache in die Hand nähme. Vier Tage nach seiner Machtübernahme erschien Reichskanzler Hitler am 3. Februar 1933 zu einem Antrittsbesuch bei der Generalität in der Bendlerstraße 3 6 . An diesem Tage wurde das Bündnis zwischen Nationalsozialismus und Wehrmacht geschlossen. Hitler bot dem Militär seine politische Hilfe an. Alles, was er versprach, muß sie erfreut haben: fortan keine Duldung des Pazifismus (das hatte übrigens General Groener schon 1919 dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert nahegelegt); des weiteren zählte Hitler auf: Todesstrafe für Landesverrat, Ausrottung des Marxismus, Beseitigung des „Krebsschadens der Demokratie", Wehrertüchtigung der Jugend, allgemeine Wehrpflicht, vor allem aber die Wiederherstellung der deutschen Macht. Diesen Kanzler mußte man wirklich nicht mehr treiben. Hitler wird nun jahrelang den Militärs nicht in ihr Handwerk pfuschen. Davor stand ohnehin General Werner von Blomberg, den nicht Hitler, sondern Reichspräsident Paul von Hindenburg als Oberster Befehlshaber zum Wehrminister berufen hatte. Blombergs erste Tat war die Einsetzung eines Reichsverteidigungsrates 37 .
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Ebd., S. 7 0 6 . Geyer, Das Zweite Rüstungsprogramm. Deist, D i e A u f r ü s t u n g , S. 391 f. Anlage 2 zu T . A . N r . 1 0 9 / 3 1 geh. K d o s . - Τ 2 I I I Β 2. A n g . v o m 2. 5. 1 9 3 1 , Privatarchiv Carl D i r k s . Persönliche E r l e b n i s s e des G e n e r a l s der Infanterie a . D . C u r t L i e b m a n n , I f Z , Z S E D - 1 ; Aufz. des G e n e r a l s a. D . H o r s t v o n M e l l e n t h i n , I f Z , 7 5 2 / 5 2 . Z u m R e i c h s Verteidigungsrat und z u m R e i c h s v e r t e i d i g u n g s a u s s c h u ß siehe I M T , 3 6 , S. 2 1 9 und 4 7 8 .
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Fortan sprach Hitler von den zwei Säulen des Staates 38 . Die Partei stand für die geistige Mobilmachung des Volkes, übernahm also den Part, den Stülpnagel ohnehin dem Staat zugedacht hatte. Der Wehrmacht stand frei, auf welche Weise sie die geheime Aufrüstung vorantrieb. Der neue Reichsverteidigungsminister hatte eine ungeahnte Machtfülle in Händen. In eigener Souveränität, mit einer Vollmacht des Kabinetts, befahl er der Wehrmacht am 27. Januar 1934, insgeheim die allgemeine Wehrpflicht vorzubereiten 39 . Die Säulen-Theorie bewährte sich, als Hitler, bei stillschweigender Duldung durch die Wehrmacht, dieser mit dem Massaker am 30. Juni 1934 die Gefährdung des Waffenmonopols durch die revolutionäre SA vom Halse schaffte. Sie nahm dafür sogar die Ermordung zweier Kameraden - der Generäle von Schleicher und Kurt von Bredow - hin und bedankte sich bei Hitler, indem sie nach dem Ableben Hindenburgs die Soldaten mit einem persönlichen Eid auf den neuen Staatschef verpflichtete. Heer und Marine blieben auch weiterhin überparteilich, in der Wirklichkeit aber öffnete sich die Wehrmachtführung dem Nationalsozialismus: Blomberg, weil er die Ziele der Bewegung für zukunftsträchtig hielt 40 , sein machtbegieriger Mitarbeiter, Oberst Walter von Reichenau und der Abwehrchef Admiral Wilhelm Canaris, weil sie sich für die besseren Nationalsozialisten hielten 41 . Der neue Oberbefehlshaber des Heeres, General Werner von Fritsch, wehrte sich zwar gegen Ubergriffe der Partei in militärische Belange, verkündete aber im Sommer 1935 durch einen Tagesbefehl, der dem gesamten Offizierskorps bekanntgegeben werden mußte, diese These; „Wer schädigend gegen den nationalsozialistischen Staat handelt, ist ein Verbrecher" 42 . Deutschlands Zukunft sei auf Gedeih und Verderb mit dem Nationalsozialismus verbunden. Blomberg, Fritsch und der neue Generalstabschef Ludwig Beck waren die Protagonisten dessen, was Wilhelm Deist „das Abenteuer einer hemmungslosen Aufrüstung" genannt hat 43 . Es begann mit dem Auszug Deutschlands aus dem Völkerbund und dem Verlassen der Abrüstungskonferenz. Die Militärs, fest den Blick gerichtet auf das Jahr 1938 - dann sollte das 21-Divisionen-Heer stehen - , wollten sich nicht durch internationale Vereinbarungen auf eine bestimmte Truppenzahl festlegen lassen. Deshalb wurde noch im Dezember 1933 ein neues Rüstungsziel festgesetzt 44 : Bis 1938 ein Heer mit einer Friedensstärke von 300000 Mann. Im Ernstfall sollte daraus ein Risiko-Heer gebildet werden, das imstande sein sollte, einen Verteidigungsschlag nach mehreren Fronten mit, wie es hieß, „einiger Aussicht auf Erfolg" zu führen. Aber nun setzte eine Spirale des Wettrüstens ein, in der sich die Wehrmachtführung verfangen sollte. Die neuen Wochenendcoups Hitlers: die Verkündung der Wehrpflicht 1935, der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland 1936 - beides hatten sich die Mili-
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Heider, Der totale Krieg, S. 62 f. Befehl des Reichsverteidigungsministers von Blomberg, 2 7 . 1 . 9 3 4 , 41/34 g. Kdos. Η Adj Hin, Privatarchiv Carl Dirks. Blomberg, Aufzeichnungen, S. 336, B A - M A , N L 52, Bd. 2. Janßen/Tobias, Der Sturz der Generäle, S.147f. Tagesbefehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 19. 8. 1935, Privatarchiv Carl Dirks. Deist, Die Aufrüstung, S. 399. Ebd., S. 4 0 3 - 4 1 5 .
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tärs schon früher gewünscht 4 5 - waren Reaktionen auf neue Rüstungsschritte der Westmächte. So wurde denn im Sommer 1936 das Rüstungsziel abermals verändert 46 : N u n wagte der Generalstab den Ubergang vom Risiko-Heer zum Angriffs-Heer. 10000 Panzer hatte General Beck eingeplant 47 ! Endlich war man beim Großen Heer der 102 Divisionen angelangt. Es sollte zu Beginn der vierziger Jahre kriegsbereit sein. Die Rüstungsspirale drehte sich von Jahr zu Jahr schneller, denn sonst hätte Deutschland beim Wettrüsten seinen Vorsprung verloren. Die Industrie war den Anforderungen der Wehrmacht nicht mehr gewachsen - neben den 10000 Panzern fürs Heer wollte Hermann Göring für seine Luftwaffe bis 1942 fast 20000 neue Flugzeuge, Erich Raeder für seine Flotte bis 1944 sechs schwere Schlachtschiffe bauen lassen 48 . Der bald eintretende Mangel an Eisen, Stahl und Kupfer verzögerte die Rüstungsprogramme und führte zu unbarmherzigen Verteilungskämpfen zwischen den drei Wehrmachtteilen. Zwar warnten einige weitsichtige Offiziere rechtzeitig vor den Konsequenzen: entweder riskiere man Anfang der vierziger Jahre wegen Uberproduktion in der Rüstungsindustrie eine Wirtschaftskrise, oder man müsse bereit sein, wirklich loszuschlag
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Die maßlose Aufrüstung finanzierte sich einige Jahre durch den vom Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht erfundenen Trick mit den Mefo-Wechseln. Als er schließlich das Tempo bremsen wollte, setzte Hitler die Notenpresse in Gang. U n d Göring, der als Verantwortlicher des Vierjahresplanes für die Kriegswirtschaft zuständig war, handelte nach der Devise „Geld spielt keine Rolle" 5 0 . Unbekümmert forderte Generaloberst Walther von Brauchitsch, der Nachfolger Fritschs, im Etatjahr 1939 für sein Heer Haushalts- und Betriebsmittel in Höhe von 25 Milliarden Mark. Andernfalls, meldete er seinem „Führer", könnte das gesteckte Ziel nicht erreicht werden 5 1 . Das hieß, es fehlte im Ernstfall erheblich an Panzern und schweren Mörsern. Hitler war ein Vabanque-Spieler. Deshalb hat er 1938 die Sudetenkrise heraufbeschworen und dabei den Ausbruch eines europäischen Krieges riskiert, obwohl das Heer noch nicht voll kriegsfähig war. Generalstabschef Beck nahm dieses Spiel mit dem Feuer zum Anlaß, an das sittliche Verantwortungsbewußtsein seiner Offizierskameraden zu appellieren 52 . Langfristig stimmte seine Prognose, daß Deutschland in einem Krieg gegen die Westmächte unterläge. Aber mit seinen Denkschriften überzeugte er die Generalität nicht, da sie entweder, befangen im Eid und im Glauben an das Genie des Obersten Befehlshabers, auf 45 46 47
48 49 50
51 52
Ebd., S. 417 und 424 f. Ebd., S. 428 f. und 438. Schon am 30. 12. 1935 hatte Beck in einer Denkschrift über eine Verbesserung der Angriffskraft des Heeres ein Idealziel von 66 Panzerabteilungen vorgesehen; siehe Müller, General Ludwig Beck. Deist, Die Aufrüstung, S. 492 und 465-473. Ebd., S. 435f. Im Bericht über eine Sitzung bei Göring am 14. 6. 1938 wird der Generalfeldmarschall wie folgt zitiert: „ D a s Geld spielt keine so überragende Rolle in der jetzigen Lage", Nr. 1613/38 g. K d o s . A H A , Privatarchiv Carl Dirks. Brauchitsch an Hitler, 10. 2. 1939, N r . 64/39 g. K d o s , Privatarchiv Carl Dirks. Zur Sudetenkrise zuletzt Hartmann, Halder, S. 99-116.
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Karl-Heinz Janßen
einen guten Ausgang hoffte oder sich auf ihre rein militärische Aufgabe beschränkte und Becks fachliche Einschätzung der Erfolgschancen einer Offensive gegen die Tschechoslowakei für falsch erachtete. Ein Jahr später stand Becks Nachfolger Franz Halder vor einem ähnlichen Dilemma. Er freilich war von anderem Holze, wie uns seine Rede vom April 1939 verrät, die Christian Hartmann jüngst in den „Viertel)ahrsheften für Zeitgeschichte" veröffentlicht hat 53 . Halder war sich ganz sicher, daß seine 53 Divisionen Polen überrennen und vernichten würden. Sollte sich dann die Sowjetunion einmischen, würden es die siegreichen Truppen auch mit der Roten Armee aufnehmen. Und sollten wider Erwarten England und Frankreich doch eingreifen, werde er die Armee nach Westen werfen, „um dort die Entscheidung rasch, aber gründlich zu erringen". Solche Leichtfertigkeit, ja Hybris verschlägt einem fast die Sprache. Und jetzt wundert man sich auch nicht mehr, daß es Halder nach dem Triumph über Frankreich für machbar hielt, noch im Spätsommer 1940 mit 80 Divisionen und 20 Divisionen Reserven Rußland überrennen zu können 54 . Schlieffen hat einmal gesagt: „In verzweifelten Lagen können nur verzweifelte Mittel helfen" 55 . Gerhard Ritter hat ihm, als er sämtliche Entwürfe des Schlieffenplans analysierte, recht gegeben: „Der große Schlieffenplan war überhaupt kein sicheres Siegesrezept. Er war ein kühnes, ja ein überkühnes Wagnis, dessen Gelingen von vielen Glückzufällen abhing" 56 . Ahnlich bezeichnet Karl-Heinz Frieser in seinem bahnbrechenden Buch über den Westfeldzug 1940 den von Erich von Manstein ersonnenen „Sichelschnitt" durch die Ardennen bis zum Meer als „eine operative Verzweiflungsaktion, um aus einer verzweifelten strategischen Situation herauszukommen" 57 . Man wird Halders Wintermarsch nach Moskau wohl kaum anders deuten können. Nachdem Hitler Ende 1941 selber den Oberbefehl des Heeres übernahm, bestand die Wehrmachtführung eigentlich nur noch aus Führungsgehilfen. Und wenn Erich von Manstein, Kurt Zeitzier und Heinz Guderian nach Stalingrad noch eine politische Zielvorstellung hatten, dann allenfalls ein Remis oder einen Zerfall der feindlichen Koalition. Mehr als Hirngespinste waren das nicht, schon gar nicht unter einem Oberbefehlshaber, der am 1. September 1939 in seiner Kriegsantrittsrede den eigenen Selbstmord vorhergesagt hatte. So kam Stülpnagels „Kleiner Krieg" doch noch zustande: Die Wehrmacht führte Krieg gegen das eigene Volk: jede Stadt, jedes Dorf eine Festung, Verbrannte Erde, Wehrwolf... und Berge von Leichen.
53 54 55
56 57
Hartmann/Slutsch, Franz Halder. Dirks/Janßen, Plan Otto. Zit. n. Joachim von Stülpnagel, Gedanken über den Krieg der Zukunft, B A - M A , N5/10, S. 14. Ritter, Der Schlieffenplan, S. 68. Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 435.
II Die Wehrmacht im Urteil auswärtiger Mächte
Klaus-Jürgen
Müller
Einführende Bemerkungen
Die sehr umfassend formulierte Themenstellung trägt den von Land zu Land unterschiedlichen Forschungsbedingungen, etwa hinsichtlich der Quellenlage und dem jeweiligen Stand der Historiographie, deren Schwerpunktbildung und deren Rahmenbedingungen Rechnung. Sie ließ somit den Bearbeitern größtmögliche Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit bei der Behandlung der Themenstellung. Das brachte eine auf den ersten Blick außergewöhnliche Vielfalt, ja Disparatheit in die thematischen und methodischen Zugriffe der einzelnen Beiträge dieser Sektion hinein. Schon der Begriff „auswärtige Mächte" verbirgt unterschiedliche Mächtekategorien: Feindmächte, Verbündete, Neutrale oder gar „Nicht-Kriegführende". Es gab einerseits Mächte, die zeitweilig oder ganz aus dem Kriegsgeschehen ausgeschieden waren: Polen, zunächst Kriegsgegner, dann besetztes Land und Opfer der deutschen Aggression, Unterjochungsund Vernichtungspolitik; Frankreich wiederum zunächst als militärischer Hauptgegner angesehen, dann bald besiegt, durch Waffenstillstand „neutralisiert" und teilbesetzt, später von Afrika aus wieder in den Krieg eingetreten, somit besetztes Land und gleichzeitig kriegführende Macht; auf der anderen Seite Mächte wie Großbritannien, die von Anfang bis Ende kriegführende Macht waren, wohingegen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika erst über zwei Jahre nach Kriegsbeginn zu (dann allerdings) entscheidenden Kriegsgegnern der Wehrmacht wurden. Andere Mächte wiederum, wie beispielsweise Italien, traten als Verbündete in der Siegesphase an die deutsche Seite, schieden später wieder aus und spielten danach teils als Kriegsgegner, teils als Satelliten-Regime an deutscher Seite nur noch eine marginale Rolle. Sie alle hatten bereits aufgrund dieser unterschiedlichen Rollenbesetzung eine je unterschiedliche Perzeption der Wehrmacht. Die einen lernten die Wehrmacht als Kriegsgegner nur in den Jahren 1939-1940 kennen, als Besatzungsmacht hatten sie es dann mit einer sich wandelnden Wehrmacht unter sich wandelnden Gegebenheiten zu tun. Andere - wie etwa die Amerikaner - trafen auf ein im Vergleich zur Anfangsphase des Krieges in vielfacher Hinsicht verändertes Kriegsinstrument des Deutschen Reiches. Sodann muß bei dem Versuch, eine Bilanz zu ziehen, berücksichtigt werden, daß eine Auswahl bei den zu behandelnden Mächten getroffen worden ist: Nicht alle der in die erwähnten verschiedenen Machtkategorien gehörige Staaten sind hier berücksichtigt worden. Von den Verbündeten fehlen Finnland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, die Slowakei und Kroatien; von den offiziell neutralen bzw. „nicht-kriegführenden" Mächten werden die Türkei, Portugal und Spanien nicht behandelt; aus der Reihe der besetzten Länder sind Belgien, die Niederlande, Dänemark, Jugoslawien, Griechenland nicht vertreten.
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Klaus-Jürgen Müller
Schließlich haben wir es mit unterschiedlich breiten Erfassungsansätzen zu tun. So wird einmal - wie beim Beispiel Schweden - die ausländische Einschätzung auf breiter Quellengrundlage unter vielerlei Perspektiven - Militärs, Presse, Diplomatie, Geheimdienste - analysiert, wohingegen andere Bearbeiter - wie etwa bezüglich der Schweiz und Schwedens - speziell nur die Perzeption der militärisch-politischen Führung bzw. der militärischen Fachleute behandeln. Es ist klar, daß derartig unterschiedliche Erfassungsansätze, denen natürlich auch unterschiedliche quellenmäßige Dimensionen zugrunde liegen, schwer vergleichbare Ergebnisse bringen. Schließlich ist es von der Themenstellung her auch nicht zwingend notwendig, nur die zeitgenössische Perzeption der Wehrmacht zu analysieren. Eine Einbeziehung der historiographischen Beurteilung des Hitlerschen Kriegsinstrumentes in den jeweiligen Ländern wäre durch die Themenstellung gleichfalls gedeckt 1 . Dabei wird deutlich, wie beispielsweise der britische Beitrag explizit und der schwedische indirekt zeigen, daß im Grunde beide analytischen Ansätze gar nicht so streng voneinander getrennt werden können. Beide Beurteilungen, der zeitgenössische und der historiographische Ansatz, gehen für bestimmte, gar nicht so kurze Zeitspannen ineinander über. Insbesondere Strachan hebt diesen Zusammenhang von zeitgenössischer Einschätzung und Nachkriegs-Historiographie hervor, der erst seit der Wende der 60er auf die 70er Jahre durchbrochen wurde. Denn einmal waren manche Historiker, die sich zum Thema äußerten, bisweilen nicht nur einfache Zeitgenossen, sondern sie waren sogar aktiv in der Feindanalyse und -beurteilung tätig - wie das Beispiel von Wheeler-Bennett belegt. Und viele damals in wichtigen Positionen wirkende Zeitgenossen haben, auch wenn sie keine Historiker stricto sensu waren, durch ihre Memoiren und Nachkriegspublizistik die Historiographie geprägt, wie Beispiele im Beitrag über Schweden zeigen. Gerade hierbei wird deutlich, daß zeitgenössische wie spätere Beurteilungen längere Zeit nicht frei waren von bestimmten Interessen. Insbesondere Strachan verweist auf das Beispiel Liddell Harts, dessen Schriften nicht nur nachhaltigen Einfluß auf die frühe Geschichtswissenschaft über den Zweiten Weltkrieg und insbesondere auf die Beurteilung der deutschen militärischen Führung ausübten, sondern mit denen der Autor auch seine eigene militärische Konzeption der Vorkriegszeit zu rechtfertigen beabsichtigte. Diese Überlegungen führen unmittelbar in das mit unserer Thematik verbundene methodische Problem hinein. Sie verweisen uns nämlich nicht nur auf spezifische Interessenlagen der Betrachter, sondern vor allem auf die Kriterien und Beurteilungsmaßstäbe, welche den besagten Fremdeinschätzungen der Wehrmacht zugrunde lagen. Und diese sind von vielerlei Faktoren geprägt. Einmal sind es die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte, welche die GegnerEinschätzungen geprägt haben. Sie sind in Eigenart und Intensität unterschiedlich. Bezüglich der Intensität hat Strachan in seinem brillanten Beitrag bereits darauf verwiesen, daß die Angelsachsen im Vergleich etwa zu den Sowjets eine relativ geringere Gegner-Erfahrung mit der Wehrmacht hatten.
Hierzu vgl. indessen den einleitenden Beitrag von Rolf-Dieter Müller in diesem Band.
Einführende Bemerkungen
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Nordafrika war lange ein strategisch marginaler Kriegsschauplatz von (gemessen an den Verhältnissen an der deutschen Ostfront) geringer Intensität. Intensivere Erfahrungen mit der Wehrmacht machten sie nur knapp zwei Jahre lang (1943—45) in Italien und in Westeuropa. Jedenfalls traten die Wehrmachtteile ihnen in unterschiedlicher Intensität entgegen: Relativ kurz bei der Luftschlacht um England oder etwas länger im atlantischen Zufuhr-Krieg. In beiden Fällen spielte naturgemäß der größte Wehrmachtteil, das Heer, keine Rolle - für die Perzeption der Wehrmacht insgesamt gewiß ein nicht unwichtiger Faktor! Vor allem aber hatten sie keine genaue, das heißt unmittelbare eigene Kenntnis und Erfahrung von den Kämpfen an der deutschen Ostfront, was ihre (dominierend von Liddell Hart bestimmte) Nachkriegseinschätzung entscheidend geprägt hat. Sodann ist die Eigenart der Gegner-Erfahrung zu reflektieren: Es macht gewiß einen Unterschied für die Fremdperzeption der Wehrmacht, ob man das deutsche Kriegsinstrument als Kampf-Gegner wahrnahm oder als Besatzungsmacht. Und auch als solche wurde sie von dem Untergrundkämpfer etwa in Frankreich anders wahrgenommen als von dem Partisanen in Bosnien, und jeweils wieder anders von dem Kollaborateur oder von einem Zeitgenossen, der nur unter der Besatzung zu überleben versuchte mit all den dadurch unvermeidlich notwendigen Arrangements. U n d auch dabei war es ein entscheidender Unterschied, ob man die Wehrmacht als Besatzungsmacht in Westeuropa erlebte oder etwa in O s t - oder Südost-Europa. Des weiteren war - vor allem für die Wehrmachtperzeption in der Nachkriegszeit - von erheblicher Bedeutung, ob man als kriegsgefangener Brite, Amerikaner und Franzose die Wehrmacht kennenlernte oder ob man als Sowjetsoldat, als Tito-Partisan, als Pole oder Italiener (nach 1943) in Kriegsgefangenschaft geriet. Ein wichtiger, die Beurteilungsmaßstäbe beeinflussende Faktor ist die Verarbeitung von historischer Erfahrung, welche - bestärkt durch vielfältige politische Interessen - über längere Zeit hinweg wirksam wurde. Aus polnischer Sicht ζ. B. hat die militärische Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Sowjetarmee in der Zwischenkriegszeit die historisch begründeten Stereotypen des polnischen Deutschlandbildes bestätigt. Ebenso wurde der Hitler-Stalin-Pakt mit dem anschließenden Einfall der Truppen beider Flügelmächte in die Reihe historischer Präzedenzfälle bis hin zu den polnischen Teilungen eingeordnet. Trotz mancher Unterschiede im Verhalten der Wehrmacht im Vergleich zur SS oder anderen Organisationen des NS-Systems in der Besatzungszeit und trotz taktisch motivierter Differenzierungsüberlegungen innerhalb der Führung der polnischen Untergrundbewegung konnte die Wehrmacht eben nur als Teil des Unterjochungsapparates angesehen werden. Historisch bedingte Stereotypen wurden durch die Realität bestätigt und somit verstärkt 2 . Auch die angelsächsische Einschätzung der Wehrmacht war von historisch bedingten Beurteilungskategorien mitbestimmt. Vor und im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Armeen den Briten den Eindruck einer hervorragenden Professionalität vermittelt. Dieses Beurteilungskriterium hat (mit mancherlei
2
Zur umfangreichen Literatur der historischen Stereotypenforschung, die von der Militärgeschichte nach Ansicht des Verfassers noch zu wenig zur Kenntnis genommen wurde, vgl. die Literatur-Angaben bei Koch-Hillebrecht, Deutschlandbild.
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Klaus-Jürgen Müller
Zusatzüberlegungen) bis in die Nachkriegszeit hinein die britische wie die amerikanische Einschätzung bestimmt. Daneben stand jedoch gleichzeitig der historische Präzedenzfall des inneren Zusammenbruchs des Kaiserreiches, der als Grundlage für die bis weit in den Zweiten Weltkrieg hineinreichende Einschätzung genommen wurde, daß es zu einem inneren Zusammenbruch der Wehrmacht kommen werde. Damit aber standen die Briten vor dem Problem zu erklären, warum die unterstellte politische Spannung zwischen der Wehrmacht und der Partei sowie zwischen jüngeren regime-begeisterten Wehrmachtangehörigen und traditionell eingestelltem höheren Offizierkorps nicht die erwartete innere Sprengkraft entwickelt hat. Ebenso konnte die unerwartete Regenerationskraft der Wehrmacht und die andauernde politische Loyalität sogar in der Phase der militärischen Rückschläge und Niederlagen nicht hinreichend erklärt werden. Die Fehleinschätzungen der Regime-Loyalität des Offizierkorps der Wehrmacht wiederum hing mit den unzutreffenden Vorstellungen zusammen, die sich die Angelsachsen von der deutschen Gesellschaft und ihrer inneren Kohärenz im „Dritten Reich" machten, ein Gesellschaftsbild, das weitgehend durch die Optik der eigenen gesellschaftlichen Wertmaßstäbe bestimmt, aber auch (wie Probert an anderer Stelle gezeigt hat 3 ) von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges beeinflußt war. Hinzu kam - wie Strachan zeigt - eine relative Unkenntnis des Geschehens an der Ostfront, welche ihnen die enge ideologische Verbindung der Wehrmachtführung mit Hitler verbarg. Ebenso hat eine bestimmte Verarbeitung von Erfahrung der sogenannten „Blitzkrieg"-Phase eine Fehleinschätzung der deutschen Einsatzdoktrinen und der deutschen Rüstungswirtschaft bis weit in die Nachkriegszeit hinein hervorgerufen. Erst seit den 70er Jahren haben die deutsche und angelsächsische Forschung hier Klarheit geschaffen. Ein wichtiger Faktor war die Interdependenz von eigenen strategisch-militärpolitischen Doktrinen und der Gegnereinschätzung. Die Vorstellung der französischen Führung von deutscher Rüstungswirtschaft und militärischem Ausbildungs- und Rüstungsstand der Wehrmacht beeinflußte nicht nur die Fehleinschätzung der deutschen Kampfkraft, sondern auch die Ausarbeitung der eigenen Strategie eines langen (von den Deutschen nicht durchzuhaltenden) Krieges. Dabei vernachlässigte Gamelin jedoch die für das Durchstehen der anfänglichen Defensiv-Phase notwendigen Maßnahmen in Ausrüstung und Ausbildung der eigenen Streitkräfte. Das führte zur Niederlage von 1940, die wiederum auf alliierter Seite wie bei den Neutralen (etwa der Schweiz) die Perzeption de Wehrmacht beeinflußte. Ahnliches läßt sich auf der Seite der Neutralen beobachten: Die Fixierung der Schweizer Militärführung auf Kategorien von militärischer Effektivität und Disziplin - entscheidende Probleme bei einer Milizarmee - führte, wie Fuhrer zu suggerieren scheint, zu einer weitgehend selektiven Wahrnehmung des Zustandes der Wehrmacht. Die Schweden hatten offenbar ein differenzierteres Bild von der Wehrmacht, allerdings wohl auch bessere Informationsmöglichkeiten.
3
Probert, Auswirkungen.
Einführende Bemerkungen
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Nicht zu übersehen ist im übrigen, daß eine Fremdperzeption nicht nur von den eigenen strategisch-militärpolitischen Vorstellungen bestimmt werden, sondern sehr weitgehend von politisch-ideologischen Wertvorstellungen und Weltsichten. Der Beitrag von Arlt zeigt, wie Stalin die deutsche Wehrmacht gemäß der holistischen Weltsicht und Ideologie des Marxismus-Leninismus vornehmlich unter drei Aspekten betrachtet hat: Erstens als hervorragendes militärisches Instrument, das man sich angesichts der allseitigen internationalen Isolierung und trotz des grundsätzlichen, revolutionstheoretisch begründeten Gegensatzes zum bürgerlich-imperialistischen Militär durch Zusammenarbeit nutzbar machen könnte, das es späte jedoch mit allen Mitteln, auch den härtesten, zu bekämpfen galt. In dieser Auffassung sind wohl gewisse ideologisch bedingte Fehleinschätzungen, die im Verlaufe des Krieges auftraten, zu suchen. Zweitens als politisch-ideologisches Phänomen, das mit den Kategorien der politischen Instrumentalisierung (mittels des „Nationalkomitees Freies Deutschland") oder der Zersetzung zu erfassen und zu behandeln sei. Drittens als ökonomischer Faktor, nämlich als Arbeitskräftepotential beim Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Beim Aufbau der DDR-Streitkräfte kamen dann die ersten beiden Aspekte sowjetischer Wehrmachtperzeption zeitweilig erneut zum Tragen. Wie unterschiedlich die im folgenden dargebotenen Beiträge nach zeitlichem Ansatz, spezifischer Fragestellung, Quellengrundlage und Beurteilungskriterien auch sein mögen, sie sind ganz bestimmten unterschiedlichen Beurteilungskriterien und Perspektivmaßstäben verpflichtet. Sie verweisen mit ihren Ergebnissen vor allem auch auf die Tatsachen, daß die verschiedenen Wehrmachtperzeptionen in erheblichem Maße historisch-politisch und soziologisch bedingt waren. Ihnen lagen historisch gewachsene Leitvorstellungen vom Verhältnis von Militär, von Politik und Gesellschaft ebenso zugrunde wie das jeweilige Selbstverständnis des Militärs und die historischen, je unterschiedlich verarbeiteten und selektiv aufgenommenen nationale Erfahrungskomplexe. Solche Tatbestände führen geradezu zwingend zu komparatistischen Betrachtungs- und Analyse-Ansätzen. Diese aber werden in der Militärgeschichte immer noch zu wenig angewandt 4 . Die im folgenden abgedruckten Beiträge regen zu solchen komparatistischen Analysen in verdienstvoller Weise an.
4
Als komparatistische Studien im militärgeschichtlichen Bereich sei beispielsweise verwiesen auf die Arbeiten von Gooch, Armies in Europe; Bond, War and Society (und die anderen Bände der Fontana-Bibliothek); Müller, Politics, und auf die glänzende mentalitätsgeschichtliche Studie von Vogel, Nationen; ein anregender politikwissenschaftlicher Uberblick wurde vorgelegt von Perlmutter, Military.
Hew Strachau Die Vorstellungen der Anglo-Amerikaner von der Wehrmacht
Die Vorstellungen, die sich Briten und Amerikaner seit den dreißiger Jahren von der Wehrmacht gemacht haben, waren von Anfang an entscheidend geprägt von der vermeintlichen Professionalität des deutschen Heeres. Ein solcher Ansatz klingt paradox, denn während des gesamten Zweiten Weltkrieges stellten Hitlers Kriegsmarine und seine Luftwaffe die stärkere Bedrohung für die Sicherheit beider Mächte dar. Großbritannien und die USA haben Deutschland zwar auf See und in der Luft permanent und intensiv bekämpft, aber es gab keine solche Kontinuität bei Operationen gegen die deutschen Landstreitkräfte. Zum Teil war das natürlich auf die Tatsache zurückzuführen, daß die AngloAmerikaner die Bodenkämpfe meistens verloren haben, was an sich schon zu einer gründlichen Untersuchung Anlaß gab. Von ebenso großer Bedeutung war, daß die Siege des Preußischen Heeres in den Einigungskriegen und die Einrichtung seines Generalstabs für beide Länder ein Vorbild geschaffen hatten, das bei der Umgestaltung ihrer eigenen Heere zwischen 1871 und 1914 eine wichtige Rolle spielte. Was man am deutschen Heer bewunderte, waren vor allem seine institutionelle Stärke und sein organisatorisches Leistungsvermögen gewesen; was in den Jahren 1939—45 hinzukam, war die Bewunderung für die kämpferischen Fähigkeiten des deutschen Soldaten. In Anbetracht der besonderen Ausstrahlung, die vor 1914 und nach 1945 vom deutschen Heer auf die Engländer und Amerikaner ausging, war es erstaunlich, wie wenig in den Jahren 1933-1939 zu dieser Frage veröffentlicht wurde. Zwischen Hitlers Aufstieg zur Macht und dem Beginn des Krieges publizierte die „Army Quarterly" außer einem kurzen Bericht über die Vorschriften der deutschen Infanterie nichts über das deutsche Heer der damaligen Zeit. Im selben Zeitraum brachte „The Journal of the Royal United Service Institution" zwei Artikel heraus. Ein weiterer folgte im Herbst 1939, und in den nächsten sechs Jahren wurde dann nichts mehr veröffentlicht. Herbert Rosinskis „The German Army" in der Ausgabe vom November 1939 war vielleicht das am weitesten verbreitete Buch zu diesem Thema in englischer Sprache. In diesem etwas begrenzten Informationsmaterial war die Frage nach der politischen Treue des Heeres das zentrale Thema. Die Erinnerung an den Zusammenbruch von 1918, die Dolchstoßlegende und die Revolution bildeten entscheidende Faktoren, die den Briten Zuversicht gaben, daß hier die Schwäche des deutschen Heeres liegen würde. Dabei wurden zwei Spannungsursachen erkannt. Als erste wäre ein tiefgreifender Generationskonflikt zu nennen. Die älteren Offiziere, die schon im kaiserlichen Heer gedient hatten, aristokratisch, monarchistisch und konservativ gesinnt, unterschieden sich demnach von einer neuen Generation, die der unteren Mittelschicht entstammte und den Nazis näherstand. Obwohl die schnelle Erweiterung des Heeres seit 1935 dazu führte,
Die Vorstellungen der Anglo-Amerikaner von der Wehrmacht
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daß letztere zahlreicher wurden, bildete doch die ältere Generation aufgrund ihres Dienstalters und ihrer Stellung eine noch immer dominierende Oberschicht. Überdies, so Rosinski, sei die jüngere Generation, die danach strebte, Offizier zu werden, zu keinem klaren Denken in der Lage und unfähig, die eigene Sprache richtig zu gebrauchen 1 . Deshalb werde durch die Vergrößerung des Heeres ein gravierender Qualitätsverlust im Offizierskorps eintreten. Auch die zweite Spannungsursache brachte man mit der älteren Generation in Zusammenhang. Von den deutschen Generalen nahmen die britischen Experten an, daß sie in wichtigen Fragen nicht mit Hitler übereinstimmten. Wie jeder Militärhistoriker vor Manfred Messerschmidt und Klaus-Jürgen Müller, betrachtete auch Rosinski den Rücktritt von Generalstabschef Ludwig Beck im Jahr 1938 als Beweis dafür, daß die ranghöheren Offiziere der Nazifizierung des Heeres aktiv entgegentraten. Aus alledem wurde die naheliegende Schlußfolgerung gezogen, daß das Offizierskorps durch die inneren politischen Gegensätze und durch die Konfrontation mit den Nazis so gelähmt war, daß das Heer der Belastung eines europäischen Krieges vielleicht nicht gewachsen sein würde. Im Herbst des Jahres 1939 bildeten solche Erwägungen den Hintergrund für die Uberzeugung des britischen Heeres, daß es in dem langen Krieg, den die Stabschefs nun prognostizierten, die Oberhand gewinnen könnte. Ein merkwürdiges und drastisches Beispiel für diese Auffassung war ein Artikel von Oberstleutnant H. G. de Watteville im „Journal of the Royal United Service Institution" von 1939. Darin äußerte er unter anderem die etwas absonderliche These, daß sich die Deutschen zuviel Bewegung machten, was zu Herzbelastungen führe. Gleichzeitig hätten sie durch die übermäßig lange Arbeitszeit in den Fabriken Plattfüße. Die wirkliche Schwäche der Deutschen war für de Watteville jedoch nicht in der körperlichen Konstitution, sondern im Geist zu suchen. Der erzwungene, ans Hysterische grenzende Enthusiasmus werde sich unter den schlimmsten Bedingungen des Grabenkriegs nicht förderlich auf die Ausdauer der Soldaten auswirken, meinte er und fragte, in welchem Maße wohl diese neue Wehrpflichtarmee von sozialer und politischer Unzufriedenheit ausgehöhlt sei? Wie stark könnte diese dazu beitragen, daß sich ein Zusammenbruch, wie er sich 1918 im kaiserlichen Heer ereignet hatte, wiederholte? Dieser Faktor lasse sich zwar nicht abschätzen, ihn zu ignorieren wäre jedoch unklug 2 . Solche Ausführungen sollten dazu dienen, ein latent vorhandenes Gefühl der materiellen Unterlegenheit bis zu einem gewissen Grad durch vermeintliche Schwächen im deutschen Heer wettzumachen. Als die Wiederaufrüstung Deutschlands 1935 allgemein bekannt wurde, konzentrierte das britische Nachrichtenwesen seine Erkundungen fast ausschließlich auf die Herstellung von Waffen und Gerät. Es gelang ihm, sich dabei selbst so in Panik zu versetzen, daß die britische Regierung Hitler in München nachgab. Jedoch stellte das von dem deutschen Diktator geschaffene Propagandabild - ein Bild, von dem sich die Nachrichtenauswertung offenbar faszinieren ließ - ein Szenario dar, das für die britische Seite ungünstigste Kriegsvoraussetzungen widerspiegelte. Es beruhte auf der Annahme, daß ein totalitärer Staat seine Zielsetzungen mit geringeren
1 2
Rosinski, A r m y , S. 2 4 7 - 2 4 8 . de Watteville, A r m y .
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Hew Strachan
Verlusten und größerer Effektivität verfolgen könne als der liberale Kapitalismus. Von besonderer Bedeutung in dieser Hinsicht war die Arbeit des „Industrial Intelligence Committee" in Großbritannien, das der Meinung war, die gesamte deutsche Wirtschaft sei seit 1935/36 auf Kriegsproduktion umgestellt worden sei und daß deshalb der Vierjahresplan von 1936 in vollem Umfang erfüllt werden würde 3 . Da auch ihre eigene Wiederaufrüstung 1938/39 rasch in Gang kam, wurden die Briten allerdings wieder optimistischer gestimmt. Sie bezogen die Belastungen in ihr Kalkül ein, die eine schnelle Erweiterung der Rüstungsproduktion für Deutschland zweifellos mit sich bringen mußte, und kamen zu der Schlußfolgerung, daß Hitler einen kurzen Krieg werde führen müssen. In London richtete man die eigenen Pläne auf einen langen Krieg aus und hoffte darauf, die wahrscheinlichen Schwächen Deutschlands ausnutzen zu können. Seeblockade und Bombenangriffe sollten die entscheidenden Waffen sein: Mit Deutschland bei den Bodentruppen gleichzuziehen, war nie die Absicht. Die Vernachlässigung der eigenen Heeresverbände ging bei den Briten so weit, daß ihre Nachrichtendienste auch das operative und taktische Denken der Deutschen außer acht ließen. Abgesehen von den Berichten britischer Militärattaches, die an deutschen Manövern teilnahmen, widmete das britische Nachrichtenwesen der deutschen Doktrin wenig Aufmerksamkeit. Auch bei der veröffentlichten Literatur sah es nicht viel besser aus. Basil Liddell Hart, der bekannteste Militärschriftsteller der dreißiger Jahre, publizierte wenig über die deutsche Armee. Auf jeden Fall war er der Ansicht, daß das Heer nicht mehr das ausgezeichnete Niveau aufwies, das es in den zwanziger Jahren unter Seeckt erlangt hatte. Er behauptete, daß nur eine Elite, eine Berufsarmee, zu Uberraschung, Beweglichkeit und Manöver fähig sei: Genau das war für ihn die Reichswehr gewesen, wie sie gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags geschaffen worden war. Mit der Rückkehr zu einem Massenheer habe Hitler die Flexibilität auf dem Schlachtfeld, die durch das Berufsheer gewährleistet wurde, untergraben. In „Europe in Arms" (1937) betonte Liddell Hart, daß die Transportmittel des Heeres noch überwiegend von Pferden gezogen würden, daß die Rekrutierung von Offizieren durch die einander widersprechenden Forderungen nach Qualität und Quantität belastet sei und daß dem Heer ein zufriedenstellender mittelschwerer Panzer fehle. Es bestehe Anlaß, daran zu zweifeln, schlußfolgerte er, daß das deutsche Heer bereits die Ausrüstung oder die Taktik entwickelt habe, um bei einem Angriff die Probleme lösen zu können, die ihm eine starke und durch und durch moderne Verteidigung bereiten werde 4 . Im Nachhinein kann man leicht über einen solchen offensichtlichen Mangel an Kenntnis und visionärer Kraft spotten. Es war nichts falsch an den einzelnen Argumenten, die Liddell Hart vorbrachte, und allgemeiner betrachtet, war die deutsche Doktrin in der Tat im Wandel begriffen. In jenem September berichtete Oberst F. E. Hotblack, britischer Militärattache in Berlin und Panzerenthusiast, daß die Hoffnung bestehe, Panzerdivisionen auszubilden, die als erste vorrücken sollten, betonte aber, daß es bis dahin noch ein weiter Weg sei. Sein 3 4
Wark, Enemy, S. 185-186, 230-231, 237-240. Liddell Hart, Europe, S. 23-28.
Die Vorstellungen der Anglo-Amerikaner von der Wehrmacht
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Nachfolger, Oberst Noel Mason-Macfarlane, vertrat einen völlig anderen Standpunkt. In einem Vortrag zur deutschen Militärdoktrin äußerte er 1938, daß in Deutschland keine revolutionäre neue Form der Kriegführung entwikkelt worden sei, daß die Infanterie nach wie vor den Großteil der Kämpfe führen würde und daß sich das operative Denken der Deutschen auf der Grundlage der Prinzipien von Schlieffen bewege; die Panzerdivisionen würden nicht den Angriff anführen, sondern zurückgehalten werden, um dann aus dem Erfolg Kapital zu schlagen 5 . Beide Interpretationen waren vertretbar, da jede von ihnen unparteiisch die unterschiedlichen Ansichten widerspiegelte, die damals in Deutschland diskutiert wurden. Nur durch den unerwarteten Erfolg von 1940 ist der Blitzkrieg schließlich in den Status einer Doktrin erhoben worden. Für die Vorstellungen der Briten vor 1940 ist wichtig, daß allein Mason-Macfarlanes Version eine breitere öffentliche Resonanz fand. Rosinski schrieb 1939 in seinem Buch, daß im neuen deutschen Heer die Infanterie noch immer als die Königin der Schlachten betrachtet werde. Man glaube nicht, daß der Panzer den Grenadier ablösen könne. Zwar gab er zu, daß der Gedanke, eine große Anzahl von Panzern mit hoher Geschwindigkeit einzusetzen, um einen Durchbruch zu erzielen, bereits in Deutschland formuliert worden war, betonte aber, daß die Wehrmacht erst noch ein zufriedenstellendes Panzermodell entwickeln müsse. Panzer seien keine entscheidende Truppengattung, sondern eine Gelegenheitswaffe unter mehreren. Was Rosinski zu sehen glaubte - wiederum nicht ohne Grund - , war eine Verwirrung bezüglich der gültigen Doktrin, was nicht zuletzt auf den Konflikt zwischen dem deutschen Generalstab und „Phantastereien der Amateurstrategen der Nazis" zurückzuführen sei 6 . Mit ziemlicher Sicherheit wurde Rosinskis Buch häufiger gelesen als eine andere Neuerscheinung jenes Winters, G. C. Wynnes „If Germany Attacks: the Battle in Depth in the West". In diesem Buch Wynnes, das sich in auffälliger Weise auf Fritz von Lossbergs gerade erschienenes Tagebuch 7 stützte, wurden die Schlachten von 1915-1918 außerordentlich gut analysiert. Jedoch zog Wynne die Schlußfolgerung, daß ein neuer Krieg dort beginnen würde, wo der letzte aufgehört hatte. Für ihn bestand die wichtigste Neuerung des Ersten Weltkrieges in der Entwicklung der deutschen Abwehrschlacht, die eine tiefgestaffelte Verteidigung hervorgebracht hatte. Als Beweis für diesen Zusammenhang führte er den Bau der Siegfriedstellung und jetzt des Westwalls an. Er war der Ansicht, daß die beweglichen Truppenteile der Deutschen hinter diesen Stellungen gestaffelt würden, um einen Gegenangriff in die Tiefe führen zu können. Deshalb gab Wynne zu, daß die deutsche Taktik die Kombination von Feuerkraft und Beweglichkeit betonte, allerdings nur im Rahmen der Verteidigung 8 . Das Buch „If Germany Attacks" wurde im März 1940 veröffentlicht. Am 10. Mai startete die Wehrmacht ihre Offensive im Westen. Die Auslegung der 5 6 7 8
Wark, Enemy, S. 9 5 - 9 8 ; vgl. Harrison Place, Perceptions, und Harris, Intelligence. Rosinski, A r m y , S. 265. Lossberg, Tätigkeit. Wynne, Germany , S. 5, 3 2 0 - 3 2 7 .
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folgenden Ereignisse durch die Briten war von den Ansichten geprägt, die sich bei ihnen seit 1933 herausgebildet hatten und noch bis 1945 Gültigkeit behielten. Im wesentlichen führten sie die Erfolge Deutschlands weniger auf die Kampfweise des Heeres zurück, als auf dessen bessere Kriegsvorbereitung. Die Tatsache, daß die deutsche Panzertruppe 1940 den Durchbruch bei Sedan konzentrierte, verstärkte die Überzeugung, daß Deutschland als direkte Folge seiner Wiederbewaffnungspolitik vor dem Krieg ein starkes Ubergewicht bei der Zahl seiner Panzern besessen haben mußte. Beim britischen Nachrichtenwesen vertrat man die Ansicht, daß Deutschland über 5000 Panzer verfügte, davon 1400 mittelschwere. In Wirklichkeit beliefen sich diese Zahlen jedoch auf 3000 bzw. 300 9 . Die veröffentlichten Berechnungen waren sogar noch stärker überzogen. De Watteville ging 1939 von fast 20 Panzerdivisionen aus, doppelt so viele, wie es wirklich gab 10 . In „The Military Strength of the Powers", 1939 vom Left Book Club herausgegeben, äußerte Max Werner, das deutsche Heer sei voll motorisiert und besitze, bezogen auf 1938, 6000 bis 7000 Panzer. Die Kriegssollstärke rechnete er auf 10500 Panzer und 20 motorisierte Divisionen hoch 11 . Nach dem Zusammenprall mit dem Feind auf dem Schlachtfeld wurden diese Annahmen modifiziert, aber nicht prinzipiell korrigiert. In den regelmäßig vom britischen Generalstab herausgegebenen „Notes on the German Army", die auf Informationen beruhten, die bis zum 14. Juni 1940 eintrafen, ging man von mindestens 12 deutschen Panzerdivisionen, 4800 Kampfpanzern und insgesamt über 7000 bis 7500 Panzern aller Typen aus 12 . So wurde die vermeintliche Effizienz der wirtschaftlichen Mobilmachung Deutschlands und britisches Unvermögen zur raschen Aufrüstung zur Standarderklärung für Deutschlands überwältigende Folge von Siegen zwischen 1939 und 1941. Später räumte Liddell Hart ein, daß es diese Doktrin und er selbst ihr Urheber gewesen sei, die dem deutschen Heer zum Sieg verholfen habe. Im November 1940 hatte er jedoch den Fall Frankreichs noch Deutschlands angeblich großer Überlegenheit an Panzern und Flugzeugen zugeschrieben 13 . Selbst nach dem Krieg berichtete Churchill noch in seinen Memoiren von 1000 schweren Panzern 1940, während damals tatsächlich nicht ein einziger vorhanden gewesen war 14 . Eine konstatierte anfängliche Rüstungsüberlegenheit Deutschlands wurde kompensiert durch die Erwartung des britischen Nachrichtenwesens, daß Deutschland nicht die Kräfte und Mittel besitzen würde, um einen langen Krieg zu führen - daß dem deutschen Heer für großangelegte Angriffe das Gerät fehle. Beim britischen Nachrichtenwesen war man der Meinung, daß dieser Punkt im Frühling 1943 erreicht sein mußte. 1943/44 häuften sich Berichte über die Schwächen der deutschen Panzerdivisionen, und im Juni 1944 rechnete man damit, daß dem Heer 4000 Panzer fehlten. Auch was die Perso-
9 10 11 12 13 14
Hinsley u.a., Intelligence, 1, S. 62. de Watteville, Army in 1939, S. 727. Werner, Strength, S. 150. The War Office, Periodical Notes on the German Army Nr. 24, S. 1. Liddell Hart, Dynamic Defence, zit. n. Bond, Liddell Hart, S. 133. Churchill, The Second World War, S. 239.
Die Vorstellungen der Anglo-Amerikaner von der Wehrmacht
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nalstärke betraf, wurde die Lage jetzt als unheilvoll betrachtet. Im Juli 1943 glaubte das britische militärische Nachrichtenwesen, daß sich die Gesamtstärke des deutschen Heeres im Laufe des Jahres von sechs Millionen auf 5,2 Millionen verringern würde, und sah sich im Januar 1944 durch die Meldung bestätigt, die Soll-Stärke der Division sei von 15000 auf 10000 herabgesetzt worden. Das waren wichtige Hintergründe für die Entscheidung, die Invasion Nordwesteuropas 1944 zu beginnen, und für den in jenem Sommer weit verbreiteten Glauben, an einen militärischen Zusammenbruch Deutschlands spätestens im Dezember 194415. Statt dessen kämpfte Deutschland bis Mitte Frühjahr 1945 weiter, ja die Wehrmacht startete sogar genau in dem Moment, wo sie entsprechend den früheren Prognosen eigentlich kapitulieren sollte, eine kraftvolle Offensive in den Ardennen. Nach dem Krieg zeigte dann der „United States Strategie Bombing Survey", daß die deutsche Kriegsproduktion nicht 1940-41, wie das britische Nachrichtenwesen angenommen hatte, sondern 1944 ihren Höhepunkt erreichte. Des weiteren wurde klar, daß die Siege von 1939—41 nicht vorrangig auf die materielle Überlegenheit zurückzuführen waren. In Anbetracht dieser Erkenntnis mußte man nach alternativen Erklärungen für das Durchhaltevermögen der Wehrmacht suchen. Diese fand man in der Moral des Soldaten 16 . Unter anderem mußte man nun die Hypothese aus der Vorkriegszeit aufgeben, daß sich die politische Zuverlässigkeit der Armee als fragwürdig erweisen würde. Berichte, daß die Generale ein Komplott gegen Hitler schmiedeten, verursachten daher bald mehr Skepsis als Aufregung. Sehr argwöhnisch war das Joint Intelligence Committee gegenüber den Erkenntnissen, die es Anfang 1944 bezüglich des geplanten Bombenanschlags von Stauffenberg gewann. Zwar zeigten die Vereinigten Staaten mehr Interesse, aber selbst als der Staatsstreich im Juli 1944 versucht wurde, behauptete das Joint Intelligence Committee weiterhin zu Recht, daß Deutschlands militärische Niederlage eintreten würde, ehe Hitler gestürzt sei 17 . Das heißt aber nicht, daß nun niemand mehr an Spannungen zwischen den ranghöheren Offizieren und Hitler glaubte. Am 25. Juli 1944 verlautete aus der britischen 21. Heeresgruppe, daß der Aufstand der Militärjunta, selbst wenn er unterdrückt werde, was sehr unwahrscheinlich sei, weitreichende Folgen haben werde 18 . Deshalb bestand eine der vordringlichsten Aufgaben für die britischen und amerikanischen Analytiker nach dem Krieg darin zu erklären, warum sich die vor dem Krieg geäußerte Erwartung, daß die politische Spaltung innerhalb der Wehrmacht sowie zwischen Heer und Regime zum inneren Zusammenbruch führen würde, nicht erfüllt hatte. Darauf fanden sie verschiedene Antworten. Fälschlicherweise war die Übernahme der obersten Führung der Streitkräfte nach der Blomberg/Fritsch-Affaire im Jahre 1938 durch Hitler von vielen als Zeichen der Unterwerfung der Generale unter den „Führer" betrachtet wor-
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Hinsley Ebd., 3, Ebd., 3, Ebd., S.
u.a., Intelligence, 3, P. 1, S. 6 4 - 6 5 ; 3, P. 2, S. 21, 2 4 , 2 7 , 31, 365. P. 1, S. 300. P. 2, S. 3 6 5 - 3 6 7 , 8 9 3 - 8 9 5 . 367.
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den. Ein noch größerer Irrtum war die Annahme, daß damit eine effiziente Führungsstruktur geschaffen worden sei. Das Handbuch des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten zu den deutschen Streitkräften im Jahr 1941 stellte fest: Das hervorstechendste Merkmal der deutschen Militäroperationen im gegenwärtigen Krieg sei die bemerkenswerte Zusammenfassung der drei getrennten Teilstreitkräfte von Heer, Marine und Luftwaffe zu einem vereinten Kommando für bestimmte Aufgaben. Diese Teilstreitkräfte würden in einem Feldzug nicht zusammenarbeiten, sondern ihre Operationen würden vom Oberkommando der Wehrmacht koordiniert werden 19 . In Großbritannien wehrte sich der Chef des Imperial General Staff 1959 gegen die Schaffung einer integrierten Wehrstruktur und verwies dabei auf das Beispiel des deutschen OKW 20 . Die These, daß der totalitäre Nazistaat für einen Krieg besonders gut organisiert gewesen sei, bildete ein wichtiges Argument für seine angebliche militärische Wirksamkeit. Der zweite Faktor war die offensichtliche Treue zu Hitler, die von den niedrigen Dienstgraden noch 1944 und 1945 bekundet wurde. Im Gegensatz zu 1918 war die innere Kraft der Armee nicht völlig erschöpft. In jener Phase wurde die Belastbarkeit der Moral des deutschen Heeres jedoch nicht als Beweis für dessen politische und ideologische Uberzeugung angesehen, sondern als Produkt seiner eigenen inneren Strukturen. Im Denken der Amerikaner wurde die hohe Moral der Deutschen im Zweiten Weltkrieg insbesondere dem Pflichtbewußtsein kleiner Gruppen zugeschrieben. Wie S. L. A. Marshall 1947 in „Men under Fire" behauptete, kämpften die Soldaten hauptsächlich für ihre Kameraden. 1948 bezogen Morris Janowitz und Edward Shils dieses Argument auf die Wehrmacht in den letzten Tagen des „Dritten Reichs". Deren überragende Eigenschaften im Gefecht schrieben sie der Treue kleiner Gruppen zu 21 . Martin von Creveld kam in „Fighting Power" 22 zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Im wesentlichen sah man die Ursachen weniger in der Veränderung als in der Kontinuität: Die Wehrmacht habe nicht wegen der Indoktrination durch die Nazis, sondern wegen seiner besonderen Eigenschaften als Armee durchgehalten. Zwischen dem OKW und der Armee als Ganzes standen deren Generale, die selbst Produkt ihrer Traditionen und Institution und nicht in erster Linie vom Nationalsozialismus beeinflußt waren. Man hielt sie für stark auf den Beruf konzentrierte Soldaten, die nur zu gut von Seeckt gelernt hatten, dessen Vermächtnis in dem Versuch bestand, den Einfluß der Politik auf die Reichswehr zu beschneiden. Drastische und sarkastische Kritik äußerte John Wheeler-Bennett, wenn er behauptete, daß die Generale durch das Beispiel Hindenburgs sowie die Hoffnung auf Wiederaufrüstung und nationale Einheit, die von den Nazis in Aussicht gestellt wurden, zu Anhängern Hitlers geworden waren. Noch verhängnisvoller sei jedoch der schädliche Einfluß einer Gruppe ehrgeiziger Karrieristen gewesen, die annahmen, daß die Nazis ihnen Möglichkeiten zu Beförderung und Aufstieg eröffnen würden. Dies hat ja der ehemalige Reichs-
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Zit. n. Cooper, A r m y 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , S. 91. Strachan, Politics, S. 247. Janowitz/Shils, Cohesion. Creveld, Fighting Power.
D i e V o r s t e l l u n g e n der A n g l o - A m e r i k a n e r v o n d e r W e h r m a c h t
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kriegsminister von Blomberg gegenüber dem Nürnberger Militätribunal auch festgestellt 23 . Für Wheeler-Bennett war der Bombenanschlag vom Juli 1944 nicht der Moment, in dem die Ehre des Offizierskorps doch noch gerettet worden ist. Von Bedeutung war für ihn die Tatsache, daß die Generale nach dem mißglückten Anschlag vor Hitler zu Kreuze krochen. Wheeler-Bennett, der sein Werk schrieb, als eine neue deutsche Armee im Entstehen begriffen war, wollte, daß sich diese keine falschen Vorstellungen von ihrer Vorgängerin machen und insbesondere keine Grundlage für eine Neuauflage der Dolchstoßlegende schaffen sollte 24 . Ein anderes Licht wirft Liddell Hart auf die deutschen Generale. Die ehemaligen Wehrmachtoffiziere erkannten, daß ihnen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren die Chance bot, ihre moralische Autorität wiederzuerlangen 25 . Diese Wiederbewaffnung mußte auf ihre Weltkriegsfähigkeiten zurückgreifen, was Liddell Hart die Gelegenheit gab, diese als ganz besondere herauszustellen. Mit der Wiederherstellung des professionellen Rufs der Wehrmachtoffiziere wollte er seinen eigenen reparieren. Er hatte vor dem Krieg die britische Politik der „Limited Liability" und während des Krieges einen Kompromißfrieden befürwortet. Dies tat er mit „The Other Side of the Hill: Germany's Generals, their Rise and Fall", mit „Their Own Account of Military Events 1939-1945", erstmals veröffentlicht 1948, und damit, daß er die Veröffentlichung der Memoiren und Abhandlungen der Generale in englischer Sprache in die Hand nahm. So schrieb er das Vorwort zu Heinz Guderians „Panzer Leader" (1952), zu „The Rommel Papers" (1953) und zu Erich von Mansteins „Lost Victories" (1958). Liddell Hart kritisierte die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg 26 und behauptete, daß sich die deutsche Armee einen „Anstandskodex" bewahrt habe, der in ständigem Widerspruch zu den Nazis stand27. Dabei half ihm die Aufführung des Films „The Desert Fox" von Henry Hathaway im Jahre 1951 mit James Mason als Rommel in der Hauptrolle. In „Desert Rats" spielte Mason diese Rolle 1953 noch einmal. Rommel war der deutsche General, der dank des Nordafrikafeldzugs in der britischen Öffentlichkeit die meiste Beachtung gefunden hatte. Mit dem Film „The Desert Fox", der vom Bombenanschlag im Juli 1944 handelte, wurde der Glaube bestätigt, daß nicht nur Rommel ein ehrenhafter Mann gewesen sei, sondern, mehr noch, daß das auf alle deutschen Generale zuträfe. Dieses Image hat sich in Großbritannien mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit gehalten. Erst am 28. August 1997 veröffentlichte „The Times" einen größeren Nachruf auf Oberst Hans von Luck, der mit der Feststellung begann, daß er in den sechziger Jahren von der Britischen Stabsakademie als „fairer und tapferer Gegner" begrüßt worden sei, während er von den Russen (deren Kriegsgefangener er gewesen war) als Diener eines verbrecherischen Regimes abgestempelt wurde.
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Vgl. dazu den Beitrag Volkmann in diesem Band. Wheeler-Bennett, Nemesis. Searle, Liddell Hart. Bond, Liddell Hart, S. 1 8 5 - 1 8 6 . Liddell Hart, Side, S. 12.
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Die Unterscheidung zwischen den politischen Zielen des „Dritten Reiches" und den soldatischen Eigenschaften der Wehrmachtangehörigen, die diesem Reich dienten, war im Fall von Heinz Guderian besonders schwer nachzuvollziehen. Liddell Hart hat Guderian zum aufrichtigen Soldaten stilisiert, zum Inbegriff eines professionellen Soldaten 28 . Laut Liddell Hart war Guderian Hitler nur wegen dessen Begeisterung für Panzer zugetan. N i e nahm er Anstoß daran, daß es Guderian war, der als Chef des Generalstabs die Reaktion des Heeres auf den Bombenanschlag koordiniert und der den Befehl vom 29. Juli 1944 erlassen hatte, wonach jeder Generalstabsoffizier ein nationalsozialistischer Offizier sein müsse, der sich nicht nur durch sein Wissen auf dem Gebiet der Taktik und Strategie, sondern auch durch seine vorbildliche Haltung in politischen Fragen und durch die aktive Zusammenarbeit bei der politischen Unterweisung der jüngeren Truppenführer nach den Grundsätzen des „Führers" 2 9 auszuzeichnen habe. Liddell Hart gelang es nicht nur, seinen Ruf aufzupolieren; er dominierte auch die gesamte Militärgeschichtsschreibung englischer Provenienz mindestens bis zu seinem Tod im Jahre 1970. Bei der Deutung der Wehrmacht gab er zwar nach dem Krieg den Ton an, aber inzwischen bröckelt der Putz am sorgsam errichteten Gebäude dieser Institution. Er hat auch R. J. O'Neill und Alan Clark, deren umfangreichsten Bericht über den Krieg im Osten, der damals in englischer Sprache verfügbar war, besonders gefördert. 1970 wurde Liddell Harts eigene „History of the Second World War" posthum veröffentlicht 30 . Der wichtigste Aspekt für das Verständnis der anglo-amerikanischen Sichtweise der Wehrmacht sind die Erfahrungen der Briten im Kampf gegen die deutsche Armee in Frankreich im Jahr 1940, in Nordafrika und Italien sowie dann 1944/45 in Nordwesteuropa. Heute konzentrieren sich die meisten Untersuchungen zur Wehrmacht darauf, festzustellen, wie der größte Teil der deutschen Armee über die längste Zeit hinweg vom wichtigsten Gegner und seiner Bevölkerung im Osten erlebt wurde. Bis zur Veröffentlichung der zwei Bände von John Erickson in den Jahren 1975 und 1983 war dieser Kriegsschauplatz tatsächlich in der englischen Sprache ein Buch mit sieben Siegeln. Bei Liddell Hart ist die Geschichte nach Jahren gegliedert und in Kriegsschauplätze unterteilt. Von den 429 Seiten, die jedem Jahr zwischen 1941 und 1944 gewidmet sind, beschäftigen sich 79 mit der Ostfront, während 247 Nordafrika, Italien und Nordwesteuropa zum Gegenstand haben; sowohl 1942 als auch 1943 wird Nordafrika und Italien dreimal soviel Aufmerksamkeit gewidmet wie den Ereignissen in Rußland. Liddell Harts Interesse am Zweiten Weltkrieg im allgemeinen und an der deutschen Wehrmacht im besonderen war geprägt von der Entschlossenheit, aus dieser Geschichte den Beweis für die Wirksamkeit seiner eigenen Ideen abzuleiten. Dabei galt seine Aufmerksamkeit nicht politischen, sondern operativen Gesichtspunkten. Sein Ziel bestand darin zu zeigen, daß die Erfolge der deutschen Armee zwischen 1939 und 1941 auf dem Schlachtfeld seinen Thesen ent28 29 30
Liddell Hart's foreword, in: Guderian, Panzer Leader, S. 12. Zit. n. Cooper, Army, S. 535. O'Neill, Army; Clark, Barbarossa.
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sprachen - daß er in seinem eigenen Land ignoriert und mißverstanden, im Land des Feindes dagegen mit seiner Beurteilung der Wehrmacht geehrt und angenommen wurde, was verheerende Folgen hatte 31 . Guderian war für ihn so wichtig, weil dieser mit der Befürwortung der Panzertruppe im Vorkriegsdeutschland erreicht hatte, daß Liddell Harts Denken von Großbritannien aus Verbreitung fand. So schrieb er in „The Other Side of the Hill", daß Guderians Ansichten geprägt worden seien von einem „neuen Evangelium, das damals in England verkündet wurde, nämlich, daß Panzer als gesonderte Truppengattung eingesetzt werden sollten, die selbständig vorgeht" 32 . Daraus lassen sich zwei Schlußfolgerungen ableiten. Erstens stimmte diese Einschätzung mit dem überein, was Rosinski schon vor 1940 geschrieben hatte, daß es nämlich in Deutschland gegensätzliche Haltungen zur Operationskunst und zur Militärdoktrin gab. Auf der einen Seite gab es damals die Traditionalisten des Generalstabs, für die die Infanterie weiterhin im Mittelpunkt der Schlacht stand, während sich auf der anderen Seite die Befürworter der Panzer der Unterstützung durch die Nazis erfreuen konnten. 1940 hatten die Panzerenthusiasten triumphiert. Die zweite Schlußfolgerung bestand in der Ansicht, daß die deutschen Erfolge in der Anfangsphase des Krieges das Produkt einer bestimmten Doktrin, Blitzkrieg genannt, gewesen seien, die eine Revolution im militärischen Denken, einen Bruch mit der Vergangenheit darstellte. Diese Auffassungen hatten in der Nachkriegszeit eine so starke Verbreitung gefunden, daß sie sogar als Erklärungsmodell für die Interpretation der deutschen Kriegswirtschaft dienten. Alan Milward hat behauptet, daß es eine Blitzkriegswirtschaft gegeben habe, eine wirtschaftliche Mobilmachung für kurze Kriege, die eine Mobilmachung in der „Breite", aber nicht in der „Tiefe" bedeutete 33 . Das verführerische Element an Milwards These bestand nicht nur darin, daß in ihr Fragen der Kriegführung mit industriellen Aspekten verschmolzen, sondern daß auf ihrer Grundlage auch argumentiert werden konnte, der erstaunliche Höhepunk der deutschen Kriegsproduktion im Juli 1944 sei kein Zufall, sondern planmäßiges Ergebnis einer gezielten Wirtschaftsstrategie gewesen. Da Liddell Hart kein Deutsch sprach, war er auch nicht in der Lage, deutsche Archive auszuwerten. Seit Ende der siebziger Jahre sind die anglo-amerikanischen Vorstellungen von der Wehrmacht von Wissenschaftlern verändert worden, die in ihrer Arbeit von keinem dieser Nachteile beeinträchtigt sind. Hinzu kommt, daß viele wichtige Veröffentlichungen deutscher Historiker, darunter Wilhelm Deist, Klaus-Jürgen Müller, Horst Boog und Jürgen Förster ins Englische übersetzt worden sind. An der Spitze steht dabei die Ubersetzung des mehrbändigen Werks des Militärgeschichtlichen Forschungsamts über „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg". Die gegenseitige Anregung ist mittlerweile so stark, daß man heute überhaupt nicht mehr von speziellen anglo-amerikanischen Vorstellungen sprechen kann. Nach wie vor wird ein Teil der bahnbrechenden Arbeiten zur Geschichte der Wehrmacht von englisch-
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Der fundierteste Angriff gegen Liddell Hart in dieser Hinsicht stammt von Mearsheimer, Liddell Hart. A z a r Gat hat die wichtigsten Korrekturen geliefert in: Influence. Liddell Hart, Side, S. 64. Milward, Kriegswirtschaft.
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sprachigen Wissenschaftlern geleistet. Am Anfang rankten sich diese jüngeren Forschungen um zwei der drei Themen, die die anglo-amerikanischen Vorstellungen in der Vergangenheit charakterisiert hatten, nämlich die Kriegswirtschaft sowie die operativen und taktischen Fähigkeiten des deutschen Heeres. Der politischen Geschichte der Wehrmacht wurde dagegen in den achtziger Jahren weniger unmittelbare Aufmerksamkeit gewidmet als in den fünfziger und sechziger Jahren. Erster Erfolg der neuen Forschungen bestand darin, daß sie Milwards These zur Blitzkriegswirtschaft widerlegen konnten. 1981 erschien Wilhelm Deists „The German Army and German Rearmament" in englischer Sprache; im Jahr 1982 veröffentlichte Richard Overy „Hitler's War and the German Economy: a Reinterpretation" im „Economic History Review", während Williamson Murray 1984 und 1985 „The Change in the European Balance of Power" und „Luftwaffe" herausbrachte. Der totalitäre Staat, so stellt es sich nach neuer Einsicht dar, war nicht effizient, sondern unwirtschaftlich. Konkurrierende Bürokratien, ein Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften, Schwächen bei der Ausnutzung der knappen Rohstoffe - all das waren plausiblere Erklärungen dafür, daß die Rüstungsproduktion erst 1944 ihren Höhepunkt erreichte, als das Argument von der Wiederaufrüstung in „der Breite, aber nicht in der Tiefe". Da er die frühen Siege nicht der materiellen Überlegenheit zuschreiben konnte, mußte Overy den militärischen Erfolg auf die Wirksamkeit der Kampfweise des deutschen Heeres zurückführen. Deshalb stellte sich mit größerem Nachdruck die große Frage - auf die auch Overy die Antwort schuldig blieb, wie die Armee trotz der materiellen Unterlegenheit in einem sechsjährigen Krieg durchhalten konnte? Vor allen Dingen, wie konnte sie den Erwartungen auf westlicher Seite zum Trotz in den Abwehrschlachten von 1943-1945 eine derart wirkungsvoll kämpfende Truppe bleiben? Für die NATO war das eine Frage von besonderer Bedeutung, weil auch sie darüber nachdachte, mit welchen Mitteln ein möglicher sowjetischer Angriff auf Mittel- und Westeuropa am besten abgewehrt werden könnte. 1982 veröffentlichte das Heer der Vereinigten Staaten eine überarbeitete Ausgabe seiner Dienstvorschrift 100-5, in der die Vorstellungen von Flexibilität und Mobilität in der Verteidigung behandelt werden; auch Großbritannien entdeckte Mitte der achtziger Jahre erneut das operative Denken. Zu einem großen Teil basierte dieses Denken auf einer Untersuchung zum deutschen Heer im Zweiten Weltkrieg. In den Stabsakademien der englischsprachigen Welt waren die Veteranen aus Deutschland als Experten gern gesehene Gäste. Die Mittel für die Forschung flössen reichlich. Mit Worten ausgedrückt, die wegen ihrer Generalisierung natürlich nicht der Vielfalt und Qualität der entstandenen Arbeiten völlig gerecht werden können: Das wichtigste Ergebnis dieses von militärischen Auftraggebern geprägten akademischen Interesses am operativen Denken bestand darin, die frühere Ansicht abzulehnen, es habe in der Kriegführung jemals eine jähe Wende hin zum Blitzkrieg gegeben. Die Veränderungen in der deutschen Militärdoktrin hätten demnach einen evolutionären Charakter gehabt; das Vermächtnis Schlieffens und die Lehren der Schlachten von 1918 seien für die Gefechte des Jahres 1940 von ebenso großer Bedeutung gewesen wie die Reaktion
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schung, Mobilität und Flexibilität genauso begeistert gewesen wie Guderian und Rommel 3 4 . Diese neuerliche Beschäftigung mit der Thematik und die Konzentration auf andere Gesichtspunkte hatten zur Folge, daß die Ehrfurcht der Briten und Amerikaner vor den soldatischen Fähigkeiten des deutschen Heeres Liddell Harts Tod überdauerte. Durch die Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Jahren 1939-41 auf 1943-45, also vom Angriff auf die Verteidigung, sahen sich die Bewunderer des Heeres jedoch mit einem Paradoxon konfrontiert. Das deutsche Heer wurde häufig für seine operativen und taktischen Leistungen in den zwei Weltkriegen gelobt, und doch wurde es in jedem dieser Kriege besiegt. Außerdem war die naheliegendste Lösung für dieses Rätsel, daß Deutschland eben durch die materielle Überlegenheit der Gegner überwältigt worden sei, an sich unbefriedigend. Deutschland fehlte außerdem eine effektive Maschinerie für die Durchsetzung einer Strategie. Die militärische Leistungsfähigkeit verband sich nicht mit einer solchen der politische Führung. Statt dessen leistete sich das O K H mit dem O K W lähmende Rivalitäten, und beide wetteiferten um die Aufmerksamkeit Hitlers. So gewann das Verhältnis zwischen Hitler und den Generalen erneut die Bedeutung, die es für kurze Zeit in den historischen Darstellungen eingebüßt hatte. In ihren Memoiren hatten die Generale der starren Haltung des „Führers", seiner Weigerung, Raum aufzugeben, und seinem Festhalten an ideologischen und wirtschaftlichen Zielen zum Nachteil vernünftiger militärischer Entscheidungen die Schuld an ihren Niederlagen in der Sowjetunion gegeben. Nach der Verschmelzung der anglo-amerikanischen und der deutschen Forschung wird nun jedoch nicht nur behauptet, daß die Generale Hitler als Sündenbock für ihre eigenen Fehlentscheidungen auf militärischem Gebiet gebrauchten, sondern auch, daß das Heer an der Ostfront weitaus mehr mit den Nazis verband, als die Konzentration der Forschung auf eng begrenzte militärische Fragen bisher offenbart hatte. Durch die Arbeit von Jürgen Förster, Theo Schulte, Christopher Browning und - vielleicht mit größerem Einfluß als alle anderen in Englisch erschienenen Arbeiten - Omer Bartov wurden die ideologischen Elemente des Kampfes in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt 35 . Hitlers Heer an der Ostfront war ein Massenheer, das sehr große Verluste zu beklagen hatte. Der daraus resultierende Bedarf an Soldaten war so enorm, daß die Erklärungen für die im wesentlichen gleichbleibend hohe Kampfmoral, die angeblich auf dem Zusammenhalt kleiner Gruppen oder der dem deutschen Heer zugeschriebenen Professionalität basierte, offensichtlich nicht zu halten waren. Die Brutalität, das Ausmaß und die Intensität der Kämpfe im Osten war von jenen anglophonen Wissenschaftlern, die gern solche Argumente anführten, nicht zur Kenntnis genommen worden; sie hatten den „ordentlichen" und „zivilisierten" Krieg an den Westfronten auf den Krieg insgesamt übertragen.
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Harris, Myth, bietet einen Überblick über einen großen Teil dieser Literatur in Englisch; Millett/Murray, Effectiveness, stellen das beste Beispiel für staatlich finanzierte Forschung dar. Beispiele für die Arbeit von Foster und Schulte sind in: Addison/Calder (Hrsg.), Time, zu finden. Siehe auch Browning, Men; Bartov, Army.
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An der Ostfront behandelten die Deutschen aber den Feind als „Untermenschen", und Grausamkeit war sowohl ein Instrument der Kriegführung als auch Ausdruck ihrer politischen Ziele. Daß die Wehrmacht diese Umstände hinnahm, erklärte nicht nur, warum sie weiterkämpfte, selbst als andere Faktoren das eigentlich nicht mehr rechtfertigten, sondern bewies auch, daß das Heer in größerem Maße nationalsozialistisch eingestellt war, als seine anglophonen Verteidiger der Nachkriegszeit zugeben wollten. Das deutsche Heer konnte so gut und so lange kämpfen, weil es für eine Sache eintrat, an die es glaubte, und das waren nicht einfach - oder nicht einmal - die professionellen Werte des alten Heeres.
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Die Wehrmacht im Kalkül Stalins
Stalins Wirken in der Zeit des Zweiten Weltkriegs an der Spitze der militärischen Hierarchie der Sowjetunion hat immer wieder das Interesse von Historikern, Memoirenschreibern und Publizisten geweckt und ist bereits unter verschiedenen Einzelaspekten beleuchtet worden 1 . Allerdings bleibt festzuhalten, daß insgesamt entschieden zu wenige Erkenntnisse zusammengetragen worden sind, als daß von einem auch nur annähernd geschlossenen Bild die Rede sein könnte. Zu den Bereichen, die bisher nahezu außerhalb jeder historischen Betrachtung geblieben sind, gehören die Beurteilung der Wehrmacht durch Stalin und seine Überlegungen zum Umgang mit der Wehrmacht als Grundlage für entsprechende sowjetische Führungsentscheidungen auf politischem, militärstrategischem und wirtschaftlichem Gebiet. Das Fortbestehen dieses Desiderats bis in die Gegenwart muß eigentlich erstaunen: Die Wehrmacht ließ sich für Stalin als „Führer" des Sowjetstaates nicht mit einem kurzzeitigen Aufblitzen und Erlöschen seines Interesses abtun - immerhin stand die Sowjetunion im Zuge des von der Wehrmacht geführten Angriffskrieges 1941 und noch einmal 1942 am Rande ihres Untergangs, und selbst vorher und nachher beanspruchte die Wehrmacht über einen längeren Zeitraum praktisch tagtäglich seine Aufmerksamkeit. Im folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, skizzenhaft die Position zur Wehrmacht näher zu bestimmen. Zur wohl bekanntesten direkten Äußerung Stalins über die Wehrmacht avancierte eine Bemerkung, die der sowjetische Diktator am Rande der Teheraner Konferenz gegenüber Churchill gemacht haben soll: „ . . . die ganze Schlagkraft der mächtigen Armeen Hitlers hänge von etlichen fünzigtausend Offizieren und Sachverständigen ab. Wenn man sie bei Kriegsende festnehme und erschieße, wäre Deutschlands militärische Kraft für immer gebrochen" 2 . Obschon nach heutigem Kenntnisstand durchaus davon ausgegangen werden kann, daß die Bemerkung so fiel und auch ernst gemeint war, bliebe sie doch eher eine Momentaufnahme. Das Bild Stalins von der Wehrmacht wies wesentlich mehr Facetten auf.
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An diesbezüglichen Publikationen seien hier genannt Wolkogonow, Triumph; Gor'kov, Kreml'; Simonov, Zametki; Shukow, Erinnerungen. Vgl. Churchill, Teheran, S. 63.
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Die Wehrmacht als militärischer Gegner Stalin war weder eine besondere Affinität zum Militärwesen nachzusagen, noch verfügte er über gründliche militärische Kenntnisse. Dennoch stellten für ihn als sogenannten Berufsrevolutionär solche Fragen wie die grundsätzliche Haltung gegenüber Streitkräften des bürgerlicher Staates, die Führung bewaffneter Auseinandersetzungen um die Erringung und Ausweitung der Macht der Bolschewiki, das Streben nach einer eigenen starken Armee für den als unvermeidlich angesehenen Krieg gegen den Weltimperialismus Bestandteile der Revolutionslehre dar. Lenin hatte schon auf die notwendige Beherrschung des Militärwesens durch die Kommunisten verwiesen „als eines Werkzeugs, dessen sich die Volksmassen und Volksklassen zur Lösung der großen geschichtlichen Konflikte bedienen" 3 , wobei jedoch das entscheidende Mittel im Kampf gegen die Bourgeoisie die „Zerstörung ihres militärischen Apparats" 4 sei; gleichzeitig bejahte er die Führung von Kriegen, die „sich im Interesse des Sozialismus als notwendig erweisen können" 5 . U n d auch Stalin verlor nie die militärischen Aspekte an der Spitze der Sowjetunion aus den Augen: So betonte er bereits 1925, man müsse mit einem neuen Krieg rechnen, dabei werde sich bei „Verwicklungen" in den Nachbarländern der U d S S R „unbedingt die Frage unserer Armee (der Roten Armee - d. V.), ihrer Macht, ihrer Bereitschaft als lebenswichtige Frage erheben" 6 . Bei der Umsetzung der von den Bolschewiki verfolgten Ziele kam Deutschland und nicht zuletzt auch deutschen Streitkräften aufgrund der geostrategischen Lage, des Potentials und des Entwicklungsstandes stets eine Schlüsselstellung zu. Wie sich auch im Verlaufe der Zeit Kräfteverhältnisse und politische Konstellationen verändern mochten, kein sowjetischer Führer konnte in seinen Entscheidungen und in seiner Einflußnahme auf Militärwesen, Doktrin oder Sicherheitspolitik der U d S S R die von Deutschland ausgehenden militärischen Realitäten negieren. Dies galt für die Reichswehr, für die Wehrmacht von ihrer Aufbauphase sogar über ihre Existenz hinaus und schließlich für die ersten militärischen Formationen im Zuge einer verdeckten Bewaffnung in der sowjetischen Besatzungszone. Im Hinblick auf die Reichwehr waren es vor allem zwei sich scheinbar einander ausschließende Faktoren, die das Interesse des Kreml wachhielten: Einerseits die Gegnerschaft zur Reichswehr als einer Stütze des auf dem Wege einer Revolution zu überwindenden bürgerlichen Staates und andererseits Berührungspunkte im militärischen und militärtechnischen Bereich. In Deutschland als der nächsten Etappe auf dem angestrebten Weg zur Weltrevolution waren K P D und Komintern mit aktiver sowjetischer Unterstützung bereits seit den ersten Tagen der Weimarer Republik bestrebt, die Voraussetzungen für einen revolutionäre Umsturz zu schaffen; dazu gehörten auch ständige Versuche, die
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Revolutionäre Armee und revolutionäre Regierung, in: Lenin, Werke, 8, S. 568. Thesen über die Hauptaufgaben des zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationale (4. 7. 1920), in: Lenin, Werke, 31, S. 174. Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter, 26. 3. 1917, in: Lenin, Werke, 23, S. 384. Rede auf der Plenartagung des Z K der K P R (B) am 19. 1. 1925, in: Stalin, Werke, 7, S. 11.
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Reichswehr von innen heraus zu zersetzen, allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Die Wirkungslosigkeit dieser Bemühungen schien Stalin hinnehmen zu können, weil er nicht in der Reichswehr, sondern eher in der Sozialdemokratie und später in der nationalsozialistischen Bewegung das Haupthindernis für einen revolutionären Umsturz in Deutschland sah. Als politischer Faktor war die Reichswehrführung daher für ihn von nachgeordnetem Interesse. Stalin förderte hingegen die bereits unter Lenin eingeleiteten Kontakte zur Reichswehrführung und zur deutschen Wirtschaft. Er hatte die als Folge des Versailler Vertrages bei bestimmten deutschen Kreisen zu beobachtende stärkere Ostorientierung und partielle Aufgeschlossenheit gegenüber der Sowjetmacht erkannt und beabsichtigte diese - die Nutzung der Erfahrungen des bürgerlichen Militärwesens gehörte durchaus zur kommunistischen Programmatik - in einzelnen Bereichen für die dringend notwendige Reorganisation der Roten Armee und der sowjetischen Rüstungswirtschaft heranzuziehen. Beide Seiten bedienten sich dieser Zusammenarbeit, solange der erwartete Gewinn anderweitig nicht zu erlangen war 7 . Freilich blieben dabei immer die ideologische Kluft und das tiefe Mißtrauen erhalten. Bei Hitlers Machtantritt hatten sich die sowjetisch-deutschen militärischen Beziehungen schon erheblich abgekühlt. Beide Armeen mußten sich fortan noch stärker der Politik ihrer Staaten unterordnen und sich damit in gewisser Weise umorientieren, wenngleich einige Militärs angesichts der etwa zeitgleich in der Sowjetunion und in Deutschland einsetzenden gigantischen Streitkräfteentwicklung und Aufrüstung einer Belebung des militärischen und militärtechnischen Zusammengehens durchaus nicht ablehnend gegenüberstanden. In den dreißiger Jahren erfuhr die sowjetische Militärdoktrin tiefgreifende Veränderungen, die aus der allgemeinen Entwicklung im Militärwesen, der sich zuspitzenden internationalen Lage sowie den hochgesteckten eigenen Wirtschaftsvorhaben und dem damit wachsenden politischen und militärischen Machtbewußtsein der sowjetischen Führung resultierten. Auf der Basis einer rücksichtslos vorangetriebenen Industrialisierung als entscheidender Voraussetzung für den Aufbau einer modernen Massenarmee und unter rigoroser Zurückstellung anderer volkswirtschaftlicher Belange bereitete sich die Sowjetunion auf einen als unvermeidlich angesehenen künftigen Krieg vor, der mit der Chance revolutionärer Umgestaltungen in weiteren Ländern verbunden wurde. Noch sollte dieser Krieg aber hinausgezögert werden, man hoffte sogar auf einen vorausgehenden - um in dem seinerzeit von der sowjetischen Propaganda verwendeten Bild zu bleiben - „Krieg sich gegenseitig zerfleischender imperialistischer Räuber", in den man als letzter mit unverbrauchtem Potential einzutreten gedachte. Die Rote Armee stellte sich zunehmend auf Kampfhandlungen unter breitem Einsatz von Panzern und Flugzeugen ein, bei denen nach Abwehr des „Aggressors" bereits im grenznahen Raum im weiteren durch „tiefe
7
Zur Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee siehe an jüngeren Publikationen u. a. Wohlfeil, Heer und Republik; Rosenfeld, Sowjetrußland; Zeidler, Reichswehr; Busueva/D'jakov, Fasistskij mec.
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Operationen" auf gegnerischem Gebiet die Entscheidung erzwungen werden sollte 8 . Zu diesem Zeitpunkt galt die Wehrmacht noch keinesfalls als der potentielle Hauptfeind, obwohl die tiefen politischen und ideologischen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland unverkennbar waren und nur wenig später beide Seiten im Spanischen Bürgerkrieg ihre Waffen aufeinander richteten. Stimmen aus den Reihen der sowjetischen Militärs, die sich nur wenige Jahre vorher detailliert mit den Streitkräften, den Rüstungsvorhaben und dem Mobilmachungspotential des Reiches vertraut gemacht hatten und die nun vor Deutschlands gefährlich wachsender militärischer Macht warnten, wurden nicht zur Kenntnis genommen. Ahnlich wie im Hinblick auf die politische Situation und Entwicklung im „Dritten Reich" unterliefen der sowjetischen Führung auch im militärischen Bereich Fehleinschätzungen, die sich hier allerdings noch durch den im Lande wirkenden Terror und die Praxis des Stalinismus in ihren Auswirkungen potenzieren sollten. Wie wenig Stalin auf das Urteil seiner Militärs Rücksicht nahm und auf welch schmalem Grat sich diese andererseits bewegten, sollten die 1937 einsetzenden Repressalien zeigen, als Stalin aus der einst erwünschten sowjetisch-deutschen militärischen Zusammenarbeit gegenüber M. Tuchacevskij, I. Jakir u.a. den Vorwurf einer von der Reichswehr vorbereiteten „Verschwörung" und des „Geheimnisverrats" konstruieren ließ 9 . Die Auswirkungen der bis in den Krieg hinein anhaltenden „Säuberungen" waren furchtbar: D e m Blutbad fielen neben fast der gesamten militärischen Spitze auch viele Militärtheoretiker, Fachleute der Aufklärung und der Waffenentwicklung zum Opfer, so daß auf diesen Gebieten ein schwerer Rückschlag eintrat 1 0 . Nicht weniger verheerend wirkten sich jedoch die Feindsuche, Bespitzelung und Bedrohung der physischen Existenz in der Hinsicht aus, daß Lobpreisungen des sowjetischen Militärwesens an die Stelle nüchterner Wertungen traten und kaum jemand das Risiko kritischer Berichterstattung und Bewertung tragen wollte. Als Folge dieser gesellschaftlichen Deformation nahmen Entscheidungsangst, Initiativlosigkeit, Dilletantismus und Selbstüberschätzung erschreckende Ausmaße an. Kritische Stimmen drangen selten an Stalins Ohr, zumal er sich in seinem Mißtrauen gegen der eigenen Streitkräfteführung vielfach mit solchen Militärs umgeben hatte, die ihm nach dem Munde redeten, als „Helden des Bürgerkrieges" jedoch nicht auf der Höhe der Aufgaben standen. Stalin und seine Berater richteten selbst bis in das Jahr 1939 hinein nicht das notwendige Augenmerk auf die Wehrmacht, glaubten sie doch nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, die „Tür des Tigerkäfigs" in Richtung Westen geöffnet zu haben. Zwar Schloß die sowjetische politische und militärische Führung auch einen möglichen Krieg gegen 8
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Vgl. Militärstrategic, S. 171 ff.; einen interessanten Vergleich der von Wehrmacht und R o ter Armee in den dreißiger Jahren entwickelten Grundsätze moderner Kriegführung bringt Anfilov, Vermacht. Rede Stalins vor dem Militärrat am 2. 6. 1937, in: Busueva/D'jakov, Fasistskij mec, S. 347. N a c h Berechnungen von N . Ramanicev kamen im Ergebnis der Repressalien viermal so viele sowjetische Generale um wie während des gesamten Krieges 1941/1945 - vgl. Ramanicev, Krasnaja Armija; zu den Repressalien u. a. bei B o n w e t s c h , Repression.
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Deutschland nicht aus, sie setzte jedoch auf eine militärische Auseinandersetzung des Reiches mit den Westmächten und ging - zweifellos nicht unbegründet - von der Annahme aus, daß Deutschland unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs nicht an zwei Fronten kämpfen werde 11 . Sogar 1940 nach dem Fall Frankreichs war Stalin der festen Meinung, daß Hitler im Westen gebunden sei und nicht angreifen werde, so daß er auch nicht bereit war, die Lage neu zu bewerten 12 . Während sich - in gewisser Weise mit der Durchsetzung politischer Ambitionen des „Dritten Reiches" vergleichbar - die eigenen Ansprüche gegenüber Nachbarstaaten über einen bestimmten Zeitraum noch mit überwiegend politischer Erpressung erreichen ließen, hoffte Stalin bis zuletzt, daß es gelingen werde, sich mit Hitler zu arrangieren. Gleichzeitig vertraute die sowjetische Führung auf den forcierten Ausbau des eigenen militärischen Potentials. Die in den Jahren 1939/40 unter Einbeziehung militärischer Mittel erfolgte Besetzung osteuropäischer Gebiete war jedoch ebenso wie die Auseinandersetzungen mit Japan im Fernen Osten für die Rote Armee kein echter Prüfstein gewesen, hatte aber der Uberschätzung eigener Möglichkeiten weiteren Vorschub geleistet. Als folgenschwer sollte sich später erweisen, daß die These, man werde auf einen Kriegsbeginn „mit einem doppelten und dreifachen Schlag" bei geringen eigenen Verlusten antworten, praktisch nicht aufgegeben wurde 13 und selbst noch im Sommer 1941 das Denken und Handeln der sowjetischen Militärs bestimmte. Erst als 1940 sichtbar wurde, daß Hitler die „Neutralität" der Sowjetunion nicht mehr benötigte und nach den unerwartet schnellen Siegen der deutschen Streitkräfte ein gefährlicher Machtzuwachs Deutschlands konstatiert werden mußte, setzten in der Roten Armee ein intensiveres Studium der deutschen Kriegführung sowie Vergleiche der Waffensysteme und Einsatzgrundsätze, aber auch konkretere Überlegungen zur Abwehr eines möglichen deutschen Angriffs ein. Nunmehr wurde Deutschland als der „wichtigste und stärkste Gegner" eingestuft 14 . Das auf Stalin wie ein Schock wirkende offensichtliche Versagen der Roten Armee im Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 hatte ein übriges dazu beigetragen, daß eine kurzzeitige Ernüchterung durch die sowjetischen Streitkräfte ging und Schwächen, Versäumnisse und Fehlentwicklungen innerhalb der Armee zumindest in Teilen erkannt und benannt wurden. Die Bilanz zum Stand der Vorbereitung der Sowjetunion auf einen ernsthaften Krieg mit einem ebenbürtigen Gegner fiel ernüchternd aus. Bei teilweise beachtenswert progressiven Lösungen vor allem auf dem Gebiet der waffentechnischen Entwicklung zeigte sich in vielen Bereichen ein Zurückbleiben hinter dem modernen Militärwesen, das man mit gewaltigen Rüstungsprogrammen (nicht zuletzt auch unter Einbeziehung von Rüstungstechnologie, Waffenmustern, Werkzeugmaschinen u. a. aus Deutschland), Veränderungen in der Struktur und 11 12
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Vgl. Gorodetsky, Stalin; ausführlich dazu bei W o l k o g o n o w , Triumph, 2/1, S. 50 ff. So die Sichtweise des damaligen Chefs des Kiewer Militärbezirkes und späteren Generalstabschefs der Roten A r m e e G. 2 u k o v - vgl. Simonov, Zametki, S. 50. Vgl. dazu Gareev, Ο voennoj nauke. Meldung des Volkskommissars f ü r Verteidigung mit den Vorstellungen zur strategischen Entfaltung der sowjetischen Streitkräfte im Westen und Osten f ü r 1940/41, in: Voennoistoriceskij zurnal (1992) 1, S. 2 4 - 2 8 .
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im Ausbildungssystem der Roten Armee, einer erheblichen Aufstockung der Streitkräfte, veränderten Operationsplanungen, personellen Konsequenzen und - so die Erwartungen - mit ausreichender Zeit bis zum Eintritt in den Krieg glaubte wettmachen zu können. Dann aber ließen Zeitdruck, eine äußerst widersprüchliche Weisungslage, einsetzende Hektik und der von Stalin verfolgte politische Zickzackkurs gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland nur noch wenig Spielraum für eine planmäßige Vorbereitung auf die sich immer deutlicher abzeichnende Auseinandersetzung mit der Wehrmacht. Bei sich verdichtenden Anzeichen für den deutschen Angriff wurden die Verbände der Roten Armee in eine immer kompliziertere Lage gestellt, weil neben der befohlenen Realisierung von Abwehrmaßnahmen die von der sowjetischen Führung betriebene Hinwendung zu eigenen Angriffshandlungen - von Stalin dann in seiner Rede vor den Absolventen der Militärakademien am 5. Mai 1941 als „Militärpolitik der Offensivhandlungen" bezeichnet 15 - sich nicht auf die Propaganda beschränkte, sondern von praktischen Schritten im strategischen Rahmen untersetzt wurde 1 6 . Die angenommene hohe Schlagkraft der Roten Armee stimmte freilich mit den Realitäten nicht überein, da Rüstung, Ausbildungsstand und Logistik sich im Umbruch befanden und bei weitem noch nicht das geforderte Leistungsvermögen aufwiesen. Neue militärische Strukturen und Einsatzgrundsätze waren nicht in ausreichendem Maße erprobt: Nachdem aus den im Spanischen Bürgerkrieg gesammelten eigenen Erfahrungen voreilige Schlußfolgerungen abgeleitet worden waren (Auflösung der Panzerkorps im Herbst 1939, Abgehen von einem eigenständigen Einsatz der Panzerwaffe u. a.), konnte dann die erneute Revision der getroffenen Entscheidungen wenige Monate vor dem deutschen Angriff (nunmehr forcierter Aufbau von 61 Panzerdivisionen mit jeweils 375 Panzern ohne ausreichende Erprobung, Ausbildung und Gerät 1 7 ) die Unsicherheit in den Verbänden nur noch vergrößern. Die sowjetische Führung gab sich dennoch siegeszuversichtlich und wies Bedenken oder Zweifel zurück. Geradezu bezeichnend war in dieser Hinsicht das Verhalten des Chefs der militärischen Aufklärung General F. Golikov, der noch beim großen Kriegsspiel im Januar 1941 davor warnte, „eine Verneigung vor den Erfolgen ausländischer Armeen" - gemeint war die Wehrmacht - nicht zuzulassen, weil sich dies „schädlich auf die Erziehung der Armeeangehörigen auswirke", aber selbst zwischen wahrheitsgemäßer Berichterstattung und Bestätigung der Stalinschen Prognosen durch gezielte Informationsauswahl schwankte und letztlich mit seinen dringlicher werdenden Warnungen bei Stalin kein Gehör mehr fand 1 8 . Persönlich hat Stalin offensichtlich keine Notwendigkeit gesehen, sich ernsthaft mit den Erfahrungen der Wehrmacht im Westfeldzug auseinanderzusetzen, so daß ihm später die eigenen Militärs vorwarfen, seine „Vorbereitung auf den Krieg" habe vor allem auf den Erfahrungen des Bürgerkrieges basiert 19 . Wollte er also mit seiner Einschätzung der Wehrmacht
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Nevezin, Ree' Stalina. Siehe dazu Danilow, Generalstab; Petrov, Ο strategiceskom razvertyvanii. Ramanicev, Krasnaja Armija, S. 5. Pecenkin, Byla Ii vozmoznost'. Anfilov, Razgovor.
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kurz vor Kriegsbeginn andere täuschen oder gab er sich der Selbsttäuschung hin? Am 5. Mai 1941 erklärte er in der bereits genannten Rede: Bei Anerkennung der Erfolge der Wehrmacht im Westfeldzug sei festzuhalten, daß in Deutschland nunmehr das militärische Denken nicht vorankomme, die militärische Technik nicht nur gegenüber der sowjetischen Technik zurückbleibe, ein bedeutender Teil der deutschen Armee an Elan verliere, sie zeige „Selbstsicherheit und Überheblichkeit" und sei zu einem beträchtlichen Teil „kriegsmüde" 20 . Nach den schweren Anfangsniederlagen, die der sowjetischen Führung die fatale Unterschätzung der Schlagkraft der Wehrmacht und die Schwächen der eigenen Kriegsvorbereitung vor Augen geführt hatten, konnte das unmittelbare Ziel nicht in der militärischen Niederringung des Gegners bestehen, sondern reduzierte sich auf das notwendige Halten von Raum und Zeit zur tatsächlichen Umstellung der Sowjetunion auf den totalen Krieg und damit auf das Uberleben der Sowjetmacht. Wie läßt es sich aber dann erklären, daß Stalin als Oberster Befehlshaber im November/Dezember 1941 und auch 1942 in der Offentlichtkeit mehrfach vom „nahen Sieg" sprach, daß nur „noch ein paar Monate, noch ein halbes Jahr, vielleicht ein Jährchen" 21 erforderlich seien? Unkenntnis und eventuell noch vorhandene eigene Illusionen hinsichtlich der Kampfkraft der Wehrmacht scheiden hier aus, vielmehr dürfte es sich um eine gezielte Desinformation des eigenen Volkes - vergleichbar mit den von ihm zum Jahrestag der Oktoberrevolution 1941 gemachten Aussagen zu den eigenen Verlusten und zur Lage Deutschlands - gehandelt haben. Stalin bündelte in seiner Hand eine Fülle von Funktionen, die ihn beanspruchten, ihm aber gleichzeitig ausreichende Informationen und die notwendigen Grundlagen für militärische Lagebeurteilungen sicherten. Wenn Stalin bis zu Kriegsbeginn sein vorrangiges Interesse überwiegend auf militärische Detailfragen wie die Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme gerichtet hatte, so mußte er sich nun durch die Zwänge des Krieges auch der unmittelbaren Führung der Streitkräfte annehmen - einer bis zu diesem Zeitpunkt eher nominell ausgeübten Aufgabe. Er war gezwungen, sich direkt mit Fragen der Planung und Durchführung von strategischen Operationen, der Neuaufstellung und Heranführung von zusätzlichen Divisionen, der Aufteilung der Reserven und - durchaus nicht an letzter Stelle - mit dem Feind, der Wehrmacht, zu befassen. Dabei blieb er jedoch vorrangig Politiker, der militärische Ziele in der Regel den politischen unterordnete, nur begrenzt konkrete militärische Kenntnisse vorweisen konnte 22 und dennoch niemals Zweifel an seinem Anspruch zuließ, als Oberster Befehlshaber über die notwendige Kompetenz in allen militärischen Fragen zu verfügen. Ahnliches zeigte sich auch im Hinblick auf die Wertungen über die Wehrmacht. Aussagen über den Feind unterlagen in der Sowjetunion noch stärker als in jedem anderen kriegführenden Staat strengster Prüfung und Zensur; sie wurden
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Nevezin, Ree' Stahna, S. 56 ff.; bzw. W o l k o g o n o w , Triumph, 2/1, S. 47. Stalin, Krieg, S. 30. Marschall Zukov wertete sie im Nachhinein gar als „unzureichend"; allerdings kann man sich angesichts anderslautender Urteile aus gleichem Munde der Absolutheit dieser Feststellung nur schwer anschließen - vgl. Simonov, Zametki, S. 62.
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mittels des staatlichen Informationsmonopols gesteuert, dosiert und mit vorher kalkulierter Zielstellung von den damit beauftragten Stellen in der Öffentlichkeit verbreitet. Als Privatperson mied man sie nach Möglichkeit wegen des besonders in den beiden ersten Kriegsjahren schnell erhobenen Verdachts des Defätismus. In der Folgezeit hingegen wurde wieder ein sich immer mehr steigender Überlegenheitsanspruch der Roten Armee kultiviert, der einer sachlichen Analyse der Einsatzgrundsätze der Wehrmacht, dem nüchternen Vergleich des Kampfwertes militärischen Geräts von Wehrmacht und Roter Armee und einem dadurch möglichen Aufdecken eigener Schwächen und Rückstände hinderlich war. Stalin hat sich stets detaillierter Einschätzungen zur Wehrmacht enthalten; er besaß offensichtlich keine spezifischen Kenntnisse über die Wehrmacht und hätte bei seiner der Machtfülle geschuldeten Arbeitsbeanspruchung auch schwerlich dazu vordringen können. Wenn er in der Anfangszeit an veralteten sowjetischen Dogmen wie Beharren auf Angriff, Halten von Linien unter allen Umständen, gleichmäßige Aufteilung von Reserven u.a. festhielt, dürften als Ursachen vor allem sein Unfehlbarkeitsgefühl, das erst nach krassen militärischen Fehlentscheidungen der ersten Kriegsmonate schrittweise abgebaut werden konnte, und der Handlungsdruck wegen der sich überschlagenden Ereignisse als Ursachen zu benennen sein. Dennoch vermochte er Wesentliches in militärischen Fragen bald mit recht sicherem Gespür zu erfassen: Intern fand er - und nur er konnte sich dies erlauben! - gelegentlich durchaus anerkennende Worte zum militärischen Können der Wehrmacht, wie beispielsweise eine N o tiz an Marschall S. Timosenko, vom 27. Mai 1942 bezeugt: „ . . . Sollten wir nicht endlich lernen, mit geringen Verlusten zu kämpfen, wie das die Deutschen machen" 2 3 ? U n d es dürften mit Sicherheit gravierende Mißstände in der eigenen Armee gewesen sein, die ihm nicht verborgen geblieben waren und ihn hier einen Unterschied zur Wehrmacht spüren ließen, wenn er in einem Befehl vom 17. Februar 1942 an die Westfront formulierte: „Die Deutschen lassen ihre von sowjetischen Truppen eingeschlossenen Truppenteile nie im Stich .. ," 2 4 . Die Tatsache, daß die Rote Armee später in einigen Fällen ähnliche Lösungen wie die Wehrmacht praktizierte (ζ. B. Bildung starker Panzergruppierungen für Vorstöße in die Tiefe auch unter Lösung von der Infanterie, Schwächung bestimmter Frontabschnitte zur Schwerpunktbildung und Schaffung der nötigen Kräfteüberlegenheit an anderen, Arten des Luftangriffs), besagt nicht unbedingt, daß die Rote Armee in diesen Fragen von der Wehrmacht „gelernt" habe, zumindest muß aber Stalin die Zweckmäßigkeit solcher Lösungen erkannt und entsprechende Anregungen gefördert haben. In der Öffentlichkeit und in der Propaganda jedoch verbreiteten er und mit ihm die gesamte politische und militärische Führung ein mit vereinfachenden Klischees und ohne Differenzierungen arbeitendes Negativbild von der Wehrmacht, dem der gesetzmäßige Sieg der moralisch überlegenen, zunehmend besser ausgerüsteten und von tiefem Haß auf den „Aggressor" und „Okkupanten" erfüllten Sowjetsoldaten über die nach scheinbaren Anfangserfolgen nunmehr zur schnellen Niederlage verurteilten und erschöpf23 24
N o t i z Stalins, 27. 5. 1942, an Timosenko, zit. n. Mercalov/Mercalova, Stalinizm, S. 263. Wolkogonow, Triumph, 2/1, S. 275.
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ten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden deutschen Truppen zugrunde lag. So erklären sich auch triviale Urteile, die für den Durchschnittsbürger der Sowjetunion nachvollziehbar sein sollten: Wenn Stalin ζ. B. 1943 feststellt, die Taktik der Wehrmacht sei „schablonenhaft", und sie sei „hilflos, sobald die Lage komplizierter wird" 2 5 , so basierte dies wohl kaum auf gründlichen Analysen. Es bleibt freilich offen, warum sich Stalin gerade zur Abschreckung seiner eigenen Landsleute der Wehrmacht als Vorbild bediente: Sein berüchtigter Befehl Nr. 227 vom 28. Juli 1942, der die Erschießung von Panikmachern und Feiglingen sowie die Bildung von Sperrabteilungen und Strafeinheiten beinhaltete, berief sich auf angebliche deutsche Erfahrungen zur Stabilisierung der Lage an der Front 2 6 . Zur Art der Kriegführung durch die Wehrmacht hat Stalin wiederholt Stellung bezogen. Allerdings waren dies Äußerungen allgemeinerer Art, aus denen kaum eine persönliche Betroffenheit über das Leid vor allem der Zivilbevölkerung zu entnehmen war. Für ihn zählten nur Erfolge oder Verluste, Aussagen über die brutale Kriegführung der Wehrmacht verfolgten daher vorrangig das Ziel, die eigenen Streitkräfte und die Bevölkerung zur Standhaftigkeit aufzurufen, den Siegeswillen anzufachen. Man ist bei Stalin, der schließlich die eigenen Militärs aufforderte, „vor keinerlei Opfern zurückzuschrecken" 2 7 , und mit seinen Entscheidungen noch zur Verschärfung des von beiden Seiten rücksichtslos geführten Kriegs beitrug, beinahe geneigt anzunehmen, das Vorgehen der Wehrmacht sei von seinem Verständnis über Kriegführung nicht sonderlich weit entfernt gewesen. Schmerz oder Mitgefühl empfand er für sein eigenes Volk weder vor dem Krieg, noch angesichts der ungeheuren Opfer und Lasten im Krieg. Und um so geringer mußte in seinen Überlegungen die Rücksichtnahme oder gar das Verständnis für die Soldaten des Aggressors oder dessen Zivilbevölkerung ausfallen. Stalin war nicht gerade zurückhaltend in der Auswahl der Begriffe, mit denen er die Eindringlinge belegte, und forderte nicht selten in seinen Aufrufen, diese „bis auf den letzten Mann zu vernichten" oder „schonungslos zu vernichten" 2 8 . Nicht zuletzt mit Rücksicht auf die internationale Öffentlichkeit wurden diese harten Äußerungen bisweilen zurückgenommen etwa in der Art, daß es „eine dumme Lüge und eine törichte Verleumdung" sei, „daß die Rote Armee die deutschen Soldaten eben als Deutsche, aus Haß gegen alles Deutsche, vernichtet, daß die Rote Armee darum deutsche Soldaten nicht gefangennehme" 2 9 . Die ständige und im Verlauf des Krieges noch gesteigerte Erziehung zum Haß auf den Feind konnte freilich nicht ohne Folgen bleiben. Stalins Aufrufe, die jede Handlung gegen Wehrmachtangehörige als eine patriotische Tat rechtfertigten,
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Befehl N r . 95 v. 23. 2. 1943, in: Stalin, Krieg, S. 73. Im Wortlaut veröffentlicht in: Voenno-istoriceskij zurnal (1988) 8, S. 7 3 - 7 5 . D i e W e h r macht erbeutete am 5. 8. 1942 ein Exemplar des Stalin-Befehls und hatte damit frühzeitig Kenntnis vom Inhalt des Befehls - vgl. B A - M A , R W 4 / 3 3 2 . Beispiele Stalinscher Befehle und Weisungen, in denen rücksichtsloses Vorgehen gegenüber Freund und Feind gefordert wird, finden sich u.a. bei G o r ' k o v , Kreml', S. 141 ff. So u. a. in seiner Rede auf der Festsitzung anläßlich des 24. Jahrestages der O k t o b e r r e v o lution am 6. 11. 1941 oder im Befehl N r . 195 v. 1. 5. 1943, in: Stalin, Krieg, S. 22, 80. Befehl des Volkskommissars für Verteidigung N r . 55 v o m 23. 2. 1942, in: ebd., S. 36.
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trafen angesichts eines Aggressors, der erklärtermaßen den Sowjetstaat vernichten wollte, dessen Bevölkerung nur ein Sklavendasein zugedacht hatte und dies auch praktizierte, auf eine breite Zustimmung. Daß die Methoden der inneren Terrorherrschaft in der Sowjetunion, die kein Erbarmen mit echten oder angenommenen Feinden der Sowjetmacht kannte und dem Individuum nur einen geringen Wert beimaß, nun gegenüber den Eindringlingen in noch verschärfterer Form Anwendung fanden, erschien dabei vielen Bürgern der Sowjetunion nur allzu berechtigt. Es hat jedoch keinen allgemeinen Befehl für die Rote Armee gegeben, der Gefangenenerschießungen sanktioniert oder gar gefordert hätte. Für die Anfangsphase des Kriegs sind diesbezügliche Einzelbefehle verschiedener Dienststellen nachweisbar 30 , und bekannt ist heute, daß der stellvertretende Volkskommissar für Verteidigung L. Mechlis 1941 persönlich Weisungen zur Erschießung gefangener Wehrmachtangehöriger gegeben hat 31 . Deutlich wird auch bei der Art, wie sich die sowjetische Spitze mit der Kriegführung der Wehrmacht auseinandersetzte, daß es ihr dabei nicht allein um eine Strafverfolgung ging, sondern sehr wohl innen- und außenpolitische Wirkung einkalkuliert war. Wie anders sollte man die teilweise willkürliche Auswahl der beschuldigten Wehrmachtangehörigen, die erstaunliche Nachsicht gegenüber bestimmten Personen oder selbst die verspätete Anklage und Verurteilung des Präsidenten des Bundes Deutscher Offiziere, des Generals W. v. SeydlitzKurzbach 32 , interpretieren?
Die Wehrmacht als Faktor im sowjetischen Wirtschaftssystem Die sowjetische Führung hat zum Zeitpunkt des Kriegseintritts offensichtlich kein klares Konzept für die Behandlung der ihr gegenüberstehenden deutschen Streitkräfte im Kriege und für den Fall des Sieges besessen. Die bisher an die Öffentlichkeit gelangten Dokumente des sowjetischen Generalstabes vom Mai 1941, die den strategischen Aufmarsch der Roten Armee und die Führung von Präventivschlägen gegen die sich zum Angriff vorbereitende Wehrmacht zum Inhalt haben 33 , betreffen nur eine erste Phase des erwarteten Krieges. Niemand vermag indes zu sagen, ob es weiterführende Überlegungen Stalins zur siegreichen militärischen und politischen Beendigung dieses „anderen" sowjetischdeutschen Krieges gegeben hat. Die bekanntgewordenen Planungsdokumente enthalten keine Hinweise darauf, welches Los dem Deutschen Reich, seiner Bevölkerung oder seinen Streitkräften zugedacht war. Die zum damaligen Zeitpunkt von Moskau verfolgten Ziele, Pläne und spezifischen Interessen im Hinblick auf die Wehrmacht, die Behandlungen ihrer Angehörigen, die Gefangennahme und Entwaffnung der Millionenarmee, eine mögliche Übernahme des 30 31
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Vgl. dazu auch die Feststellung von Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 227. Jurij Rubcov, „Plennych ja prikazyvaju koncat'.. ."[„Ich habe befohlen, Gefangene zu liquidieren. .."], in: Krasnaja Zvezda v. 27. 7. 1994. Erstmals anhand sowjetischer A k t e n rekonstruiert: Resin, Prozeß. Hier sei nur auf die erste Veröffentlichung verwiesen, die den Auftakt zu einer überaus heftigen und kontroversen Diskussion in der wissenschaftlichen Literatur und in den Medien auch außerhalb Rußlands bildete: Danilow, Generalstab.
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deutschen Rüstungspotentials und Kriegsgeräts u. ä. lassen sich daher nur sehr unscharf bestimmen. Erst im Verlaufe des Krieges wurden sie deutlicher artikuliert und fanden ihre Entsprechung in der praktischen Umsetzung der von der sowjetischen Führung beschlossenen Maßnahmen. Freilich darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß der Beitritt der Sowjetunion zur Antihitlerkoalition, die Entwicklung der militärischen Lage, der zum Kriegsende hin immer nachdrücklicher vertretene sowjetische Großmachtanspruch und weitere Faktoren inzwischen gravierende Veränderungen und Korrekturen gegenüber 1941 bewirkt hatten. Für den Zugang zu deutscher Rüstungstechnologie und Waffenentwicklung hatte der 22. Juni 1941 für die Sowjetunion die Türen nahezu vollständig versperrt: Die bestehenden Vereinbarungen waren Makulatur geworden, Lieferungen jeglicher Art aus Feindesland eingestellt, Reisen sowjetischer Militärs und Rüstungsfachleute nach Deutschland nicht mehr möglich. Damit erlosch jedoch keinesfalls das sowjetische Interesse an der Rüstungsindustrie und den Streitkräften Deutschlands: Für die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld war es geradezu lebensnotwendig, die feindliche Waffenentwicklung zu verfolgen; zum anderen diente erbeutetes deutsches Kriegsgerät und Rüstungsgut zur Schließung bestimmter Versorgungslücken in der Roten Armee, später zur besseren Ausstattung der Streitkräfte sowie zur Modernisierung von Industrie und Landwirtschaft. Gerade letzteres stellte bekanntlich ein wesentliches Antriebsmoment für die Reparationsforderungen Stalins in den Verhandlungen mit den Alliierten und die Praxis der Reparationsentnahmen in der sowjetischen Besatzungszone dar. Die personelle Seite dieses Problems, d. h. etwa eine Konzeption zum weiteren Schicksal der deutschen Streitkräfte und ihres Personals, dürfte bis Kriegsbeginn und in der Anfangsphase für Stalin hinter anderen Fragen zurückgestanden haben. Erst unter der von der Sowjetunion zu tragenden ungeheuren Last des anhaltenden Krieges und bei der Suche nach Lösungen begann sich seine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Wenngleich er prinzipiell kaum von seiner Position abrückte, in den Angehörigen der feindlichen Streitkräfte „Klassenfeinde" und „Aggressoren" zu sehen, gewannen später zunehmend Überlegungen zur möglichen Nutzbarmachung dieses Menschenpotentials Raum. Die Sowjetunion war in den dreißiger Jahren den internationalen Vereinbarungen zur Kriegführung - mit Ausnahme der Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsgefangenen - beigetreten, betrachtete diese jedoch als Teil des bürgerlichen Kriegsrechts und sah sich daher nur mit Einschränkungen daran gebunden. Andererseits war das praktische Vorgehen in den vorangegangenen militärischen Auseinandersetzungen mit Polen und Finnland kaum für eine Übernahme geeignet, hatten sich doch für die Sowjetunion die diesbezüglichen Rahmenbedingungen erheblich verändert: Sie gehörte der Antihitlerkoalition an und konnte sich allein aus diesem Grunde nicht leichtfertig über geltendes internationales Recht hinwegsetzen. Der durch Beschluß des Rates der Volkskommissare am 1. Juli 1941 in Kraft gesetzte „Erlaß über Kriegsgefangene" 34 ,
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Im Wortlaut veröffentlicht u. a. bei Konasov, Sud'by, S. 60 ff.
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die in der Folge in den Monaten Juli und August 1941 erteilten Befehle und Weisungen zur Versorgung der Kriegsgefangenen, zur Errichtung von Kriegsgefangenenlagern u.a., sowie die Erklärung der sowjetischen Regierung über die Einhaltung der Haager Landkriegsordnung - bei gleichzeitiger Respektierung durch Deutschland - stützten sich im wesentlichen auf die allgemein anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien, wenngleich die Realitäten des unbarmherzig geführten Krieges an der Front und im Hinterland dem bekanntlich nicht in jedem Fall entsprachen. Der für die Sowjetunion katastrophale Verlauf der ersten Kriegsmonate machte deutlich, daß vorerst nicht Überlegungen zum Umgang mit einer geschlagenen Wehrmacht gefragt waren; weitaus wichtiger wären hingegen Konzeptionen und praktische Schritte der sowjetischen Führung zur Erleichterung des Schicksals der Millionen eigener Soldaten gewesen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Bis zum Jahreswechsel 1941/42 befanden sich in sowjetischer Hand nur relativ wenige Angehörige der deutschen Streitkräfte, die in ganzen sechs Kriegsgefangenenlagern untergebracht waren 35 . Deren Anzahl erhöhte sich im Verlaufe des Jahres 1942 rasch, da die offensivere Kriegführung der Roten Armee zu einem deutlichen Anwachsen der Kriegsgefangenenzahlen führte. Gleichzeitig machte sich in der Sowjetunion als Folge der territorialen und personellen Verluste, der Einberufung immer neuer Jahrgänge zur Roten Armee und der nach der Evakuierung aus dem Westteil des Landes stetig wachsenden Rüstungsproduktion ein zunehmender Mangel an Arbeitskräften bemerkbar, der durch den andauernden Krieg und den notwendigen Wiederaufbau der ersten zurückeroberten Gebiete noch verschärft wurde. Damit gerieten die Kriegsgefangenen - später auch Teile der deutschen Zivilbevölkerung - als beträchtliches Arbeitskräftereservoir in das Blickfeld der sowjetischen Führung. Der Einsatz von Kriegsgefangenen bot mehrere Vorteile: Sie standen als billige Arbeitskräfte in steigender Zahl zur Verfügung, unterlagen sowjetischem Kriegsrecht und konnten daher nahezu ohne Einschränkungen ausgebeutet werden, ließen sich jedoch andererseits flexibel einsetzen. Der spürbare Mangel an Arbeitskräften und speziell an Facharbeitern sollte durch die Heranziehung von Kriegsgefangenen gemildert werden, zumal das hohe technologische Niveau der deutschen Wirtschaft auch entsprechende Spezialisten unter den Kriegsgefangenen versprach. Kriegsgefangene und Internierte - so die erklärte Absicht - sollten das wieder aufbauen, was als Folge des deutschen Angriffskriegs zerstört worden war. Bei der organisatorischen Verzahnung von Kriegsgefangenenwesen und Wirtschaft stützte sich die sowjetische Führung auf einschlägige Erfahrungen. Das System der von der Hauptverwaltung für Lager (GULAG) im Volkskomissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) geführten Straflager, das sich zu einem der größten Bereiche und zu einem festen Bestandteil der sowjetischen 35
Die offizielle sowjetische Statistik wies f ü r das Jahresende 1941 9 1 4 7 Kriegsgefangene aus - vgl. Galickij, Voennoplennye; demgegenüber gehen entsprechende deutsche Untersuchungen für diesen Zeitpunkt von einer erheblich größeren Anzahl deutscher Kriegsgefangener in sowjetischer Hand aus. In diesem Zusammenhang sei auf das generelle Problem des stark divergierenden Zahlenmaterials verwiesen, das bei sämtlichen Untersuchungen zur Kriegsgefangenschaft zu konstatieren ist und zu dessen Ursachen in der wissenschaftlichen Literatur bereits mehrfach Stellung bezogen wurde.
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Wirtschaft entwickelt hatte, war das Leitmodell und Personalreservoir für den Aufbau der Kriegsgefangenen- und Interniertenlager 36 . Die bereits 1939 im Zusammenhang mit dem sowjetischen Einmarsch in Polen gebildete Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (sie wurde im Januar 1945 in den Rang einer Hauptverwaltung erhoben) entwickelte schon 1942 Vorstellungen zum Einsatz der Kriegsgefangenen in der Wirtschaft. Der im Januar1943 erlassene Befehl Stalins über den ersten größeren Einsatz von Kriegsgefangenen im Kohlebergbau dürfte auch damit im Zusammenhang gestanden haben, daß mit dem Halten der Front und der Gegenoffensive von Stalingrad die Umstellung der Wirtschaft auf den Krieg einen gewissen Abschluß erreicht hatte und damit Grundlagen für längerfristige Planungen gegeben waren. Der Kriegsverlauf 1943 sicherte einen wachsenden Zustrom an Kriegsgefangenen, so daß in den verschiedenen Landesteilen weitere Kriegsgefangenenlager eingerichtet wurden. In wesentlich stärkerem Maße als bisher wurden jetzt Kriegsgefangene zur Arbeitsleistung herangezogen (vor allem im Bergbau, im Bauwesen, bei der Wiederherstellung und Errichtung von Verkehrsanlagen, bei der Holzaufbereitung, in der Landwirtschaft; in geringerem Maße im Rüstungsbereich und bei der Errichtung von militärischen Anlagen). Bei der Dislozierung der Lager spielten ökonomische Gesichtspunkte wie unmittelbare Nähe zu den Industriebetrieben, Baustellen oder Kohleschächten, Bahnanschluß u.a. eine wichtige Rolle, da die Gefangenen auf der Basis von Verträgen zwischen dem regionalen Auftraggeber und der Lagerleitung zum Einsatz kamen. Allerdings konnte die weitere Verschärfung der Arbeitskräftelage der Sowjetunion bis Mitte 1944 nicht aufgehalten werden. In dieser Hinsicht brachte selbst die als Folge des Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte enorm angestiegene Kriegsgefangenenzahl keine entscheidende Entlastung. Als im Sommer/Herbst 1944 mit dem Vorstoß der Roten Armee auf dem Balkan deutschstämmige Zivilpersonen in erheblicher Anzahl in die Verfügungsgewalt der Roten Armee gelangten (vor allem in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien), wurden daher zusätzlich Maßnahmen zur Deportation und zum längerfristigen Einsatz von Teilen der deutschen Zivilbevölkerung in der Wirtschaft der Sowjetunion vorbereitet und realisiert 37 . Die Weisung des Staatlichen Verteidigungskomitees Nr. 7467ss vom 3. Februar 1945 dehnte schließlich die Massendeportationen auf Ostpreußen, Schlesien und Pommern aus 38 , die erst am 17. April 1945 aufgrund der Direktive Nr. 8148ss eingestellt wurden 39 . Da von den insgesamt in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Militärangehörigen etwa 76 % erst 1945 den Weg in die Gefangenschaft antraten, war die sowjetische Führung bestrebt, dieses Potential möglichst lange über Kriegsschluß hinaus nutzen zu können. Auf der Konferenz von Jalta machte Stalin deutlich, daß er beabsichtige, zur Wiederherstellung der sowjeti36 37
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Bezborodova, Organizacija, S. 51. In Erfüllung der Weisung des Staatlichen Komitees für Verteidigung Nr. 7161 ssv. 16. 12. 1944 wurden bis zum 2. 2. 1945 aus Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei nach der offiziellen sowjetischen Statistik insgesamt 1 1 2 4 8 0 Deutsche zur Zwangsarbeit nach der Sowjetunion verbracht - vgl. Konasov, Sud'by, S. 1 1 9 f. Poljan, Reparacii, S. 64. Ebd., S. 66.
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sehen Wirtschaft Zwangsarbeit gegenüber Deutschen zu praktizieren. Wie in anderen Fällen auch, legte Stalin jedoch nicht die Karten auf den Tisch, als er erklärte, zum Zeitpunkt der Konferenz sei „die sowjetische Regierung noch nicht zur Erörterung der Frage über die Nutzung deutscher Arbeitskräfte bereit" 40 dabei lief der Einsatz von Kriegsgefangenen und deutschen Zivilinternierten in der sowjetischen Wirtschaft bereits auf Hochtouren. Nachdem im Mai 1945 mit dem Abschluß der Kampfhandlungen das Gros der Kriegsgefangenen erfaßt war, im Eisenbahntransport oder auch zu Fuß in die Lager im Inneren der Sowjetunion in Marsch gesetzt wurde und eine erste Gesamtübersicht vorlag, erließ das Staatliche Verteidigungskomitee am 4. Juni 1945 die Weisung Nr. 892Iss, die den Einsatz der Kriegsgefangenen in den verschiedenen Bereiche der Wirtschaft der UdSSR - bei gleichzeitiger Entlassung von 225000 arbeitsunfähigen Kriegsgefangenen - detailliert regelte. Etwa 1,7 Millionen Deutsche von insgesamt 2,5 Millionen in sowjetischer Hand befindlicher Kriegsgefangener 41 wurden in der Nachkriegszeit zum Arbeitseinsatz in der Wirtschaft der UdSSR herangezogen 42 . Für die sowjetische Führung stellte die Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen eine unverzichtbare Planungsgröße bei den Vorhaben zur gesamtstaatlichen Nachkriegsentwicklung dar. Der Innenminister der UdSSR 43 S. Kruglov erklärte im März 1946 bei einer Beratung unumwunden, daß dem sowjetischen Staat aus dem Einsatz der Kriegsgefangenen „großer ökonomischer Gewinn" erwachsen müsse 44 . Trotz einer sehr hohen Krankheits- und Sterblichkeitsrate, der organisatorischen Probleme in den Lagern und einer von sowjetischer Seite immer wieder beklagten relativ geringen Produktivität war der wirtschaftliche Nutzen aus der Arbeit der deutschen Kriegsgefangenen und Internierten beträchtlich; praktisch hatten sie an allen wichtigen Vorhaben des ersten Nachkriegsfünfjahrplans ihren Anteil. Die physische Verfasserung der Kriegsgefangenen und Internierten verschlechterte sich jedoch als Folge der unzureichenden Vorbereitung der zum Teil überfüllten Lager auf den Winter 1945/46, der kritischen Ernährungslage in der Sowjetunion nach der Mißernte von 1946 sowie der ausweg- und rechtlosen Situation der Lagerinsassen und anderer Umstände derartig rasch, daß der Aufwand für die Unterhaltung der Lager die geplanten Arbeitsergebnisse zu übersteigen drohte. Mit der vorrangigen Repatriierung der Kranken und Arbeitsunfähigen sollten Ressourcen für eine bessere Versorgung des arbeitsfähigen Kontingents freigemacht, die Arbeitsleistung der Lager gesteigert und damit nicht zuletzt die Dauer der Gefangenenschaft des arbeitsfähigen Teils verlängert werden. Daß dabei humanitäre Aspekte eher eine untergeordnete Rolle spielten, zeigte die Verbringung von 27500 Häftlingen aus Lagern und Gefängnissen der SBZ in Lager der Sowjetunion im Austausch
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Fischer (Hrsg.), Teheran, S. 115. Zahlenangaben zit. n. dem Beitrag Karner in diesem Band. Vgl. ebd. A m 19. 3. 1946 wurden die bisherigen Volkskommissariate in Ministerien umbenannt. Gorbunov, Prebyvanie, S. 137.
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gegen die gleiche Anzahl arbeitsunfähiger Kriegsgefangener Ende Dezember 1946 4 5 . Erst auf zunehmenden internationalen Druck hin erklärte die sowjetische Regierung auf der Konferenz der Außenminister am 23. April 1947 in Moskau ihre Bereitschaft, alle Kriegsgefangenen bis zum 31. Dezember 1948 in die Heimat zu entlassen. Sie nahm jedoch die sich im Zuge des Kalten Krieges verschärfende Konfrontation mit den westlichen Alliierten und den Rückzug aus dem Alliierten Kontrollrat am 20. März 1948 zum Anlaß, sich vorerst dieser Verpflichtung zu entziehen. Stalin hatte mit dem an Frankreich und Großbritannien gerichteten Vorwurf der Zurückhaltung von Kriegsgefangenen einen Vorwand gefunden, um die Kriegsgefangenen noch länger für die sowjetische Wirtschaft arbeiten zu lassen und die Repatriierung hinauszuzögern. Am 10. N o vember 1948 wurden die Lagerverwaltungen mit der Direktive Nr. 692ss des Innenministers informiert, daß die Repatriierung „vermutlich noch das ganze Jahr 1949 beanspruchen wird" 4 6 ; Anträge einzelner sowjetischer Ministerien und Betriebe auf Zurückhaltung bestimmter Kriegsgefangener wurden daher selbst noch 1949 positiv entschieden.
Politische Gedankenspiele Stalins um die Wehrmacht Bis weit in den Krieg hinein hat es Stalin nicht für notwendig erachtet, eine politische Standortbestimmung der Wehrmachtführung vorzunehmen, die über die in der kommunistischen Ideologie und Propaganda üblichen Bilder und Einordnungen hinausgegangen wäre. Andererseits war ihm nicht verborgen geblieben, daß es 1938 im Zusammenhang mit dem Einmarsch in die Rest-Tschechoslowakei und 1941 nach dem Scheitern der Offensive vor Moskau Differenzen zwischen Hitler und dessen Generälen gegeben hatte. Bedeutet dies aber, daß Stalin der Wehrmachtführung eine eigenständige politische Rolle im nationalsozialistischen Deutschland abgesprochen hätte? Diese Schlußfolgerung drängt sich auf, zumal sich im späteren Umgang Stalins mit der in Kriegsgefangenschaft geratenen Generalität der Wehrmacht Indizien für eine Bestätigung einer solchen These finden. Stalin schien geradezu auf Abstand zur deutschen militärischen Führung bedacht zu sein; zumindest suchte er über die kriegsgefangenen deutschen Generäle keinen politischen Kontakt zu dieser. D e r Diktator Stalin, der seiner Generalität durch die seit 1937/38 andauernden Repressalien das Rückgrat gebrochen und sie politisch entmündigt hatte, konnte sich anderes offensichtlich bei dem Diktator Hitler nicht vorstellen. Stalin war zudem mißtrauisch genug, als daß das Verhalten kriegsgefangener Generäle bei ihm Illusionen hinsichtlich einer sowjetfreundlichen Haltung oder eines möglichen Zusammengehens mit der Wehrmachtführung gegen den Willen Hitlers geweckt hätte. Seine Position zur Wehrmachtführung entsprach dem Sinne nach also durchaus jener Auße-
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Befehl des Innenministers der UdSSR Nr. 001196 vom 26. 12. 1946 - siehe Konasov, Sud'by, S. 191 ff. Ebd., S. 152.
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rung von Teheran. N a c h seiner Logik Schloß dies jedoch nicht aus, unter bestimmten günstigen Umständen die Wehrmacht in ihrer Gesamtheit oder wenigsten in ihrem in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Teil partiell für seine Ziele zu nutzen. Mit der von ihm initiierten Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" ( N K F D ) und des Bundes Deutscher Offiziere ( B D O ) knüpfte er an die sich nach der Katastrophe an der Wolga unter den Kriegsgefangenen ausbreitende Anti-Hitler-Stimmung an und versuchte, über die in den sog. AntifaSchulen der Kriegsgefangenenlager geführte antifaschistische Umerziehungsarbeit hinaus eine Widerstandsbewegung aufzubauen, die von den Kriegsgefangenen getragen und über die in der Sowjetunion tätigen deutschen Kommunisten geführt werden sollte 47 . Dabei hoffte er, diese Bewegung als Partner für einen vorhandenen oder sich noch herausbildenden Widerstand in Deutschland selbst präsentieren zu können, die Niederlage Deutschlands zu beschleunigen und für die deutsche Nachkriegsentwicklung seine „Eisen im Feuer" zu haben. Er setzte selbst auf Zersetzungsarbeit und den Einsatz kriegsgefangener Wehrmachtangehöriger gegen ihre Kameraden an der Ostfront. Stalin hielt sich jedoch auch hier bis Kriegsschluß mehrere Optionen offen. O b die weitreichendste der damaligen angelsächsischen Deutungen, mit der Gründung von N K F D und B D O werde ein deutsch-sowjetischer Separatfrieden vorbereitet 48 , zutreffend war, muß dahingestellt bleiben. Immer wieder ließ Stalin in Erwartung einer größeren Wirksamkeit neue Aktivitäten des N a tionalkomitees und des Bundes Deutscher Offiziere entwickeln; andererseits war er diesen gegenüber zu keinem Zeitpunkt bereit, verbindliche deutschlandpolitische Zusagen zu machen 49 . Als das Widerstandsbemühen aus den Gefangenenlagern heraus für die Beendigung des Krieges und die Gestaltung der Nachkriegslage nicht mehr benötigt wurde, sich vielmehr programmatische Aussagen von N K F D und B D O als hinderlich für die Ziele Moskaus bei den Verhandlungen der Alliierten und für die sowjetischen Besatzungspraxis erwiesen, verlor Stalin jegliches Interesse an beiden Organisationen und drang noch 1945 auf deren Auflösung. Wenngleich sich nunmehr endgültig ein großer Teil der N K F D - und B D O Mitglieder ausgenutzt und politisch mißbraucht fühlte, bleibt festzuhalten, daß zahlreiche deutsche Kriegsgefangene mit ihrer Mitgliedschaft im N K F D oder B D O und dem Besuch von Antifa-Schulen die innere Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und zur aktiven Beteiligung am Neubeginn in Nachkriegsdeutschland entwickelten. Stalins Bemühungen waren aber auch in anderer Hinsicht nicht ohne Erfolg geblieben: Die von ihm ausgewählten „Kader" aus den Reihen von N K F D und B D O kamen vielfach
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Zur Gründung und zur Tätigkeit von N K F D und B D O sowie zur Bewertung nach 1945 siehe Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee; weiterhin Scheurig, Deutschland; Frieser, Krieg; aus D D R - S i c h t : Das Nationalkomitee „Freies Deutschland". Protokoll der Konferenz des Instituts für Deutsche Militärgeschichte am 27. und 28. März 1963, Potsdam 1963. Vgl. hierzu Bungert, Widerstandswillen. Zu den Bemühungen innerhalb von N K F D / B D O um Einflußnahme auf die sowjetischen Kriegsziele gegenüber Deutschland ausführlicher bei Heider, Nationalkomitee (1993).
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in Schlüsselstellungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft der S B Z zum Einsatz und legten so den Grundstein für eine spätere Karriere in der DDR.
Der lange Schatten der Wehrmacht Nach Kriegsschluß bildete die Übernahme der durchaus wertvollen Wehrmachthinterlassenschaften einen Schwerpunkt sowjetischer Interessen, wenngleich die sowjetische Führung diesen Eindruck in der Öffentlichkeit stets zu verwischen oder herunterzuspielen suchte. Mit den zwischen den Alliierten getroffenen Vereinbarungen über die militärische und wirtschaftliche Entwaffnung Deutschlands hatte sich die Sowjetunion beste Zugriffsmöglichkeiten gesichert. 50 Die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis in ihrer Besatzungszone und eine strenge Geheimhaltung schützten vor Einsprüchen und gleichermaßen vor Einblicken der Verbündeten, so daß die militärische Entwaffnung im Bereich der sowjetischen Besatzungszone - auf eine ausführlichere Darlegung der Praxis wird allerdings aus Platzgründen an dieser Stelle verzichtet umfassend und direkt in eine Stärkung des militärischen Potentials der Sowjetunion umgesetzt werden konnte 5 1 . Auch die militärischen Erfahrungen der Wehrmacht erschloß sich die Rote Armee, wenngleich offensichtlich nicht mit der gleichen Systematik, wie dies die amerikanischen Militärs praktizierten. Immerhin zogen die auf Weisung des Staatlichen Verteidigungskomitee gegen Kriegsende in den höheren Stäben gebildeten Abteilungen für die Auswertung der Kriegserfahrungen auch Ausarbeitungen heran, die in den Kriegsgefangenenlagern und zum Teil selbst bei einigen in der S B Z lebenden pensionierten Offizieren in Auftrag gegeben worden waren 52 . Mehrere Jahre nach Kriegsende, als in Deutschland beinahe jeder gegenständliche Hinweis auf die Wehrmacht getilgt oder doch durch eine neue Zweckbestimmung gründlich verändert worden war, stellte man in Moskau wieder Überlegungen und Berechnungen zu einem deutschen militärischen Potential an. Der Kalte Krieg hatte die einstigen Verbündeten der Antihitlerkoalition gespalten und dazu geführt, daß sich die Sowjetunion und die westlichen Alliierten in scharfer Konfrontation gegenüberstanden. Vor dem Hintergrund der im Verlaufe des Jahres 1948 wachsenden Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West erhielt die sowjetische Kriegsgefangenenpolitik eine weitere Dimension: Die kaum noch weiter hinauszuzögernde Repatriierung starker Kontingente kriegserfahrener Soldaten aus sowjetischer Gefangenschaft in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands bereitete Stalin er-
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A u s der i n z w i s c h e n d o c h recht zahlreichen L i t e r a t u r sei hier auf einige Titel verwiesen, die die P r o b l e m b r e i t e verdeutlichen: K a r i s c h , R e p a r a t i o n s l e i s t u n g e n ; A l b r e c h t u . a . , Spezialisten; E n t m i l i t a r i s i e r u n g . Detaillierter z u r militärischen E n t w a f f n u n g auf d e m G e b i e t d e r S B Z bei Arlt, Militäradministration, S. 111 ff. E b d . , S. 120.
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hebliches Unbehagen. Dies konnte im Konfliktfall das militärische Potential der Westmächte in Mitteleuropa spürbar stärken und das Kräfteverhältnis zum Nachteil der Roten Armee verändern. Während jedoch die Sowjetunion den Westmächten zu diesem Zeitpunkt nur eine angebliche Remilitarisierung Westdeutschlands unterstellen konnte, hatte sie in ihrer Besatzungszone bereits Tatsachen geschaffen: Im Sommer 1948 wurden insgeheim zusätzliche deutsche Polizeikräfte aufgestellt und militärisch ausgebildet sowie eine verdeckte Aufrüstung eingeleitet 53 . Teilweise erfolgte dafür sogar eine vorzeitige Entlassung aus den Kriegsgefangenenlagern. Für den Aufbau der kasernierten Volkspolizei schienen aus sowjetischer Sicht ehemalige Wehrmachtangehörige unverzichtbar. Ausgewählte Unteroffiziere, Offiziere und selbst Generäle gaben ihre in der Wehrmacht erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen weiter, Stalin schenkte ihnen wieder sein Vertrauen ...
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Neueste Darstellung dieses Prozesses bei Diednch, Jahr.
Hans Rudolf Fuhrer Die Wehrmacht aus Schweizer Sicht
Die Entwicklung der deutschen Wehrmacht ab 1935 wurde in Schweizer Armeekreisen mit großem Interesse verfolgt. Die Wehrmacht galt bald als die aufstrebende, modernste Armee Europas, in welcher neues Kriegsgerät, neue Kampfweisen und Ausbildungsmethoden Eingang fanden, welche Rückschlüsse auf das künftige Kriegsbild geben konnten. Für einzelne Offiziere aus der Deutschschweiz war die Wehrmacht auch von ihrem soldatischen Selbstverständnis her das richtungsweisende Heer Europas, nach dessen Maßstäben sich die schweizerischen Wehranstrengungen orientierten sollten. Für den zeitlichen Rahmen dieser Analyse der Einschätzung der Wehrmacht aus Schweizer Sicht haben wir als Anfangspunkt den Beginn des Ausbaus der deutschen Armee nach Hitlers „Machtergreifung" und als Schlußpunkt den Zusammenbruch Frankreichs im Sommer 1940 definiert. Damit lassen sich Aussagen machen über: - die Phase der dreißiger Jahre, als noch nicht feststand, wie sich das „Dritte Reich" entwickeln sollte, - den Beginn des Zweiten Weltkrieges, als die neue Wehrmacht erstmals voll im Einsatz war, - die Frage der Bedrohung der Schweiz durch das nationalsozialistische Deutschland, - die Beurteilung der deutschen Wehrmacht durch den schweizerischen Nachrichtendienst. Die besondere Gewichtung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist sinnvoll, da das aus dieser Periode gewonnene Bild den abgerundetsten Eindruck ergibt. Der zeitliche Rahmen wird nur punktuell weiter gespannt. Nach 1940 werden die Quellen kriegsbedingt spärlicher und einseitiger, ohne daß sich aber an der Einschätzung der Wehrmacht im Rahmen der für diese Publikation verbindlichen Fragestellung bis 1945 etwas grundlegend ändern würde. Der Aspekt der Bedrohung scheint deshalb wichtig, weil damit deutlich wird, daß die Schweiz in ihrem Handlungsspielraum kaum einmal frei war. Es soll weitgehend der Informationsstand des schweizerischen Nachrichtendienstes als Richtmaß genommen werden, da man davon ausgehen kann, daß hier die wichtigsten Meldungen zusammenliefen und ausgewertet wurden. Dies geschieht im Wissen darum, daß weitergehende und differenzierende Forschungen notwendig sind, um zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Die in jüngster Zeit in Deutschland geführte Diskussion um die Rolle der Wehrmacht wurde und wird in der Schweiz wohl interessiert zur Kenntnis genommen und je nach ideologischer Position gewertet, aber kaum durch eigenständige Beiträge ergänzt. Dieser Aufsatz kann sich demnach kaum auf Sekundärliteratur stützen. Untersuchungen zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, welche zu dieser Fragestellung etwas beitragen können, sind spar-
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lieh 1 . Es geht hier also um einen ersten Beitrag aufgrund unpublizierter Quellen zu einem Thema, das vorläufig wenig Beachtung gefunden hat 2 . Als Quellenbasis dienen für die dreißiger Jahre Berichte von Offizieren der Schweizer Armee, die für kürzere oder längere Zeit in deutschen Offizierslehrgängen als Teilnehmer oder an Übungen von Truppeneinheiten als Beobachter teilnehmen durften 3 . Ab 1938 kommen dann die Berichte dazu, die der Schweizer Militärattache in Berlin dem Nachrichtendienst meldete 4 . Die Quellen des Nachrichtendienstes selbst sind für unsere Fragestellung wenig ergiebig, da sie vornehmlich Daten auflisten, welche Erkenntnisse über mögliche Aktionen gegen die Schweiz liefern konnten. Mit dem „Bild" der Wehrmacht an sich beschäftigte sich der Nachrichtendienst nur am Rande. Etwas ergiebiger ist das Quellenmaterial zur Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg 5 . Neben den sozusagen „offiziösen" Quellen läßt sich vor allem noch in einzelnen Fachzeitungen und Fachzeitschriften vereinzelt etwas zur Einschätzung der Wehrmacht finden. So haben wir einige Jahrgänge zweier Schweizer Offizierszeitschriften in die Untersuchung einbezogen 6 . Die Fachpresse verfolgte 193 9/40 wohl die Kampfhandlungen, doch eine Diskussion der Rolle der Wehrmacht im aktuellen Sinne fand in der Öffentlichkeit nicht statt. Diese nicht gerade reiche Quellenlage ist eine Konsequenz der militärpolitischen Situation der Schweiz in der Zwischenkriegszeit und der Umklammerung durch die Achsenmächte nach der Niederlage Frankreichs im Sommer 1940. Die Hoffnung auf „Nie wieder Krieg", das Vertrauen in die kollektive Sicherheit des Völkerbundes und die konsequente Bekämpfung aller Wehranstrengungen durch die Sozialdemokratie (sie stellte sich bis 1935 gegen die Landesverteidigung) hatten zu Kürzungen und schließlich zu einer Plafonierung der Militärausgaben auf niedrigem Niveau geführt. Die Schweizer Armee mußte in den dreißiger Jahren richtiggehend wieder aufgebaut werden 7 . Diese Situation wirkte sich auch auf die Nachrichtenbeschaffung aus. Erst Mitte der dreißiger Jahren wurde die Einrichtung von Militärattache-Stellen erstmals ernsthaft diskutiert, nachdem vom Armeestab wiederholt auf die unbefriedigende Situation hingewiesen worden war 8 . Die ersten drei Attaches bezogen im Verlaufe des Jahres 1938 Posten in Paris, Rom und Berlin. Bei Kriegsbeginn hat-
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Dazu seien zwei Dissertationen speziell erwähnt, welche sich mit Offizieren befassen, die enge Kontakte zur deutschen Wehrmacht pflegten: Heller, Bircher; Keller, Däniker. Eine weitere Dissertation befaßt sich mit dem Wissen um den Holocaust in der Schweiz: Haas, Reich. Ich darf an dieser Stelle meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern an diesem Aufsatz, Dr. phil. Yves-Alain Morel, Zürich, und lic.phil. Dieter Wicki, Zürich, f ü r Quellenstudien und Redaktionsarbeiten danken. B A r , E27/12032-12056. Berichte von Oberst von W e r d t an Nachrichtensektion des Armeestabes, ebd., E27/9758, Bde 1 - 3 . Vgl. zu diesem Thema Braunschweig, Draht; Fuhrer, Spionage. Allgemeine Schweizerische Militärzeitung und Schweizerische Monatsschrift f ü r die O f fiziere aller W a f f e n , je die Jahrgänge 1 9 3 8 - 1 9 4 1 . Vgl. dazu Senn, Erhaltung, VI. Für die Situation in Deutschland vgl. ζ. B. Kritik an der Bearbeitung militärischer Fragen durch den Legationssekretär Grässli in Berlin 1936, B A r , E27/9749.
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ten sie noch kaum ein Beziehungsnetz aufgebaut und waren als Informationsquellen weitgehend auf Partygespräche, zufällig gehörte Ansichten und Gerüchte angewiesen. Sie lieferten somit oft propagandistisch gefärbte Informationen, die zum Teil bewußt gestreut worden waren 9 . Die Quellenlage von militärisch-diplomatischer Seite ist also teilweise rudimentär, qualitativ unterschiedlich und sehr personenabhängig. Sie ist aber repräsentativ für die Informationslage der militärischen und politischen Behörden in jener Zeit. Es gilt zusätzlich zu beachten, daß durch das schweizerische Milizsystem und die allgemeine Wehrpflicht den Entscheidungsträgern wohl immer wieder Wissen und Können aus allen zivilen Kreisen und Gesellschaftsschichten zugetragen worden ist. Diese Quellen versiegten jedoch nach Kriegsbeginn teilweise gänzlich. Die Nachrichtenbeschaffungslage war zweifellos in jeder Beziehung problematisch. Es darf deshalb im Sinne einer Hypothese angenommen werden, daß viele Offiziere, Politiker und Bürger-Soldaten bis zum Beginn des Krieges ein Bild der Wehrmacht aufgebaut haben, daß sich weitgehend auf das Gefühl, die kulturelle und gesellschaftliche Erfahrung oder die grundsätzliche Einstellung zum Phänomen Militär stützte. Es war entsprechend diffus und kaum auf verläßliche Nachrichten abgestützt. Ausdruck dieser Informationskanäle sind die vereinzelten Artikel, die in militärischen Publikationen - notabene geschrieben von „Miliz" - Autoren - auf die Wehrmacht bezug nahmen. Die Nachrichten von den militärischen Erfolgen des ersten Kriegsjahres bestärkten dann die Bewunderer der deutschen Armee in ihrer vorgefaßten Meinung. Eine kritische Uberprüfung dieser Geisteshaltung war in den Kriegsjahren sehr erschwert, da jeder Vorwurf an die deutsche Wehrmacht durch die Qualifikation „Greuelpropaganda der Alliierten" fundamental in Frage gestellt werden konnte. Der Aufsatz gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst soll die Schweizer Sicht in bezug auf Selbstverständnis und Professionalität der Wehrmacht behandelt werden. Daran schließt sich eine knappe Darlegung der Bedrohungslage im Sommer 1940 an. In zwei weiteren Abschnitten soll der Verantwortlichkeit der Wehrmacht nachgegangen werden. Zunächst wird in einem vierten Kapitel die Schweizer Beurteilung des Verhältnisses zwischen Wehrmacht und Partei dargelegt. Das fünfte Kapitel schließlich ist der Frage gewidmet, wie weit die Nachrichten über Greueltaten und Kriegsverbrechen das Bild der Wehrmacht in der Schweiz veränderten. Im Schlußwort werden die verschiedenen Erkenntnisse im Sinne einer zusammenfassenden Analyse erörtert.
Selbstverständnis Ein entscheidender Faktor für das Selbstverständnis einer Armee sind zweifellos vor allem ihre Kader, welche Kraft ihres Amtes und ihrer Stellung auf die Untergebenen eine Vorbildfunktion ausüben und auch das Bild in der Offent-
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Hauptmann Waibel, ein nach Deutschland zu Lehrgängen kommandierter Offizier, kritisierte den Schweizer Militärattache von Werdt wiederholt massiv wegen seiner dürftigen Informationsgrundlagen, so ζ. B. Schreiben Waibels, 25. 10.1939, an Masson, Chef Nachrichtensektion, ebd., J.1.140/4.
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lichkeit prägen. Naturgemäß wurde deshalb der Haltung der deutschen Offiziere große Beachtung geschenkt. In allen Berichten wurde ihnen dabei eine natürliche Selbstsicherheit, eine große Hingabe an ihre Aufgabe und ein hohes Arbeitsethos attestiert. Vor allem in den Reihen der älteren Offiziere der Reichswehr und später der Wehrmacht, die zum Teil noch im Ersten Weltkrieg gedient hatten, wurden vielfach auch aristokratische Züge registriert, was man als „preußisch" bezeichnete10. Dieses von einigen Schweizer Offizieren durchaus positiv gewertete Bild wurde oft durch kritischere Einschätzungen relativiert: „In Gesinnung, Haltung und Auftreten sind sie alle wirkliche Offiziere. Ein vielfach an Überheblichkeit grenzendes, von der unbeirrbaren Überzeugung der Überlegenheit der deutschen Rasse getragenes Selbstbewußtsein, drängt sich etwas allzu stark auf" 11 . Bei den jungen Offizieren fiel das Urteil anders aus. Sie hielt man für dem Nationalsozialismus treu ergeben: „Die jungen Offiziere haben restlos das nationalsozialistische Gedankengut in sich aufgenommen, währenddem sich nicht alle älteren Herren vorbehaltlos zum Nationalsozialismus zu bekennen scheinen. Ein solches Bekenntnis wird auch nicht von jedem älteren Offizier erwartet und würde eher als Charakterschwäche aufgefaßt" 12 . Was hier fast wie ein Generationenproblem interpretiert werden könnte, scheint sich mindestens in der Wahrnehmung der Schweizer Offiziere im deutschen Offizierskorps nicht als Problem manifestiert zu haben. Im außerdienstlichen Umgang, in dem die deutschen Offiziere ohnehin nicht als sehr gesprächig bezeichnet wurden, hätten die alten oft vom Ersten Weltkrieg erzählt und die jungen interessiert zugehört 13 . Der Umgangston zwischen den Dienstgraden wurde als kameradschaftlich, offen und sachbezogen bezeichnet. So sprach Major Wierss, der 1935 bis 1937 einen Lehrgang an der Kriegsakademie absolvierte, von einen „freiheitlichen Geist", der vom Lehrpersonal als „älteren Kameraden" ausstrahlte. Deren undoktrinäre und unformalistische Philosophie habe bei den Lehrgangsteilnehmern ein initiatives und entschlußfreudiges Handeln und entsprechend überraschende und originelle Lösungen zu taktischen Problemen gefördert 14 .
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Oberstkorpskommandant Miescher, Die Manöver des deutschen VI. Armeekorps, 10./II. 9. 1937. Miescher war Instruktionsoffizier und kommandierte das dritte Armeekorps 1934-1941, ebd., E27/12042. Oberstleutnant Maurer, 12. 12. 1935, Bericht über die Kommandierung an die ArtillierieSchieß-Schule in Jüterbog, O k t o b e r 1935. Maurer war Instruktionsoffizier der Artillerie, ebd., E27/12033. Oberstleutnant Scheitlin, Hauptmann de Pury, Bericht über die Kommandierung in das deutsche Infanterieregiment 78, 11.6.-8. 7. 1938. Scheitlin und de Pury waren Instruktionsoffiziere der Infanterie, ebd., E27/12055. Lieutenant Colonel E M G Dubois, 13. 4. 1937, Stage au 17e Regiment d'infanterie allemand, aoüt 1936. D u b o i s war Instruktionsoffizier und als solcher Sektionschef der Generalstabsabteilung, ebd., E27/12040. Major i G s t K. Wierss, Sommer 1937, Bericht über Kommandierung an die Kriegsakademie in Berlin, Herbst 1935 bis Sommer 1937. Wierss war Instruktionsoffizier der Infanterie, ebd., E27/12035.
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Als entscheidender Faktor für den Erfolg im Krieg wurde ferner das gute Verhältnis zwischen Soldaten und Offizieren herausgestrichen. In der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung (ASMZ) kann man in verschiedenen Aufsätzen nachlesen, daß für den deutschen Offizier Fürsorge, Kameradschaft und persönliches Beispiel Selbstverständlichkeiten gewesen seien: „Besonderes Gewicht wurde auf die Kameradschaft gelegt und zwar auch auf die Kameradschaft zwischen Offizier und Gemeinen. ... Die Fürsorge für den Mann gilt als erste Pflicht. ... Das Vertrauen des Heeres zu seinen Führern stieg noch, als selbst höhere Vorgesetzte ihre Truppe persönlich in den Kampf führten und in vorderster Linie ihre Dispositionen gaben. Die Begeisterung für seine Vorgesetzten, die Zuneigung zu ihnen ist beim deutschen Soldaten zum großen Teil neben die revolutionäre Idee" 15 . Und: „Der Offizier ist nicht mehr lediglich der Vorgesetzte, sondern er ist in erster Linie der treue Kamerad seiner Untergebenen" 16 . Neben diesen Einschätzungen der deutschen Offiziere als militärische Fachleute wurde in vielen Berichten auch auf ihre politische Einstellung eingegangen17. Wiederholt betonten Schweizer Offiziere nach dem Besuch deutscher Truppen, daß der Wehrmachtsoffizier grundsätzlich apolitisch sei und völlig in seiner Tätigkeit als Führer und Ausbilder aufgehe: „Pratiquant leur metier avec une ferveur monocale, ces officiers paraissent se preoccuper si peu de politique qu'on en voit rarement lire les journaux" 18 . „L'officier de la nouvelle grande armee s'abstient de toute politique et n'en parle qu'avec la plus grande circonspection, meme avec ses camarades" 19 . „Am politischen Geschehen nehmen die Offiziere nur geringen Anteil und auch dann werden mehr Fragen der Außenpolitik erörtert" 20 . Diese politische Zurückhaltung wurde aber nicht in dem Sinne gedeutet, daß die militärischen Kader dem nationalsozialistischen Regime kritisch gegenüber stünden. Schließlich hätten Deutschland und die Wehrmacht ihr neu erstarktes Selbstbewußtsein Hitlers Politik nach der Machtergreifung zu verdanken: „Gegründet auf die außenpolitischen Erfolge Adolf Hitlers, verläßt sich jedermann vertrauensvoll der Leitung des Reiches durch den .Führer'. .Unser Führer wird es schon recht machen!'" 21 . Oder: „On loue la maniere dont le niveau materiel et moral de l'armee a ete rapidement releve par le regime hitlerien. . . . l'armee se developpe et reprend l'im-
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Bindschedler, Rudolf L., Taktische Betrachtungen zum Feldzug in Frankreich, in: A S M Z , (1940) 11, S. 639 f. Müllern, Gunnar, General Died, der Held von Narvik, in: ebd., (1941) 5, S. 286. Vgl. dazu auch das Kapitel „Verantwortlichkeit". Colonel Divisionnaire Borel, Stage dans l'armee allemande, juin 1935. Borel war Instruktionsoffizier und Waffenchef der Infanterie 1 9 3 4 - 1 9 3 5 , B A r , E27/12036. Colonel Schmidt, Stage ä l'Ecole d'Artillerie de Jüterbog, 1 8 . 1 1 . - 1 7 . 1 2 . 1937, ebd., E27/12044 Bd. 2. Oberstleutnant Scheitlin, Hauptmann de Pury, Bericht über die Kommandierung in das deutsche Infanterieregiment 78, 11.6.-8. 7. 1938, ebd., E27/12055. Ebd.
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portance qu'elle avait jadis, le peuple s'est reveille et a entiere conscience de sa valeur. Actuellement, l'armee et le peuple ne font qu'un" 2 2 . Das Verhältnis der Wehrmacht zu den Parteiformationen wie SA, SS und anderen wurde hingegen klar als deutlich distanziert bis ablehnend wahrgenommen. Ein Berichterstatter hielt fest: „Les relations officielles [...; zwischen Wehrmacht und SS, d. Verf.] sont tres tenues et, au dire des officiers eux-memes, reduites au minimum indispensable" 23 . Ahnliches hörte man auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. 1940 konnte der Schweizer Militärattache anläßlich einer Reise an die Westfront mit Truppenkommandeuren in Holland und Belgien sagen: „Die Offiziere sehen den zu erwartenden Parteileuten scheint's nicht vollzählig mit Freuden entgegen. Sie glauben, daß reine Militärverwaltung günstiger wäre für das gute Verhältnis mit der Zivilbevölkerung" 24 . Weiter hatten laut Oberstkorpskommandant Miescher 1937 deutsche Regimentskommandeure erklärt, sie ließen die alte preußische Tradition, wonach sie allein die Offiziere für ihr Regiment wählen könnten, wieder aufleben. Der Schweizer Berichterstatter deutete das so, daß man ihm zu verstehen geben wollte, „daß hier der Einfluß der Partei seine Schranken habec'25. Ferner nahm Miescher zur Kenntnis, daß die „ besten Leute zur Armee und zum Offiziersstand drängen, gerade weil sie sich dadurch vom ganzen Parteibetrieb freimachen können ". Miescher wagte die Prognose, daß die Wehrmacht nach einer gewissen Zeit innerhalb des Staates wieder eine Stellung gewinnen könnte, die die Macht der Partei überwinden würde 26 . Diese Einschätzung wurde offenbar auch noch von anderen Schweizer Militärs geteilt, denn 1940 erteilte der Militärattache in Berlin solchen Spekulationen eine Absage. Er berichtete in seinem Lagebericht über ständige Reibereien zwischen Heer und Partei, wobei kein Ende abzusehen sei, hielt aber abschließend fest: „Aber ... bleibt für mich der Gesamteindruck bestehen, daß nach dem Krieg die von vielen erhoffte Machtübernahme durch die Armee nicht eintreten wird" 27 . Diese verschiedenen Schweizer Beurteilungen des Selbstverständnisses der deutschen Wehrmacht zeichnen das Bild einer Armee, welche sich als militärisches Instrument versteht und alle Energien daraufrichtet, dieses zu vervollkommnen. Schweizer Einschätzung zufolge sahen sich die Offiziere als Elite, als Träger der preußisch-deutschen Militärtradition, die an einer großen nationalen Aufgabe mitarbeiten konnten. Sie wollten dabei auch Neues einfließen lassen, so zum
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Lieutenant Colonel E M G Dubois, 13.4. 1937, Stage au 17e Regiment d'infanterie allemand, aout 1936, ebd., E27/12040. Colonel Schmidt, Stage ä l'Ecole d'Artillerie de Jüterbog, 18.11.-17.12. 1937, ebd., E27/12044 Bd. 2. Schweizer Militärattache, Bericht über Reise an die Westfront, 15. 6. 1940, ebd., E27/9758 Bd. 3. Oberstkorpskommandant Miescher, Die Manöver des deutschen VI. Armeekorps, 10./11. 9. 1937, ebd., E27/12042. Ebd. Schreiben von Werdts, 21. 8. 1940, an Nachrichtensektion, ebd., E27/9758 Bd. 3.
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Beispiel einen anderen Umgang in der Wehrpflichtarmee, in der die Untergebenen nicht nur durch repressive Disziplinarmaßnahmen zum Gehorsam verpflichtet, sondern auch durch einen vernünftigen Umgangston und beispielhaftes Verhalten der Vorgesetzen mitgerissen werden sollten. Die Beschäftigung mit politischen Fragen war verpönt, ja die Partei wurde als Konkurrenz empfunden und so weit als möglich aus dem Umfeld der Armee herausgehalten. Alles in allem vermittelte die Wehrmacht offenbar das Bild einer in hohem Maße selbstbewußten Institution, welche - bei aller Reserviertheit gegenüber Parteieinflüssen - loyal im Dienste des Staates stand und mit allen Kräften auf eine zukünftige Bewährungsprobe hinarbeitete. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte sich dies nach Schweizer Beobachtung nicht grundlegend geändert.
Professionalität In den Berichten von Schweizer Offizieren über Kontakte mit der deutschen Wehrmacht machen die Schilderungen von Manövern, die Beschreibung des Dienstbetriebes bei verschiedenen Truppengattungen und technische Details von Waffen, Geräten und Einrichtungen den weitaus größten Teil aus. Dabei schimmert meistens mehr oder weniger deutlich die Bewunderung für die militärischen Leistungen auf allen Gebieten durch. Als einer der glühendsten Verehrer der deutschen Wehrmacht sticht der Berufsoffizier Oberst Gustav Däniker hervor. In verschiedenen Aufsätzen analysierte er die Feldzüge von 1939 und 1940 und zollte den Deutschen vorbehaltlos Anerkennung. 1940 schrieb er in einer Beurteilung der Wehrmacht: „Bewundernd steht man vor diesem restlosen Bestehen einer schweren Bewährungsprobe. D e r Soldat, der sich gewohnt ist, mit kritischem Blick die Geschehnisse auf dem Kriegsschauplatze genau zu prüfen, gewinnt gerade hierdurch auch die Berechtigung zu vorbehaltloser Anerkennung und zu tiefer Bewunderung kriegerischen Erfolges" 2 8 . Kaum so schwärmerisch, aber inhaltlich gleich lauteten die meisten anderen Kommentare. Beim einfachen Soldaten beeindruckte die fundierte Beherrschung des Waffenhandwerks, welches bei Manövern und in der Ausbildung beobachtet werden konnte. D e r Schweizer Militärattache in Berlin berichtete von einem Truppenbesuch: „Eines muß speziell betont werden, weil es für jeden Soldaten in die Augen springend ist: Die unbedingte Sicherheit jedes Mannes in der Handhabung seiner Waffe, die rasche und doch ruhige Überlegung zeigende Art des Vorgehens bei Störungen an der Waffe wie der Gesichtsausdruck aller Leute: quasi energiegeladen. D e m entspricht auch Haltung und Antwort jedes Mannes, der einem eine Frage beantwortet. Unwillkürlich schließt man vom einzelnen Mann auf die ganze A r m e e " 2 9 .
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Zit. n. Keller, Däniker, S. 274. Däniker war Instruktionsoffizier und 1 9 3 8 - 1 9 4 2 K o m m a n dant der Schießschule Walenstadt. von Werdt, 12. 4. 1940, an Nachrichtensektion, Bericht über die Besichtigung des Truppenübungslagers Königsbrück bei Dresden, B A r , E 2 7 / 9 7 5 8 Bd. 3.
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Ferner wurde im Einsatz die in hohem Maß funktionierende Zusammenarbeit der verschiedenen Waffengattungen, namentlich der Panzer- und Fliegerverbände, ermöglicht durch gut ausgebaute moderne Verbindungsmittel, positiv vermerkt 30 . Als wesentliches Element für die beachtlichen militärischen Leistungen der deutschen Soldaten wurde die gute Disziplin gesehen. Durch die lange Dienstzeit werde der Soldat durch die militärische Umgebung indirekt geprägt und sei sich deshalb der Disziplinierung auch weniger bewußt: „Es kommt noch hinzu, daß der deutsche Soldat gesinnungsmäßig einen viel ausgeprägteren Autoritätsbegriff besitzt. Er unterwirft sich dem Offizier wegen seines Ranges und nicht wegen seiner Persönlichkeit" 31 . Auch aus Sicht von Berichterstattern, welche die Meinung vertraten, die Schweizer Miliztruppen bräuchten den Vergleich mit den deutschen Wehrmachtsoldaten in einigen Bereichen nicht zu scheuen, wurde ein entscheidender Unterschied in der tief verinnerlichten Disziplin ausgemacht: „Die Disziplin ist besser als bei uns; sie ist etwas ganz selbstverständliches, worüber gar nicht gesprochen werden muß. Der Mann ist härter, kriegerischer und ist von der neuen, großen Idee derart beseelt, daß er willig die allergrößten Opfer auf sich nimmt. Dies scheint mir kriegsentscheidend" 32 . Ein Westschweizer Offizier hob gerade die Verknüpfung beider Elemente, nämlich gute Ausbildung und hohe Disziplin, besonders hervor: „J'ai vu des troupes et des cadres parfaitement instruits dont la tenue, la discipline, l'aisance en toutes circonstances, ont atteint un niveau qu'il ne doit guere etre possible de depasser" 33 . Ebenfalls mit Anerkennung wurden immer wieder die guten Leistungen der deutschen Unteroffiziere erwähnt, die man als ihren schweizerischen Kollegen überlegen eingeschätzte 34 . Insbesondere die große Selbständigkeit und Selbstsicherheit der deutschen Gruppenführer wurde dabei herausgestrichen. Zu Ende des Westfeldzuges hatte der Militärattache Gelegenheit, die Westfront zu besuchen. Die deutschen Truppen machten ihm trotz der erlebten Kampfhandlungen einen frischen Eindruck. Obwohl wenig Offiziere zu sehen gewesen seien, habe alles den Eindruck von bester Ordnung gemacht: „Uberall .riecht' man quasi die musterhafte Organisation und die Selbständigkeit und Selbstsicherheit der Unteroffiziere, die einem schon bei Gefechtsübungen aufgefallen ist und sich auch hier offenbar bewährt,... kurz, alles verrät größte Disziplin" 35 .
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von Werdt, 20. 5. 1940, an Nachrichtensektion, ebd., E27/9758 Bd. 3; vgl. auch Generalleutnant Adaridi, Die L u f t w a f f e im deutsch-polnischen Kriege 1939, in: Schweizerische Monatsschrift f ü r Offiziere aller W a f f e n , 51 (1939) 12, S. 4 0 0 - 4 0 3 . Generalstabsabteilung 1937, Studien über die deutsche Armee, B A r , E27/9610, S. 64. Major Friedländer, 26. 07. 1937, Bericht über Kommandierung zum Inf Rgt 56 auf dem Truppenübungsplatz Heuberg, 5.-24. 07. 1937. Friedländer war Instruktionsoffizier der Infanterie, ebd., E27/12048. Colonel Divisionnaire Borel, Rapport sur son stage dans l'armee allemande, juin 1935, ebd., E27/12036. Ebd. Schweizer Militärattache, 15. 6 . 1 9 4 0 , Bericht über Reise an die Westfront, ebd., E27/9758 Bd. 3.
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Das Bündel von verschiedenen Faktoren wie automatisiertes, virtuoses Waffenhandwerk, Kampf der verbundenen Waffen und eine straffe Disziplin auch unter Gefechtsbedingungen bestätigte sich in der Beschreibung der Kriegshandlungen von 1939 und 1940. Der Militärattache erhielt auf von der Wehrmacht organisierten Attachereisen einen Einblick in die Vorgänge, und in Schweizer Militärzeitschriften analysierten ausländische und Schweizer Offiziere den Polen- und den Westfeldzug. Das Bild, welches in diesen Berichten gezeichnet wurde, bestätigt den Erfolg der deutschen Wehranstrengungen in den dreißiger Jahren und machte unter anderem die immense Aufrüstung als Grund für die Überlegenheit der Wehrmacht über die polnische und französische Armee aus: „Die gründliche Ausbildung und ausgezeichnete Bewaffnung gab jedem Mann das Gefühl der Überlegenheit, das sich in nie versagendem Angriffsschwung und felsenfestem Ausharren auch in gefährlichster Lage äußerte und das dem Gegner völlig abging. ... Abschließend läßt sich sagen, daß der Sieg im Westen vor allem ein Sieg der besseren Ausbildung auf materiellem wie auf moralischem Gebiet gewesen ist, ein Sieg der gründlichen und damit wahrhaften soldatischen Arbeit" 36 . Andere Beurteilungen betonten, daß es nicht nur die materielle, sondern auch die konzeptionelle Überlegenheit war, welche der deutschen Armee zum Sieg verholfen habe. Oberst Däniker schrieb in einem längeren Aufsatz zum Thema
„Zwei Jahre deutsche
Strategie":
„Alles in allem betrachtet, hat sich die Strategie von den sie vorübergehend beengenden Fesseln gelöst. Das deutsche strategische Denken, das mehr unter dieser Fesselung gelitten hatte, als das angelsächsische, fühlt sich wieder freier und hat tatkräftig zur klassischen preußisch-deutschen Strategie zurückgegriffen, welche dem Feinde das Gesetz des Handelns vorschreibt" 37 . Diese Analyse der deutschen Anfangserfolge deckt sich mit Einschätzungen, welche schweizerische Beobachter schon in den dreißiger Jahren über die Wehrmacht gemacht hatten. Major Wierss, der 1935-1937 die Kriegsakademie besucht hatte, sagte zu einem Manöver: „Die Manöver zeigten eine in der Entwicklung begriffene neuzeitliche Armee, die in unglaublich kurzer Zeit die einengenden Fesseln überwunden hat und in wenigen Jahren auf der Höhe sein wird in Bezug auf moderne Bewaffnung, Ausrüstung und Ausbildung. Ausgezeichnet und augenfällig ist die gute Haltung, die Disziplin und der Geist der Truppe. Man darf nicht vergessen, daß die überwiegende Mehrzahl der Soldaten erst ein Jahr im Dienste stand" 38 . In seiner Schlußanalyse, in der er hervorhob, daß in Deutschland eine sehr leistungsfähige Waffe geschmiedet werde, kam er zu folgender Prognose:
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Bindschedler, Rudolf L., Taktische Betrachtungen zum Feldzug in Frankreich, in: A S M Z 8 6 ( 1 9 4 0 ) , S. 639 f. Oberst i Gst Däniker, Zwei Jahre deutsche Strategie, in: Schweizerische Monatsschrift f ü r Offiziere aller W a f f e n 53 (1941), S. 341. Major i Gst K. Wierss, Sommer 1937, Bericht über Kommandierung an die Kriegsakademie in Berlin, Herbst 1935 bis Sommer 1937, B A r , E27/12035.
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„Wenn auch bei dem gigantischen Aufbau der gesamten Wehrmacht noch alles im Fluß i s t , . . . so ist doch eines sicher, daß mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine geistig bewegliche Führung herangebildet wird, daß diese initiative und freie Führung Gemeingut des Heeres werden soll, und daß daneben das Instrument geschmiedet wird, den Willen des Führers [hier gemeint: des militärischen Chefs, d. Verf.] zu verwirklichen" 39 . Der numerisch und materiell schnell wachsenden, mit modernsten Mitteln ausgerüsteten deutschen Armee wurde also schweizerseits großer Respekt gezollt. Oberstkorpskommandant Prisi fand eine prägnante Formulierung für eine weit
verbreitete Meinung: „Solche Truppen sind wirkliche Kriegsinstrumente, nicht
bloß deren unscharfe Schattenbilder"40. Die Schweizer Offiziere beurteilten jeweils die Leistungen in erster Linie aus fachlicher Sicht. Sie waren in jeder Beziehung stark beeindruckt. Die Wehrmacht erschien in Europa militärisch als das Maß aller Dinge, von deren Erfahrungen die Schweizer Armee auf der einen Seite nur profitieren konnte. Auf der anderen war man aber auch ein möglicher Gegner dieser Armee, so daß aus dem Studium des deutschen Vorgehens auch Schlußfolgerungen für die eigene Landesverteidigung gezogen werden mußten. Diese Erkenntnisse fanden 1939/40 ihren Niederschlag in verschiedenen Reglementen, Weisungen, Tages- und Armeebefehlen 41 .
Deutsche Operationsplanung gegen die Schweiz Es kann hier im Rahmen dieses Beitrages nicht darum gehen, die ganze vielschichtige und komplizierte Problematik der militärischen Gefährdung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg neu aufzurollen und bekannte Ereignisgeschichte zu wiederholen, zumal die grundlegenden Publikationen leicht greifbar sind 42 . Es geht hier allein um ausgewählte neue Forschungsergebnisse zur Bedrohung im Sommer 1940 aus schweizerischer Sicht. Die effektiven deutschen Planungen können als bekannt vorausgesetzt werden. Wie wurde die Bedrohung durch den schweizerischen Nachrichtendienst wahrgenommen ? Der Chef des militärischen Nachrichtendienstes der Schweizer Armee, Brigadier Roger Masson, schreibt in seinem Bericht „Die militäri-
sche Gefährdung der Schweiz 1939-1945" vom 8. 8. 1945 einleitend:
„Wenn im Rückblick auf den Ablauf des militärischen Kriegsgeschehens der Jahre 1939-1945 die Augenblicke besonderer militärischer Gefährdung für die Schweiz herausgestellt werden sollen, kann von .Gefährdung' nicht in
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Ebd. Oberstkorpskommandant Prisi, Bericht über die Kommandierung zu den Manövern des IV. Armeekorps in Sachsen (16.-19. 09. 1936). Prisi war ursprünglich Sekundarlehrer und erst als Kommandant einer Division Instruktionsoffizier geworden. 1936-1943 kommandierte er das 2. Armeekorps, ebd., E27/12037. An Reglementen seien nur zwei erwähnt: Armeestab, Nachrichtensektion, August 1939, „Die Streitkräfte unserer Nachbarstaaten"; Schweizerische Armee, der Oberbefehlshaber, N o v e m b e r 1939, „Weisungen für die K a m p f f ü h r u n g in der Verteidigung". Verschiedene Tages- und Armeebefehle sind abgedr. bei Kurz, Dokumente. Vgl. zu diesem Thema Urner, Schweiz; Roesch, Schweiz; Senn, Anfänge.
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einem allgemeinen und durch den ganzen Kriegsverlauf hindurch gleichbleibenden Sinne gesprochen werden. Es muß vielmehr unterschieden werden zwischen verschiedenen Kategorien von Gefährdung. Nicht nur dem Grad, sondern vor allem auch den Voraussetzungen nach waren die Gefährdungsmomente zu verschiedenen Zeiten verschieden. In sich selber stellen diese verschiedenen Kategorien allerdings ebenfalls eine Stufenfolge der Gefährdungsintensität dar" 43 . Der schweizerische Nachrichtendienst hat zwischen vier verschiedenen Kategorien von Gefährdung unterschieden. In jedem Fall vertrat Masson die Meinung, die schweizerische Neutralität werde von beiden Kriegsparteien solange respektiert, als dies vom Gegner auch angenommen werden könne. Als wichtigste Faktoren dieser Beeinflussung der Kriegführenden im Sinne einer glaubwürdigen und anerkannten Neutralitätspolitik erachtete er politische, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen, aber insbesondere die unermüdliche Demonstration des Willens und des Könnens der Schweizer Armee, das Territorium gegen jeden Verteidiger zu schützen. Unumwunden gab er in seinem Bericht zu, daß seine Mittel, um die Gefährdung rechtzeitig zu erkennen, sehr beschränkt und teilweise inexistent gewesen seien. Hans Rudolf Kurz hat dem schweizerischen Nachrichtendienst insgesamt ein gutes Zeugnis ausgestellt, indem er schreibt: „Bei allen Schwächen die ihm anhafteten, und den Fehlern, die unter dem Druck der Kriegsverhältnisse auch gemacht wurden, darf dem schweizerischen Nachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg doch attestiert werden, daß er seine Aufgabe erfüllt hat" 44 . Auch Hans Senn wertet die Arbeit Massons positiv und betont, daß die ganze militärische Aufklärung von hingebungsvollen und fähigen Männern im Sinne des Milizgedankens mit unkonventionellen Methoden aus dem Nichts heraus aufgebaut worden sei 45 . Dies ist zweifellos richtig, hatte doch Brigadier Masson 1936 bei seinem Dienstantritt einen Sekretär und einige Tausend Franken zur Verfügung. Für unsere Frage auffällig ist, daß im Herbst 1940 die Gefahr deutscher Intervention relativ gering, im Winter 1942/43 jedoch als sehr hoch eingeschätzt wurde 46 . Es muß Spekulation bleiben, ob wahre Angriffsabsichten vom Nachrichtendienst rechtzeitig erkannt und die Alarmmeldungen von den Entscheidungsgremien auch geglaubt worden wären. Die tatsächliche Gefährdung der Schweiz im Nachgang zum Westfeldzug 1940 soll kurz beleuchtet werden. Die militärische und militärpolitische Lage Europas hatte sich durch den unerwarteten Verlauf des Feldzuges im Westen vollkommen verändert. Frankreich war militärisch besiegt. Am 24. Juni 1940 stellte der schweizerische Nachrichtendienst im Räume Morteau-Schweizergrenze das Gros der 1. Panzerdivision Kirchner und gegen Ende Juni im Raum Delle-
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Roger, Masson, Die militärische Gefährdung der Schweiz 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Bericht des Unterstabschef Ib (Nachrichten- und Sicherheitsdienst), 8. 8. 1945, an den Generalstabschef, BAr, E27/14342. Kurz, Nachrichtenzentrum, S. 107. Senn, Erhaltung, VI, S. 75. Zum sogenannten „Märzalarm" vgl. Braunschweig, Draht, S. 2 5 9 - 2 9 4 .
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Besanijon zwei Panzerkorps (Guderian und Schmidt) sowie starke infanteristische Kräfte fest. Am 31. Juli waren nach schweizerischen Meldungen immer noch zwei kampfstarke deutsche Armeen (List und Dollmann) im Jura in Grenznähe und mit einem verstärkten Korps im Elsaß stationiert 47 . Sie waren nach eidgenössischer Beurteilung für neue Aufgaben frei. Wohl liefen anfangs Juni 1940 Gerüchte um, die Schweiz, „das kleine Stachelschwein ", werde durch die deutsche Wehrmacht auf dem Rückweg aus Frankreich erledigt, aber es ließ sich nichts Konkretes herausfinden. Durch den privaten, später militarisierten Nachrichtendienst des Appenzeller Kaufmanns Hans Hausamann erfuhr Masson erstmals am 19. Juni, die militärische Gefahr für die Schweiz sei auch nach dem Zusammenbruch des Gros des französischen Heeres noch nicht beseitigt. Operative Gründe für eine Besetzung im Rahmen des Westfeldzuges bestünden jedoch nicht mehr. Die Schweiz sei vielmehr jetzt als Transitland und aus wirtschaftlichen Gründen interessant. Es werde deshalb bald politisch-wirtschaftlicher Druck ausgeübt. Eine „erstklassige Quelle" hatte ihm gemeldet: „Die Drohung mit einer militärischen Lösung bei mangelndem Willen zur raschen .Anpassung' wird dabei unter Umständen schon bald eine Rolle spielen. Italien wird diese Form der Behandlung der Schweiz aus eigenem Interesse nicht mitmachen, aber praktisch dulden und decken, sobald die Reichsführung es wünscht. Auch die Reichsführung würde sich zu einem militärischen Vorgehen gegen die Schweiz, wenn diese ihre derzeitige Rüstung und Mobilmachung beibehält und dem veränderten Frontverlauf anpaßt, nicht entschließen, weil eine im Kriege verwüstete Schweiz für das Reich in dessen jetziger Situation nur eine Belastung ist und selbst bescheidene Ergebnisse der wirtschaftlich-politischen Druckausübung einem militärischen Vorgehen gegen eine zum äußersten Widerstand und zur Vernichtung ihres begehrten Besitzes entschlossenen Schweiz vorzuziehen sind. Insofern liegt der Fall Schweiz für die Reichsregierung genau so wie der Fall Ungarn. Auch Ungarn ist für das Reich nur als intakter Lebensmittellieferant etwas wert. Alles hängt unter diesen Umständen davon ab, daß die Wehrbereitschaft der Schweiz voll und unbeugsam aufrechterhalten, der neuen Lage angepaßt und so gestaltet wird, daß der Eindringling nicht nur mit schärfstem militärischen Widerstand, sondern auch mit der Vernichtung gerade der Güter rechnen muß, die er in erster Linie begehrt" 48 . Am 30. Juni konnte Hausamann abermals von seinem Informanten im Reichspropagandaministerium profitieren und berichtete von einer Konferenz, die am Abend des 24. Juni in der Reichskanzlei in Berlin stattgefunden habe49. Es seien alle entscheidenden Personen anwesend gewesen: Hitler, Göring, Keitel, Ribbentrop und die Reichsminister Heß und Goebbels. Es sei in dieser Lagebesprechung auch die Schweiz besprochen worden. Zwei Auffassungen hätten
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Bericht des Chefs des Generalstabes der Armee an den Oberbefehlshaber der Armee über den Aktivdienst 1939—45, Bern 1946, S. 16. Diese Beurteilung war sehr rudimentär, und es ließen sich daraus kaum operative Absichten erkennen. Meldung Hausamann v o m 19. 6. 1940, B A r , E27/14273. Meldung Hausamann v o m 30. 6. 1940, ebd., E27/14272. Vgl. Senn, Anfänge, S. 2 7 8 - 2 8 5 .
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Operation Schweiz, Entwurf Operationsabteilung OKH, vom 12.8.1940; aus: Senn, Anfänge.
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sich gegenübergestanden. Die Parteiseite und insbesondere Ribbentrop habe eine sofortige Besetzung bis zur Wasserscheide gefordert. Der südliche Teil sei den Italienern zu überlassen. Ein militärischer Widerstand sei zur Zeit kaum wahrscheinlich und könne im schlimmsten Fall durch ein Luftbombardement schnell gebrochen werden. Die Vertreter der Wehrmacht hätten sich gegen diese Auffassung gestellt und zu bedenken gegeben, daß eine schweizerische Kapitulation auf ein Ultimatum hin unwahrscheinlich sei. Ein Angriff werde wegen des schwierigen Geländes schwere Opfer fordern und „ zwar bereits an der Jura- und Rheingrenze, und insbesondere auch dann, wenn sich die Schweizer Truppen in die zentralen Bergmassive zurückziehen könnten". Deutschland brauche alle Soldaten „zur Endabrechnung mit England, dann später zur Niederwerfung Rußlands und eventueller weiterer Gegner". Ein erfolgreicher Widerstand der Eidgenossen in den Bergnestern könnte die Kampfbereitschaft der Gegner Deutschlands verstärken. Beide Diskussionsparteien hätten jedoch einhellig der Annexion der Schweiz zur Abrundung der deutschen Grenze im mitteleuropäischen Raum zugestimmt. Die Schweiz sei noch der einzige unabhängige Raum mit einer großen, geschlossen lebenden, deutschsprachigen Bevölkerung. „Diese Bevölkerung", fährt der Bericht weiter, „werde bei entsprechender Erziehung der Jugend bald dieselben guten deutsch denkenden Soldaten stellen können, wie das heute schon die Ostmark größtenteils tut". Als sehr wichtig für die kommende Kriegführung wurden die wirtschaftlichen Güter beurteilt, welche die Schweiz angehäuft habe, „ die bei einer eventuellen langen Dauer der englischen Blockade für Deutschland nicht unerheblich ins Gewicht fallen würden". Dieses Ziel sei aber ohne Aufopferung Hunderttausender von Soldaten durch gezielte Propaganda zu erreichen, welche zu suggerieren habe, jeder Widerstand sei sinnlos und die militärischen Verteidigungsanstrengungen aufzugeben. Der Ausbau und die Unterstützung der nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz sei unabdingbar. Der Bericht kommt zum Schluß: „Erst wenn dergestalt der Boden noch mehr als bisher vorbereitet sei, werde ein plötzlicher deutscher Druck, unter Androhung sofortigen Einmarsches, mit Sicherheit Erfolg haben, ohne irgendwelche verlustreiche Kampfhandlungen notwendig zu machen". Diese angeblich von Keitel vorgetragene Auffassung der Wehrmachtführung habe die Billigung Hitlers gefunden, welcher „ bei der Besprechung zu wiederholten Malen in die Diskussion eingriff"50. Sowohl Urner als auch Senn haben festgestellt, daß dieser Bericht Hausamanns nachweisbare Fehler enthält. Diese Besprechung fand nicht in der Reichskanzlei, sondern zu dieser Zeit im damaligen Hauptquartier in Südbelgien statt. Ribbentrop konnte nicht anwesend gewesen sein, und Hitler pflegte zur Entscheidungsfindung kaum solche großen Gesprächsrunden zu veranstalten. Trotzdem ist erstaunlich, was Hausamann hier gemeldet hat. Auch wenn der Inhalt nicht in allen Teilen stimmen mag, so bildete er ein weiteres Mal die Be-
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Meldung Hausamann vom 30. 6. 1940, BAr, E27/14272.
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stätigung der schweizerischen Überzeugung, die Wehrmacht denke aggressiv, aber rein militärisch; der ideologisch motivierte Expansionswille finde nur in der Parteispitze seinen Ausdruck. Es ist bemerkenswert, daß die Meldung Hausamann den Beginn einer Planung deutscher Kommandostellen gegen die Schweiz zeitlich richtig erfaßt hat. Wie wir heute wissen, begannen am Tag des Berichts deutsche Planungen für eine Operation gegen die Schweiz. Von diesen Studien der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres ( O p Abt O K H , Hans von Greiffenberg, O t t o Wilhelm von Menges, dann durch Franz Halder selber) Heeresgruppe C ( H G r C, Wilhelm Ritter von Leeb) und der 12. Armee (Wilhelm List) erfuhren die schweizerischen Stellen verständlicherweise erst nach dem Krieg 5 1 . Es ist noch heute nicht zweifelsfrei bewiesen, ob es sich um eine ernsthafte, durch Hitler befohlene oder um eine prophylaktische, durch die Wehrmachtstellen in eigener Initiative veranlaßte Planung gehandelt hat. Alle Generale, die nach dem Krieg zu dieser Thematik befragt worden sind (Halder, v. Tippeiskirch, v. Manstein) haben sich nicht mehr an die Planung „ T A N N E N B A U M " , den Decknamen der Heeresgruppe C, erinnern können oder wollen. Nach neuester Forschung wurden die Angriffsplanungen am 11. November 1940 von Halder endgültig gestoppt 52 , die Truppen auf anderen Kriegsschauplätzen gebraucht. Insbesondere war die 12. Armee für den Einsatz in Griechenland vorgesehen. Zusammenfassend kann zur militärischen Bedrohung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg folgendes gesagt werden: Im Sommer 1940 standen wohl die militärischen Mittel zu einer Intervention bereit, doch man rechnete bis zum November 1940 mit einem friedlichen Anschluß der Schweiz auf entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Druck hin. Die Angriffsplanungen „ T A N N E N B A U M " sind kompetente Studien verschiedener Wehrmachtstellen und keine generalstäblichen Fingerübungen. Es fehlte aber dahinter der politische Wille, sie auszulösen.
Verantwortlichkeit Als Gradmesser der Verantwortlichkeit soll nun untersucht werden, wie die Schweizer Kommentatoren die Verbindungen zwischen Wehrmacht und Partei insgesamt beurteilten. Wurde die deutsche Armee als „bloßes" Werkzeug verstanden oder spielte sie auch eine aktive Rolle in der nationalsozialistischen Machtpolitik 5 3 ? Schon in den ersten Berichten aus Deutschland wurde die Zweiteilung von regulärer Armee und Parteiformationen betont. Beim Besuch zweier Reiterregimenter im Sommer 1934, als noch die Reichswehr bestand, stellten Bericht51
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Die Studien und Operationsentwürfe für einen deutschen Angriff gegen die Schweiz im Jahre 1940 wurden erstmals durch den Militär- und Luftattache in L o n d o n J . G . Rieser am 21. 9. 1951 gemeldet. E r hatte in alliierte Beuteakten aus Deutschland Einsicht nehmen können. Ihm wurden zwei Aktenmappen vorgelegt, eine des O K H betreffend die Schweiz und eine der Heeresgruppe C unter dem Titel „ T A N N E N B A U M " . Auskunft M. Müller an den Verfasser, seine Studie ist noch in Bearbeitung. Vgl. dazu auch Kapitel „Selbstverständnis".
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erstatter einen sichtbaren Unterschied zwischen Soldaten und Polizisten auf der einen und SA-Leuten auf der anderen Seite fest. Während erstere in der Öffentlichkeit „ t a d e l l o s " wirkten, seien letztere von Haltung und Uniform her „bedenklich " 54 . Später folgten verschiedene Hinweise bezüglich der Trennung der Aufgaben zwischen "Wehrmacht und SS-Verbänden. Im August 1939 meldete beispielsweise der Militärattache in die Schweiz, daß im Kriegsfall die Wehrmacht den Kampf führen werde, doch „ im Lande soll die SS für Ordnung
sorgen. Die Juden sollen im Mobilmachungsfall
beseitigt werden"55.
Diese „Ar-
beitsteilung" bestätigte von Werdt im Frühling 1940, als nach dem erfolgreichen Abschluß des Feldzugs in Polen die deutsche Herrschaft konsolidiert werden sollte: „Nach deutschen Angaben sind alle SS-Divisionen in Polen zuständig für Ordnungsdienst und kommen nur vorübergehend an die Front, um eben auch .mitzumachen', wie die Deutschen sagen. Eine SS-Division soll in Dänemark sein" 56 . Trotz dieser äußerlichen Trennung, die immer wieder durchscheint, wurde festgestellt, daß die Partei schleichend ihren Einfluß auf die Wehrmacht zu verstärken begann. Der Schweizer Hauptmann Straumann stellte dazu bedauernd fest: „Die Wehrmacht ist nicht mehr, wie früher die Reichswehr, politisch unabhängig, was äußerlich schon daraus hervorgeht, daß jeder Wehrmann auf den Führer vereidigt wird" 57 . Einzelne Schweizer Offiziere berichteten auch von ungebetenen deutschen Begleitern oder anderen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit bei Truppenbesuchen. Straumann, der 1936 fast drei Monate bei einem Reiterregiment weilte, vermutete sogar, daß die deutschen Offiziere sich deshalb jeglicher politischer Kommentare enthielten, weil sie gar nicht wußten, was man gefahrlos erzählen durfte. „Jedes Armeekorps hat eine Spionageabwehr-Zentrale mit speziell ausgebildeten Organen, denen nicht nur die Abwehr nach außen, sondern auch die Erforschung der Einstellung der eigenen Leute obliegt" 58 . In Wehrmachtkreisen wurde diese schleichende Unterwanderung offenbar mit Argwohn registriert. Im Kapitel „Selbstverständnis" haben wir schon auf Versuche von Militärs hingewiesen, die Partei aus den militärischen Belangen herauszuhalten. Gleichzeitig wurde auch das Umgekehrte angestrebt. So konstatierte der Schweizer Militärattache in Berlin im Zusammenhang mit der Blomberg-Fritsch-Affäre und dem Rücktritt von Generalstabschef Beck, daß ein Machtkampf im Gange sei. Die Partei versuche auf irgendeine Weise Einfluß auf die Armee zu gewinnen, wobei Himmler die Triebfeder des Ganzen sei. Es 54
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Oberstleutnant Koller und Oberstleutnant von Wattenwyl, Bericht über die Kommandierung zu den Übungen der Reiterregimenter 13 und 14 bei Paderborn, 20.-30. August 1934, B A r , E27/12032. v o n W e r d t an Nachrichtensektion, 1 0 . 8 . 1 9 3 9 , ebd., E27/9758 Bd. 2. v o n W e r d t an Nachrichtensektion, 2 4 . 4 . 1 9 4 0 , ebd., Bd. 3. Hauptmann i Gst Straumann, Bericht über Kommandierung zum Reiterregiment 1, Insterburg, 1 2 . 6 . ^ . 9 . 1 9 3 6 . Straumann war Instruktionsoffizier der Kavallerie, ebd., E27/12039. Ebd.
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gäbe offenbar einen „Kampf den Generälen, die sich wehren, daß die Wehrmacht in die Politik hineingezogen wird"59. Bei aller Zurückhaltung von deutschen Offizieren in ihren Äußerungen über die Partei stellten rund die Hälfte der Berichterstatter und auch der Militärattache fest, daß keine grundsätzliche Kritik am politischen System spürbar sei. Schon 1934 sei bei der Begrüßung von zwei Schweizer Offizieren in einer Offiziersmesse von allen Anwesenden mit Hitlergruß die Landeshymne und das Horst-Wessel-Lied gesungen worden. Dabei hätten die Schweizer den Eindruck erhalten, daß „ die Offiziere ehrlich und voller Achtung zum Führer halten"60. Ein Jahr später schlug Oberstleutnant Maurer in die gleiche Kerbe: „Was die politische Einstellung des Offizierskorps anbetrifft, glaube ich mich zur Feststellung berechtigt, daß eine vollkommene Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Regierungssystem und -kurs vorhanden ist" 61 . Für Maurer war es allerdings keine Überraschung, daß sich die militärischen Kader den Nationalsozialisten gegenüber loyal zeigten. Keine andere Regierung hätte der Wehrmacht diesen Ausbau und dieses Ansehen gebracht. Auch in bezug auf die Einstellung im Offizierkorps kurz vor Kriegsausbruch stellte der Militärattache eine weitgehende Übereinstimmung mit den Zielen des „Führers" fest. In anderen Berichten kommt zum Ausdruck, daß die Möglichkeiten, welche die erstarkende Wehrmacht für eine aggressive Machtpolitik der nationalsozialistischen Führung eröffnete, erkannt wurden. Oberstkorpskommandant Prisi sagte schon 1936: „In sehr kurzer Zeit wird die Deutsche Armee ein quantitativ wie qualitativ sehr hoch einzuschätzendes Kriegsinstrument von 12 Armeekorps mit 36 Divisionen darstellen, dessen Einsatz auf das Schicksal Europas von entscheidender Bedeutung sein kann" 62 . Damit scheint eine sozusagen „indirekte" Verantwortlichkeit auf. Ohne das Machtinstrument Wehrmacht, ohne eine parierende Generalität hätte Hitler seine Ziele nicht verwirklichen können. Doch von einer klaren Stellungnahme oder gar Anklage waren Prisi und alle anderen Berichterstatter weit entfernt. Am kritischsten äußerte sich noch Oberstdivisionär Bircher, der bei seinen Kontakten zu deutschen Persönlichkeiten aus Militär, Politik und Ärzteschaft wiederholt gesagt haben soll, „es sei unverantwortlich, daß sich das deutsche Heer durch einen Menschen, der Deutschland ,moralisch unmöglich' mache, mißbrauchen lasse"bi. Dies hinderte ihn allerdings nicht daran, die Beziehungen zu deutschen Persönlichkeiten auch während des Krieges aufrecht zu erhalten
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von W e r d t an Nachrichtensektion, 22. 11. 1938, ebd., E27/9758 Bd. 1. Oberstleutnant Koller und Oberstleutnant von Wattenwyl, 2 8 . 9 . 1 9 3 4 , Bericht über die Kommandierung zu den Übungen der Reiterregimenter 13 und 14 bei Paderborn, 20.-30. August 1934, ebd., E27/12032. Oberstleutnant Maurer, 12. 12. 1935, Bericht über Kommandierung an die ArtillerieSchieß-Schule in Jüterbog, O k t o b e r 1935, ebd., E27/12033. Oberstkorpskommandant Prisi, O k t o b e r 1936, Bericht über die Kommandierung zu den Manövern des IV. Armeekorps in Sachsen (16.-19. 9. 1936), ebd., E27/12037. Heller, Bircher, S. 181.
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und Deutschland mehrmals zu besuchen 64 . Nationalsozialismus und Deutschfreundlichkeit dürfen nicht synonym verstanden werden. In der Frage nach der Stellung der deutschen Armee im nationalsozialistischen Staat und ihrem Verhältnis zur Partei erhalten wir über alles gesehen ein weitgehend einheitliches Bild. Obwohl wiederholt auf die Rivalitäten und Spannungen zwischen Partei und Wehrmacht hingewiesen wurde, scheint kein Zweifel darüber bestanden zu haben, daß die Wehrmacht letztlich der Staatsführung folgen und deren Auftrag ausführen würde. Die Nationalsozialisten hatten Deutschland wieder groß und mächtig gemacht, und in diesem Zusammenhang mußte die Armee der Regierung für die immensen Mittel dankbar sein, die besonders seit 1935 in die militärische Aufrüstung gesteckt werden konnten. So bereiteten die militärischen Kader loyal den Angriffskrieg vor und führten ihn auch durch.
Kriegsverbrechen „ Wenn man gewußt hätte, was sich drüben im Reich abspielte ... " 6 5 . Dergestalt versuchte Bundesrat Eduard von Steiger 66 1947 die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges zu rechtfertigen 67 . Solche Sätze werden seit 1945 in der Schweiz allerdings auch zur Verschleierung des Umstandes verwendet, daß man manchmal auch nicht wissen wollte, was im nördlichen Nachbarland und in den besetzten Gebieten Europas passierte. In einem letzten Schritt soll nun der zeitliche Rahmen etwas ausgedehnt und der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die Nachrichten über Kriegsverbrechen das Bild der Wehrmacht veränderten. Zum Wissensstand in der Schweiz um den Holocaust und die weiteren Kriegsverbrechen liegt seit ein paar Jahren eine Zürcher Dissertation vor 6 8 . Haas hat darin dargelegt, daß über die Schweizer Vertretungen im Ausland seit dem Herbst 1941 Berichte über die Vernichtungspolitik im Rahmen des Krieges gegen die Sowjetunion eingingen. Man wird in Rechnung stellen müssen, daß der Wahrheitsgehalt der Meldungen zunächst bezweifelt wurde. Die zunehmende Dichte der Informationen und die Glaubwürdigkeit der Informationsquellen mußten aber spätestens seit dem Sommer 1942 dazu führen, daß die maßgeblichen Kreise in der Schweiz (Regierung, Armee aber auch Presse) über das Grauen im Bilde waren 69 . Der Spielraum, um diesem Wissen Taten folgen zu lassen, war im Kleinstaat Schweiz, umschlossen von den Achsenmächten, beschränkt.
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Ebd., S. 1 8 0 - 1 8 8 . Äußerung von Bundesrat Eduard von Steiger gemäß Ludwig, Flüchtlingspolitik, S. 373. Bundesrat von Steiger fuhr fort: „ . . . dann hätte man den Rahmen des Möglichen weiter gespannt". Haas, Reich, hat das D i k t u m zum Titel seiner Dissertation gemacht. D e r Berner Eduard von Steiger ( 1 8 8 1 - 1 9 6 2 ) war als Bundesrat 1 9 4 0 - 1 9 5 1 Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes und damit für die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg verantwortlich. E r gehörte der Bauern-, G e w e r b e - und Bürgerpartei ( B G B ) an. Einen U b e r b l i c k zur Forschung zu diesem Themenkreis bietet Kreis, Flüchtlingspolitik. Haas, Reich. Ebd., S. 268.
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Eine wichtige Nachrichtenquelle bildeten Einvernahmen von Flüchtlingen und von desertierten deutschen Soldaten. Dazu war das Netz der Militärattaches im Verlaufe des Krieges ausgebaut worden 7 0 . Alle Meldungen liefen im Nachrichten- und Sicherheitsdienst des Armeestabes zusammen. Auch aus konsularischen Vertretungen der Schweiz und aus dem eigenen Informantennetz erhielt der Nachrichtendienst Meldungen 7 1 . Die Militärattaches lieferten wiederholt Berichte über Greueltaten und Massaker. Im September 1939 meldete von Werdt die Erschießung von Wehrmachtangehörigen durch polnische Verbände, eine Meldung, welche von deutschen Stellen gezielt verbreitet worden sei 72 . Andererseits aber berichtete er über deutsche Übergriffe gegenüber gefangenen Polen. Dieses Beispiel, über das er ausführlich rapportierte, zeige einmal mehr, wie die Partei im Gegensatz zur Wehrmacht stünde: „Man hat doch den nicht beweisbaren Eindruck, daß eine gewisse Klasse Menschen (Parteiformationen angehörend) in weitem Maße daran beteiligt sind. . . . Wenn ich nun doch einen der vielen gehörten Fälle anführe, so geschieht es nur, weil er ein Licht wirft auf ein anderes Thema: Wie in vielem Heer und Partei sich kraß gegenüberstehen und wie schwer, manchmal eben unmöglich, es für die Armee ist, sich gegen die Partei durchzusetzen, die eben meist .gehalten' wird" 7 3 . Solche Meinungsverschiedenheiten gebe es im Großen wie im Kleinen. Offiziell abgestritten, höre man sie doch immer wieder. Es sei eine gewisse Spaltung da, die, auch wenn sie einmal vorübergehend überbrückt zu sein scheine, unvermittelt wieder auftauche. U m diesen Sachverhalt zu untermauern, fügte von Werdt das Beispiel von einem belegten Fall der Ermordung von polnischen Gefangenen durch einen SS-Soldaten an, der deswegen auch vom zuständigen General zum Tod verurteilt worden war. Auf Intervention des Reichsführers-SS Himmler sei aber das Urteil rückgängig gemacht und der General versetzt worden. Kontrastiert wird dieses Bild von einem Bericht des Militärattaches über eine Reise in das besetzte Frankreich. Darin beschrieb von Werdt das Verhalten der Wehrmacht gegenüber den Besiegten: „Es wurde Weisung gegeben, daß die deutschen Truppen überall die französische Bevölkerung kameradschaftlich betreuen sollen. Von vielen Offizieren, die da oder dort Ortskommandant waren oder noch sind, hörte ich, daß dieser Weisung strengstens nachgelebt wird" 7 4 . Der Erfolg habe nicht auf sich warten lassen. Die französische Bevölkerung sei nach anfänglichem Zögern richtig zutraulich geworden. Der Militärattache erkannte zu jenem Zeitpunkt nicht, daß von der nationalsozialistischen Rassen-
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Bericht des Chefs des Generalstabes der A r m e e an den Oberbefehlshaber der Armee über den Aktivdienst 1 9 3 9 - 4 5 , Bern 1946, S. 238 f. Zur Struktur des Schweizer Nachrichtendienstes im Zweiten Weltkrieg vgl. v o r allem die beiden bereits erwähnten W e r k e von Fuhrer, Spionage; Braunschweig, Draht. von W e r d t an Nachrichtensektion, 3 0 . 9 . 1 9 3 9 , B A r , E27/9758 Bd. 2. von W e r d t an Nachrichtensektion, 1 0 . 2 . 1 9 4 0 , ebd. von Werdt, Bericht über Reise nach Frankreich, 9.-13. Juli 1940, ebd.
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ideologic her für die Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung ganz andere Maßstäbe galten als für die französische. Mit diesen Textbeispielen scheint bei Schweizer Offizieren die „gute", soldatischen Werten verpflichtete Wehrmacht der „bösen", parteihörigen SS gegenübergestellt zu haben. Zu diesem Bild paßte dann auch die Meldung von Werdts aus dem Oktober 1943, daß SS-Polizei in Litauen 8000 Juden erschossen hätte 75 . Diese Einschätzung muß allerdings weiter differenziert werden. Im Zusammenhang mit den erwähnten Verbrechen seitens der SS an Polen deutete von Werdt 1940 an, daß die Wehrmacht sich hier beugte und bewußt wegsah: „Viele Offiziere täuschen sich selbst, glaube ich, über diesen, natürlich nicht gern besprochenen, Zwiespalt [gemeint ist hier der Gegensatz zwischen Partei und Wehrmacht, d. Verf.] mit den Worten hinweg: ,Wir sind restlos dem Führer ergeben"' 76 . Mitte Dezember 1943 berichtete auch der Attache in Helsinki über Hinrichtungen im Baltikum und in Polen 77 . Major Lüthi wies darauf hin, daß er schon früher derartige Berichte gehört, sie aber bisher für Greuelpropaganda gehalten habe. Informant war nun ein baltisches Mitglied eines Tötungskommandos, das die Hinrichtungsverfahren detailliert beschrieb. Im selben Bericht wurde auch gemeldet, daß ein höherer deutscher Offizier angegeben hatte, in Lodz seien 450000 Juden, in Warschau 380000 Juden ermordet worden. Mehrere Offiziere der Wehrmacht, die sich an diesen Greueltaten nicht hatten beteiligen wollen, seien erschossen worden. Eine Verstrickung der Wehrmacht in die Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes erscheint aus diesem Bericht also als möglich, gleichzeitig wurde aber der Befehlszwang in den Vordergrund geschoben. Damit blieb das Bild der Wehrmacht unbefleckt. Gerade in bezug auf die im letzten Abschnitt zitierten Stellen ließe sich nach dem Spruch „Wer schweigt, stimmt zu!" allerdings eine indirekte Verantwortlichkeit ableiten. So weit ging aber keiner der Schweizer Offiziere in seiner Wertung. Diese Zurückhaltung läßt sich wohl so erklären, daß auch die Schweizer Militärs in ihrem Selbstverständnis eine klare Trennung zwischen Politik und Militär zogen, und somit unausgesprochen ihren Berufskollegen der Wehrmacht die Verantwortlichkeit für politische Aktionen absprachen. Deshalb wurden wohl immer wieder die Druck- und Unterwanderungsversuche seitens der Partei erwähnt. In der Wahrnehmung der Schweizer scheinen die Wehrmachtoffiziere kaum eine andere Wahl gehabt zu haben, als gewissermaßen „gute Miene zum bösen Spiel" zu machen. Ein detaillierter Geheimdienstbericht machte noch im Februar 1944 in erster Linie SS- und SD-Verbände für Kriegsverbrechen verantwortlich und wies nur am Rande darauf hin, daß auch die Wehrmacht an der Bekämpfung von Partisanen beteiligt sei 78 .
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v o n W e r d t an Armeekommando, 6 . 1 0 . 1 9 4 3 , ebd., Bd. 13. v o n W e r d t an Nachrichtensektion, 1 0 . 2 . 1 9 4 0 , ebd., Bd. 3. Bericht des Militärattaches in Helsinki, Major Lüthi, an das Armeekommando vom 16. 12. 1943, zit. n. Haas, Reich, S. 162 f. Bericht 4927d v o m 9 . 2 . 1 9 4 4 , Β A r , E27/9928, abgedr. in: Haas, Reich, S. 163 ff.
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Welches Bild erhielt man aus den Einvernahmen von deutschen Deserteuren? Gemäß Haas wird aus den Protokollen der Schweizer Vernehmungsoffiziere deutlich, daß sich diese vor allem für militärische Fragen interessierten. Im Rahmen des Nachrichtendienstes war dies ihr Auftrag. Informationen über Greueltaten erscheinen in den Berichten als „ exotische Fußnoten, als Anhängsel, die einfach der Vollständigkeit halber aufgenommen wurden " 7 9 . Auch hier wird die implizite Vorstellung ersichtlich, daß die Wehrmacht ein reines Instrument der Kriegführung gewesen sei. Selbst wo Augenzeugen einvernommen wurden, scheinen die Befrager die Greueltaten nicht mit der Wehrmacht in Verbindung gebracht zu haben. In einem Bericht aus dem September 1942 heißt es lako-
nisch: „ der Einvernommene [habe] fast in allen größeren Städten ... Judenerschießungen [gesehen], wie sie bereits in mehreren vorangehenden Berichten
geschildert wurden " 8 0 . Die Nachrichtenoffiziere konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Haas meint dazu: „Das Grauen war alltäglich geworden"*1. Aufschluß über die Vorgänge in Osteuropa erhielt man von anderer Stelle: Zwischen O k t o b e r 1941 und März 1943 entsandte die Schweiz vier Arztedelegationen an die Ostfront. Die Initiative dazu war von einem privaten Komitee ausgegangen, die Missionen erfolgten aber mit Billigung von Bundesrat und Armeeführung. Einer der Initiatoren, der bereits erwähnte Oberstdivisionär Eugen Bircher, tat im Zivilberuf als bekannter Chirurg und Chefarzt Dienst in einem Kantonsspital 8 2 . Die Motive für diese Aktion sind vielschichtig. Von ärztlicher Seite spielten humanitäre Überlegungen hinein, man wollte aber auch die Gelegenheit nutzen, um Erfahrungen in der Kriegsmedizin zu sammeln. Die politischen Überlegungen schwankten zwischen offener Sympathie für das Nazi-Regime, Antibolschewismus und Beschwichtigung Deutschlands durch eine humanitäre Aktion 8 3 .
Für die vorliegende Fragestellung sind diese Ärztemissionen insofern interessant, als sie die unmittelbarsten Informationen über das Geschehen an der O s t front in die Schweiz brachten. Die Missionsteilnehmer wurden Augenzeugen der Behandlung der russischen Kriegsgefangenen und von Kriegsgreueln. Einer der Teilnehmer der ersten Mission, Dr.med. Rudolf Bucher, erfuhr vom Chefarzt des Lazarettes N o r d im Januar 1942 in Smolensk davon, daß Juden in Gaskammern umgebracht wurden 8 4 . Nach seiner Rückkehr in die Schweiz begann Bucher eine Vortragstätigkeit, deren Breitenwirkung allerdings sehr schlecht eingeschätzt werden kann. D a sich die Missionsteilnehmer zum Schweigen hatten verpflichten müssen und Bucher ohne Bewilligung des Komitees referierte,
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Ebd., S. 141. Β Ar, E 2 7 / 9 9 2 8 , B d . 8, Dossier 4, 8 9 2 6 / d . 4 0 0 4 , zit. n. ebd., S. 144. Ebd., S. 144. Eugen Bircher ( 1 8 8 2 - 1 9 5 6 ) war eine überaus vielschichtige Persönlichkeit: A r z t , bekannter Militärpublizist und K o m m a n d a n t der 5. Division, später Nationalrat. E r übernahm persönlich die Leitung der ersten Mission in den R a u m Smolensk. Vgl. Heller, Bircher. Bei Bircher selber kam nach Hellers Einschätzung hinzu, daß er in seinem militärischen K o m m a n d o persönliche Schwierigkeiten mit seinen direkten Vorgesetzten hatte und ihm in deutschen Offiziers- und militärärztlichen Kreisen große Anerkennung entgegengebracht wurde, vgl. ebd., S. 215. Zu den Arztemissionen vgl. auch L o n g c h a m p , Umfeld. Haas, Reich, S. 150.
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das die Missionen organisiert hatte, wurden rechtliche Schritte gegen ihn eingeleitet. Der angedrohte Ausschluß aus der Armee wurde in der Folge nicht vollzogen. Durch Franz Max Mawick 85 , einen Teilnehmer der zweiten Mission, die sich Anfang 1942 in der Region Warschau befand, gelangten auch Photographien in die Schweiz, die Massengräber mit schrecklich entstellten Toten zeigten. Mawick hatte sich trotz Verbotes auch ins Ghetto von Warschau begeben und mit dort lebenden Juden gesprochen. Nach seiner Rückkehr übergab er das Photomaterial dem Armeekommando. Der Nachrichtendienst verfügte spätestens zu diesem Zeitpunkt über photographische Beweise. General Guisan persönlich hatte diese offenbar mehrfach verlangt 86 . Im Nachlaß von Oberst i Gst Bernard Cuenoud 87 findet sich unter anderem auch das Photomaterial, das Mawick erst nach dem Zweiten Weltkrieg publizieren durfte 88 . Bei den übrigen Photographien, die Kriegsgreuel dokumentieren, läßt es sich kaum mehr feststellen, zu welchem Zeitpunkt diese in die Hände des Schweizer Nachrichtendienstes gelangt sind. Der Mechanismus der Auswertung dürfte auch hier derselbe gewesen sein. Da Bildmaterial schlecht als Greuelpropaganda qualifiziert werden konnte, wurden die Kriegsverbrechen als Verfehlungen vereinzelter Angehöriger der Wehrmacht angesehen. Der militärische Nachrichtendienst konzentrierte sich auf die Elemente, die für die Bedrohungslage der Schweiz relevant waren. Eine grundlegende Veränderung des Bildes der Wehrmacht läßt sich aufgrund der bisherigen Untersuchungen nicht feststellen. Für weitergehende Aussagen fehlen die Vorarbeiten, darunter die systematische Auswertung des Nachlasses Cuenoud.
Schlußwort Die erstarkende Wehrmacht des „Dritten Reiches" fand in Schweizer Offizierskreisen große Beachtung. Was die in deutsche Einheiten und Lehrgänge kommandierten Offiziere am meisten interessierte, waren Einblicke in moderne Waffensysteme, besondere Ausbildungsmethoden und neue Einsatzdoktrinen. Die Schweizer beschäftigten sich in erster Linie aus professionellem Interesse mit der Nachbararmee und gingen als Militärs zu deutschen Berufskollegen, um neue Impulse zu erhalten. Trotzdem finden sich in der Mehrheit der Berichte Informationen zu den Fragestellungen, die hier interessieren. Die Offiziere der deutschen Wehrmacht wurden von ihrem Selbstverständnis her als überzeugte und überzeugende Profis beschrieben, die sich mit Haut und 85
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Mawick publizierte seine Photographien nach dem Krieg unter dem Pseudonym Franz Blättler. Gemäß Angaben von Oberst i Gst Cuenoud in einem Brief aus dem Jahr 1979. Der Brief findet sich im Nachlaß Cuenoud an der Militärischen Führungsschule. Bernard Cuenoud ( 1 8 9 9 - 1 9 8 7 ) war Instruktionsoffizier der Infanterie und während des Zweiten Weltkrieges im Nachrichtendienst stellvertretender Sektionschef. Vgl. die Kurzbiographie in Jaun, Generalstabskorps, S.88. Die Photos erschienen in: Blättler, Warschau 1942.
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Haar dem Aufbau und der Entwicklung der neuen Armee verschrieben hatten und alle ihre Energien auf dieses Ziel hin fokussierten. Für politische Spielereien blieben ihnen bei dieser großen Aufgabe keine Zeit. Wenn auch Parteieinflüsse auf die Armee ungern gesehen wurden, so schien ein weitgehender Konsens mit der nationalsozialistischen Führung zu bestehen, welche den Auf- und Ausbau der Wehrmacht überhaupt möglich gemacht hatte. Dem beeindruckenden Ausbildungsstand in den einzelnen Einheiten, der Disziplin der Truppe und den modernen Kampfmitteln brachten die Schweizer unverhohlene Anerkennung und Bewunderung entgegen. Der Wehrmacht wurde auf allen Ebenen eine hohe Professionalität attestiert, was sie zu einem sehr ernstzunehmenden Faktor für die eigene Einsatzdoktrin machte. Dabei ist auch festzuhalten, daß es aufgrund der heute bekannten Quellenlage unhaltbar ist, von einer fehlenden militärischen und politischen Gefährdung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Aus Sicht der Schweizer Offiziere war die Wehrmacht der militärische Arm Deutschlands. Von daher trug sie die Verantwortung für die Führung des Krieges, was sie bis im Sommer 1940 auch mit atemberaubender Effizienz tat. Politische Machenschaften und die Aufgaben von Parteiformationen wie der SS wurden hingegen nicht mit der Armee in Verbindung gebracht: dafür sei sie nicht ausgebildet, dafür sei sie nicht vorgesehen, damit habe sie nichts zu tun. Insofern war die Vorstellung von der Wehrmacht als der leistungsfähigsten Streitkraft Europas, welche nur ihren Auftrag ausführte und sich sonst nichts zuschulden kommen ließ, in unserem Untersuchungszeitraum weitgehend ungetrübt. Die Kreise, die sich ab den dreißiger Jahren bis 1940 aus Schweizer Sicht mit der Wehrmacht intensiv auseinandersetzten, waren in erster Linie Militärs. Von dieser Ausgangslage her überrascht es nicht, daß in den Berichten keine differenzierten Analysen über die Wehrmacht als Faktor im nationalsozialistischen Staat mit all ihren möglichen Wechselwirkungen auf Partei und Volk zu finden sind. Das Interesse der Berichterstatter kreiste um die Mittel und Möglichkeiten, welche die deutsche Armee einsetzen konnte. Das war etwas, was die eidgenössischen Offiziere aus fachlicher Sicht auch beurteilen konnten. Als Profis auf Besuch bei Kollegen waren sie zu einem gewissen Grad auch befangen. Die Faszination für die deutsche Kriegsmaschinerie überstrahlte bei ihnen, obwohl sie zur Schweiz und zur bewaffneten Landesverteidigung standen, politische und weltanschauliche Überlegungen. Die Wehrmacht wurde nicht als willfähriger Vollstrecker der kompromißlosen Machtpolitik eines verbrecherischen Regimes erkannt, geschweige denn verurteilt. Es bleibt festzuhalten, daß die Organisation Wehrmacht in jedem Fall ihre Verantwortung für ihre Verstrickung in den NS-Staat zu tragen hat, selbst wenn sie ohne direkte Beteiligung an Kriegsverbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen wäre. In der aktuellen Diskussion drohen zugespitzte und verengte Fragestellungen die Sicht auf die Grundfragen der Verantwortlichkeit zu verstellen. Die Meldungen über Greueltaten an der Ostfront, die im Verlaufe des Krieges immer verdichteter eintrafen, veränderten das Bild der Wehrmacht in der Schweizer Armeeführung während des Zweiten Weltkrieges kaum. Behörden
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und Bevölkerung waren während des Krieges lange geneigt, derartige Nachrichten als Greuelpropaganda abzutun oder zu bagatellisieren. Die deutsche Wehrmacht wurde von den schweizerischen Stellen wohl immer als übermächtiges Gewaltmittel des nationalsozialistischen Staates empfunden, nie aber als autonome oder gar verbrecherische Macht. Diese Sichtweise blieb bis zum Kriegsende weitgehend unverändert. Das können wir aufgrund eines Quellenüberblickes und auf Basis der Rezeption anderer Themenkreise, wie zum Beispiel die Schweizer Flüchtlingspolitik und die Wahrnehmung des Holocaust erschließen. Für den Zeitraum 1941-1945 wäre allerdings noch ein vertieftes Quellenstudium zu leisten. Erst in den Nachkriegsjahrzehnten erfuhren diese Ansichten schrittweise eine Neubeurteilung. Die Diskussion zu diesen und anderen problematischen Aspekten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ist im Zusammenhang mit den „nachrichtenlosen Vermögen" und der wirtschaftlichen Verflechtung der Schweiz mit dem „Dritten Reich" wieder neu entbrannt. Die Frage nach der Beurteilung der Wehrmacht aus Schweizer Sicht wird dabei vermutlich weiterhin nur eine marginale Rolle spielen.
Göran Andolf Die Einschätzung der Wehrmacht aus schwedischer Sicht
Was wußten die Schweden über die deutsche Wehrmacht, und wie beurteilten sie sie während des Zweiten Weltkriegs? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, was man mit „Schweden" meint. Die Auffassung der Schweden im allgemeinen läßt sich natürlich nur schwer feststellen. N u r aus dem Sommer 1941 ist Material überliefert, das die Einstellung gewisser Kreise der schwedischen Bevölkerung zur Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt erhellt. Was das Offizierskorps betrifft, liegen Rapporte über Kontakte mit deutschen Offizieren in Schweden und von Reisen nach Deutschland vor. Die Einstellung der in erster Linie für die schwedische Außenpolitik Zuständigen geht aus den übersichtlichen Denkschriften hervor, die zwischen 1941 und 1943 verfaßt wurden. Viele führende Persönlichkeiten, u.a. der schwedische Oberbefehlshaber von 1939 bis 1944 und mehrere Minister, führten Tagebücher. Außerdem liegen die nachträglichen Beurteilungen in den Memoiren von höheren Offizieren, Beamten des Außenministeriums und von Politikern vor. D o c h die Verhältnisse in Deutschland oder die deutsche Wehrmacht werden dort selten erwähnt. Es ist also schwierig festzustellen, was diese verschiedenen Gruppen und Persönlichkeiten über die Ereignisse jener Zeit dachten. Dagegen ist es erheblich einfacher zu belegen, welche Informationen sie erhielten. Die schwedische Allgemeinheit wurde natürlich hauptsächlich durch die Presse über Deutschland und die Wehrmacht informiert. Das Offizierkorps erhielt außerdem Informationen durch die militärischen Fachzeitschriften und durch einige direkte Kontakte mit Deutschland und Deutschen. Das Außenministerium, die Spitze der Streitkräfte und die Regierung bezogen ihre Informationen aus einer Reihe von Quellen: Journalisten, Geschäftsleute, Seeleute, Pfarrer, Offiziere und andere Schweden, die Deutsche trafen oder Deutschland bereisten. Wichtige Angaben erhielt man auch durch die Entschlüsselung deutscher Telegramme sowie natürlich durch die Berichte der eigenen Militärattaches und Diplomaten. Hinzugefügt sei, daß der schwedische Reichstag während des Krieges eine untergeordnete Rolle spielte. In den geheimen außenpolitischen Ubersichten, die ihm der Außenminister jedes Jahr vorlegte, finden sich keinerlei bemerkenswerte Angaben über die Wehrmacht oder ihre Aktionen an der Ostfront oder an anderer Stelle 1 . Im Juli 1941 wurde eine deutsche Division von Oslo durch Schweden nach Finnland transportiert, um gegen die Sowjetunion eingesetzt zu werden. Die Züge wurden von schwedischen Kontrolloffizieren begleitet, die u. a. berichteten, wie die schwedische Bevölkerung entlang der Strecke auf die Durchreise der deutschen Truppen reagierte. Leif Björkman, der diese Berichte ausgewertet hat, faßt seine Ergebnisse so zusammen: Die Aufzeichnungen hätten alle eins
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R A Utrikesnämnden Redogörelser tili Utrikesnämnden Ö I : 2 ( 1 9 3 1 - 1 9 4 3 ) ; Ö I : 3 ( 1 9 4 4 1951).
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Göran Andolf
gemeinsam. Die Haltung der Zivilbevölkerung war positiv. Vereinzelte negative Äußerungen gingen in der Willkommensstimmung und mitunter im Jubel unter 2 . Über einen der ersten Züge heißt es: „Die schwedische Bevölkerung war während des ganzen Transports freundlich und zuvorkommend. Uberall winkte sie und wünschte den deutschen Truppen ,gute Reise'. Auf einem der Bahnhöfe wurde den Soldaten sogar Obst und Schokolade angeboten". In nahezu allen Berichten heißt es etwa gleichlautend, die Bevölkerung sei freundlich eingestellt gewesen und hätte dem Zug zugewinkt. In einem Fall wurde das als „deutscher Gruß" gedeutet, aber in einem anderen Bericht heißt es ausdrücklich, das sei nicht der Fall gewesen. Mitunter rief man „Hurra" oder rief den Soldaten zu, warf ihnen Blumen in die Waggons oder überreichte sie. Die Deutschen zeigten sich erfreut und überrascht. Nach den Kommentaren in der schwedischen Presse hatten sie etwas anderes erwartet, und in Norwegen waren sie einer anderen Einstellung begegnet. Vereinzelt grüßten Privatpersonen mit geballter Faust („Rotfront"), was auch Soldaten taten, und in einem Fall wurden Steine geworfen. Selbstverständlich war es nur ein sehr kleiner Teil der schwedischen Bevölkerung, der die Deutschen entlang der Bahnstrecke begrüßte. Die Mehrheit war vielleicht gleichgültig oder feindlich eingestellt. Es ist jedoch auffällig, daß unter denen, die sich an der Eisenbahnstrecke einfanden, die freundlich Eingestellten bei weitem in der Mehrzahl waren. Das überraschte offenbar auch die Kontrolloffiziere. Die schwedischen Offiziere gaben mitunter ihrem Respekt und ihrer Bewunderung Ausdruck: „Die Disziplin war gut, ohne in .Preußentum' auszuarten. Der Umgangston zwischen Vorgesetzten und Soldaten war angemessen und normal . . . Was Gehorsam, persönliche und allgemeine Disziplin sowie den Respekt für die Uniform und die Vorgesetzten betrifft, ist die deutsche Truppe bei weitem überlegen, auch wenn man berücksichtigt, daß sie geschlossen a u f t r a t . . . Die deutsche Truppe machte einen sehr guten Eindruck. Es war nicht zu übersehen, daß ihr Geist gut war und mit welcher Kampffreude sie neuen Aufgaben entgegensah. Alle Befehle wurden willig und ohne geringste Verzögerung ausgeführt. Kleidung und Pflege waren ausgezeichnet". Viele meinten, das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Soldaten zeichnete sich - offenbar im Gegensatz zu den Verhältnissen in Schweden - durch Kameradschaft und Gemütlichkeit aus. Doch es gab auch andere Feststellungen: „Heimweh und die Unruhe für die Familie waren eindeutig . . . Eine gewisse Kriegsmüdigkeit und Heimweh waren während der Gespräche herauszuhören". Vereinzelt wurde Kritik laut: „Insgesamt gewann man auf dem ersten Abschnitt der Reise den Eindruck, es handelte sich um einen Transport von Sträflingen. Der Gesamteindruck des Verbandes war irgendwie enttäuschend. Ich hatte etwas Besseres e r w a r t e t . . . Disziplin und Ordnung der deutschen Truppen lassen zu wünschen übrig ... Vor allem die Mannschaften hatten äußerst große Angst vor einem weiteren
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Björkman, Sverige inför, S. 448.
Die Einschätzung der Wehrmacht aus schwedischer Sicht
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Schiffstransport. Die großen Verluste, die gerade diese Division im Norwegenfeldzug erlitten hatte, waren noch in frischer Erinnerung und allgemein herrschte große Erleichterung darüber, daß die Reise nach Finnland ausschließlich über Land führte ... Die Mannschaft machte nicht den gleichen guten Eindruck wie die auf dem vorhergehenden Transport. Auf Kleidung und militärisches Auftreten wurde sehr wenig geachtet" 3 . Etliche Schweden bereisten während des Krieges Deutschland. Im August 1940 fuhr eine Gruppe schwedischer Offiziere auf eine deutsche Einladung hin nach Brüssel und an die Kanalküste. Die Gruppe wurde von Generalmajor Archibald Douglas geleitet, der Verwandte in Deutschland hatte. Ihr gehörte auch Oberst Carl August Ehrensvärd an, der mit einer Deutschen verheiratet, aber eindeutiger Gegner des Nationalsozialismus war. In seinem Bericht über die Reise schrieb Douglas, daß man möglicherweise „die Behauptung wagen könne, daß die deutschen Truppen bei aller technischen Vollkommenheit an sich noch kein unschlagbares Kriegsinstrument ausmachten, angesichts dessen jeder Widerstand von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Der Geist, in dem der deutsche Soldat zum unbedingten Glauben an die Führung durch den Führer und zu Selbstvertrauen und Handlungskraft erzogen worden ist, muß als wichtigstes Kriterium bei der Bewertung der Wehrmacht gelten. Deutscherseits wurde immer wieder betont, der Führer hätte höchstpersönlich die Operationen geleitet und der Sieg sei in erster Linie seiner genialer Führung der Operationen zuzuschreiben. Darüber dürfte erst die Geschichtsschreibung Klarheit schaffen" 4 . In seinen 1950 erschienenen Memoiren zeichnet Douglas ein etwas anderes Bild. Er schreibt, die deutschen Offiziere seien gegen den Nationalsozialismus, ja mitunter sogar pazifistisch eingestellt gewesen. Davon findet sich nichts in seinem offiziellen Rapport, was nicht ausschließt, daß Douglas darüber mündlich berichtet hat. Feldmarschall von Rundstedt hätte die Franzosen bedauert und seine Stellung als Oberkommandierender der deutschen Besatzungsarmee als unangenehm empfunden. Er wollte nach Hause zu seiner Gattin und seine Tage in einem friedlichen Deutschland beschließen. Der deutsche Begleitoffizier auf der Reise, Major von Albedyll, „ein ausgesprochener Gegner des nationalsozialistischen Systems", hätte auf einen baldigen Frieden gehofft und darauf, „ daß die Nation der Armee so viel guten Willen entgegenbringen werde, daß sie ein Gegengewicht zum Nationalsozialismus werden könnte". Und der Militärbefehlshaber in Brüssel, von Falkenhausen, „ging so weit, daß er direkt erklärte, unter dem nationalsozialistischen Regime sei das Leben in Deutschland unerträglich". Die älteren Offiziere hätten gemeint, der Krieg sei ein Unglück und unnötig. Sie lehnten den Nationalsozialismus ab, sähen ihre zufälligen Gegner kaum als Feinde und wollten den Krieg nicht fortsetzen. Unter den jüngsten Offizieren dagegen sei man auf sehr viel Überheblichkeit gestoßen, und sie hätten sich ganz anders geäußert 5 . In seinen 1965 herausgegebenen Er-
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Transportberichte Juni/Juli 1941, K r Α Försvarsstaben (Fst) (h) Kommunikationsavdelningen ( K o m m avd) Transiteringstransporter F X : 1 0 (1941). K r A Fst (h) Underrättelseavdelningen (Und avd) EIII:18 vol. 4 (1940), S. 65. Douglas, Officer, S. 347, 349.
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innerungen berichtet Ehrensvärd, Oberstleutnant Henning von Tresckow, der im Stab von Rundstedt Dienst tat, hätte erklärt, er sei aus rein moralischen Gründen Gegner des Nationalsozialismus. Seine Kameraden hätten nicht mit ihren Erfolgen geprahlt, sondern auf einen baldigen Frieden gehofft. „Wir können nicht jahrelang einen großen Teil Europas besetzt halten" 6 . Auch der schwedische Militärattache in Berlin, Oberst Curt Juhlin-Dannfelt, nahm an der Reise teil. Nach dem Krieg schrieb er, während der Reise hätte er oft „von den Erfolgen protzende Rohlinge" getroffen. Aber der Feldmarschall und seine nächsten Untergebenen „waren nüchterne und sachliche Männer, völlig frei von dem primitiven nationalsozialistischen Draufgängertum, das uns so oft während der Reise begegnete... Die Skepsis gegenüber den Chancen des Nationalsozialismus in der Welt kam nicht selten zum Ausdruck". Der Militärbefehlshaber in Brüssel, General von Falkenhausen, „erwies sich als ein wirklich vornehmer Mann und keineswegs von nationalsozialistischer Gesinnung". Auch Henning von Tresckow sei eindeutig gegen Hitler gewesen 7 . Die Militärattaches waren bereits früher zu derartigen Reisen eingeladen worden. Nach einer solchen Reise der Militärattaches durch Belgien Anfang Juni stellte Juhlin-Dannfelt fest, die Absicht sei gewesen, „einen unmittelbaren Eindruck von Deutschlands militärischer Stärke und weitaus überlegenen Ressourcen zu vermitteln", und alles war sorgfältig vorgetäuscht. Er wurde von einem deutschen Presseoffizier gefahren und erhielt einen guten Einblick in das System von Überwachung, Zensur, Denunziation und politischer Kontrolle, das unter Hitlers Herrschaft etabliert worden war. Er Schloß mit der Feststellung, Deutschland hätte eine dynamische Kraftentfaltung gezeigt. Das sei „nicht nur auf den nationalsozialistischen Staat zurückzuführen, sondern auch auf die gute deutsche soldatische Tradition und auf die, die sie bewahrten und sich vorbehaltlos dem Regime zur Verfügung stellten". Im Juli nahm Juhlin-Dannfelt an einer Reise entlang der Maginotlinie teil, die er später als eine „Protz- und Schreckensreise" bezeichnete. Von ihr berichtete er: Das Auftreten der deutschen Truppen erscheine überall lobenswert. „Die Disziplin war ausgezeichnet. Sogar in allen kleinen Dörfern und Ortschaften auf dem Lande, die wir passierten, waren Kleidung, Auftreten und Grüßen der Soldaten tadellos. Vorbildliche Wachablösungen fanden statt. Es herrschte Ordnung. Die Äußerungen der Offiziere zeugten von Verständnis für die Lage der französischen Bevölkerung und ihre Leiden". In einem späteren Bericht schrieb er, das Verhältnis zwischen der deutschen Truppe und der französischen Zivilbevölkerung scheine höflich und korrekt zu sein. Auf Plakaten wurde bekanntgegeben: „Wer plündert, wird erschossen" 8 . Gleichzeitig nahmen der Marineattache Anders Forshell und der Luftwaffenattache Harald Enell an einer ähnlichen Reise an die Kanalküste teil. Der Marineattache war der Ansicht,
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Ehrensvärd, I rikets tjänst, S. 175, 176. K r A Curt Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hägkomster, S. 2 2 0 - 2 2 1 . K r A Fst (h) U n d avd EI:18 vol. 11 (1940) 18.6.; K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hägkomster, S. 2 1 1 ; K r A Fst (h) Und a v d E I : 1 8 vol. 11 (1940) 13.7.; vol. 12 (1940) 26.7.
Die Einschätzung der Wehrmacht aus schwedischer Sicht
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„die deutschen Truppen treten durchweg beispielhaft auf. Das zeigt sich an der guten Haltung sowohl des Einzelnen als auch der Verbände. Gepflegte Erscheinung sowie vor allem eine Freimütigkeit und eine Selbstsicherheit, die aber niemals in Schinderei übergeht ... Kein Fall von Trunkenheit fiel auf. Zwischen den verschiedenen Dienstgraden herrscht ein vertrauensvolles, von natürlicher Höflichkeit geprägtes Verhältnis . . . Das Verhalten der Truppe gegenüber der französischen Zivilbevölkerung zeichnete sich durch offensichtliches Vertrauen und Korrektheit aus". Franzosen und Belgier betonten „das gute deutsche Auftreten hätte nahezu einen Schock hervorgerufen. Erst hatte man das Hausen der eigenen schwarzen Truppen und rücksichts- und haltlose Auftreten der Engländer erlebt und sei gleichzeitig vor der Unmenschlichkeit der deutschen Truppen gewarnt worden". Der Luftwaffenattache stellte fest, „zwischen Vorgesetzten und Soldaten scheint ein nahezu herzliches Verhältnis zu bestehen. Dennoch und trotz der in einem besetzten Land notwendigerweise oft instabilen Zustände war die Disziplin vorbildlich; gegrüßt wurde in gutem deutschem Stil, kein Fall von Trunkenheit oder Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung wurde gesehen" 9 . Nach dem Feldzug in Norwegen wurden für einige Zeit deutsche Soldaten in Schweden interniert. Der Kommandant des Lagers in Kronobergshed mit 71 Deutschen berichtete im August 1940: Alle seien Anhänger des Nationalsozialismus, und ihr Vertrauen in Hitlers Größe und Können sei grenzenlos. Ihre Einstellung zu allen Fragen sei völlig deutsch; nur unter deutscher Führung könne Europa von Juden, Kapitalisten, Freimaurern u. a. befreit werden. „Sie waren sehr erstaunt, als ich betonte, wir hätten im großen und ganzen keinen Arger mit diesen Verderbern gehabt". Die christliche Lehre sei völlig unvereinbar mit der deutschen Weltanschauung. „Der Einsatz des Lebens für das Wohl des eigenen Landes galt als völlig natürlich, und diese Einstellung schien völlig ehrlich zu sein". Die Flieger bildeten eine Elite, während die Infanteristen der in Norwegen eingesetzten Armee zweitrangig seien. Die Internierten seien alle im September 1939 eingezogen worden. „Ich gewann den Eindruck, daß die Untergebenen mit großem Freimut auf ihrer Meinung bestanden und daß die Vorgesetzten darauf mit Achtung Rücksicht nahmen. Das läßt sich durchaus mit dem deutschen Herumschreien vereinbaren, das uns so unerträglich ist". Fünf der Internierten waren Deserteure. Die Einstellung ihrer Kameraden ihnen gegenüber war unterschiedlich. Einige gaben sich völlig ihren Rachegelüsten hin, während andere meinten, „man könne von teilweise geschädigten Individuen nicht ebenso viel verlangen, wie von denen, die unter glücklicheren Umständen aufgewachsen seien". Der Lagerkommandant urteilte über sie: „Sie sind nicht viel wert. Aber es schmerzt zu wissen, daß ihnen die Erschießung oder die Einweisung in ein Konzentrationslager bevorsteht. In Schweden wären sie nie einberufen, sondern als untauglich eingestuft worden" 10 .
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K r A Fst (h) U n d avd EI:18 vol. 11 (1940) 14.7., 15.7. Siehe auch Richardson, Beundran ochfruktan, S. 1 8 - 2 1 , 2 1 - 2 8 . Richardson gibt nicht an, daß Juhlin-Dannfelt bzw. Forshell und Enell an verschiedenen Reisen teilnahmen. K r A Beredskapsverket A v d 1 A 29 Interneringslägren Interneringslägret Kronobergshed
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Über welche Informationen das schwedische Außenministerium verfügte und wie diese von den unterrichteten Kreisen dort beurteilt wurden, geht aus gewissen, während der Kriegsjahre entstandenen Denkschriften hervor. Sie wurden von dem stellvertretenden Chef der politischen Abteilung des Außenministerium, Ragnar Kumlin, verfaßt und gewissen Botschaftern zugestellt. Bereits am 4. August 1941 betonte Kumlin in einer anläßlich des abschlägig beschiedenen deutschen Ersuchens verfaßten Denkschrift, eine weitere Division durch Schweden an die Ostfront zu verlegen, daß diese Entscheidung nicht im Hinblick „auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten, in denen sich die deutsche militärische Lage befindet," getroffen wurde. Aber „in dem Maße, wie die militärischen Schwierigkeiten Deutschlands wachsen und die Wehrmacht in die Defensive gedrängt wird - worauf es vorläufig allerdings nur sehr vereinzelte Hinweise gibt", werde es für Deutschland immer wichtiger, daß die Westmächte keinen Zutritt zu neutralem Territorium erhielten. In einer Denkschrift vom 12. März 1942 schrieb Kumlin, „es kann keineswegs ausgeschlossen werden", daß es Deutschland in diesem Jahr nicht gelingt, die sowjetische Kriegsmacht auszuschalten. Die militärische Kraft der Russen sei auf deutscher und neutraler Seite unterschätzt worden, und es gäbe keine zuverlässige Einschätzung ihrer Stärke. Kumlin Schloß sich nicht der allgemeinen Auffassung an, die länger andauernden Kämpfe würden in einem Patt mit anschließendem Frieden enden. Es sei vielmehr wahrscheinlich, daß Deutschlands militärische Kraft immer mehr erlahmen und dann die Sowjetunion stärkste Militärmacht auf dem Kontinent würde. Von russischer Seite sei keinerlei Zurückhaltung bei der dann folgenden Besetzung deutschen Gebiets zu erwarten, und den Angelsachsen würde es vermutlich sowohl an Möglichkeiten als auch am Willen fehlen, die Russen zu bremsen. Auch würde es schwerlich zu einer Lösung wie nach 1918 kommen, d.h. mit einem durchaus annehmbaren Frieden, wie der von Versailles es trotz allem gewesen war, da er Deutschland zwar territorial verkleinerte, es aber lebenskräftig beließ. In einer Denkschrift vom 15. O k t o b e r 1943 wurde die Lage Skandinaviens nach „dem eindeutigen Ausgang des Krieges" erörtert; nämlich, daß Deutschland „als Machtfaktor ausgeschaltet würde" 1 1 . D e r Chefredakteur von Svenska Dagbladet, Ivar Anderson, reiste im O k t o b e r 1941 nach Berlin. Nach seiner Rückkehr erklärte er dem Außenminister Günther, insgesamt habe er den Eindruck, Deutschland könne den Krieg nicht gewinnen. „Nach kurzem Zögern antwortete Günther: ,Das ist auch meine Auffassung'". Gut ein Jahr später, im Februar 1943, erklärte Günther auf einer Regierungssitzung, der Krieg habe eine für Deutschland ungünstige Wende genommen 1 2 . Die Einstellung der militärischen Führung geht aus der Verteidigungsplanung hervor. D o r t war seit 1937 wieder ein Krieg mit Deutschland ins Blickfeld gerückt. Bereits zuvor gab es drei Planungen für den Fall russischer Angriffe.
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1940. H . Hedenstierna, Rapport; R A Utrikesdepartementet 1920 ärs dossiersystem HP 1114 H . Hedenstierna an S. Söderblom, 3. 7. 1940. Kumlin, Smästatsdiplomati, S. 4 3 6 - 4 5 2 . Anderson, F r i n det nära förflutna, S. 68; Karlsson, Sä stoppades tysktagen, S. 323 A n m . 31.
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Nach dem deutschen Einmarsch in Osterreich wurden an der schonischen Küste Befestigungen angelegt, und ab 1939 galt die Planung einem deutschen Angriff als Kriegsfall I. Die Möglichkeit, die im April zur wahrscheinlichsten wurde, nämlich eines Angriffs aus dem Westen, war völlig unbeachtet geblieben. Seit 1927 hatte man einen Krieg mit Norwegen endgültig ausgeschlossen. Das Grenzgebiet zwischen Norwegen und Schweden war seit 1905 neutralisiert 13 . Der schwedische Oberbefehlshaber von 1939 bis 1944, O l o f Thörnell, ist mitunter als deutschfreundlich hingestellt worden. Nach Juhlin-Dannfelt soll er noch Weihnachten 1943 mit einem deutschen Sieg gerechnet haben, und von seinem Besuch in Stockholm ein Jahr später berichtet er, „der weinte geradezu über die deutschen Rückschläge, und ich konnte ihn nicht mit der Hoffnung auf einen annehmbaren Ausgang des Krieges trösten". Zweifellos sympathisierte Thörnell mit dem deutschen Offizierkorps und empfand Respekt für die deutsche Wehrmacht, er, wenn irgendwer, wußte ja um die Mängel der schwedischen Verteidigung seit der Abrüstung in den zwanziger Jahren. Aber er sympathisierte nicht mit den Nationalsozialisten, und seine Loyalität Schweden und der schwedischen Regierung gegenüber ist niemals bezweifelt worden. Als es gelang, die über Schweden laufenden deutschen Telegramme zu entschlüsseln, soll er erklärt haben, dies sei der glücklichste Tag seines Lebens 1 4 . Am 21. Mai 1940 traf Thörnell den deutschen Befehlshaber in Norwegen Nicolaus von Falkenhorst an der schwedisch-norwegischen Grenze. Sechs Jahre später schrieb Frau von Falkenhorst an Thörnell, von dem ihr Mann wiederholt „mit der allergrößten Hochachtung" gesprochen habe. Ihr Gatte sei jetzt von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden, weil er englische und norwegische Soldaten hätte erschießen lassen. Sie bat um Hilfe. Thörnell schrieb an die zuständigen Stellen „as a soldier to a soldier", und von Falkenhorst erhielt schließlich 20 Jahre Gefängnis 1 5 . Thörnells engster Mitarbeiter war Axel Rappe. E r war Antibolschewik, Finnlandaktivist und Teilnehmer am finnischen Bürgerkrieg 1918, kaum demokratisch gesinnt, aber nicht deutschfreundlich. Es gibt eine Anekdote, die treffend schildert, welchen Respekt und welches Interesse Rappe wecken konnte. Kurz vor dem 9. April 1940 hatte der deutsche Gesandte, Prinz zu Wied, in seine Wohnung eingeladen, um bei Cocktails einen unzensierten Kriegsfilm über den Polenfeldzug vorzuführen, natürlich in der Absicht, den anwesenden Schweden zu imponieren und ihnen einen Schrecken einzujagen. „Wer ist Rappe?" fragte der Gesandte und erhielt die Antwort, „der mit dem Stiernacken". Von nun an behielt der Gesandte, obwohl er dabei unbequem saß, Rappe während der Vorführung im Auge, um dessen Reaktionen zu beobachten. Aber Rappe, der ja Kriegsteilnehmer war, verzog keine Miene. Daher war der Abend für den Gesandten in dieser Hinsicht nicht sehr ergiebig. Rappes einziger Kommentar
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Cronenberg, Kapplöpning med tiden, S. 107, 112; dcrs., Krigsfall Tyskland, S. 218, 225, 228. K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hagkomster, S. 274, 334; B e c k m a n , Svenska kryptobedrifter, S. 107. K r A O l o f Thörnells arkiv vol. 4, Margareta von Falkenhorsts an Thörnell, 7. 8., 3. 12. 1946, 26. 5. 1947, Thörnell, undatiertes Konzept; Andolf, O l a f Thörnell, S. 132, 150.
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war: „Die hatten ein verdammt schlechtes Vorführgerät". Das Gerät war nämlich mehrmals ausgefallen16. Die Mehrzahl der schwedischen Offiziere bezog ihr Wissen über die Wehrmacht aus den militärischen Fachzeitschriften. Darin wird über die Kriegsereignisse berichtet und mitunter über Ausbildung, Organisation, Ausrüstung und Taktik der Wehrmacht - aber auch über die anderer Streitkräfte. Über die Organisation der Waffen-SS findet sich dort nichts, auch nichts über die Rivalität zwischen Wehrmacht und Waffen-SS. Ubergriffe gegen die Zivilbevölkerung in Polen oder an der Ostfront werden nicht erwähnt. Die Darstellungen sind meistens sehr deskriptiv, ohne Wertungen. Manchmal wird versucht, die deutschen Erfolge zu erklären, vereinzelt in positiver Bewertung. Nach 1941 kommt das natürlich ausgesprochen selten vor. Aber es findet sich auch wenig über die deutschen Rückschläge. Vor dem erfolgreichen Westfeldzug 1940 stößt man auf eine gewisse Skepsis wegen der schnellen Aufstellung der Truppen: „Die deutsche Armee ist wieder zu einem furchtbaren Kriegsinstrument geworden. Doch dürfte es in den vorgesehenen Kadern erhebliche Lücken geben, die nur notdürftig mit älterem Personal gefüllt sind, und nur wenige Jahrgänge haben in der neuen Organisation eine vollständige Ausbildung erhalten. Auch was die Ausrüstung betrifft, scheint es noch erhebliche Mängel zu geben". Man war der Ansicht, daß eine Truppe, „die innerhalb von sechs Jahren aufgestellt wurde . . . kaum gleichmäßig und vollwertig ausgebildet sein" könne 17 . Gerne und zustimmend wurden die moralischen Faktoren betont: Die deutschen Schulen sollten „zu einer inneren Haltung erziehen, die sich auf politische und weltanschauliche Uberzeugung, Charakter, Pflichtbewußtsein und Respekt vor Autoritäten gründen". Die tragenden Säulen des Reiches seien Partei und Wehrmacht. Der Sport „ist untrennbarer Teil der militärischen Ausbildung". Einige wichtige Faktoren seien „der unübertroffene Angriffsgeist, die überlegene Moral, der unwiderstehliche Wille, für das deutsche Volk Siege zu erringen". Und nicht zuletzt hätten psychologische Faktoren zur Überlegenheit der deutschen Wehrmacht beigetragen. Die gründliche Ausbildung und die vorzügliche Ausrüstung gäben jedem Soldaten ein Gefühl von Sicherheit, das sich beim Angriff in einem nicht zu brechenden Draufgängertum zeige und bei der Verteidigung in einem zähen Durchhalten. Besondere Bedeutung sei der guten Kameradschaft vor allem zwischen Offizieren und Mannschaften beizumessen. Die revolutionäre Begeisterung der Verbände und das Vertrauen der deutschen Soldaten in ihre Offiziere seien moralische Faktoren, die außerhalb Deutschlands wahrscheinlich zu wenig Beachtung fänden. In Deutschland sei die Wehrpflicht obligatorisch. Seinem Land mit der Waffe zu dienen, bedeute daher, daß man einer Gemeinschaft angehörte, die keine Klassenunterschiede
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Kellgren, Sex krigsär, S. 108-109; Andolf, Axel Rappe d. y. Helmer Bratt, Ärsberättelse i krigskonst, in: K K r V A H T (1939) S. 29; Rickard Nilsson, De tyska stormtrupperna - en historik, in: K K r V A H T (1940), S. 173.
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kenne. Die hohe Moral, mit der die deutsche Truppe den Kampf aufnähme, beruhe auf dem Vertrauen in ihre Vorgesetzten 18 . Als andere positive Faktoren wertete man das Zusammenwirken der Teilstreitkräfte und die Initiative des einzelnen. „Zweifellos hat die von den Deutschen angewandte Zusammenarbeit von dem Motor in der Luft und dem Motor im Gelände Durchbruchsoperationen von bisher ungeahntem Ausmaß ermöglicht... Die Initiative des Einzelnen, auch der Unterführer und der Mannschaften, hat sich während der deutschen Feldzüge stärker als jemals zuvor entfalten können" 19 . 1941 faßte man die deutschen Erfahrungen zusammen: „Die Bedeutung einer einheitlichen Führung sämtlicher Teilstreitkräfte und eines organisierten Zusammenwirkens zwischen ihnen; die Bedeutung einer ausreichenden Ausbildung und Erziehung zum selbständigen Handeln; die Notwendigkeit, daß die Luftwaffe sich schnell Luftüberlegenheit verschafft und dann planmäßig mit den Bodentruppen bei Aufklärung und im Kampf zusammenarbeitet; die entscheidende Bedeutung der gewaltigen Entwicklung der Panzerwaffe in organisatorischer und technischer Hinsicht und ihre Möglichkeiten, selbständige Operationen durchzuführen; die Bedeutung der Marschleistung der Infanterie". Aber die tiefsten Gründe für die deutschen Erfolge könnten noch nicht mit Sicherheit angegeben werden. Etwa dieselben Faktoren wurden 1942 aufgezählt und dabei hinzugefügt: „Das Vermögen der Führer, die Lage in jeder Phase des Angriffs richtig einzuschätzen und daraus Vorteil für überraschende Maßnahmen gegen den Feind zu ziehen, ist nahezu zur Kunst entwickelt worden. Die persönliche Initiative ist immer belohnt worden". In einem anderen Artikel aus demselben Jahr fand sich aber eine etwas andere Ansicht: Die deutschen Truppen wurden nach denselben Methoden ausgebildet wie in der Weimarer Republik, und es ist sehr auf Disziplin gehalten worden. Daß der militärische Geist der Armee von politischem Einfluß freigehalten werden konnte, ist einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es zu den im Krieg 1939-1940 gezeigten Leistungen kommen konnte 20 . Im Juli 1943 wurden die Rückschläge erklärt: „Von großer Bedeutung scheint gewesen zu sein, daß die russischen Truppen verhältnismäßig gut für den Einsatz im Winter ausgebildet und ausgerüstet waren. Dies um so mehr, als auf deutscher Seite in dieser Hinsicht große Mängel vorlagen" 21 .
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Militär förutbildning i Tyskland under krigstid, in: K K r V A H T (1939), S. 287, 289; Tyska och finska synpunkter rörande sporten och det moderna kriget, in: K K r V A H T (1940), S. 219; Geijer, Tysk landkrigföring, Bihäfte 3, in: K K r V A H T (1940), S. 3 0 - 3 1 ; Taktiska erfarenheterfrän striderna i Frankrike 1940, K K r V A H T (1941), S. 1 2 - 1 3 ; Rosenblad, Disciplin och moral, in: K K r V A H T (1942), S. 284. Geijer, Tysk landkrigföring, S. 30, 31. Olof Ribbing, Ärsberättelse i krigskonst, in: K K r V A H T (1941), S. 5 2 - 5 3 ; Jan C. Horn, Tyska infanteriets anfallstaktik - nigra synpunkter, in: N M T (1942), S. 423; Gustaf Nils Rosenblad, Ärsberättelse i krigskonst, in: K K r V A H T (1942), S. 45. Pontus Reuterswärd, Fälttäget i Ryssland, in: N M T (1943), S. 377.
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Die schwedische Presse war während des Krieges niemals einer Vorzensur unterworfen. Zwar hatte man ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, aber es wurde niemals angewandt und war somit nur eine stille Drohung. Wahrscheinlich war die schwedische Presse die freieste in Europa. Einzelne Nummern der Zeitungen und Bücher, von denen angenommen werden konnte, daß sie zu Mißverständnissen mit anderen Mächten führten, konnten beschlagnahmt werden, wovon einige radikale Zeitungen mit kleiner Auflage betroffen wurden. Außerdem wurden einige, vor allem kommunistische Zeitungen mit dem sogenannten Transportverbot belegt, was bedeutete, daß sie nicht mit allgemeinen Transportmitteln befördert werden durften. Aber die meisten Zeitungen wurden von diesen Maßnahmen nicht betroffen. Sie wurden vielmehr im Dezember 1939 in allgemein gehaltenen Anweisungen zur „Zurückhaltung", „Beherrschung" und „Sachlichkeit" aufgefordert. Im Oktober 1940 hieß es, unbestätigte Nachrichten, „die dazu geeignet sind, das Ansehen im Kampf stehender Truppen herabzusetzen" müßten vermieden werden. Ein Jahr später erklärte der Justizminister Karl Gustaf Westman im Reichstag, es könne zu einem Eingreifen kommen, u. a. wenn Nachrichten über „Greueltaten, deren Glaubhaftigkeit man unter kritischen Gesichtspunkten als zweifelhaft beurteilt" oder „Vorhersagen über fürchterliche Verbrechen" erscheinen würden. 1942 und 1943 wurden die redaktionellen Anweisungen wiederholt, wonach „detaillierte Angaben über Greueltaten im Zusammenhang mit dem Krieg vermieden werden sollten" 22 . Zu einzelnen Ereignissen wurden mehr als 300 sogenannte graue Zettel mit Bitten an die Redaktionen verschickt. Die Hälfte betraf Vorfälle in Schweden. 1940 ging es um deutsche Ubergriffe gegen norwegische Zivilisten. Sonst aber wurden deutsche Greueltaten, deren Erwähnung häufig zur Beschlagnahmung führte, auf den Zetteln nicht erwähnt. Der Mord an den Juden wurde nicht genannt. Dagegen warb man um Verständnis, daß die schwedischen Verhandlungen über Hilfsleistungen für die dänischen, norwegischen und ungarischen Juden nicht thematisiert werden sollten, da das zum Scheitern der Verhandlungen führen könne. Irgendwelche Maßnahmen gegen Zeitungen, die diesen Aufforderungen nicht nachkamen, wurden nicht ergriffen. Der entschiedenste Gegner des Nationalsozialismus, Torgny Segerstedt bei Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning, beachtete die Zettel grundsätzlich nicht. Er wurde deshalb zu König Gustaf V. zitiert, ließ sich aber nichts vorschreiben 23 . Die Behörden unternahmen somit offenbar gewisse Anstrengungen, um Nachrichten über die Behandlung der Zivilbevölkerung in Polen und im Osten seitens der Deutschen zu unterdrücken. Aber im allgemeinen dürften die Schweden recht gut darüber informiert gewesen zu sein. Paul A. Levine, der die Berichterstattung der schwedischen Presse über die Vernichtung der Juden für die Zeit Juni 1941 bis Oktober 1943 untersucht hat, stellt fest:
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Boberg/Wahlbäck (Hrsg.), Sveriges sak är v i r , S. 2 0 1 , 2 0 8 ; R A Pressnämnden vol. 1; Riksdagstrycket Första kammarens protokoll 2 3 . 1 0 . 1941, 1941:44, S. 5 4 - 5 5 ; R A Pressnämnden vol. 4. A n d o l f , De grä lapparna. Die Zettel und ein Verzeichnis über sie liegen im R A , Informationsstyrelsen vol. 23.
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„Little known to most Holocaust scholars is the extent, timeliness and accuracy of information about the first stages of the Final Solution printed in Swedish newspapers... In fact, from the start of Barbarossa to the end of the war, the main Swedish dailies would publish literally hundreds of articles, short notices and even pictures reporting Germany's continent-wide campaign against Jews in Europe. More often than not, these published items of persecution, atrocities, deportations and murder of Jews were brief and lacked any extended explanatory content. Nonetheless, many details of the entire process of extermination gradually became available to newspaper readers". Schon im Juli 1941 konnte man lesen, im Osten sei der Judenstern eingeführt worden und in Belgrad hätten Massenhinrichtungen von „Roten" und Juden stattgefunden. Im August wurden Deportationen von Juden aus Norwegen und aus dem Baltikum gemeldet. Es gab Berichte über Pogrome an verschiedenen Orten, bei denen Tausende von Juden zu Tode gekommen waren. Im Oktober und November wurde über die Verhältnisse in Deutschland, über den Zwang, den Judenstern zu tragen, die Beschlagnahme von Wohnungen, die geringeren Lebensmittelrationen für Juden und die Deportationen nach Polen informiert. Sehr viele derartige Meldungen erschienen 194224. Die Behörden und die Regierung in Schweden waren ziemlich gut über die Vernichtung der Juden unterrichtet. Aus Polen hatte eine Gruppe schwedischer Geschäftsleute nach Stockholm und London darüber Mitteilung gemacht. Sie wurden im Sommer 1942 von den Deutschen verhaftet und vier von ihnen zum Tode verurteilt, überlebten aber den Krieg. Soweit bekannt, erfuhren die Schweden von der Wannseekonferenz im Januar 1942 nichts. Aber ab Sommer 1942 war man über die Vernichtungspolitik im Bilde. Besonders gute Informationen besaß die Israelmission, die versuchte, christliche Juden zu retten. Dort stellte man bereits 1940 fest, die polnischen Juden seien ebenso dem Tode preisgegeben wie die nach Polen deportierten. Besonders bekannt wurde der Fall Gerstein. Zufällig traf ein schwedischer Diplomat im August mit dem SS-Offizier Kurt Gerstein zusammen und erhielt sehr detaillierte Informationen über die Vernichtungslager. Ein schriftlicher Bericht von ihm hat sich nicht finden lassen, was nicht bedeutet, daß Stockholm nicht informiert wurde. Dagegen ist unsicher, ob die Informationen London erreichten. Auch viele andere Informanten berichteten über Massenerschießungen und Vergasungen von Juden 25 . Arvid Fredborg arbeitete als Korrespondent der rechtsgerichteten Zeitung Svenska Dagbladet von Februar 1941 bis Mai 1943 in Berlin. Er war konservativ, aber kein Nazi. Solange er in Berlin wohnte, konnte er natürlich nicht über alle seine Eindrücke öffentlich schreiben. Aber nach seiner Rückkehr nach Schweden publizierte er im Herbst 1943 das dann in viele Sprachen übersetzte Buch „Bakom Stälvallen" (Hinter der Stahlmauer), worin er die Zustände im „Dritten Reich" beschrieb: über die Stimmung in der Armee, das Verhältnis zwischen SS und Wehrmacht, die Behandlung russischer Kriegsgefangener und den Terror gegen die Juden. Vor dem Rußlandfeldzug hieß es:
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Levine, Indifference, S. 1 2 0 - 1 2 3 . Lewandowski, Contribution, S. 4 5 - 5 1 , 61, 8 0 - 8 3 ; Levine, Indifference, S. 1 2 7 - 1 3 0 ; Koblik, Stones, S. 5 7 - 5 9 , 93; Svanberg/Tyden, Sverige, S. 3 5 - 5 2 .
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„die Wehrmacht hätte die beste Ausrüstung der Welt. Aber es stellte sich heraus, daß die russischen Verbände in Pelzen, Filzstiefeln und Schneeumhängen auftraten, während sich die Winterausrüstung der deutschen Soldaten häufig auf ein weißes Tuch über dem Helm beschränkte. Noch entscheidender war, daß die Armee keine Winterausbildung und Erfahrung hatte, nachts in bewaldetem Gelände zu kämpfen ... Das Fehlen jeglicher Winterausbildung ist ein unverzeihlicher Fehler, der der deutschen militärischen Führung anzulasten i s t . . . Der Verschleiß an deutschen Soldaten übertraf 1942 offenbar bei weitem den im Vorjahr. Immer mehr Angaben über Desertationen erreichten die Heimat, und immer wieder erklärten Frontsoldaten im Urlaub, die Stimmung an der Front sei ausgesprochen schlecht, ja schlechter als jemals im Winter 1941—42 ... Eine nicht geringe Zahl von deutschen Deserteuren hätte sich zum aktiven Kampf gegen Deutschland bei den Russen gemeldet. Auch die indirekten Desertationen hätten ein gefährliches Ausmaß angenommen. Ein neuer Begriff sei geprägt worden: die Verkrümelung. was bedeutete, daß deutsche Soldaten sich ,aus Versehen' von ihrer Truppe entfernten", und „Tausende von Soldaten hielten sich hinter der Front auf, wo sie nach ihrer Einheit .suchten'". Uber Tunesien hieß es: „Die Offiziere hielten im allgemeinen bis zum Schluß durch und versuchten, ihre Truppen zu bewegen, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Die offizielle Losung lautete, niemand dürfe sich ergeben, bevor nicht sämtliche Munition verschossen und die Vorräte zerstört seien. Doch es trat das Bedenkliche ein, daß die Soldaten das nicht mitmachen wollten. Immer wieder kapitulierten sie und gaben beachtliche Vorräte preis. Die Gefangenschaft in einem englischen Lager erschien ihnen nicht abschreckend. Das war in Stalingrad anders gewesen" 26 . Die schwedische Öffentlichkeit war über die Judenproblematik im Reich auf dem Laufenden: „Eine Möglichkeit, die Wohnungsnachfrage in Berlin zu dekken, ist weggefallen - die Juden. Zuvor beschlagnahmte man ,bei Bedarf' einfach ihre Wohnungen". Aber jetzt würden die letzten Juden aus Berlin nach Osten abtransportiert. „Im Frühjahr sah man auf den Straßen mitunter Judentransporte. Aus den Gesichtern der Gefangenen sprachen Verzweiflung und eine solche Hoffnungslosigkeit, daß nicht nur Ausländer, sondern auch Deutsche reagierten". Fredborg hatte bereits im März 1941 in seinem zweiten aus Deutschland geschriebenem Artikel berichtet, daß von Wiens ursprünglich 300 000 Juden nur noch 60000 übrig seien, und daß auch sie schnell in Viehwagen nach Polen verfrachtet würden, wobei sich die Todesrate auf 50% beliefe. Nach dem Krieg schrieb Fredborg, er hätte, wahrscheinlich im Herbst 1942, vom schwedischen Generalkonsul in Stuttgart Wanner, der ein persönlicher Freund von König Gustaf V. sei, ein deutliches Foto erhalten, das eine Massenexekution zeigte. Dies sei dem König zugestellt worden, der es an Georg VI. von Großbritannien weitergeleitet habe 27 . 26 27
Fredborg, Bakom stälvallen, S. 94, 1 7 2 - 1 7 3 , 273. Ebd., S. 285; ders., Destination, S. 183, 1 9 4 - 1 9 6 .
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Uber die SS schrieb er: „Die SS hat viel auf dem Gewissen. Vor allem ihre Verbände wurden bei der Deportation der Juden aus Deutschland eingesetzt. Sie haben dabei eine nahezu unglaubliche Brutalität entwickelt. Aber selbst das erscheint harmlos im Vergleich zu dem, was sie sich im Osten geleistet haben. Wieviele Juden, Polen und Russen sie auf dem Gewissen haben, wird sich wohl niemals feststellen lassen. Die Zahl der ermordeten Juden dürfte auf jeden Fall 2 Millionen übersteigen, und mit Sicherheit sind 1 Million Polen umgekommen. Darüber, wieviele russische Soldaten und Zivilisten ums Leben gebracht wurden, habe ich keine Zahlenangaben ... Die Massenhinrichtungen sind unter Formen geschehen, die zu beschreiben, einem widerstrebt. Mitunter hat man Männer, Frauen und Kinder zusammengetrieben, hat die Unglücklichen ihre Gräber graben lassen und dann die Maschinengewehre auf sie gerichtet. Bei anderen Gelegenheiten hat man Gas in Spezialzellen oder -zügen angewandt ... Die SS-Männer haben sich als politische Soldaten gesehen - ihnen ist auch aufgegeben worden, die Freiwilligen aus den verschiedenen Ländern in ihre Reihen aufzunehmen - und sie haben demonstriert, daß sie sich als über der Wehrmacht stehend betrachten. Ihre begünstigte Stellung hat auch in der Wehrmacht Bitterkeit hervorgerufen, was sich ungünstig auf die deutsche Kriegführung ausgewirkt haben muß" 28 . Erste Reflexionen über einen möglichen militärischen Widerstand in Anbetracht solcher Menschenrechtsverletzungen lassen sich bereits finden. „Die deutschen Offiziere sind für ihr Pflichtbewußtsein und ihre Loyalität bekannt. Zwar haben viele von ihnen, besonders unter den Berufs- und Reserveoffizieren, die aus monarchisch eingestellten Familien kommen, mit großer Verbitterung das Regime und vor allem dessen militärische Komponente, die Waffen-SS, betrachtet, aber revoltiert haben sie nicht". Ein einziger, Feldmarschall Erwin Rommel, schien eine Sonderstellung einzunehmen: „Aber er ist ein ausgesprochener Anhänger des Regimes ... Allerdings kann eine Situation entstehen, in der es den höheren Offizieren einfach als Pflicht erscheint, einzugreifen. Vielleicht ist diese Lage jetzt da ... Es dürfte unzweifelhaft sein, daß die Deutschen anfangs viele russische Kriegsgefangene hinrichteten. Ich habe Augenzeugen getroffen, die das eingestanden haben. Sie haben das damit entschuldigt, daß es nicht genügend Wachmannschaften und Verpflegung gegeben hätte und daß die Hinrichtungen schmerzfrei, nämlich durch Gas erfolgt seien" 29 . Also stand auch die Partizipation der Wehrmacht an Verbrechen deutlich vor Augen. Einer der höheren Beamten im Außenministerium, Sven Grafström, der ein ausgesprochener Gegner des Nationalsozialismus und mit der Tochter eines deutschen Diplomaten verheiratet war, führte während des Krieges und auch danach Tagebuch. Vor dem Krieg war er in Warschau stationiert, von wo er dann von schwedischen Geschäftsleuten Informationen erhielt. Bereits im Herbst 1939 schrieb er, daß „die Deutschen schon von Kriegsbeginn an ziem28 25
Fredborg, Bakom stalvallen, S. 340, 342. Ebd., S. 3 6 8 - 3 6 9 , 4 1 6 - 4 1 7 .
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lieh rücksichtslos offene Städte, Flüchtlinge, Frauen und Kinder auf den Feldern usw. bombardiert haben. Die Berichte, die ich darüber erhalten habe, sind so zahlreich und übereinstimmend, daß man nicht länger von einzelnen Unglücksfällen sprechen kann". Er notierte: „Die Juden werden schrecklich mißhandelt", und er führte Beispiele, für „den sinnlosen, rassistisch begründeten Sadismus, der an den nationalsozialistischen Schulen indoktriniert wurde und hier natürlich voll zum Tragen kommt", an. Auch stellte er Überlegungen hinsichtlich der Reaktion der Wehrmacht bei einer sich abzeichnenden Niederlage an und machte sich wohl falsche Hoffnungen. Neujahr 1941 schrieb er: „Die Lage in der polnischen Hauptstadt ist furchtbar ... Die Verfolgung der Juden ist empörend und die Stimmung gedrückt... Das Verhältnis zwischen der deutschen Armee und den Parteiorganisationen ist alles andere als herzlich. Sollte der Tag kommen, an dem die deutschen Waffen nicht mehr siegen - und der Tag wird kommen - werden die Militärs die Führung übernehmen". Im Herbst 1941 notierte er: „Das Straßenbild ist düster, die Menschen sind ernst und mürrisch. Ich bekam einen wirklichen Schock, als ich die ersten Juden mit dem neueingeführten Judenstern sah. Viele Deutsche, mit denen ich gesprochen habe, sagten, sie schämten sich für diesen Stern. ... Das Neueste sind die kurzfristig angesetzten Massendeportationen von jungen und alten Juden, Frauen und Männern nach Osten". Die Lage sei „fürchterlich und nähert sich der einer Hungersnot, hinzu kommen Krankheiten und die ständigen Ubergriffe der Besatzungsmacht". Die Situation der russischen Kriegsgefangenen sei schrecklich, einmal, weil sie in Massen in primitiven Konzentrationslagern zusammengetrieben worden seien, und zum anderen, weil sie nicht ausreichend verpflegt würden. Fälle von Kannibalismus seien bekannt. Am Neujahrsabend 1941 schrieb er: „Es scheint für die Deutschen in Rußland ausgesprochen schlecht zu laufen". Und im Frühjahr 1942: Besonders schwer „hatten es die Juden in ihrem eingemauerten Stadtteil. Wenn ein Jude stirbt, und sie sterben wie die Fliegen, wagen es die Verwandten nicht, ihn zu Hause zu behalten", sondern warfen ihn auf die Straße 30 . Nach dem 9. April 1940 forderten die Deutschen, Telegramme zwischen Norwegen, Finnland und Berlin über schwedische Leitungen senden zu dürfen. Das wurde zugestanden, und dank der Genialität eines schwedischen Mathematikers gelang es, diese Telegramme zu entschlüsseln. Sie enthielten oft deutsche militärische Lageberichte, die den verschiedenen Stäben in Norwegen und Finnland sowie dem deutschen Militärattache in Stockholm zugeleitet wurden und machten nahezu vollständige Angaben über die Operationen und Stationierung der deutschen Verbände in Norwegen und Finnland. Außerdem boten sie wertvolle Zusammenfassungen über die Lage an anderen Fronten. Sie wurden nicht nur von der militärischen Führung Schwedens, sondern auch vom
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Ekman (Hrsg.), Sven Grafström, S. 102, 170, 296-297, 360, 380, 410.
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Außenministerium gelesen. Schon im Sommer 1941 stellte sich heraus, daß der Vormarsch im Osten langsamer verlief und größere Verluste kostete als erwartet. Das bewog die Schweden, deutsche Forderungen restriktiver zu behandeln als während der ersten Wochen des Ostfeldzuges. Die Entschlüsselung bot auch einen gewissen Schutz vor überraschenden deutschen Aktionen gegen Schweden, und diese Informationen waren bedeutend sicherer als die der eigenen Diplomaten und Militärattaches. Allmählich ging den Deutschen auf, daß ihre Telegramme mitgelesen wurden, und von der Jahreswende 1942/43 an schränkten sie den Verkehr ein. Aber auch nach 1942 war die schwedische militärische Führung ausgezeichnet über Zahl und Stationierung der deutschen Truppen in Norwegen und Finnland sowie über ihre höheren Befehlshaber informiert. Die Angaben kamen von den Widerstandsbewegungen und von Flüchtlingen. Die Entschlüsselung hatte eine Basis für die weiteren Erkenntnisse gelegt 31 . Die Stimmung der deutschen Truppen im Frühjahr 1945 wurde in Erfahrung gebracht, indem man die deutsche Feldpost öffnete und las, die über Schweden befördert wurde. Es gab klare Anzeichen von Kriegsmüdigkeit und Resignation angesichts des aussichtslosen Widerstands gegen die übermächtigen Alliierten. So hieß es im April 1945: „Seit der Jahreswende ist die Moral erheblich gesunken, aber noch keineswegs gebrochen" 32 . Schwedischer Militärattache während nahezu der ganzen Regierungszeit der Nationalsozialisten war Oberst i. G. Curt Juhlin-Dannfelt. Ihm standen ein Marine- und ein Luftwaffenattache zur Seite, später auch noch Gehilfen. Während der Botschafter an den Außenminister berichtete, gingen die Rapporte der Attaches über den Außenminister an den Verteidigungsminister Sköld. In Berichten und den vertraulichen direkten Schreiben an einzelne Chefs, vor allem an den Chef der Nachrichtenabteilung Adlercreutz, konnten die Attaches ihre persönliche Auffassung direkter ausdrücken. Es muß aber sehr stark betont werden, daß die wichtigsten und vertraulichsten Informationen wahrscheinlich niemals zu Papier gebracht, sondern bei Besuchen in der Heimat mündlich vorgetragen wurden. Das könnte z.B. für den Rapport über das Gespräch mit Gerstein zutreffen. Juhlin-Dannfelt hatte vorzügliche Beziehungen zu den Militärattaches anderer Länder und zu deutschen Militär- und Zivilpersonen. Er beschaffte sich auch wertvolle Angaben durch Lesen der deutschen Lokalzeitungen. Nach dem Krieg schrieb Juhlin-Dannfelt seine Erinnerungen nieder, die aber nicht veröffentlicht wurden 33 . Er berichtet, daß er am 5. Juni 1933 in Berlin eintraf. Sein Vorgesetzter, der schwedische Gesandte Einar af Wirsen, war den
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Carlgren, Svensk underrättelsetjänst, S. 112, 122, 173; Beckman, Svenska kryptobedrifter, S. 1 5 9 , 2 1 4 - 2 1 5 . K r A Fst (h) Utrikesavdelningen (Utr avd) 1 9 4 2 - 1 9 6 1 ÖII vol. 17 ( 1 9 4 2 - 1 9 4 5 ) , V.P.M. angäende upplysningar inhämtade genom censurering av tyska soldatbrev fran Norge, 15. l . - l . 3. 1945, V.P.M. angäende stämningen m m vid tysk trupp i Norge sädan den framgär ur brev transiterade genom Sverige omkr., 1 april 1945. K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hagkomster. Siehe auch Böhme, Tysklands expansion börjar; ders., Underrättelser frän Berlin; ders., Förlorar Tyskland kriget?; Gäfvert, Milit ä r a t t a c h e s borttappade portfölj.
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Nationalsozialisten gegenüber äußerst negativ eingestellt und bezeichnete sie als „diese Gangster". Juhlin-Dannfelt selber war „niemals Hitleranhänger oder deutschfreundlich". Hinsichtlich Hitlers und der Einstellung des deutschen Offizierskorps ihm gegenüber sagt er: „Daß die Wehrmacht Hitler akzeptierte, dürfte weitgehend daran gelegen haben, daß man sich unter ihm eine Verbesserung der schlechten Rüstungssituation versprach". Was die führenden Offiziere betraf, fand er sie „beeindruckend, was Kenntnisse, Offenheit und Auftreten anging". Die Verbände seien „sehr diszipliniert", und die Vorgesetzten genossen große Autorität. Kritiken und Zusammenfassungen nach Übungen seien oft beeindruckend gewesen und auch die strengste Kritik sei ohne Nachtragen aufgenommen worden. In Schweden wäre das undenkbar gewesen 34 . Uber die Stimmung 1937 schreibt er, die Offiziere hätten sich mehr oder weniger dem Führer angeschlossen, und die Mehrheit des deutschen Volkes liebe und bewundere ihn. Im Sommer 1939 hätte die Bevölkerung geglaubt, Hitler würde seine Ziele abermals ohne Krieg erreichen, während die Militärs nervös gewesen seien. Nach den militärischen Erfolgen 1940 herrschte in Berlin Siegesstimmung. Uber 90% der deutschen Bevölkerung hätten sich zum Führer bekannt und ihm gehuldigt, und sein Ansehen sei zu dieser Zeit sehr groß gewesen, auch unter den Militärs 35 . In einem ausführlichen Bericht vom Januar 1941 über Organisation und Taktik der deutschen Infanterie schrieb Juhlin-Dannfelt u.a.: Die deutsche Kriegführung beruhe stärker als zuvor auf Angriff und Bewegung und stütze sich auf starken Einsatz schwerer Waffen, viel und schwere Artillerie, Luftüberlegenheit sowie Panzertruppen und Sturzkampfverbände und außerdem auf eine hohe Marschgeschwindigkeit, 40 km am Tage, Wochen hindurch. Begeisterung und Siegesrausch hätten die Müdigkeit überwunden. Sogar verwundete Soldaten hätten sich weitergeschleppt. Persönliche Initiative und die persönliche Zusammenarbeit der verschiedenen Befehlshaber hätten mehr denn je ihre Bedeutung bewiesen. Der Marineattache rapportierte im April ein Beispiel deutscher Disziplin. Ein Offizier, der mit brennender Zigarette und während er sich die Handschuhe anzog, den Auslandsklub verlassen habe, sei in korrektem aber kurzem Ton von einem Hauptmann der „Straßendisziplinpatrouille" zurechtgewiesen worden. Von einer Attachereise nach Griechenland im Juni berichtete der Luftwaffenattache, Harald Enell: „Zwischen sämtlichen Offizieren und Mannschaften scheint die freimütigste Kameradschaft zu bestehen. Soweit ich sehen konnte, schien sich das jedoch nicht nachteilig auf Disziplin, Ordnung und korrektes Auftreten auszuwirken". Juhlin-Dannfelt schrieb: „Überhaupt erhielt man durch das, was man hörte, den sehr starken Eindruck, daß der deutsche Soldat gewillt ist, sich zu opfern. Er zögert nicht, sein Leben einzusetzen" 36 . Aber nach dem Angriff auf die Sowjetunion heißt es bereits Ende August 1941: Die Stimmung in militärischen und zivilen Kreisen in Berlin sei seit Juli stark
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K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hägkomster, S. 1 5 0 - 1 5 1 . Ebd., S. 171, 1 7 4 - 1 7 5 , 2 2 1 , 2 2 3 . K r A Fst (h) U n d avd EI: 18 Inkommande skrivelser fran militärattachen i Berlin 1 9 3 7 - 1 9 4 2 vol. 13 (1941) 24.1., 28.4., 19.6., 23.6.
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gesunken. Darüber bestehe kein Zweifel. Und einen Monat später: Die deutschen Verluste müßten doppelt so hoch angesetzt werden wie angegeben. Stellenweise solle unter den Fronttruppen sehr große Unlust herrschen und an der Front hätte man Goebbels' Floskeln satt. Im Kriegsgebiet herrsche überall Rivalität zwischen Wehrmacht und Partei, wobei jedoch die Partei in allen nicht rein militärischen Fragen die Oberhand habe und bestimme. Die Offiziere sähen sehr wohl, was die politische Führung falsch mache, aber sie seien dagegen machtlos. Die deutschen Vorbereitungen für den bevorstehenden Winterfeldzug galten allgemein als völlig unzureichend 37 . Im Oktober kommentierte Juhlin-Dannfelt einen Bericht, den ein Schwede ein ehemaliger SS-Angehöriger - eingereicht hatte: Der Mann hätte einen sehr guten und ordentlichen Eindruck gemacht, aber in den Aufzeichnungen fänden sich erhebliche Ubertreibungen und Generalisierungen, die, fielen sie in die falschen Hände, ein falsches Bild von der deutschen Kriegsmacht vermitteln könnten, und es müsse betont werden, daß die Beurteilungen die SS und nicht die Wehrmacht beträfen. In diesem Bericht war von der Arbeitsteilung zwischen Wehrmacht und SS bezüglich der Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen, von der Aussonderung der Kommissare und Juden die Rede. „Die SS macht selten Gefangene, nur wenn sich die Russen in größeren Einheiten als einer Kompanie ergeben, sonst werden sie auf der Stelle erschossen. Die Gefangenen werden rücksichtslos behandelt und mit Schlägen und Tritten vorangetrieben. .Flintenweiber' werden sofort erschossen. Das aber tut keineswegs nur die SS, sondern auch die Wehrmacht, mit dem Unterschied, daß sie die jüdischen Soldaten nicht sofort zur Erschießung absondert. Die rücksichtslose Behandlung schiebt man u.a. auf den von den Russen ausgehenden Gestank und auf ihr meist viehisches Aussehen. In den besetzten Gebieten erhalten die SS-Sonderkommandos von der Bevölkerung bereitwillig Auskunft darüber, welche Juden sind, die dann direkt erschossen werden, auch Frauen und Kinder". Die SS und die Wehrmacht rivalisierten oft miteinander. Soweit man beurteilen könne, sei die Ordnung bei der Wehrmacht besser. Die Ausbildung stünde nicht auf gleich hohem Niveau wie in der schwedischen Armee. Die Soldaten würden nur sehr begrenzt zum selbständigen Handeln erzogen. Es sei unmöglich, einen deutschen Soldaten allein in den schwedischen Wald zu schicken. Die Schießausbildung sei ebenfalls schlechter als die schwedische. In seiner Einheit seien die Schweden den anderen weit überlegen gewesen 38 . Im November schrieb der Marineattache Anders Forshell, der dem Nationalsozialismus gegenüber positiv eingestellt war, über den Kampfgeist der deutschen Offiziere: Daß die Verluste an der Ostfront in erster Linie die Offiziere beträfen, „liegt an der deutschen Offizierseinstellung, die den absoluten persönlichen Einsatz an der Spitze seiner Truppe fordert". Besonders für „die Generation der jüngeren Offiziere scheint das enthusiastische Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Truppe, für welche die Offiziere die 37 38
Ebd., vol. 14 (1941) 26.8., 30.9. K r A Fst (h) U n d avd E l l : 18 Inkommande skrivelser fran militärattachen i Berlin Handbrev 1 9 3 7 - 1 9 4 2 vol. 5 (1941) 29.10.
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größte Verantwortung tragen und die größte mögliche Fürsorge zeigen, kennzeichnend. Daher sind Offiziere und Mannschaften in der Wehrmacht zusammengeschweißt wie niemals zuvor" 39 . Bereits im Juli 1941 hatte Juhlin-Dannfelt über die Massaker an den Juden in Kowno und Riga berichtet, von denen gesagt wurde, sie seien die Rache dafür gewesen, daß die Juden allzu schnell den Einmarsch der Bolschewisten begrüßt hätten. Ganz offensichtlich verkannte er den Charakter des Krieges als systematischen Vernichtungskampf gegen den „jüdischen Bolschewismus". Im Herbst muß ihm dies dann aber zumindest hinsichtlich der Ukraine aufgegangen sein. Im Oktober übermittelte er einen Zustandsbericht über die Ukraine: Die Aussichten, die Stadtbevölkerung im Winter versorgen zu können, seien minimal. Juden gäbe es nirgends mehr. Entweder seien sie zusammen mit den russischen Truppen geflohen oder später ermordet worden. An gewissen Orten habe man regelrecht Jagd auf die Juden gemacht. Der schwedische Botschafter Arvid Richert rapportierte am 26. Oktober, ein deutscher Luftwaffenoffizier hätte angegeben, er sei in einer Stadt zwischen Lemberg und Kiew Augenzeuge von Massenhinrichtungen geworden, bei denen täglich 3000 bis 4000 Juden, auch Frauen und Kinder, erschossen und in Massengräbern verscharrt worden seien. Er sei empört darüber gewesen, daß die SS solche Massenmorde begehen durfte und hätte von starken Gegensätzen zwischen Heer und Waffen-SS gesprochen 40 . Aus einer anderen Quelle vom Oktober 1941 erfuhr der Militärattache, daß die Kriegsgefangenen Schrecklichstes erwartete. Bemühungen, sie am Leben zu erhalten, gebe es nicht. Es werde angenommen, daß die Hälfte von ihnen im kommenden Winter verhungern würde, und viele der anderen erwarten andere Scheußlichkeiten 41 . Der Gehilfe des Marineattaches Edward af Sandeberg bestätigte das Gesagte für Kiew. Die Rücksichtslosigkeit der Deutschen gegenüber den Juden sei unerhört. Die meisten von ihnen würden einfach erschossen. Die Wehrmacht war in diese Verbrechen involviert. So hätte beispielsweise eine Propagandakompanie 25 000 Juden erschossen. Das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Partei werde als ziemlich schlecht beschrieben. Solche Aussagen finden sich immer wieder, ohne daß sie präzisiert würden. Der Gehilfe des Militärattaches, Hans Hugold von Schwerin, teilte im selben Monat aus Breslau mit, die Stadt sei nach Angaben eines Einwohners früher „ganz verjudet" gewesen, aber die Juden seien nun fast alle in Ghettos im angrenzenden Polen deportiert worden. Im März schrieb Juhlin-Dannfeldt, von den zahlreichen russischen Gefangenen im Herbst 1941 in Riga seien nur noch wenige übrig. Man wisse nicht, was aus ihnen geworden sei, aber es werde angenommen, daß sie im Winter an Seuchen, Hunger und anderen Mängeln gestorben seien 42 . Von seinem Freund Vladimir von Kaulbars, der als Dolmetscher in Kriegsgefangenenlagern arbeitete, erfuhr Juhlin-Dannfelt im Herbst 1941 Schreckliches
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K r A Fst (h) Und avd E1I:18 Handbrev vol. 5 (1941) 20.11. K r A Fst (h) Und avd EI:18 vol. 13 (1941) 11.7.; vol. 14 (1941) 30.10.; Koblik, „Om vi teg, skulle stenarna ropa", S. 1 8 6 - 1 8 7 . K r A Fst (h) Und avd EI:18 vol. 14 (1941) 16.10. Ebd., vol 15 (1942) 5.1., 21.1., 14.3.
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über die dortigen Verhältnisse. Offenbar wurde der Kommissarbefehl rasch den Schweden bekannt. Der Militärattache wußte um einen Geheimbefehl, wonach alle „Asiaten" zu erschießen waren. Das stand zwar nicht im Kommissarbefehl, wurde aber bisweilen so gehandhabt. „In den Lagern Ostrow und Siedlice, die wegen des rücksichtslosen Vorgehens der SS mehr Schlachthäusern als Gefangenenlagern ähneln, werden die Gefangenen beim Verhör durch schlecht sprechende Dolmetscher blutig geschlagen und zu Hunderten erschossen". Trotz sorgfältiger Aussonderung befänden sich viele Juden unter den Gefangenen und die Deutschen könnten diese nicht an der Aussprache erkennen, das könne nur ein geschickter Dolmetscher. „Die Gefangenen fingen vor Hunger an Menschen zu essen [!] und untereinander sogar Menschenfleisch zu verkaufen. Jeden Tag sterben in den Lagern Gefangene zu Hunderten". Von diesen Dingen hatte der Attache zwar gehört, aber er war doch schockiert, sie so unbestreitbar bestätigt zu bekommen. Man könne sich vorstellen, was den Hunderttausenden von gefangenen Russen in der Ukraine und westlich von Moskau bevorstehe, kommentierte Juhlin-Dannfelt. Er fügte ein Foto bei, das zeigte, wie ein Gefangener ausgepeitscht wurde 43 . Da es wenige Zeugenaussagen über Siegeszuversicht und Kampfmoral gibt, sind nachfolgende Beobachtungen nützlich: Nach einer Informationsreise im August 1942 stellte von Schwerin fest, daß „Haltung, Disziplin und Auftreten des deutschen Soldaten sowie sein psychischer Zustand überall zufriedenstellend und in den meisten Fällen sogar sehr gut ist". Man sei vollständig davon überzeugt, daß man siegen werde. Im September teilte er mit, daß „Himmler, wie man vermutet mit der Begründung, die Sicherheit des Reiches erfordere es, verlangt hat, die Wehrmacht in die SS einzugliedern" und damit ihm unmittelbar zu unterstellen. „Das hat Hitler entschieden abgelehnt" 44 . Im Dezember hieß es jedoch, hinsichtlich des Ausgang des Krieges werde die Stimmung in der Truppe immer pessimistischer. Von der Front kämen allerdings recht optimistische Briefe jüngerer Offiziere, die sich mehr und mehr die Denkweise der Nationalsozialisten aneigneten 45 . Ende Januar 1943 war dann von immer deutlicheren Anzeichen von Müdigkeit unter den deutschen Truppen die Rede. „An vielen Stellen soll es unmöglich sein, die Infanterie dazu zu bringen, mehr als nur sehr begrenzt anzugreifen. Unter den Truppen an der Ostfront soll sich ein allgemeiner Haß gegen den Führer verbreiten" 46 . Hinzugefügt wurde: „Lange im Nachhinein der Bevölkerung in ausführlichen und in heroischem
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K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hagkomster, S. 255; K r A Fst (h) Und avd EII:18 Handbrev vol. 5 (1941) 10.8., 30.9., 17.10. K r A Fst (h) U n d avd EI:18 vol. 16 (1942) 7.8., 21.9. K r A Fst (h) Und avd EII:18 Handbrev vol. 6 (1942) 8.12. K r A Fst (h) U t r avd E l l : 18 Inkommande skrivelser fran militärattachen i Berlin Handbrev 1 9 4 3 - 1 9 4 5 vol. 1 ( 1 9 4 3 ) 2 2 . 1 .
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Ton gehaltene Schilderungen unangenehmer Ereignisse ... mildert natürlich den Eindruck, ist aber an sich schon ein Zeichen von Schwäche". Und einige Wochen später stellte Juhlin-Dannfelt fest, die Kriegsereignisse an der südlichen Rußlandfront hätten Deutschland und seine Verbündeten bis ins Mark erschüttert, aber „der Schlüssel zu Deutschlands Durchhaltevermögen" läge „an der Front und bisher ist von dort nichts Sicheres über eine Veränderung des Kampfwillens, der Disziplin und des Durchhaltewillens bekannt geworden". Aber wenn es nicht zur Sommeroffensive käme, sei es jedem klar, daß die Achsenmächte den Krieg verloren hätten 47 . Von einer Informationsreise der Militärattaches an die Westfront im Februar berichtete er, Geist und Disziplin der Truppe seien scheinbar ausgezeichnet, aber die Stimmung der Bevölkerung sei „offen haßerfüllt aber beherrscht". Uber eine Westreise der Attaches im März wurde notiert, „die Reise sollte offensichtlich die Verhältnisse in anderem Licht erscheinen lassen, als sie wirklich waren". Zu den russischen Freiwilligenverbänden hieß es im März, die unerträglichen Verhältnisse in den Gefangenenlagern hätten dazu geführt, daß „die russischen Kriegsgefangenen auf alles eingegangen sind, bloß um der Gefangenschaft zu entrinnen" 48 . In einem ausführlichen Rapport vom Juni stellte Juhlin-Dannfelt fest, daß alle Chancen, das Verständnis der russischen Bevölkerung zu gewinnen, verspielt sein dürften. Die Disziplin an der Ostfront lockere sich wahrscheinlich, und die Stimmung in Deutschland sei äußerst bedrückt. „Auf den Bahnhöfen soll die Stimmung der an die Ostfront zurückkehrenden Urlauber jetzt kläglich sein". Zwei Jahre zuvor dagegen hätten „Zuversicht und eine nahezu ausgelassene Stimmung" geherrscht. Im Juli vermittelte er die Angaben des Kommandeurs eines Panzerregiments über die Lage im Osten: Die Bevölkerung sei unzuverlässig, da sie falsch behandelt worden sei. Die politischen Führer verdürben die Stimmung. So lange, wie die Wehrmacht zuständig gewesen sei, hätten völlig andere Verhältnisse geherrscht. Im Juli wurde auch von „einer zunehmenden Kriegsmüdigkeit der Fronttruppen" berichtet. Die Zahl der Deserteure im Osten sei steigend. Diese Kriegsmüdigkeit unter den Frontverbänden sei „vielleicht das ernsthafteste Anzeichen von allen" 49 . Im August wurde über eine „ausgeprägte Krise der inneren Stimmung" infolge der Bombenangriffe und der Evakuierung Berlins berichtet. „Die Kritik am Regime kann nahezu als grenzenlos bezeichnet werden ... Deutschlands jetzige militärische Kräfte" reichten nicht aus, „um Offensiven durchzuführen, auch nicht solche von begrenztem Ausmaß". Gerüchte über Frontverkürzungen seien im Umlauf. „Die quantitative deutsche Unterlegenheit im Osten wird immer deutlicher". Die Qualität der deutschen Truppen sei stark gesunken, die Zahl der Deserteure, die sich in großen Mengen hinter der eigenen Front aufhielten, steige. Dabei handele es sich weitgehend um Soldaten, die ihre Familien
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K r A Fst (h) U t r avd EI:18 Inkommande skrivelser frän militärattachen i Berlin 1 9 4 3 - 1 9 4 5 vol. 1 (1943) 8.1., 1.2. Ebd., vol. 1 (1943) 12.2., 2.3., 24.3. Ebd., vol. 2 (1943) 22.6., 5.7., 24.7.
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in der Heimat durch Bombenangriffe verloren hätten. Nach einer Reise an den Nordabschnitt der Ostfront hieß es jedoch: ..Der wichtigste Eindruck aber war, daß es sich um eine sehr starke Front handelt, gut organisiert, gut bewaffnet und ausgerüstet und mit einem völlig frischen, unverdorbenen und offenbar aktivem Geist unter Offizieren und Mannschaften". Oftmals kam es zum Nahkampf, „durch den sich eine enge Gemeinschaft zwischen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften entwickelt hat". Es bestünde „eine Mauer zwischen Front und Heimat. Die Front erscheint rein und unverdorben, die Heimat vergiftet oder im Begriff, es zu werden" 50 . In seinen Erinnerungen schreibt Juhlin-Dannfelt, er habe im April 1943 mitunter „ziemlich alarmierende Angaben über deutsche Grausamkeiten im Osten und im Westen" und im Juli „viele Gerüchte über nationalsozialistische Verbrechen gegen unerwünschte Bevölkerungsteile, vor allem Juden, aber auch gegen Patienten in Nervenheilanstalten gehört. In beiden Fällen hieß es, es handele sich um .Extermination*". Im Herbst habe ihn ein bulgarischer Arzt aufgesucht und von kaltblütigen und grausamen medizinischen Versuchen mit russischen Kriegsgefangenen berichtet, vor allem von Versuchen mit Einfrierungen und Wiederbelebungen, wobei die Opfer mitunter verstarben. Der Bulgare wünschte, daß dies im Ausland bekannt würde. Juhlin-Dannfelt hätte versprochen, dies nach Hause zu berichten51. Ein entsprechender Bericht hat sich nicht gefunden. Im Oktober wurde rapportiert, daß von Litauens 250 000 Juden nur noch 23 000 übrig seien, und im November 1944, daß alle 80000 lettische Juden ermordet seien 52 . Im August 1943 berichtete der Marineattache, Edward af Sandeberg, ein hoher deutscher Zivilist habe gesagt, es sei zu früh, Hitler zu liquidieren, das Geschwür müsse noch reifen. „Daß die Wehrmacht zum jetzigen Zeitpunkt das nationalsozialistische Regime stürzt, scheint wenig wahrscheinlich. Niemand sonst aber kann es", meinte Juhlin-Dannfelt 53 . Im Oktober 1943 wurde rapportiert, die Stimmung im Westen sei schlecht und nur wenige Verbände glaubten noch an den Endsieg. Und im November hieß es, die Hoffnung auf einen günstigen Kriegsausgang werde immer geringer, und man versuche den Defätismus energisch durch Todesurteile zu bekämpfen 54 . Bei seinem Besuch in Schweden Weihnachten 1943 beschrieb Juhlin-Dannfelt Deutschlands militärische Lage als politisch, moralisch und wirtschaftlich verloren. Die militärische Niederlage bliebe und nur ein Wunder könne die Katastrophe abwenden 55 . Im Mai 1944 wurden Überlegungen innerhalb der SS rapportiert: Hitler habe abgewirtschaftet und Himmler sollte die Führung übernehmen. Die Invasion im Westen werde zurückgeschlagen werden, wonach der 50 51 52
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Ebd., vol. 2 (1943) 2.8., 4.8., 10.8., 13.8., 17.8., 26.8. K r A Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hägkomster, S. 278, 285, 2 9 8 - 2 9 9 . K r A Fst (h) U t r avd EI:18 Inkommande skrivelser fran militärattachen i Berlin 1 9 4 3 - 1 9 4 5 vol. 3 (1943) 2.10.; vol. 5 (1944) 22.11. Ebd., vol. 2 (1943) 27.8.; vol. 3 (1943) 10.9. Ebd., vol. 3 (1943) 2.10., 22.10., 6.11. K r Α Juhlin-Dannfelts arkiv vol. 2 Hägkomster, S. 3 0 1 - 3 0 2 .
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Krieg eine Wendung nehmen werde. Danach werde es zu einem Kompromißfrieden mit Rußland kommen (das in einem späteren Krieg besiegt werden sollte). Die Kampfmoral sei nur vorübergehend gesunken. „Der deutsche Soldat kämpft immer noch energisch, mit Selbsthingabe und Härte" 56 . Im Juni 1944 berichtete Juhlin-Dannfelt über Angaben von Schweden, die in der Waffen-SS gedient hatten. Sie hätten niemals Judenverfolgungen oder kaltblütigen Mord an Juden erlebt und meinten, die Baracken in einem jüdischen Konzentrationslager in Estland seien besser gewesen als die im Ausbildungslager der SS. Aber die Juden müßten unerhört hart arbeiten. Sie bestätigten, daß die SS keine Gefangenen machte, das überließe sie der Wehrmacht. Die Disziplin innerhalb der SS sei außerordentlich streng. Der geringste Diebstahl werde mit dem Tode bestraft, niemals würde der SS erlaubt zu plündern 57 . Nach dem 20. Juli hieß es, das Attentat habe gezeigt, „daß die Lage an der Front und im Inneren nicht so fest und einheitlich ist, wie die öffentliche Propaganda behauptet". Die Wehrmacht werde der SS weiter und schneller angepaßt werden. Der militärische Gruß sei durch den Hitlergruß ersetzt worden, was die Offiziere bedrücke. Die Bevölkerung werde sich mehr und mehr über die wahre Lage klar und verstehe, daß der Krieg verloren sei. Eine Folge des Schauprozesses nach dem Attentat sei gewesen, „daß sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß die Lage auf längere Sicht hoffnungslos ist". Unter den kleinen Leuten und in der Truppe gäbe es aber auch die Ansicht, an den Rückschlägen seien die verräterischen Generale schuld. Im September hielt Generaloberst Alfred Jodl eine merkwürdige Ansprache vor den Militärattaches, in der er mit der Möglichkeit einer totalen Niederlage zu rechnen schien. Falls das Attentat am 20. Juli geglückt sei, sei eine Kapitulation möglich gewesen, jetzt nicht mehr. Er betonte, daß „die deutsche militärische Führung ihr Schild sauber gehalten und keine unehrenhaften Kriegsmethoden angewandt" habe. Der Grundton der Rede war „pessimistisch, um nicht zu sagen tragisch", und weite Partien der Rede seien eine Verteidigung des eigenen Auftretens vor einem ausländischen Publikum gewesen. Nichts sei über Wunderwaffen oder den Endsieg gesagt worden. Am selben Tag habe er auch zu den deutschen Gauleitern gesprochen und gesagt, die Lage sei schlechter als 1918. Die Bewaffnung des Westwalls sei an den Atlantikwall gegangen. Die Ansprache habe einen starken Eindruck auf die Anwesenden gemacht 58 . In seinen Erinnerungen gibt Juhlin-Dannfelt an, das OKW sei ab Herbst 1944 „mehr und mehr von der SS beherrscht worden. Die allgemeine Tendenz in der Wehrmacht ging nämlich dahin, alle höheren Stellen mit SS-Offizieren zu besetzen, die als politisch zuverlässiger galten als die Offiziere anderer Waffengattungen" 59 . Zur Bildung des Volkssturms hieß es im Oktober: „immer noch dürfte es in weiten Kreisen der Bevölkerung einen tiefen und aufrichtigen Verteidigungs-
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willen geben... So lange wie die Frontsoldaten kämpfen, dürfte auch das übrige Reich weiterkämpfen". Aber von einer Übung des Volkssturms berichtete er, dort fehlten Gewehre und Schuhe 60 . Im Januar 1945 schrieb Juhlin-Dannfelt, der Volkssturm „marschiert ohne zu murren. Auch wenn die, die an die Front gehen, Leichenmiene tragen, gehorchen sie und ordnen sie sich unter, und das ist die Hauptsache". Im Februar berichtete der Marineattache, Bengt Lind af Hageby, über „das Politruckwesen, das in der deutschen Wehrmacht immer stärker zur Geltung kommt. Während man in Rußland im Laufe des Krieges immer mehr davon abgegangen ist, war die Entwicklung in Deutschland genau entgegengesetzt. Das ist die natürliche Folge der Rückschläge und des Mißtrauens der Partei gegenüber gewissen Kreisen der Wehrmacht". Im März nannte er Beispiele für die harte Disziplin, die in der Wehrmacht herrschte: Diebstahl und Verkauf auf dem Schwarzmarkt seien mit Erschießung geahndet worden, Vergewaltigung einer minderjährigen Französin mit Hängen, Plünderung amerikanischer Gefallener mit Gefängnis. „Zweifellos strebt die Wehrmacht danach, ihren Schild rein zu halten. Vergleicht man das jedoch damit, daß an anderer Stelle in Deutschland immer noch schwere Verbrechen ungeahndet verübt werden, scheint man hier doch mit sehr eigenartigen Ellen zu messen" 61 . Dennoch und insgesamt wurden den Deutschen nur die Zugeständnisse gemacht, die man als unvermeidbar ansah, während man den Alliierten dann entgegenkam, als die Kriegslage sich zu deren Gunsten zu wandeln begann. Das heißt, die schwedische Einschätzung der Kampfkraft der Wehrmacht und der Durchsetzungsfähigkeit des politischen Willens bestimmte die schwedische Kriegshaltung. Nachfolgend soll dies beispielhaft demonstriert werden: Die deutsche Wehrmacht war ja immer, auch in der Schlußphase des Krieges, der schwedischen so stark überlegen, daß sie Schweden hätte besiegen können, falls es politisch gewollt und damit die dafür nötigen Ressourcen bereitgestellt worden wären. Und daß Hitler imstande war, überraschende und scheinbar unlogische Maßnahmen zu treffen, zeigen ζ. B. der Feldzug in Norwegen, der Angriff auf Jugoslawien, die Vestärkungen in Tunesien, das Eingreifen in Ungarn und die Ardennenoffensive. Die entscheidende Frage war, wie die Schweden die Bedrohung durch Deutschland einschätzten und wie sie versuchten, ihr zu begegnen, sowie wie man in dem Maße, wie die Deutschen Rückschläge erlitten und die Stärke der schwedischen Streitkräfte wuchs, immer stärker deutsche Forderungen zurückwies und denen der Alliierten entgegenkam. Dies ist recht gut erforscht, aber die Ergebnisse liegen im wesentlichen nur auf schwedisch vor. Daher seien sie hier kurz referiert. Im Herbst 1939 wurden zwei Divisionen mobilisiert und nach Nordschweden verlegt, da man einen sowjetischen Angriff auf Finnland und weiter nach Schweden befürchtete. 60
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K r A Fst (h) U t r avd EI: 18 Inkommande skrivelser fran militärattachen i Berlin 1 9 4 3 - 1 9 4 5 vol. 5 (1944) 21.10., 23.11. K r A Fst (h) U t r avd EII:18 vol. 3 (1945) 29.1., 23.2., 27.3.
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Göran Andolf
Ab April 1940 aber und bis zum Kriegsende waren die schwedischen Streitkräfte ausschließlich so stationiert, daß sie einen aus Westen oder Süden vorgetragenen deutschen Angriff abwehren konnten. Als Deutschland Dänemark und Norwegen angriff, forderte es von Schweden, nicht zu mobilisieren. Tatsächlich aber wurden die schwedischen Truppen innerhalb einer Woche insgeheim durch Einberufungen von 80000 auf 320000 Mann verstärkt, was den Deutschen kaum verborgen geblieben sein dürft. Offenbar gedachte Schweden sich gegen einen deutschen Angriff zu verteidigen. Als sich im Mai 1940 die Lage der deutschen Truppen in Narvik katastrophal zuspitzte, versuchten die Deutschen mit allen Mitteln, u.a. Bestechung und Schmuggel, die Schweden dazu zu bringen, Verstärkungen durchzulassen. Aber die schwedische Haltung blieb unverändert: humanitäre Hilfe ja, aber kein Kriegsmaterial. Im Juni 1940, als Frankreich geschlagen war und Hitler den Kontinent beherrschte, hatte Schweden zugestanden, deutsche Urlauber mit der schwedischen Eisenbahn zwischen Norwegen und Deutschland zu befördern. Außerdem gestattete man den Güterverkehr, darunter auch Kriegsmaterial. Aber die Zahl der deutschen Soldaten durfte durch diesen Verkehr nicht erhöht werden. Im Februar 1941 erkannten die Schweden, daß dies geschah, woraufhin sie protestierten. Im März erklärten die Deutschen, weitere 76 000 Soldaten warteten auf Transport. Diesen lehnten die Schweden ab. Erhöhte Verteidigungsbereitschaft war schon befohlen worden, und nun wurden weitere 80 000 Mann einberufen. Allerdings erklärten die Deutschen nun, es läge ein telegraphischer Fehler vor, es wären nicht 76000, sondern 16000 Mann. Die schwerste Krise während des Krieges trat im Zusammenhang mit dem Fall Barbarossa ein. Die Deutschen forderten u. a., eine deutsche Division von Oslo durch Schweden nach Finnland zu transportieren. Ein abschlägiger Bescheid werde als unfreundlicher Akt betrachtet werden. Nach einer Zerreißprobe in der Regierung gaben die Schweden nach, was einen eindeutigen Bruch der Neutralität bedeutete. Aber sie erklärten gleichzeitig, dies wäre ein einmaliges Nachgeben. Als die Deutschen gut einen Monat später verlangten, eine weitere Division durch Schweden zu transportieren, wurde diese Forderung sofort zurückgewiesen. Gerüchte über eine alliierte Landung in Norwegen infolge der deutschen Rückschläge Ende 1941 führten im Februar 1942 zu einer Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen über ein Handelsabkommen in London 1943 sagte Schweden zu, den Urlauberverkehr zwischen Norwegen und Deutschland einzustellen, die Ausfuhr nach Deutschland, auch die von Eisenerz, zu drosseln und Deutschland keine Kredite zu gewähren. Dafür sollte Schweden doppelt soviel Ol erhalten wie bisher. Im August wurden 300000 Mann eingezogen, die höchste Zahl seit dem Frühjahr 1940, und das Abkommen über den Urlauberverkehr wurde gekündigt. Im August 1944 forderten die Alliierten, Schweden solle seine Politik Deutschland gegenüber grundlegend ändern. Daraufhin wurden im Herbst jeglicher Schiffsverkehr in deutsche Häfen sowie der Export von Kugellagern nach Deutschland abgebrochen, allmählich jegliche Ausfuhr nach Deutschland eingestellt.
D i e E i n s c h ä t z u n g d e r W e h r m a c h t aus s c h w e d i s c h e r S i c h t
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Seit Ende 1943 waren in Schweden sogenannte dänische und norwegische Polizeiverbände ausgebildet und ausgerüstet worden. Sie sollten, eventuell zusammen mit schwedischen Verbänden, in ihren Heimatländern eingesetzt werden, falls die Deutschen dort nicht ohne Kampf kapitulierten. Ende 1944 wurde ein amerikanischer Transportfliegerverband in Nordschweden stationiert, der die norwegischen Polizeitruppen nach Nordnorwegen flog. Am letzten Kriegstag erschien ein amerikanischer General zu Stabsbesprechungen in Stockholm. Die schwedische Regierung hatte zugesagt, die schwedischen Streitkräfte unter alliierten Befehl gegen die Deutschen in Dänemark und Norwegen eingreifen zu lassen. Seit 1941 waren internierte Besatzungen von Flugzeugen auf der Basis von Gleichbehandlung der Kriegführenden entlassen worden. Seit 1943 bildete sich die Praxis heraus, für jedes deutsche Flugzeug eine alliierte Besatzung, 10 Mann, freizugeben. Davon erfuhren aber die Deutschen nichts. Gegen Ende des Krieges wurden immer mehr alliierte Flieger in Schweden interniert, und immer mehr wurden nach kurzer Internierung entlassen. Offiziell wollte man sie gegen in Zukunft internierte Deutsche anrechnen. 75 Flieger wurden im Austausch gegen 50 englische Radargeräte freigelassen. Eine in Schweden abgestürzte V2-Rakete überließ man den Briten, die auch eine Horchstation in Schweden einrichten durften, um die deutschen Versuche mit V2-Raketen abzuhören. Mit Wissen der Schweden richteten die Engländer in ihrem Konsulat in Malmö auch eine Radionavigationsstation ein. Als seit 1943 6000 bis 8000 alliierte Bomber Deutschland über Südschweden anflogen, rief das nur schwache schwedische Proteste hervor 6 2 . Während man auf die deutschen Forderungen nur widerwillig und unter D r o hungen einging, kam man den Alliierten zumindest teilweise freiwillig entgegen. Nach und nach wurde das immer üblicher und gegen Kriegsende war Schwedens Neutralität eine Illusion.
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Siehe grundlegend Carlgren, Svensk utrikespolitik; Leifland, General B ö h m e s val. Sverige; ders., Brittiska kränkningar. Siehe auch eine Reihe von Aufsätzen in: Wangel (Hrsg.), Sveriges militära beredskap; E k m a n (Hrsg.), Stormaktstryck och smastatspolitik; Hugemark (Hrsg.), Urladdning; ders. (Hrsg.), I orkanens öga; ders. (Hrsg.), Vindkantring; ders. (Hrsg.), N y a fronter; ders. (Hrsg.), Stromvarning; H u l d t / B ö h m e (Hrsg.), Varstormar; dies. (Hrsg.), Horisonten klarnar.
III Strategisches Denken, Professionalität und militärische Verantwortlichkeit der Wehrmachtführung
Martin van Creveld Einführende Bemerkungen
Ein Versuch, die militärische Leistung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg neu zu bewerten, wie er im vorliegenden Teil des Buches unternommen wird, ist keineswegs einfach. Schon wegen des gewaltigen Umfanges dieses Themas wäre es schwierig genug, allein die Fakten zu ermitteln. Noch schwieriger ist es, sie in irgendeiner Weise von dem historischen Hintergrund zu trennen, auf dem sie niedergeschrieben sind, und zu einer „objektiven" Bewertung zu gelangen. Diese Einleitung und die folgenden Aufsätze stellen einen Versuch dar, genau das zu tun. Wenn man auf die Historiographie der vergangenen fünfzig Jahre zu diesem Thema zurückblickt, kann man möglicherweise vier unterschiedliche zeitliche Abschnitte erkennen. Im ersten Zeitraum befaßte man sich sehr häufig mit Versuchen, das Ausmaß zu beschreiben, in dem die Wehrmacht in Hitlers Verbrechen verstrickt war. Dabei brachte man fast vergessene Werke wieder ins Gedächtnis, wie beispielsweise „Keitel, Verbrecher oder Offizier?" von Walter Görlitz und „Nemesis of Power" (Nemesis der Macht) von John Wheeler Bennet. Gleichermaßen bedeutsam ist, daß in dieser Periode die Memoiren vieler ehemaliger führender deutscher Generale erschienen, darunter die von Heinz Guderian, dessen „Erinnerungen eines Soldaten" (1953) ein Bestseller war, sowie von Erich von Manstein, Franz Halder, Albert Kesselring, Günther Blumentritt und anderen. Mit Ausnahme von Karl Dönitz, einem schnell emporgekommenen U-Bootführer, der, wie Napoleon von den Bourbonen sagte, nichts gelernt und nichts vergessen hatte, waren viele dieser Bücher mit der Absicht geschrieben darzulegen, daß ihre Autoren keine Nazis waren, keinerlei Verbrechen begangen und ihrem Land als gute Soldaten gedient hatten. Dieses Problem steht seit jeher zur Diskussion, obwohl es zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt wurde. Wie besonders der Titel von Mansteins Memoiren „ Verlorene Siege" andeutet, verfolgten viele der in jener Periode veröffentlichten Memoiren das unverhohlene Ziel, mit Hitler als dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht abzurechnen. Der „Führer", so argumentierte man, besaß zwar gewisse Talente. Dennoch war er letztlich kein Soldat, hatte nicht die „wichtigste" Einrichtung auf Erden, die Kriegsakademie, besucht und war also ein militärischer Ignorant. Hätte er sich nicht ständig eingemischt, hätte man von Dünkirchen an viele Fehler vermeiden und den Krieg gewinnen können. Als Ende dieser recht optimistischen Phase der Wehrmachtgeschichtsschreibung kann man vielleicht das Jahr 1961 ansehen, als Gert Bucheits „Hitler als Feldherr; die Zerstörung einer Legende" herauskam. In den sechziger Jahren hielt zwar die Flut von Memoiren ehemaliger deutscher Generale an, aber die Betonung änderte sich. Ob die Wehrmacht ein williges Werkzeug in den Händen Hitlers gewesen ist oder nicht, erschien nun weniger
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Martin van Creveld
bedeutsam als ihre militärischen Leistungen, insbesondere, da man sich den Leistungen der siegreichen Alliierten, derer jene sich so rühmten, gegenübergestellt sah. Folglich wurden einige deutsche Generale in den angelsächsischen Ländern sehr populär. Das gilt besonders für Erwin Rommel, der als eine Art deutscher Robert E. Lee, als untadeliger militärischer Held, ja bis zu einem gewissen Grad als Nazigegner gepriesen wurde (obwohl er in den Putsch vom Juli 1944 weniger verwickelt war, als viele seiner Verehrer es gewünscht hätten), um die Liste seiner Ruhmestaten noch zu krönen. Diese Periode hatte ihre besondere Bedeutung für die Festigung des Rufes der Wehrmacht als erste moderne Armee, die bahnbrechend vor allem in der Panzerkriegführung gewesen ist. Außerdem erschienen in jener Zeit sehr viele detaillierte Untersuchungen zu Feldzügen. In den meisten von ihnen wurden ebenso die militärischen Leistungen der Wehrmacht gepriesen. Hier denkt man beispielsweise an Walter Hubatschs minuziöse Darstellung des Norwegen-Feldzuges, an Hans Adolf Jacobsens hervorragendes Buch zum Fall Gelb und an den Band von Philippi und Heim über den Rußland-Feldzug. In diesen Werken überging man geflissentlich die Tatsache, daß die Wehrmacht den Krieg verloren hat. In den zahlreichen Werken, die außerhalb Deutschlands geschrieben wurden, begnügte man sich damit, darauf hinzuweisen, daß ihre Leistungen, so gut sie auch gewesen sein mögen, von denen ihrer Gegner übertroffen wurden. Die Veröffentlichung von „History of World War II" von Basil Liddell Hart im Jahre 1970 sowie von Albert Seatons The Russo German War im Jahre 1971 markierte das Ende dieses zweiten Abschnitts. Beide Werke waren detaillierte Studien von Feldzügen und widmeten anderen Dingen nur wenig Aufmerksamkeit, obwohl Seaton viel mehr tat als Liddell Hart, denn er betrachtete den Krieg nicht einfach als eine Angelegenheit von Pfeilen, die sich über eine Karte erstrecken. Beide konnten sich auch auf umfangreiches Quellenmaterial stützen, das sowohl in Form von nicht gedruckten, aus den U S A an Westdeutschland zurückgegebenen Dokumenten, als auch als gedrucktes Material vorlag. Zu letzterem gehören vor allem das Kriegstagebuch des Chefs des Generalstabes des Heeres, Franz Halder, sowie das des O K W . Beide wurden in den sechziger Jahren veröffentlicht. Auch hier hat Seaton, der die deutsche Sprache beherrscht, diese Quellen besser genutzt als Liddell Hart. Nun kommt eine Kluft. Obwohl weiterhin Monographien, wie „ Verdammte See. Ein Kriegstagebuch der deutschen Marine" von Carl Bekker (1971) erschienen, war es zu Beginn und Mitte der siebziger Jahre so, als ob sich die Historiker weniger vorrangig mit der Wehrmacht, ihren Feldzügen und ihren gewonnenen oder verlorenen Schlachten beschäftigten. Nach der strategischen Überraschung, die der Arabisch-Israelische Krieg 1973 mit sich gebracht hatte, und der Veröffentlichung von Captain Winterbothams Buch,, The Ultra Secret" im Jahre 1974 verlagerten die militärhistorischen Experten ihr Interesse auf die Aufklärung und all das, was mit ihr im Zusammenhang stand. Diese Untersuchungsrichtung erstreckte sich auch auf die Wehrmacht, mit dem Ergebnis, daß die Historiker gewöhnlich die Unzulänglichkeit des deutschen militärischen Aufklärungsdienstes auf den höchsten Ebenen hervorhoben. Ende der siebziger Jahre änderte sich die Situation erneut. Das waren in den U S A die Jahre Jimmy Carters, in denen die U d S S R unter Leonid Bresnev den
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höchsten Gipfel ihrer Macht erklommen zu haben schien. Nach der Niederlage in Vietnam war das US-Militär unzufrieden mit der eigenen Leistung und suchte nach einem Modell, auf das es seine zukünftige Doktrin stützen konnte. Das lieferte den Hintergrund für den dritten Abschnitt, dessen Beginn durch die Veröffentlichung von Trevor Dupuys Werk „A Genius for War" im Jahre 1978 und meines Buches „Fighting Power" aus dem Jahre 1982 gekennzeichnet war. Beide Publikationen hatten eines gemeinsam: Sie betrachteten die militärische Leistung der Wehrmacht und lobpreisten sie, jede auf ihre Weise, in den höchsten Tönen. Nachdem es von etwa 1971 an etwas vernachlässigt worden war, feierte das deutsche Militär als Gegenstand historischer Forschung seine lautstarke Wiederkehr. Jedoch gab es einen Unterschied. In den sechziger Jahren war man hauptsächlich damit befaßt, die Quellen zu nutzen und Tatsachen detaillierter herauszufinden als das früher möglich war. Im Gegensatz dazu bestand das Ziel nunmehr - stillschweigend und sehr häufig auch ausdrücklich - darin, „Lehren" aufzudecken, die man auf einen möglichen modernen konventionellen Krieg auf dem sogenannten „Zentralen Kriegsschauplatz" oder auch am Persischen Golf anwenden konnte. Einige Arbeiten jener Periode, zum Beispiel „The German Army 1933-1945" von Seaton aus dem Jahre 1984, waren kritischer Natur und stellten, wie es Seaton tat, die schädlichen inneren Kämpfe zwischen den höheren Offizieren der Wehrmacht in den Mittelpunkt. Insgesamt war das aber nun eine schöne Zeit für einen ehemaligen deutschen General, der überlebt hatte, und viele von ihnen, beispielsweise Wilhelm Balck und Friedrich Mellenthin, wurden ins Pentagon eingeladen, über ihre Erfahrungen im Kampf gegen die Russen ausgefragt und mit Speis und Trank bewirtet. In der Sache erreichte man auf diese Weise immerhin, daß viele spezielle Aspekte der Struktur und Leistung der Wehrmacht besser verständlich wurden. Zu ihnen gehörten ihr Professionalismus, ihr System der personellen Struktur, das sogenannte Kriegsspiel und die berühmte Auftragstaktik. Eine Arbeit nach der anderen untersuchte die Art und Weise, wie diese Grundbausteine der Kriegführung der Deutschen entstanden sind, zusammenwirkten und sowohl im Zweiten Weltkrieg als Ganzes als auch in einzelnen Feldzügen Anwendung fanden. Mit Ausnahme der Napoleonischen Zeit, die gleichermaßen dadurch gekennzeichnet ist, daß viel mehr Bücher über den französischen Kaiser als über all seine Rivalen zusammengenommen geschrieben wurden, könnte man tatsächlich sagen, daß es nie eine Streitmacht gegeben hat, die trotz ihrer verheerenden Niederlage ein so hohes Ansehen bei den Siegern genoß. Während amerikanische oder von Amerikanern bezahlte Historiker schrieben, um die Wehrmacht zu preisen, beteiligten sich deutsche Historiker nicht an der Verherrlichung. Die Generation, die nunmehr ernsthafteste Forschung betrieb, war lange Zeit nach dem Krieg gereift. Vielleicht weil sie nicht unter dem Schutz schrieben, den die andere Seite des Atlantik bot, waren sie weniger kampfeslustig als ihre amerikanischen Kollegen. Sie waren vielmehr an der großen Strategie Deutschlands interessiert, an genau dem Gebiet, vor dem die Amerikaner in ihrem Bestreben, die taktischen und operativen Vorzüge der Wehrmacht nachzuahmen, die Augen verschlossen.
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Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht, der Ausgangspunkt für die deutschen Historiker war sehr häufig Alan Milward, dessen Arbeit über den Blitzkrieg als ökonomische und militärische Strategie im Jahr 1964 erschienen war. Während Milward und mehr noch seine Nachfolger die Art und Weise lobten, in der Deutschland einige spektakuläre Siege errungen hatte, obwohl es nicht gelungen war, alle Ressourcen zu mobilisieren, drehten die deutschen Historiker in den achtziger Jahren den Spieß um. Für sie war die erstaunlich schmale materielle Basis, mit der Deutschland versucht hatte, einen Weltkrieg zu führen, eher ein Grund zur Schelte als für Lobpreisungen. Um so mehr, da es an geeigneter Planung mangelte, so daß Hitler und das Oberkommando häufig daran gehindert waren, aus ihren Ressourcen, so begrenzt sie auch gewesen sein mögen, den größtmöglichen Nutzen zu erzielen. Anfangs fanden die Leistungen dieser Historiker, deren wohl bedeutendster Vertreter Wilhelm Deist mit „ The Build, up of German Aggression" (1990)1 ist, außerhalb Deutschlands wenig Beachtung. Seit Beginn der achtziger Jahre jedoch nahm das Interesse an der Manöverkriegführung und allem, was damit zusammenhing, aufgrund des Tauwetters und letztlich des Endes des Kalten Krieges ab. Das Ergebnis waren umfassendere, ausgewogenere Einschätzungen, so wie sie in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges enthalten sind, die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegeben und derzeit ins Englische übersetzt wird. Zu jenem Zeitpunkt waren sich amerikanische und deutsche Historiker einig, daß die deutsche Strategie derart unzulänglich gewesen ist, daß sie, zumindest in den Augen letzterer, ein Verbrechen gegen das deutsche Volk darstellte. Und wenn man von Verbrechen spricht - zeitgleich wurde die Verstrickung der Wehrmacht in Greueltaten des Nationalsozialismus wieder zum Thema hitziger Debatten. Also scheint der vierte Abschnitt in mancher Hinsicht eine Rückkehr zum ersten zu markieren, obwohl eine andere Generation beteiligt ist. Aber das Problem der Kriegsverbrechen wird in dem hier vorgelegten Buch an anderer Stelle behandelt. Der Titel des ersten Aufsatzes „Die Blitzkriege 1939-1941; Operativer Triumph - strategische Tragödie" von Karl Heinz Frieser spricht für sich. Nachdem Frieser jüngst einen sehr sorgfältigen Bericht über den Westfeldzug veröffentlicht hatte, konnte man von ihm erwarten, daß er das Ausmaß betont hätte, in dem der deutsche Sieg einer Reihe von glücklichen Zufällen und Fehlern auf französischer Seite zu verdanken war. Da sich Hitler und seine Generale uneins waren, hing der Feldzug nämlich zu mehreren Zeitpunkten am seidenen Faden. Statt dessen hat es Frieser vorgezogen zu argumentieren, daß die Wehrmacht auf taktischer und operativer Ebene wesentlich brillanter war als auf der strategischen Ebene. Damit greift der Aufsatz auf den dritten von mir skizzierten Abschnitt zurück und muß als Analyse ähnlich angesehen werden, wie die ζ. B. von Williamson Murray vor ungefähr zehn Jahren in Englisch veröffentlichte. Insofern er jedoch den Fehler auf der großen strategischen Ebene als eine „Tragödie" betrachtet, schließt er sich an den vierten Abschnitt an.
Deist, A u f r ü s t u n g
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Bernd Wegner konzentriert sich auf die letzten Jahre ab 1943 und argumentiert, daß der Krieg zumindest seit der Schlacht bei Stalingrad hoffnungslos verloren war. Für andere, die beim Schreiben andere Ziele im Auge hatten, war die Tatsache, daß die Wehrmacht so lange aushielt, nachdem alle realen Hoffnungen auf den Sieg verloren waren, ein Gegenstand der Bewunderung. Niemals haben so wenige, spärlich bewaffnete und ausgerüstete Kräfte so hart und so ausdauernd gegen eine solche Ubermacht gekämpft. Wegner hingegen argumentiert, daß die deutsche Kriegführung auf höchster Ebene sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff denkbar schlecht war. Historiker der fünfziger Jahre hatten dafür eindeutig Hitler die Schuld gegeben. Anders Wegner, der auch das O b e r kommando der Wehrmacht einbezieht. Der nächste Beitrag, „Die Abwehr der Invasion als Schlüssel zum Endsieg" von Michael Salewski, ist in mancher Hinsicht der originellste von allen. D e r verstorbene Andreas Hillgruber hat in seinen vielen Publikationen die Auffassung vertreten, daß der Krieg während der Schlacht um Moskau im Dezember 1941 verloren gegangen war, und viele andere Historiker haben Stalingrad als die entscheidende Wende angesehen. Wenn diese Gedanken richtig sind, ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: 1. - der Erfolg der Landung in der Normandie im Juni 1944 war garantiert, und 2. - selbst wenn sie fehlgeschlagen wäre, war Deutschlands Schicksal besiegelt. Bezogen auf den ersten Punkt zeigt Salewski recht detailliert, wie selbst die Alliierten Zweifel an ihrem Sieg hatten. In bezug auf die zweite Schlußfolgerung zeigt er, wie sowohl das deutsche Volk als auch seine höchste Führung spürten, daß die Landung die entscheidende Wende darstellte und um jeden Preis abgewehrt werden mußte. Danach, sagte Hitler zu Antonescu, im Frühjahr 1944 würden ungefähr 30 Divisionen frei und könnten gegen die Sowjetunion eingesetzt werden. Salewskis Fähigkeit, die seinerzeit herrschenden Ansichten beider Seiten darzulegen, macht die Stärke dieses Artikels aus und richtet sich insbesondere direkt gegen die Beweisführung von Wegner. Dennoch kommt dieser Autor zu dem Eindruck, daß der Krieg in jedem Falle so geendet hätte, wie es kam, selbst wenn die Landung tatsächlich abgewehrt worden wäre. Entweder hätte sich auf lange Sicht die von Richard Overy in seinem Buch „Why the Allies Won" (1996) erneut dokumentierte erdrückende materielle Überlegenheit der Alliierten ausgewirkt, oder es wäre alles mit einem Atomschlag z . B . gegen Berlin anstelle von Hiroshima beendet worden. Während die bislang besprochenen drei Artikel die Strategie auf höchster Ebene behandeln, widmen sich die folgenden spezielleren Themen. Sönke Neitzel befaßt sich mit der Kriegsmarine und dokumentiert, wie dieser dritte, ursprünglich am wenigsten bedeutsame Teil der Wehrmacht, dank der Person von Karl Dönitz und seines Einflusses auf Hitler zu einem angeblich entscheidenden Instrument gemacht werden sollte. Jedoch ist er der Ansicht, daß Dönitz, Zusicherungen ein „riesiger Bluff" waren und daß der U-Bootkrieg nach Mai 1943 nicht mehr hätte gewonnen werden können. Eine ähnliche Richtung vertritt Guntram Schulze-Wegner. E r zeigt, wie die Horizonte der Kriegsmarine zunehmend schwanden. Die grandiosen Pläne zur Erweiterung, die man vor Beginn des Krieges hegte, wurden niemals und nirgendwo auch nur annähernd verwirklicht. Schritt für Schritt ging die Fähigkeit der Marine zur Uberwasser-
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kampfführung verloren, bis ihr am Ende als verzweifelte Ausflucht nur noch der U-Bootkrieg blieb. Wie Neitzel ist er der Ansicht, daß der Zusammenbruch dieser Kampfführung im Jahr 1943 nicht nur eine Zwischenphase darstellte, sondern die Niederlage des gesamten Krieges auf See bedeutete. Was Neitzel und Schulze-Wegener auf dem Gebiet Kriegsmarine unternehmen, absolviert James C. Corum, ein amerikanischer Historiker an der Air University, Alabama, auf dem Gebiet der Luftwaffe. Dieser Wehrmachtteil, so argumentiert er, trat mit einigen Vorteilen in den Krieg ein. Zu ihnen gehörten ein guter Ausbildungsstand, gute Ausrüstung, ausgezeichnete taktische und operative Luft-Boden-Möglichkeiten, eine vorzügliche Luftlandetruppe und die größte militärische Transportorganisation der Welt. Er hätte noch die sehr hohe Moral hinzufügen können. Aber die Luftwaffe hatte das gleiche Problem, wie Deutschland insgesamt: Sie war nicht in der Lage, in bezug auf den ihr zur Verfügung stehenden Umfang an Material mit den Alliierten mitzuhalten. Das wurde häufig noch ergänzt durch die geistige Armut in der deutschen Generalstabsarbeit und die Unfähigkeit des Oberkommandos der Luftwaffe (OKL), in Richtung Zermürbungskrieg zu denken, bis es viel zu spät war. Damit sind wir wieder im Reich der großen Strategie. Wie bereits oben gesagt, erwarb sich Professor Murray Williamson aus Washington D.C. seinen Ruf als Luftkriegshistoriker während der achtziger Jahre, als er eine hervorragende Arbeit zur Geschichte der Luftwaffe vorlegte. Darin erkannte er ihre ausgezeichneten operativen Leistungen in den Anfangsjahren an, vertrat aber auch die Meinung, daß ihre „Strategie" auf der höchsten Ebene aus einer Reihe unkoordinierter Hilfsmaßnahmen bestand und somit geradewegs zur Niederlage führte. In diesem Aufsatz greift er zurück auf die Arbeit, die er zunächst für das Department of Net Assessment des Pentagon gemacht hatte, und dehnt seine Erörterungen auf die deutsche Strategie als Ganzes aus. Dabei bezieht er auch die Jahre vor dem Krieg ein. Sein Argument lautet, daß strategische und politische Mängel auf der höchsten Ebene nicht durch taktische und operative Brillanz ausgeglichen werden können. Williamson ist der Ansicht, daß die Lage Deutschlands im Kampf gegen eine Koalition von viel stärkeren Mächten von Anfang an hoffnungslos war. Er schließt sich damit Frieser und Wegner an und überläßt es Heinrich Schwendemann von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau zu zeigen, wie Hitlers Entschlossenheit, ohne Rücksicht auf die große Übermacht des Feindes bis zum Ende weiterzukämpfen, zum Verlust von hundertausenden Menschen führte, und daß die Befehlshaber, die mit ihm kooperierten, gegen ihre „militärische Verantwortung verstoßen haben", als sie ihre Männer in den sinnlosen Tod schickten. In meinem Aufsatz komme ich unabhängig davon zu ähnlichen Einschätzungen. Auch hier wird argumentiert, daß die hervorragenden taktischen und operativen Leistungen der Wehrmacht nicht die Mängel auf der strategischen Ebene kompensieren konnten. Dies bezieht sich auf bestimmte Aspekte der Leistung Hitlers als militärischer Führer, aber auch auf die militärische Ausbildung und Erziehung in Deutschland. Wie die anderen Arbeiten hat die vorliegende einiges zur Kriegsmarine und zur Luftwaffe zu sagen, beinhaltet aber auch einen kleinen Abschnitt, dessen Ziel es ist, das Rüstungsmaterial zu vergleichen, das sich in den Händen der Wehrmacht und ihrer Gegner befand. Im
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Unterschied zu den anderen Arbeiten wird hier - wenn auch kurz - der Versuch unternommen, die Wehrmacht mit anderen Streitkräften zu vergleichen. Dabei kommt man nicht an dem Urteil vorbei, daß die Wehrmacht eine millionenstarke, reguläre, staatliche Streitkraft gewesen ist, die am Scheitelpunkt eines jahrhundertelangen Prozesses der Expansion und Konsolidierung im Militärwesen stand. Mit dem Abwurf der Atombombe im Jahre 1945 war sie mit einem Schlag veraltet. So erging es auch allen anderen Massenarmeen. Von diesem besonderen Standpunkt aus betrachtet, werden die Stärken und Schwächen der Wehrmacht, die Dinge, die sie gut oder schlecht gemacht hat, und alle Unterschiede zu Streitkräften, mit denen und gegen die sie gekämpft hat, durch viel größere Probleme in den Schatten gestellt. Somit unterscheiden sich dieser Artikel von den anderen vor allem durch ihren klaren Standpunkt einer militärhistorischen Jahrhundertwende, in deren Zentrum die Geschichte der Wehrmacht zu sehen ist. Ob es gelungen ist, diese These überzeugend zu präsentieren und ob dieser Teil des Buches insgesamt ein Erfolg ist, muß der Leser beurteilen.
Karl-Heinz
Frieser
Die deutschen Blitzkriege: Operativer Triumph - strategische Tragödie
Zeiten des Umbruchs und der Umwertung bilden den Nährboden für neuartige Schlagworte und Parolen. Dies hat Goethe treffend in der „Schülerszene" des Faust zum Ausdruck gebracht: „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" 1 . Das Wort, das sich im Sommer 1940 nach dem Westfeldzug zur rechten Zeit einstellte, lautete „Blitzkrieg". Doch dieses so häufig überinterpretierte Wort stellt eine semantische Falle dar. Das Suffix „Krieg" suggeriert nämlich das Vorhandensein eines gesamtstrategischen „Krieg"-führungskonzepts. In Wirklichkeit aber blieb dieser Begriff weitgehend der untergeordneten operativen Ebene verhaftet. Semantisch korrekter wäre es gewesen, von „Blitzoperationen" oder „Blitzfeldzügen" zu sprechen. So aber verbirgt sich bereits im Wort „Blitzkrieg" in nuce der Konstruktionsfehler der deutschen Militärstrategie seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts. Unter dem Einfluß der Schlieffen-Schule entstand nämlich die Illusion, strategische Aufgaben rein operativ lösen zu können. Man wollte auch im Industriezeitalter Kriege durch blitzschnelle Entscheidungsschlachten gewinnen. Dies aber bedeutete eine Verengung des strategischen Denkens auf den „schnellen Krieg" und eine Verengung des operativen Denkens auf die Umfassungsschlacht ä la Cannae. Die fatalen Folgen zeigten sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans. Wohl niemand hat die Kritik daran derart auf den Punkt gebracht wie der für seinen Sarkasmus bekannte Generaloberst von Seeckt. Er erklärte: „Schlagworte sind tödlich." U n d er fuhr fort: „,Cannae.' - Kein Schlagwort ist uns so verderblich geworden wie dieses" 2 .
I. D i e Legende von der „Blitzkrieg-Strategie" Eine der faszinierendsten Theorien zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist die von Hitlers „Blitzkrieg-Strategie". Im Ersten Weltkrieg war der deutsche „Griff nach der Weltmacht" 3 gescheitert. Es hatte sich gezeigt, daß das Deutsche Reich wirtschaftlich nicht in der Lage war, einen langdauernden Krieg gegen die westlichen Seemächte mit ihren schier unerschöpflichen Rohstoffreserven durchzustehen. Nach dieser Theorie entwickelte deshalb Hitler in den
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D i e f o l g e n d e D a r s t e l l u n g stützt sich auf die M o n o g r a p h i e des V e r f a s s e r s : B l i t z k r i e g - L e gende. In der v o r l i e g e n d e n K u r z f a s s u n g w e r d e n in den F u ß n o t e n lediglich Zitate belegt. G o e t h e , F a u s t , S. 59. Seeckt, G e d a n k e n , S. 12 f. Vgl. Fischer, G r i f f .
Die deutschen Blitzkriege
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dreißiger Jahren eine neue, angeblich geniale Eroberungsstrategie, die „Blitzkrieg-Strategie". Nun sollte dasselbe hochgesteckte Ziel nicht mehr in einem einzigen globalen Krieg, sondern etappenweise durch eine Strategie der „kleinen Schritte", also durch eine Folge von „Blitzkriegen" erreicht werden. Die Gegner sollten nacheinander in einzelnen Feldzügen mit begrenztem Ziel, von begrenzter Dauer, bei begrenzter Mobilisierung der Kriegswirtschaft niedergeworfen werden. In den Pausen zwischen den einzelnen „Blitzkriegen" konnte das deutsche Potential durch Ausbeutung der eroberten Gebiete schrittweise vergrößert werden. Besonders an Hitlers sogenannter „Blitzkrieg-Wirtschaft" entzündete sich die Phantasie der Historiker. So sollte angeblich mit Hilfe einer schnell verfügbaren Breitenrüstung - unter riskantem Verzicht auf eine zeitlich gestaffelte Tiefenrüstung - in kürzester Zeit eine Erstschlagkapazität geschaffen werden, die ausreichte, um den jeweils nächsten Gegner in einem kurzen Feldzug zu überwältigen. Auf diese Weise, konnte die Quadratur des Kreises gelöst und die Kluft zwischen Hitlers weitreichenden Expansionsplänen und der unzureichenden Rohstoffbasis überbrückt werden. Diese zuerst in den USA entwickelte Theorie erlangte auch in der deutschen Historiographie Bedeutung. Das gilt vor allem für die „intentionalistische" Schule, deren Vertreter Hitlers politisches Vorgehen von einem lange vorher festgelegten Programm determiniert sehen. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr Andreas Hillgrubers Stufenplan-Modell, das auf einen „Weltblitzkrieg" ausgerichtet ist. Danach wollte Hitler in einer ersten Stufe von Mitteleuropa aus den europäischen Kontinent erobern und dann in einer zweiten Stufe die Masse des asiatischen Blocks unter Kontrolle bringen. Erst danach sollte die Wirtschaft auf den totalen Krieg umgeschaltet werden, um gegen die USA den Kampf um die Weltherrschaft anzutreten. Doch wie bei vielen anderen faszinierenden Theorien stellt sich hier die Frage, ob denn die damals agierenden Politiker wirklich so zielstrebig die künftigen Entwicklungen vorausgeplant haben oder ob es nicht vielmehr die Historiker waren, die im nachhinein Systeme und Strategien in nur zufällig so verlaufende Entwicklungen hineinkonstruierten. Der Verfasser ist bei den Recherchen zu seinem Buch „Blitzkrieg-Legende" zu einem völlig anderen Resultat gelangt: Der „Blitzkrieg" war von seiner Entstehung her kein politisch-strategisches, sondern ein militärisch-taktisches Phänomen. Diese Idee entwickelte sich völlig unabhängig von Hitlers Eroberungsplänen, wobei die Keimzelle bereits im Ersten Weltkrieg erkennbar ist. Damals suchten die Deutschen nach neuen Methoden, um die Erstarrung im „Stellungskrieg" zu überwinden und wieder zu einem „Bewegungskrieg" überzugehen. Hierbei entwickelten sie ein spezielles „Stoßtrupp-Verfahren" für den Durchbruch und den Stoß in die Tiefe. Die Angriffe dieser Stoßtrupps erfolgten blitzartig, um den Uberraschungseffekt zu nutzen. General Guderian übernahm diese (später so bezeichnete) „Stoßtrupp-Taktik" und integrierte in sie Elemente der modernen Technik, wie den Panzer, das Flugzeug und den drahtlosen Funk. Das Ergebnis war eine atemberaubende Steigerung der Angriffsgeschwindigkeit, die einen psychologischen Schockeffekt hervorrief. Nie wieder sollte der Überraschungseffekt derart vollkommen
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sein wie im Westfeldzug 1940, der als „der Blitzkrieg" par excellence gilt. Im folgenden wird jedoch dargelegt werden, daß dieser „Blitzkrieg" gar nicht als solcher geplant war.
II. Rüstungsstrategische Planung Hitlers „Blitzkrieg-Wirtschaft" erweist sich bei näherer Betrachtung als Fiktion. Die deutsche Führung stand zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vor dem Dilemma, ob sie eine „Breitenrüstung" für einen kurzen Krieg oder eine „Tiefenrüstung" für einen langen Krieg anstreben sollte. Hierbei siegte die Angst vor dem Gespenst des Ersten Weltkrieges. Hitler und seinen Generalen standen noch allzu deutlich die traumatischen Erfahrungen des Stellungskrieges mit seinen endlosen Materialschlachten vor Augen. Deshalb sollte das deutsche Potential nicht blitzartig wie ein Feuerwerk versprühen, sondern nur auf niedriger Flamme, dafür aber langanhaltend mobilisiert werden. Konkret ausgedrückt: Die Rüstungsplanung war so strukturiert, daß erst nach Ablauf eines Jahres eine merkliche Steigerung der Produktion spürbar gewesen wäre. Der Höhepunkt aber hätte nicht vor dem Herbst 1941 erreicht werden sollen. Doch zu diesem Zeitpunkt stand die Wehrmacht nicht mehr vor Paris, sondern vor Moskau.
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Noch aufschlußreicher sind Gliederung und Struktur des deutschen Heeres. Die militärischen Planer hatten vor folgendem Zielkonflikt gestanden: Sollten sie ein kleines Eliteheer aufstellen mit motorisierten Divisionen, die sich für einen operativen Bewegungskrieg, also einen „Blitzkrieg", eignen würden? Oder
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sollten sie eine Vielzahl zweit- und drittklassiger Infanteriedivisionen aufstellen, die für die statische Verteidigung im Stellungskrieg geeignet waren? Auch hier war das Kriegsbild des Ersten Weltkrieges bestimmend. Wie aus nebenstehender Graphik hervorgeht, waren im Mai 1940 nur 10 Prozent aller deutschen Divisionen, also die „Lanzenspitze", vollmotorisiert und konnten in einem Bewegungskrieg eingesetzt werden. Die große Masse aber bewegte sich im Marschtritt der Infanterie und im Trott der Pferdegespanne.
III. Der unplanmäßige Verlauf des Westfeldzuges Im Polenfeldzug (September 1939) war die feindliche Armee kein gleichwertiger Gegner gewesen . Vollkommen anders stellte sich eine Auseinandersetzung mit den Westmächten dar, die dem Deutschen Reich zu Beginn des Einmarsches in Polen den Krieg erklärt hatten. Nach generalstabsmäßigem Kalkül war eine Offensive gegen die Westmächte eigentlich kaum zu gewinnen. Frankreich hatte sich hinter der vermeintlich uneinnehmbaren Maginotlinie verschanzt und war zusammen mit seinen Verbündeten dem deutschen Angreifer deutlich überlegen. So verfügten die gegnerischen Streitkräfte über 4204 Panzer gegenüber 2439 deutschen. Außerdem waren ihre Panzer auch qualitativ besser, da sie einen Generationsvorsprung in der technischen Entwicklung hatten. Schließlich blieb dem Deutschen Reich aufgrund der restriktiven Bedingungen des Versailler Vertrages die Produktion von Panzern und Flugzeugen lange Zeit verwehrt. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht waren die Westmächte auch bei der Luftwaffe überlegen. Zählt man nämlich zusätzlich zu den wenigen am 10. Mai an der Front einsatzbereiten Flugzeugen noch diejenigen hinzu, die die Alliierten aus Sorge vor einem deutschen Überraschungsangriff ins Hinterland zurückverlegt hatten, so ergeben sich 4469 alliierte gegenüber 3578 deutschen Maschinen. Doch dann ereignete sich das sogenannte „Wunder von 1940". Im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Armeen vier Jahre lang vergeblich versucht, die französische Front zu durchbrechen. Im Mai 1940 gelang dies bereits nach vier Tagen. Die deutschen Panzerdivisionen drangen völlig überraschend durch das Waldgebirge der Ardennen und durchstießen die Maaslinie bei Sedan. Nun rollten die Panzer im Rücken der alliierten Front unaufhaltsam Richtung Kanalküste und schlossen insgesamt 1,7 Millionen alliierte Soldaten in einem riesigen Kessel ein. Der Feldzug wurde somit innerhalb weniger Tage durch eine einzige Panzeroperation, genannt „Sichelschnitt", entschieden. Diese unkonventionelle Idee stammte von Generalleutnant Erich v. Manstein. Doch er wurde das erste Opfer seines Plans. Er sah sich nämlich im Januar 1940 wegen dieser angeblich „abenteuerlichen" und „verrückten" Idee auf einen un-
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A u f den Polenfeldzug soll in dieser kurzen Abhandlung nicht näher eingegangen werden. Er bildet erst eine Vorstufe zum modernen operativen Bewegungskrieg, genannt „Blitzkrieg". So wurde die Panzerwaffe in der Regel nur taktisch (im Divisionsrahmen) eingesetzt. Zum operativ selbständigen Einsatz kam es erstmalig im Westfeldzug im Rahmen der Panzergruppe Kleist.
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bedeutenden Posten abgeschoben. Kurz vor seiner Versetzung gelang es ihm noch, Hitler von seiner Idee zu überzeugen. Nun aber betreten wir den schwankenden Boden historischer Legenden. Es war keineswegs so, daß Hitler und die höhere Generalität in voller Konsequenz Mansteins kühnen Plan übernommen hätten. Dies zeigte sich bereits in den Ardennen, wo es zu einer Beinahe-Katastrophe kam. Dem Oberkommando der Heeresgruppe Α erschien der Einsatz von Panzerdivisionen in diesem Waldgebirge zu riskant, weshalb es stärker auf die Infanteriedivisionen setzte. Dadurch wurde die Panzergruppe Kleist mit ihren 41000 Fahrzeugen auf einem schlauchartigen Korridor mit lediglich vier Marschstraßen zusammengepreßt. So kam es zum größten bis heute aufgetretenen Verkehrsstau in Europa. Am dritten Tag der Offensive stauten sich die Kolonnen bis zu 250 Kilometer von der Maas über französisches, belgisches, luxemburgisches und deutsches Gebiet bis zum Rhein. Für die Luftwaffen der Alliierten bot sich die einmalige Chance, die deutsche Panzerwaffe, die in der Falle saß, bereits in den Ardennen zu zerschlagen. Doch die deutschen Panzer blieben völlig unbehelligt.
Der Durchbruch bei Sedan Nun aber geschah etwas, das selbst Guderian „fast wie ein Wunder"5 vorkam, der Durchbruch bei Sedan. Obwohl noch ein erheblicher Teil der Marschverbände in den Ardennen festlag, konnte die Infanterie bereits im ersten Ansturm die Maas überwinden. Die französische Verteidigung brach wie ein Kartenhaus zusammen. Ursache war ein Schlüsselereignis des Westfeldzuges, die sogenannte „Panik von Bulson": Es begann damit, daß die Meldung eines französischen Artilleriebeobachters falsch weitergegeben wurde. Plötzlich entstand daraus das Gerücht, deutsche Panzer hätten die Maas überquert und stünden bereits in Bulson dicht vor dem Divisionsgefechtsstand. Dieses Gerücht breitete sich steppenbrandartig aus, und in wenigen Stunden lösten sich die französischen Verbände im Strudel der Panik auf. Als später eine parlamentarische Kommission die Ursachen dieser Massenpsychose untersuchte, behaupteten Soldaten aller Dienstgrade, sie hätten mit eigenen Augen deutsche Panzer gesehen. In Wirklichkeit aber hatte erst 12 Stunden später der erste deutsche Panzer die Maas überschritten. Der französische Untersuchungsbericht sprach deshalb von „un phenomene d'halluzination collective". Bei Sedan ereignete sich einer der kuriosesten Panzersiege des Zweiten Weltkrieges. Es kam immer wieder vor, daß Panzer den Gegner in die Flucht schlugen, ohne einen einzigen Schuß abzugeben, allein durch ihr Erscheinen. Hier aber schlugen sie den Gegner in die Flucht, ohne überhaupt in Erscheinung getreten zu sein. Doch genau betrachtet handelte es sich hier um kein einmaliges Kuriosum, sondern um einen Modellfall, an dem sich das Erfolgsgeheimnis des „Blitzkrieges" besonders deutlich erklären läßt. Dieser bewirkte im Vergleich zu den Material-
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Guderian, Erinnerungen, S. 95.
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schlachten des Ersten Weltkrieges eine Revolutionierung des Kriegsbildes. An Stelle des physischen Vernichtungsprinzips trat das psychologische Verwirrungsprinzip. Die indirekte Wirkung wurde viel bedeutsamer als die direkte. Bereits im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Stoßtrupps für Panik und Verwirrung gesorgt. Dieser Schockeffekt wurde nun durch den Panzer und das Flugzeug ins Monströse gesteigert. Den durchdringendsten Psychoeffekt erzielte der Stuka, bei dessen Sturzflügen eine Sirene, die sogenannte Jerichotrompete, eingeschaltet wurde. Deren entsetzliches Kreischen geriet zur Schreckensfanfare des „Blitzkrieges". Niemals war der Uberraschungseffekt der neuen Angriffsmethoden derart gewaltig wie bei Sedan, wo es zum ersten Mal in der Militärgeschichte zum operativen Masseneinsatz von Panzern und Flugzeugen kam. Selbst die deutsche Führung zeigte sich überrascht. So führte der Durchbruch des Panzerkorps Guderian bei Sedan auch zum Durchbruch der Ideen Guderians.
Der Ausbruch aus dem Brückenkopf Sedan Wie bereits angeführt, war der Operationsplan des Oberkommandos des Heeres nur eine halbherzige Imitation von Mansteins kühnem „Sichelschnittplan". Die logische Bruchstelle ergab sich bei Sedan. Manstein und Guderian, der diesen als Panzerexperte beriet, hatten eine sogenannte Operation „in einem Zuge" geplant. Die Panzer sollten von der luxemburgischen Grenze in Höchstgeschwindigkeit nonstop bis zur Kanalküste vorstoßen. Ansonsten hätten die alliierten Armeen auf dem Nordflügel genügend Zeit, sich aus der belgischen Falle nach Süden hinter die Somme zurückzuziehen. Dies bedeutete, daß nach dem Durchbruch bei Sedan die deutschen Panzerdivisionen völlig isoliert ohne Rücksicht auf offene Flanken durch das Hinterland des Gegners vordringen sollten. Vor diesem atemberaubenden Gedanken aber schreckten Hitler und die höhere Generalität zurück. Statt dessen planten sie einen „Blitzkrieg im Zeitlupentempo". Sie wagten nicht den großen Sprung - in einem Zuge - zur Kanalküste, sondern wollten zunächst bei Sedan buchstäblich „auf halbem Wege" stehen bleiben. Die Panzerdivisionen sollten noch mehrere Tage im Brückenkopf warten, bis die nachfolgenden Infanteriedivisionen ebenfalls die Maas überschritten hätten und die Flanken sichern konnten. Dagegen hatte Guderian immer wieder protestiert, denn auf diese Weise würde man den Alliierten ausreichend Zeit schenken, um bei Sedan eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Doch dann kam der entscheidende Moment des Westfeldzuges. Am 14. Mai, einen Tag nach dem Durchbruch bei Sedan, warf General Guderian in der Euphorie des Erfolges alle Befehle seiner Vorgesetzten über den Haufen. Er stieß eigenmächtig mit seinen Panzern aus dem Brückenkopf heraus nach Westen vor - Richtung Kanalküste. Dadurch löste er einen Lawineneffekt aus, denn er riß auch die übrigen Panzerdivisionen mit sich. Die Generalität auf der oberen Führungsebene verlor zeitweilig die Kontrolle, so daß die Operation zunehmend an Eigendynamik gewann. Sie entwickelte sich
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schließlich so, wie es Manstein geradezu visionär vorhergesehen hatte. N u n nahm der deutsche Panzervorstoß, da der Flankenschutz durch die Infanteriedivisionen fehlte, die Form einer schmalen Sichel an. Daher die erst nachträglich geprägte Bezeichnung „Sichelschnitt", die übrigens von Winston Churchill stammt. Hitler verlor schließlich die Nerven; er intervenierte mehrmals und ließ die Pahzer stoppen. Sein verhängnisvollster „Halt-Befehl" war der von Dünkirchen. So konnten 370000 alliierte Soldaten, darunter die gesamte britische Expeditionsarmee, aus der Falle entkommen. Damit degradierte Hitler den von Manstein angestrebten strategischen Erfolg zu einem rein operativen. An dieser Stelle gilt es, zwei Legenden entgegenzutreten: - Es entspricht nicht den Tatsachen, daß Hitler intuitiv dieselbe operative Lösung gefunden hätte wie Manstein. Der „Sichelschnitt" war einzig und allein dessen Idee. - Hitlers „Blitzkrieg-Strategie", die die Grundlage für die erstaunlichen deutschen Erfolge in den ersten Kriegsjahren gewesen sein soll, erweist sich bei näherer Betrachtung als Fiktion. Beide Legenden, die in so vielen Geschichtsbüchern zu finden sind, gehören auf den Friedhof der Historiographie. Daß sich der Westfeldzug entgegen der vorsichtigen Planung zu einem erfolgreichen „Blitzkrieg" entwickelte, ist haupsächlich auf drei Faktoren zurückzuführen: - auf unfaßbare Zufälle, - auf unfaßbare Fehler der Alliierten, - auf unfaßbare Eigenmächtigkeiten einiger draufgängerischer Panzergenerale, die schließlich nicht nur die allierte, sondern auch die deutsche Führung vor vollendete Tatsachen stellten.
IV. Ausblick: Die Folgen der operativen Hybris Sedan ist eine Schicksalsstadt innerhalb der deutsch-französischen Militärgeschichte. Hier errangen die Deutschen zwei ihrer bedeutendsten Siege, denn bereits 1870 gelang Moltke bei Sedan die vollständige Einkesselung einer französischen Armee im sogenännteh „Cannae des 19. Jahrhunderts". Doch die Deutschen zogen daraus jedesmal falsche Konsequenzen, die sich in zwei Weltkriegen verhängnisvoll auswirken sollten. Während auf französischer Seite die Schlacht bei Verdun zu einer Uberschätzung des Stellungskrieges (Maginotlinie!) führte, bewirkten die deutschen Siege bei Sedan eine gefährliche Uberschätzung des operativen Bewegungskrieges. Im ersten Weltkrieg scheiterte der Schlieffenplan, der auf die ins Gigantische gesteigerte Neuauflage der Umfassungsschlacht von Cannae ausgerichtet war. Schließlich stellte sich heraus, daß militärische Führungskunst im Zeitalter einer industrialisierten Kriegführung fast schon zweitrangig geworden war. Die Entscheidung fiel schließlich nicht militärisch auf dem Schlachtfeld, sondern wirtschaftlich in den Fabrikhallen. Dieses Kriegsbild war auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vorherrschend deshalb die entsetzten Reaktionen der deutschen Generale, als Hitlers
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Vabanque-Politik scheiterte und ihm nach seinem Überfall auf Polen die Westmächte den Krieg erklärten. Dann aber ereignete sich im Mai 1940 das „Wunder von Sedan" und führte zu einer motorisierten Renaissance des Cannae-Gedankens. Dieser Sieg verführte erneut zu der Illusion, gegen überlegene Industriemächte strategische Disparitäten durch schnelle Entscheidungsschlachten operativ unterlaufen zu können. Von diesem Denkansatz her erfolgte auch die Planung des Ostfeldzugs gegen die Sowjetunion. Ebenso wie vorher die Westmächte überschätzt worden waren, so unterschätzte die deutsche Führung jetzt die Sowjetunion. Im Ersten Weltkrieg war es nicht gelungen, Frankreich und seine Verbündeten niederzuringen, wohl aber Rußland. Nachdem nun die Westmächte in wenigen Wochen bezwungen worden waren, glaubte man, umso leichteres Spiel mit der Sowjetunion zu haben. Unmittelbar nach dem Westfeldzug erklärte Hitler siegestrunken gegenüber dem Chef des OKW: „Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir fähig sind. Glauben Sie mir, Keitel, ein Feldzug gegen Rußland wäre dagegen nur ein Sandkastenspiel" 6 . Dem „Blitzkrieg"-Erfolg gegen Frankreich hatte keine vorher festgelegte Doktrin zugrundegelegen, es handelte sich vielmehr um eine aus der Not geborene Improvisation. Gegen die Sowjetunion wollte man ein Jahr später das gleiche noch einmal versuchen, nur mit dem Unterschied, daß diesmal tatsächlich ein „Blitzkrieg" geplant war, und zwar vom Ansatz her sogar in strategischer Hinsicht. Gegen die Westmächte hatte man mit einem langwierigen, zeitlich zunächst unbefristeten Krieg gerechnet; die Sowjetunion wollte man in einem für drei Monate geplanten Feldzug militärisch zerschlagen. Auf diesen exakten Endzeitpunkt hin war die Mobilisierung der personellen und materiellen Ressourcen abgestimmt. Doch es gelang nicht mehr, Moskau vor Einbruch des Winters zu erreichen. So kam es, daß im Dezember 1941 bei einem plötzlichen Kälteeinbruch von minus 36 Grad die meisten deutschen Soldaten noch in der Sommerbekleidung kämpfen mußten, weil zu wenig Winterbekleidung bereitgestellt war. Hitler und seine Generale hatten tatsächlich geglaubt, die Rote Armee, den „Koloß auf tönernen Füßen", im ersten Ansturm über den Haufen rennen zu können. Sie planten ein „Super-Cannae", um die entlang der Grenze aufgestellten sowjetischen Armeen in einer Serie von Kesselschlachten zu zerschlagen damit wähnte man bereits den Feldzug gewonnen zu haben. Der entscheidende Fehler lag darin, daß die wichtigste Voraussetzung für einen „Blitzkrieg" im strategischen Sinne gar nicht gegeben war, nämlich eine (zumindest zeitweilig herbeigerüstete) Erstschlagkapazität. Die deutsche Rüstung war trotz der versuchten Umsteuerung auf einen zeitlich begrenzten Feldzug hierzu nicht in der Lage, und so griffen im Juni 19413600 deutsche Panzer gegen insgesamt 24000 sowjetische an. Dennoch waren die Anfangserfolge gigantisch. Eine Kesselschlacht reihte sich an die andere: Bialystock, Minsk, Smolensk, Uman', Kiev, Vjaz'ma, Brjansk, um nur die wichtigsten zu nennen. In den ersten Monaten des Feldzugs verlor
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Siehe Besymenski, Schlacht, S. 46 (als Quelle wird Speer angegeben).
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die Rote Armee fast vier Millionen Mann allein an Gefangenen. Doch die deutsche Wehrmacht siegte sich operativ zu Tode, wirtschaftlich und somit strategisch gesehen mußte ihr irgendwann einmal der Atem ausgehen. Und so kam alles, wie es kommen mußte ... Um den Unterschied zwischen dem Westfeldzug von 1940 und dem Ostfeldzug von 1941 auf eine einfache Formel zu bringen: Der Westfeldzug war ein nicht geplanter, aber erfolgreicher „Blitzkrieg", der Ostfeldzug hingegen ein geplanter, aber erfolgloser „Blitzkrieg". Ende 1944 kam es zum letzten Mal zu einer großangelegten deutschen Offensive, und zwar gegen die Westmächte. Doch die Ardennenoffensive im Dezember 1944 stellte nur das letzte Aufbäumen des bereits in der Agonie liegenden Deutschen Reiches dar. An dieser Stelle schließt sich gleichsam der Kreis. Hitler benutzte nämlich die erste Ardennenoffensive von 1940 als Leitmotiv für die zweite von 1944. Diesmal sollte sich der „Sichelschnitt" gegen den Hafen von Antwerpen richten und den Westmächten ein neues „Dünkirchen" bereiten. Obwohl an der Ostfront eine sowjetische Offensive bevorstand, setzte Hitler im Westen noch einmal alles auf eine Karte und konzentrierte seine letzten Panzerreserven in den Ardennen. Durch den Schock eines erfolgreichen Blitzangriffs wollte er den Westmächten eine nicht mehr vorhandene Stärke demonstrieren. Dieser Bluff sollte sie an den politischen Verhandlungstisch zwingen. Bei keiner anderen Operation des Krieges wurde Hitlers irrationales Wunschdenken offenkundiger, nie war die Kluft zwischen Wahn und Wirklichkeit größer. Alle Gegenargumente seiner militärischen Berater, alle Berechnungen der Logistiker fegte er beiseite. Er glaubte nur noch an die „Macht des Willens". Bezeichnenderweise war bei der Planung der sogenannten „Rundstedt-Offensive", wie diese Operation irreführenderweise von den Angelsachsen genannt wird, Generalfeldmarschall v. Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, gar nicht beteiligt. Er wurde ebenso wie alle anderen Generale, die den Plan durchführen sollten, vor vollendete Tatsachen gestellt. Hitler hatte drei Armeen mit insgesamt 600 Panzern und Sturmgeschützen konzentrieren lassen. Die Offensive verfolgte zwei Ziele: (1) Die Ausschaltung Antwerpens, als dem wichtigsten Nachschubhafen der Alliierten; (2) Die Abschneidung und Vernichtung aller feindlichen Verbände nördlich der Linie Bastogne - Brüssel - Antwerpen. Somit sollte erneut ein „Cannae" erzielt werden. Unabdingbare Voraussetzung war es, bereits am zweiten Tag der Offensive die Maas zu überschreiten, bevor die Alliierten, deren Verbände erheblich besser motorisiert waren, reagieren konnten. Als am 16. Dezember die Panzer der längst geschlagen geglaubten Wehrmacht aus den Ardennenwäldern rollten, traf dies die Alliierten wie ein Schock. Die Überraschung war vollkommen. Wieder einmal verbreiteten deutsche Panzer Schrecken und Entsetzen, vor allem der mächtige Königstiger erwies sich als fast unbezwingbar. Doch schließlich konnten die amerikanischen Truppen ihre Verteidigung organisieren und sich in Stützpunkten einigeln. Die vorwärtsdrängenden deutschen Panzerverbände mußten die Widerstandszentren umgehen. Da etliche Wege in den Ardennen aufgrund des schlechten Wetters nicht befahrbar waren, zwang dies zu weiteren Umwegen. Nun trat das ein, was die militä-
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rischen Fachleute aufgrund einer nüchternen logistischen Berechnung prognostiziert hatten: Die Treibstoffvorräte reichten nicht aus. Ganze Panzerverbände waren plötzlich zur Bewegungslosigkeit verurteilt und hofften verzweifelt auf Nachschub. Nach gut einer Woche hatten sich die meisten Angriffe festgefahren, vor allem aber klarte am 24. Dezember der Himmel auf, so daß die alliierten Flugzeuge massiv intervenieren konnten. Damit war die Operation gescheitert. Die Ardennenoffensive von 1944 stellt wohl den Tiefpunkt der deutschen operativen Führungskunst dar. Der Planung lag kein rationales, generalstabmäßiges Kalkül zugrunde, es handelte sich nur um einen irrationalen Verzweiflungsakt Hitlers. Wie konnte man eine Offensive mit einem derart weitgestecktem Ziel, dem Hafen von Antwerpen, planen, wenn für manche Panzerverbände lediglich Betriebsstoff für die ersten 60 Kilometer zur Verfügung stand. Doch dieser reichte kaum aus, um die Treibstofflager des Gegners zu erreichen, nach deren Einnahme man - neu aufgetankt - den Vorstoß fortsetzen wollte. Ein derartiger „Blitzkrieg ohne Benzin" muß in der Nachbetrachtung geradezu als Absurdität erscheinen. Man vergleiche einmal die perfekte logistische Vorbereitung, vor allem die präzisen Betriebstoffberechnungen der Offensive von 1940. Es fehlte auch eine Voraussetzung, die 1940 so entscheidend war, nämlich die - zumindest zeitweilige - Luftüberlegenheit. Wie sollten die deutschen Panzerverbände Antwerpen erreichen, wenn sie sich nur bei Nacht und Nebel dorthin schleichen konnten? Begünstigte im Mai 1940 das sogenannte „Göring-Wetter" den Einsatz der Luftwaffe, so war für die Neuauflage dieser Operation 1944 eine längere Schlechtwetterperiode Voraussetzung. Die in Hitlers Wahnvorstellungen geborene Ardennenoffensive von 1944 hatte nicht einmal taktische Erfolgsaussichten. Sie stellt nur einen Abklatsch, ja eine Persiflage der Operation von 1940 dar. Uber die Fragwürdigkeit historischer Analogien hat sich einmal Karl Marx geäußert, der auch ein begeisterter Clausewitz-Leser war: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce" 7 .
Resümee: Der „Blitzkrieg" als revolutionäres und reaktionäres Phänomen Im Westfeldzug ereignete sich am 14. Mai, unmittelbar nach dem Durchbruch bei Sedan, eine bemerkenswerte Episode. Am frühen Morgen drang eine deutsche Vorausabteilung nach Süden, Richtung Chemery, vor. Da kam es, wie es im Gefechtsbericht heißt, zu einer Szene wie aus einem „Traum": Aus einem Waldstück heraus griff plötzlich französische Kavallerie an. Doch sofort setzten die Maschinengewehre dieser Attacke ein Ende. Gleich darauf wurde im Straßengraben neben dem weggeworfenen Gepäck eines französischen Offiziers ein berühmtes Buch der Weltliteratur gefunden. Es handelte sich um den „Don
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Marx/Engels, Werke, 8, S. 115.
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Quijote" von Miguel Cervantes. Don Quijote stellt die Symbolfigur eines anachronistischen Kriegsbildes dar. Der Stand der Ritter war gegenüber den Landsknechtsheeren mit ihren neuartigen Feuerwaffen ins Hintertreffen geraten. Und so ähnelte sein Aufstand gegen die Moderne einer Lanzenattacke gegen Windmühlenflügel. Ebenso spielten auch viele tapfer kämpfende französische Soldaten eine tragische Rolle. Niemand hat dies drastischer formuliert als General Weygand, der nach dem Desaster von Sedan als neu ernannter Oberbefehlshaber Frankreich doch noch zu retten versuchte. Er erklärte: „Wir sind mit einer Armee von 1918 gegen eine deutsche Armee von 1939 in den Krieg gezogen. Das ist reiner Wahnsinn" 8 . An dieser Stelle ergibt sich die Frage: Muß nicht auch das Phänomen des deutschen „Blitzkrieges" in gewisser Hinsicht als Anachronismus bewertet werden? Im Industriezeitalter, in dem zwei Weltkriege rein strategisch, und zwar durch die Fließbänder der Fabriken, entschieden wurden, hofften Hitler und seine Generale den Krieg rein militärisch auf dem Schlachtfeld entscheiden zu können. Wie illusionär dieses Denken war, soll folgender Zahlenvergleich veranschaulichen. Während das Deutsche Reich 25 000 Kampfpanzer produzierte, waren es bei den Alliierten mehr als 200 000. Dagegen nützte auch überlegene operative Führungskunst nichts. Insofern war das deutsche „Blitzkrieg"-Denken revolutionär und reaktionär zugleich. Rein taktisch bedienten sich die deutschen Generale modernster Methoden. In strategischer Hinsicht hingegen orientierten sie sich an einem anachronistischen Kriegsbild. Schon im 19. Jahrhundert hatte der amerikanische Bürgerkrieg demonstriert, daß die militärisch überlegenen Südstaaten auf Dauer keine Chance hatten gegen die wirtschaftlich überlegenen Nordstaaten. Und so waren auch die Panzeroperationen der deutschen Blitzkriege nichts anderes als Lanzenattacken gegen die Windmühlenflügel überlegener Industriepotentiale.
Siehe Hörne, Maas, S. 456.
Bernd Wegner Defensive ohne Strategie. Die Wehrmacht und das Jahr 1943.
Kalendarisch betrachtet war 1943 ein Gedenkjahr. Zum 25. Mal nämlich jährte sich in jenem Jahr der Waffenstillstand von 1918. Während Hitler und die NSPropaganda nicht müde wurden, aus diesem Anlaß die Unwiederholbarkeit jener Novemberereignisse zu beschwören, gedachten andere Zeitgenossen der Geschehnisse auf ihre Weise: So fand sich schon unmittelbar nach Stalingrad die Jahreszahl „1918" an Wiener Hauswände gepinselt, und in Berlin wurde in Flugblättern an sie erinnert 1 . Im Spätsommer, nach dem Fall Italiens, sahen auch die Regierungen in London und Washington Anlaß, sich der Umstände des Kriegsendes ein Vierteljahrhundert zuvor zu erinnern. Vor allem auf britischer Seite kamen etliche Experten dabei zu der Einschätzung, daß Deutschland sich alles in allem, d. h. unter Berücksichtigung nicht nur der militärischen, sondern auch der politischen und ökonomischen Situation, in einer womöglich noch schlechteren Lage als 1918 befinde. „We may see", so das Joint Intelligence Sub-Committee in einem Bericht von Anfang September 1943, „the defection of the rest of Germany's European Allies and, even before the end of this year, convince the German people and military leaders that a continuation of the war is more to be feared than the consequences of inevitable defeat. With the German people no longer willing to endure useless bloodshed and destruction, and the military leaders convinced of the futility of resistance there might be, as in Italy, some sudden change of regime to prepare the way for a request for an armistice" 2 . Die Geheimdienstexperten täuschten sich, wie wir wissen, in schrecklicher Weise. Der Krieg sollte noch gut eineinhalb Jahre andauern und in dieser Zeit die deutsche Wehrmacht mehr als doppelt so viele Opfer kosten wie seine ersten vier Jahre zusammengenommen 3 . Dessen ungeachtet war der Ausgangspunkt der britischen Geheimdienstexperten und der erwähnten Wiener Graffitimaler, die Uberzeugung von der Unausweichlichkeit der deutschen Niederlage, zu diesem Zeitpunkt keineswegs unbegründet. Deutschlands strategische Lage unterschied sich in jenem Jahr 1943 nämlich grundlegend von jener der beiden vorangehenden. 1941 hatte mit dem Zusammenbruch der deutschen Blitzkriegsplanungen geendet; der Dezember 1941 markierte den Ubergang vom kurzen zum langen und zugleich den Wechsel vom eurozentrischen zum globalen Krieg. Das Jahr 1942 hatte für Hitler im Zeichen des Versuchs gestanden, 1 2
3
Vgl. Boelcke (Hrsg.), Krieg, S. 335 (11.2. 1943). War Cabinet/Joint Intelligence Sub-Commitee, „Probabilities of a German Collapse", J.I.C. (43) 367 Final vom 9. 9. 1943, S. 3/Ziff. 1, National Archives, Washington, D.C.: ABC 381 Germany, 29. Jan. 43, Sec. 1-A. Für den Hinweis auf das Dokument danke ich Herrn Kollegen J. Heideking (Köln). Vgl. Overmans, Verluste, S. 257 (Tab. 53).
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dieser doppelten - zeitlichen und geographischen - Ausweitung des Krieges Rechnung zu tragen. Hitlers zweiter russischer Feldzug verfolgte in erster Linie das strategische Ziel, durch Eroberung des gesamten Donec-Beckens sowie der kaukasischen Ölquellen die infrastrukturellen, insbesondere rohstoffwirtschaftlichen Grundlagen dafür zu schaffen, den Krieg auch gegen die angelsächsischen Seemächte auf unabsehbare Dauer führen und diese dadurch zum Nachgeben zwingen zu können 4 . Dieses strategische Kalkül war spätestens in dem Augenblick gescheitert, als die deutschen Truppen sich als unzureichend erwiesen, den Kaukasus zu erobern, ja überdies feststellen mußten, daß die vollständige Zerstörung der ökonomischen Infrastruktur in diesem Raum eine Nutzung der dortigen Ölvorkommen auf absehbare Zeit unmöglich machen würde. Hier lag, viel mehr als in der knapp drei Monate später einsetzenden Kesselschlacht um Stalingrad, eine strategische Wende für die deutsche Kriegführung im Osten 5 , - eine Wende freilichj die im Unterschied zum sehr viel spektakuläreren Geschehen an der Volga von außen kaum zu registrieren war, aber doch in der schweren Führungskrise vom September 6 beredten Ausdruck fand. Das entscheidende Kennzeichen dieser Wende war, daß die deutsche Führung von nun an über keinerlei strategisches Konzept mehr verfügte, um den Krieg als ganzen zu einem siegreichen Ende zu bringen.
I. Dies führt uns zu einer ersten grundsätzlichen Feststellung: Hitler und die militärische Führung gingen in das Jahr 1943 ohne gesamtstrategisches Konzept, eine Tatsache, welche dieses Kriegsjahr grundlegend von allen vorangehenden unterscheidet. Mag man in Hinblick auf die ersten Kriegsjahre mit guten Gründen darüber streiten, ob die wechselnden strategischen Konzeptionen Hitlers (in Verbindung mit den organisatorischen Möglichkeiten des Regimes und dem ihm verfügbaren Umfang seiner menschlichen und materiellen Ressourcen) einen deutschen Sieg denkbar erscheinen ließen oder nicht, so fehlt es für 1943 an jeglicher konzeptioneller Grundlage, die Gegenstand kontroverser Interpretationen über eventuell verbliebene deutsche Siegeschancen hätte werden können. „Ich wurstele mich von einem Monat zum andren weiter", entfuhr es Hitler denn auch in einer Unterredung mit Dönitz im Sommer 1943 7 . Wie sehr man im Führerhauptquartier am Ende seines Lateins angelangt war, verdeutlichen bereits die strategischen Überlegungen des Wehrmachtführungsstabes für das Jahr 1943, die uns in Form einer Denkschrift vom 10. Dezember 1942 vorliegen 8 . Vergleicht man sie mit den ein Jahr zuvor, im Dezember 1941, unmittelbar nach dem amerikanisch-japanischen Kriegseintritt angestellten Erwägungen 9 , so offenbart sich das ganze Ausmaß strategischer Hilfslosigkeit. Von 4 5 6 7 8 9
Vgl. eingehend dazu Wegner, Krieg. Zum Problem der „Kriegswende" im Osten siehe auch ders., Grundzüge, S. 166 ff. Zur „Septemberkrise" 1942 siehe ders., Krieg, S. 9 5 1 - 9 6 1 . Zit. n. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, A , 47, S. 6 3 3 - A (8. 7. 1943). Ediert v o n Förster, Überlegungen. Vgl. die diesbezügliche Analyse von Wegner, Globaler Krieg, S. 101 ff.
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der in Bezug auf Hitler und seine engsten Berater gern behaupteten selektiven Wahrnehmung der Kriegsrealität kann dabei gar keine Rede sein; die durch die angelsächsische Landung in Nordafrika und die sowjetische Stalingrad-Offensive entstandene neue Lage wird nämlich durchaus erkannt und in ihren strategischen Entwicklungsmöglichkeiten für die Alliierten grundsätzlich, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, realistisch eingeschätzt. Die professionelle Unseriösität der Denkschrift besteht vielmehr in ihrer Weigerung, die absehbaren Konsequenzen daraus anzuerkennen. So etwa hatte Alfred Jodl, ganz offenbar in der Absicht, einer allzu realistischen Beurteilung der deutschen Möglichkeiten durch seinen Stab vorzubeugen, von vornherein sogenannte „Leitsätze" ausgegeben. Bezeichnend ist deren normativer Charakter, der geeignet war, das Ergebnis der Denkschrift in wesentlichen Teilen vorwegzunehmen: „Nordafrika muß als Vorfeld von Europa unbedingt gehalten werden"; im Hinblick auf eine mögliche angelsächsische Landung müsse „der Balkan befriedet und gesichert werden"; „im Osten müssen endlich feste Formen geschaffen werden, um im nächsten Frühjahr wenigstens an einer Stelle zur Offensive übergehen zu können" 1 0 . Die Frage, wie all dies zu erreichen sei, wurde in der Denkschrift selbst dann mit wenigen pauschalen Hinweisen und Vorschlägen abgetan. Geradezu bizarr nimmt sich zu einem Zeitpunkt, da das Schicksal der 6. Armee bei Stalingrad für Eingeweihte als besiegelt und der Rückzug der Heeresgruppe A aus dem Kaukasus als unvermeidlich gelten durften, die Forderung aus, „in einem möglichst frühen Zeitpunkt die Offensive im Osten mit dem Ziel Mittlerer Orient wieder aufzunehmen"; sie sei, wie es hieß, „neben der fortgesetzten Wirkung des U-Boot-Krieges nach wie vor der Schlüssel zu einer siegreichen Beendigung des Krieges" 1 1 . Angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse waren derartige Forderungen, zu denen - natürlich! - auch die Einnahme Leningrads gehörte, völlig illusorisch: Allein, was die Entwicklung der - von Hitler als kriegsentscheidend angesehenen 12 - Menschenreserven angeht, hatte „Fremde Heere O s t " seine Berechnungen seit Herbst 1942 zugunsten der Roten Armee wesentlich korrigieren müssen und kam im Spätsommer 1943 gar zu dem niederschmetternden Ergebnis, daß der Sowjetunion im Vergleich zum Deutschen Reich in den kommenden Monaten annähernd das Siebenfache (!) an personellen Reserven zur Verfügung stehe 13 . Auch andernorts mehrten sich die skeptischen Stimmen. So hatte der Chef der Quartiermeisterabteilung im Wehrmachtführungsstab, Oberst Werner von Tippelskirch, schon Wochen vor den großen Feindoffensiven in Nordafrika und an der Volga bemerkenswert freimütig darauf hingewiesen, daß man „langsam an 10 11 12
13
Zit. n. Förster, Überlegungen, Einführung, S. 95. (Hervorhebungen nachträglich). Ebd., S. 104 f. Vgl. etwa seine Äußerung vom 20. 8. 1942: „Die Kriegsgeschichte zeigt kein Beispiel, w o . . . letztlich der Sieg bei der kleinen Zahl war. Friedrich der Große hatte immer das Glück, daß wir uns durch Europa so durchmogelten", zit. n. Jochmann (Hrsg.), Hitler, S. 354. N a c h Berechnungen der Abteilung v o m 1 . 9 . 1943 ergab sich für den 1 . 3 . 1943 eine „Wehrtaugliche Menschenreserve" von 3,4 Millionen für die Sowjetunion gegenüber 0,5 Millionen für das Deutsche Reich; Fremde Heere O s t (Ia), „Bisherige Entwicklung des deutsch-sowjetischen Kräfteverhältnisses seit Kriegsbeginn und seine mögliche Weiterentwicklung bis Ende 1 9 4 3 " , Anlage 1 und 2 vom 17. 10. 1943, B A - M A , R H 2 / 2 5 6 6 . Vgl. auch Wegner, Ende, S. 217 (Tab. 3).
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einem Wendepunkt des Krieges" angelangt sei, und die Möglichkeit einer neuerlichen entscheidungssuchenden Offensive im Osten bezweifelt 14 ; andere Experten rechneten schon bald nach der alliierten Landung mit dem Verlust Nordafrikas, ja dem Ausfall des gesamten Mittelmeerraumes für die deutsche Kriegführung 15 . Wenn der WFSt sich in seiner erwähnten Denkschrift mit derartigen Auffassungen nicht einmal auseinandersetzte, sondern ungeachtet der grundsätzlich veränderten Lage die Erreichung der schon im Vorjahr angepeilten Operationsziele forderte, so war dies nur die verzweifelte Konsequenz aus der grundsätzlich richtigen Einsicht, daß „nur mit der Erhaltung des bisher gewonnenen [...] der Krieg nicht zu einem siegreichen Ende [zu] führen" sei16. Solange man am Dogma des „Endsieges" festhielt, war man folglich, und sei es nur verbal, zu einer - wie auch immer gearteten - offensiven Kriegführung verurteilt. Tatsächlich bestand nach den verheerenden deutschen Niederlagen im Kaukasus und bei Stalingrad zwischen Hitler, der Wehrmacht- und der Heeresführung weitestgehend Einvernehmen darüber, daß an eine - nach „Barbarossa" und „Blau" - dritte strategische Offensivoperation nicht mehr zu denken sei. So hatte Hitler bereits anläßlich seines ersten Besuchs im Hauptquartier der Heeresgruppe „Süd" in Zaporoz'e am 18. Februar 1943 (wie später noch mehrfach) bekannt, daß er im neuen Jahr „keine großen Operationen machen", sondern „nur kleine Haken schlagen" wolle 17 . Die für den Diktator zweifellos bittere Einsicht in die Unausweichlichkeit einer im Großen defensiven Kriegführung verband sich bei ihm allerdings keineswegs mit der Bereitschaft zu einem großräumigen Rückzug im Osten, wie er von einigen Generalen - insbesondere von Erich v. Manstein - energisch gefordert wurde. Eine bewegliche Operationsführung oder gar ein definitiver Rückzug auf operativ günstiger zu verteidigende Stellungen verboten sich ihm nicht nur aus seinen bekannten psychologischen Vorbehalten und Prestigeerwägungen, sondern primär aus kriegswirtschaftlichen Gründen. Eine auch nur zeitweise Aufgabe des Donec-Beckens, aus dem die Sowjetunion ein Viertel ihres Stahls bezogen habe, würde den Feind materiell stärken und überdies, wie ihm Albert Speer und Paul Pleiger erklärt hatten, die eigene Rüstung aufs Schwerste gefährden 18 . Es kennzeichnet die Beziehung zwischen Hitler und der großen Mehrheit seiner militärischen Berater, daß letztere - wie schon 1941 und 1942 - für derartige strategische Gedankengänge keinerlei Verständnis hatten, sondern die Haltung des Diktators allein seiner Starrköpfigkeit, seiner militärischen Unprofessionalität und einer daraus erwachsenen operativen Risikoscheu zuschrieben 19 . Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, daß die Lageeinschätzung Hitlers, derzufolge ein dritter Ostfeldzug kriegswirtschaftlich nicht zu vertreten
14 15 16 17 18
19
Wehrmachtführungsstab/Qu. 551692/42 g. K. Chefs vom 4. 1. 1942, B A - M A , IIW 51/2. Vgl. Hill (Hrsg.), Weizsäcker, 2, S. 306 (9. 11. 1942). Förster, Überlegungen, S. 104. Zit. n. Schwarz, Stabilisierung, S. 255 (Anl. C l ) . Ein Verlust allein der Manganerzvorkommen von N i k o p o l würde, so warnte Hitler seine Generale, „das Ende des Krieges bedeuten"; Heeresgruppe Süd (Ia), Kriegstagebuch vom 11.3. 1943, B A - M A , R H 19 VI/41, S. 1091 f./Rückseiten. So etwa Manstein, Siege, S. 308 ff.
Defensive ohne Strategie. Die Wehrmacht und das Jahr 1943
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sei, jede strategische Initiative auf dem östlichen Kriegsschauplatz blockierte. „Zitadelle", die deutsche Offensive gegen den Kursker Frontbogen, sollte diese Blockade aufbrechen. Entgegen dem Eindruck, den die äußeren Dimensionen dieses vom Mythos der „größten Panzerschlacht der Geschichte" umwehten Ereignisses später erweckten, handelte es sich bei „Zitadelle" mithin nicht um ein den Unternehmen „Barbarossa" oder „Blau" vergleichbares Unterfangen20. Nicht um die strategische Entscheidung des Krieges im Osten sollte es gehen, sondern, wie Hitler selbst formulierte, um eine „beschränkte Offensive" 21 von rein operativer Bedeutung; ihr wesentliches Ziel war es, zu einer den knappen eigenen Reserven angemessenen Frontstellung zu kommen, ohne die Initiative völlig aus der Hand zu geben. Wie sehr Hitlers strategisches Interesse sich bereits während der Planung des Unternehmens „Zitadelle" vom Osten abgewandt hatte, zeigt auch eine von der Forschung bislang kaum beachtete Lagebesprechung vom 15. Mai, deren Kenntnis wir einem handschriftlichen Brief von Kapitän z. S. Wolf Junge an Großadmiral Dönitz22 verdanken. Den Fall von Tunis vor Augen, betonte Hitler danach seine Entschlossenheit, den Schwerpunkt seiner Kriegsanstrengungen im Zweifelsfall eher auf die Verhinderung einer zweiten Front in Süd- bzw. Westeuropa zu verlegen, statt auf eine Offensive im Osten; es sei gut, dort noch nicht zum Angriff angetreten zu sein und die notwendigen Kräfte im Falle einer Gefährdung Italiens verfügbar zu haben: „Europa muß im Vorfeld verteidigt werden. Es darf keine Front an den Grenzen des Reiches entstehen." Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen erscheint Hitlers Zögern, die große Schlacht um den Kursker-Bogen zu beginnen, weniger als Folge seines „Technikwahns", der ihn zu übertriebenen Hoffnungen hinsichtlich des Einsatzes neuer, tatsächlich aber noch nicht frontreifer Panzertypen verleitete23, denn als Ausfluß strategischer Sorgen um die sich aus dem Verlust Nordafrikas ergebenden Weiterungen und einen drohenden Abfall Italiens. Konsequenterweise war es denn auch die alliierte Landung in Sizilien, die den Diktator zum Abbruch von „Zitadelle" bewog, kaum daß die Schlacht begonnen hatte. Die erst mit der Führerweisung Nr. 51 Anfang November 1943 definitiv verfügte Rückverlagerung des Schwerpunktes der deutschen Kriegsanstrengungen von der Ost- an die West- bzw. Südfront der „Festung Europa"24 - die hinsichtlich der militärischen Kriegführung einzige Weisung des Jahres von strategischer Bedeutung! hatte mithin weit zurückreichende Wurzeln. Sie läßt sich nicht allein aus den deutschen Rückschlägen der Sommer- und Herbstmonate erklären, sondern 20
21 22
23 24
Der „Führer" sei entschlossen, so notierte ζ. B. Goebbels noch zehn Tage v o r Beginn des Angriffs, an der O s t f r o n t „im großen und ganzen weiter zu verharren. Er will in den nächsten W o c h e n einige wesentliche Korrekturen vornehmen und den Bolschewisten ein paar Schläge versetzen, die sie einige Armeen, um nicht zu sagen eine Heeresgruppe Kosten werden". Goebbels, Tagebücher, II, 8, S. 531 (25. 6 . 1 9 4 3 ) . Zit. n. ebd., S. 225 (7. 5. 1943). Vgl. - auch zum folgenden Zitat - privatdienstliches Schreiben Kpt. z. S. Junges an G r o ß admiral Dönitz vom 15. 5. 1943 über den Inhalt der „Führerlage" vom selbigen Tage, B A - M A , R M 7/260. Im gleichen Sinne siehe auch Hitlers Besprechung mit Keitel am 19. 5. 1943, abgedr. in: Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 2 0 5 - 2 1 2 . So Frieser, Nachhand, S. 110, 112. Abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 2 3 3 - 2 3 8 (Dok. 51).
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entsprach einer schon im Frühjahr 1943 nachweisbaren strategischen Präferenz Hitlers, der nach dem Scheitern seiner strategischen Planungen im Kaukasus und an der Volga nicht mehr daran glaubte, einen Sieg gegen die Sowjetunion aus eigener Kraft erzwingen zu können. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden von einer „strategetischen Defensive" des Deutschen Reiches nicht im Sinne einer auf eine siegreiche Kriegsbeendigung abzielenden strategischen Konzeption 25 , sondern nur insoweit zu reden sein, als es sich um die Beschreibung einer für die Wehrmacht notgedrungen bestehenden Gesamtlage handelt.
II. Ausbau und Sicherung der schon im zeitgenössischen Sprachgebrauch als „Festung Europa" bezeichneten strategischen Defensivstellung des Reiches sollten, so läßt sich unsere zweite grundsätzliche Feststellung zum Thema zusammenfassen, zum dominierenden Ziel aller deutschen Kriegsanstrengungen im Jahre 1943 werden. In diesem Zusammenhang hatte die Seekriegsleitung schon im Herbst 1942 von einer „europäischen Igelstellung" gesprochen, die es beschleunigt auszubauen gelte, und vor der Gefahr einer „strategischen Einkreisung" des deutschen Machtbereiches gewarnt, in der man eine Fortsetzung bereits vor dem Kriege unternommener, dann durch die militärischen Erfolge der Wehrmacht 1939/40 zunichte gemachter Einkreisungsversuche durch die Feindmächte zu erkennen glaubte 26 . Mit dieser Umdeutung des deutschen Angriffskrieges in einen kontinentaleuropäischen Abwehrkampf war die gedankliche Grundlage für eine defensive, allein auf Zeitgewinn bedachte Form der Kriegführung gelegt, die freilich erst nach den schockierenden Erfahrungen der alliierten Landung in Nordafrika und des Stalingrader Desasters zum strategischen Prinzip werden sollte. Einige Zahlen mögen einen Eindruck von der Dimension der Probleme vermitteln, die sich mit dem Anspruch einer Verteidigung der „Festung Europa" verbanden; sie beruhen auf Berechnungen vom Oktober 1943, einem Zeitpunkt also, als der von Deutschland beherrschte Verteidigungsraum durch den Verlust Nordafrikas, den alliierten Vormarsch in Italien und die neuerlichen Rückschläge an der Ostfront bereits erheblich zusammengeschmolzen war. Die nachstehende Tabelle veranschaulicht die Länge der zu diesem Zeitpunkt ggfs. noch zu verteidigenden Front- bzw. Küstenabschnitte sowie den Umfang der hierfür verfügbaren Kräfte 27 .
25
26
27
„Strategische Defensive" als Teil einer - auf einen langen, erst in der letzten Phase offensiv zu beendenden Krieg hin konzipierten - Gesamtstrategie hat es im Zweiten Weltkrieg durchaus gegeben; das bekannteste Beispiel hierfür bietet die französische Strategie von 1939. Vgl. Young, Command. Vgl. Lagebetrachtung der Seekriegsleitung vom 20. 9. 1942: Welche militärischen Forderungen ergeben sich aus der gegenwärtigen Lage?, B A - M A , R M 7/259, S. 43; ferner die Denkschrift v o m 20. 10. 1942, abgedr. bei Salewski, Seekriegsleitung, 3. Die Zahlen in der rechten Spalte der Tabelle sind naturgemäß fiktiv und lediglich dazu bestimmt, einen Eindruck v o n der jeweiligen Kräfteverdichtung zu vermitteln.
Defensive ohne Strategie. Die Wehrmacht und das Jahr 1943
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Die „Festung Europa" (Stand: Oktober 1943) 2 8 Front- bzw. Küstenabschnitt
Länge in Km
Ostfront
2100
Finnland Norwegen
1400
Dänemark Westeuropa Italien Südosteuropa·"* Insgesamt
2500 700 2600 1 750*
verfügbare Kräfte
Relation Mann pro Km
3900000 180000
1860
315000 110000 1370 000 330000
130 130 160 530
4200
610000
190 145
15250
6 8 1 5 000
450
*) davon 150 km kämpfende F r o n t ; 'i!:") einschl. Kreta und Rhodos.
Unsere Tabelle läßt zum einen die - wie nicht anders zu erwarten - dominierende Rolle der Ostfront sowohl im Hinblick auf die absoluten Stärkezahlen als auch bezüglich der relativen Kräfteverdichtung erkennen. Sie verrät aber auch, daß es der deutschen Führung 1943 weniger als in den beiden Vorjahren möglich war, den Schwerpunkt ihrer Kriegsanstrengungen ganz auf die Ostfront zu konzentrieren. Dort, wo sich, gemessen an den Verlustzahlen, noch immer rd. 90 Prozent aller Kämpfe abspielten 29 , waren „nur" 57 Prozent der deutschen Streitkräfte disloziert (3,9 von 6,8 Millionen Mann). Was sich hier zeigt, ist die strategische Realität jener „Zweiten Front", die sich operativ erst im folgenden Jahr auf den Schlachtfeldern der Normandie etablieren sollte. Die Erwartung der Ereignisse allein erzwang mithin eine Verzettelung der deutschen Kräfte, die diese gegenüber der Roten Armee, die ihre Truppen fast ausschließlich auf die Front gegen Deutschland konzentrieren konnte, in eine noch größere Unterlegenheit als ohnehin schon geraten ließ. Uber das Ausmaß dieser Unterlegenheit auf dem für die Wehrmacht auch 1943 noch immer wichtigsten Kriegsschauplatz gab man sich in der deutschen Führung, anders als noch im Vorjahr, keinen Illusionen mehr hin. So weist eine von der Abteilung Fremde Heere Ost vorgelegte Kräftegegenüberstellung hinsichtlich der frontnah eingesetzten Verbände im Osten für den Oktober 1943 bezüglich Kopfstärken, Panzer- und Artilleriezahlen eine Überlegenheit der Roten Armee um rund das Doppelte aus; zudem war bekannt, daß der sowjetische Gegner im Gegensatz zur Wehrmacht über tief hinter der Front gestaffelte Reserven erheblichen Umfangs verfügte, die seine Überlegenheit vor allem bei der 28
29
Berechnungsgrundlage: Materialien zum Vortrag des Chefs des Wehrmachtführungsstabes vom 7. 11. 1943, K T B O K W , IV, S. 1534 ff. Den Angaben des Heeresarztes beim O K H zufolge beliefen sich die sog. „blutigen Verluste" des Feldheeres (Gefallene, Verwundete, Vermißte) in der Zeit vom 22. 6. 1941 bis zum 31. 5. 1944, also v o m Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion bis zum Vorabend der Invasion in der Normandie, auf insgesamt 4,48 Millionen Mann, wovon rd. 92 % (4,12 Mill.) auf die Ostfront entfielen; „Personelle blutige Verluste des Feldheeres. Berichtigte Meldung für die Zeit vom 1. 6. 1944 bis 10. 1. 1 9 4 5 " , B A - M A , R W 6/v.560.
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Panzerwaffe um ein Mehrfaches vergrößerten 30 . Zugleich hatten die den deutschen Ostverbänden zugewiesenen Frontbreiten, wie ein Vergleich zum Ersten Weltkrieg zeigt, alarmierende Ausmaße angenommen: Hatten die durchschnittlichen Divisionsabschnitte 1917 und 1918 an der Westfront bei rund vier Kilometern gelegen, so betrugen sie an der Ostfront im Sommer 1943 rund das Vierfache 31 . Abschnittsbreiten, die noch im Ersten Weltkrieg von einer Division verteidigt worden waren, wurden bald nur noch von einem Bataillon gehalten 32 . Das Gesamtbild zeige, wie Gehlens Abteilung im Oktober zusammenfassend urteilte, „daß der sowjetrussische Gegner auch in Zukunft Deutschland auf personellem, materiellem und propagandistischem Gebiet überlegen sein wird. [...] Ein Erlahmen des Gegners zu erwarten, hieße, sich fahrlässig einer falschen Beurteilung hingeben. Sowjetrußland ist mit Sicherheit zu einer starken Winteroffensive in der Lage, die hinsichtlich des zahlenmäßigen Einsatzes von Menschen und Material der des Sommers nicht nachstehen wird" 3 3 . Dies war nichts anderes als die verklausulierte Ankündigung weiterer im Osten zu erwartender deutscher Rückschläge für den Fall, daß die personelle und materielle Basis der deutschen Kriegführung nicht kurzfristig wesentlich verbessert werden könnte. Genau dazu aber sah sich die Führung des Reiches aus hier nicht näher zu erörternden Gründen außerstande. Der lautstarken Proklamation des „totalen Krieges" zum Trotz hatten sich die Bemühungen um eine an den Bedürfnissen der Front orientierte „Menschenbewirtschaftung" mehr oder minder als Fehlschlag erwiesen 34 ; die Anstrengungen zur Steigerung der Rüstungsproduktion waren zwar im Vergleich dazu erfolgreicher, änderten aber gleichfalls nichts an der hoffnungslosen Unterlegenheit des Reiches im Rüstungswettlauf mit den Alliierten 35 . Es besteht kein Zweifel, daß man sich in den zuständigen Wehrmacht- und Heeresdienststellen, insbesondere bei den Abteilungen „Fremde Heere O s t " und im Wehrwirtschaftsamt, schon im Frühjahr 1943 der für die deutschen Kriegsaussichten fatalen Dimension dieses Kräfteungleichgewichtes voll bewußt war, auch wenn die Beurteilung der gegnerischen Leistungsfähigkeit im Einzelfall noch immer zu einer Unterschätzung tendieren mochte 36 . In einer nach professionellen Grundsätzen funktionierenden Wehrmachtführung hätte 30
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36
Geschätzt wurde ein Gesamtbestand von 8400 sowjetischen gegenüber 2 3 0 0 deutschen Panzern (einschl. Sturmgeschützen); von letzteren war zudem nur ein Bruchteil (ca.700) einsatzbereit; Fremde Heere O s t , Kräftegegenüberstellung. Stand: 14. 10. 1943, B A - M A , R H 2/2598. Vgl. undatierte Statistik ohne Bezug, handschrifl. Vermerk: „August 4 3 " , B A - M A , R H 2/2598. Vgl. Lagekarte O K H / G e n S t d H / O p . ( I ) , Kräftegegenüberstellung Ostfront am 13. 1. 1944, B A - M A , R H 2 / 1 8 9 7 K . Fremde Heere O s t (Ia), „Bisherige Entwicklung des deutsch-sowjetischen Kräfteverhältnisses seit Kriegsbeginn und seine mögliche Weiterentwicklung bis Ende 1943", Anlage 1 und 2 vom 17. 10. 1943, B A - M A , R H 2 / 2 5 6 6 , S. 18f. (Hervorhebung im Original). Vgl. eingehender dazu Kroener, Volk. Vgl. Harrison, Resource; ferner - mit Bezug auf dessen Ergebnisse - Wegner, Ende, S. 215 (Tab. 2); sowie zuletzt, wenngleich mit anderen Schlußfolgerungen, Overy, Allies, hier vor allem S. 331 f. (Appendix). Dies, wie es scheint, insbesondere hinsichtlich der sowjetischen Flugzeugproduktion.
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diese Erkenntnis eigentlich zur Einsicht in die Ausweglosigkeit des Krieges und damit zu ähnlichen Reaktionen führen müssen, wie sie das Joint Intelligence Sub-Committee in seinem eingangs zitierten Bericht unter Verweis auf die Erfahrungen von 1918 prognostiziert hatte 37 . Tatsächlich läßt kein einziges uns bekanntes offizielles Dokument der Heeresoder Wehrmachtführung eine derartige Schlußfolgerung erkennen. Um sie zu vermeiden, flüchtete man sich nun vielmehr verstärkt in ideologisch konforme Wunschvorstellungen oder gar rein propagandistische Vertröstungsfloskeln. So etwa hatte schon Reinhard Gehlen in seiner erwähnten Denkschrift vom Oktober 1943 seiner an sich eindeutigen Analyse der wechselseitigen Kräfteverhältnisse an der Ostfront die Schärfe genommen, indem er zugunsten der Wehrmacht auf deren „höheres Führungskönnen und den größeren Wert des Einzelkämpfers" verwies 38 . Zwar sei es dem Feind gelungen, „Grundsätze und Gedanken seines deutschen Vorbildes weitgehend zu übernehmen", doch dürfe nicht übersehen werden, „daß es sich letzten Endes doch nur um Nachahmungen handelt, die trotz zeitweiliger großer Erfolge nie die ausgereifte Höhe der in Jahrhunderten planvoll entwickelten und vererbten deutschen Führungskunst erreichen werden" 39 . Knüpften solch gönnerhafte Bemerkungen immerhin an ein in Wehrmachtkreisen noch ausgeprägtes, wenn auch zunehmend fragwürdiges professionelles Selbstverständnis an, so verraten andere Dokumente eine in früheren Kriegsjahren unbekannte Bereitschaft zur Realitätsverdrängung. Das in dieser Hinsicht vielleicht erschütterndste Beispiel aus dem Jahre 1943 stellte jener große Vortrag dar, den der Chef des Wehrmachtführungsstabes am 7. November vor den Reichs- und Gauleitern hielt 40 . Nicht zufällig wird auch hier gleich eingangs an den November 1918 erinnert, als Deutschland „nicht an der Front, sondern in der Heimat zerbrochen" sei. Die ausgesprochen düstere Darstellung, die Alfred Jodl anschließend von der militärischen Gesamtlage gab, hätte kritische Zuhörer freilich durchaus zu dem Schluß kommen lassen können, daß es sich diesmal wohl gerade umgekehrt verhalte, es also um die Front beängstigend bestellt sein mußte. Jedenfalls wußte Jodl seinem Auditorium nicht eine einzige strategisch begründete Perspektive für die Bewältigung der von ihm dargelegten Krise aufzuzeigen, sondern verwies statt dessen auf die überlegene „ethische und moralische Grundlage unseres Kampfes", und verstieg sich abschließend zu folgendem - vage an Carl v. Clausewitz orientierten - Bekenntnis 41 :
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War Cabinet/Joint Intelligence Sub-Commitee, „Probabilities of a German Collapse", J.I.C. (43) 367 Final vom 9. 9. 1943, S. 3/Ziff. 1, National Archives, Washington, D.C.: ABC 381 Germany, 29. Jan. 43, Sec. 1-A. Fremde Heere Ost (la), „Bisherige Entwicklung des deutsch-sowjetischen Kräfteverhältnisses seit Kriegsbeginn und seine mögliche Weiterentwicklung bis Ende 1943", Anlage 1 und 2 vom 17. 10. 1943, BA-MA, RH 2/2566, S. 18. Ebd., S. 12. Vertragsunterlagen für Generaloberst Jodl, Die strategische Lage am Anfang des fünften Kriegsjahres, 7. 11. 1943, BA-MA, R W 4/V.38, hier zit. n. KTB O K W , IV, S. 1534-1562. Ebd., S. 1562.
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„Ich möchte in dieser Stunde nicht mit dem Munde, sondern aus tiefstem Herzen bekennen, daß unser Vertrauen und unser Glaube an den Führer ein grenzenloser ist, daß es für uns kein höheres Gesetz gibt und keine heiligere Pflicht, als bis zum letzten Atemzuge für die Freiheit unseres Volkes zu kämpfen, daß wir alles Weiche und Pflichtvergessene abstoßen wollen, daß uns alle Drohungen unserer Gegner nur noch härter und entschlossener machen werden, daß wir uns keiner feigen Hoffung hingeben, als könnten uns andere vor dem Bolschewismus retten, der alles hinwegfegen wird, wenn Deutschland fällt, daß wir selbst die Trümmer unserer Heimat bis zur letzten Patrone verteidigen würden, weil es in ihnen tausendmal besser zu leben ist als in der Knechtschaft, daß wir siegen werden, weil wir siegen müssen, denn sonst hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren." Selbst unter Berücksichtigung der psychologischen und redetaktischen Gesichtspunkte, unter denen der Chef des Wehrmachtführungsstabes den Schluß seines Vortrages formuliert haben dürfte42, illustriert sein hier zitiertes, sich als Schlußfolgerung scharf von der vorangehenden Lageanalyse abhebendes Bekenntnis, wie weit der Prozeß militärischer Entprofessionalisierung im Umfeld des deutschen Diktators gediehen war. Eine militärische Gesamtverantwortung, wie sie in der Tradition der großen Generalstabschefs seit Moltke stets beansprucht und, mit welchem Ergebnis auch immer, wahrgenommen worden war, wollte und sollte 1943 kein Offizier mehr tragen.
III. Aus vorstehenden Ausführungen ergibt sich eine dritte These: Im Unterschied zur Obersten Heersleitung, die sich im Spätsommer des Jahres 1918 zur Einsicht in die drohende militärische Niederlage durchrang und, als Konsequenz daraus, einen sofortigen Waffenstillstand forderte43, war die Wehrmacht- bzw. Heeresführung trotz eigener starker Zweifel an der Gewinnbarkeit des Krieges weder 1943 noch später zu einem vergleichbaren Schritt bereit oder in der Lage. Statt dessen verlegte man sich auf eine Kriegführung des „als ob"; d.h. auf strategischer und zunehmend auch auf operativer Ebene wurde - ungeachtet gegenteiliger Lageanalysen - durchgehend so agiert, als ob die Entscheidung noch nicht gefallen und der Krieg noch gewinnbar sei. Dieses eigentümlich unprofessionelle Verhalten jener, die um die Aussichtslosigkeit der Lage am ehesten wissen mußten (und oft genug wußten)44, hat mit der in diesem Zusamenhang gern zitierten „unconditional surrender"-Forde-
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Vgl. dazu auch die Hinweise des Herausgebers Schramm des K T B O K W , 4, S. 1712 f. Vgl. Kitchen, Dictatorship, S. 2 4 7 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Krechel, Bewertung. Danach sah - zumindest rückblickend - die überwiegende Zahl der sich zu dieser Frage äußernden Generale das Jahresende 1942 als jenen Zeitpunkt an, ab dem die deutsche Niederlage absehbar war; S. 46.
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rung der Alliierten, nur wenig zu tun45. Zwar hätte diese für dit p o l i t i s c h e Beendigung des Krieges, wäre eine solche denn angestrebt worden, ein psychologisches, vielleicht sogar ein reales Hindernis dargestellt; sie erklärt jedoch nicht, warum eine derartige Option vom Wehrmachtführungsstab oder den Generalstäben der Wehrmachtteile gar nicht erst an den Diktator herangetragen und im Rahmen der täglichen „Führerlagen" erörtert wurde, obgleich nicht wenige Generale - so etwa Erhard Milch und Fritz Fromm, Erich Fellgiebel und Wilhelm Canaris, Gerd v. Rundstedt und Erwin Rommel - mit einer derartigen Verhandlungslösung offenkundig sympathisierten46. Der Grund für diese befremdliche Zurückhaltung verweist auf einen Umstand, der keine Besonderheit des Jahres 1943 darstellt, vielmehr das Ergebnis einer mindestens zehnjährigen Entwicklung war, in der zweiten Kriegshälfte aber seine fatalsten Folgen zeitigte: Die Liquidierung einer einheitlichen und im Rahmen ihrer professionellen Zuständigkeiten eigenverantwortlichen Wehrmachtführung. Dieser Prozeß einer schrittweisen „militärischen Machtergreifung" Hitlers 47 , in dessen Verlauf der Diktator zunächst zum Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, später auch zum Oberbefehlshaber des Heeres avancierte, zeitweise sogar den Oberbefehl über eine einzelne Heeresgruppe ausübte48, und den Wehrmachtführungsstab zunehmend auf die Funktion eines persönlichen Büros reduzierte, begünstigte eine Parzellierung der militärischen Zuständigkeitsbereiche und die Monopolisierung der strategischen Gesamtverantwortung bei der Person des „Führers". Nicht ohne Grund konnte Hitler darum 1943 auf die Beseitigung einer eigenständigen Wehrmachtführung als herausragende Errungenschaft und „wesentliche Erleichterung" der Führerdiktatur verweisen49. Militärische Persönlichkeiten wie vor allem Ludwig Beck 50 oder - mit Einschränkung - auch Franz Halder 51 , die am traditionellen Mitspracherecht des „Großen Generalstabs" über Grundsatzfragen von Krieg und Frieden festzuhalten versucht hatten, waren dieser Entwicklung längst zum Opfer gefallen. Je länger der Krieg dauere, desto geringer werde seine Meinung von den Generälen, notierte sich am 20. April 1943, dem Tage von Hitlers 54. Geburtstag, einer der hellsichtigsten Köpfe des nationalkonservativen Widerstandes:
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Laut Warlimont, Im Hauptquartier, S. 333, blieb die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation „im deutschen Hauptquartier nach aller Erinnerung damals so gut wie unbeachtet." Einem Tagebucheintrag Ulrich v. Hassells, 14. 2. 1943, zufolge „gehen nun endlich auch Generälen die Augen auf, so daß sie erkennen, wohin die Wehrmacht gebracht worden ist und Deutschland im Begriffe steht gebracht zu werden"; Hiller v. Gaertringen (Hrsg.), Hassell-Tagebücher, S. 347. Ausdruck nach Stumpf, Wehrmacht-Elite, S. 303. Nach der Entlassung Generalfeldmarschall Lists im September 1942 ubernahm Hitler zeitweise die Führung der Heeresgruppe „ A " . Aktenvermerk des Sekretärs des Reichsführers-SS, Dr. Rudolf Brandt, über eine Bemerkung Hitlers gegenüber Himmler vom 7. 9.1943, National Archives, Washington, Mikrofilmserie T-175/ Rolle 88/ Bild 1418. Vgl. Müller, General. Vgl. Hartmann, Halder.
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„Sie haben wohl technisches Können und physischen Mut, aber wenig Zivilcourage, gar keinen Uberblick oder Weltblick und keinerlei innere, auf wirklicher Kultur beruhende geistige Selbständigkeit und Widerstandskraft, daher sind sie einem Manne wie Hitler völlig unterlegen und ausgeliefert"52.
IV. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Der in jeder Hinsicht hoffnungslose Zustand der deutschen Wehrmacht im Kriegsjahr 1943 war das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren; deren wichigste sich zu vier Ursachenkomplexen bündeln lassen, die nicht für sich genommen, wohl aber in ihrem Zusammenwirken eine Fortsetzung des Krieges für die deutsche Seite nach menschlichem Ermessen aussichtslos machten: 1) Die hochgradig asymmetrische Verteilung der menschlichen und materiellen Ressourcen zwischen den Lagern der Achsenmächte auf der einen und der Alliierten auf der anderen Seite53. 2) Die seit 1943 charakteristische Vernetzung der Kriegsschauplätze in Ost-, West- und Südeuropa, die - ähnlich wie die Zwickmühle beim „Mühlespiel" - quantitatives Ungleichgewicht in eine qualitative Ungleichheit der Chancen verwandelte, indem sie die unterlegene Seite ihres Handlungsspielraumes beraubte. 3) Die für eine strategische Kriegführung völlig inadäquate Führungsstruktur des „Dritten Reiches". Das spezifisch nationalsozialistische „Führerprinzip" hätte für einfach strukturierte Stammesfehden vielleicht eine angemessene Organisationsform sein mögen, nicht aber für die gesamtgesellschaftlichen Führungserfordernisse eines hochindustrialisierten Krieges. Allein die effektive Koordination der militärischen Kriegführung überforderte, wie seit 1941 erkennbar wurde, die Entscheidungskompetenz eines Einzelnen; die aus Gründen der inneren Systemstabilität erfolgte Zerschlagung einer autonomen militärischen Spitzenorganisation erwies sich von daher als ein höchst zweischneidiges Schwert. 4) Die für das Regime typischen ideologischen Blockaden, die in Gestalt bestimmter Dogmen bzw. Tabus nicht nur die politische Handlungsfreiheit (ζ. B. in der Besatzungspolitik oder in der Sonderfriedensfrage) einschränkten, sondern auch die professionelle militärische Lagebeurteilung und operative Planungen (ζ. B. von Rückzügen) nachhaltig behinderten. Zumindest über die zwei erstgenannten Umstände gab man sich in führenden Wehrmacht- und Heereskreisen 1943 kaum noch Illusionen hin, und auch die beiden letztgenannten boten Anlaß zu dauerhafter Sorge (wenngleich ihre fatalen Auswirkungen nicht immer in ganzer Schärfe erkannt wurden). Daß man dessen ungeachtet an einer Fortführung des Krieges festhielt, ja dessen fort52 53
Hiller v. Gaertringen (Hrsg.), Hassell-Tagebücher, S. 360 (20. 4. 1943). Vgl. auch die Behandlung dieses Aspekts durch Overy, Allies, der die - auch von uns behauptete - kriegsentscheidende Bedeutung der Ressourcenverteilung bestreitet, das Problem aber leider aus dem Kontext der übrigen von uns angedeuteten Verursachungsfaktoren entbindet.
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gesetzte Radikalisierung betrieb, läßt einen - nur eine Generation zuvor noch kaum vorstellbaren - Verfall professionellen Selbstverständnisses erkennen, der hier nur in einigen seiner Symptome angedeutet werden konnte. In der lebhaften öffentlichen Diskussion der letzten Jahre über die Streitkräfte im „Dritten Reich", die sich fast ausschließlich auf die Frage nach der Verantwortung der Militärs für die von der Wehrmacht selbst bzw. in ihrem Umfeld begangenen Massenverbrechen verengt hat, haben die „deformations professionnelles" auf dem ureigensten militärischen Betätigungsfeld, eben jenem der strategischen und operativen Kriegführung, obgleich sie Millionen Menschen das Leben kosteten, indes nur wenig Beachtung gefunden. Dies erscheint umso bedauerlicher, als die Frage, ob und ggf. in welcher Weise die Prozesse professioneller und moralischer Deformation miteinander zusammenhängen, zu den spannendsten einer künftigen Wehrmachtgeschichtsschreibung gehören dürfte.
Michael Salewski Die Abwehr der Invasion als Schlüssel zum „Endsieg" ?
Jedermann kennt die SD-Meldung vom 8. Juni 1944, in der es heißt: „Der Eintritt der Invasion wird allgemein als Erlösung aus einer unerträglichen Spannung und drückenden Ungewißheit empfunden . . . Die Nachricht vom Beginn der Invasion wurde teilweise mit großer Begeisterung aufgenommen" 1 . Das Volk jubelte, nicht etwa in der Erwartung, daß die Alliierten dem NaziSpuk nun ein rasches Ende bereiten würden, ganz im Gegenteil! Es gibt auch keinen Grund, dem Zeugnis Walter Warlimonts, des Chefs der Abteilung L im O K W / W F S t . , zu mißtrauen, der Hitlers Reaktionen am 7. Juni 1944 festhielt: „Mit einem völlig unbeschwerten Lächeln und in der Haltung eines Mannes, der endlich die langerwartete Gelegenheit zur Abrechnung mit seinem Gegner gefunden hat, näherte er sich den Karten und ließ dabei in einem ungewöhnlich starken österreichischen Dialekt zunächst nur die Worte fallen: ,Also, - anganga is' " 2 . Volk und Führung, so ließe sich vereinfacht und pauschal sagen, fühlten sich am Morgen des 6. Juni 1944 außerordentlich wohl, und schon die ersten Historiker, die sich mit dem Phänomen befaßten, hatten eine plausible Erklärung zur Hand: Das Volk war verführt, ihm sei kein reiner - militärischer - Wein eingeschenkt worden, Hitler aber - so meinte ja auch Warlimont - habe sich in der „Rolle des Schauspielers" gefallen, d.h.: Ignoranz und Verstellung hätten die Wertung des Tages bestimmt, in Wahrheit habe natürlich jedermann gewußt, daß der Krieg längst verloren, die Invasion nichts als eine Art Gnadenschuß für das „Dritte Reich" war. An dieser Version sind im Verlaufe der Jahrzehnte, die seit D - D a y vergangen sind, erhebliche Zweifel aufgetaucht. Dabei ist von der bereits angerissenen Deutung auszugehen, diese ist am weitesten verbreitet und hat in nahezu alle Gesamtdarstellungen des Krieges Eingang gefunden. Sie läßt sich in drei Thesen fassen. Die 1. These lautet: Die Wende des Zweiten Weltkrieges war mit dem Verlust der Schlacht um Stalingrad besiegelt. Zur Erläuterung: Hätten Stalingrad und die Südostfront stabilisiert werden können, so wäre es denkbar und möglich gewesen, die „Festung Europa" auf Dauer zu halten; Hitler selbst hatte während des Vormarsches immer wieder darauf verwiesen, daß die Gewinnung der kaukasischen Olfelder von kriegsentscheidender Bedeutung sei. Stalingrad konnte aber auch deswegen als „Kriegswende" begriffen werden, weil seitdem eine politische Option, also ein eventueller deutsch-sowjetischer Separatfrieden, nicht mehr gegeben war.
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Boberach (Hrsg.), Meldungen, S. 511. Warlimont, Hauptquartier, S. 457.
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Die 2. These lautet: Mit Stalingrad wurde lediglich breiten Bevölkerungsschichten zum ersten Mal bewußt, daß der Krieg verloren gehen könnte. Die Sportpalastrede Goebbels' vom 18. Februar 1943 läßt sich dann als verzweifelter Versuch der deutschen Führung deuten, die bis Stalingrad weit verbreitete Zuversicht auf einer anderen Basis wiederherzustellen. Zur Erläuterung: In Wirklichkeit haben weder Goebbels noch Hitler geglaubt, den Krieg noch siegreich beenden zu können. Der endgültige Verlust des Krieges aber ist nicht auf den Termin des Falls von Stalingrad zu legen, sondern schon auf den 7. bzw. 11. Dezember 1941, also den Zeitpunkt des Uberfalls auf Pearl Harbor, die deutsche Kriegserklärung an die USA und natürlich die Krise vor Moskau, mit der der „Weltblitzkrieg" definitiv gescheitert ist. „Kriegswende 1941": Unter diesem programmatischen Titel waren sich die Historiker eines 1981 in Stuttgart veranstalteten Symposiums einig 3 . Die 3. These lautet: Die Entscheidung des Krieges fiel mit der Invasion vom Juni 1944. Sie enthält implizit die Behauptung, daß weder der Dezember 1941 noch der Januar 1943 die entscheidenden Zäsuren darstellten, sondern der 6. Juni 1944 oder, genauer: der Tag des Durchbruches der Alliierten bei Avranches. In diesem Zusammenhang pflegt Rommels Schreiben an Hitler vom 15. Juli 1944 zitiert zu werden, in dem dieser Hitler auffordert, nunmehr die Konsequenzen aus der Lage zu ziehen, d. h. zu kapitulieren. Die Forschung hat dieses wie viele andere Dokumente immer nur vor dem Hintergrund der ersten bzw. zweiten These gedeutet, d. h.: Auch Rommel sei längst davon überzeugt gewesen, daß der Krieg verloren war. Er habe, wie alle anderen, nur schweigend seiner soldatischen Pflicht gehorcht, also eine Art Glasperlenspiel betrieben. Wäre dies richtig, so ergäbe sich daraus folgendes: Zumindest die in die tatsächliche Kriegslage eingeweihte höhere politische und militärische Führung des Reiches hätte seit Januar 1943, ja vielleicht sogar seit Dezember 1941 den Krieg nur noch als l'art pour l'art geführt, nicht mehr, um ihn zu gewinnen oder glimpflich zu beenden, sondern nur noch um, wie es Raeder und Dönitz direkt oder indirekt formulierten, kein zweites „1918" zu „verschulden". Das wiederum hieße: Die größten Zerstörungen und Opfer des Krieges auf deutscher und jüdischer - Seite wären von einer Führung billigend in Kauf genommen worden, die entgegen besseren Wissens einen Krieg fortführte, von dessen Verlust sie schon überzeugt war. Somit wären alle dafür Verantwortlichen Verbrecher, nicht nur die Angehörigen der Wehrmacht. Man muß diese These so weit zuspitzen, um die Brisanz zu ermessen, die in der Titelfrage tatsächlich steckt. Es kommt also darauf an zu klären, ob die dritte These mehr war als geradezu verbrecherische Propaganda. Die Invasion vom Juni 1944 bildete - im nachhinein gesehen - den Abschluß eines strategisch-politischen Prozesses, der unmittelbar nach dem deutschen Uberfall vom 22. Juni 1941 eingesetzt hatte. Praktisch vom ersten Tag des Ostfeldzuges an tauchte die Idee der „Zweiten Front" auf; die spontane „unheilige Allianz" zwischen England und der Sowjetunion war ja nichts anderes als ein
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Rohwer/Jäckel (Hrsg.), Kriegswende.
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Wechsel auf die Zukunft der 2. Front, und die nachfolgende Entwicklung zeigte, daß Stalin das genau so und in diesem Bündnis das Versprechen Churchills, später dann auch Roosevelts sah, ihn durch die Errichtung einer zweiten Front im Westen zu entlasten. Daß in den Jahren 1941 und 1942 Churchill mit dem Gedanken spielte, das Versprechen der zweiten Front in Anlehnung an die Weltkkriegserfahrungen vielleicht doch auf dem Balkan oder wo auch immer in der Peripherie des deutschen Kriegsreiches zu erfüllen, besaß niemals eine echte Chance, sondern führte nur zu den sattsam bekannten Querelen im alliierten Lager. Man braucht nicht zu wiederholen, wie es Stalin nach seinen ersten großen militärischen Erfolgen gelang, die Westalliierten auf den Westraum Europas als Operationsgebiet für die zweite Front festzulegen. Während die Idee der zweiten Front logischerweise im alliierten Lager erst auftauchen konnte, nachdem Hitler mit dem Angriff auf die U d S S R die „erste Front" eröffnet hatte, konnte dieser sie genauso logischerweise schon viel früher antizipieren, genauer: die Vorstellung einer zweiten Front spielte in Hitlers Gedankenwelt, die sich seit dem Juli 1940 mit „Barbarossa" beschäftigte, von dem Moment an eine wichtige Rolle, in dem mit einer Invasion Englands („Seelöwe") nicht mehr ernsthaft zu rechnen war - also seit Beginn des Jahres 1941. Merkwürdiger- oder bezeichnenderweise waren die Reaktionen der Wehrmacht auf Hitlers Andeutungen vom 30. Januar 1941 4 gleich null. Hitler sagte: „Ich las nun einigemale, daß die Engländer die Absicht haben, mit einer großen Offensive irgendwo zu beginnen. Ich hätte hier nur den einen Wunsch, daß sie mir das vorher mitteilen würden. Ich wollte dann gerne das Gebiet vorher räumen lassen. Ich würde ihnen alle Schwierigkeiten der Landung ersparen, und wir könnten uns dann wieder vorstellen und noch einmal aussprechen - und zwar in der Sprache, die sie wohl allein verstehen!" Natürlich war das Hybris und Propaganda, zugleich doch aber auch in rudimentärer F o r m ein strategisches Konzept, um das in der Phase der Invasionsreife seit Mitte 1943 erbittert gerungen werden sollte. Hier zum ersten Mal tauchte der Gedanke auf, daß die Invasion zwar nicht kriegsentscheidend sein würde - Hitler selbst hatte einen Atemzug zuvor behauptet: „Ich darf aber rückschauend eines sagen: schon das Jahr, das hinter uns liegt, und der letzte Teil des vorvergangenen Jahres haben praktisch diesen Krieg entschieden" aber eine Invasion, sollte sie tatsächlich kommen, würde diese Entscheidung noch einmal bestätigen. Später sprach nicht nur Goebbels vom „2. Dünkirchen", das mit der Invasion kommen würde 5 . Eine alliierte Invasion in Nordfrankreich, ebenso aber auch in Norwegen, im Mittelmeer, auf Kreta, dem Balkan, Nordafrika galt seit dem Dezember 1941 in allen höheren militärischen Stäben bis hinauf zum OKW, O K H und der Seekriegsleitung als ständige Option der deutschen Gegner. Gerade die geographische Vielfalt möglicher Invasionsversuche trug zur Ausbildung des Gedankens bei, daß das von Deutschland beherrschte Kontinentaleuropa eine „Festung" bilde, und in zunehmendem Maße entwickelte sich das strategische Bild von der Rundumverteidigung der „Festung Europa" und den - natürlich vergeblichen 4 5
D o m a r u s (Hrsg.), Hitler, 2, S. 1660. Boelcke, Krieg, S. 228.
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Versuchen der Alliierten, irgendwo und irgendwann in den Festungsring einzubrechen. Kleine taktische Einbruchsversuche, wie etwa Dieppe oder St. Nazaire konnten dabei strategisch oder gar politisch nichts bewirken - und zwar für beide Seiten. Selbst wenn sich die Engländer hier blutige Nasen holten, ging es keineswegs an die Substanz ihrer Widerstands- und Offensivkräfte; selbst wenn den Deutschen die Abwehr gelang, sagte das nichts über den Gesamtzustand der Festungsverteidigung aus. Wenn Hitler dennoch St. Nazaire als großangelegten strategischen Invasionsversuch hochstilisierte, so war dies reine Propaganda, die ihre Wirkung, wie die „Meldungen aus dem Reich" verdeutlichen, nicht verfehlte und deswegen im Hitlerschen Sinne „vernünftig" war. Intern war jedermann klar, daß solche Scharmützel belanglos waren. Worum es eigentlich ging, schlug sich in der Ο KW-Weisung vom 14. Dezember 1941 nieder, in der es einleitend hieß: „Die von uns beherrschten Eismeer-, Nordsee- und Atlantikküstenbereiche sind im Endziel zu einem .neuen Westwall' auszubauen, um dann bei möglichst geringem Einsatz ständig festgelegter Feldtruppen mit Sicherheit jedes feindliche Landungsunternehmen auch stärkster Kräfte abwehren zu können" 6 . Damit war, ein knappes Jahr nach Hitlers Vision vom 2. Dünkirchen, jenes strategische Konzept skizziert, das fortan für den größten Teil der deutschen militärischen Führung bindend blieb. Es besagte: Die Festung Europa muß mit einem Wall umgeben werden, der sie unangreifbar macht. Der Wall muß so stark sein, daß man Menschen durch Beton ersetzen kann und es nach menschlich-strategischem Ermessen für den Gegner aussichtslos ist, hiergegen erfolgreich anzurennen - selbst mit „stärksten Kräften". Mit keinem Wort versuchte die Weisung diese „stärksten Kräfte" zu quantifizieren; die Idealvorstellungen von dem „neuen Westwall" freilich wurden in der Weisung detailliert skizziert. Halder kommentierte: „Neue Aufträge des Führers über permanenten Ausbau der Westküstenbefestigungen (unmögliche Forderungen!)" 7 . So sahen es auch die mit dem Westwallbau betrauten Dienststellen; in mancherlei Hinsicht wird man an die Kontroverse Hitler-Adam aus dem Jahr 1938 erinnert, als letzterer ersterem nicht zusichern konnte, den Westwall drei Wochen lang halten zu können und Hitler schier explodiert war. Aber weder Halder noch Zeitzier hatten den Mut eines Adam, obwohl sie schon sehr früh wußten, daß das Konzept der Weisung vom 14. Dezember 1941 niemals realisierbar sein würde. Als Hitler selbst offensichtlich Besorgnisse äußerte, ging Halder darüber hinweg; zu Hitlers Ausführungen am 28. März 1942, als es um die Operation „Blau" ging, notierte der Generalstabschef: „1. Schlimmste Besorgnis Landung Nordnorwegen mit Rücksicht auf Schweden. 2. Landung an französischer Westküste und ihre Folgen" 8 . Tatsächlich geschah in den folgenden Monaten nichts, von einer systematischen und planvollen Stärkung des Westraumes konnte angesichts der Lage im Osten keine Rede sein, der Westen wurde vielmehr, wie es Rundstedt später nicht ohne Bitterkeit nennen sollte, ständig „aus-
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Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 2, S. 1262. Halder, K T B , 3, S. 505. Ebd., S. 420.
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gekämmt", so daß ein ruhiger Aufbau der Westverteidigungskräfte nicht möglich war. Die Vogel-Strauß-Politik des O K W erreichte ihren Höhepunkt, als dem O B West am 11. Juli 1943 auf dessen Klagen über die völlig unzureichenden Verteidigungskapazitäten im Westraum geantwortet wurde: „Der Schwerpunkt des Feindes für den Angriff auf das europäische Festland liegt im Mittelmeer und wird aller Voraussicht nach auch dort bleiben" 9 . Solche Vorstellungen konnten sich entwickeln, weil inzwischen die Idee der Invasion im Westraum von Hitler „politisiert" worden war. Das, wie es der O B West am 25. Oktober 1943 einmal nennen sollte „unverständliche" 10 strategische Handeln des Westgegners schien nur dann Sinn zu machen, wenn man davon ausging, daß die „2. Front" nicht in erster Linie aus militärisch-strategischen, sondern rein politischen Gründen errichtet werden sollte - die Ergebnisse der Moskauer Konferenz und weiterer alliierter Besprechungen, von der Seekriegsleitung sorgfältig registriert und kommentiert, ließen den Schluß zu, die Westalliierten müßten diese zweite Front letztlich contre coeur irgendwann einmal doch wagen. Schon in der Führerweisung Nr. 40 vom 23. März 1942 wurde dieses Denkschema deutlich, wenn es hieß: „Mißerfolge auf anderen Kriegsschauplätzen, Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten und politische Erwägungen können ihn (den Gegner) zu Entschlüssen verleiten, die nach rein militärischer Beurteilung unwahrscheinlich sind" 11 . Und am 29. Juni 1942 hieß es im K T B O K W : „Der Führer weist zunächst darauf hin, daß man mit englisch-amerikanischen Landungsabsichten größeren Stiles rechnen müsse, um eine .zweite Front' zu bilden, die auf der Feindseite sowie innen- wie bündnispolitisch erforderlich" 12 . Noch deutlicher drückte sich Mussolini aus: „Feinde müssen unter allen Umständen die Bildung einer zweiten Front versuchen" 13 . Das hieß: Wenn das ungleiche Bündnis Bestand haben sollte, mußten die Westmächte die zweite Front errichten - koste es was es wolle. Der Umkehrschluß: Verzögerten die Westmächte die Invasion über Gebühr oder scheiterten sie gar bei ihrem strategischen Großlandungsversuch, konnte mit einem Zerfall des Bündnisses gerechnet werden. Um diese Option zu realisieren, bedurfte es von deutscher Seite zweier Voraussetzungen: Zum einen mußten im „Osten... endlich feste Fronten geschaffen werden, um im nächsten Frühjahr wenigstens an einer Stelle zur Offensive übergehen zu können" - so Jodl am 1. Dezember 1942 14 zum anderen waren die Westbefestigungen so zu verstärken, daß ein Landungsversuch abgeschlagen werden konnte. Man sieht: Die Krise von Stalingrad führte keineswegs zur Resignation, sondern schien nur ein vorübergehendes kleines Unglück zu sein. Die Propaganda behauptete das gleiche, sie wirkte daher glaubhaft. Am 30. September 1942, also zu einem Zeitpunkt, als die Operation „Blau" noch einigermaßen planmäßig ablief, hatte Hitler seine
Ose, Entscheidung, S. 279. Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 3, S. 770. " Ose, Entscheidung, S. 283. 12 Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 2, S. 458. 13 Ebd., 3, S. 212. 14 Ebd., 2, S. 1061. 9
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Vorstellungen vom 30. Januar 1941 noch einmal wiederholt und variiert, indem er den gescheiterten Landungsversuch von Dieppe zum Anlaß nahm, um zu erklären: „Sie sagen: ,Die zweite Front wird kommen. Sie ist bereits im Anmarsch! Ihr Deutschen paßt auf! Macht kehrt!' Wir haben nun nicht aufgepaßt, und nicht kehrtgemacht, sondern wir sind ruhig weitermarschiert. Damit will ich nicht sagen, daß wir uns nicht auf eine zweite Front vorbereiten. Wenn Herr Churchill jetzt sagt: ,Wir wollen es den Deutschen jetzt überlassen, in ihrer Angst darüber nachzugrübeln, wo und wann wir sie eröffnen' - so kann ich nur sagen: ,Herr Churchill, Angst haben Sie mir noch nie eingejagt!' Aber daß wir nachgrübeln müssen, da haben Sie recht, denn wenn ich einen Gegner von Format hätte, dann könnte ich mir ungefähr ausrechnen, wo er angreift. Wenn man aber militärische Kindsköpfe vor sich hat, da kann man natürlich nicht wissen, wo sie angreifen, es kann ja auch das verrückteste Unternehmen sein. Und das ist das einzig unangenehme, daß man bei diesen Geisteskranken oder ständig Betrunkenen nie weiß, was sie anstellen werden. Ob Herr Churchill nun den ersten Platz, an dem er die zweite Front starten wollte, geschickt und militärisch klug ausgewählt hat oder nicht - darüber sind sogar in England, und das will immerhin allerhand heißen, die Meinungen geteilt - ich kann ihm jedenfalls versichern: Ganz gleich, wo er sich den nächsten Platz aussucht, er kann überall von Glück reden, wenn er neun Stunden an Land bleibt" 1 5 ! Diese Zuversicht ging in den nächsten 12 Monaten allen Verantwortlichen zwar verloren, dennoch hielten sie an der Grundidee fest: Die Alliierten seien aus politischen Gründen gezwungen, die Invasion zu wagen, auch wenn dies militärisch risikoreich sei, daraus ergäben sich die deutschen Chancen, wobei diese in einem weiten Spektrum von einem bloßen Abwehrerfolg - so die Seekriegsleitung - bis zur glücklichen End-Entscheidung des gesamten Krieges reichten. In der Lagebesprechung am 20. 12. 1943 hieß es: „Der Führer: Wenn sie im Westen angreifen (dann ent) scheidet dieser Angriff den Krieg. Voss: Jawohl, das hat er (Dönitz-MS) allen Befehlshabern und Kommandeuren gesagt. Der Führer: Wenn dieser Angriff abgeschlagen wird, ist die Geschichte vorbei. Dann kann man auch in kürzester Frist wieder Kräfte wegnehmen" 16 . Unter diesem Aspekt ist auch die vielzitierte Weisung Nr. 51 zu sehen. Hier zum ersten Mal, so scheint es, war gleichsam offiziell davon die Rede, daß die Abwehr der Invasion kriegsentscheidend sei; Hitler hatte in diesem Zusammenhang mehrfach betont, daß ein Mißerfolg bei der Abwehr den Verlust des Krieges bedeuten würde. Walter Warlimont hat Hitlers Äußerungen vom 20. Dezember 1943 zum Ausgangspunkt einer scharfsinnigen Analyse gemacht, die sich geradezu als Schlüssel für das hierzu behandelnde Problem erweist. Warlimont interpretierte Hitler: „Wenn dieser Angriff nicht abgeschlagen wird, ist der Krieg verloren! Bei solcher Auffassung, die gleichzeitig die Alternative einschloß, durch erfolg15 16
A m 30. 9. 1943; D o m a r u s (Hrsg.), Hitler, S. 1912. Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 444, auch A n m . 3.
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reiche Abwehr der Invasion einen besseren Ausgang zu erreichen, wäre selbst ein echter Oberbefehlshaber der Wehrmacht, wie er in Deutschland seit 1938 fehlte, in einen außerordentlich schwierigen Konflikt zwischen Einsicht und Verantwortung geraten, hätte er von vornherein gegenüber der politischen Führung die Aussichtslosigkeit der Verteidigung vertreten wollen. Gleiches von dem Chef eines WFStabes, der zudem nur noch einen Teil der Kriegführung übersah, erwarten zu wollen, hieße ihn und seine Stellung zweifellos überfordern" 1 7 . Wo aber lagen „Einsicht" und „Verantwortung"? Warlimont suggerierte, daß die verfehlte Spitzengliederung eine objektive „Einsicht" in die Gesamtlage nicht mehr möglich gemacht habe - natürlich bezog sich dies nicht allein auf Jodl, sondern auch auf Keitel - und es ist logisch anzunehmen, daß auch die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine, jeweils teilstreitkraftorientiert, strukturell und systemimmanent nicht in der Lage gewesen wären, diese „Einsicht" zu gewinnen. Daraus ließe sich ableiten, daß sie letztlich eben doch allein auf das Urteil Hitlers angewiesen blieben, der anscheinend davon überzeugt war, daß ein Abwehrerfolg realistisch, ja wahrscheinlich sei. Warlimont fügte diesen Gedanken einen weiteren hinzu, der von ausschlaggebender Bedeutung für das historische Urteil der Nachwelt werden könnte: „Daneben ist bei aller Ausweglosigkeit der Lage, in die Politik und Kriegführung Hitlers spätestens um die Wende 1943/44 gleichermaßen geraten waren aber auch zu bedenken, daß die deutschen Fern-Raketen, die sogenannten V-Waffen, damals in Kürze verwendbar werden sollten. Von diesem .Fernkampf', als dessen Ziel Hitler ausschließlich den Stadtbereich von London bestimmt hatte, erwartete er, daß die Invasion, wenn nicht unterbunden, so doch erheblich verzögert und in ihrer Entfaltung stark beeinträchtigt werden würde" 1 8 . Obwohl das O K W nüchtern darauf hinwies, daß „die Masse des Sprengstoffes, die täglich zur Wirkung gebracht werden kann, geringer bleibt als die, die bei einem großen Luftangriff abgeworfen wird", schien sich mit den V-Waffen eine völlig neue Chance zu eröffnen, anders gewendet: Wer an die V-Waffen glaubte, konnte schwerlich dazu gebracht werden, Hitler von der Aussichtslosigkeit der Invasionsabwehr zu überzeugen. Wie stand es mit der von Warlimont apostrophierten „Verantwortung" ? Man kann es drehen und wenden wie man will: Sieht man vom Kernkreis der Verschwörer um den 20. Juli 1944 einmal ab, findet sich in den Aktengebirgen zur Geschichte der Wehrmacht kein Blättchen, aus dem hervorginge, daß der Begriff „Verantwortung" anders als im Sinne strenger militärischer Pflichtauffassung und Treue dem „Führer" gegenüber interpretiert worden wäre. Verantwortung hieß: Dafür zu sorgen, daß die Festung Europa gehalten wurde um den Krieg eine freundlichere Wende zu geben - nicht gegen, sondern mit und für Hitler. Stellvertretend für viele läßt sich hier Karl Dönitz erwähnen, der in seinem Appell vom 17. Dezember 1943 vom „fanatischsten" und „vollsten"
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Warlimont, Hauptquartier, S. 432. Ebd.
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Einsatz der Kriegsmarine im Invasionsfall sprach 1 9 - in der Lagebesprechung vom 20. Dezember stellte Admiral Voss die schon zitierte Beziehung zu Hitlers Auffassung her. Wir können also im Vorfeld der Invasion zwei Trends beobachten, die auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten aber durchaus etwas miteinander zu tun haben: Was an materiellen und personellen Kräften bei der Invasionsabwehr fehlte, sollte durch „Wunderwaffen" ergänzt bzw. ersetzt werden, die Deutung der Invasion als mehr oder weniger erzwungenem politischem Manöver der Allianz verhieß demjenigen Vorteile, der auf die Politik keine Rücksicht zu nehmen brauchte und sich ganz auf bewährte militärische Erfahrungen verlassen konnte. Hitler hat auf diesem Klavier fortan virtuos zu spielen verstanden - so anläßlich eines Empfanges von Oshima, dem er nach Hewels Aufzeichnung vorschwärmte: „Er, der Führer, erwarte die Landung der Anglosachsen im Westen im Laufe dieses Frühjahrs . . . Die Nordküste bestünde aus einem ungeheuer ausgebauten Festungswall, an dem noch monatlich 6 - 7 0 0 0 0 0 Kubikmeter Eisenbeton zugebaut würden. Millionen von Minen und Landminen seien an der Küste gelegt. E r erwarte also, daß der Gegner irgendwo lande und das begrüße er, denn wir würden ihn schlagen." Anschließend, so fuhr er fort, hätte man 30 Divisionen für den Osten frei 2 0 . Antonescu tischte er am 26. 2. 1944 die gleiche Geschichte auf 2 1 , noch dicker trug er sie Tiso und Tuka gegenüber am 12. Mai 1944 vor. Es läge im deutschen Interesse, so versicherte er in Anwesenheit Ribbentrops den beiden Herren, „daß die Invasion so bald wie möglich stattfände", aber man müsse befürchten, daß die Angelsachsen vor lauter Angst nicht zu landen wagen würden 2 2 . Wie sich Hitler und der O B West Rundstedt die Bälle zuwarfen, ging aus dem Entwurf eines Schreibens des ersteren an Petain hervor, in dem der O B West dem Marschall mitteilte, „daß eine anglo-amerikanische Landung im Westen nicht zu einem Zusammenbruch Deutschlands, sondern höchstens zu einem blutigen Ringen auf französischem Boden führen würde". Es läge daher im ureigensten Interesse Petains, die deutschen Abwehrbemühungen zu unterstützen 2 3 . Sieht man sich die realen Kräfteverhältnisse am Vorabend von D - D a y an, so ist schwer begreiflich, daß gerade in den letzten Monaten und Wochen vor der Landung die Zuversicht auf deutscher Seite wuchs. Man gewinnt den Eindruck, als habe die politische und militärische Führung das wahre Ausmaß der alliierten Vorbereitungen nicht zur Kenntnis genommen oder gröblich unterschätzt. Dabei gab es genügend Möglichkeiten, die alliierten Potentiale und Kapazitäten „hochzurechnen", vor allem Dönitz wußte aus Erfahrung, über welche Ressourcen die Angelsachsen verfügten - jahrelang hatte man die Rüstungsanstrengungen in den U S A in der Seekriegsleitung akribisch verfolgt, und nach dem Verlust der Atlantikschlacht im Mai 1943 gab es keinerlei realistische Möglich-
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Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 3, S. 1325. Salewski, Seekriegsleitung, II, S. 414. A D A P , E , 7, S. 346. Ebd., S. 448 f. Ebd., 8, S. 42 f.
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keit, die atlantische Rollbahn noch einmal zu unterbrechen. Je länger die Invasion auf sich warten ließ, desto größer mußte das Invasionspotential werden in Deutschland schien man zu glauben, die Zeit arbeite für das Reich. Die energischen Bemühungen Rundstedts und Rommels im Westen konnten vordergründig betrachtet sicherlich den Anschein erwecken, als habe man glücklicherweise Zeit, sich mit aller Sorgfalt auf D - D a y vorzubereiten, tatsächlich erfolgte die Landung „als bei uns das erringbare Maximum an Bereitstellung von Verbänden ungefähr erreicht war" 2 4 . Percy Ernst Schramm wies auch darauf hin, daß es tagelang gedauert habe, bis die Landungskräfte in der Normandie rein numerisch den deutschen Abwehrkräften gewachsen waren. Es gibt keinen Zweifel: A m Vorabend der Invasion verbreitete die deutsche politische und militärische Führung die Zuversicht, daß die Entscheidung zumindest offen war; wieviele der Verantwortlichen innerlich davon überzeugt waren, tatsächlich eine echte Chance zu besitzen, wissen wir nicht. Jodls Äußerungen vor dem Reichskabinett am 5. Mai 1944 dürften jedoch symptomatisch sein: „Heute nun stehen wir, wenn nicht alles täuscht, und wenn es sich nicht um den größten Bluff der Weltgeschichte handelt, vor der Großlandung der Westmächte und damit vor den für den Ausgang des Krieges und für unsere Zukunft entscheidenden Kämpfen. Beim Gegner ist alles bereit, militärisch und politisch ... Für uns ist der Weg klar vorgezeichnet, vor uns steht entweder der Sieg oder die Vernichtung . . . Ein Abwehrsieg wird die militärische und politische Lage von Grund auf ändern, denn eine solche Landung, die man jahrelang in allen Einzelheiten vorbereitet hat, kann man nicht einfach wiederholen, von den innenpolitischen Auswirkungen in England und Amerika ganz zu schweigen" 2 5 . Tatsächlich hatte das deutsche Kriegsreich wohl alles getan und aufgeboten, was zu diesem Zeitpunkt überhaupt möglich war, um die Invasion abzuwehren 2 6 ; das Verhalten der men on the spot mit Rommel an der Spitze läßt sich nur verstehen, wenn man davon ausgeht, daß auch sie in der Invasionsabwehr keine a priori unmögliche Aufgabe sahen. Will man nicht annehmen, daß die geschickte psychologische Behandlung der Westbefehlshaber durch Hitler 2 7 zu einer Art Autosuggestion der Befehlshaber geführt hat, so bleibt nur der Schluß, daß die Verantwortlichen tatsächlich am 6. Juni 1944 davon überzeugt waren, daß nunmehr - aber auch wirklich jetzt erst - die Entscheidungsstunde des Krieges geschlagen habe. Die Aufrufe Hitlers und Rundstedts können nicht als billige Propaganda abgetan werden, zumal sie inhaltlich ja auch im internen militärischen Büroverkehr, also fern aller Außenwirkung, ihren Niederschlag fanden. Sieht man sich nun in Parallele die SD-Berichte an, ist eine verblüffende Ubereinstimmung zwischen der politischen, der hohen militärischen Führung auf der einen, der „öffentlichen Meinung" und der Gerüchteküche auf der anderen Seite festzustellen, ein Beispiel mag genügen, es stammt aus dem Mai 1944:
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Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 4, S. 18. Ose, Entscheidung, S. 76. Kräfte vgl. ebd., S. 95 ff. Ebd., S. 71
Die Abwehr der Invasion als Schlüssel zum „Endsieg" ?
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„Die Aussicht, daß in nächster Zeit unbedingt eine entscheidende Wendung im Kriegsgeschehen zu unseren Gunsten eintreten müsse, läßt die meisten Volksgenossen einer Invasion mit großen Hoffnungen entgegensehen. Man spricht von ihr als von der letzten Gelegenheit, das Blatt zu wenden. Eine Angst vor der Invasion ist kaum festzustellen. Man nimmt vielmehr eine schwere Niederlage für den Gegner an. Nur vereinzelt werden Stimmen laut, daß der Atlantikwall vielleicht nicht gehalten werden könne oder daß es ernst werde, wenn mit der Invasion gleichzeitig eine Großoffensive der Russen einsetze (z.B. Kattowitz). Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre aber auch für diese besonders besorgten Gemüter, daß die Invasion wider alles Erwarten doch nicht kommt. .Hoffentlich kommen sie recht bald, damit die Ungewißheit aufhört. So oder so, kommen muß sie' " 28 . Viel anders klang es auch nicht in den amtlichen Akten, hier wäre beispielsweise an die entsprechenden Einträge im Kriegstagebuch der Seekriegsleitung zu erinnern. Was ergibt sich daraus? Zum einen dürfen wir nachgeborenen Historiker nicht ex post argumentieren, sondern müssen erkennen, daß für die Masse der Deutschen - natürlich gab es gewichtige Ausnahmen - und zwar durchgängig von „ganz oben" bis „ganz unten" der Krieg bis zum 6. Juni 1944 eben noch nicht als entschieden galt. Wie hoch der Prozentsatz derjenigen war, die von der Invasion den Anfang zum Endsieg erhofften, läßt sich nicht quantifizieren. Vieles deutet darauf hin, daß der Anteil derer, die mit der erfolgreichen Invasionsabwehr eine Art „Hubertusburg" für möglich hielten, größer war. Ausgesprochene Pessimisten, also Menschen, die angesichts der in England versammelten alliierten Kapazitäten die Einleitung von Kapitulationsverhandlungen befürworteten, wird es sicherlich auch gegeben haben, es war aber bekanntlich tödlich, derlei zu schreiben oder zu sagen - hier verlassen uns unsere Quellen, allem Anschein nach war das eine Minderheit. Die Nicht-Akzeptanz des 20. Juli 1944 durch die Bevölkerung läßt sich als eine Art nachträglicher Beweis dafür ins Feld führen. Ein weiterer Befund ist wichtig: Mustert man die der Öffentlichkeit zugänglichen Quellen - Zeitungen, Rundfunksendungen, Wehrmachtberichte - so kann keine Rede davon sein, daß die Deutschen für dumm verkauft wurden. Wer sich ein Bild von der militärischen Lage machen wollte, konnte dies tun, dazu bedurfte es nur mäßig anspruchsvoller Entschlüsselungsverfahren. Es ist also nicht so, daß man die Invasion in ein grundsätzlich verfälschtes Lagebild integriert hätte. Die Intensität der Luftangriffe hatte zwar vor D-Day nachgelassen, aber jedermann konnte mit eigenen Augen sehen, über welche Luftkapazitäten die Alliierten verfügten - ein Blick nach Hamburg, Lübeck, ins Ruhrgebiet genügte, und die Trümmer waren nicht zu camouflieren. Auch um die Gefahr im Osten wußten die meisten, hier wirkte Stalingrad unvermindert weiter; das erkennbare Ausbleiben wenigstens einer zweiten „Zitadelle" im Frühjahr 1944 wurde ganz richtig als Stille vor dem roten Sturm interpretiert.
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Boberach (Hrsg.), Meldungen, S. 509.
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Um es zu wiederholen: Will man nicht annehmen, daß Volk und Führung dem kollektiven Wahn verfallen waren, so erweist sich D-Day tatsächlich als die entscheidende Wende des gesamten Krieges - in den Augen der Zeitgenossen, notabene. Von irgendwelchen inneren Auflösungstendenzen konnte keine Rede sein, nebenbei bemerkt erreichte der deutsche Rüstungsausstoß im Juli 1944 seinen Höhepunkt. Nie hatten es die Gegner des Regimes schwerer als in diesen gespannten Monaten vor der Invasion - auf die Zusammenhänge mit der Verschwörung des 20. Juli braucht hier nicht näher hingewiesen zu werden. Auf alle Fälle sind die Reaktionen des Volkes plausibel und logisch. Die Mehrheit wollte das „Dritte Reich" nach wie vor und hoffte, es würde sich vermittelst der Invasionsabwehr auf Dauer, am besten tausend Jahre, behaupten lassen. Geht man davon aus, daß im subjektiven Verständnis der deutschen Zeitgenossen die Entscheidung des Krieges bis zum 6. Juni 1944 offen war, so stellt sich die Frage, ob das nur eine Selbsttäuschung oder aber irgendwie begründet war. Hier ist ein Blick in das alliierte Lager lehrreich. Schon der Aufwand, mit dem die fünfzigjährige Wiederkehr der Invasion von den ehemaligen Siegermächten gefeiert wurde - nicht zuletzt auch der wissenschaftliche Aufwand - deutet darauf hin, daß D-Day auch im Selbstverständnis der Sieger eine wichtige Schlacht war - ob „kriegsentscheidend" muß eine Durchsicht des alliierten Quellenmaterials erweisen. Es mag jedoch zunächst genügen, einen Blick auf die wichtigsten Persönlichkeiten zu lenken, und zwar auf Churchill, Eisenhower, Montgomery, Harriman. Sie alle haben Memoiren hinterlassen, alle gehen auf D-Day relativ ausführlich ein - und alle betonen, daß es sich hierbei keineswegs um einen militärischen Spaziergang gehandelt habe. In Colvilles DowningStreet-Tagebüchern findet man unter dem 14. April 1944 folgende Notiz aus Chequers: „Desmond Morton war beim Abendessen sehr trübsinnig. Fast jedermann ist jetzt in einer ähnlichen Stimmung. Es ist beinahe so wie im letzten Akt einer griechischen Tragödie: Im ersten Akt erträgt man es noch, daß Agamemnon im Bad ermordet wird, aber im letzten Akt herrscht so düstere Untergangsstimmung, daß das Publikum wie erschlagen ist. Im Schatten der sich ankündigenden Schlacht, die zu den entscheidenden der Weltgeschichte gehören wird, hat viele Leute in allen Schichten eine merkwürdige Unrast und Unausgeglichenheit befallen. Und hinzu kommt noch die Ungewißheit über Rußlands zukünftiges Verhalten gegenüber Europa und der Welt" 29 . Churchills worst-case-Denken in Zusammenhnag mit „Overlord" war notorisch, er selbst brachte es in seinen Memoiren mit dem Trauma des Ersten Weltkrieges in Verbindung: „In meinem Gedächtnis war der entsetzliche Preis eingegraben, den uns die großen Offensiven des Ersten Weltkriegs an Leben und Blut gekostet hatten ... Überlegene Feuerkraft der Artillerie, so schrecklich sie sein mag, bot keine endgültige Lösung. Die Verteidiger konnten hinter den ersten Linien leicht neue Abwehrstellungen vorbereitet haben, während sich das dazwischen ge-
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Colville, Tagebücher, S. 346.
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legene Gelände, auch wenn es die Artillerie freizukämpfen vermochte, in ein unpassierbares Trichterfeld verwandelte. Das waren die Früchte aus der Erkenntnis, die Engländer und Franzosen von 1915 bis 1917 so teuer erkauft hatten« 30 . Skeptisch beurteilte Churchill den Plan „Overlord", nur schwer und nach und nach ließ er sich zu ihm bekehren, für ihn war es schließlich „das größte aller Unternehmungen", der „Höhepunkt des Krieges" 3 1 . Auch Eisenhower war von Selbstzweifeln nicht frei: „Das unmöglich Scheinende wurde vollbracht" 3 2 , schrieb er in der Rückschau. „Die Operation .Overlord'", so meinte er in seinen Invasions-Erinnerungen, „war aber vom Juli 1943 bis nach dem D - T a g noch von einer anderen großen Gefahr bedroht: die Deutschen erbauten an der Kanalküste Anlagen, die anscheinend Abschußrampen für Raketenbomben oder ferngelenkte Flugzeuge waren, und wenn auch diese Waffen vermutlich vornehmlich gegen London verwendet werden sollten, so bestand doch die Möglichkeit, daß unsere Schiffskonzentrierungen in den südenglischen Häfen ein verlockendes Ziel darstellen würden und somit der Aufmarsch unserer Invasionsarmee ernsthafter Bedrohung ausgesetzt wäre" 3 3 . Die Größe der Aufgabe, die mit ihr verbundenen Risiken faßte Eisenhower so zusammen: „Wir mußten die größte Landung unternehmen, die bisher in der Geschichte gegen eine von modernsten Befestigungen starrende Küste durchgeführt worden war, und hinter dieser Küste stand das deutsche Westheer, das seit den finsteren Tagen von 1940 nicht mehr zur Schlacht hatten antreten müssen" 3 4 . In düsteren Szenarien malte sich Eisenhower die Folgen einer mißlungenen Invasion aus: „Ein Mißerfolg hätte geradezu verhängnisvolle Folgen mit sich gebracht. Eine solche Katastrophe hätte eventuell eine vollständige Umgruppierung aller in Großbritannien versammelten amerikanischen Streitkräfte und ihre Verlegung nach anderen Kriegsschauplätzen notwendig gemacht, während Kampfmoral und Entschlossenheit der Alliierten in nicht abzuschätzendem Ausmaße darunter gelitten hätten. Schließlich hätte sich ein solcher Fehlschlag gewiß auch äußerst stark auf die Lage in Rußland ausgewirkt, und man konnte den Gedanken nicht von der Hand weisen, daß dieses Land womöglich an einen Sonderfrieden gedacht hätte, wenn es seine Verbündeten für vollkommen unnütz halten und sehen müßte, daß sie nicht imstande wären, in Europa ein größeres Unternehmen vom Stapel zu lassen" 3 5 . Die Parallelen zu ähnlichen - natürlich positiv gewendeten - Aussagen aus deutschem Munde ist verblüffend!
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Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 307, 308. Ebd., S. 345, 363. Eisenhower, Invasion, S. 40. Ebd., S. 53. Ebd., S. 274. Ders., Kreuzzug.
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Noch unmittelbar vor Beginn der Landung war Eisenhower nicht frei von Sorgen; ausgelöst wurden sie durch die unsicheren Wetterprognosen - man gewinnt den Endruck, als habe der Oberbefehlshaber der Alliierten die ganze Operation als an einem seidenen Faden hängend eingeschätzt, wenn man in seinen Erinnerungen liest: „Sollte keiner der in Frage kommenden drei Tage zufriedenstellendes Wetter bringen, so würde das Folgen haben, an die man fast nur mit Schrecken denken konnte. Das Geheimnis wäre preisgegeben, die Angriffstruppen müßten ausgeladen und in ihre mit Stacheldraht umzäunten Sammelunterkünfte zurücktransportiert werden, wo ihre Plätze schon von denen eingenommen sein würden, die mit den nächsten Wellen folgen sollten. Komplizierte Marschtabellen könnten weggeworfen werden, die Moral würde sinken und eine Wartezeit von mindestens vierzehn, vielleicht sogar achtundzwanzig Tagen müßte verstreichen - ein Schwebezustand für über zwei Millionen Mann! Die Schönwetterperiode, die für größere Operationen zur Verfügung stand, würde noch kürzer werden, und der Feind konnte seine Verteidigungsanlagen noch mehr verstärken! Ganz Großbritannien würde bald merken, daß etwas schief gegangen sei, und eine allgemeine Mutlosigkeit in diesem Lande und in Amerika konnte die unvorhergesehensten Folgen haben. Schließlich stand hinter allem immer das Bewußtsein, daß der Feind an der französischen Küste neue, vermutlich wirkungsvolle Geheimwaffen entwikkelte. Was diese in unseren vollgepfropften Häfen, besonders in Plymouth und Portsmouth, anrichten konnten, das vermochten wir nicht einmal zu ahnen" 36 . Zweifel beschlichen aber auch militärische Experten, Eisenhower hat anschaulich geschildert, wie er sich gegen deren Skepsis aus übergeordneten politischen und strategischen Erwägungen schließlich dann doch zum Angriffsbefehl durchgerungen habe; nachdem er sich selbst „einen ungeheueren Mißerfolg" vor Augen führte, „womöglich . . . eine Niederlage der Alliierten in Europa" 37 . Interessant ist es, daß Eisenhower in genauer Parallele zu entsprechenden deutschen Vorstellungen für das Gelingen oder Mißlingen den V-Waffen eine geradezu ausschlaggebende Bedeutung einräumte: „Es war anzunehmen, daß unsere Invasion in Europa sich als äußerst schwierig, vielleicht sogar als unmöglich erwiesen hätte, wenn es den Deutschen gelungen wäre, diese neuen Waffen sechs Monate früher fertigzustellen. Ich bin überzeugt, daß das Unternehmen .Overlord' hätte ausfallen müssen, wenn es dem Feind gelungen wäre, diese Waffen sechs Monate lang einzusetzen, besonders dann, wenn er den Raum von Portsmouth und Southampton zu einem seiner Hauptziele gemacht hätte" 38 . Was wäre gewesen wenn - nur im Rahmen der jungen Disziplin der kontrafaktischen Geschichte ließe sich diese Frage beantworten. Entscheidend ist, daß die dramatis personae von 1944 nicht wissen konnten, wie die Geschichte weiterverlaufen würde - und daß es Chancen auf beiden Seiten gab, machen derartige 36 37 38
Ebd., S. 287. Ebd., S. 295. Ebd., S. 309.
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Äußerungen klar. Selbst Montgomery, dessen anscheinend unverwüstlicher Optimismus Churchill schließlich mitriß, deutete in seinen Erinnerungen an, daß auch er „Overlord" als „die Entscheidung des Krieges in Europa" 3 9 ansah. „Wenn wir in der Normandie Mißerfolg hatten, konnte der Krieg sich noch jahrelang hinziehen . . . Wir konnten uns keinen Mißerfolg leisten" 4 0 . Über die Schwere der Aufgabe machte auch er sich keinerlei Illusionen: „Unsere Operationen auf dem Festland werden nicht leicht sein. Der Feind liegt in vorbereiteten Stellungen. Er hat den Strand mit Hindernissen gespickt. Er hat Reserven für Gegenangriffe bereitgestellt. Wir können nicht nahe genug an den Feind herankommen, um durch eingehende Erkundungen sicherzustellen, daß unsere Entschlüsse richtig sind. Es drohen uns also mancherlei unbekannte Gefahren" 4 1 . Diese Beispiele mögen genügen, um abschließend festzustellen: Alle an "Overlord" Beteiligten gingen natürlich vom Erfolg der Operation aus - was wäre anderes zu erwarten gewesen, aber fast allen war auch das Risiko bewußt, das sie damit eingingen. Was für die Alliierten aber Risiko war, bedeutete für die Deutschen Chance und Hoffnung. Daraus ergibt sich, daß beide Seiten subjektiv davon überzeugt waren, die tatsächlich „kriegsentscheidende" Schlacht zu schlagen. Dies wiederum bedeutet, daß wir uns als Historiker davor hüten müssen, unsere nachträglichen Erkenntnisse im Sinne der eingangs genannten beiden Thesen zur Folie unseres Urteils über die Geschichte der Jahre 1943 und 1944 zu machen. Für uns Deutsche hat dies zum betrüblichen Ergebnis, daß das „Dritte Reich" auch im 6. Kriegsjahr widerstandsfähig war, die Wehrmacht intakt und ihrem Obersten Befehlshaber Hitler ebenso ergeben wie die Masse des Volkes. Die Entscheidung gegen den Nationalsozialismus aber führten nicht die Deutschen, sondern die in der Normandie siegreichen Alliierten herbei.
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Montgomery, Memoiren. E b d , S. 252. Ebd., S. 270.
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Strategie der Selbstvernichtung: Die Wehrmachtführung im „Endkampf" um das „Dritte Reich" 1
A m 21. Juli 1944, einen Tag nach dem gescheiterten Versuch von Offizieren, die sich ihrer Verantwortlichkeit stellten und den Krieg durch ein Attentat auf Hitler beenden wollten, setzte Hitler den Generalinspekteur der Panzertruppen, General Heinz Guderian, als neuen Generalstabschef des Heeres ein. Guderian gilt bis heute - und er selbst hat in seinen Memoiren dafür gesorgt 2 - als Inbegriff militärischer Professionalität, als einer jener genialen Wehrmachtstrategen, die ihr Handwerk verstanden und die dem Gefreiten des Ersten Weltkrieges, Adolf Hitler, bei dessen Fehlentscheidungen - allerdings vergeblich - Paroli geboten hätten. Mit Guderians Ernennung verbanden sich zunächst auch große Erwartungen sowohl bei der Wehrmacht als auch bei der NS-Führung. Hitler nannte ihn gegenüber Goebbels den „ersten mobilen und elastischen Generalstabschef"; für Goebbels war er eine „sehr starke improvisatorische Begabung", der „alle Mittel aus(nutzt), um im Osten standzuhalten" 3 . Guderian hatte Hitler versprochen, die an die Grenzen Ostpreußens vorgerückte Rote Armee zu stoppen 4 , und er hatte sich in einem Aufruf an das Heer rückhaltlos hinter seinen „Führer" gestellt 5 . Darüber hinaus gab er allen Generalstabsoffizieren des Heeres in einem Befehl folgende Leitsätze auf, mit denen der 20. Juli als „dunkelster Tag in der Geschichte des deutschen Generalstabes" überwunden werden sollte: „Laß Dich von niemandem übertreffen in Deiner Treue zum Führer. Niemand darf fanatischer an den Sieg glauben und mehr Glauben ausstrahlen als Du. Niemand darf in der Pflichterfüllung bis zum letzten höher stehen als D u Sei im bedingungslosen Gehorsam allen ein Vorbild. Es gibt keine Zukunft des Reiches ohne den Nationalsozialismus. Deshalb stelle dich bedingungslos vor das nationalsozialistische Reich. . . . Der Führer vertraut uns. Danken wir ihm das erneut in uns gesetzte Vertrauen durch unwandelbare Treue, durch restlose Hingabe und nimmermüden Einsatz, wo es auch sei" 6 . Guderian war damit zu einer Art von „Nationalsozialistischem Führungsoffizier" des Offizierskorps avanciert.
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Die folgenden Ausführungen basieren auf Forschungen im Rahmen eines Habilitationsprojektes über den deutschen Zusammenbruch im Osten 1944/45. Hierzu auch Schwendemann, Endkampf. Guderian, Erinnerungen. Fröhlich (Hrsg.), Goebbels, Tagebücher, II, 13, 3. 9. 1944, S. 401; 17. 9. 1944, S. 502. Lageunterrichtung des Admirals im Führerhauptquartier Voss, 23. 7. 1944, B A - M A , RM 7/101, S. 65. Völkischer Beobachter, 24. 7. 1944. Fernschreiben des O b e r k o m m a n d o s der Heeresgruppe Mitte, 24. 8. 1944, an die Armeeoberkommandos ( A O K ) 2, 4, 9 und das P z . A O K 3, B A - M A , R H 1911/203, S. 129/130.
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Dieses Glaubensbekenntnis zu Hitler erfolgte zu einem Zeitpunkt, als mit dem Vormarsch der Westalliierten in Frankreich und den katastrophalen Niederlagen an der Ostfront im Sommer 1944 die Lage des Reichs militärisch auswegslos geworden war. In Anbetracht der weit überlegenen Ressourcen der AntiHitler-Koalition war es nur noch ein Frage von wenigen Wochen oder Monaten, bis die Fronten auf das Reichsgebiet übergreifen würden. An der Jahreswende 1944/45, als die letzten operativen Reserven in der Ardennenoffensive verbraucht worden waren und die Alliierten sich im Westen und im Osten auf die militärische Besetzung des Reiches vorbereiteten, beschwor Guderian in seinem Neujahrsaufruf an das Heer erneut den „unerschütterlichen Glauben an den Führer" 7 . Dies war kein Lippenbekenntnis, denn er tat in den folgenden Monaten alles - auch wenn er Hitler ab und an widersprach - um die Fortführung der Kämpfe auf dem Reichsgebiet zu ermöglichen. Da er „hysterisch und zapplig" geworden war - so Goebbels in seinem Tagebuch - schickte ihn Hitler Ende März 1945 in Kur 8 . Guderians Verhalten ist beispielhaft für das Verhalten seiner Kameraden innerhalb der Wehrmachtführung, für die in gleicher Weise die Treue zum „Führer" erste Handlungsmaxime blieb, auch als die Fronten längst schon auf dem Reichsgebiet verliefen und jeder weitere Tag den sinnlosen Tod von Tausenden Soldaten und Zivilisten sowie die Zerstörung ganzer Städte und Landstriche zur Folge hatte. Hitler, der auch in der Öffentlichkeit immer wieder verkündet hatte, daß es keine Kapitulation geben werde, solange er lebe 9 , hielt konsequent an seiner ideologischen Maxime „Sieg oder Untergang" fest. Die Grundfrage jedoch, warum die Spitzenmilitärs dem Diktator solange gehorchten, bis er im eingeschlossenen Bunker in Berlin seinem Leben ein Ende setzte, läßt sich mit dem gerne bemühten Argument des Eides auf den „Führer" nicht überzeugend erklären. Es bleibt vielmehr die Frage offen, warum die deutsche Militärführung bewußt den Weg in die Katastrophe wählte und unter Aufgabe jeglicher Verantwortung einen aussichtslosen Kampf ohne Rücksicht auf Soldaten und Zivilbevölkerung weiterführen ließ 10 .
I Die Daten des auch für die Endphase des Krieges in Fülle überlieferten Aktenmaterials militärischer Provenienz ließen - einer realistischen militärfachlichen Analyse unterzogen - schon damals nur die eine Schlußfolgerung zu, daß der Krieg nicht mehr lange geführt werden könne und die Kapitulation deshalb unausweichlich sei. Hatte die militärische Führung im Westen, Erwin Rommel 7 8 9
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Zit. n. Volkmann, Südwestdeutschland, S. 29. Fröhlich (Hrsg.), Goebbels, Tagebücher, II, 15, 31. 3. 1945, S. 644. Hitler hatte dies in Reden und Proklamationen an Bevölkerung und Wehrmacht während des Krieges immer wieder hervorgehoben, so erstmals in der Reichstagsrede am 1. 9. 1939 und letztmalig am 11. 3. und 16. 4. 1945, in: Domarus (Hrsg.), Hitler, 2, S. 1316, 2212, 2223 f. Mit dieser Problematik hat sich vor allem Manfred Messerschmidt auseinandergesetzt, in: ders., Wehrmacht (1969); ders., Wehrmacht (1990); ders., Wehrmacht (1995).
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und Günther v. Kluge, im Sommer 1944 unter Vermeidung des Begriffes Kapitulation Hitler wenigstens noch aufgefordert, „Konsequenzen" aus der Lage zu ziehen 11 , so gab es danach keinen General mehr, der es gewagt hätte, Hitler zum Einhalten aufzufordern. Vielmehr wurden im Herbst 1944 in der Wehrmachtführung noch einmal strategische Aushilfskonzepte entwickelt, die die Fortsetzung des Krieges ermöglichen sollten 12 . Hitler konnte hierbei in gewohnter Weise die u m die Sicherung von Ressourcen für ihre Befehlsbereiche konkurrierenden Militärs gegeneinander ausspielen. Guderian, der als Generalstabschef des Heeres für die Ostfront zuständig war, plädierte zusammen mit der Abteilung Fremde Heere Ost für die Schwerpunktverlagerung nach Osten und zwar 1. durch Truppenverlagerungen von Frontabschnitten im Westen, Süden und Norden, 2. durch den Abzug der in Kurland auf verlorenem Posten kämpfenden Heeresgruppe N o r d und 3. durch eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Ostfront von Ungarn hin zur Reichsgrenze. Hitler, der an seiner strategischen Grundsatzentscheidung vom November 1943 festhielt, die Westalliierten im Falle der Invasion zurückzuschlagen, lehnte dies mit Argumenten ab, die ihm der Marineoberbefehlshaber Karl Dönitz und Rüstungsminister Albert Speer lieferten. Dönitz versprach Hitler, die abgeschnittenen Armeen an der Ostsee über See zu versorgen, da er die östliche Ostsee und die Danziger Bucht als Übungsgebiete für die neuen U-Boot-Typen unter Kontrolle halten wollte, mit denen er bis ins Frühjahr 1945 hinein noch die Kriegswende zu erreichen hoffte 1 3 . D a Speer wiederum den Schutz des Ölfördergebietes in Ungarn verlangte, hielt Hitler bis zum Zusammenbruch der Front in Ungarn im März 1945 an dieser Schwerpunktbildung fest: Zugunsten einer Monatsproduktion von 15000 to Benzin (22% der damaligen deutschen Monatsproduktion an Benzin) und 8000 to Diesel (11%) wurde bewußt die Schwächung der Reichsverteidigung im Osten einkalkuliert 14 . Das O K W und der Oberbefehlshaber West, die weitere Ressourcen für ihren Kriegsschauplatz sichern wollten, unterstützten wiederum Hitlers Offensivpläne, der noch einmal Mal Vabanque spielte und die letzten Reserven im Westen in einer alles entscheidenden Offensive einsetzen wollte, den Westalliierten ein neues „Dünkirchen" zu bereiten, um danach im Osten wieder die Initiative zu ergreifen. Deshalb sollte Kurland bis dahin als Absprungbasis für eine neue Zangenoffensive gegen die Rote Armee gehalten werden. Sahen die Oberbefehlshaber an der Westfront, Rundstedt und Model, nur noch Chancen für einen begrenzten lokalen Erfolg, so unterstützte die Führungsspitze des OKW, Keitel und Jodl, Hitler in seinem Entschluß zur sogenannten „großen Lösung",
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K T B O K W , IV, 2, S. 1572-1576. Fröhlich (Hrsg.), Goebbels, Tagebücher, II, 13,2. 8. 1945, S. 194-195; Denkschrift Guderians, 8. 10. 1944, zur Beurteilung der Lage an der Ostfront, B A - M A , R H 2/315, S. 5-14; Chef Operationsabteilung im Generalstab O K H , 18. 10. 1944, Gedanken über eine Weiterführung des Kampfes im Osten, ebd., S. 47-51; Guderian, Erinnerungen, S. 335ff. Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 595f., 604, 637f., 653, 678; Salewski, Seekriegsleitung, II, S. 517-528. Denkschrift Speers zur Treibstofflage, 19. 1. 1945, B A , R 3/1532, S. 12-19; Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 637 f.
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dem anvisierten Durchbruch nach Antwerpen 15 . Nach dem Scheitern der Ardennenoffensive plädierte der Chef der Abteilung Fremde Heer Ost, Gehlen, am 5. Januar 1945 - eine Woche vor Beginn der sowjetischen Großoffensive für deren östliche Variante: Eine Verstärkung der Ostfront mit 20 bis 30 Divisionen sollte eine Offensive ermöglichen und Stalin an den Verhandlungstisch zwingen 16 . Gemeinsam war diesen Planungen, daß sie auf illusionären Annahmen basierten und vom Selbstbetrug Hitlers und seiner militärischen Umgebung zeugten, die sich weigerten, aus der Realität die Konsequenzen zu ziehen. Folge der von Hitler und dem OKW vorgenommenen Weichenstellung zur Westoffensive war jedoch, daß die Ostfront im Herbst 1944 zwischen Ostsee und Karpaten trotz der sowjetischen Angriffsvorbereitungen nicht verstärkt, sondern durch den Abzug von Truppen und durch verlustreiche lokale Kämpfe nachhaltig geschwächt wurde. Ausgerechnet Guderian, der als Inkarnation der modernen beweglichen Panzerkriegführung galt, wurde deshalb zum Promotor eines defensiven Stellungssystems, das aus „ganz Ostdeutschland eine Festung machen" und die Rote Armee auffangen sollte 17 . In der zweiten Jahreshälfte 1944 wurden unter einem enormen organisatorischen Aufwand von etwa 700000 Zivilisten unter Aufsicht der Partei Panzergräben ausgehoben und damit begonnen, Städte zu Festungen auszubauen 18 . Nicht nur die Kritik und Skepsis bei Soldaten und Bevölkerung 19 , sondern auch militärfachliche Untersuchungen über den Zustand dieser Anlagen 20 legen die Schlußfolgerung nahe, daß es sich auch hier um einen gigantischen Selbstbetrug handelte, der unter Vorspiegelung trügerischer Sicherheit der Beruhigung von Soldaten und Bevölkerung dienen sollte. Auch Guderian hatte Zweifel und befahl im November 1944, mit den Vorarbeiten für eine letzte Auffangstellung zu beginnen, der sogenannten „Nibelungenstellung", einer Befestigungslinie von Preßburg über Brünn entlang der Oder nach Stettin 21 , wo die Wehrmacht in Nibelungentreue zum „Führer" die letzte Schlacht mit der Roten Armee schlagen sollte. Hier zeigte nun Speer Realitätssinn: Er protestierte bei Guderian, daß ein Rückzug
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Weinberg, Welt, S. 8 0 3 - 8 0 9 ; Henke, Besetzung, S. 3 1 2 - 3 2 8 . Wilhelm/Jong, Legenden, S. 6 8 - 7 2 . Aufz. 1 Ski If, Vortrag Heereslage, 28. 7. 1944, B A - M A , R M 7/101, S. 24; Befehl Guderians für den Ausbau des deutschen Ostraumes, 27. 7. 1944, ebd., S. 2 5 - 2 7 ; Vortragsnotiz des Leiters der Festungsabteilung im O K H , Thilo, 1 1 . 1 . 1 9 4 5 , ebd., R H 2/331b, S. 95. Rundschreiben Bormanns, 11. 10. 1944, an die Gauleiter im Osten, betr.: Dringlichkeitsfolge beim Ausbau der Oststellungen, B A , N S 6/352, S. 2 0 f.; Vortragsnotiz Thilo, 24. 11. 1944, B A - M A , R H 2/317, S. 6 1 - 6 5 ; Vortragsnotiz Thilo, 11. 1. 1945, ebd., R H 2/331b, S. 95; A u f z . Thilos, 6. 2. 1945, ebd., R H 2/332, S. 5 7 - 5 9 . SD-Bericht (Abt. IIIA) an den Reichsschatzmeister der N S D A P , 28. 10. 1944, Betr.: Bau der Befestigungslinien an den Reichsgrenzen, B A , N S 1/544, S. 8 1 - 9 3 ; Schreiben, 12. 11. 1944, Betr. Erfahrungen beim Bau der Schutzstellungen, hier: Militärische Planung und militärischer Wert, ebd., S. 9 4 - 1 0 3 . Schreiben Guderians, 12. 12. 1944, an Heeresgruppe Mitte, B A - M A , R H 2/318, S. 146 f.; Schreiben Guderians, 29. 12. 1944, an Bormann und Berger (Chef des SS-Hauptamtes), ebd., S. 198. Erkundungsbefehl Guderians f ü r die Nibelungenstellung, 28. 11. 1944, ebd., R H 2/315, S. l l l f . ; Befehl Guderians mit Richtlinien f ü r Erkundung und Ausbau der Nibelungenstellung, 4. 12. 1944, ebd., R H 2/318, S. 52 f.
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auf diese Stellung „mit dem Ausschluß der Kampffähigkeit der Truppe schon einige Wochen später gleichbedeutend sei" 22 . Die Wehrmachtführung, die sich nicht nur militärisch, sondern nach dem 20. Juli auch im Machtgefüge des „Dritten Reiches" weiter in die Defensive gedrängt sah, wollte durch den Schulterschluß mit Hitler ihre Zuverlässigkeit beweisen und war anders als noch die Militärführung im Ersten Weltkrieg bereit, den Krieg auf dem eigenen Territorium notfalls bis zum bitteren Ende weiterzuführen. Einen November 1918 sollte es nicht mehr geben; Dönitz etwa meldete mit Stolz das Lob Hitlers, daß die Kriegsmarine „genau 180 Grad anders sei als im Weltkrieg" 23 . Das Selbstverständnis der höchsten Militärs - in zahllosen Aufrufen und Befehlen an die Wehrmacht dokumentiert - beschränkte sich jetzt im Grunde darauf, ausführendes Organ des Führerwillens zu sein und auf den „einmaligen Genius des Führers zu vertrauen", der noch einen Ausweg finden würde 24 . Gleichzeitig wurde hingenommen, daß die Gauleiter in ihrer Funktion als Reichsverteidigungskommissare militärische Machtbefugnisse an sich ziehen konnten. Ihnen wies der Diktator die Aufgabe zu, mittels der Aufstellung des letzten Aufgebotes, des Volkssturmes, den nationalsozialistischen Volkskrieg vorzubereiten 25 . Auch hier war Guderian bemüht, die Einheit von Wehrmacht und NS-Regime vor der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. In Anwesenheit Himmlers erklärte er am 6. November 1944 in einer öffentlichen Rede in Posen anläßlich der Vereidigung des wartheländischen Volkssturmes, man werde dem „Feind ... beweisen, daß es um 85 Millionen Nationalsozialisten gehe, die hinter Adolf Hitler stehen. Wir haben unseren Fahneneid freiwillig geleistet und nach Jahrhunderten wird man von der Unüberwindlichkeit unserer Generation sprechen, die gegen alle Feinde das Recht gewahrt hat. Dazu ist der Volksturm aufgerufen, und es besteht kein Zweifel, daß der Kampfeswille, den der Feind in den letzten Wochen zu seinem Schrecken an allen Fronten feststellen mußte, der Beweis unseres Einsatzes ist" 26 . Wie dieser Volkskrieg weitergeführt werden sollte, der nun „auf weiten Abschnitten auf deutschen Heimatboden übergegriffen hat", gab Hitler am 16. September 1944 in einem Grundsatzbefehl vor: „In der Kampfzone muß unser Einsatz zu äußerster Härte und unter Beteiligung jedes wehrfähigen Mannes auf das äußerste Höchstmaß gesteigert werden. Jeder Bunker, jeder Häuserblock in einer deutschen Stadt und jedes deutsche Dorf muß zu einer Festung werden, an der sich der Feind entweder verblutet oder die Besatzung im Kampf Mann gegen Mann unter sich begräbt. Es gibt nur noch Halten der Stellung oder Vernichtung." Bormann übersandte diesen Befehl, den ihm der Oberbefehlshaber West, von Rundstedt, übermittelt hatte, am 21. September an 22 23 24
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Schreiben Speers, 15. 12. 1944, an Guderian, BA, R 3/1621, S. 2 - 7 . Lageunterrichtung Admiral F H Q u . Voss, 8. 11. 1944, Β A - M A , R M 7/101, S. 165. Lagebericht Dönitz, 7. 4. 1945, BA, N S 6/134; desgl. Neujahrsaufruf Guderians zum 1 . 1 . 1945, zit. n. Volkmann, Südwestdeutschland, S. 29. Hierzu Messerschmidt, Wehrmacht (1969). Erlaß Hitlers über die Bildung des Deutschen Volkssturmes, 25. 9. 1944, BA, NS 6/98, S. 2/3. Ostdeutscher Beobachter (Posen) 6 (1944) 295, 7. 11. 1944.
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alle Gauleiter. Rundstedt hatte dem noch hinzugefügt: „Die Härte des Kampfes kann dazu zwingen, nicht nur Besitztum zu opfern, sondern es auch aus Kampfgründen zerstören zu müssen oder durch Kampf zu verlieren. Dieser Kampf um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes macht in seiner Härte auch nicht vor Kunstdenkmälern und sonstigen kulturellen Werten halt. Er muß durch geführt werden." 27 Der berüchtigte „Nero-Befehl" war somit nicht erst am 19. März 1945, sondern im Grunde bereits im September 1944 ergangen. Damit waren die Weichen auf eine Strategie der Selbstvernichtung gestellt, die mit dem professionellen Selbstverständnis preußisch-deutscher Militärtradition nichts mehr zu tun hatte. Hitler hatte diesen Befehl gegeben, da seine Weisung, Aachen, das im September 1944 als erste deutsche Großstadt kurz vor der Einnahme durch die Amerikaner stand, „Haus für Haus zu verteidigen", vom Kommandeur der 116. Panzerdivision ignoriert worden war. General von Schwerin, der militärisches Verantwortungsbewußtsein gegenüber Soldaten und Zivilisten höher stellte als die Loyalität zum „Führer", zog mit seinen Truppen aus der Stadt ab. Dennoch war deren Schicksal im Oktober 1944 besiegelt: Entsprechend dem Befehl des Oberbefehlshabers West, von Rundstedt, „diese uralte deutsche Stadt bis zum letzten Mann zu halten und sich notfalls unter ihren Trümmern begraben zu lassen", wurde Aachen zu einer Trümmerwüste. Obwohl der Stadtkommandant Wilck von der militärischen Sinnlosigkeit der Verteidigung überzeugt war, ließ er den Kampf weiterführen und kapitulierte erst, als die Stadt zu 85% zerstört war 28 . In einem weiteren Grundsatzbefehl Hitlers an die Truppenführer, der bis April 1945 allen Offizieren der Wehrmacht immer wieder in Erinnerung gerufen wurde, hieß es: „Der Krieg entscheidet über Sein und Nichtsein des deutschen Volkes. Er fordert rücksichtslosen Einsatz jedes Einzelnen. Todesmutige Tapferkeit der Truppen, standhaftes Ausharren aller Dienstgrade und unbeugsame überlegene Führung" 29 . Auf dieser ideologischen Basis des „Alles oder Nichts", des Sieges oder der Selbstvernichtung, wurde bis zum Selbstmord Hitlers auf dem Reichsgebiet Krieg geführt, da die Wehrmachtführung, die dem hätte Einhalt gebieten können, die Handlungsmaximen des „Führers" loyal umsetzte. Hitler ergebene und vom Nationalsozialismus durchdrungene Oberbefehlshaber wie der Marinechef Dönitz, wie Rundstedt, Kesselring und Model im Westen, Schömer, Rendulic und Woehler im Osten setzten alles daran, den Willen des Diktators an den Fronten zu vollstrecken. In krassem Widerspruch zur katastrophalen militärischen Entwicklung propagierten deren Befehle - viele sind erhalten - unentwegt den „Endsieg" der nationalsozialistischen Weltanschauung: „Der Grundsatz, fanatischer Kampf um jeden Meter unseres Heimatbodens, der den Feind Ströme von Blut kostet, bis er vom Angriff abläßt, muß für uns heiligste Verpflichtung sein" - so etwa ein 27
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Rundschreiben Bormann N r . 255/44 v o m 2 1 . 9. 1944 an Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer, Staatsarchiv Poznan, NSDAP-Gauleitung Wartheland/Posen, Bd. 42, S. 229 f.; ferner Befehl Hitlers (von Jodl unterzeichnet), 16. 9. 1944, B A - M A , R W 4/v. 494, S. 108; Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 2 1 4 . Henke, Besetzung, S. 1 5 4 - 1 5 6 . Der Befehl vom 25. 11. 1944 w u r d e letztmalig am 12. 4. 1945 allen Offizieren bekanntgegeben. Abgedr. in: Müller/Ueberschär, Kriegsende, Dok. 13, S. 169 f.
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Befehl der im Südwesten operierenden Heeresgruppe G vom Januar 194530. „Es darf kein Schritt Boden kampflos aufgeben werden. Ich verbiete jede freiwillige Zurücknahme der Front. Die Angriffsspitzen des Feindes sind überall und zu jeder Zeit entschlossen anzugreifen und zu vernichten. Wo der Feind mit überlegenen Kräften angreift, ist bis zum letzten zu halten. Entschlossener denn je wollen wir kämpfen und siegen!" - so der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Wöhler, nach dem sowjetischen Durchbruch im März 194531. „Der Feind ist über den Rhein tief in das Reich eingebrochen. ... In dieser Lage gibt es nur eins: Weiterzukämpfen und allen Schicksalsschlägen zum Trotz doch noch eine Wende herbeizuführen. Fanatischer Wille muß unsere Herzen entflammen... Unbedingtes Vertrauen zu dem einmaligen Genie unseres Führers muß uns stark machen" - so Dönitz in einem Lagebericht an die Offiziere der Kriegsmarine am 7. April, den Bormann wegen seiner Vorbildhaftigkeit an die Gauleiter weiterleitete . Zum gleichen Zeitpunkt, als die Alliierten bereits große Teile des Reichsgebietes besetzt hatten, verhießen die Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Β im Westen, Model, und der Heeresgruppe Mitte im Osten, Schörner, in ihren Tagesbefehlen noch immer den „Sieg der nationalsozialistischen Idee" 33 . Da das Bekenntnis zum „Führer" und zum Nationalsozialismus, die Propagierung des unbedingten Durchhaltewillens bis zur Selbstaufopferung das rationale militärische Kalkül ersetzten, können auch die operativen Planungen nicht von der Ideologie getrennt werden, zumal Hitler am 19. Januar 1945 seine Absicht kundgetan hatte, die Wehrmacht bis auf Divisionsebene selbst zu führen 34 . Die operativen Vorgaben des OKH und des OKW an die Heeresgruppen und Armeen beschränkten sich auf die immergleichen Grundsätze des „Führers": Halten der Großkampflinie um jeden Preis, Halten der Kessel, der Festungen, der Städte, gegnerische Einbrüche seien unter schärfster Konzentration der Mittel abzuriegeln und zu vernichten, beantragte Frontrücknahmen werden verboten 35 . Die Stäbe vor Ort, in denen sich angesichts der aussichtslosen Lage oft „Defaitismus" breitmachte, mußten sich auf die Suche nach taktischen Aushilfslösungen zur lokalen Katastrophenvermeidung beschränken, die spätestens beim nächsten Großangriff des Gegners Makulatur werden mußten 36 . Anfragen nach dem militärischen Sinn der Haltestrategie wurden mit der stereotypen
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Abgedr. in: Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, Dok. 24, S . l l 1 - 1 1 4 . Ebd., Dok. 114, S. 2 2 0 f . Lagebericht Dönitz, 7. 4. 1945, BA, N S 6/134. Befehl Models, 29. 3. 1945, zit. n. Messerschmidt, Wehrmacht (1995), S. 247; Befehl Schörners an alle Offiziere der Heeresgruppe Mitte, 10. 4. 1945, B A - M A , R H 19 VI/33, S. 241 f. Befehl Hitlers, 19. 1. 1945, BA, R H 2/331b, S. 1 5 2 f . Exemplarisch hierzu etwa Hitlers Befehl an alle Kommandeure und Generalstabsoffiziere, 3. 4. 1945, B A - M A , R H 2/330, S. 24 f. Der „Defaitismus" in den Stäben wurde v o n den Oberbefehlshabern immer wieder scharf kritisiert, beispielhaft etwa: Schreiben Schörners, 27. 2. 1945, an die Oberbefehlshaber und kommandierenden Generale, B A - M A , R H 19VI/33, S. 2 1 4 f . Hierzu auch der Rückblick des ehemaligen Frontoffiziers Weizsäcker, Zeiten, S. 8 6 - 9 1 .
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Begründung Hitlers zurückgewiesen: Halten, um gegnerische Truppen zu binden, damit diese an anderer Stelle nicht eingesetzt werden könnten 37 . Ein Beispiel: Die operativen Planungen der an der Weichselfront stehenden Heeresgruppe Α Ende des Jahres 1944. Alle - Guderian als Generalstabschef, die Oberbefehlshaber der Heeresgruppe und der unterstellten Armeen und deren Stäbe - wußten, daß die Umsetzung des Haltebefehls Hitlers beim in Kürze erwarteten sowjetischen Großangriff die Zerschlagung der Heeresgruppe und den sowjetischen Durchbruch bringen werde. Deshalb hatte man im Generalstab der Heeresgruppe eine strategische Variante - „Unternehmen Schlittenfahrt" - entwickelt, die einen taktischen Rückzug mit nachfolgenden konzentrierten Panzerangriffen vorsah. Man hoffte, dadurch die überlegenen sowjetischen Verbände eher aufhalten und die Verluste kalkulierbarer machen zu können. Da Guderian aber erklärte, er würde Hitler einen solchen taktischen Rückzug nicht vorschlagen können, folgte man dessen Haltestrategie, die bekanntlich den Zusammenbruch der Heeresgruppe Α und den Vorstoß der Roten Armee bis zur Oder im Gefolge hatte 38 . Aber auch das „Unternehmen Schlittenfahrt" hätte den Vormarsch der Roten Armee letztlich nicht aufhalten, sondern höchstens zeitlich verzögern können, denn die Daten zur Lage der Heeresgruppe Α zeigen, daß deren Kampfkraft durch Menschen- und Materialverluste, durch Abgaben an andere Fronten (nach Ungarn und an die Westfront) und durch mangelhaften Nachschub auf einen Tiefpunkt abgesunken war. Die überlieferten Besprechungsprotokolle der Militärs machen deutlich, daß diese im Grunde ratlos waren 39 . Die Lage der Heeresgruppe Α im mittleren Abschnitt der Ostfront Anfang Januar 1945 spiegelte beispielhaft die Situation der gesamten Wehrmacht wider, denn auch die Alternativplanungen der Stäbe an den anderen Fronten, die eine flexiblere Abwehrstrategie vorsahen und die Durchschlagskraft mancher gegnerischer Durchbrüche kurzfristig hätten abschwächen können, waren im Grunde militärisch sinnlos, da sie an der katastrophalen militärischen Gesamtlage grundsätzlich nichts geändert hätten.
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Exemplarisch hierzu die Weisung Hitlers vom 3 1 . 3 . 1945, „den kurländischen Raum zu halten, um dem Gegner die Benutzung der kurländischen Häfen zu verwehren, durch die Bedrohung der tiefen Flanke des Gegners starke Feindkräfte auf sich zu ziehen und dadurch den in das entscheidene Stadium getretenen Kampf auf deutschem Reichsgebiet zu entlasten. Dazu ist es erforderlich, daß die derzeitige HKL gehalten wird". Schreiben Hitlers, 31. 3. 1945, an den Oberbefehlshaber der Kurlandarmee, Rendulic, BA-MA, RH 2/329, S. 15f. Handakte Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, 15. 10. 1944-11. 1. 1945, Vorbereitung der Abwehrschlacht im großen Weichselbogen, BA-MA, RH 19VI/33; Magenheimer, Abwehrschlacht. Kriegstagebuch A O K 9 Nr. 11, Eintrag vom 28. 12. 1944, BA-MA, RH 20-9/205, S. 312-314; Aktennotiz, 29. 12. 1944, über die Besprechung des Chefs der Heeresgruppe Α im O K H am 29. 12.1944, ebd., RH 19 VI/33, S. 48f.; Aktennotiz für das KTB anläßlich der Anwesenheit des Generaloberst Guderian in Krakau am 7. 1. 1944, ebd., S. 28-30.
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Als zu Beginn des Jahres 1945 - nach dem Scheitern der letzten deutschen Offensive im Westen und dem sowjetischen Durchbruch im Osten - die militärischen Operationen auf das Reichsgebiet übergriffen, kam von den Fronten eine ununterbrochene Reihe von Katastrophenmeldungen: ein exponentieller Anstieg der Menschen- und Materialverluste, die Vernichtung der allerletzten operativen Reserven, Mangel an kampferfahrenen Soldaten, Mangel an Munition, Treibstoffen, Panzern, Geschützen. Die Verbände waren ausgebrannt, deren Kampfwert oft nur noch gering. Die Skelette zerschlagener Verbände wurden mit zu jungen oder zu alten Rekruten aufgefüllt, Verbände, die ohne Kampferfahrung und ohne inneren Zusammenhalt waren und deshalb im Fronteinsatz durchweg hohe Verluste erlitten 40 . In den zu Festungen erklärten Städten standen schlecht bewaffnete und ausgebildete Wehrmacht- und Volkssturmeinheiten 41 . Der Kampfwert der meisten Verbände war trotz der fanatischen Propaganda gering. Improvisation hieß das Gebot der Stunde: Stabilisierte sich die Front - oft nur deshalb, weil der Gegner seinen Nachschub ordnete - , dann suchte man gegnerische Einbrüche durch verlustreiche Gegenangriffe abzuriegeln, sogenannte Löcher zu stopfen - spätestens beim nächsten Großangriff erfolgte dann der Durchbruch des Gegners 42 . Ein militärisch sinnvolles, das heißt in Richtung einer generellen Verbesserung der Lage erfolgversprechendes Handeln war nirgends mehr erkennbar. Dennoch: Trotz der katastrophalen Zuspitzung wurde unentwegt weitergeplant, damit der Krieg im Reich auf einem immer kleiner werdenden Versorgungs- und Kampfraum fortgeführt werden konnte. Noch immer wurde in Befehlen von „kriegsentscheidenden Maßnahmen" gesprochen, von der Notwendigkeit Zeit zu gewinnen - Zeit für die Vorbereitung weiterer Aushilfen, die letztlich nur das Ausmaß der Selbstzerstörung vorantrieben: Obwohl das Konzept, die Rote Armee in einem Stellungssystem aufzufangen, sich als völlig untauglich erwiesen hatte, da dieses in „kürzester Frist" überrollt worden war 43 , befahl Guderian Ende Januar 1945 zwischen Oder und Berlin Sperren zu errichten und Mitte Februar die Rundumverteidigung von Dresden und Magdeburg, die Einrichtung von Brückenköpfen an der Elbe sowie die Sprengung der Elbebrücken vorzubereiten 44 . Anfang März wurde die Vorbereitung der Verteidigung, besser ausgedrückt der Zerstörung Berlins befohlen und zwar um
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Im G r u n d e ist dies der wesentliche Inhalt der im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg lagernden Restbestände an A k t e n des O K H (RH 2), der Heeresgruppen (RH 19), Armeen (RH 20) und Panzerarmeen (RH 2 1 ) f ü r den Zeitraum Januar bis Mai 1945. A u f z . Thilos, 6. 4. 1945, Der W e r t von Festungen im gegenwärtigen Stadium des Krieges, B A - M A , R H 2/335, S. 2 0 3 - 2 0 6 . . Ein Beispiel f ü r viele: Meldung des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Nord, Rendulic, an Guderian über die Lage der 4. A r m e e am 26. 2. 1945, B A - M A , R H 2/328, S. 242-245. A u f z . Thilos, 6. 2. 1945, Gedanken zum Stellungsbau während der Winterschlacht, ebd., R H 2/332, S. 5 7 - 5 9 . Befehl Guderians, 29. 1. 1945, ebd., R H 2/331a, S. 20/21; Befehl Guderians an Militärund Parteidienststellen, 14. 2. 1945, ebd., R H 2/332, S. 1 2 8 f .
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„jeden Häuserblock, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Hecke, jeden Granattrichter ... bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone" 45 . Die letzte von Hitler befohlene Offensive blieb im März 1945 in Ungarn unter schweren Verlusten stecken 46 . Skrupellos wurde deshalb die Bevölkerung durchgekämmt, um das letzte Aufgebot für Wehrmacht und Volkssturm zu mobilisieren. Nur vereinzelt protestierten Offiziere bei höheren Stellen, daß 17-jährige Rekruten mit vier- oder achtwöchiger Kurzausbildung und Volkssturmverbände beim Einsatz sinnlos geopfert würden 47 . Am 21. März 1945 erging dann der Befehl Hitlers, sämtliche Ausbildungseinheiten der Wehrmacht hinter die West- und Ostfront zu stationieren, damit „feindliche Durchbrüche an den Fronten in den Tiefen aufgefangen und abgeriegelt werden" 48 . Dieser Befehl ging wahrscheinlich auf eine Initiative Speers zurück: Der Rüstungsminister hatte am 18. März 1945 in einer Denkschrift für Hitler 1945 den „wirtschaftlichen Zusammenbruch" als „unvermeidbar" bezeichnet und angesichts der sich abzeichnenden alliierten Durchbrüche aus den Brückenköpfen an Rhein und Oder gewarnt, daß „jeder Kilometer Raum, der neu verloren geht, diesen Zusammenbruch in ungeheurem Maße beschleunigt", und deshalb „drastische Maßnahmen zur Verteidigung des Reiches an der Oder und am Rhein" gefordert. Er schlug vor, alle Soldaten zusammen mit dem Volkssturm an Rhein und Oder zu konzentrieren: „Alle Gaue des Reiches werden nur noch an diesen beiden Flüssen verteidigt. ... Ein zähes Durchhalten an der jetzigen Front für einige Wochen kann dem Gegner Achtung abgewinnen und vielleicht doch noch das Ende des Krieges günstig bestimmen" 49 . Mußte der in seiner Zielsetzung illusionäre Vorschlag Speers de facto die völlige Vernichtung von Wehrmacht und Volkssturm an Rhein und Oder zur Folge haben, so zog Hitler
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Grundsätzlicher Befehl f ü r die Vorbereitungen zur Verteidigung der Reichshauptstadt des Befehlshabers des Verteidigungsbereichs Berlin, General Hellmuth Reymann, 9. 3. 1945, in: Rürup (Hrsg.), Berlin, S. 25 f. Fernschreiben des O B der Heeresgruppe Süd, Wöhler, 15. 3. 1945, an O K H , B A - M A , RH 2/329, S. 7 5 - 7 8 ; Fernschreiben Woehlers, 17. 3. 1945, an O K H , ebd., S. 8 3 - 8 6 . Eines der in den A k t e n erhaltenen seltenen Beispiele hierzu stellt der Protest des Befehlshabers der Panzerdivision Brandenburg, Schulte-Holthaus, beim Generalstab des O K H wegen des „rücksichtslosen und unverantwortlichen Verbrauchs unfertiger Verbände" dar: Fernschreiben, 26. 11. 1944, ebd., R H 2/316, S. 27. Befehl Hitlers, 2 1 . 3 . 1 9 4 5 (von Keitel unterzeichnet), an die Spitzen der Wehrmacht, ebd., RM 7/102, S. 99 f.; N o t i z des Oberbefehlshabers des Ersatzheeres, 26. 3. 1945, über Verlegung der Ausbildungseinheiten des Ersatzheeres hinter die West- und Ostfront: Aktion Leuthen, ebd., R H 2/334, S. 3 1 - 4 6 . Denkschrift Speers, 18. 3. 1945, über die Maßnahmen zur Verteidigung des Reiches an Oder und Rhein, B A , R 3/15367. Speer erwähnt in seinen Memoiren nur die Denkschrift vom 15. 3. 1945, in der er den Zusammenbruch der Wirtschaft auf 4 bis 8 Wochen vorausgesagt hatte, B A , R 3/1536, und die er am 19. 3. 1945 Hitler übergeben haben will, in: Speer, Erinnerungen, S. 4 4 2 - 4 4 6 . Speers Schweigen über die Denkschrift vom 18. 3. 1945 ist wohl der gewichtigste Beweis dafür, daß er diese Denkschrift tatsächlich Hitler übergeben hatte. Die sich dem „Nerobefehl" anschließenden Absetzbewegungen Speers von Hitler wurden wohl durch Speers H o f f n u n g bestimmt, dadurch noch ein f ü r ihn persönlich günstiges Kriegsende zu erreichen und die eigene Haut zu retten, was aus seiner Perspektive mit Hitler nicht mehr zu erreichen war. Eine Publikation der in Frage kommenden Dokumente soll in nächster Zeit erfolgen.
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aus Speers Vorschlag auf seine Weise die Konsequenzen und unterzeichnete am 19. M ä r z 1945 den berüchtigten „Nerobefehl", um die Kriegführung der „verbrannten Erde" auch auf dem Reichsgebiet weiterzuführen 5 0 . Damit hatte Hitler in konsequenter Verfolgung seines rassenideologischen Dogmas endgültig die Weichen auf die Selbstvernichtung des deutschen Volkes gestellt. Da Wehrmachtführung und Nationalsozialistische Führungsoffiziere den Soldaten nur noch Durchhaltebefehle bis zur letzten Patrone unter Androhung schwerster Strafen anbieten konnten, um die verlangte Selbstaufopferung f ü r den „Führer" durchzusetzen, kam es zu einer „wachsenden Diskrepanz zwischen Soldaten und militärischer Führung" 5 1 . Dies wird dokumentiert durch die Zunahme und Radikalisierung der Disziplinierungsbefehle und den anwachsenden Terror durch Standgerichte gegenüber den Soldaten 5 2 . Sicherlich gab es viele, v o r allem junge, im Nationalsozialismus sozialisierte Soldaten und Offiziere, die sich im Sinne des Regimes als fanatische Kämpfer verstanden und bereit waren, f ü r den „Führer" zu sterben, doch ist eher davon auszugehen, daß eine Mehrheit der Soldaten den Endsiegparolen der Führung keinen Glauben mehr schenkte 53 . Vielfach belegt sind Klagen von Partei- und Militärstellen über den „Defaitismus" der Soldaten, das „Versprengtenunwesen", Desertionen, „Drückebergerei" 5 4 . Offiziere, die verantwortungsbewußt handelten und ihre Leute v o r der sinnlosen Opferung zu bewahren suchten, wurden genauso mit der Todesstrafe bedroht wie diejenigen Soldaten, die Überlebensstrategien entwickelten, um sich dem Vernichtungsdruck zu entziehen. Klaus-Dietmar Henke hat darauf hingewiesen, daß in der „Atmosphäre des Durchhalteterrors der Gebrauch des gesunden Menschenverstandes und befehlwidriges Verhalten
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Abgedruckt in: Müller/Ueberschär, Kriegsende, Dokument 8, S. 164. Messerschmidt, Wehrmacht (1990), S. 210; Henke spricht sogar von einer „unüberwindlichen Kluft", in: ders., Besetzung, S. 812. Beispiele aus der „Flut" von Disziplinierungsbefehlen: Befehl Keitels, 26. 1. 1945, BA, Sammlung Schumacher, Bd. 366; Befehl Stellvertretendes Generalkommando VII,19. 3. 1945, ebd.; Befehl Keitels, 5. 3. 1945, BA-MA, RM 7/102; Befehl Guderians, 21. 2. 1945, betr. Unterstützung der Ordnungsorgane durch die Truppe, ebd., S. 169 f. Weitere Befehle sind abgedruckt in: Müller/Ueberschär, Kriegsende, Dok. 5, 6, 7, S. 166-164; Dok. 9,10, 12, S. 165-171; hierzu: Messerschmidt, Wehrmacht (1990), S. 207ff. Die Kernthese von Omer Bartov, in der Wehrmacht eine nationalsozialistische Kampfgemeinschaft aller Soldaten zu sehen, die aus primär ideologischen Gründen noch in der Endphase des Krieges mit „großer Entschlossenheit" weitergekämpft habe, überträgt im Grunde das Wunschbild der NS-Propaganda undifferenziert auf alle Soldaten, in: ders., Brutalität, bes. S. 188-190; ders., Wehrmacht. Bisher steht eine systematische Untersuchung noch aus, doch zeigt die Durchsicht des Aktenmaterials, daß es im Frühjahr 1945 - durchaus vergleichbar mit der Situation im Sommer 1918 - eine breite Bewegung passiver Resistenz von Hunderttausenden Soldaten gegeben haben muß. Dokumentiert ist dies zum einem in Akten von Parteistellen (ζ. B. Gauleitung Magdeburg-Anhalt, 16. 2. 1945, Haltung von Soldaten in der Heimat, BA, NS 6/135; Rundschreiben Goebbels', 5. 3. 1945, an alle Gaupropagandaleiter, BA, NS 6/137, S. 56 f.; Vermerk Walkenhorsts, 8. 3-1945, betr. Nicht erfaßte und herumirrende Soldaten, BA, NS 6/137, S. 21-25) und in den Befehlen und Meldungen der Heeresgruppen- und Armeebefehlshaber, die ihren Offizieren und Soldaten laufend härteste Strafen androhten. Zur Entwicklung an der Westfront siehe Henke, Besetzung, S. 795-813; zur Entwicklung an der Ostfront die Beispiele unter Anm. 62.
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ein und dasselbe geworden waren - ein Zustand, der jede Armee in kürzester Frist ruinieren mußte" 55 . Nahm im Süden und Westen im Frühjahr 1945 die Kampfmotivation vieler Truppenteile ab, ließen sich dort Verbände überrollen und streckten die Waffen56 , so kam Hitler und der Wehrmachtführung im Osten jedoch die Kriegführung der Roten Armee entgegen. Die Ausschreitungen von Rotarmisten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung und die Furcht vor der russischen Kriegsgefangenschaft stachelten die Kampfmotivation an und können den verbissenen Widerstand von vielen Truppenteilen im Osten erklären 57 . Dementsprechend standen die Soldaten an der Ostfront unter einem weit stärkeren Druck als im Westen: Auf der einen Seite waren sie einer skrupellosen Führung ausgesetzt, wie etwa dem berüchtigten Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Schörner, der seine Truppen geradezu verheizte, Offiziere und Mannschaften brutal abstrafte und in Ergebenheitstelegrammen an Hitler bis zuletzt Optimismus verbreitete: „Daß viele Stellen meiner Front sehr dünn besetzt und auch in den wahrscheinlichen Schwerpunkten schwache Stellen enthalten sind, ist eine Selbstverständlichkeit, die mir keine besonderen Sorgen macht.... Wir werden Aushilfen finden"58. Auf der anderen Seite stand ein Gegner, in dessen Land die Wehrmacht über drei Jahre hinweg einen beispiellosen Vernichtungskrieg geführt hatte und dessen Rache man nun zu Recht fürchtete. Nur wenige Oberbefehlshaber hatten in dieser Phase noch den Mut, den Befehlen des „Führers" eine eigenständige Entscheidung gegenüberzustellen und sich zumindest punktuell einmal der Verantwortung gegenüber den Soldaten zu stellen, so etwa der Oberbefehlshaber der 4. Armee, Hoßbach, der im Januar 1945 entgegen dem Haltebefehl Hitlers in Ostpreußen den Rückzug befohlen hatte, um die Soldaten vor der drohenden Einkesselung zu bewahren. Die 4. Armee sollte dadurch jedoch nicht ihrer Vernichtung entgehen, denn Hitler setzte Hoßbach zusammen mit dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Reinhardt, ab und befahl einen Kessel zu bilden 59 . Ende März 1945 meldete dessen Nachfolger, Weiß, an Hitler, man habe dem überlegenen Feind 10 Wochen lang auf Befehl des „Führers" standgehalten, „jeden Meter deutschen Bodens verteidigend" 60 . Für diese banale Begründung war die 4. Armee fast völlig vernichtet worden. Ein anderes Beispiel: Bei den Endkämpfen im Danziger Kessel wurden Anfang April die Reste eines Armeekorps, über 20 000 Mann auf einer Landzunge, der Oxhöfter Kampe, eingeschlossen. Dessen Befehlshaber
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Henke, Besetzung S. 812 f. Volkmann, Südwestdeutschland, S. 3 0 - 3 5 ; Henke, Besetzung, S. 3 9 3 - 4 1 2 , 6 5 7 - 6 7 4 , 795-813. Schieder (Hrsg.), Vertreibung, I; Schwendemann, Endkampf, S. 2 2 - 2 4 ; Zeidler, Kriegsende. A u s russischer Sicht: Semirjaga, Rote Armee, S. 2 0 0 - 2 1 0 . Schreiben Schörners, 10. 4. 1945, an Hitler, B A - M A , R H 2/335, S. 78/79; Schreiben Schörners, 30. 3. 1945, an Hitler, B A - M A , R H 2/334, S. 157. Befehl Hitlers (unterzeichnet Guderian), 23. 1. 1945, an Heeresgruppe Mitte, ebd., R H 2/328, S. 161; Befehl Hitlers (unterzeichnet Wenck), 23. 1. 1945, an Heeresgruppe Mitte, ebd., S. 163; Befehl Hitlers, 26. 1. 1945, an Heeresgruppe Nord, ebd., S. 230; Befehl Hitlers (unterzeichnet Guderian), 5. 2. 1945, an Heeresgruppe Nord, ebd., S. 135; Hoßbach, Schlacht. Fernschreiben Weiß', 29. 3. 1945, an Hitler, ebd., R H 2/334, S. 133 f.
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von Kessel unterlief Hitlers Haltebefehl und ordnete am 4. April eigenständig die Ubersetzung in einer nächtlichen Blitzaktion auf die Halbinsel Heia an 61 . Grundsätzlich stellten die führenden Militärs die Treue zum „Führer" jedoch höher als die Verantwortung und Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihren Soldaten, die gegen besseres Wissen oft sinnlos geopfert wurden. Unter diesen Bedingungen kam es im März/April 1945 auch an der Ostfront zu einem Zerfall der Kampfmotivation; eine Reihe von Verbänden konnte nur noch mit „schärfsten Mitteln" zusammengehalten werden 6 2 .
III Die Entschlossenheit der deutschen Führung, auf dem Reichsgebiet den Endkampf auszutragen, hatte den direkten Einbezug der deutschen Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen und damit die Inkaufnahme großer Menschenverluste zur Folge. Schon angesichts der alliierten Bomberoffensiven, gegen die keinerlei wirksame militärische Mittel mehr eingesetzt werden konnten, war die Begründung grotesk, mit der die Soldaten in der Propaganda stereotyp aufgefordert wurden, zum Schutz der eigenen Bevölkerung weiterzukämpfen und diese vor der Vernichtung zu retten 63 . Im Westen tat sich deshalb eine Kluft zwischen kriegsmüder Bevölkerung und Wehrmacht auf. Der Mehrheit der Bevölkerung war sehr wohl bewußt, daß der Krieg und die Leiden nach der Besetzung durch die Westallierten ein Ende hätten. D a diese sich weitgehend korrekt verhielten, fanden auch Propagandameldungen über Greueltaten der Briten und Amerikaner keine Resonanz. Für die Militärs galt die Bevölkerung deshalb als „defaitistischer" Störfaktor; im Operationsgebiet der Armeen im Westen wurde oft eine „feindselige Haltung gegen die Truppe" beklagt 6 4 . Als nach dem Beginn der alliierten Offensive im März 1945 das „Vertrauen zur Führung lawinenartig abrutschte" - so der letzte SD-Bericht von Ende März 1945 65 - befahl Hitler die zwangsweise Evakuierung der Kampfgebiete im Westen, eine Maß-
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Befehl Hitlers (unterzeichnet Krebs), 1 . 4 . 1945, an Heeresgruppe N o r d , ebd., R H 2/335, S. 5; Fernschreiben von Kessels, 3 . 4 . 1945, an O K H , ebd., S. 84; Führervorträge, 4.4. 1945 und 5. 5. 1945, ebd., S. 124 ff, 149 ff; Schreiben des A O K Ostpreußen (von Saucken), 8. 4. 1945, an O K H , ebd., R H 2/336, S. 269. Vortragsnotiz, 18.4. 1945, über den Zustand der vom Samland auf Nehrung zurückgeführten Divisionen, ebd., R H 2/337, S. 23-25; Befehl Schörners, 12. 3. 1945, ebd., R H 19 VI/33, S. 221 f.; N o t i z e n Schörners, 15. 4. 1945, ebd., S. 246-248; Fernschreiben Schörners, 19. 3. 1945, an Hitler, ebd., R H 2/333, S. 169f.; Fernschreiben Heeresgruppe Süd, 3. 4. 1945, an O K H , Betr: Sperr- und Auffangmaßnahmen im R a u m Wien und westlich davon, ebd., R H 2/335, S. 82 f.; Fernschreiben O B der Heeresgruppe N o r d , Weiß, 31. 3. 1945, an Guderian, ebd., R H 2/334, S. 186-189. So etwa Hitler in seinen Proklamationen v o m 1. 1. 1945,30. 1 . 1 9 4 5 , 2 4 . 2. 1945 und 11.3. 1945, in: D o m a r u s (Hrsg.), Hitler, 2, S. 2185-2187, 2195-2198, 2203-2206, 2211 f.; desgl. Rundfunkansprache Goebbels', 2 8 . 2 . 1945, in: Heiber (Hrsg.), Goebbels - Reden, 2, S. 429-446. Schreiben Heeresgruppe B, 6. 3. 1945, an den Gauleiter des Mosellandes, Simon, in: Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, D o k . 89, S. 193 f.; Volkmann, Südwestdeutschland, S. 30-35; Henke, Besetzung, S. 784-790, 813-844. Steinen, Krieg, S. 572-574; Briefübersicht N r . 10, 9. 3. 1945, B A , R 55/622, S. 181-183.
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nähme, die allerdings angesichts der schnell vorrückenden allierten Truppen nur noch punktuell durchgeführt werden konnte 6 6 . Während die Bevölkerung im Westen mehrheitlich nicht mehr bereit war, den Krieg länger mitzutragen, schienen dagegen die massenhaften Ausschreitungen der Roten Armee der Weiterführung des Krieges im Osten noch einen Sinn zu geben. Mit dem Argument, die Front sei zu halten, da nur dadurch die deutsche Bevölkerung vor dem Bolschewismus geschützt werden könne, wurde der Kampfwille der Soldaten von der Propaganda angestachelt 67 . Nach 1945 war dies für die Militärs wichtigstes Argument der Selbstrechtfertigung: „Die Rettung der Menschen aus den ostdeutschen Provinzen war vordringliches Anliegen im Frühjahr 1945" - so Dönitz 197 1 68 . Daß die Flucht vor der Roten Armee in einem Chaos sondergleichen und mit hohen Verlusten ablief, wurde der alleinigen Verantwortung der Gauleiter zugeschoben, die in ihrer Funktion als Reichsverteidigungskommissare die Evakuierung nur unzureichend oder überhaupt nicht vorbereiten ließen. Oft genug hätten dann die NS-Funktionäre ihren Posten in letzter Minute schmählich verlassen. Die Wehrmacht dagegen, insbesondere die Marineführung, habe alles dafür getan, die Fehler der Parteistellen auszugleichen und Millionen in Sicherheit gebracht 69 . Der Weiterführung des Krieges im Osten wurde somit ein Sinn verliehen, der in vielen Darstellungen bis heute nachwirkt 7 0 . Eine Uberprüfung ergibt allerdings ein ganz anderes Bild: Schon bei der Vorbereitung lokaler Evakuierungspläne, über die die Wehrmachtstellen vor Ort informiert waren, wurde deutlich, daß sich das militärische Interesse allein auf die Räumung des Gefechtsfeldes bezog 7 1 . Obwohl die Militärs wußten, daß es angesichts der realen Kräfteverhältnisse nicht genügen werde, beim nächsten Großangriff der Roten Armee die Bevölkerung von einem Landkreis in den anderen zu evakuieren, daß nach den Ausschreitungen von Rotarmisten im ostpreußischen Nemmersdorf im Oktober 1944 mit dem Schlimmsten gerechnet werden mußte, blieben Einsprüche gegen das unverantwortliche Agieren der Reichsverteidigungskommissare aus 72 .
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Räumungserlaß Hitlers, 21. 3. 1945, abgedr. in: Speer, Erinnerungen, S. 584; A u f z . Imhoffs, 22. 3. 1945, Betr. Lage der Evakuierung, BA, R 55/616, S. 2 5 0 f . Zur Durchführung Henke, Besetzung, S. 827 ff. Exemplarisch hierzu ein Flugblatt der Heeresgruppe Weichsel, Ende Januar 1945: „Rotmord. Tatsachenbericht... Deutscher Soldat! Hier gibt es nur eines: Rache! Mit eiskalter Überlegung Vergeltung üben! Denke an Deine Frau, Deine Kinder und handle .. Das sind keine Menschen mehr, das sind vertierte Scheusale ... Keine Schonung mehr f ü r diese Bestien!", BA, Sammlung Schumacher 366. Hierzu auch die Proklamationen von Hitler und Goebbels, in: Domarus (Hrsg.), Hitler, 2. V o r w o r t Dönitz, in: Friedmann, Meer; Dönitz, Zehn Jahre, S. 4 3 0 ff; Guderian, Erinnerungen, S. 308. Dieckert/Grossmann, Kampf, S. 1 1 9 - 1 3 2 ; Lasch, Königsberg, S. 76 ff. Hillgruber, Zusammenbruch; D u f f y , Sturm. Erlaß des A O K 4, 24. 8. 1944, Staatsarchiv Olsztyn (Alienstein) 247 1/314; Notiz über die Besprechung am 26. 9. 1944 beim Reichsverteidigungskommissar Ostpreußen in Königsberg, B A - M A , R H 1911/222, S. 204 f. Im Gau Danzig-Westpreußen befahl Gauleiter Forster Anfang September 1944, die Evakuierung der Landkreise östlich der Weichsel in die westlichen Bereiche des Gaues vorzubereiten: Befehl Forsters, 1 . 9 . 1 9 4 4 , Staatsarchiv Danzig 1955/1, Landrat Stargad,
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Auch als die Rote Armee Mitte Januar 1945 die deutschen Linien durchbrach und eine Bugwelle von Millionen Flüchtlingen vor sich herschob, es zu einem Massensterben wegen der militärischen Kampfhandlungen, der harten Witterungsbedingungen und der Ausschreitungen der Roten Armee kam 73 , änderten die Heeres- und die Marineführung nicht ihre Prioritäten. Im Telegrammverkehr zwischen dem Führerhauptquartier bzw. dem OKH und den Heeresgruppen vor Ort erscheint an keiner Stelle jemals das Argument, die Front sei zu halten, um die Flucht der Bevölkerung zu decken 74 . Ende Januar 1945, als bereits 3,5 Millionen Menschen auf der Flucht waren, untersagte Keitel sogar jegliche weiteren Räumungsmaßnahmen westlich der Tirschriegelstellung, einer Verteidigungslinie in der östlichen Neumark, und in Schlesien in den Gebieten 30 km westlich der Oder 75 . Himmler erklärte in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel gegenüber dem Gauleiter von Brandenburg, daß „alle Räumungsmaßnahme im Gau Mark Brandenburg zu unterbleiben haben. Wir organisieren die Verteidigung und nicht das Davonlaufen" 76 . Daß Truppenteile versuchten, den Flüchtlingen zu helfen, ist vielfach bezeugt 77 , verdeckt jedoch die Tatsache, daß die Führung den sogenannten militärischen Erfordernissen immer den Vorrang vor den Belangen der ostdeutschen Zivilbevölkerung gab. Auch hier belog die Wehrmachtführung ihre Soldaten: Es wurde nicht primär Krieg geführt, um Kinder und Frauen zu retten, sondern um Hitlers Haltebefehle umzusetzen. Verhängnisvoll für Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Flüchtlingen wurde deren gezielte Benachteiligung bei der Verteilung der knappen Transportkapazitäten. Militärtransporte zu Land und zur See hatten Vorrang, Eisenbahn- und Schiffskapazitäten, knapper Treibstoff und Kohle wurden in erster Linie der Wehrmacht zur Verfügung gestellt. Hitler und Dönitz hatten bereits Ende Januar 1945 vereinbart, daß militärische Transporte in der Ostsee vor den Flüchtlingstransporten absolute Priorität besäßen 78 . Dementsprechend befan-
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S. 1 9 - 2 9 . Der wahrscheinlich einzige, noch erhaltene Räumungsplan östlich von OderNeisse, der Räumungsplan von Thorn, sah dann vor, daß die Bevölkerung im Falle eines sowjetischen Angriffs in das 60 km entfernte Bromberg überführt werden sollte, Staatsarchiv Torun, Acta miasta Torun, Nr. 3 0 8 - 3 2 8 . Die A u t o r e n der Dokumentation zu Flucht und Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung schätzten, daß in den ehemaligen Reichsgebieten östlich von O d e r und Neiße durch Flucht, Vertreibung und Deportation etwa 1,6 Millionen Zivilpersonen umgekommen seien, Dokumentation der Vertreibung, 1 , 1 , S. 159. Das Bundesarchiv berechnete die Zahl der Deutschen, die zwischen 1945 und 1948 in diesen Gebieten durch verbrecherische Handlungen gewaltsam zu Tode kamen, auf mehr als 400 000, siehe Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1 9 4 5 - 1 9 4 8 , in: Bericht des Bundesarchivs vom 28. 5. 1974, S. 40ff. Zur Problematik der Verlustzahlen: Overmans, Verluste. Die Durchsicht sämtlicher erhaltener Befehle in den Akten des O K H , der Heeresgruppen und Armeen im Osten und der Seekriegsleitung im B A - M A ergeben diesen Befund. K T B O K W , IV, 2, S. 1324 f. Zentrum f ü r die A u f b e w a h r u n g historisch dokumentarischer Sammlungen (Sonderarchiv) Moskau, 519—4-16, Rundschreiben Nr. 11/45 der Kreisleitung Calau, 26. 1. 1945, S. 6 - 8 . Ebd., 1 2 7 5 - 2 - 3 2 4 , Funkspruch des Kommandeurs der Feldgendarmerieabt. 581 (4. Armee), 15. 2. 1945, über die Flüchtlingstrecks über das frische Haff, S. 100. Lagevorträge des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Unterredungen Hitlers mit Dönitz, 22. 1. 1945, S. 636 f. und 28. 1. 1945, S. 640.
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den sich Mitte Februar in Ostpreußen noch 350000 Flüchtlinge, im Danziger Raum 400000 und ca 1,5 Millionen „gaueigene Bewohner", die über See nur unzureichend abtransportiert werden konnten, da die Schiffstransporte zur im Baltikum abgeschnittenen Kurlandarmee höchste Priorität besaßen. Darüber hinaus waren Transporte mit der Reichsbahn in Gebiete westlich der Oder nicht möglich, weil die Wehrmacht deren Kapazitäten für sich in Anspruch nahm 79 . Die Flüchtlinge wurden deshalb mit Trecks Richtung Pommern geschickt, wo sie dann jedoch durch die Rote Armee entweder überrollt wurden oder aber zurückflüchteten. Eine Besprechung bei der 2. Armee im Danziger Kessel vom 9. März 1945 zeigt überdeutlich, wo die Prioritäten lagen: „Im Brückenkopf befinden sich rund 2 Millionen Menschen; diese Zahl vergrößert sich täglich durch Trecks aus Richtung Stolp und Lauenburg. Bedauerlicherweise wurde die Bevölkerung erst nach Westen, nun wieder zurück nach Osten abtransportiert. Das Elend ist teilweise unglaublich, weil die Bevölkerung von der sich absetzenden Truppe im Einvernehmen mit der Gauleitung rücksichtslos von der Straße abgedrängt werden muß und liegenbleibt" 80 . Auch nach dem Beginn der sowjetischen Offensive auf den Kessel von Danzig Mitte März fand keine grundlegende Verbesserung der Transportlage über See - dem einzigen Fluchtweg, den es noch gab statt: „Der Abtransport aus diesem Raum ist zur Zeit sehr schwach" - wurde am 22. März 1945 aus dem Kessel von Danzig gemeldet 81 . Erst am 26. März nach dem sowjetischen Großangriff und damit viel zu spät - telegrafierte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord dann an Dönitz: „Im Bereich der Heeresgruppe 48 000 Verwundete, zusammen mit Hundertausenden Zivilisten bei Tag und Nacht feindlichem Artilleriefeuer und Bombenhagel hilflos ausgeliefert. Schickt Schiffe, Ausrüstung und Fahrzeuge" 82 . Dönitz blieb davon unbeeindruckt: Er legte am 31. März die Dringlichkeitsstufen für die Verteilung der knappen Kohlenkontingente für die Ostseeeschiffahrt fest. An erster und zweiter Stelle standen die militärischen Transporte, inbesondere der Nachschub der in aussichtsloser Position kämpfenden Reste der 2. und 4. Armee sowie der Kurlandarmee, an 3. Stelle der Transport von Verwundeten und Flüchtlingen und an 4. und letzter Stelle die Fischerei 83 . Daß auf dem Seeweg zwischen Januar und Mai 1945 dennoch eine Million Flüchtlinge und etwa 500000 verwundete Soldaten in den Westen abtransportiert werden konnten, war dem verantwortungsbewußten Einsatz der mittleren und unteren Marinestellen zu verdanken, die ungeachtet der rücksichtlosen Vorgaben ihrer Führung versuchten, mit den begrenzten Kapazitäten möglichst viele Transporte abzuwickeln 84 .
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Aufz. Imhoffs, 10. 2. 1945, Betr. Lage in der Evakuierung, BA, R 55/616, S. 172f.; Aufz. Imhoffs, 1 5 . 2 . 1945, Betr. Lage in der Evakuierung, ebd., S. 1 8 4 - 1 8 7 ; K T B S K L A , Februar 1945, Eintrag, 23. 2. 1945, B A - M A , R M 7/69, S. 265. Aktennotiz einer Besprechung über die Versorgungslage der 2. Armee, 9. 3. 1945, abgedr. in: Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, Dok. 96, S. 201 f. Aufz. Imhoffs, 22. 3. 1945, Betr. Lage der Evakuierung, BA, R 55/616, S. 2 4 8 - 2 5 1 . KTB S K L A , März 1945, Eintrag, 26. 3. 1945, B A - M A , R M 7/70, S. 375. Ebd., Eintrag 3 1 . 3 . 1945, S. 445 f. Zahlen aus: Lagebericht Ostsee, 21. 5. 1945, B A - M A , R M 7/854, S. 350.
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Angesichts des millionenfachen Flüchtlingselends muß es geradezu wie Hohn klingen, daß die militärischen Transportstellen ihren Anspruch auf Vorrang durch einen Befehl Hitlers weiter absichern konnten. Speer, von Hitler zum Beauftragten des Transportwesens ernannt und durch dauernde Frontreisen in engem Kontakt zu den Oberbefehlshabern stehend, informierte am 15. März 1945 die obersten Militär-, Partei- und Reichsstellen, der „Führer" habe auf seinen Vorschlag folgendes angeordnet: „Unsere stark verminderte Transportkapazität muß unter allen Umständen zum zweckmäßigsten Einsatz kommen. Maßgebend für die Rangfolge der Transporte muß bei der gegenwärtigen Notlage ausschließlich ihr unmittelbarer Wert für die Kriegsführung sein. Dies gilt besonders bei Räumungen. Ich ordne daher an: Bei Räumungen ist nach folgender Reihenfolge zu verfahren: Wehrmacht für operative Zwecke, Kohle, Ernährungsräumungsgut. Selbst Flüchtlingstransporte können erst nach voller Erfüllung dieses Bedarfs gefahren werden, wenn nicht wirklich ungenutzter Leerraum zur Verfügung steht. Ich verlange, daß alle Bedarfsträger von Partei, Wehrmacht, Staat und Wirtschaft sich mit äußerster Disziplin an diese Bestimmung halten, gez. Adolf Hitler" 85 . Im Kriegstagebuch des OKW wurde lakonisch vermerkt: Es gibt „praktisch keine Flüchtlingszüge mehr" 86 . Auch bei militärischen Operationen ließen die Befehle von oben oft jegliche Rücksichtnahme auf Zivilisten vermissen. Im OKH wurde im Februar kritisiert, daß Truppenteile Panzersperren für Flüchtlingstrecks offengelassen hätten; diese seien rücksichtlos zu schließen, denn „vom Feind überholte Ziviltrecks fallen ohnehin der Vernichtung anheim" 87 . Da die Männer zwischen 16 und 60 Jahren entweder zur Wehrmacht oder zum Volkssturm eingezogen waren, blieben Frauen, Kinder und alte Menschen bei der Flucht meist auf sich allein gestellt 88 . Was im Falle Aachens schon 1944 exemplarisch vorgeführt worden war, die völlige Zerstörung einer Stadt, die als Festung bis zum letzten gehalten wurde, das sollte im Osten einen infernalen Höhepunkt finden. Großstädte wie Breslau, Danzig und Königsberg, ja sogar Berlin, waren als Festungen und sogenannte Ortsstützpunkte Eckpfeiler in den operativen Planungen des OKH 89 . Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung sollten diese Städte - wie es hieß - bis zum letzten Mann gehalten werden. In Breslau, das 77 Tage belagert wurde, hatte der Festungskommandant General Niehoff unter Hinweis auf 140000 „verzweifelte" Zivilisten am 6. April bei Hitler die Kapitulation beantragt und eine ab-
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Rundschreiben Speers, 15. 3. 1945, Betr. Rangfolge der Transporte bei Räumungen, BA, R 3/1623a, S. 28; Abschrift: Befehl Hitlers, 1 4 . 3 . 1 9 4 5 , ebd., S. 28 (Rückseite). Speer, Erinnerungen, S. 430, der sich in seinen Memoiren rühmte, er habe sich bei Hitler - allerdings vergeblich - für die Belange der Flüchtlinge eingesetzt, erwähnt diesen Befehl mit keinem W o r t . Die Dringlichkeitsstufen f ü r Eisenbahntransporte waren bereits Anfang März festgelegt worden; der „Führerbefehl" stand noch aus, K T B O K W , IV, 2, Eintrag, 6. 3. 1945, S. 1150. Aufz. Thilos, 6. 2. 1945, B A - M A , R H 2/332, S. 57. Schieder (Hrsg.), Vertreibung; K r o c k o w , Stunde. A u f z . Thilos, 6. 4. 1945, Der W e r t von Festungen im gegenwärtigen Stadium des Krieges, B A - M A , R H 2/335, S. 2 0 3 - 2 0 6 .
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schlägige Antwort erhalten 90 . Obwohl Niehoff wußte, daß der Kampf aussichtlos und die von Hitler in Aussicht gestellte Wende illusionär war, ließ er den Kampf loyal zu Hitler noch über dessen Tod hinaus bis zum 6. Mai 1945 weiterführen 91 . Der Festungskommandant von Königsberg, Lasch, kapitulierte zwar am 9. April 1945, allerdings erst, als die Russen vor seinem Befehlsbunker standen 92 . Zehntausende Zivilisten und Soldaten kamen bei den Endkämpfen in Breslau und Königsberg ums Leben 9 3 . Im Westen weigerten sich der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Model und sein Stabschef Wagener im Ruhrgebietskessel zu kapitulieren, obwohl sich dort Millionen von Zivilisten aufhielten. Model und der O B West Kesselring hatten auch damit begonnen, in Treue zum „Führer" „trotz Bedenken" den berüchtigten „Nerobefehl" umzusetzten 9 4 . Daß Briten und Amerikaner das Ruhrgebiet im April 1945 binnen 2 Wochen besetzen konnten, zeigt jedoch, wie kriegsmüde die deutschen Truppen und die Zivilbevölkerung inzwischen waren . Die radikalen Befehle, die in den letzten Kriegswochen den sich bei Zivilbevölkerung und Soldaten rapide verbreitenden Erosionsprozeß an Loyalität gegenüber dem NS-Regime aufhalten sollten, wie etwa Himmlers Befehl vom 12. April 1945, „jedes Dorf und jede Stadt mit allen Mitteln" zu halten 96 , konnten in ihrer letzten Konsequenz, der kollektiven Selbstvernichtung, nicht mehr umgesetzt werden, da auf der einen Seite die Alliierten zu schnell vorrückten und auf der anderen Seite die Führung immer weniger Helfer für ihren wahnwitzigen Zerstörungswillen fand.
IV Nach 1945 suchten die Militärs in ihren Rechtfertigungschriften - allen voran Guderian - die Schuld an der militärischen Katastrophe Hitler zuzuschieben, der den Rat seiner Fachleute nicht befolgt habe. Der Endkampf wurde dahingehend heroisiert, daß man trotz Hitler und trotz der immer geringer werdenden Ressourcen einer übermächtigen Koalition so lange standgehalten habe 9 7 . Wurden von Seiten der Wehrmacht in den eroberten Gebieten begangene Verbrechen wohlweislich verschwiegen, so suchte man mit dem Argument, man habe die drohende Bolschewisierung Deutschlands verhindern und die Bevölkerung vor der Rache der Roten Armee schützen wollen, zu kaschieren, daß man weder gegenüber den eigenen Soldaten noch gegenüber der Zivilbevölkerung die 90
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Telegr. N i e h o f f s , 6. 4. 1945, an Hitler, B A - M A , R H 2/335, S. 165; Telegr. Hitlers, 8. 4. 1945, an Niehoff, ebd., S. 248. Ahlfen/Niehoff, Breslau. Daß Hitler ihn wegen der Kapitulation in Abwesenheit zum T o d e verurteilen ließ, nahm Lasch als Chance, sich in seinen Memoiren als verantwortungsvollen Befehlshaber darzustellen, Lasch, Königsberg, S. 104-114. Lucas-Busemann, Königsberg. Aufz. Rohlands, Niederschrift über die Ereignisse vom 15.3.-15. 4. 1945, BA, R 3/1661, S. 20 f. Henke, Besetzung, S. 404. Müller/Ueberschär, Kriegsende, D o k . 14, S. 171. Gerstenberger, Erinnerungen.
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Fähigkeit gezeigt hatte, verantwortlich zu handeln. In Nibelungentreue zu Hitler verstand sich die Wehrmachtführung als Ausführungsorgan des Führerwillens, der aus seiner Entschlossenheit nie einen Hehl gemacht hatte, daß das deutsche Volk untergehen solle, falls es sich im Rassenkampf nicht bewähre. Die persönliche Täterschaft oder zumindest die Verstrickung vieler Militärs bei der Durchführung eines völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieges 98 und die daraus resultierende Furcht, von den Alliierten als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen zu werden", trugen wohl ihren Teil dazu bei, daß die deutsche Militärführung den sinnlosen Endkampf weiterführte. Von dem von der deutschen Generalität im nachhinein beanspruchten Postulat einer bis zuletzt überragenden Professionalität gegenüber „einer weit unterlegenen militärischen Führungskunst der Alliierten" 100 bleibt - an den Maßstäben der klassischen Militärprinzipien gemessen - in der Endphase des Krieges nichts mehr übrig: Hätte man den Grundsatz militärischen Handwerks zugrundegelegt, unter realistischer Abwägung der gegebenen Mittel und unter kalkulierbaren Verlusten den Erfolg zu erzielen, so hätte man den Kampf längst abbrechen müssen. Den Scheitelpunkt des Krieges, „über den hinaus das Verharren nur eine verzweiflungsvolle Torheit genannt und also von keiner Kritik gebilligt werden kann" - so der für den preußisch-deutschen Generalstab ehedem wichtigste Militärtheoretiker, Carl von Clausewitz 101 - hatte die Wehrmachtführung, die ursprünglich einmal nach Clausewitzschen Prinzipien ausgebildet worden war, längst überschritten. Der nationalsozialistische Krieg folgte anderen Regeln: In einem vom Chef des Heerespersonalamtes, General Burgdorf, unterzeichneten Befehl Hitlers vom 7. März 1945 hieß es: „Das tapfere Herz ist die Voraussetzung für den Führer der Truppe. Der Mann muß es mitbringen. Es kann ihm nicht durch Erziehung oder Ausbildung gegeben werden" 102 . Gefragt war nicht mehr der militärische Sachverstand preußisch-deutscher Militärtradition, sondern der sich durch ideologische Festigkeit und Fanatismus auszeichnende nationalsozialistische Soldat, der im blinden Glauben an den Führer bereit war, für diesen zu kämpfen und zu sterben 103 . Nichts anderes haben Guderian und seine Kameraden von den Offizieren, Soldaten, Volkssturmmännern und Hitlerjungen eingefordert 104 . Was Burgdorf gemeint hatte, verlangte etwa der kommandierende Ge-
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So war etwa der Oberbefehlshaber in Norwegen, Böhme, der auch nach dem Selbstmord Hitlers noch weiterkämpfen wollte (siehe Anm. 108), ein Massenmörder, der als Militärbefehlshaber von Serbien 1941/42 die Vernichtung der serbischen Juden eigenständig durchgeführt hatte. Dazu Manoschek, Serbien. Hitler, der genau wußte, daß viele seiner Militärführer wegen der völkerrechtswidrigen Kriegführung an ihn gebunden waren, wies in seiner Proklamation vom 9. 11. 1944 auf die Absicht der Alliierten hin, die „sogenannten Kriegsverbrecher" abzuurteilen, Domarus (Hrsg.), Hitler, 2, S. 2164. Rendulic, Soldat, S. 4 1 1 . Clausewitz, V o m Kriege, S. 2 1 5 - 2 1 7 . Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, Dok. 20, S. 194 f. Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 3 0 6 - 4 9 1 . So hatte etwa Guderian in einer Rede v o r schanzenden Hitlerjungen in Ostpreußen diesen den Kampf von kriegsfreiwilligen Hitlerjungen als Vorbild v o r Augen geführt, die bis
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neral des Verteidigungsbereiches Berlin, General Reymann, im März 1945 unzweideutig: „Es kommt gar nicht darauf an, daß jeder Verteidiger der Reichshauptstadt die Technik des Waffenhandwerks bis ins Einzelne gut beherrscht, sondern vielmehr darauf, daß jeder Kämpfer vom fanatischen Willen zum Kämpfenwollen beseelt und durchdrungen ist, daß er w e i ß , . . . daß der Kampf um Berlin die Kriegsentscheidung bringen kann" 105 . Angesichts der Überlegenheit der Roten Armee, den in Berlin sich aufhaltenden 2,5 Millionen Menschen und des geringen Kampfwertes der dort stationierten Wehrmacht- und Volkssturmverbände ist dieser Befehl an Verantwortungslosigkeit kaum zu überbieten - und er steht beispielhaft für viele andere. Die Wehrmachtführung hatte sich 1939 unter dem Deckmantel militärischer Professionalität Hitler als Handlanger einer riskanten Eroberungspolitik zur Verfügung gestellt, hatte 1941 nach dessen Vorgaben einen rassischen Vernichtungskrieg geplant und in den folgenden Jahren umgesetzt. Der ideologische Charakter des Krieges, der die Grundlagen klassischer militärischer Professionalität längst überlagert hatte, kehrte sich jedoch seit den militärischen Rückschlägen immer mehr gegen die Soldaten der Wehrmacht selbst, die in sinnlosen Abwehrschlachten im Osten geopfert wurden und im sogenannten Endkampf um das Reich dann auch gegen die eigene Zivilbevölkerung. Nicht mehr kalkulierbare operative Planungen, sondern der fanatische Abwehrkampf bis zur Selbstvernichtung war Grundlage der Kriegführung geworden. Daß Truppen in bestimmten Lagen bis „zum letzten Mann" kämpften, hat durchaus seine Tradition in der Kriegsgeschichte, daß jedoch eine Militärführung in aussichtsloser Lage die Substanz des eigenen Volkes aufs Spiel setzt, ist singular. Wie wir durch Lokal- und Regionalstudien wissen, konnte in den Schlußtagen nur durch eine „tausendfache Allianz der Vernünftigen" auf der unteren und mittleren Ebene - auch mit Hilfe von Frontkommandeuren und Stadtkommandanten - noch Schlimmeres verhindert werden, als versucht wurde, trotz der Standgerichte die Umsetzung der radikalen Befehle zu verhindern 106 . Militärisch verantwortliches Verhalten gab es in den vor Ort kämpfenden Verbänden, dort wo Truppenführer, um ihre Soldaten vor dem sicheren Untergang zu bewahren und die Zivilbevölkerung zu schützen, den Befehl zum Rückzug gaben oder ihre Einheiten überrollen ließen, wo erfahrene Soldaten die HJ-Kämpfer in ihrem Drang zügelten, für den „Führer" zu sterben. Wollte selbst nach Hitlers Selbstmord und dem totalen militärischen Zusammenbruch der Oberkommandierende in Dänemark, Lindemann, noch die „letzte anständige Schlacht dieses Krieges" schlagen 107 , meldeten die Oberbefehlshaber in Norwegen, Böhme, der Heeresgruppe Mitte, Schörner und der Kurlandarmee, Möller, unbeirrt Kampfbereitschaft 108 , so begannen sich andere Spitzenmilitärs ihrer Verantwortung gegenüber Soldaten und Zivilbevölkerung zum letzten - mit „Faustpatronen" gegen Panzer - f ü r den Führer gekämpft hätten, Staatsarchiv Olsztyn, Ermländische Zeitung Nr. 207 v o m 4. 9. 1944, S. 3. 105 Befehl Reymann, 9. 3. 1945, in: Rürup (Hrsg.), Berlin 1945, S. 25/26. 106 Henke, Besetzung, S. 777 ff.; Messerschmidt, Wehrmacht (1990), S. 2 1 3 - 2 2 0 . 107 Lüdde-Neurath, Regierung S. 184. 108 Tagesniederschriften der Reichsregierung, 2.-17. 5. 1945, Eintrag, 3. 5. 1945, BA, R 62/15, S. 4 f.; Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, Dok. 2 1 1 , S. 348 f.; Dok. 214, S. 352.
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Heinrich Schwendemann
wieder zu erinnern: Der Aufruf des Stadtkommandanten von Berlin, General Weidling, am 2. Mai 1945 an die Verbände in der Stadt, sich zu ergeben, da „jede Stunde, die Ihr weiterkämpft,... die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung und unserer Verwundeten" verlängere 109 , kam jedoch angesichts der ungeheuren Verluste und Zerstörungen, die der Endkampf um das Reich gefordert hatte 110 genauso zu spät wie das Eingeständnis von Hitlers Nachfolger Dönitz, daß die Lage „hoffnungslos" sei 111 . Dönitz, der bis dahin keinerlei Rücksichten auf Zivilbevölkerung und Soldaten genommen und Hitlers Selbstvernichtungsstrategie kompromißlos mitgetragen hatte, ließ unter der Parole „Deutsche Menschen vor dem Bolschewismus zu retten" über See in einer „Blitzaktion" noch über Hunderttausend Soldaten und Verwundete und einige Tausend Flüchtlinge aus den letzten gehaltenen Stützpunkten an der Ostsee nach dem Westen evakuieren 112 und die Befehlshaber der Heeresgruppen im Osten anweisen, ihre Truppen von der Ostfront zu den Linien der Westallierten abzusetzen 113 . Die Politik der Regierung Dönitz vom 2. bis zum 8. Mai 1945114, über Teilkapitulationen im Westen noch möglichst viele Soldaten aus dem Osten abzuziehen 115 , war Grundlage für die Rechtfertigungsstrategie der Militärs, die von nun an behaupteten, sie hätten den Krieg seit Januar 1945 auf dem Reichsgebiet weiterführen müssen, um Bevölkerung und Soldaten vor der Rache des Gegners im Osten zu retten. Damit suchte die Wehrmachtführung, „die vollständig korrumpiert ... ihr Schicksal an das Hitlers gebunden" hatte 116 , nach 1945 ihre Verantwortung zu verleugnen und den kriminellen Charakter ihrer Handlungen zu verschleiern.
1 0 9 Schumann
u.a. (Hrsg.), Deutschland, 6, S. 732. Die deutschen Menschenverluste waren zwischen Sommer 1944 und Mai 1945 wahrscheinlich genau so hoch w i e in den vorherigen Kriegsjahren zusammen. Zur Problematik der Verlustzahlen Overmans, Toten. Eintrag vom 2. 5. 1945, BA, R 62/15, S. 2. " 2 Z w i s c h e n dem 11. und dem 1 7 . 5 . 1945 wurden in den westlichen Häfen der Ostsee 1 0 9 2 0 5 Soldaten, 6287 Verwundete und 5379 Flüchtlinge ausgeschifft, die in den letzten Tagen v o r der Kapitulation in den östlichen Häfen der Ostsee abtransportiert worden waren, Lageberichte Ostsee, 18. Mai 1945, B A - M A , R M 7/854, S. 333. 1 1 3 Tagesniederschriften der Reichsregierung Dönitz vom 2.-8. 5. 1945, BA, R 62/15, S. 2-10; K T B O K W , IV, 2, S. 1 4 7 0 - 1 4 8 6 ; Funkspruch Keitels, 6. 5. 1945, an die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen Südost, Ostmark und Mitte, B A - M A , RM 7/854, S. 113. 1 1 4 A u f r u f e Dönitz', 1. 5. 1945, an die deutsche Bevölkerung und die Wehrmacht, in: LüddeNeurath, Regierung, S. 132 f.; Kraus, Karl Dönitz. 1 1 5 O b in der ersten Maiwoche tatsächlich 1,85 Millionen Soldaten (etwa 5 5 % der Soldaten der Ostfront) hinter die Linien der Westallierten gelangen konnten, bedarf noch einer eingehenden Untersuchung. Diese Zahl, die von Reimer Hansen wegen des Fehlens amtlichen Zahlenmaterials auf Grundlage der Memoirenliteratur errechnet wurde, ist wahrscheinlich weit überhöht, Hansen, Ende, S. 1 5 8 - 1 6 3 . Zur Flucht von hundertausenden von Flüchtlingen und Soldaten, die sich aus Furcht vor der Roten Armee hinter die amerikanischen Linien begaben: Henke, Besetzung, S. 6 7 4 - 6 9 4 . 1 1 6 Martin, Kapitulation, S. 57. 110
Sänke Neitzel Der Bedeutungswandel der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg Das militärische und politische Gewicht im Vergleich
Jeder Wehrmachtteil hat während des Zweiten Weltkrieges eine eigentümliche Entwicklung seiner Traditionen, Werte, Verhaltensweisen, Erfolge, Niederlagen und seiner Bedeutung im Staat erlebt. Die Marine durchlief eine Art Metamorphose von einer militärisch unbedeutenden und unpolitischen Küstenmarine bis hin zu einer - militärisch längst besiegten - wichtigen Stütze des „Dritten Reiches". Diese Entwicklung ist eng mit den beiden Oberbefehlshabern, Erich Raeder und Karl Dönitz, verbunden, die sich in ihren Auffassungen, ihrem Führungsstil und ihrem Verhältnis zu Hitler wie zwei Antipoden gegenüberstanden.
1. Das Selbstverständnis der Marine und ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen System war während der Amtszeit Raeders von der antiquierten Haltung ihrer führenden Flaggoffiziere geprägt. Raeder, im Ersten Weltkrieg Stabschef bei Admiral Franz Hipper, konnte sich nie von den Denkmustern dieser Zeit lösen. Der alte Prestige- und Machtgedanke der Wilhelminischen Zeit war in ihm stets lebendig geblieben. Aus ihm leitete sich auch sein Festhalten am Dickschiff als Hauptträger des Seekrieges ab. Die Schlußfolgerung aus der Matrosenrevolte im November 1918 - unbedingter Gehorsam gegenüber der Staatsmacht - und dieser alte Machtgedanke, der auch vor der Befürwortung einer utopisch erscheinenden Raumausdehnung des Deutschen Reiches nicht haltmachte, war eine verhängnisvolle Mischung, die jedem Widerstand gegen Hitler den Boden entzog. Als Hitler im Januar 1933 Reichskanzler wurde, war die deutsche Marine nicht mehr als eine mit einem historischen Makel belastete, unbedeutende Teilstreitkraft in einer naturgemäß kontinental ausgerichteten Reichswehr. Wie schon Prinz Adalbert und Alfred von Tirpitz versuchte Raeder die Staatsführung von der Bedeutung maritimen Denkens und damit von der notwendigen Machtvergrößerung des eigenen Wehrmachtteils zu überzeugen. Als Hitler im Januar 1939 seine Zustimmung zum Z-Plan gegeben hatte, schien Raeder am Ziel seiner Bemühungen. Erstmals war der Marine die Priorität in der Rüstung eingeräumt worden. Bevor der Krieg gegen England begann, sollte die Marine ausreichend Zeit bekommen, eine achtunggebietende Flotte aufzubauen, mit der man deutsche Seegeltung in die Weiten des Atlantik tragen konnte.
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Der frühe Kriegsbeginn ließ die hoffnungsvollen Gedanken wie eine Seifenblase zerplatzen. Raeder war klar, daß diese Flotte nicht gebaut werden würde und die vorhandene deutsche Marine nur beweisen könne, daß sie „mit Anstand zu sterben verstehe" 1 . Die schnellen Siege der Wehrmacht 1939 und 1940 veränderten die pessimistische Situation der ersten Septembertage des Jahres 1939. England schien am Rande der Niederlage, die Marine hatte für die Schlacht im Atlantik die geographische Ausgangsbasis, von der man bislang kaum zu träumen gewagt hatte. Die allgemeine Siegeseuphorie steckte auch und gerade die Marine an. Die Seekriegsleitung entwarf zusammen mit anderen Dienststellen utopisch anmutende Pläne des deutschen Zukunftsreiches, eines kontinentalen Machtblocks mit einem gewaltigen Kolonialreich. Man entwarf eine Flotte, die die des Z-Plans bei weitem in den Schatten stellte und die Parität mit dem großen Gegner England vorsah 2 . Man übertraf mit den Raumplanungen sogar die Vorstellungen rechtsextremer Kreise des Wilhelminischen Deutschlands wie des „Alldeutschen Verbandes". In solchen Dimensionen dachten selbst zur Jahrhundertwende nur wenige deutsche Publizisten 3 . Angesichts derartiger Pläne darf man sich nicht wundern, daß Hitlers Raumpolitik per se bei der Marine nicht auf Widerspruch stieß. Wenn alle kontinentalen Gegner ausgeschaltet waren, mußte der Marine endlich und erstmals die historische Rolle einer Seemacht ersten Ranges zukommen. Diese Chance verbot von vornherein jede grundsätzliche Kritik an den ausufernden Plänen Hitlers. Es kam jetzt nur darauf an, daß die Marine das ihr gebührende Gewicht erhielt. Seit Sommer 1940 rannte Raeder daher gegen Hitlers Kontinentalpolitk an. Er scheiterte jedoch mit seinen Beschwörungen, daß England der Hauptfeind sei, den man nur in einem gewaltigen Seekrieg niederringen könne. Der Oberbefehlshaber der Marine konnte in dieser Auseinandersetzung nur verlieren, weil Hitler in keiner Weise maritim dachte. Sein Hauptaugenmerk war auf die Eroberung von „Lebensraum" im Osten gerichtet. Eine Vernichtung Englands durch einen Seekrieg lag nicht in seinem Interesse, solange es noch andere Alternativen zu geben schien. Am liebsten war ihm ohnehin ein Einlenken Londons, das ihm freie Hand auf dem Kontinent ließ. Trotz der Erfolglosigkeit von Raeders Bemühungen stieg die militärische Bedeutung der Kriegsmarine im Vergleich zur Vorkriegszeit bald erheblich an. Die gelungene Besetzung Norwegens war im wesentlichen das Verdienst der Marine, und ihr Kampf gegen die britische Tonnage schien den Weg zur Niederringung der Insel zu weisen. Das Scheitern des Seekrieges, so betonte man bei jeder Gelegenheit im und nach dem Krieg, lag vor allem daran, daß die oberste Führung dieses Konzept zu wenig unterstützte. War diese Einschätzung zutreffend? Welche Erfolgsaussichten hatte die Raedersche Konzeption des Seekrieges gegen England? Werfen wir dazu einen näheren Blick hinter die Kulissen.
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Gedanken des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine zum Kriegsausbruch, 3. 9. 1939, in: R a h n / S c h r e i b e r (Hrsg.), Kriegstagebuch, S. 16. Mit entsprechenden Literaturangaben Salewski, Reich. Vgl. ζ. B. Bruinier, Zukunft.
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Es stellte sich bald nach Kriegsbeginn heraus, daß man nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ der Royal Navy weit unterlegen war. Das Schiffsmaterial vom Zerstörer aufwärts reichte zwar für die Aufgaben einer Küstenmarine aus, für großräumige Anforderungen wie sie sich ab Sommer 1940 stellten, war es jedoch vollkommen ungeeignet. Die konzeptionelle Schwäche des Seekrieges war jedoch weit schwerwiegender als die schiffbaulichen Mängel, die z.T. ein unumgängliches Resultat des Versailler Vertrages darstellten. Die dem Z-Plan zugrunde liegende Vorstellung sah einen modifizierten Kreuzerkrieg gegen die britischen Zufuhrlinien vor. Raeder wollte mit starken Schlachtschiffgruppen in. den Atlantik durchbrechen und hier selbst gut gesicherte Konvois vernichten. Er widmete sich in den Jahren 1938/39 den taktischen Problemen eines derartigen Seekrieges, insbesondere dem Durchbruch aus der Nordsee in den Atlantik. Die alles entscheidende Frage, inwieweit mit einer derartigen Kriegführung der Kampf gegen England gewonnen werden konnte, ließ er jedoch unbeantwortet. Das historische Vorbild des Tirpitzschen Flottenbaus bewies nachdrücklich, daß man nicht im Geheimen eine Flotte bauen konnte, die man dann - vom Gegner völlig unerwartet - bei einer günstigen Gelegenheit wie ein Kaninchen aus dem Zylinder zauberte. Aber selbst wenn man die britische Flottenrüstung außer Acht läßt, stellt sich die Frage, wieviel Schiffsraum die deutschen Uberwasserschiffe im Atlantik hätten versenken sollen, um England in die Knie zu zwingen. Dieser Frage ist Raeder niemals nachgegangen. Hätte er diese Frage aufgeworfen, so wäre man unweigerlich zu einem niederschmetternden Resultat gekommen. Angesichts der geographischen Lage des Reiches, der sicheren britischen Aufrüstung und insbesondere aufgrund des gewaltigen Zufuhrverkehrs wäre selbst bei einer Z-Plan-Flotte allenfalls die Störung bzw. Behinderung der britischen Versorgung erreichbar gewesen. Die Schlußfolgerungen aus derartigen Überlegungen wären der Absicht Raeders, die Marine aus ihrem Schattendasein herauszuführen, diametral entgegengelaufen: Beschränkung der Uberwasserflotte auf kleine Einheiten, bei starkem Ausbau der U-Boot-Waffe. Beides hätte mit der Erkenntnis verbunden sein müssen, daß man England nur schwächen, keinesfalls mit maritimen Kampfmitteln würde besiegen können. Zwischen Sommer 1940 und Sommer 1941 kam Raeders Konzeption des Zufuhrkrieges mit Überwasserschiffen im Kleinen zur Durchführung: Hilfskreuzer, Panzerschiffe, Schwere Kreuzer und im Januar 1941 sogar die beiden Schlachtschiffe „Scharnhorst" und „Gneisenau" brachen in den Atlantik durch und vernichteten hier eine nicht unerhebliche Anzahl von gegnerischen Handelsschiffen. Die Versenkung der „Bismarck" im Mai 1941 und das Aufrollen der deutschen Versorgerorganisation im Atlantik in den darauf folgenden Wochen beendete die Atlantikkriegführung mit Überwasserschiffen abrupt. Alle Versenkungsergebnisse konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie allenfalls einen Tropfen auf den heißen Stein darstellten. Bei der Erringung dieser Erfolge spielte der Faktor Glück während des Durchbruchs in den Atlantik die entscheidene Rolle. Vollkommen auf sich allein gestellt, konnte diese Art der Kriegführung nur solange funktionieren, bis man auf britischer Seite mit dem Einsatz von Radargeräten den unentdeckten Durchbruch in den Atlantik un-
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möglich machen konnte. Raeder hat das in dieser Deutlichkeit niemals erkannt. Sein Konzept für den Kampf gegen England war veraltet und berücksichtigte auch die Möglichkeiten der Luftwaffe nur am Rande. E r forderte ζ. B. erst nach der Vernichtung der „Bismarck" in deutlichen Worten die Unterstützung der Luftwaffe. So war es nicht verwunderlich, daß zwischen Frankreich- und Rußlandfeldzug die Luftwaffe ihre Konzeption des Kampfes gegen England durchsetzen konnte und die Marine im zweiten Glied stand. Sicherlich waren die Verhältnisse in Anbetracht von Görings Machtfülle nicht einfach. Die politisch schwache Person Raeders und seine wenig überzeugende Konzeption beim Einsatz der vorhandenen Machtmittel waren für diesen Zustand jedoch mindestens in gleich großem Maße verantwortlich 4 . Auch die Erfolgsmöglichkeiten des von Raeder nur halbherzig unterstützten und von Dönitz vehement geforderten Tonnagekrieges mit U - B o o t e n sind von der Marine weit überschätzt worden. Eine genaue wirtschaftswissenschaftliche Untersuchung, ob man England durch eine Reduzierung der Einfuhren würde besiegen können, ist - im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg - nie vorgenommen worden. Man ging niemals über die eher gefühlsmäßige Bemerkung hinaus, daß der britische Widerstand schon zusammenbrechen werde, wenn es gelänge, weit mehr Schiffsraum zu versenken als die Alliierten neu bauen könnten. Betrachtet man sich die Erfolgsmöglichkeiten des Tonnagekrieges genauer, so läßt sich schnell feststellen, daß die Marine mit diesem Ansatz im positivsten Falle das Offensivpotential Großbritanniens stark schwächen konnte. Das Erzwingen einer Kriegsentscheidung lag jedoch außerhalb jeder Realität. Zu groß war der vorhandene britisch kontrollierte Schiffsraum, zu stark der Widerstandwille, zu machtvoll die Hilfe der U S A 5 . Wir haben gesehen, daß der Krieg gegen England weder mit U - B o o t e n noch mit Dickschiffen über den Patt-Zustand hinaus geführt werden konnte. Doch was läßt sich daraus folgern? Der Beginn des Krieges im September 1939 lag wahrlich nicht im Interesse der Marine. Als er dennoch erfolgte, ließen sich im Kampf gegen Englands Zufuhr noch die größten Erfolge erzielen. Bei einer nüchternen Analyse der Lage hätte man seit Sommer 1940 erkennen können, daß die Landung in England die einzige Möglichkeit war, Großbritannien niederzuringen. Als die Vorbedingungen für die Operation „Seelöwe" von der Luftwaffe nicht erkämpft werden konnten, blieb nur das politische Arrangement als Konfliktlösung übrig. Obgleich derartige Gedanken seit Sommer 1941 auch von Marineangehörigen geäußert wurden 6 , verschloß sich die Ski vehement solchen Überlegungen. Unmöglich konnte sie in einer scheinbar hoffnungsvollen allgemeinen Lage den deutschen Sieg in Zweifel ziehen, ohne sich dem Vorwurf der defätistischen Geisteshaltung von 1918 auszusetzen. Sie kämpfte weiterhin stur für die Konzentration aller Mittel auf ihren Bereich: auf
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Vgl. Neitzel, Einsatz, S. 1 2 - 2 0 . Eine nähere Untersuchung zu diesem K o m p l e x ebd., S. 4 9 - 5 8 . So von Vizeadmiral Kurt A ß m a n n , C h e f der Kriegswissenschaftlichen Abteilung der Kriegsmarine in einer Lagebetrachtung vom 29. 7. 1941, B A - M A , R M 8/1123
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den Kriegsschauplatz Atlantik und seit Anfang 1942 für den sogenannten „Großen Plan" 7 . Die Überlegungen, England durch die phantastisch anmutende Eroberung des Nahen Ostens kapitulationsbereit zu machen, zeigt den hilflosen Kampf eines Wehrmachtteils um seinen Einfluß. Der Clou des „Großen Planes" war, daß er gar nicht von der Marine ausgeführt werden konnte, sondern seine Durchführung einzig und allein in den Händen des Heeres lag. Zudem hatte selbst der Stabschef der Ski, Vizeadmiral Kurt Fricke, im Januar 1942 geäußert, daß England an der Peripherie nicht tödlich getroffen werden könnte 8 . Raeder interessierte dies alles nicht, war doch der „Große Plan" die scheinbar einzige Möglichkeit, während des Kontinentalkrieges den Abstieg der Marine in das zweite oder dritte Glied zu verhindern. Die Landung der Alliierten in Nordafrika am 8. November 1942 machte die schönfärberischen Pläne zunichte; Raeder stand vor einem Scherbenhaufen. All seine Versuche, der Marine in der Gesamtkriegführung eine entscheidende Stellung zu verschaffen, waren gescheitert. Auch er konnte sich nun nicht mehr vor der Erkenntnis drücken, daß es jetzt nur noch um die Verteidigung der „Festung Europa" ging. Der Dickschiffgedanke hatte endgültig ausgedient, die längst überfällige Reform der Marine mit dem Ubergang von Raeder zu Dönitz kündigte sich an 9 . Der Abgang Raeders fiel mit der Kapitulation Stalingrads zusammen, mit der die totale letzte Phase des Krieges eingeläutet wurde. In diese Zeit paßte Raeder nicht nur aufgrund seines fortgeschrittenen Alters von 67 Jahren und seiner verbrauchten Energie nicht mehr hinein. Raeder und seine Admiräle hatten sich mit Hitler aufgrund ihres stark ausgeprägten Gehorsambegriffs stets mehr oder minder gut arrangieren können. Gewiß gab es vereinzeltes Aufbegehren wie bei der Reichspogromnacht oder in der partiellen Außerkraftsetzung des „Arierparagraphen" 10 . Solange sich Hitlers Politik mit dem kaiserlich-konservativen Weltbild einigermaßen in Einklang bringen ließ, die Marine einen ihr gemäßen Platz in der Gesamtkriegführung einnahm oder einzunehmen versprach, stand einer loyalen Zusammenarbeit jedoch nichts im Wege. Spätestens seit dem Beginn des Unternehmens „Barbarossa" entfremdeten sich Raeder und Hitler jedoch Zusehens. Die herbe Kritik anläßlich des Verlustes der „Bismarck" Ende Mai 1941, die darauf folgende bislang unübliche direkte Einmischung Hitlers in taktische Fragen sowie die vergeblichen Bemühungen, den „Führer" von einer maritimen Gesamtstrategie zu überzeugen, rieben Raeder innerlich auf. Seine scheinbaren Mißerfolge an der Front und seine Lethargie ließen ihn in der Achtung des Diktators zunehmend sinken. Seine weiche Natur, der Hang, Konfrontationen mit Hitler aus dem Weg zu gehen, sowie seine christlich-konservative Ausrichtung entsprachem kaum dem nationalsozialistischen Idealbild eines Befehlshabers. Der Gegensatz entlud sich in den
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Vgl. Salewski, Seekriegsleitung, 2, S. 7 2 - 1 0 7 . Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 18. 1. 1942, S. 3 0 0 - 3 0 2 . Vgl. hierzu Salewski, Raeder. Ders., Die deutsche Seekriegsleitung, 2, S. 442. Vgl. Messerschmitt, Wehrmacht (1969), S. 356, Anm. 1201; Baum, Marine, S. 19f.
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schweren Anschuldigungen, die Hitler Raeder am 6. Januar 1943 nach einem gescheiterten Flottenunternehmen im Nordmeer machte 11 . Die Tatsache, daß Hitler überhaupt so lange an ihm festhielt, liegt nicht in einer Verwandtschaft von Wesen oder Ansichten beider Männer begründet, sondern in erster Linie im strengen Gehorsam Raeders, der niemals - so wie die von Hitler verachtete Heeresgeneralität - nennenswerte Kritik anbrachte. Die großen Hoffnungen der Marine, nach nicht unerheblichen eigenen Erfolgen und gewaltigen Siegen der Wehrmacht zu einer ungeahnten Größe emporzusteigen und dem Deutschen Reich einen maritimen Stempel aufzudrücken, waren von jeher auf Sand gebaut. Raeder weigerte sich viel zu lange, dies zu akzeptieren und von alten Denkschemata Abschied zu nehmen. Er war weder in der Lage, bei Hitler die Marine angemessen zu repräsentieren und Entscheidungen in seinem Sinne herbeizuführen, noch seinen Wehrmachtteil der sich veränderten Zeit anzupassen. Die Marine stand daher in militärischer und politischer Bedeutung weit hinter Heer und Luftwaffe zurück. Erst unter Raeders Nachfolger Dönitz sollten sich die Verhältnisse grundlegend ändern. Dies - so stellte sich rasch heraus - lag nicht an der militärischen Bedeutung der Marine, sondern am persönlichen Verhältnis zu Hitler, das im „Dritten Reich" weit wichtiger war als jeder Sachzwang.
2. Der Amtswechsel von Raeder zu Dönitz kam einem Zeitenwechsel gleich. Das Alte ging und das Neue kam. Dönitz vermochte in kurzer Zeit das zu erreichen, was sein Vorgänger während seiner gesamten Amtsperiode nicht geschafft hatte: Die Konzentration aller verfügbaren Ressourcen auf den Tonnagekrieg. Der U-Boot-Bau erhielt die höchste Priorität in der Rüstung, und die Luftwaffe wurde auf die bislang nur halbherzig gewährte Unterstützung des Seekrieges vergattert 12 . Mit dem Flottenbauprogramm 43 wurde eine völlig neue, zeitgemäße Konzeption einer Küstenmarine entworfen - sozusagen eine neue „jeune ecole" . Die Dickschiffflotte gehörte nun endgültig zum alten Eisen. Die Veränderungen im Personalsektor kündigten den Durchbruch einer neuen Art der Truppenführung und eines neuen Typs des Offiziers an. Bewährte junge Frontoffiziere, die mit Elan und „eisernem" Willen ihre Aufgaben anpackten, wurden gefördert. Es waren dies Charaktere, die, betrachtet man die deutsche Militärtradition, mehr dem „Marschall Vorwärts" Blücher entsprachen als z.B. einem Gneisenau. Der neue Stabschef der Ski, Admiral Wilhelm Meisel, Admiral Theodor Krancke und auch rangniedrigere Offiziere wie Fregattenkapitän Gerd Suhren (FdU Nordmeer) oder Vizeadmiral Hellmut Heye (K-Verband) geben hierfür ein Beispiel. Im Sinne der Marine stellen diese Veränderungen sicherlich eine beeindrukkende Leistung dar: Neue Strukturen, neue Personen, Priorität im Rahmen der Gesamtkriegführung. Ohne Zweifel war die Konzentration aller Mittel auf den 11 12
Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 453-456. Näheres hierzu bei Neitzel, Einsatz, S. 158-220.
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U-Boot-Krieg die sinnvollste operative Alternative zu Raeders Konzeption des Zufuhrkrieges mit Uberwasserschiffen. Doch wie erfolgreich waren die Bemühungen von Dönitz letzten Endes, welche militärische Bedeutung hatte die Kriegsmarine in seiner Amtszeit? Trotz aller Anstrengungen folgte ein Fiasko dem anderen. Die Konvoibekämpfung im Nordatlantik mußte im Mai 1943 abgebrochen werden, die Wiederaufnahme scheiterte unter hohen Verlusten im Herbst 1943. Der U-Boot-Krieg war verloren, und seine Weiterführung bis Kriegsende konnte nur mit den weit übertriebenen Hinweisen auf das Kräftebinden gerechtfertigt werden. Die schweren Überwasserstreitkräfte führten nur noch ein Schattendasein. Ein letzter Operationsversuch, von Dönitz gegen den Rat seiner Stabsoffiziere befohlen, endete in der Katastrophe und dem Verlust des letzten einsatzbereiten Schlachtschiffes („Scharnhorst") 13 . Zudem machten die alliierten Seestreitkräfte der Marine zunehmend das Küstenvorfeld streitig. Zerstörer, Torpedoboote und S-Boote waren in die Defensive gedrängt, ihre Erfolge gering, ihre Verluste hoch. Die Ohnmacht der Kriegsmarine wurde während der Invasion überdeutlich. Der Einsatz glich dem hoffnungslosen Kampf von David gegen Goliath. Sie konnte keinerlei nennenswerten Einfluß auf die Kämpfe nehmen. Der mit so hohen Erwartungen verbundene neue U-Boot-Krieg verschob sich Monat um Monat, bis die Kapitulation auch diesen Hoffnungen ein Ende bereitete. Diese Bilanz ist im Grunde genommen niederschmetternder als jene der Luftwaffe, die bis Ende März 1944 noch erhebliche Abwehrerfolge erzielte. Dennoch stieg die Marine, obwohl militärisch nahezu bedeutungslos, in der politischen Skala steil nach oben, gewann immer mehr Einfluß auf die Gesamtkriegführung und stellte sogar den Nachfolger Hitlers. Wie läßt sich dieses scheinbar widersprüchliche Phänomen erklären? Dönitz' Auffassung vom Kampf und vom Krieg, seine Art der Truppenführung, sein ganzes Persönlichkeitsbild, machten ihn in den Augen der obersten Führung zu einem vorbildhaften Typ des nationalsozialistischen Offiziers. Hält man sich die abfälligen Bemerkungen Hitlers und Goebbels über das Offizierskorps des Heeres und der Luftwaffe vor Augen 14 , wird der große Unterschied zur Beurteilung eines Karl Dönitz deutlich. Während überall die Fronten zusammenbrachen, Hiobsbotschaften und Pessismus an allen Ecken und Enden grassierten, schien es Dönitz aufgrund „eiserner Härte" zu gelingen, für den Seekrieg eine Wendung zum Besseren anzusteuern und die Krise zu überwinden. Er räumte mit dem alten, verbrauchten Offizierskorps auf, überwand die „aufreizende Resignation vor der Kriegsentwicklung" und bot neue Ideen zur Weiterführung des U-Boot-Krieges an. Seine Person sei von einer „fanatischen Besessenheit" 15 bestimmt, schrieb Goebbels in sein Tagebuch, ein National-
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Vgl. Koehler, Einsatz. Goebbels erregte sich am 30. 6. 1944 über den Festungskommandanten von Cherbourg, Generalleutnant v. Schlieben, der seiner Meinung nach zu frühzeitig kapituliert hatte: „Mit diesen Heeresgenerälen ist nicht viel anzufangen. Sie müßten von Grund auf erst einmal durch die nationalsozialistische Schule hindurchgehen. U m das praktisch durchzuführen, dazu sind sie zu alt. Diese Generation muß aussterben, ehe das Heer wirklich reformiert werden kann". Goebbels, Tagebücher, II, 9, S. 578. Ebd., II, 10, 7. 10. 1943, S. 72.
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sozialist und Kämpfer, der auch für die weltanschauliche Ausrichtung der Marinetruppen im besten Sinne des Wortes sorge 16 . Der Propagandaminister ging sogar so weit, ihn als Nachfolger Görings als Oberbefehlshaber der Luftwaffe ins Spiel zu bringen. „Dönitz wäre kein schlechter Kandidat; jedenfalls würde er den ziemlich desolaten Haufen unserer Luftwaffe wieder mit neuer Moral austatten" 17 . Hitler lehnte den Vorschlag allerdings Ende März 1945 mit dem Hinweis ab, Dönitz könne sich nicht auch noch um die Luftwaffe kümmern 18 . Sachkompetenz scheint in dieser Zeit nur mehr nebensächliche Bedeutung gehabt zu haben. An der unterschiedlichen Beurteilung von Luftwaffe und Kriegsmarine wird deutlich, daß man 1945 nur noch die vermeintliche Moral der Truppe registrierte und keinesfalls die technische und operative Realität zur Kenntnis nahm. Hitler war der Ansicht, daß, im Gegensatz zur Marine, die ganze Jagdwaffe korrupt sei und nur Ausflüchte suche, um nicht kämpfen zu müssen 19 . Joseph Goebbels schrieb am 14. März 1945, daß Dönitz einen schweren technischen Rückschlag überwunden, während Göring davor resigniert habe und zugrunde gegangen sei. Die Tatsache, daß die Luftwaffe seit Herbst 1944 Düsenjäger (Me 262, Me 163) und Düsenbomber (Ar 234) einsetzte und nun auch die ersten Flugabwehrraketen im Fronteinsatz erprobt wurden, während die neuen Typ XXI-U-Boote noch immer auf ihren Einsatz warteten, nahm man nicht zur Kenntnis. Die Luftwaffe hatte die technische Krise schneller überwunden als die Kriegsmarine, doch angesichts einer erdrückenden Überlegenheit verpufften alle Anstrengungen, ebenso wie der Einsatz der neuen U-Boote an der Lage des Reiches nichts geändert hätte. Je näher das Kriegsende rückte, desto mehr fühlte sich die Staatsführung um Hitler in einer ähnlichen Situation wie Friedrich der Große während des Siebenjährigen Krieges. In diesem Sinne sei Dönitz „eine vornehme und imponierende Erscheinung" und die Kriegsmarine wetze heute die Scharte aus dem Weltkrieg wieder aus, schrieb Goebbels 20 . Im sturen Beharren auf dem Kampf bis zur letzten Patrone 21 deckten sich seine Vorstellungen vollständig mit denen der nationalsozialistischen Führung. Die in der Marine selbstverständliche und von Dönitz unterstrichene Mentalität, auch in völlig hoffnungsloser Situation mit seinem Schiff weiterzukämpfen und notfalls mit wehender Flagge unterzugehen, entsprach voll und ganz dem NS-Gedankengut des Kampfes bis zum letzten Blutstropfen. Als der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine erfuhr, daß ein U-Boot-Kommandant 1943 in wehrloser Position zur Schonung seiner Be-
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Ebd., 27. 10. 1943, S. 183; ebd., II, 11, 4 . 3 . 1944, S. 404; ebd., II, 1 4 , 2 5 . 11. 1944, S. 276. Ebd., II, 13, 17. 9. 1944, S. 502; ebd., II, 15, 21. 3. 1945, S. 557. Ebd., II, 15, 22. 3. 1945, S. 571. Ebd., II, 15, 14. 3. 1945, S. 505, 22. 3. 1945, S. 571; ebd., 4. 1. 1945, S. 64. Ebd., 28. 2. 1945, S. 383. A m 17. 8. 1944 gab Dönitz eine Weisung heraus, nach dem es oberster Grundsatz sei, „daß ein Kriegsschiff stets mit wehender Flagge unterzugehen h a t . . . M u ß ein aufgesetztes und kampfunfähiges Schiff zur Rettung der Besatzung verlassen werden, solange sich der Feind noch in der Nähe befindet, so hat der Kommandant mit einem Teil der Besatzung an Bord zu verbleiben, um die Flagge mit den noch vorhandenen W a f f e n zu verteidigen", Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 17. 8. 1944, S. 417.
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Satzung vor angreifenden Flugzeugen ein weißes Handtuch geschwenkt hatte, reagierte er scharf. Das Verhalten sei falsch, und er werde den Kommandanten nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zur Veranwortung ziehen. „Es darf in der Kriegsmarine keinen Zweifel darüber geben, daß das Zeigen einer weißen Flagge ebenso wie das Streichen der Flagge schimpfliche Ubergabe nicht nur der Besatzung, sondern auch des Schiffes oder Bootes bedeutet und damit ein Bruch des alten soldatischen und seemännischen Grundsatzes ist: „Lieber ehrenvoll untergehen als die Flagge streichen',,. Der Kommandant hätte nach Aufbrauch aller Kampfmittel sein Boot versenken müssen, anstatt den Versuch zu machen, näher an die afrikanische Küste zu laufen, um die Rettungschancen der Besatzung zu erhöhen. „Die Offiziere sind in unerbittlicher Härte zu dem Gedanken zu erziehen, daß die Ehre der Flagge höher steht als das Leben Einzelner. Das Zeigen der weißen Flagge gibt es für die deutsche Kriegsmarine weder an Bord noch an Land" 22 . In dieser geistigen Analogie liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum die Marine unter Dönitz ständig an Gewicht gewann, obgleich ihre militärische Bedeutung rapide sank. Besonders deutlich trat die Wesensverwandheit von Marineführung und Hitler bei der Verteidigung der deutschen Festungen in Frankreich 1944/45 zutage 23 . Es war hier vor allem die Marine, die bei der Verteidigung ihren entschlossenen Kampfgeist beweisen wollte. Sie nutzte die günstige Gelegenheit gegenüber der bedenklichen „Schwächlichkeit" des Heeres, ihre Geschlossenheit und Immunität gegenüber jeder Weichheit herauszustellen24. Es gab auch immer wieder einzelne Marineoffiziere, die durch ihre Taten diese Haltung unter Beweis stellten. Der Hafenkommandant von Cherbourg, Kapitän zur See Hermann Witt, setzte seinen Widerstand auf der Außenmole des Hafens noch mehrere Tage fort, nachdem die Stadt bereits in der Hand der Amerikaner war und der Stadtkommandant, Generalmajor Sattler, „ohne Not" kapituliert hatte. Oberleutnant zur See Richard Seuß, Chef einer Küstenbatterie auf einem verlassenen Felseiland vor St. Malo, kämpfte noch drei Wochen nach der Kapitulation der Festung auf verlorenem Posten weiter. Es war eine Ironie der Geschichte, daß weder das eine noch das andere Verhalten irgendeinen nennenswerten militärischen Sinn hatte. Witt vermochte die Minenräumarbeiten der Alliierten in Cherbourg um zwei Tage zu verzögern, St. Malo wurde nie als Nachschubhafen verwendet. Das Verhalten bewies jedoch, was die Marine von ihren Soldaten erwartete: Kampf bis zum letzten Atemzuge. So funkte Seuß nach der Kapitulation der Festung seinem Entschluß, den Kampf fortzusetzen: „Wir glauben und kämpfen" 25 .
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1. Ski Nr. 18142/43 g„ 17. 6. 1943, B A - M A , R M 7/98. Vgl. Neitzel, Kampf. Vgl. insbesondere Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 6 0 6 - 6 1 4 . Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 16. 8. 1944, S. 395. Vgl. ferner: ebd., 17. 8. 1944, S. 419; 22. 8. 1944, S. 558; 2. 9. 1944, S. 46. Ü b e r den Kampf der Marineflakbatterien in Brest notierte man am 12. 9. im Kriegstagebuch: „Übrige Flakmannschaften sind in Infanteriekampf eingesetzt und haben hohe Verluste erlitten. Bei Battr. 3/805 sind v o n 100 Mann nur noch 7 übrig. Kampfgeist trotzdem ungebrochen. Masse der Marine kämpft heldenhaft trotz mangelhafter Ausbildung und Bewaffnung", ebd., 12. 9. 1944, S. 306.
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Diese Auffassung entsprach haargenau der nationalsozialistischen Inszensierung des Endkampfes um das Reich, welcher sich in den Spätsommertagen des Jahres 1944 ankündigte. Hitler bemerkte über Seuß' Kampf zufrieden: „Er hat sich wie ein Held verteidigt" 26 . Die Marine wurde für ihre Haltung sogleich „belohnt" und übernahm bald eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung der verbliebenen Festungen, obgleich dies eigentlich ein ureigenster Bereich des Heeres war. Kurze Zeit vor der Einschließung Toulons wurde Konteradmiral Heinrich Ruhfus Festungskommandant der Stadt. Der bisherige Amtsinhaber wurde zu seinem infanteristischen Berater degradiert. Dönitz sandte Ruhfus einen Funkspruch, in dem er darauf hinwies, daß er der erste Festungskommandant der Marine sei, „dem das Schicksal die stolze Aufgabe gestellt hat, seine Festung bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen". Dönitz erwartete von Ruhfus, daß dieser gemäß Führerbefehl bis zur letzten Patrone und Handwaffe (sie!) „in opferbereiter Härte kämpfen" würde. „Ein Kapitulieren gibt es nicht, so wie auch ein Schiffskommandant die Flagge nie streicht" 27 . Ebenfalls im August 1944 übernahm Vizeadmiral Ernst Schirlitz das Kommando über die Festung La Rochelle 28 , im September folgte Vizeadmiral Friedrich Frisius in Dünkirchen 29 , und im Februar 1945 konnte die Marine auch auf den Kanalinseln das Kommando übernehmen 30 . Im Wehrmachtführungsstab erwog man, auch in St. Nazaire einem Marineoffizier das Kommando zu übertragen. Der Seekommandant hielt sich jedoch bedeckt, und es blieb bei den Befugnissen des Heeres 31 . Noch Ende März 1945 wies Hitler zur Befriedigung von Dönitz darauf hin, daß die Festungen im Westraum in erster Linie Marine-Kommandanten erhalten sollten, „da schon viele Festungen, aber noch kein Schiff verlorengegangen sei ohne bis zum Letzten zu kämpfen" 32 . Die martialischen Funksprüche in und aus den Festungen 33 sowie die ständige Betonung aller Kommandostellen, daß es bei der Marine keinerlei Auflösungserscheinungen wie etwa beim Heer gab 34 , führten schließlich zu der beabsich26 27
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Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 634. Funkspruch von Großadmiral Dönitz an Konteradmiral Ruhfus, 21. 8 . 1 9 4 4 , B A - M A RM 7/148. Obgleich der Chef F d U West, Kaptiän z. S. Rösing, die Ernennung eines Marineoffiziers zum Festungskommandanten wegen geringer Sachkenntnis im Landkampf als ungeeignet bewertete, Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 19. 8. 1944, S. 471. Dönitz funkte an Frisius: „Ich habe Ihre Ernennung zum Festungskommandanten Dünkirchen herbeigeführt, weil ich weiß, daß Sie mit größter Tatkraft das letzte Mittel zur Verteidigung erschöpfen werden ... Ich bin dessen gewiß, daß Sie der Geschichte der Kriegsmarine mit Ihrem und Ihrer Männer Kampf ein neues Ruhmesblatt einfügen werden", Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 23. 9. 1944, S. 625 f. Vizeadmiral Friedrich Hüffmeier ersetzte den erkrankten Generalleutnant Graf Schmettow und nutzte diese Gelegenheit, den unliebsamen Schmettow zu entmachten, dem Admiral Krancke eine allzu positive Haltung gegenüber der Zivilbevölkerung vorwarf, ebd., 27. 2. 45, S. 319. Vgl. ebd., 4. 1. 45, S. 240; Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, 1 . 1 1 . 1 9 4 4 , S. 617; 26. 3. 45, S. 686. Vgl. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 5. 9. 1944, S. 1 2 3 f . Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, 26. 3. 45, S. 686. Vgl. ζ. B. Funkspruch Dönitz', 1. 9. 1944, an Seuß, Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 1. 9. 1944, S. 8; Funkspruch v o n Dönitz an Seekommandant Bretagne, Konteradmiral Kähler [Brest], ebd., 4. 9. 1944, S. 97. Vgl. ζ. B. ebd., 13. 8. 1944, S. 316.
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tigten Anerkennung durch Hitler. Am 6. September 1944 äußerte dieser anläßlich der Ritterkreuzverleihung an einen Kapitänleutnant zufrieden, „daß heute im Gegensatz zu 1918 überall dort, wo Marine kämpfe, vorbildliches Halten und einzigartige Einsatzbereitschaft festzustellen wäre" 35 . Betrachtet man sich die der Ski weitgehend unbekannt gebliebene Realität, so entpuppt sich vieles als Wortspielerei zwischen Truppe und Führung, die dieses gewollte Bild zufrieden an das Führerhauptquartier weitergab. Die Aktionen Witts und Seuß' waren die beiden einzigen Fälle, in denen die Marine im wahrsten Sinne des Wortes bis zur letzten Patrone kämpfte. Ansonsten dürfte man die Verbalakrobatik in den Funksprüchen nicht sonderlich ernst genommen haben. Es gab praktisch in keiner Festung einen Kampf bis zur letzten Handwaffe, so wie ihn Dönitz für Toulon gefordert hatte. Als die geordnete Verteidigung zusammenbrach, kapitulierten die Verantwortlichen. Dies galt für Admiral Ruhfus in Toulon genauso wie für die so hoch gelobten schweren Marinebatterien bei Calais 36 . Die Funksprüche von Dönitz in die belagerten Festungen waren Ausdruck seiner generellen Haltung, die von seinen Soldaten den unerbittlichen Kampf bis zum Letzten forderte. Dieses kämpferische Verlangen ließ sein Ansehen bei Hitler steigen, verhinderte jedoch in vielen Fällen den klaren Blick auf die Realität. Im U-Boot-Krieg lassen sich für diese Einstellung zahlreiche Beispiele finden. Die Ermahnungsfunksprüche und die klangvollen Namen von U-BootGruppen wie „Schlagetot", „Reissewolf", „Hinein", „Mordbrenner" u. ä. 37 lassen sich noch als Versuch werten, die Truppe anzuspornen. Weit aussagekräftiger ist Dönitz' Reaktion auf den erdrückenden alliierten Flugzeugeinsatz in der Biskaya ab Sommer 1943. Er ließ die Flak-Bewaffnung der U-Boote verstärken und befahl ihnen, sich in einem ungleichen Kampf im Gruppenmarsch hindurchzukämpfen. Als nach neun Wochen diese Praxis abgebrochen werden mußte, lagen 19 U-Boote auf dem Grund der Biskaya 38 . Nachdem im September 1943 die Konvoibekämpfung im Nordatlantik mit neuen Waffen (Akkustiktorpedo, verstärkte Flak, FuMB) wieder aufgenommen wurde 39 , weigerte er
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Admiral/Führerhauptquartier G K d o s 287/44 Chefs, 6. 9. 1944, B A - M A , R M 7/137. Gerade der Kampf der schweren Marineküstenbatterien an der Kanalenge scheint Dönitz in besonderem Maße inspiriert zu haben. A l s diese ihre letzte Munition nach England verschossen, funkte Dönitz: „Schwere Mar-Battr. an Kanalküste lassen noch heute wie Jahre hindurch engl. Inseln Schlagkraft deutscher Wehrmacht spüren. Sie haben dem Gegner an Land und in See schwere Schäden zugefügt. Jetzt tragen sie durch Verteidigung ihrer Stellungen als Festung mit bei, Kräfte des Gegners zu zerschlagen und zu binden, so daß Ansturm Feinde gegen Westgrenze Heimat gelähmt wird". Wahrscheinlich hat der Funkspruch die im Endkampf befindlichen Batterien nicht mehr erreicht. Man hätte sich dort über die unfreiwillige K o m i k dieser Zeilen wohl nur amüsieren können, Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 28. 9. 1944, S. 769. Anhand der Namensgebung der U - B o o t - G r u p p e n ließ sich unterscheiden, ob Dönitz oder Konteradmiral G o d t die Operation führten, da letzterer stets umgänglichere Namen wie Schill, Drossel o. ä. wählte. Eine Auflistung aller U - B o o t - G r u p p e n - N a m e n in: Rohwer/Hümmelchen, C h r o n o l o g y , S. 4 1 2 . Der Biskaya-Gruppenausmarsch fand zwischen dem 29.5. und 2. 8. 1943 statt, ebd., S. 17. Dönitz setzte hohe Erwartungen an die Wiederaufnahme. Dies wird auch in seinem Funkspruch an die U - B o o t e deutlich, K T B BdU, 11. 9. 1943, S. 35, B A - M A , R M 87/31. Vgl. K T B BdU, 13. 11. 1943, S. 55 f., ebd., R M 87/33.
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sich erneut viel zu lange, das Scheitern einzugestehen. Erst im März 1944 brach er die Schlacht ab. Nach dem erfolglosen Verlauf der Operationen war spätestens im November 1943 klar, daß der U-Boot-Krieg in der bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Man wird Dönitz zugute halten müssen, daß er stets mit neuen Ideen versuchte, den Einsatz nicht vollständig zum Erliegen kommen zu lassen. Er hörte jedoch stets um fünf nach zwölf auf und zog zu spät Konsequenzen aus Rückschlägen. Die Weiterführung des U-Boot-Krieges unter Inkaufnahme von schweren Verlusten hat Dönitz immer mit dem Argument der Kräftebindung gerechtfertigt. Seiner Meinung nach war es nicht möglich, den Einsatz wieder aufzunehmen, wenn er erst einmal völlig zum Erliegen gekommen war. „Dem Gegner an der Klinge zu bleiben ist, obwohl ein Schlagwort, eine technisch-taktische, vor allem aber eine psychologische Notwendigkeit" 40 , schrieb er im März 1944. Was er unter der „psychologischen Notwendigkeit" verstand, erläuterte Dönitz im Oktober 1944 in einem Vortrag: „Eine Waffe, die zurückgehalten in den Häfen liegt, stirbt. Daß aber eine Waffe, die unter härtesten Bedingungen mit größtem Blutzoll kämpft, daß eine solche Waffe, die einen so harten Kampf besteht und auch beharrlich durchhält, ohne in ihrer Kampfmoral auch im geringsten zu leiden, unsterblich ist und daß aus ihr selbst heraus immer wieder die neuen Kräfte heranwachsen und entstehen, die zu einer harten und heldischen Weiterführung des Krieges erforderlich sind" 41 . Für Dönitz hatte der harte und verlustreiche Kampf anscheinend auch eine erzieherische und „reinigende" Kraft. Dies waren genau die Charaktere, die „Steher", wie Hitler einmal an anderer Stelle sagte 42 , derer das Reich in schwerer Stunde bedurfte. Man kann die kämpferische und fanatische Einstellung der Marine jedoch nicht nur an ihrem Oberbefehlshaber festmachen. Dönitz beeinflußte in erheblichem Maße die Personalpolitik, so daß sich seine Vorstellungen auch unterhalb der Ski - in unterschiedlichem Maße - durchsetzten. Die Ermahnungsbefehle des FdU Nordmeer, Fregattenkapitän Gerd Suhren, erinnerten sehr an die Sprachdiktion von Dönitz . So funkte er am 20. März 1945 an den Kommandanten von U 968, Kapitänleutnant Otto Westphalen, daß dieser nach mehreren Versenkungserfolgen in kurzer Zeit mehrfach den Briten in kaltblütigster Form die deutsche Überlegenheit bewiesen habe 44 . Auch die Verurteilung des Kommandanten von U 995, Oberleutnant zur See Walther Köhntopp, im Oktober 1944 wegen Feigheit vor dem Feind ist symptomatisch. Köhntopp war einem Geleitzug nicht nachgesetzt und weggetaucht. Nach übereifrigen Meldungen der Wachoffiziere sowie einer vernichtenden Kritik des 1. Admiralstabsoffizier des FdU Nordmeer, Reinhard Reche, wurde er mit Billigung Suhrens zum Tode verurteilt. Nur die vehemente Inter40 41 42
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Anlage zum KTB BdU vom 7. 6. 1944, S. 10, ebd., RM 87/40. Vortrag des ObdM über den Tonnagekrieg vom 19. 10. 1944, MAP, WF-04/33730. Bei der Ablösung Feldmarschalls v. Mansteins im März 1944, Manstein, Verlorene Siege, S. 613. Vgl. ζ. B. P R O - D E F E 3/743, S. 452 (17. 3.45); S. 508 (21. 3. 45); S. 828 (29. 3.45); 3. 4.45, S. 1030. P R O - D E F E 3/742, S. 444.
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vention der Crew-Kameraden bei Dönitz rettete Köhntopp, und er wurde zu sechs Jahren Festungshaft begnadigt 45 . Ein weiteres Beispiel für den typischen Offizier der Ära Dönitz ist Vizeadmiral Heye. Er übernahm im April 1944 den Kleinkampfverband, ein Sammelsurium von Einmann- und Zweimann-Klein-U-Booten, Sprengbooten und Kampfschwimmern. Heye war ein junger dynamischer Offizier, der trotz seiner ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus 46 eine außergewöhnlich steile Karriere durchlaufen und sich sowohl als Stabs- wie als Frontoffizier bewährt hatte. Er führte in der offiziellen Diktion den K-Verband mit großer Härte und verlangte von seinen Soldaten vollen Einsatz, So lobte er am 4. August 1944 den Kampfeswillen von zehn Marder-Fahrern (Einmann-U-Boote), die von ihrem Einsatz nicht zurückgekehrt waren. Obgleich bei diesen Einsätzen ein gewisser Kamikaze-Charakter unverkennbar war, bemerkte Heye, daß „gerade [der] Geist, der aus diesen Männern spricht, als Ansporn und Beispiel ein Zeichen der unbesiegbaren inneren Haltung der Kriegsmarine" sei 47 . Nach den ersten Einsätzen in der Seine-Bucht, bei denen die spektakuläre Vernichtung des Kreuzers „Dragon" gelang, standen Verluste und Erfolge der Waffen des K-Verbandes bald in keinem annehmbaren Verhältnis mehr. Dennoch wurden die Einsätze mit gewaltigen Verlusten bis Kriegsende fortgesetzt 48 . Heye mußte sich der sinnlosen Opfer bewußt sein, er zog die Einmanntorpedos und Sprengboote dennoch nicht aus dem Einsatz. Man darf allerdings auch nicht vergessen, daß sich zu dieser „harten" Haltung Heyes - wie bei Dönitz - eine von seinen Untergebenen attestierte sorgenvolle, ja väterliche Fürsorge gesellte. Auch der letzte Chef der Marinegruppe West, Admiral Krancke, reiht sich in dieses Bild ein. Er war eine überaus ambivalente Persönlichkeit, in der sich Betreuung für die ihm anvertrauten Soldaten und Einsicht in hoffnungslose militärische Lagen mit unnachgiebiger Härte und Starrsinn verbanden. In besonderem Maße war er darum bemüht, die Moral aufrecht zu erhalten. Nach dem Tod des FdZ, Konteradmiral Erich Bey, auf der „Scharnhorst" und dem verlustreichen Seegefecht deutscher Zerstörer gegen britische Kreuzer in der Biskaya am 27. Dezember 1943 schrieb er an die 8. Z.-Flottille: „Auch hier im Westen [mußten] in Erfüllung kriegswichtigster Aufgaben viele treue brave Kameraden dem Vaterland ihre Treue mit dem Tode auf See besiegeln ... Im Gegenangriff suchte Euer Verbandsführer eine günstige Entscheidung, das Schicksal entschied gegen ihn. Das wird uns nicht wanken lassen. Erfüllte Pflicht erfüllt mit Stolz. Ohne Opfer kein Erfolg ... Und wenn es wieder zum Kampf kommt, dann wird das Glück, wie so oft bisher, wieder mit uns sein. Heil dem Führer" 49 . Kranckes Ermahnungs- bzw. Belobigungsfunksprüche waren ganz im Sinne von Dönitz abgefaßt. Draufgängertum und Härte wurden belohnt, Schwäche abgeurteilt. So funkte er nach den Erfolgen der Marineküstenbatterien von
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Vgl. P R O - D E F E 3/743, S. 201 ( 1 1 . 4 . 45). Eckard Wetzel erarbeitet eine umfassende D o kumentation über den Fall „Köhntopp". Baum, Marine, S. 20, 22. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 4. 8. 1944, S. 73; vgl. ebd., 3. 8. 1944, S. 60. Vgl. Mattes, Seehunde, S. 157. KTB Gruppe West, 29. 12. 1943, S. 5782 f., B A - M A , R M 35 11/61.
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Cherbourg am 25. Juni 1944: „Bravo und dennoch!" 50 . Als der bis zur letzten Patrone kämpfende Hafenkommandant von Cherbourg die vorzeitige Kapitulation des Kommandanten des Artillerie-Arsenals Cherbourg, Kapitän zur See (W) Kirgasser, meldete, zeigte sich Krancke sehr betrübt über dieses Versagen bei der sonst einwandfreien Haltung der Marine. Er leitete sofort ein Kriegsgerichtsverfahren ein, gestand jedoch resigniert ein, daß man dies wohl erst nach Kriegsende würde durchführen können 51 . Krancke ließ auch während des 20. Juli 1944 in seinem Hauptquartier in Paris an seiner entschlossenen Haltung keinen Zweifel aufkommen. Als er von der Verhaftung der Angehörigen des SD erfuhr, drohte er an, diese mit Waffengewalt wieder zu befreien, wozu es aufgrund des rasch in sich zusammenbrechenden Umsturzes nicht mehr kam. Der Höhere SS und Polizeiführer, SS-Gruppenführer Carl-Albrecht Oberg, bedankte sich am nächsten Tag bei Krancke für das „tatkräftige Verhalten der Marine" 52 . Vielen hohen Kommandeuren an der Invasionsfront kamen aus dem Gefühl der eigenen Unterlegenheit heraus Zweifel über den weiteren Sinn der Fortführung des Krieges. Rommel, Rundstedt und Kluge teilten diese Haltung in unterschiedlichem Maße. Auch wenn diese Offiziere sich nicht direkt am Umsturz beteiligen wollten, so standen sie ihm zumindest nicht ablehnend gegenüber. Bei Krancke und der Marine war diese Einstellung nicht zu finden. Obwohl er in seinem KTB generell nicht mit harscher Kritik an der allgemeinen Kriegslage sparte, wagte er die letzte Konsequenz, das Eingeständnis der Aussichtslosigkeit, nicht. Im Juli und August 1944 erwähnte er mit keiner Silbe und keiner Andeutung, wie hoffnungslos die Lage gewordenen war. Selbstverständlich waren in der Marine nicht alle bedeutenden Führungspositionen mit fanatischen Offizieren - um ein Lieblingswort von Dönitz zu verwenden - besetzt. Das klassische Gegenbeispiel ist der Führer der Schnellboote, Kapitän zur See Rudolf Petersen. Sohn eines Pfarrers der bekennenden Kirche, stand er dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Aus seinen Denkschriften liest sich ein erstaunlich realistisches und ungeschminktes Lagebild heraus 53 . Zudem stand sein operatives Verhalten dem von Dönitz diametral entgegen. Ein aussichtsloses Durchkämpfen durch die feindliche Abwehr, wie dies die U-Boote zeitweilig in der Biskaya zu praktizieren hatten, lag außerhalb seines Verständnisses. Er führte die S-Boote besonnen und mit dem Bemühen, Verluste zu vermeiden. So wich er dem englischen Flugzeugeinsatz konsequent aus und operierte ab Ende 1943 nur noch in mondlosen Nächten. Petersen wurde von Generaladmiral Wilhelm Marschall 1943 und von Admiral Krancke 1944 vorgeworfen, er führe die S-Boote nicht hart genug gegen den Feind. Letzterer äußerte häufiger Kritik wegen abgebrochener oder abgesagter Unternehmungen. Am 7. Juni 1944 machte er Petersen telefonisch darauf aufmerksam,
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KTB Gruppe West, 25. 6. 1944, S. 6461, ebd. RM 35 11/63. KTB Gruppe West, 27. 6.1944, ebd. KTB Gruppe West, 21. 7. 1944, S. 6682, ebd. RM 35 11/65. Vgl. Hoffmann, Widerstand, S. 589-591. Z.B. Zusammenfassende Betrachtung über den Westraumeinsatz der S-Bootswaffe im Jahre 1943, 15. 2. 1944, S. 29, BA-MA, RM 55/6.
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daß die bisherigen Erfolge der S-Boote im Kampf gegen die Invasionsflotte nicht befriedigen würden. Trotz ungünstiger Wetterlage sei „voller Einsatz" unbedingt erforderlich 54 . Dönitz schloß sich diesen Vorwürfen im Januar 1945, wenn auch in etwas abgeschwächter Form, an. Petersen überstand jedoch alle Anschuldigungen ohne weitere Konsequenzen 55 . Die Härte von Dönitz und seine Entschlossenheit kommen auch in seiner „geistigen" Führung der Marine zum Ausdruck. Er tat dies in einer Weise, wie es auch Hitler nicht „besser" hätte machen können. Seit seiner Zeit als BdU widmete sich Dönitz mit besonderer Intensität dem Kampfgeist der ihm anvertrauten Soldaten. Die Fürsorge um seine Soldaten mit dem Aufbau von Erholungsheimen u. ä. war davon ebenso ein Ausdruck wie seine bekannten Ermahnungsfunksprüche, die sich in ihrer Diktion während des gesamten Krieges kaum veränderten 56 . Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang seine Reaktion über die glückliche Heimkehr von zwei U-Booten von der stark luftüberwachten marokkanischen Küste im November 1942. Er notierte ins KTB: „Solange noch solche Besatzungen aus der Heimat kommen, braucht man sich um die Zukunft des U-Bootskrieges in Hinblick auf den soldatischen Nachwuchs keine Gedanken zu machen. Auch wenn der Krieg noch härter werden sollte, diese Männer werden eine noch größere Härte entgegenzusetzen haben" 57 . Es war stets die große Furcht von Dönitz, daß der Einsatzwillen unter den immer schwerer werdenden Kampfbedingungen merklich leiden könnte. Je größer die Verluste, desto mehr befaßte er sich mit der Aufrechterhaltung von Disziplin, Ordnung und Moral. Als nach den schweren Verlusten des Sommers 1943 einige U-Boote wegen geringfügiger Schäden nach kurzer Zeit wieder einliefen, wurden sogenannte „Tieftauchkommissare" eingesetzt. In der Regel war dies der Stützpunktingenieur, der nach dem Tieftauchversuch zu entscheiden hatte, ob das U-Boot technisch auslaufbereit war oder nicht 58 . Auch der von ihm herausgegebene Erlaß gegen „Kritiksucht und Meckerei" vom 9. September 1943 ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Dönitz verlangte von seinen Soldaten, daß sie sich trotz hoher Verluste ohne wenn und aber einsetzten, getreu dem Motto: „Kämpfen, Arbeiten und Schweigen" 59 . Die
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K T B Gruppe West, 7. 6. 1944, S. 6244, ebd. R M 35 11/63. Zu Petersen exisitiert keine eigenständige Untersuchung. N u r Gerhard Hümmelchen geht in seinem neuen Buch kurz auf die Person des FdS ein, Hümmelchen, Schnellboote, S. 223 f. Als ein Beispiel von vielen sei hier ein Funkspruch zitiert, den er am 9. 1 1 . 1 9 4 2 im Zusammenhang mit der Bekämpfung der alliierten Landungsflotte in Nordafrika abgab: „Wir müssen uns bedingungslos mit unserem bewähren brutalen Angriffwillen auf diese vom Führer gestellte Aufgabe einstellen. Schon die Versenkung eines Transporters kann f ü r die amerikanischen Angriffe und die französische Gegenwehr von größter Bedeutung sein". KTB BdU, 9. 11. 1942, S. 40, B A - M A , R M 87/24. Ermahnungsfunksprüche späteren Datums in: P R O - D E F E 3/741, S. 8 8 3 - 8 8 7 ( 2 8 . 2 . 1945); DEFE 3/742, S. 7 3 8 - 7 4 5 ( 1 4 . 3 . 1945). K T B BdU, 30. 1 1 . 1 9 4 2 , S. 55, Β A/M A RM 87/24. Nachgewiesen ist der Tieftauchkommissar f ü r St. Nazaire und Bordeaux, Neitzel, U-Boot-Bunker, S. 161. Abgedruckt in: Salewski, Seekriegsleitung, S. 63 8 f.
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unheilvollen Erfahrungen der meuternden Marine von 1918 saßen bei Dönitz tief. Dennoch war es natürlich unvermeidbar, daß auch die Moral der U-BootWaffe nachließ. In einer Ubersicht der U-Boot-Lage für Januar und Februar 1944 kam er zum Schluß, daß sich bei einigen Kommandanten und Besatzungen defensive Einstellungen bemerkbar mache. Dennoch resümierte Dönitz zufrieden: „Trotz Kenntnis von der Schwere der Verluste, trotz vieler Verfolgungen und Strapazen lässt sich der Ubootsfahrer nicht unterkriegen. Hart gegen sich und das Schicksal, den Gegner hassend, an seine Waffe und den Sieg glaubend, geht er immer wieder hinaus in den ungleichen Kampf" 60 . In das Bild eines um die Moral besorgten Oberbefehlshabers fügt sich sein hartes Verhalten als oberster Gerichtsherr. Hitlers Erlaß, daß bei Fahnenflucht im Falle von jugendlichem Leichtsinn von der Todesstrafe abgesehen werden konnte, änderte Dönitz dahingehend um, daß er in jedem Falle die Todesstrafe angewandt wissen wollte. In seinem Erlaß vom 27. April 1943 hieß es u. a.: „Ich erwarte, daß die Kriegsgerichte das Versagen solcher treulosen Schwächlinge allein an der bis zum Tode getreuen Einsatzbereitschaft aller anständigen Soldaten messen. Ich selbst werde in diesen Fällen jeden Gnadenerweis für einen Fahnenflüchtigen ablehnen" 61 . Die Verurteilung des Marineartilleriegefreiten Anton Melzheimer zu einer hohen Zuchthausstrafe hob Dönitz mehrfach auf, bis das Reichsgericht die Todesstrafe aussprach und Melzheimer hingerichtet wurde 62 . Zwei U-BootKommandanten wurden während des Krieges wegen Feigheit vor dem Feind exekutiert 63 , ein dritter, Oberleutnant zur See Oskar Kusch, verlor sein Leben wegen des Vorwurfs der „Wehrkraftzersetzung". Dieser Fall ist wohl der krasseste Auswuchs von Dönitz' Bemühen, die Moral der Marine aufrecht zu erhalten. Kusch war ein bewährter und erfahrender U-Boot-Kommandant, der in schwerer Zeit mehrfach Versenkungserfolge erzielte. Daß der Oberbefehlshaber selbst in diesem Fall das Gnadengesuch ablehnte, beweist sein starres Denken und unerbittliches Verhalten in allen diziplinarischen Angelegenheiten 64 . Auflösung, Chaos, Diziplinlosigkeiten suchte er bis Kriegsende mit allen Mitteln zu unterbinden. Am 4. November 1944 ordnete Dönitz an, daß die Namen aller Uberläufer aus den Atlantik- und Kanalfestungen nach Deutschland gefunkt werden sollten und auch nach dem Krieg diese Personen bei der versuchten Rückkehr nach Deutschland kriegsgerichtlich verurteilt und erschossen werden sollen. Die Familie würde in Sippenhaftung genommen 65 .
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Anlage zum K T B BdU, 1 . 3 . 1944: Die U-Boot-Lage im Januar und Februar 1944, B A - M A , R M 87/37. Vgl. auch Anlage zum K T B B d U v o m 7. 6. 1944, Ubootslage, 1. 6. 1944, ebd. R M 87/4Q. Gruchmann, Dokumente, S. 469. Seidler, Militärgerichtsbarkeit, S. 37. Es handelte sich dabei um Kapitänleutnant Heinz Hirsacker, Kommandant von U 572 und Korvettenkapitän Hugo Förster, Kommandant v o n U 501. Vgl. Walle, Tragödie. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 4. 11. 1944, S. 80. Als der Festungskommandant von Brest, Generalleutnant Bernhard Ramcke, nach Übernahme seines Kommandos die geringe K a m p f k r a f t der eingesetzten Marinesoldaten monierte und das Überlaufen von Ü-Boot-Besatzungen meldete, reagierte Dönitz scharf. Er verlangte sofort nähere Einzelheiten über die Vorfälle. Bald entpuppte sich Ramckes Meldung als übertrieben und
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Allerdings muß man darauf hinweisen, daß Dönitz trotz der noch im Mai 1945 vollstreckten Todesurteile kein fliegender Standrichter war, dem jedes Todesurteil willkommen war. Die Begnadigung von Köhntopp mag ein Beleg hierfür sein. Unbestreitbar hatte Dönitz mit seinen Bemühungen Erfolg. Die Marine bewahrte bis über die Kapitulation hinaus Ordnung und Disziplin. Nach den offiziellen Angaben war auch die Kampfmoral bis Kriegsende nahezu unangetastet. Nähere Untersuchungen hierüber stehen bislang noch aus. Sie wären besonders reizvoll, da in der Memoirenliteratur stets dieses offizielle Bild aufrechterhalten wurde. Dies gilt in besonderem Maße für die U-Boot-Waffe, die sich dem heutigen Betrachter als hochmotivierte, geschlossene Waffengattung präsentiert, die bis Kriegsende mit letztem Einsatz gekämpft hat. Die zahlreichen Ablösungen von Bootspersonal und der Selbstmord von Kapitänleutnant Zschesch, Kommandant von U 505, während einer Wasserbombenverfolgung regen eine Neubewertung an. Wir haben gesehen, daß die Auffassung von Gehorsam und Kampf Hitler und Dönitz zusammenführte. Der Diktator hatte ohne Zweifel einen großen Einfluß auf den Mensch Karl Dönitz. Sein Stab benötigte stets mehrere Tage, um ihn nach einem Besuch bei Hitler in die „reale" Welt zurückzuholen 66 . Weitläufig bekannt sind seine Äußerungen über die ungeheure Ausstrahlung des „Führers". Im Vergleich zu diesem seien alle anderen nur sehr arme Würstchen67. Bei seiner Bewunderung für die Person Adolf Hitler nahm Dönitz die offensichtlichen negativen Seiten nicht zur Kenntnis. Angesichts der vielen Gespräche unter vier Augen ist anzunehmen, daß Dönitz vom verbrecherischen Charakter des Systems weit mehr wußte, als man ihm nachweisen kann. Zwar läßt sich nicht belegen, daß ihm die Vernichtungslager bekannt waren. Viele Indizien sprechen jedoch dafür, daß Dönitz zumindest auf mündlichem Wege Dinge erfuhr, die er nach dem Krieg stets geleugnet hat. So ist belegt, daß Dönitz von Konteradmiral Hans-Erich Voß wußte, daß es Massenerschießungen hinter der Ostfront gab. Mehrfach auf diese schrecklichen Vorkommnisse angesprochen und um Klärung beim „Führer" gebeten, antwortete der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine stets: „Ich werde mir doch nicht mein gutes Verhältnis zu Hitler kaputt machen!" 68 . Dönitz wurde in besonderem Maße von Hitler geschätzt und konnte sich auch Widerspruch erlauben. Man darf diesen Punkt jedoch nicht überschätzen. Dönitz hat Hitler immer nur in eng begrenzten sachlichen Fragen widersprochen, so etwa bei der geplanten Außerdienststellung der Großkampfschiffe. In Fragen größerer Wichtigkeit, wie z.B. der Räumung Tunesiens, der Krim oder Kurlands, wagte er niemals ein Widerwort. Seine höchste Maxime war stets das gute Verhältnis zu Hitler, was ihn fundamentale Auseinandersetzungen vermeiden ließ. Es stellt sich die Frage,
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Dönitz konnte zufrieden feststellen, daß sich die im Landkampf eingesetzten U - B o o t Fahrer besonders tapfer geschlagen hatten. Ebd., 12. 9. 1944, S. 3 0 6 f . So mehrfach von Hans Meckel berichtet. Hartwig, Karl Dönitz, S. 144. Interview mit dem damaligen Hafen- und Festungsarzt von Ymuiden, Stabsarzt Dr. Hans Lautenbach, November 1994.
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wann für Dönitz eigentlich ein Schlußpunkt der Treue gekommen wäre, was hätte passieren müssen, um den offenen Bruch mit Hitler zu verursachen? Dönitz, wie viele andere, schaute bei allen unangenehmen Dingen weg, um Gewissenskonflikte bewußt auszuschalten. Hätte er sich die Verbrechen des Regimes eingestanden, hätte er vor seinem Gewissen handeln müssen. Er mußte auch wissen, daß dies dem verhaßten Aufruhr gegen den Staat, der Einmischung in die Politik gleichkam, die er zutiefst ablehnte. So suchte er, sich soweit es ihm möglich erschien, auf seine Aufgabe als Oberbefehlshaber der Marine zu konzentrieren. Kann man nun davon sprechen, daß - zugespitzt ausgedrückt - die kaiserlich erzogene Marine Raeders unter Dönitz zu einer nationalsozialistischen wurde? Dieses Bild wäre gewiß eindimensional. Dönitz bemühte sich, seinen Wehrmachtteil nicht zu sehr mit dem NS-System, d. h. insbesondere mit der Partei zu verstricken. Trotz einer Verordnung über die Einschaltung der Volksgerichtshöfe in die Rechtspflege der Wehrmacht vom 20. September 1944 gelang es ihm, auch die Rechtsprechung für politische Straftaten weitgehend in seinen Händen zu behalten 69 . Dies, obwohl der Staatssekretär im Justizministerium, Herbert Klemm, dem OKW gemeldet hatte, daß „die Gerichte der Kriegsmarine politisch zersetzende Äußerungen entweder nicht genügend verfolgten oder zu milde bestraften" 70 . Die Partei hat in der Marine niemals einen nennenswerten Einfluß gewinnen können. Die Bedeutungslosigkeit der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere (NSFO) innerhalb der Marine ist hierfür ein Beleg. Die Abstellung von Offizieren als NSFO's wurde lasch und ohne großen parteipolitischen Ehrgeiz gehandhabt. Eine besondere Wirkung ging von ihnen bei der Marine nicht aus 71 . Dönitz und die Schar von hohen Flaggoffizieren, die in seinem Sinne dachten und handelten, waren keine NS-Ideologen. Trotz aller Affinität zu Hitler und ureigensten nationalsozialistischen Werten wie Volksgemeinschaft u.a., gab es zwischen dem NS-Staat und der Marine noch klare Unterschiede. Mit dem pervertierten nationalsozialistischen Rassegedanken hat sich Dönitz trotz seiner antisemitischen Äußerungen 72 ebensowenig völlig identifiziert wie mit der „Neuordnung Europas" oder den Vorstellungen, daß mit einer Kapitulation auch das Ende des deutschen Volkes gekommen sei. Neben einer gewissen Werteverwandschaft war die Eidgebundenheit von Dönitz ein wesentlicher Grund für seine unbeschränkte Treue, bis zu Hitlers Tod in dessen Sinne zu handeln. Er entwickelte sich dadurch wider besseren Wissens zu einem verbissenen Durchhaltefanatiker. So ließ er in einer militärisch vollkommen sinnlosen Aktion noch am 26. April 1945 einige hundert Marinesoldaten nach Berlin einfliegen. Die meisten dieser Soldaten mußten diesen Treuebeweis mit ihrem Leben bezahlen 73 .
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Messerschmitt, Wehrmacht (1969), S. 372. Steinert, Tage, S. 66. Messerschmitt, Wehrmacht (1969), S. 476 f. Zu seinen antisemitischen Äußerungen vgl. Hartwig, Karl Dönitz, S. 1 4 3 - 1 4 5 . Kuhlmann, Endkampf.
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Hält man sich Dönitz' persönliches Verhältnis zu Hitler, seine Einstellungen zu Tugenden wie Treue, Gehorsam, Tapferkeit vor Augen, so wird verständlich, daß die Wahl als Nachfolger Hitlers kein Zufall war, sondern sich beinahe aufdrängte. In der Umgebung des Diktators gab es bereits vor dem „Abfall" Himmlers und Görings keine Person, die in puncto Sachkompetenz, Treue, Kampfeswille Dönitz hätte ausstechen können. Als dieser ab Anfang 1945 in den inneren Machtzirkel um Hitler aufstieg und an den täglichen Lagebesprechungen teilnahm, begann die Endphase einer Entwicklung, die, da sich Dönitz bis zum Schluß auch keinen faux pas erlaubte, konsequent in der Nachfolgeschaft endete. Nach Hitlers Tod vom Eid entbunden, handelte er rasch und keineswegs so, wie es der „Führer" in seinem nibelungischem Untergangsszenario beabsichtigt hatte. Die schnelle Kapitulation und die Rettung einer möglichst großen Zahl von Flüchtlingen vor der Roten Armee waren seine Ziele, nicht etwa der so oft beschworene Kampf bis zur letzten Patrone und der Untergang mit wehender Flagge. Eine japanische Kampfesmentalität lag ihm fern, auch wenn diese in seinen Befehlen und Ermahnungen zuweilen anklang 74 .
3. Dönitz nutzte seinen außerordentlichen Einfluß auf Hitler stets zum Vorteil der Marine, was allerdings nicht immer zum Vorteil der Gesamtkriegführung war. Die starre Haltung in der Frage der Räumung des Kurlandkessels gibt hierfür ein Beispiel. Um die U-Boot-Ubungsgebiete in der Ostsee nicht noch weiter zu gefährden, lehnte Dönitz die Räumung stets ab, obgleich sie gesamtstrategisch dringend geboten war 75 . Auch die militärisch unsinnige Aufstellung von drei Marineinfanterie-Divisionen aus überzähligem Schiffspersonal 1945 war Ursache von Dönitz' strengem Ressortdenken. Wie schon bei den Luftwaffen-Felddivisionen fehlten für den erfolgversprechenden Einsatz erdkampferfahrenes Rahmenpersonal. Hochdekorierte U-Boot-Kommandanten konnten als Regiments- oder Bataillonskommandeure ihre Aufgabe kaum erfüllen. Die viel naheliegendere Lösung, das Personal in die Heeresdivisionen einzugliedern, war für die Marine nicht tragbar, da Dönitz stets mit dem Gedanken spielte, bei einer Besserung der Lage (Anfang 1945!) die Rückgliederung in marineeigene Aufgaben vornehmen zu können. Er meinte am 26. Februar 1945 zu Himmler angesichts von dessen Plänen, die 1. Marineinfanterie-Division in eine vollwertige Kampfdivision umzugliedern, daß „die Truppe, die aus der Marine hervorgegangen ist, auch im Rahmen der Marine zu belassen [ist]". Die abkommandierten Heeresoffiziere
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So ζ. B. in der Anordnung kurz vor der Invasion unter vollstem Einsatz - notfalls durch Rammen - feindliche Landungsschiffe zu vernichten. Dönitz erließ diese Anordnung, handelte allerdings nicht danach und setzte die U-Boot-Waffe während der Invasion keinesfalls selbstmörderisch ein. Vgl. Salewski, Seekriegsleitung, S. 414 f. Ebd., S. 493-495.
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müßten zur Marine versetzt werden 76 . Ohne ausreichendes Rahmenpersonal erlitten die Einheiten im ungeübten Landkampf hohe und vermeidbare Verluste. Hitler war mit dem Einsatz der Einheiten allerdings sehr zufrieden 77 . Dönitz hatte nach einem Besuch der 1. Marineinfanteriedivision einen günstigen Gesamteindruck, obwohl „Kenntnisse und Können" - ein nicht ganz unwesentlicher Faktor für den Fronteinsatz - noch gering waren. Entscheidend war für ihn, daß die Truppe „frisch und unbefangen [und] von Angriffsgeist beseelt [war]". Aufschlußreich ist auch eine weitere Bemerkung bei dieser Besichtigung. Er wies mehrfach und ausdrücklich auf die Aufgabe des Offizierskorps hin: 1. Den Geist der Truppe zu erhalten, 2. sie an Belastungen und den Kampf zu gewöhnen, 3. sie zur Härte zu erziehen und erst an vierter Stelle nannte er die intensive Ausbildung 78 . Während der Einfluß der Marine innerhalb der Wehrmacht ständig wuchs, wurde sie der weit über ihren eigenen Bereich gewachsenen Verantwortung jedoch nicht gerecht. Jedes Weiterdenken oder ein stärkeres Engagement für die Gesamtkriegführung fand nicht statt. Dönitz suchte niemals nennenswerten Kontakt zur Heeres- oder Luftwaffengeneralität für Gespräche über die Kriegslage. Ein Pakt der Generäle zur Abschwächung oder gar Verhinderung von Hitlers wahnwitzigen Ideen war von Dönitz und seinen hohen Flaggoffizieren nicht zu erwarten 79 . Wir haben gesehen, daß Hitler Dönitz u. a. wegen seiner unermüdlichen Energie schätzte, die Unterlegenheit der eigenen Waffe wieder wettzumachen. Dönitz setzte die ganze Kraft seines Amtes daran, den sogenannten „neuen U-Boot-Krieg" mit den Typen XXI und XXIII aus der Taufe zu heben. Ihre große Leistungsfähigkeit und die mit ihnen verknüpften Hoffnungen erlauben durchaus die Einordung in die Kategorie „Wunderwaffen". Im Bau dieser neuen U-Boote lag im Endeffekt auch die Existenzberechtigung der Marine in der zweiten Kriegshälfte. Mit ihnen sollten die Schlacht im Atlantik und nicht zuletzt das Kriegsglück gewendet werden. Es kam für Dönitz darauf an, mit eisernem Willen auszuhalten, bis die neuen Typen frontreif wurden. Er vermittelte Hitler stets das Bild, daß eine Zeit großer Erfolge dicht bevorstehe. Der Gipfel der Schönfärberei war die Lagemeldung vom 28. Februar 1945. Der Schnorchel habe aus den U-Booten des alten Typs reine Unterwasserfahrzeuge gemacht und eine Wende im Seekrieg herbeigeführt. Gegen diese gefährlichen Waffen sei „auch die gewaltige Seemacht der Angelsachsen im wesentlichen machtlos.... Die scharfe Waffe des reinen U-Boots ist vorhanden. Sie wird mit den neuen U-Bootstypen und ihrer weit höheren Unterwassergeschwindigkeit
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Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, 26. 2. 1945, S. 660. Erst bei der Aufstellung der 3. Marineinfanterie-Division Ende März 1945 wurde ein nennenswerter Stamm des Heeres (Reste der 163. ID.) integriert, ebd., 18. 3. 1945, S. 681. Vgl. auch, ebd., 11.-13. 7. 1944, S. 599, 632, 641 f. Ebd., 14. 2. 1945, S. 652. Niederschrift über die Fahrt des O b d M zur 1. Marine-Division am 12. 2. 1945, BA-MA R M 7/102, S. 268 f. Zur Haltung der Marine zum Widerstand vgl. Baum, Marine.
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noch schärfer werden. Es kommt darauf an, mit vielen dieser scharfen Waffen in den Kampf zu gehen" 80 . Diese Zeilen hatten mit der Realität des U-Boot-Krieges nichts gemein. Ab Februar 1945 stiegen nämlich die Verluste der Front U-Boote wieder steil an. Die alliierte Abwehr hatte sich nach einigen Monaten auf die Schnorchelboote eingestellt und versenkte im Februar 18, im März 17 und im April sogar 34 U-Boote. Hitler hinterfragte die allzu optimistische Haltung von Dönitz nicht. Im Gegenteil, ihm schien die U-Boot-Waffe ein Lichtstreifen am sonst dunklen Horizont zu sein. Vom Wiederaufleben des U-Boot-Krieges erwartete Hitler im Januar 1945 Versenkungszahlen von bis zu 600000 bis 700000 B R T pro Monat. „Das würde Churchill und Roosevelt auch einigermaßen ernüchtern, denn die Tonnagelage bleibt auf der Feindseite weiterhin bedrohlich", schrieb Goebbels am 25. Januar 1945 fern jeder Realität 81 . Der gesamte neue U-Boot-Krieg war im Grunde genommen ein gewaltiger Bluff. Von den Hochsee-U-Booten des Typs X X I wurden bis Mai 1945 noch 119 Stück fertigestellt. Nur zwei liefen kurz vor Kriegsende zur Feindfahrt aus. Unlängst ist nachgewiesen worden, daß die phantastischen Berichte des ersten Einsatzes eines Typ XXI-Bootes (U 2511) vollkommen aus der Luft gegriffen waren und vor allem dem etwas sendungsbewußten Kommandanten als Beweis seiner Leistungen und Dönitz als Beleg für die Qualität des Bootes gedient haben 82 . Sicherlich waren diese U-Boote technisch sehr leistungsfähig und hätten die Alliierten, wenn sie früher zum Einsatz gekommen wären, vor ernsthafte Probleme gestellt. Irgendeinen entscheidenden Einfluß auf die Kriegsentwicklung hätten sie, ähnlich wie der Düsenjäger Me 262, aber nicht nehmen können. So waren die gewaltigen Ressourcen, die auf diese Trumpf-Karte gesetzt wurden, von vornherein vergebens gewesen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß der Bau der neuen Typen den Krieg wohl eher verkürzt als verlängert hat. Welche Hoffnungen Dönitz und die Marineführung wirklich mit dem Einsatz der neuen U-Boote verbanden, wird sich vermutlich nicht mehr klären lassen. In den offiziellen Quellen finden sich nur optimistische Erwartungen ohne nähere Erklärungen, Berechnungen o. ä. In Kenntnis der Persönlichkeit von Karl Dönitz wird man davon ausgehen können, daß zwischen der Verbalakrobatik seiner Befehle und Denkschriften und seinen quasi privaten Gedanken ein Unterschied bestand. Als BdU war er in den Einschätzungen der Erfolgsmöglichkeiten des Tonnagekrieges stets zurückhaltender als Raeder und einige Stabsoffiziere der Ski. Obgleich sich Dönitz bis zum Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 als Durchhaltefanatiker betätigte, gibt es konkrete Hinweise dar-
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Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, 28. 2. 1945, S. 342. Vgl. zu D ö n i t z ' übertrieben optimistischer Darstellung des U - B o o t - K r i e g e s W a g n e r (Hrsg.), Lagevorträge, 3. 12. 1944, S. 621; 3. 1. 1945, S. 630. Goebbels, Tagebücher, II, 15, 25. 1. 1945, S. 221. Niestie, D e r Fronteinsatz. Eine fundierte, kritische Untersuchung der neuen U - B o o t - T y pen auf ihre technische und operative Leistungsfähigkeit steht noch aus. In der Literatur wird zwar häufig der Mangel an Luftaufklärung herausgestrichen. D i e großen technischen Probleme, ζ. B. mit der Hydraulik-Anlage, der Stand der englischen A b w e h r u.a. wird nicht zur Kenntnis genommen. Zudem wurde auch der Einsatzbericht von U 2511 nicht hinterfragt. Vgl. ζ. B . Rahn, Entstehung.
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auf, daß er sich der aussichtslosen Gesamtsituation des Krieges und auch der Schlacht im Atlantik durchaus bewußt gewesen ist. So hieß es in der Lagebetrachtung der Ski vom 20. August 1943: „Trotzdem erscheint es unter Abwägung der vorhandenen Kräfte und Möglichkeiten sehr zweifelhaft, ob Deutschland den Krieg mit militärischen Mitteln allein erfolgreich beenden kann ... In der großen Strategie ist seit vorigem Jahr aus Deutschland statt dem Hammer der Amboß geworden. ... Die Aufgabe der Wehrmacht ist es, das europäische Kriegsreich solange zu verteidigen, bis es der Führung gelungen ist, dem Feind unseren politischen Willen aufzuzwingen" 83 . Man muß annehmen, daß Dönitz die aussichtslose Kriegslage vergleichsweise früh erkannt hat. Er vermochte aber keine Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen, schob die Verantwortung voll und ganz auf die nicht mehr vorhandene Politik ab und tat so, als ob man mit neuen Waffen noch irgend etwas würde ändern können.
4. Als im September 1939 die kleine Kriegsmarine erneut gegen die „Seemacht Nr. 1" antreten mußte, schien sie in diesem Krieg lediglich durch große Tapferkeit die „Schande" von 1918 wieder gutmachen zu können. Nachdem sich der erste Schock der alliierten Kriegserklärung gelegt hatte und schnelle deutsche Siege neue Perspektiven aufzeigten, gaben sich Raeder und Teile der Ski der Illusion hin, in einem Seekrieg England mindestens entscheidend schwächen und damit den wichtigsten Beitrag zum „Endsieg" leisten zu können. Der Krieg entwickelte sich jedoch nicht zum größten Seekrieg aller Zeiten, sondern blieb in Europa eine kontinental ausgerichtete Auseinandersetzung. Aufgrund des naturgemäß unterschiedlichen strategischen Denkens, ihres wenig durchsetzungsfähigen Oberbefehlshabers und ihrer geringen militärischen Kraft stand die Marine trotz aller Erfolge im Schatten von Heer und Luftwaffe. Als sich Anfang 1943 die operative Wende des Krieges abzeichnete und Niederlage auf Niederlage folgte, ging es nicht mehr um militärische Relevanz, sondern um die Qualität von Moral und Kampfgeist im Sinne des von Goebbels propagierten „Totalen Krieges". Trotz ihres militärischen Schattendaseins stieg die Marine binnen kurzem zum vielgelobten Vorbild auf. Sie stellte nämlich eindrücklich unter Beweis, daß sie tatsächlich „mit Anstand zu sterben" verstand. Die gewaltigen Verluste der U-Boot-Waffe sprechen für sich. Das Trauma der Meuterei von 1918 schien ausgemerzt. Heute erscheint allerdings eher der treue Kampf bis zum Ende als die Revolte der Hochseeflotte von 1918 ein Makel zu sein.
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Jacobsen, Weltkrieg, S. 413—418.
Guntram
Schulze-Wegener
Seestrategie und Marinerüstung
Die Kriegsmarine stand seit 1935 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges im Zeichen des Aufbaus einer Weltmachtflotte 1 . Hatte Hitler der maritimen K o m ponente der Wehrmacht zu Beginn seiner Amtszeit nur marginale Bedeutung beigemessen, so bezog er nach 1933 den rein politischen Wert der Reichsmarine in sein Machtkalkül mit ein. Zwar signalisierte Hitler der Marineführung, deren operative Überlegungen sich in Abhängigkeit vom Versailler Vertrag auf Polen und Frankreich fixierten, daß er nichts vom übersteigerten maritimen Engagement des Reiches halte und auch nicht gewillt sei, Großbritannien den Anspruch auf seine artikulierten Seeinteressen streitig zu machen. Aber als 1934 dem Schiffbau in Deutschland höchste Priorität eingeräumt wurde 2 , war der Flottenbau bereits Gegenstand außenpolitischen Taktierens. Kurz darauf strebte der Diktator ein bilaterales Flottenabkommen mit G r o ß britannien an, das die eigene Flottenstärke auf ein Drittel der englischen anheben sollte. Sehr zur Überraschung des Chefs der Marineleitung, Admiral Erich Raeder, zeigte sich Hitler in deutscher Marinegeschichte wie in Marineangelegenheiten überhaupt ausgesprochen bewandert, kannte Deplacements und Kalibergrößen, und natürlich war ihm auch bekannt, daß Großadmiral Tirpitz vor dem Ersten Weltkrieg Kaiser Wilhelm II. einen Vorschlag unterbreitet hatte: Man möge die Engländer von dem Vorteil überzeugen, der ihnen aus einem Stärkeverhältnis von 16 gegenüber zehn deutschen Schiffen erwüchse. Hitler dachte jetzt, 1934, an eine Relation von etwa drei zu eins zu englischen Gunsten, um durch das demonstrative Eingeständnis britischer Seeherrschaft und eigener Bescheidenheit einen Kampf beider Flotten auf Dauer auszuschließen, die Briten „kommen" zu lassen, wenigstens neutral zu halten, sie vielleicht zum Bündnis zu bewegen. Das am 18. Juni 1935 - seit Anfang des Monats hieß die Reichsmarine Kriegsmarine, wehte die Hakenkreuzflagge auf deutschen Schiffen und war Raeder Oberbefehlshaber - geschlossene Flottenabkommen zwischen dem Inselreich und Deutschland legte die deutsche Überwassertonnage auf 35 und die U-Boottonnage auf 45 Prozent der britischen fest 3 . Was Hitler als „glücklichsten Tag" seines Lebens feierte, der ihn nunmehr von den „Fesseln des Versailler Vertrages" befreit habe 4 , quittierte auch die Marine mit Genugtuung, denn dreierlei war mit dem diplomatischen Coup erreicht: Erstens durfte sich Raeder sicher sein, daß fürderhin der Ausbau der Seestreitkräfte eine feste Größe in der Politik des Reiches sein würde, zweitens hielt der Vertrag sowohl die Möglich-
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Vgl. Dülffer, Weimar. Vgl. Salewski, Seekriegsleitung, 1, S. 15. Ebd., S. 17 f. Vgl. Güth, Marine, S. 184.
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Guntram Schulze-Wegener
keit zum Bündnis mit wie auch zur Wendung und Rüstung gegen Großbritannien bereit, und drittens entsprach das Abkommen dem außenpolitischen Programm des „Führers". Wer Hitlers literarisches Vermächtnis kannte, der wußte um das Grobraster der Kriegszielpolitik: Aufrüstung der Streitkräfte, Erringung deutscher kontinentaler Großmachtstellung und, nach Ausbau und Festigung des „Lebensraumes" im Osten, Kampf um die Weltherrschaft, was unweigerlich zugleich Kampf gegen die Seemächte bedeutete, in dem Großbritannien die Rolle des kontinentalen Juniorpartners an der Seite Deutschlands zugedacht war. Nach dem Flottenabkommen sollten bis zum Jahr 1942 zu den drei Panzerschiffen fünf weitere, davon drei Schlachtschiffe mit 35 000 Tonnen, fünf 10000 Tonnen-Kreuzer, zwei Flugzeugträger, 22 Zerstörer, 22 U - B o o t e und etliche leichte Seestreitkräfte gebaut werden 5 , die alle Werftkapazitäten des Reiches zu sprengen drohten. Material und Facharbeiter zum Bau des Kriegsgeräts waren allzu knapp bemessen, und obwohl sich frühzeitig abzeichnete, daß Ablieferungstermine nicht fristgerecht eingehalten werden konnten, wurde mit zusätzlichen neun Kreuzern und der Steigerung der U - B o o t e auf 64 bis zum Jahre 1940 der Umfang des Bauprogramms noch erweitert. Hitler steuerte seit 1935 erkennbar das Staatsschiff auf Kriegskurs, und in der Seekriegsleitung dämmerte allmählich die Erkenntnis, daß eine militärische Verwicklung, die jederzeit aus der unverhohlenen Aufrüstung und den Aktivitäten des Reiches resultieren konnte, zwangsläufig auch Großbritannien auf den Plan rufen würde. Die Briten indes mühten sich auf einer Tagung in London 6 Ende 1935, Anfang 1936 um die Zusage der großen Seemächte, die Vertragsbestimmungen zu den qualitativen und quantitativen Bindungen der Seerüstung zu modifizieren. Als die Tagung ohne das gewünschte Ergebnis zu Ende ging, beschloß die britische Regierung kurzerhand die Forcierung ihres Flottenbaus. An die 35-Prozent-Klausel mit Deutschland gebunden, bedeutete dies zugleich die Erweiterung deutscher Rüstung zur See. Die Ankündigung britischer Rüstungsmaßnahmen führte in der Marineführung zum Wandlungsprozeß: An die Stelle eines möglichen Bündnisses mit Großbritannien oder zumindest seiner wohlwollenden Neutralität trat die Frage der Seekriegführung gegen England 7 , und dies, obwohl Hitler immerzu beteuerte, es werde nicht zum deutsch-britischen Krieg kommen. Den Sommer hindurch kreisten die Überlegungen der Seekriegsleitung um den Einsatz der Kriegsmarine gegen Großbritannien und nahmen in der Denkschrift „Seekriegführung gegen England und die sich daraus ergebenden Forderungen für die strategische Zielsetzung und den Aufbau der Kriegsmarine" 8 Gestalt an. Neben der strategischen Festlegung auf die Kreuzerkriegführung war von herausragender ideologischer Bedeutung, daß die traditionellen antibritischen Denkmuster der Marineführung, die nur zwischenzeitlich ausgesetzt
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Ablieferungstermine nach dem „Mob-Schiffs-Neubauplan 1 9 3 6 " in: Deutsche Militärgeschichte, 4, S. 451. Vgl. Deist, Aufrüstung, S. 4 6 0 f. Vgl. Salewski, Seekriegsleitung, 1, S. 38 ff. Abgedruckt in: ebd., 3, S. 2 7 - 6 3 .
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Seestrategie und Marinerüstung
schienen, nun wieder voll durchbrachen und das Selbstverständnis der Marine wie ehedem bestimmten. Angesichts dürftiger Ressourcen war es ratsam, für die Durchführung des Kreuzerkrieges hauptsächlich mit U-Booten und Panzerschiffen zu planen und von vollwertigen Schlachtschiffen vorerst abzusehen, die eine lange Fertigungsdauer in Anspruch nehmen und die Kriegsbereitschaft hinauszögern würden. Hitler aber - Zeit seines Lebens das Stärkere, Überlegene im Blick - wollte Schlachtschiffe. Im Anschluß an eine ebenso heftige wie unfruchtbare Diskussion am 1. November 1938 über die strategische Grundsatzfrage, ob Schlachtflotte oder Kreuzer als Kern der Seekriegführung, reichte Raeder seinen Abschied ein 9 , den ihm der „Führer" jedoch verweigerte. Der Admiral, der in bester Tirpitzscher Tradition stets den Schlachtschiffen das Wort redete, sah es aus rüstungstechnischen Gründen dennoch als zweckmäßiger an, für mögliche atlantische Operationen gegen die britische Handelsschiffahrt die schneller zu bauenden Panzerschiffe zu favorisieren. Mit seinen Überlegungen, die letzthin auf die Denkschrift vom Sommer 1937 zurückgingen und allgemeine Sicht der Seekriegsleitung waren, erreichte er bei Hitler nichts. Auf Plan X folgte Plan Y und schließlich der Z-Plan, den Hitler erst billigte, als der Bau von sechs Schlachtschiffen in das Programm aufgenommen wurde. A m 27. Januar 1939 räumte er der Marinerüstung Priorität vor dem Aufbau der anderen Wehrmachtteile ein, was nichts daran änderte, daß die hochgesteckten Ziele bis Kriegsbeginn nicht annähernd erreicht wurden: Der Z-Plan war und blieb pure Utopie. Der Z-Plan vom 9. Februar 1939 10 Typ Schlachtschiffe Panzerschiffe Kreuzer Flugzeugträger Schwere Kreuzer Leichte Kreuzer Spähkreuzer Zerstörer Torpedoboote U-Boote Schnellboote Minensuchboote Minenräumboote U-Boot-Jäger
bis Ende 1943 6 3 3 2 5 3 2 44 44 161 48 64 49 4
Endziel 1947 10 3 10 4 5 12 20 58 78 249 75 112 50 12
Wozu wollte Hitler unbedingt Schlachtschiffe, warum keine U - B o o t e in großer Anzahl, die bereits im Ersten Weltkrieg gezeigt hatten, welche Wirkung sie im 9 10
Vgl. D ü l f f e r , W e i m a r , S. 496. Q u e l l e : D e u t s c h e Militärgeschichte, 4, S. 452.
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Kampf gegen die feindliche Handelsschiffahrt erzielen konnten? Der „Führer" betonte im Winter 1938/39 gegenüber Raeder, daß er die Flotte nicht vor 1946 benötige 1 1 , und die Vermutung liegt nahe, daß Hitler bereits die Zeit nach der Eroberung des Ostens im Visier hatte, der ihm unendliche Ressourcen einbringen würde. Dann erst brauchte er die Flotte zur Verteidigung seiner Weltmachtstellung gegen die U S A und Großbritannien, für den finalen Show-Down zur See 1 2 . Freilich, im Vergleich zum amerikanischen und britischen Schiffsbestand im Zieljahr 1946 würde sich die deutsche Z-Plan-Flotte fast kümmerlich ausnehmen, doch was stand weiteren Bauplänen im Wege, die vorzugsweise auf den Werften des deutsch-besetzten russischen Riesenreiches in schwimmendes Potential umgewandelt würden? Arbeiter und Material gäbe es dann ja zur Genüge. Als sich im Frühjahr 1939 abzeichnete, daß er seine Expansionsziele nicht im Einklang mit der britischen Regierung würde erreichen können, kündigte Hitler das Flottenabkommen am 28. April in der Hoffnung, die Engländer durch den deutschen Flottenbau von der Gegnerschaft abzuschrecken, mit anderen Worten: Er setzte alles auf die Karte „Risikobindung". In diesem Augenblick war sein „Welteroberungsplan" zwar nicht gescheitert, aber in seinen Grundfesten erschüttert, denn er wußte nun, daß im Kriegsfall Großbritannien eindeutig und viel zu früh gegen das Reich Stellung beziehen würde. Als Hitler den Krieg am 1. September 1939 begann, verfügte die Kriegsmarine über magere zwei Schlachtschiffe, drei Panzerschiffe, einen Schweren und sechs Leichte Kreuzer, 21 Zerstörer, zwölf Torpedoboote und 57 U - B o o t e , von denen nur 26 für die Verwendung im Atlantik einsatzfähig waren 1 3 . Raeder, dem der Krieg „fünf Jahre zu früh" kam, beschlich Untergangsstimmung: „Was die Kriegsmarine anbetrifft, so ist sie selbstverständlich im Herbst 1939 noch keineswegs für den großen Kampf mit England hinreichend gerüstet... Die Uberwasserstreitkräfte aber sind noch so gering an Zahl und Stärke, daß sie - vollen Einsatz vorausgesetzt - nur zeigen können, daß sie mit Anstand zu sterben verstehen und damit die Grundlage für einen späteren Wiederaufbau zu schaffen gewillt sind" 1 4 . „Die Kriegsmarine führt Handelskrieg mit dem Schwerpunkt gegen England" 1 5 . Als die „Weisung Nr. 1 für die Kriegführung" am 31. August 1939 erging, war die strategische Zielsetzung unklar. Den Briten zehnfach unterlegen, konnte die Seeekriegsleitung nur mit den beiden Panzerschiffen und den paar U - B o o t e n in den Kampf gehen; viel zu wenig also, um Druck auszuüben, geschweige denn größere Erfolge zu erzielen. Der Führer der U - B o o t e , seit Oktober ihr Befehlshaber, drängte wegen der ernüchternden Zahlen auf den verstärkten Aufbau und Einsatz der U-Boot-Waffe: 300 Boote müßten es sein, so Kommodore Dönitz, von denen 90 ständig am Feind stünden 1 6 , und nicht,
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Raeder, Leben, 2, S. 156. Vgl. Salewski, Reich, S. 1 1 3 - 1 5 2 . Vgl. Stegemann/Maier, Einsatzvorstellungen, S. 71. Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 20 f. „Weisung N r . 1 für die Kriegführung", in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 21. Raeder, Leben, 2, S. 171.
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wie jetzt, nur fünf bis sieben. „Die harte Wirklichkeit bewies später, daß diese Zahl sogar einmal bis auf nur 2 U-Boote herabsank" 17 . Gelänge es, auf die Dauer mehr Schiffe zu versenken, als der Gegner imstande wäre, durch Neubauten zu ersetzen, wäre die Wirtschaftskraft der Insel rasch erlahmt und der deutsche Sieg mithin sicher. Kurze Operationen unter geringen Verlusten mit größtem Versenkungserfolg - das war Dönitz' Devise, die er selbst „ökonomischen U-Boot-Einsatz" nannte. Während Raeder den Einsatz aller Seestreitkräfte, vor allem schwerer Uberwassereinheiten, gegen die feindliche Zufuhren verfügte, erkannte Dönitz in erster Linie in den U-Booten das am besten geeignete Werkzeug, feindliche Tonnage zu versenken und Kräfte zu binden. Bei dem verheerend niedrigen Rüstungsstand der U-Boot-Waffe wie auch der Uberwasserstreitkräfte konnte von „Ökonomie" keine Rede sein. Die atemlose Hektik, mit der Hitler seinen „Welteroberungsplan" anging, stand in diametralem Gegensatz zur notwendigen Langfristigkeit der Marineplanung: Improvisation und „Blitzkrieg" waren keine maritimen Kategorien. Ahnlich wie im Ersten Weltkrieg lagen die Ausgangsbasen der deutschen Seekriegführung am Südende der Nordsee, doch das weitgespannte Netz britischer Stützpunkte und die strenge Überwachung der Seeverbindungen machten jeden Durchbruchsversuch deutscher Handelsstörer zu einem gewagten Unternehmen. Ozeanische Kriegführung gegen die Seeverbindungen des Gegners bestimmte die Strategie, und die Marineführung hoffte, durch Schwerpunktbildung in der Nordsee den britischen Riegel für Ein- und Auslaufen deutscher Atlantikeinheiten aufbrechen zu können 18 . Gemäß der Weisung des Oberbefehlshabers wurden die Uberwassereinheiten in den ersten beiden Kriegsjahren als Handelsstörer vornehmlich im Atlantik eingesetzt, wobei die U-Boote nur einen Teilauftrag zu übernehmen hatten. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Wehrmacht im April 194019 hatte die Kriegsmarine wertvolle neue Stützpunkte hinzugewonnen und konnte nun unter Umgehung der britischen Flottenbasis Scapa Flow und der blockierten Norwegen-Shetland-Enge aus dem nassen Dreieck der Deutschen Bucht in den Atlantik durchstoßen. Hitler rechnete auf baldiges Einlenken der Briten, und obwohl diese den Frieden gleich hätten schließen können, rührte sich dort keine Stimme für eine Ubereinkunft mit Deutschland. Um England in die Knie zu zwingen, blieb nur die Invasion (Unternehmen „Seelöwe"), die Hitler im Sommer 1940 vorbereiten 20 ließ und am 17. September einstweilen beiseite legte, weil die Luftwaffe nicht in der Lage war, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen 21 . Alle Hoffnungen des Diktators lagen nun auf dem Feldzug gegen die Sowjetunion; sei der „Koloß auf tönernen Füßen" am Boden, dann wäre den Engländern der letzte „Festlandsdegen" aus der Hand geschlagen - sie müßten dann um Frieden nachsuchen.
Dönitz, Jahre, S. 48. Vgl. Stegemann/Maier, Einsatzvorstellungen, S. 76. " Zum Unternehmen „Weserübung" v o r allem: Hubatsch, Weserübung; Salewski, Seekriegsleitung, 1, S. 1 7 5 - 1 9 4 . 20 Vgl. Umbreit/Maier, Strategie, S. 3 6 8 - 3 7 4 . 21 Zur „Luftschlacht um England": Ebd., S. 3 7 5 - 4 0 8 . 17 18
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Der Traum von der Germanisierung des Ostens und damit vom Frieden mit England scheiterte jedoch am 5./6. Dezember 1941, als die Rote Armee vor Moskau zur Gegenoffensive antrat. Die deutsche Führung hatte das sowjetische Militärpotential völlig unterschätzt 22 , und die Vorstellung vom kontinentaleuropäischen Imperium, das nach der Niederringung der Sowjetunion wehrwirtschaftlich, machtpolitisch und militärisch selbst einen dauerhaften Krieg mit den Angelsachsen nicht hätte scheuen müssen, blieb Illusion. Obwohl Hitler dem japanischen Botschafter Oshima signalisierte, er wisse nicht, wie man die USA besiegen solle 23 , erklärte er den Vereinigten Staaten als „Feind Nr. 4 von Weltrang" am 11. Dezember 1941 den Krieg. Auf die Ausweitung zum Weltkrieg hatte die deutsche Führung keine Antwort parat, es gab keine strategische Neukonzeption, aber eines war klar: Würde das Jahr 1942 nicht zum siegreichen Abschluß von „Barbarossa" führen, wäre der Krieg bei realistischer Einschätzung der westalliierten Rüstungs- und Operationsmöglichkeiten verloren, denn während „Deutschland in der Hauptsache mit der Weiterführung des Ostfeldzuges belastet ist, erlaubt den Feindmächten der Rüstungsstand der USA ... vorbereitende Schritte" 24 . Die strategische Orientierung der Marine blieb zwar nach wie vor auf den Zufuhrkrieg im Atlantik konzentriert, aber der Kriegseintritt Japans eröffnete neue Perspektiven für die Seekriegführung. Abgesehen davon, daß nun die Zersplitterung englischer und amerikanischer Seestreitkräfte zu einer merklichen Entlastung im Atlantik und im Mittelmeer führen würde, sah die Marine die euro-japanische Kriegführung gegen den anglo-amerikanischen Gegner als einmalige maritime Chance für das Jahr 194 2 25 . Doch sie hatte ihre Operationswünsche hinter die Notwendigkeit des mit allen Mitteln zu führenden U-BootKrieges gegen die englische Tonnage zu stellen, darüber hinaus als Unterstützer für das Heer zu fungieren und schließlich zu akzeptieren, was Hitler nicht deutlicher hätte zum Ausdruck bringen können: „Der erste Träger des Kampfes ist das Heer" 26 . Langfristig sollte zwar das Hauptgewicht der Rüstung auf Marine und Luftwaffe liegen, aber Kürzungen im Rüstungsetat dieser beiden Wehrmachtteile waren unausweichlich, um das Heer zu stärken und den Kampf im Osten zu entscheiden. Das schuf Unstimmigkeiten, Spannungen und Rivalitäten, zumal die Rüstungslage gegen Ende des Jahres auf allen Sektoren bedenklich war 27 . Das Oberkommando der Wehrmacht forderte daher in einer auf den 3. Januar 1942 datierten Denkschrift, die Rüstung des Reiches auf das Kriegsnotwendige, das heißt auf das Heer, zu reduzieren, und für die Marine bedeutete dies die Führung des U-Boot-Krieges unter Verzicht auf größere Unternehmungen im Atlantik, die 22 23 24
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Vgl. Schulze-Wegener, Rote Armee. Vgl. Hillgruber (Hrsg.), Staatsmänner, 2, Dok. 1, S. 41. „Uberblick über die Bedeutung des Kriegseintritts der U.S.A. und Japans", Vortragsnotiz vom 14. 12. 1941, B A - M A , R H 2/1521. Vgl. „Welche strategischen Forderungen ergeben sich aus der gegenwärtigen Lage für die weitere Kriegführung der Dreierpaktmächte", in: Salewski, Seekriegsleitung, 3, S. 263f. So Hitler im Tagesbefehl an die Soldaten des Heeres und der Waffen-SS am 19. 12. 1941, B A - M A , RM 6/75, Bl. 214. Vgl. Schulze-Wegener, Kriegsmarine-Rüstung, S. 17 ff.
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Geleitsicherung und die Sicherung Norwegens und des Küstenvorfeldes 28 . Hitler reagierte eine Woche später auf die Forderungen des O K W mit seinem Befehl zur „Rüstung 1942" 29 , und Proteste von Kriegsmarine und Luftwaffe gegen die geplanten Kürzungen waren zwecklos. Statt einheitlicher Koordinierung und zentraler Lenkung der Rüstungswirtschaft hatten die Oberbefehlshaber ihre Rüstungen selber in eigener Verantwortlichkeit zu steuern, was zu Kompetenzrangeleien und heftigen Auseinandersetzungen führte: Zwischen der Organisation des Vierjahresplans unter Reichsmarschall Göring, der Rüstungsindustrie, um deren Steuerung Wehrmacht und Ministerium ständig wetteiferten, und der Wehrmacht selbst mit ihrer eigenen Wirtschaftsverwaltung. Angesichts der permanenten Mangelerscheinungen auf dem Rüstungssektor war nun nichts dringlicher als die Zusammenfassung der wirtschaftlichen Führung in einer Hand, und Hitler übertrug am 9. Februar 1942 seinem Architekten Albert Speer unter anderem das Amt des „Reichsministers für Bewaffnung und Munition". Die unter seinem Vorgänger, Dr. Fritz Todt, initiierte „Selbstverantwortung der Industrie" wurde von Speer übernommen und in ein System von „Ausschüssen" und „Ringen" übertragen 30 . „So verblüffend es auch erscheinen mag: das Grundsätzliche war mir klar. Vom ersten Tag an steuerte ich wie nachtwandlerisch einem System zu, durch das allein ein Rüstungserfolg zu erzielen war. Allerdings hatte ich bereits während meiner zweijährigen Tätigkeit für die Rüstung auf der unteren Ebene einen Einblick ,in viele grundsätzliche Fehler' erhalten, ,die mir in der Spitze verborgen geblieben wären'. Ich fertigte einen Organisationsplan an, dessen vertikale Linien die einzelnen Fertigprodukte, wie Panzer, Flugzeuge oder U-Boote, also die Rüstung der drei Wehrmachtteile umfaßten. Diese senkrecht stehenden Säulen wurden von zahlreichen Ringen umschlossen, von denen jeder eine Gruppe der für alle Geschütze notwendigen Zulieferungen darstellen sollte. Hier, in diesen Ringen, dachte ich mir beispielsweise die Fertigung der Schmiedestücke oder der Kugellager oder der elektrotechnischen Ausrüstung zusammengefaßt. Als Architekt an dreidimensionales Denken gewohnt, zeichnete ich dieses neue Organisationsschema auf" 31 . Hitler war mit allem einverstanden, was die Rüstungskurve nach oben trieb, und sagte Speer seine volle Unterstützung zu. Mit der sogenannten „Zentralen Planung", der nach Speers eigenem Bekunden „wichtigsten Einrichtung unserer Kriegswirtschaft" 32 , hatte der Rüstungsminister eine einheitliche Steuerungsstelle geschaffen und den lähmenden Konkurrenzkampf weitgehend ausgeschaltet. Für die Kriegsmarine bedeutete die Übernahme des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition durch Speer sowie die Schaffung der „Zentralen Pla-
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Vgl. Thomas, Geschichte, S. 478 ff. Ebd., S. 483 ff. Zur Kriegswirtschaft unter Dr. Todt und den Anfängen des Systems Speer siehe SchulzeWegener, Kriegsmarine-Rüstung, S. 23 ff. Speer, Erinnerungen, S. 219. Ebd., S. 235.
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nung" zunächst keine einschneidende Änderung 33 , denn erst 1943 ging die Marinerüstung in den Verantwortungsbereich Speers über. Der Seekriegsleitung war spätestens seit Hitlers Befehl zur „Rüstung 1942" klar, daß sie mit Improvisationen zu leben hatte und sich die Lage erst nach „Barbarossa" zum Besseren wenden würde. Die Rüstung mit ihren beiden Hauptschwierigkeiten Mensch und Material war das Kardinalproblem der gesamten Seekriegführung im Jahre 1942, und Großadmiral Raeder verfügte in einem Erlaß die grundsätzliche Richtlinie, keine weiteren Kürzungen bei Reparatur und Bau von U-Booten und Torpedofangbooten und in der Reparatur von leichten Seestreitkräften vorzunehmen 34 . Diesen Kürzungen trug das im Mai 1942 verabschiedete neue Schiffbauprogramm Rechnung 35 . Trotz des Bewußtseins der Seekriegsleitung für den Umgang mit den Engpässen schwankten 1942 in ganz eigentümlicher und nur für dieses Jahr spezifischer Weise die maritimen Vorstellungen zwischen Hypertrophie und Hypotrophie, zwischen strategischem wie schiffbaulichem Größenwahn und ernüchterter realistischer Lageeinschätzung. Die Katastrophe war freilich noch nicht greifbar, aber sie kündigte sich mit dem beginnenden Wechsel der Initiative an: Die Achsenmächte gerieten zusehends in die Defensive, während die Offensivkraft der Alliierten Konturen annahm. Das Gewicht der deutschen maritimen Strategie lag nach wie vor auf der Bekämpfung feindlicher Handelstonnage durch die U-Boote - von denen monatlich 25 gebaut werden sollten - , und Hitler begann allmählich, die material- und kostenverschlingenden „Dickschiffe" abzuschreiben, nachdem die „Bismarck" schon im Mai 1941 verlorengegangen war und die schweren Einheiten „Gneisenau", „Scharnhorst" und „Prinz Eugen" außer dem Kanaldurchbruch am 11./12. Februar 194236 zur Sicherung gegen eine befürchtete Invasion Norwegens keine nennenswerten Erfolge hatten erzielen können. Und daß die Großkampfschiffe in der Operation gegen den Geleitzug „PQ 17" im Juli 1942 völlig versagten, schien das Schicksal der schweren Einheiten nun zu besiegeln. Zweifellos muß der strategische Nutzen von Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern im Zeitalter der hauptsächlichen Unterwasserkriegführung in Frage gestellt werden, und das krampfhafte Festhalten vor allem Großadmiral Raeders an den überkommenen Überwassertraditionen der Tirpitz-Ära erschien mehr als unangemessen 37 . Der Wert der deutschen Flotte und somit die Aussicht auf eine sinnvolle Seekriegführung lagen in Quantität und Qualität von U-Booten, nicht von Schlachtschiffen, die Hitler für die momentane Seekriegführung für nutzlos hielt. Die Außerdienststellung der „Dickschiffe" hätte die Seekriegsleitung tief erschüttert, denn „es fiel der Kriegsmarine wohl schwerer als anderen Marinen, auf das Schlachtschiff in Zukunft bewußt zu verzichten, weil sie sich durch
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Zur Organisation des deutschen Kriegsschiffbaus siehe Schulze-Wegener, KriegsmarineRüstung, S. 3CM-3. „Rüstung 1942", B A - M A , R M 7/95. „Ubootsprogramm und Schiffsneubauplan", B A - M A , R M 7/1577. Vgl. Salewski, Seekriegsleitung, 2, S. 1 - 5 2 . Vgl. den Beitrag Neitzel in diesem Band.
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einen solchen Verzicht wieder in die Rolle einer zweitklassigen Küstenmarine zurückgeworfen glaubte" 38 . Daher war die Seekriegsleitung bemüht, Hitler in Denkschriften zum Umdenkungsprozeß zu bewegen, indem die Bedeutung der Uberwasserschiffe im allgemeinen und aus Prestigegründen insbesondere die der Schlachtschiffe herausgehoben wurde. Offenbar hatte die Marineführung nicht begriffen oder wollte nicht begreifen, daß Hitler zwischen momentan Notwendigem und künftig Möglichem unterschied. Wenn er jetzt, im Jahre 1942, den Einsatz von Großkampfschiffen ablehnte, hieß das noch lange nicht, daß er auf sie auch in Zukunft verzichten würde, im Gegenteil, denn sie sollten Kernstück einer deutschen Nachkriegsflotte, vielleicht der deutschen Wehrmacht überhaupt sein. Die Vorstellungen der Seekriegsleitung, in der Denkschrift „Aufbau der Flotte nach dem Kriege" 39 geäußert, gingen durchaus mit Hitlers Kriegsschiffwünschen konform, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Hitler plante für die Zukunft, die Marine aber verknüpfte den Schiffbau nach dem Krieg bereits mit den Operationsplanungen des laufenden Jahres 1942. Das Denken der Seekriegsleitung strebte mit den hybriden deutsch-japanischen strategischen Konstruktionen zu einer Mittelmeer-, Nahost- und Indienseekriegführung gegen die englische Orientstellung dem absoluten Höhepunkt zu. Die Marine ließ jeden Sinn für die realen militärischen und rüstungswirtschaftlichen Gegebenheiten vermissen, plante unter dem Eindruck theoretischer Expansionsmöglichkeiten munter drauflos und hätte vorzugsweise noch im Sommer 1942 mit der Umsetzung des Bauprogramms in schwimmendes Potential begonnen! Nachdem die Planungen zu Schlachtschiffen, Hilfsflugzeugträgern, FlugdeckKreuzern und Flugzeugträgern für eine Kriegs- und Nachkriegsmarine im Sommer und Herbst 1942 auf Hochtouren gelaufen waren 40 , kam die Ernüchterung mit ersten Unmutsäußerungen Hitlers im Spätherbst des Jahres. Die Schlinge zog sich endgültig Anfang 1943 zu, denn das sattsam bekannte Problem - Arbeiter und Material - war die unüberwindbare Hürde. Im Bereich der Marinerüstung lagen an erster Stelle Bau und Reparatur von U-Booten und leichten Seestreitkräften, daran hatte sich nichts geändert, und man stand im Januar 1943 prinzipiell dort, wo man bereits ein Jahr zuvor gewesen war. Anstatt in diesen zwölf wertvollen Monaten alle Werft- und Industriekapazitäten sowie das Material der „Dickschiffe" in die einzig erfolgversprechende Offensivwaffe, das U-Boot, zu investieren, hielt der Großadmiral an den Uberwassertraditionen längst vergangener Zeiten fest. Den abrupten Stopp aller Großschiffbauten faßte Raeder als Aufforderung zum Abschied auf: „Ich fühlte, daß der Augenblick gekommen war, in dem ich mich von Hitler trennen mußte" 41 . Mit dem Abschied des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine am 30. Januar 194342 ging ein Abschnitt deutscher Marinegeschichte zu Ende, weil die Würfel gegen die schweren Überwassereinheiten fielen. Daß diese dennoch zum Ein-
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Salewski, Ende, S. 72. B A - M A , RM 6/83. Vgl. Schulze-Wegener, Kriegsmarine-Rüstung, S. 7 1 - 9 5 . Raeder, Leben, 2, S. 288. Vgl. Salewski, Raeder.
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satz kommen sollten, war auf das hartnäckige Engagement des neuen Oberbefehlshabers Karl Dönitz zurückzuführen, der ihre Verwendung zur Unterstützung der Ostfront befürwortete - was indes nichts an Hitlers Entschluß änderte, fortan weder Schlachtschiffe noch Flugzeugträger in Bau zu geben. Daß Dönitz seine Marine nun explizit nationalsozialistisch führte und sich nicht nur hierin von seinem Vorgänger wesentlich unterschied, wird an anderer Stelle in diesem Band ausführlich behandelt und braucht hier nicht weiter vertieft zu werden 4 3 . Uns interessiert vielmehr, welche rüstungspolitischen Konsequenzen aus dem Wechsel im Oberbefehl der Marine resultierten. Dönitz interessierten keine Schlachtschiff- oder Flugzeugträgerplanungen, und vom Vergangenen hielt er ebensowenig wie von Denkschriften zu einer eventuellen Nachkriegsmarine 4 4 . Was ihn interessierte, waren die U - B o o t e , war die Konzentration auf das Kriegswichtige. „Es handelt sich allein darum, diesen Krieg zu g e w i n n e n . . . . N u r mit dem Ubootkrieg kann die Kriegsmarine einen entscheidenden Beitrag zur Gesamtkriegführung leisten" 4 5 . Damit schien auch die Frage der Rüstungspriorität geklärt, denn Dönitz verlangte nur noch den Bau von U - B o o t e n und leichten Seestreitkräften. Alle anderen Projekte, über die 1942 noch verhandelt worden war, sollten aus den Bauprogrammen der nächsten Jahre ersatzlos gestrichen werden: „Wenn wir also vor die Wahl gestellt werden, unsere Mittel für Kampfkräfte zu verwenden, die an Hand der nun einmal gegebenen Lage im großen ganzen nur bedrohen, oder für solche, die totschlagen können, so ist es richtig, unsere Kräfte in die Totschläger hineinzustecken, denn durch Drohungen allein ist noch niemand gestorben" 4 6 . Eine Woche nach seinem Dienstantritt rang Dönitz dem „Führer" eine Versicherung ab, die sein Vorgänger trotz aller Bemühungen nie hatte einholen können und die eine wesentliche Grundlage für ein neues Marine-Rüstungskonzept war. Er bat Hitler, die U - B o o t e und ihre Waffen sowie die Uberwasserschiffe, die dem U - B o o t - K r i e g dienten, „von der Einziehung für das Heer total und grundsätzlich zu befreien" 4 7 . Hitler sagte zu und versicherte Dönitz darüber hinaus, er wolle alles für die U - B o o t - W a f f e tun, was in seiner Macht stünde. Damit war ein wichtiger Schritt getan. D o c h ehe die Frage der künftigen Stahlzuteilung nicht geklärt war, waren alle Rüstungsplanungen nicht das Papier wert, auf dem sie standen. Für Februar bekam Dönitz zusätzliche 4 0 0 0 0 Tonnen, aber es bedurfte weiterhin des beständigen Nachsetzens, um die Versorgung mit dem elementaren Stoff für das gesamte Jahr zu erwirken. Von den für das zweite Quartal 1943 veranschlagten ca. 180000 Tonnen erhielt die Marine nur 119 000 4 8 , von denen 50 Prozent auf den Schiffbau, 25 Prozent auf die Fer-
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Siehe Beitrag Neitzel. Vgl. Schulze-Wegener, Kriegsmarine-Rüstung, S. 96ff. Aus dem Erlaß von Dönitz an das O b e r k o m m a n d o der Seekriegsleitung vom 5. 2. 1943, in: Salewski, Raeder, S. 145 f. Ebd., S. 146. „Niederschrift über die Besprechung des Ob.d.M. beim Führer am 8. 2. 1943 im Führerhauptquartier Wolfsschanze", in: Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 465. Denkschrift der Seekriegsleitung zur Frage der Stahlzuteilung für die Kriegsmarine vom 1.3.1943, BA-MA, R M 7/1750.
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tigung von Artillerie-, Torpedo- und Sperrwaffen und die verbleibenden 25 Prozent auf den Ausbau von Stützpunktanlagen 49 entfielen. Durch rigorose Maßnahmen sollte die U-Boot-Produktion im laufenden Jahr auf 25 pro Monat heraufgezogen werden, um der einzigen Offensivwaffe der Kriegsmarine ihre Wirksamkeit zu erhalten. Doch die Zahl der Frontboote nahm selbst bei dieser Bauquote wegen der hohen Verlustrate und der Abgabe abgewirtschafteter Boote für Schulzwecke von durchschnittlich einem Boot pro Monat nur sehr langsam zu. Da der Stahl in voller Höhe - also 50 Prozent dem U-Boot-Bau zukommen mußte, würden sich die Kürzungen auf den Bau leichter Seestreitkräfte katastrophal auswirken, denn Zerstörer, Minensuchund Minenräumboote, Kriegstransporter oder Fährprähme waren unverzichtbare Bestandteile des Seekrieges. Dönitz wies Hitler darauf hin, daß es bald schon zur Zerreißprobe käme, bliebe die angeordnete Herabsetzung auf 119000 Tonnen Stahl unkorrigiert: „Ohne Mehrzuteilung aber müßte in Kürze eine Schädigung des Ubootsneubaus und damit des Ubootskrieges eintreten" 50 . Hitler, sichtlich beeindruckt vom zupackenden Wesen des Oberbefehlshabers, gab am 6. März grünes Licht für zusätzliche 45 000 Tonnen, um zumindest die momentane Not zu lindern. Dönitz hatte an den beiden neuralgischen Stellen der Rüstung - Arbeiter und Stahl - beachtliche Erfolge erzielen können, und in der Rückschau wird deutlich, daß der Oberbefehlshaber vom Beginn seiner Amtszeit an eine Art Stufenprogramm verfolgte, um die Marinerüstung hochzuziehen. Etappenweise tastete er sich vor und erhielt dort Hitlers Zusagen, wo es ihm selbst kaum möglich erschienen war. Die teilweise rückgängig gemachte Außerdienststellung der großen Schiffe war sein Verdienst, und die Befreiung von Werftarbeitern vom Dienst mit der Waffe sowie die Bereitstellung zusätzlicher 45 000 Tonnen Baueisen gingen allein auf sein bestimmtes, argumentativ bestens gerüstetes Auftreten bei Hitler zurück. Doch mit dem derzeitigen Stand, nur eingeschränkt zu bauen, gab sich Dönitz, der ein weitaus ehrgeizigeres Ziel vor Augen hatte, keineswegs zufrieden. Er strebte die generelle Steigerung der Marinerüstung an, die gleichsam das Endprodukt der Kettenreaktion darstellen sollte. Da die Versenkungsziffer im Vergleich zum Vorjahr gesunken war, lag die Schlußfolgerung auf der Hand: „Es mußten entsprechend mehr Boote gebaut werden als bisher, und sie mußten schneller gebaut werden" 51 . Genau das erreichte der Oberbefehlshaber während eines Zwiegesprächs mit Hitler am 14. März 1943. Wenige Tage später vermerkte das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung eine monatliche Bauzahl von 30 Booten (27 Typ VII C, drei Typ XX) 52 . Neben dem gesteigerten U-BootProgramm waren auch die Ablieferungszahlen der leichten Seestreitkräfte auf jährlich vier Zerstörer, neun Torpedoboote, 75 Minensuch- und 50 Minenräumboote zu erhöhen 53 .
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Werften, Festungen, Schulen, Ausrüstung, Verpflegungs- und Lieferindustrie. B A - M A . R M 7/1750. Dönitz, Jahre, S. 342. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, Τ. A , 43, Eintragung vom 23. 3. 1943. „Ubootsprogramm - Leichte Seestreitkräfte", B A - M A , R M 7/97.
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Um eine derartige Erweiterung der Marinerüstung zu ermöglichen, mußten weitere 30000 Tonnen Stahl monatlich und insgesamt 55000 zusätzliche Facharbeiter zur Verfügung gestellt werden. Das wußte auch Albert Speer, der mit Dönitz übereinkam, die Forderung nach einer Mehrzuteilung von sogar 40 000 Tonnen monatlich demnächst dem „Führer" zu Gehör zu bringen. Wesentlich aber war ein Versprechen, das Dönitz dem Minister abrang, nämlich die Gleichstellung des U-Boot-Programms mit den Prioritäten der Heeresrüstung, und das bedeutete die Gleichstellung mit dem Panzerprogramm! Am 11. April traf Hitler mit Dönitz zusammen, der den Berghof mit dem unterzeichneten Bauprogramm sowie immerhin 30000 Tonnen Stahl im Gepäck wieder verließ. Obwohl Dönitz freie Hand hatte und der anvisierte Bau sofort hätte beginnen können, ergaben sich erhebliche Schwierigkeiten bei der Bereitstellung des Stahls. Die im Zentralplan veranschlagte Höhe der Eisenmenge von 179500 Tonnen monatlich ermöglichte gerade einmal die Durchführung des Mindestprogramms von 1942. Wegen der Mangelzuweisung durch die „Zentrale Planung" drohte das Bauprogramm zu platzen, und Dönitz konnte nur im Schulterschluß mit seinem kongenialen Partner Albert Speer jene Instanz zu umgehen versuchen, welche die Verteilung vornahm und in der die Kriegsmarine keinen Vertreter und somit kein direktes Mitspracherecht besaß. Dönitz ignorierte die bürokratischen Hemmnisse und verkündete kurzerhand, er werde Hitler melden, daß er das Neubauprogramm in Auftrag gegeben habe 54 . Dönitz wußte genau, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder die Rücknahme des Programms oder Druck auf die „Zentrale Planung", und zwar durch Hitler selbst. Um sich zunächst über den Engpaß hinwegzuretten, erreichte der Ob.d.M. die Vorwegnahme der Stahlzuteilung für das dritte Quartal und befahl am 18. Mai die Inbaugabe. Waren die Schiffe einmal in Produktion, dann war Hitler geradezu gezwungen, die „Zentrale Planung" anzuweisen, den Werften dauerhaft die Mittel zur Fertigstellung in die Hand zu geben, denn schließlich war nichts unsinniger als der Produktionsstop auf halber Strecke. Dönitz ging noch einen Schritt weiter und beabsichtigte Hitler den Vorschlag zu unterbreiten, entweder 40 Boote pro Monat zu produzieren oder das erweiterte Programm vom 11. April überhaupt fallenzulassen. Der Ob.d.M. erörterte das Problem zunächst mit Speer, der sich zuversichtlich gab: „Irgendwie werde die Stahlbeschaffung schon möglich gemacht werden" 55 . Zwischen dem 27. und 29. Mai fiel die Entscheidung für das größte Bauprogramm in der Geschichte des deutschen Kriegsschiffbaus, von dem Hitler zu diesem Zeitpunkt nichts wußte. Dönitz war sich seiner Sache sicher, als er damit am Montag, dem 31. Mai, bei Hitler vorstellig wurde, und sein Vortrag zählt seestrategisch und marinetechnisch zu den eindrucksvollsten Dokumenten des „Dritten Reiches". Er bezog bewußt die verheerende Lage des U-Boot-Krieges, der im Mai 1943 faktisch verloren war 56 , in sein Konzept mit ein. Dönitz
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Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, Τ. A, 45, Eintragung vom 11.5. 1943. Ebd., Eintragung vom 27. 5. 1943. Zur Katastrophe des U-Boot-Krieges 1943 siehe Brennecke, Wende; Rahn, Seekrieg, S. 347-369.
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schätzte den U-Boot-Krieg als derzeit an der „technischen Waffenfrage" gescheitert ein, aber unter allen Umständen müsse der Kampf weitergeführt werden, auch wenn große Erfolge aufgrund der steigenden gegnerischen Abwehr in naher Zukunft wohl nicht mehr zu erwarten waren. Allein die Tatsache, daß durch den Einsatz einer möglichst großen Anzahl von Booten feindliche Kräfte gebunden würden, rechtfertigte, so Dönitz, den Unterwasserkrieg. Hitler unterbrach ihn: „Es kommt garnicht in Frage, daß im U-Bootkrieg etwa nachzulassen sei. Der Atlantik ist mein westliches Vorfeld, und wenn ich dort auch in der Defensive kämpfen muß, so ist es besser, als wenn ich mich erst an den Küsten Europas verteidige. Das, was der U-Bootkrieg, auch wenn er nicht mehr zu großen Erfolgen kommt, binden würde, ist so außerordentlich groß, daß ich mir das Freiwerden dieser Mittel des Gegners nicht erlauben kann" 57 . Günstiger konnte es Dönitz nicht treffen. Man stelle sich vor: Einst wollte der „Führer" mit Schlachtschiffen zuschlagen und machte sie zum Kern des Z-Plans. Was davon Ende Mai 1943 blieb, war der defensive Einsatz von U-Booten. Aber Dönitz kann nicht ernsthaft an eine rein defensive Verwendung seiner Boote gedacht haben. Sein Ziel waren 40 neue Boote im Monat, um wieder an den Feind zu gehen. „Ich halte es für richtig, auf die Zahl von 40 Booten zu gehen ... und ich bitte, anliegenden Führerbefehl zu vollziehen" 58 . Hitler stimmte zu und unterschrieb das „Flottenbauprogramm 43". Flottenbauprogramm 43 (Fertigung: pro Jahr, Planungszeitraum: 5 Jahre) U-Boote Zerstörer Torpedoboote Schnellboote Minensuchboote Minenräumboote Sperrbrecher Mehrzweckboote Marinefährprähme Marineartillerieleichter Torpedofangboote
480 8 12 108 100 96 35 400 900 96 15
Nach fünf Jahren würde die Flotte - Verluste und natürliche Abgänge nicht mitgezählt - aus 2400 U-Booten, 40 Zerstörern, 60 Torpedobooten, 540 Schnellbooten, 500 Minensuch- und 480 Minenräumbooten, 175 Sperrbrechern, 2000 Mehrzweckbooten, 4500 Marinefährprähmen, 480 Marineartillerieleichtern und 75 Torpedofangbooten bestehen; ein Gesamtbestand von 11250 Fahrzeugen im Jahre 1948!
57 58
Wagner (Hrsg.), Lagevorträge, S. 510. Ebd.
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Guntram Schulze-Wegener
D a s Flottenbauprogramm war streng auf die Bedürfnisse des Seekrieges ausgerichtet, denn hier fanden keine Riesenspielzeuge und maritime Experimentierobjekte mehr Platz, sondern allein die wesentlichen Mittel. D o c h bei aller militärischen Vernunft, künftig nur noch zu produzieren, was den schnellen Erfolg zeitigte, war das Flottenbauprogramm von Anbeginn z u m Scheitern verurteilt, denn es kam zu spät, und die noch so geschickte wie beherzte Politik des Großadmirals war letztlich doch nur die Politik des armen Mannes. D e r Zusammenbruch des U - B o o t - K r i e g e s 1943 war kein Zwischenspiel, sondern die A u f k ü n d i g u n g des gesamten Seekrieges. Dessen ungeachtet ließ der fanatische Oberbefehlshaber der Kriegsmarine seine Boote weiterkämpfen und legte seine ganze H o f f n u n g in die Entwicklung neuer, moderner U - B o o t e . Die neuen B o o t e v o m Typ X X I und X X I I I sollten den U - B o o t - K r i e g wiederbeleben, ihm neue Impulse geben und den Feind entscheidend treffen. Am 8. Juli meldete D ö n i t z seinem „ F ü h r e r " den erfolgreichen Entwurf des Elektro-Bootes 5 9 , und die Frage war, wann der Typ X X I an die Front käme. Die Aufteilung in einzelne, dezentral gefertigte Sektionen sollte den Herstellungsprozeß beschleunigen und Arbeitskräfte einsparen. D i e Werften reagierten auf die Sektionsbauweise zunächst mit Zurückhaltung, denn durch schwere Luftangriffe auf nur eine Werft konnte eine ganze G r u p p e von Werften behindert oder völlig lahmgelegt werden. Dönitz, dem es allein darum ging, den U - B o o t - K r i e g mit voller Wucht wieder aufzunehmen, ließ sich von dem Entschluß zur Sektionsbauweise nicht mehr abbringen und befahl im August die Umstellung von den Typen VII und I X auf die neuen Typen X X I und XXIII60. In den Rüstungsbesprechungen von 1944 traten ständig Transportschwierigkeiten, massive Ausfälle durch Fliegerschäden, mangelhafte Verarbeitung und verspätete Materialgestellung als die häufigsten Verzögerungsursachen auf 6 1 . D i e Aufzeichnungen lesen sich durchweg wie Konkursberichte: „Einbruch in A u s b r i n g u n g " , „Absinken bei B l o h m & Voss infolge Schäden", „ D u r c h Luftangriff Ausfall", „ L a g e schlecht". D ö n i t z drängte z u m Schutz seiner B o o t e auf Verbunkerung 6 2 wesentlicher Teile der U - B o o t - R ü s t u n g , aber wie sollte im Hagel alliierter B o m b e n je Bunkerbau großen Stils betrieben werden? Die ersten B o o t e v o m Typ X X I I I kamen erst Ende J a n u a r / A n f a n g Februar 1945 z u m Einsatz, mit „ U 2511" lief am 30. April 1945 der erste Typ X X I zu einer Unternehmung aus, weil im Stadium der E r p r o b u n g und Ausbildung zahlreiche Mängel und Zeitverluste aufgetreten waren.
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61 62
Ebd., S. 517ff. Ausführliche Studien zu den neuen Booten bietet Rössler, U-Boottyp XXI; ders., U-Boottyp XXIII.
BA-MA, RM 7/1234.
Dazu Neitzel, Ubootbunker.
Seestrategie und Marinerüstung
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Abgelieferte U - B o o t e X X I und X X I I I 6 3 1944 Juni Juli August September Oktober November Dezember 1945 Summe
XXI 1 6 6 12 18 9 28 43 123
XXIII
1 3 4 6 4 7 6 31 62
Neben die Forcierung des U-Boot-Baus trat die Produktion von Kleinkampfmitteln, die genau genommen eine Frucht der unausweichlichen Niederlage waren. Die Projektentwürfe reichen bis in die Jahre 1941 und 1942 zurück, wurden aber erst 1943/44 aktualisiert. Die Ablieferungszahl der verschiedenen Kleinfahrzeuge - in erster Linie Einmanntorpedos, Sprengboote, Einmannund später Zweimann-Boote - war erstaunlich hoch. Zum einen lag dies am Rüstungsboom von 1944, der die letzten Ressourcen an Mensch und Material verschlang 64 , und zum andern sicherlich auch an der psychologischen Schubwirkung, die der Einsatz kleiner, effektiver Kampfmittel versprach. Mehr als Nadelstiche aber konnten die „ N e g e r " , „Biber", „Hechte", „Seehunde", „Molche" oder „Linsen" nicht beibringen 65 . Hier, im Bau der Kleinkampfmittel, fand der kontinuierliche Niedergang der Marinerüstung, die durch das „Flottenbauprogramm 43" auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte, seinen Tiefpunkt. Die materielle Basis war trotz aller Anstrengungen - auch vom „Führer", der immer wieder seine Verbundenheit mit der Marine bekräftigte - viel zu gering. Bedenkt man, daß beispielsweise Minensuch- und Minenräumboote hastig zu Offensivfahrzeugen umgerüstet wurden oder daß der Zerstörerbau eingestellt werden mußte, weil die Motoren nicht mehr lieferbar waren, dann zeigt sich das ganze Ausmaß der rüstungswirtschaftlichen Misere. Ende 1944 fiel die Produktionskurve in allen Bereichen rapide ab. Der „Kriegsschiffbauplan für das Jahr 1945" vom Oktober 1944 legte neue Dringlichkeiten und Prioritäten fest, aber es lag auf der Hand, daß im zusammenbrechenden Reich alle Planungen nur noch hypothetischen Wert hatten. Dönitz, noch immer im Glauben, den U-Boot-Krieg wieder aufnehmen zu können, wehrte sich gegen jede Form von Kürzungen 6 6 , und erst das herannahende Ende führte den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und Minister Speer
63 64 65 46
Q u e l l e : Rahn, E n t s t e h u n g , S. 16. Vgl. Schulze-Wegener, R ü s t u n g . Vgl. ders., K r i e g s m a r i n e - R ü s t u n g , S. 186-192. „ O b . d . M . weist darauf hin, d a ß die U b o o t e u n d K l e i n k a m p f m i t t e l mit den Ü b e r w a s s e r schiffen ein unteilbares P r o g r a m m bilden u n d d e s w e g e n nicht vernachlässigt w e r d e n d ü r fen". R a h n / S c h r e i b e r ( H r s g . ) , K r i e g s t a g e b u c h , Τ . A , E i n t r a g u n g v o m 2. 12. 1944.
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zu der Erkenntnis, ein „Schiffbau-Notprogramm" zu erlassen, in dem nur noch das nötigste Kriegswerkzeug Berücksichtigung fand 67 . Wenige Tage nach seinem Inkrafttreten wußten Führung und Rüstungsgremien, „daß Notprogramm im vorgesehenen Rahmen voraussichtlich nicht erfüllbar" 68 . Das „Schiffbau-Notprogramm" vom 20. Februar 1945 (Auswahl) U-Boot-Typ XXI TU-Boot-Typ XXIII Torpedoboote Minensuchboote 40 und 43 Minenräumboote Schnellboote Mehrzweckboote Kleinkampfmittel „Seehund'« « Kleinkampfmittel „Linse" Marinefährprähme Kriegsfischkutter
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Wie auch? Das Reich lag in Trümmern, intakte Industrieanlagen und Werften gab es praktisch nicht mehr. Und trotzdem hatte die Kriegsmarine die Anweisung, den Kampf auf dem Wasser solange wie möglich fortzusetzen: Nachschub für die Heeresgruppen Kurland und Nord, Flüchtlingstransporte über die Ostsee, Uberführung der 199. Infanteriedivision von Norwegen nach Dänemark, die Fortführung des U-Boot-Krieges, den offensiven Einsatz von Schnellbooten sowie Kleinkampfmitteln und Unterstützung des Heeres. Die Räumungen und Evakuierungen über die Ostsee nach Westen 69 sind die bedeutendste Seetransportleistung des Zweiten Weltkrieges; bei der Erfüllung dieser Aufgaben wuchs die Kriegsmarine buchstäblich über sich hinaus. Das Liefersoll des „Notprogramms" ist in keinem Fall mehr erreicht worden. Es zeigt gleichwohl die gewaltige Diskrepanz zwischen technischer Höchstleistung - erinnert sei an die Elektro-Boote - und den Realisierungsmöglichkeiten, oder anders gewendet: Die seit 1943 erkennbare Tendenz zur Miniaturisierung im deutschen Schiffbau fand in dem Notprogramm ihren höchsten Ausdruck. Einst konzipiert, um die Weltmeere zu beherrschen, entwickelte sich die Marine während des Zweiten Weltkrieges unter dem Zwang der Verhältnisse in einem beispiellosen Verkleinerungsprozeß zurück - sozusagen vom „Graf Zeppelin" zum „Molch".
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Quelle: „Der deutsche Kriegsschiffbau im Jahre 1945", BA-MA, RM 22/5. „Rüstungssitzung am 26. 2. 1945 in Berlin". Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, T. A, Eintragung vom 27. 2. 1945. Vgl. Hubatsch, Flüchtlingstransporte. Vgl. dagegen Beitrag Schwendemann.
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S.
Corum
Stärken und Schwächen der Luftwaffe Führungsqualitäten und Führung im Zweiten Weltkrieg
Herz und Seele jeder militärischen Organisation ist das Offizierkorps. Stabsoffiziere sind für den Aufbau, die Festlegung der Richtlinien und Erarbeitung von Führungsgrundsätzen sowie die Schaffung eines Systems zuständig, mit dem ein gut ausgebildetes und gebildetes Offizier- und Unteroffizierkorps herangezogen wird. Die Führung der Luftstreitkräfte im allgemeinen und der Luftwaffe im speziellen ist ein wichtiger Bereich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, deren Betrachtung bislang allgemein vernachlässigt wurde. Bücher und Artikel über die Geschichte der Luftfahrt konzentrieren sich vorwiegend auf die technischen Aspekte der Luftstreitkräfte. Es sind Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Büchern über die Luftfahrzeuge gedruckt worden, mit denen die Luftwaffe ausgestattet war. Bücher über die Geschichte der Luftfahrt tendieren zur Herausstellung von Luftfahrthelden oder Kampffliegerassen. Solche Bücher sind zwar spannend zu lesen, vermitteln dem Leser aber wenig über die wahren Abläufe eines Luftkrieges oder die Strategie der Luftstreitkräfte. Bislang ist noch wenig über die Führungsinstanzen und die Führung der Luftwaffe in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschrieben worden. Beinahe die ganze Aufmerksamkeit hat sich auf die bekanntesten Persönlichkeiten konzentriert. Viel Biographisches ist über den Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, geschrieben worden 1 . David Irving schrieb eine Biographie über Feldmarschall Erhard Milch 2 . Zahlreiche Bücher gibt es über die Fliegerasse der Luftwaffe. Uber den Rest der führenden Luftwaffenpersönlichkeiten liegt wenig Gedrucktes vor. Persönlichkeiten, die für den Aufbau der Luftwaffe und ihre Leistungen im Krieg ausschlaggebend waren, haben selten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden. General Walter Wever, die Feldmarschälle H u g o Sperrle und Wolfram Freiherr von Richthofen, der Chef des Generalstabes der Luftwaffe Kurt Jeschonnek, der Fachmann für Führungsgrundsätze Helmuth Wilberg und andere hatten maßgeblichen Anteil am Aufbau der Luftwaffe und an ihren Leistungen im Einsatz, aber über sie wurde noch nicht viel geschrieben. Es gibt nur ein paar fundierte, recherchierte Abhandlungen über das Offizierkorps und die Führungspersönlichkeiten der Luftwaffe. Die wichtigste ist Horst Boogs „Die deutsche Luftwaffenführung 1935-1945" 3 , und es liegt eine Reihe von Monographien vor, die von deutschen Offizieren und Historikern nach dem Zweiten Weltkrieg für die US-Streitkräfte verfaßt wurden. Allen voran zu nennen sind Professor Richard Suchenwirths „ C o m m a n d and Leader1 2 3
Siehe Irving, Göring. Ders., Rise. Boog, Luftwaffenführung.
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James S. Corum
ship in the German Air Force" 4 und General Andreas Nielsens Bericht über den Führungsstab der Luftwaffe 5 . Karl-Heinz Völker hat ebenfalls einige sehr nützliche Bücher über die Führungsgrundsätze und das Führungssystem der Luftwaffe in der Zeit zwischen den Kriegen und während des Zweiten Weltkrieges verfaßt 6 . Bis auf diese wenigen Ausnahmen ist für den Militärhistoriker das Thema der Führungspersönlichkeiten und Führung der Luftwaffe noch weitgehend unbearbeitet. Die folgenden Ausführungen über Führungspersönlichkeiten und Führung der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg sollen mit dazu beitragen, eine Grundlage für die Erörterung der wesentlichen Stärken und Schwächen der Führung und Führungsgrundsätze der Luftwaffe zu schaffen. Zwar werden die Schwächen der Luftwaffe häufig angesprochen - der Fehlschlag der Luftschlacht um England, die katastrophale Luftbrücke nach Stalingrad und das Versagen, die alliierte Bomberoffensive gegen Deutschland zu verhindern aber auf die Stärken der Luftwaffe (und davon gab es einige) wird kaum eingegangen. Die Luftwaffe war zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die schlagkräftigste Luftwaffe der Welt. Sie vollbrachte Pionierleistungen auf dem Gebiet des Lufttransports, großangelegter Luftlandeoperationen und der modernen Luftnahunterstützung. In den ersten Jahren des Weltkrieges stellte sie in Feldzügen wie gegen Polen, Frankreich 1940 und Norwegen unter Beweis, wie entscheidend Luftstreitkräfte für eine Operation sein können. Das war vor allem auf die guten Führungspersönlichkeiten, die Ausbildung und Führungsgrundsätze und nicht einfach auf die überlegene Zahl an Luftfahrzeugen oder die bessere Technologie zurückzuführen. Dieses hervorragende Kriegsinstrument brach jedoch bis 1943 ganz einfach zusammen. Trotz Entwicklungen wie dem Strahljäger war es nicht mehr fähig, wirkungsvolle offensive Operationen durchzuführen oder auch nur das nationale Territorium zu verteidigen. Führungspersönlichkeiten und Führung der Luftwaffe waren auch der Hauptgrund für ihr späteres Versagen.
Außerordentlich tragfähige Fundamente Die Luftwaffe des „Dritten Reiches" konnte wegen ihres in den kaiserlichen Streitkräften geschaffenen bemerkenswerten professionellen Hintergrundes und der Weiterführung dieser tief verankerten Tradition bei der Aufstellung eines fähigen Luftwaffenoffizierkorps in der Reichswehrära in nur wenigen Jahren zur Weltklasse aufsteigen. Die Luftstreitkräfte in der Zeit vor und im Ersten Weltkrieg waren weitgehend ein Produkt der Generalstabstradition. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Generalstab umfangreiche Luftstreitkräfte befürwortet, und viele junge Generalstabsoffiziere entschieden sich für eine Laufbahn in der neuen Teilstreitkraft. Tatsächlich war diese in ihren Anfängen so
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Suchenwirth, Command. Nielson, A i r Force. Siehe Völker, Luftwaffe; ders., Dokumente.
S t ä r k e n u n d S c h w ä c h e n der L u f t w a f f e
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populär, daß sich Hunderte von Offizieren bewarben 7 . Während des Ersten Weltkrieges konnten sich die Luftstreitkräfte mit General Erich Hoepner als Befehlshaber und Oberst Hermann von der Lieth-Thomsen als Kommandeur der Feldluftstreitkräfte mit hervorragenden Führungspersönlichkeiten hervortun. Oberst Wilhelm Siegert, einer der ersten Generalstabsoffiziere, der den neuen Luftstreitkräften zugewiesen wurde, leistete Hervorragendes als Chef der Flugzeugproduktion und Logistik 8 . Während des Krieges stellten die Luftstreitkräfte überragende Kampfkraft und Kompetenz unter Beweis, und sie übertrafen im allgemeinen die der Alliierten bei weitem, was Innovation, Taktik und organisatorische Anpassung betraf. Die Luftstreitkräfte flogen die ersten strategischen Bombereinsätze im Jahr 1915 und 1917/18. Die Luftstreitkräfte waren die ersten, die große, aus mehreren Staffeln bestehende Jagdverbände im Einsatz bildeten und dislozierten. Die Aufstellung des 1. Jagdgeschwaders unter Hauptmann Manfred von Richthofen im Jahr 1917 muß als bahnbrechend gelten 9 . Die Teilstreitkraft Luftwaffe leistete auch hinsichtlich der Entwicklung spezieller Erdkampfflugzeuge Pionierarbeit und setzte erstmals 1917 robuste Ganzmetallflugzeuge ein 10 , die im selben Jahr an der Front in Flandern als erste massiert zum Einsatz kamen, was sich nachhaltig auf dem Gefechtsfeld auswirkte 11 . Die Flak-Artillerie war ebenfalls fester Bestandteil der Luftstreitkräfte, und die Deutschen schufen ein koordiniertes System der Luftverteidigung, das Flugzeuge und Geschütze zu Verteidigungszwecken an der Front und in der Heimat koppelte. Sie besaßen das bei weitem beste Programm für die Luftverteidigung im Ersten Weltkrieg. 1918 war die Flak in der Lage, den alliierten Luftstreitkräften erhebliche Verluste beizubringen 1 2 . Ungeachtet der zahlenmäßigen Überlegenheit der Alliierten von 2:1 bis 3:1 während des ganzen Krieges, konnten die Deutschen aufgrund ihrer überlegenen Taktik, Ausbildung, Führungspersönlichkeiten und Organisation die Luftüberlegenheit gewinnen und während der meisten Zeit aufrechterhalten. Während des Krieges gelang es den Luftstreitkräften auch, den Gegner im Verhältnis von 2:1 bis 3:1 abzuschießen 13 .
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Siehe Supf, Buch; Kilduff, A i r Force, S. 6 - 1 0 , hinsichtlich des starken Interesses für die Luftfahrt in den Streitkräften v o r dem Ersten Weltkrieg. Siehe M o r r o w , Great War, bezüglich eines ausgezeichneten historischen Abrisses der Luftfahrt im Ersten Weltkrieg. Reichsarchiv Abt. Luftstreitkräfte, Bericht über den Feldzug 1917, November 1923, BA-MA, W-10/50097, S. 332. Philpott, Encyclopedia, S. 5 3 - 5 4 . Bülow, Geschichte, S. 9 1 - 1 0 0 . Die Flak der Luftwaffe schoß 1 9 1 7 = 4 6 7 und 1918 = 748 alliierte Luftfahrzeuge ab. Siehe Neumann, Luftstreitkräfte, S. 590. Die Luftstreitkräfte hatten durch alle möglichen Ursachen wie Gefechtseinwirkung und operative Unfälle 1 6 0 5 4 Ausfälle, davon 5953 Gefallene und 2751 Vermißte oder Gefangene; die britischen Luftstreitkräfte verloren 16 623 Mann. Die französischen Luftstreitkräfte verloren 7255 Mann im Kampf, aber die Verluste an Nichtkombattanten sind nicht bekannt. Zuverlässige Schätzungen deuten auf doppelt so viele Verluste wie im Einsatz hin. Dazu kommen amerikanische, russische, belgische und italienische Verluste. Eine Quote von 3:1 f ü r die Deutschen ist wahrscheinlich. Siehe M o r r o w , Great War, S. 309.
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Bis zum Kriegsende hatten sich die Luftstreitkräfte erhebliches Ansehen bei den deutschen Streitkräften erworben. Tatsächlich konnten Ende 1918 einzig die Luftstreitkräfte noch Wirksames leisten. Im Oktober 1918 war die Marine durch eine Meuterei lahmgelegt und das Heer „ausgeblutet", durch schwere Verluste und ohne Aussicht auf Ersatz geschwächt. Nur die Luftstreitkräfte kämpften noch als festgefügte und wirksame Truppe, obwohl die Alliierten schließlich rein aus ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit heraus die Luftüberlegenheit gewonnen hatten. Obwohl Deutschland durch den Versailler Vertrag das Recht auf Luftstreitkräfte verwehrt war, stellte der Chef der Heeresleitung (1920-1926) Hans von Seeckt unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entsprechende Kader auf. Von Seeckt, ein Befürworter der Luftstreitkräfte und ein diesbezüglich herausragender Vordenker, brachte 180 Luftwaffenoffiziere, von denen viele Generalstabsund Truppenerfahrung hatten, in das kleine Reichswehroffizierkorps ein und schuf einen im Truppenamt und Waffenamt versteckten Luftwaffenstab. Unter dem Chef des Luftwaffenstabes der Reichswehr, Major Helmuth Wilberg, einem der ersten deutschen Piloten und Generalstabsoffiziere, der 1917 über 700 Luftfahrzeuge in Flandern befehligt hatte, ließ die getarnte Luftwaffe 1919-1920 eine umfangreiche Studie über die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg durchführen. Über 130 Offiziere befaßten sich einzeln oder in Ausschüssen mit Taktik, Gliederung, Technologie und Logistik, um zeitgemäße Führungsgrundsätze für Luftstreitkräfte zu erarbeiten. Dies war die gründlichste Arbeit, die von den am Krieg beteiligten Großmächten durchgeführt wurde 14 . Sie führte zu einer Neufassung der deutschen Führungsgrundsätze für die Luftwaffe und wurde in den neuen Einsatzweisungen „Führung und Gefecht der Verbundenen Waffen" (1921-1923) veröffentlicht. Ab 1924 versammelte Wilberg den geheimen Luftwaffenstab und Flugzeugführeroffiziere zu alljährlichen Planspielen über künftige Lufteinsätze, für die ein wiederbewaffnetes Deutschland beachtliche moderne Luftstreitkräfte aufzustellen beabsichtigte. In simulierten Übungen wurden neue Luftkriegskonzeptionen erprobt. Schon 1924 entwarf der geheime Luftwaffenstab der Reichswehr Pläne für einen strategischen Bombereinsatz gegen lebenswichtige französische Industrieanlagen 15 . In den 20er Jahren wurde die wieder aufgebaute und stark subventionierte deutsche zivile Luftfahrtindustrie schnell weltweit führend in der Flugzeugkonstruktion und im Lufttransport. Die zivile Luftfahrt - größtenteils unter der Leitung ehemaliger Offiziere der Luftstreitkräfte - wurde mehr als in jedem anderen Land, außer der Sowjetunion, militarisiert. Die deutsche Fluggesellschaft, die Lufthansa, geriet zusammen mit den deutschen Flugschulen zur geheimen Reserveluftwaffe. Nach dem Rapallo-Vertrag (1922) kam die geheime Rüstungszusammenarbeit mit der Sowjetunion zustande, die der Ausbildung und Entwicklung der geheimen Luftstreitkräfte ebenfalls förderlich war. Von
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Schreiben General Hans v o n Seeckt, 1 . 1 2 . 1 9 1 9 , an das Truppenamt et al., B A - M A , RH 2/2275; Schreiben Flugmeisterei, 1 3 . 1 1 . 1 9 1 9 , ebd. R H 2/2275; Schreiben Waffenamt, 2 4 . 1 2 . 1 9 1 9 , ebd. R H 2/2275. „Luftschutzübungsreise 1924", ebd. R H 2/2244, Microfiche 1.
Stärken und Schwächen der Luftwaffe
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1925 bis 1933 konnte die Reichswehr auf dem geheimen deutschen Luftstützpunkt Lipeck neue Flugzeugführer ausbilden, moderne Militärflugzeuge erproben und Luftwaffenübungen weit entfernt von alliierten Beobachtern durchführen 16 . Die Wiederbewaffnung - und in diesem Zusammenhang die Entscheidung zum Aufbau einer richtigen Luftwaffe - kam mit der Machtergreifung Hitlers. Im Jahr 1933 war die Reichswehr bereit, für kleinere Luftstreitkräfte ungefähr 500 Flugzeugführer und Beobachter bereitzustellen, von denen viele in Rußland ausgebildet worden waren, und die Luftstreitkräfte mit modernen Luftfahrzeugen wie dem Bomber Dornier 11 auszustatten, der schon in Rußland gebaut und erprobt worden war und in Produktion gehen konnte 17 . Die kleinen geheimen Luftstreitkräfte verfügten über einen Kader ausgezeichnet ausgebildeter und fähiger Luftwaffenoffiziere wie Helmuth Wilberg, Helmuth Felmy, Hugo Sperrle, Wolfram von Richthofen, Paul Deichmann, Hans Jeschonnek und andere, die es mit den Luftwaffenexperten aller anderen wichtigen Luftstreitkräfte aufnehmen konnten. Dieses Luftwaffenoffizierkorps hatte bereits Führungsgrundsätze für die Luftstreitkräfte erarbeitet, die vom strategischen Bombeneinsatz bis zur Jagdstaffeltaktik alles abdeckten und den Vergleich mit der Doktrin aller führenden Luftstreitkräfte nicht zu scheuen brauchten. Das einzige Problem bestand darin, daß das Fliegeroffizierkorps zahlenmäßig zu klein für die umfangreichen Luftstreitkräfte war, deren schnelle Aufstellung Hitler forderte. General Werner von Blomberg, Hitlers Reichswehr- bzw. -kriegsminister, erkannte die Bedeutung starker Luftstreitkräfte und befahl die Versetzung von Dutzenden der besten Generalstabsoffiziere des Heeres in den neuen Führungsstab der Luftwaffe. Offiziere von der Qualität von Oberst Albert Kesselring und Hans-Jürgen Stumpff wurden von der Luftwaffe übernommen. Der hochangesehene General Walter Wever, der schon als künftiger Chef des Generalstabes des Heeres gehandelt worden war, wurde zur Luftwaffe versetzt, um zum ersten Chef des Generalstabes der Luftwaffe ernannt zu werden. General Stumpff, der von 1933-1937 an der Spitze des Luftwaffenpersonalamtes stand, rekrutierte das Mittelfeld des Flieger-Offizier-Korps unter den Offizieren der ehemaligen Luftstreitkräfte, von denen viele nach dem Weltkrieg in irgend einem Zweig der Zivilluftfahrt untergekommen waren. Von den 600 Offizieren, die zwischen 1935 und 1945 in der Luftwaffe zum General ernannt wurden, bestand ein Viertel aus ehemaligen Offizieren, die in der Zwischenkriegszeit bei der Lufthansa, in den Fliegerschulen und bei Flugzeugherstellern wie Heinkel und Junkers tätig gewesen waren. Viele von der Luftwaffe rekrutierte ehemalige Offiziere hatten in der nationalen Luftfahrtverwaltung oder vergleichbaren Dienststellen der einzelnen Länder gearbeitet. Die jüngeren Offiziere kamen aus den Offiziersschulen des Heeres und der Marine, bis die Luftwaffe ihre eigenen Offizierschulen aufbaute. Bis 1939 hatte Stumpff aus bescheidenen Anfängen heraus für eine große Luftwaffe mit 370 000 Unteroffizieren und Mannschaften ein 15 000 Mann starkes 16 17
Das entscheidende Buch zu diesem Thema wurde verfaßt v o n Zeidler, Reichswehr. Corura, Luftwaffe, S. 1 2 2 - 1 2 3 .
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Offizierkorps aufgebaut 18 . Insgesamt war dies ein äußerst kompetentes Offizierkorps. Die Luftwaffe ist jedoch oft wegen ihrer schwachen Führung kritisiert worden, weil zu viele Stabsoffiziere in der Zeit zwischen 1933 und 1935 vom Heer und zu viele Offiziere aus der zivilen Luftfahrt gekommen waren. Ein so anerkannter Historiker wie Telford Taylor erklärte, daß „die Luftwaffe von Fliegern geprägt gewesen sei, die Amateursoldaten waren, und von Soldaten, die Amateurflieger waren" 19 . Stephen McFarland und Wesley Newton bezeichneten die Führungsriege der Luftwaffe als „einen zusammengewürfelten Haufen" und fügten hinzu, daß es sich bei diesem Personenkreis beinahe durchweg um „Exzentriker" gehandelt habe 20 . Richard Overy behauptet, es habe eine Kluft zwischen den „Preußen" in der Luftwaffe, d. h. den regulären Offizieren, die in der Luftwaffe geblieben waren, und den „Wiedereinsteigern", d.h. den 1933 bis 1935 wieder zu den Streitkräften gestoßenen Offizieren bestanden. Diese Kluft in der Luftwaffenführung habe der Institution ernsthaft geschadet 21 . Aus all diesen Kommentaren spricht eine angloamerikanische Luftwaffenkultur, nach der sich ein „echter" Luftwaffenoffizier schon früh einer Flugzeugführerausbildung unterziehen muß, und nach der kein dem Heer entstammender Offizier je in der Lage sein wird, das Instrument Luftwaffe wirklich zu verstehen. McFarlands und Newtons Äußerungen könnten vermuten lassen, Persönlichkeiten wie Hermann Göring und Ernst Udet seien mehr oder weniger typische Vertreter des Offizierkorps der Luftwaffe gewesen. Tatsächlich hat die obige Beschreibung des Flieger-Offizier-Korps nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun. Wenn auch viele Offiziere an der Spitze der Luftwaffe wie Wever, Kesselring und Stumpff vom Heer kamen, so machten sie nach ihrer Versetzung in die Luftwaffe schnell eine Flugzeugführerausbildung, begannen sich intensiv mit den einsatzmäßigen Möglichkeiten der Luftkomponente auseinanderzusetzen und erwiesen sich im allgemeinen als sehr kompetente Luftwaffenführer. Hinsichtlich der „Exzentriker" und „Außenseiter" wäre anzumerken, daß dies für Männer wie Kurt Student, Helmuth Wilberg, Helmuth Felmy, Hugo Sperrle, Wilhelm Wimmer, Alexander Lohr, Paul Deichmann, Kurt Pflugbeil und andere in keiner Weise zutrifft, die nur als äußerst befähigte Offiziere bezeichnet werden können. Was die angebliche Kluft zwischen den „Preußen" und den „Wiedereinsteigern" im Flieger-Offizier-Korps betrifft, so fehlt dafür ganz einfach jedes Anzeichen. Gewiß gab es sehr unterschiedlich geartete Persönlichkeiten und Rivalitäten zwischen den einzelnen Generälen, aber das gibt es in allen Streitkräften. Tatsächlich war es für die Luftwaffe ein großer Vorteil, auf ehemalige Offiziere zurückgreifen zu können, die neueste Erfahrungen aus der Zivilluftfahrt mitbrachten. Die Offiziere, die aus Luftfahrtunternehmen kamen, wie Lufthansadirektor Erhard Milch oder der spätere Generalleutnant Werner Junck von Heinkel oder von den Fliegerschulen wie die Generäle Theodor Osterkamp 18 19 20 21
Murray, Strategy, S. 6.
Taylor, March, S. 25-26. McFarland/Newton, Command, S. 42. Overy, Air War, S. 161.
Stärken und Schwächen der Luftwaffe
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und Friedrich Christiansen, brachten einen praktischen und aktuellen Erfahrungsschatz ein und waren wahrscheinlich so gut über die laufende Luftfahrttechnologie unterrichtet wie jeder reguläre Luftwaffenoffizier irgendeiner anderen Nation 2 2 . Die Aufstellung eines zahlreichen und gut ausgebildeten Luftwaffenoffizierkorps in den Jahren 1933 bis 1939 aus einem sehr kleinen Kader heraus war eine der eindrucksvollsten Leistungen militärischer Organisation und Ausbildung dieses Jahrhunderts. Insgesamt fuhr die Luftwaffe mit ihrem Offizierkorps im Zweiten Weltkrieg gut.
Offizierausbildung Die Luftwaffe hatte ein wohldurchdachtes Programm für die Offizierausbildung, das im allgemeinen dem Vergleich mit anderen Großmächten standhielt oder überlegen war. Die Luftwaffe hatte keine Schwierigkeiten, hochqualifizierte junge Rekruten für die Truppe oder das Offizierkorps zu gewinnen. Die Begeisterung für das Fliegen - und eigentlich alles, was mit der Luftfahrt zu tun hatte - gab Deutschland in den 30er Jahren die Möglichkeit, ausgezeichnetes Personal für die Luftstreitkräfte zu rekrutieren, so daß hohe Anforderungen an Offiziere und Unteroffiziere gestellt und aufrechterhalten werden konnten 2 3 . Der Grundlehrgang für Offiziere der Luftwaffe dauerte ungefähr zwei Jahre. Die ersten vier Monate bestanden aus einer Grundausbildung für alle Offizieranwärter, während der Infanterietaktik, Formalausbildung, militärische Disziplin, Führung kleiner Einheiten und die grundlegenden gesetzlichen und administrativen Aspekte der Luftwaffe vermittelt wurden. Nach Abschluß der Grundausbildung wurden alle Offizieranwärter zu einer 9- bis 10-monatigen Ausbildung in einem der drei Hauptbereiche der Luftwaffe geschickt: zur fliegenden Truppe, den Fernmeldern und zur Flak. In der Flak und bei den Fernmeldern standen praktische Führungsaufgaben und fachliche Fähigkeiten im Vordergrund. Die Offizieranwärter der Flak mußten als einfache Soldaten in einer Flak-Geschützbedienung reihum alle Funktionen wahrnehmen. N a c h ein paar Monaten erfolgte die Beförderung zum Unteroffizier und dann die Verwendung als Geschütz- oder Truppführer 2 4 . Offizieranwärter in der fliegenden Truppe wurden beinahe ein Jahr lang einer gründlichen Flugzeugführerausbildung unterzogen, die sie mit ihrem Patent und insgesamt 180-200 Flugstunden abschlossen 2 5 . Die Offizieranwärter aus allen Bereichen der Luftwaffe besuchten dann zusammen neun Monate lang die Luftkriegsschule, in der das Schwergewicht auf Taktik und Operationen und Teilnahme an Planspielen und Übungen lag. Alle mußten an einem Luftbeobachter-Lehrgang teilnehmen. Außerdem wurde das Mitflie-
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Corum, Luftwaffe, S. 157-161. Völker, Luftwaffe, S. 119-121. Vorläufige Richtlinien für die Ausbildung der Offizieranwärter der Luftwaffe, T. III (1936), in: N A R A , File T-321, Roll 68. Luftwaffe- Dienstvorschrift 21, Flugzeugführerausbildung (1937).
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gen in einem Luftfahrzeug erwartet, wodurch ein Grundverständnis für die Luftfahrzeugtechnologie entwickelt werden sollte. Mit dem Durchlaufen dieser Ausbildungsstationen sollten sehr qualifizierte Unterführer herangezogen werden 26 . In den Jahren 1937-1939 konnten die Lufwaffenoffizierschulen ungefähr 2500 Leutnante pro Jahr ausbilden 27 . Nach Aushändigung ihres Offizierpatentes wurde von den jungen Offizieren erwartet, daß sie die meiste Zeit auf Speziallehrgängen und in der weiteren Flugausbildung verbrachten. Außerdem hatte der Truppenführer jedes Luftwaffenverbandes ein Vortrags- und Seminarprogramm über Taktik, luftfahrtwissenschaftliche Themen und Militärgeschichte zur Weiterbildung der Offiziere und Unteroffiziere durchzuführen 28 . Zahlreiche im Ausland erschienene Zeitschriftenartikel über die Luftfahrt und Militärgeschichte wurden übersetzt und für die Ausbildung des Führungsnachwuchses der Luftwaffe zur Verfügung gestellt. Das Studium der Luftstreitkräfte und die Luftkriegstaktik anderer Länder wurde gefördert 29 . Der nächste Schritt in der Offizierausbildung kam im achten Dienstjahr. Zu diesem Zeitpunkt mußten alle Luftwaffenoffiziere einen viermonatigen Lehrgang, in dessen Mittelpunkt Gefechtseinsätze standen, an der Luftkriegsschule in Berlin besuchen. Anschließend absolvierten die wenigen ausgewählten Offiziere den vollen Luftwaffengeneralstabslehrgang. Der Generalstabslehrgang und die Luftkriegsschule wurden von General Wever im Jahr 1935 ins Leben gerufen. Nach den ursprünglichen Vorstellungen sollte der Generalstabslehrgang drei Jahre dauern. Während dieser Zeit war entweder der Besuch der Lufttechnischen Akademie vorgesehen, in der ingenieurwissenschaftliche Kenntnisse im Flugzeugbau auf Universitätsniveau vermittelt wurden, oder der Luftkriegsakademie, wo ein Generalstabslehrgang der traditionelleren Art mit dem Schwergewicht auf Taktik und Operationen stattfand. Wever plante einen Generalstabslehrgang, der nicht nur auf die operative Seite des Krieges abhob, sondern auch auf die Gesamtkriegführung. In diesem Zusammenhang war das gründliche Studium von Themen wie „kriegswirtschaftliche Planung" vorgesehen. Das von Wever ins Auge gefaßte volle Programm wurde aufgrund des Mangels an Generalstabsoffizieren nie verwirklicht. Die Lufttechnische Akademie wurde 1938 geschlossen und ihr Lehrprogramm in die Luftkriegsakademie integriert. Durch den gekürzten Lehrplan fiel der größte Teil der Ausbildung im Bereich Gesamtstrategie, Wirtschaft und Soziologie weg, und das Schwergewicht lag vor allem auf Luftoperationen. Den zweiten Platz nahm die Luftfahrttechnologie ein. Für Taktik und Gefechtsführung des Heeres war ebenfalls viel Raum im Ausbildungsprogramm reserviert,
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Vorläufige Richtlinie f ü r die Ausbildung der Offizieranwärter der Luftwaffe, Τ. IV (1936), in: N A R A , File T - 3 2 1 , Roll 68. Völker, Luftwaffe, S. 1 2 2 - 1 2 3 . L u f t w a f f e - Generalstab, Ausbildungsverfügung für das Winterhalbjahr 1936-1937 (17.9.1936). Siehe Reichsluftfahrtministerium, Sammlung ausländischer Aufsätze über Luftkriegsfragen ( 1 . 3 . 1 9 3 7 ) , die mehrere Hundert ausländische Artikel über alle Aspekte der Luftfahrt umfaßt.
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wogegen die Marine nur gestreift wurde. Der Rest des Lehrplanes umfaßte Fächer wie Logistik, Luftbildwesen und ausländische Streitkräfte 30 . Im allgemeinen läßt sich das Ausbildungssystem für Luftwaffenoffiziere mit dem anderer Luftstreitkräfte durchaus vergleichen. Wenn das Lehrgangsprogramm der Luftkriegsakademie auch nicht so umfassend war, wie General Weyer gehofft hatte, so wurde dem Studium ausländischer Luftkriegstheorien und -Streitkräfte mehr Zeit gewidmet als in vergleichbaren Schulen im Ausland. Die US Army Air Corps Tactical School konzentrierte sich beinahe unter Ausschluß aller anderen Themenbereiche auf den strategischen Bombenabwurf und ließ Überlegungen und Erfahrungen ausländischer Luftstreitkräfte beinahe vollkommen außer acht. Auf jeden Fall waren der Grundlehrgang und der Generalstabslehrgang für Offiziere der Luftwaffe fest in der Tradition der alten deutschen Streitkräfte verankert. In der Ära der Reichswehr wurden Veränderungen und Verbesserungen vorgenommen. Die Schulung im kritischen Denken geschah in Weiterführung in der Tradition des preußischen Generalstabes. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges besaß die Luftwaffe ein Offizierkorps, das wahrscheinlich über eine bessere Ausbildung und Bildung verfügte als das der voraussichtlichen Gegner.
Richtlinien der Luftwaffe für die Führung des operativen Luftkriegs Der Schattenluftwaffenstab hat in den 20er und frühen 30er Jahren systematisch und sorgfältig die Konzeptionen und taktischen Grundsätze für einen neuen Gefechtsführungsstil erarbeitet. Die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und die jüngeren Erfahrungen ausländischer Luftstreitkräfte wurden analysiert und neue taktische Grundsätze, operative Vorstellungen und gliederungsmäßige Konzeptionen in Planspielen und Übungen erprobt. Bis 1926 hatten sich umfangreiche Grundsätze auf dem Gebiet der Luftkriegführung herauskristallisiert. Im wesentlichen sollten die Luftstreitkräfte aus zwei großen Komponenten bestehen, d. h. eine war für die Unterstützung der Operationen des Heeres und der Marine und die andere für die Durchführung strategischer Lufteinsätze gegen feindliches Territorium vorgesehen 31 . Auf Weisung des ersten Chefs des Generalstabes der Luftwaffe, General Wever, wurde 1934 ein Ausschuß unter Leitung von Generalmajor Helmuth Wilberg zur Ausarbeitung einer neuen Doktrin für den Luftkrieg einer neuen Luftwaffe gebildet32. Die 1935 veröffentlichte Dienstvorschrift Nr. 16 der Luftwaffe über die Luftkriegführung gab der schnell wachsenden Luftwaffe Richtlinien für die Durchführung großer Operationen an die Hand. Die Dienstvorschrift Nr. 16 der Luftwaffe ist ein über hundert Seiten umfassendes Dokument. Es hebt auf die 30
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Luftwaffe - Generalstab, Abt. 3, Richtlinien für die Ausbildung auf der Höheren Luftwaffenschule und auf der Luftkriegsakadamie (5.7.1937), B A - M A , RL 211/164. Truppenamt, T-Luft, Richtlinien für die Führung des operativen Luftkriegs (Mai 1926). Suchenwirth, Command, S. 3—4.
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Rolle selbständiger Luftoperationen ab und geht auf die strategische Bombardierung des feindlichen Territoriums und die Art der anzugreifenden Ziele wie Rüstungsindustrieanlagen, Häfen, Transporteinrichtungen, usw. ein. Die Vorund Nachteile des Bombenabwurfs auf die einzelnen Zielgruppen werden erläutert. Die strategische Luftkriegführung steht zwar im Vordergrund, aber Operationen zur Unterstützung von Heer und Marine sind ebenfalls angesprochen. Die offensive Luftkriegführung wird erläutert, aber die defensiven Seiten sind ebenfalls in angemessener Weise abgehandelt. Die Fähigkeit des Feindes, sein eigenes Territorium gegen feindliche Angriffe zu verteidigen, fand ebenso wie die Verteidigung Deutschlands durch Zusammenwirken von Kampfflugzeugen, Flak und Zivilverteidigung unter Führung der Luftwaffe Berücksichtigung. Für ihre Zeit war die „Luftkriegführung" eine hervorragende Darlegung der Konzeptionen auf operativer und strategischer Ebene. In vielerlei Hinsicht ist es ein konservatives Dokument, durch das ein Großteil der Clausewitzschen Generalstabstradition in die Luftkriegführung Eingang fand, in dem aber auch die Änderungen berücksichtigt wurden, welche die moderne Technologie für die Kriegführung gebracht hatte, d. h. die neue Möglichkeit, das feindliche Territorium unmittelbar und schnell mit großer Wirksamkeit anzugreifen, ohne zuvor die Bodentruppen besiegt zu haben. Trotzdem betrachtete man die Zermürbung des feindlichen Durchhaltevermögens durch Vernichtung seiner Streitkräfte immer noch als oberstes Ziel der Kriegführung 33 . Die Einsatzmöglichkeiten der Luftstreitkräfte bedeuteten für die Strategie, daß die Feindkräfte durch unmittelbaren Angriff auf die Quellen der feindlichen Macht im Feindesland zumindest teilweise zerstört oder beschädigt werden konnten. Durch die „Luftkriegführung" und andere Ende der 30er Jahre erlassene operative Weisungen war Deutschland in der vorteilhaften Lage, zu Beginn des Krieges 1939 über die umfassendsten und ausgewogensten Einsatzgrundsätze für seine Luftstreitkräfte zu verfügen. Gegenüber den Westmächten, deren Luftkriegskonzeptionen aus den 30er Jahren vor allem auf unerprobten Theorien basierten, waren die Einsatzgrundsätze der Luftwaffe in einer systematischeren Weise entwickelt worden, d.h. durch ein Programm operativer Erprobungen von Vorstellungen in großangelegten Übungen. Die Konzeptionen wurden nach kritischer Analyse in der Tradition des deutschen Generalstabes den Erkenntnissen angepaßt. Zwischen 1935 und 1937 ging es um den strategischen Bombenabwurf, die Luftverteidigung und die Unterstützung des Heeres. Der Umfang der Bemühungen war eindrucksvoll. 1937 nahmen an den Wehrmachtübungen zwanzig Divisionen des Heeres und die meisten Einsatzverbände der Luftwaffe teil, darunter siebzehn Bomberstaffeln, sechs Flakregimenter, sieben Jagdstaffeln, eine Stukastaffel sowie zahlreiche Aufklärungs- und Unterstützungstruppenteile 34 . Im gleichen Jahr wurden neue Konzeptionen wie die Verwendung von Radar zur Luftverteidigung und das Absetzen von Fallschirmjägern zur Einnahme verteidigungs33 34
Luftwaffe - Dienstvorschrift 16, Luftkriegführung (1935), Ziff. 9. Luftwaffengeneralstab, 3. Abt., Bericht: Wehrmachtmanöver (Luftwaffe) 1937, BA-MA, RL 2 11/835.
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wichtiger Ziele hinter den feindlichen Linien erprobt und als hilfreich erkannt 35 . Die Ergebnisse der Übungen führten zur schnellen Erweiterung beider Bereiche. Ein weiterer Vorteil für die Doktrin der Luftwaffe war bei Kriegsbeginn, daß die 100 Luftfahrzeuge und 5000 Mann umfassende Legion Condor die spanischen Nationalisten von 1936 bis 1938 unterstützt hatte. Die junge Luftwaffe konnte eine Menge Einsatzerfahrung in den meisten Bereichen der Luftkriegführung aufweisen. Diese erstreckte sich auf großangelegte Lufttransportoperationen, den strategischen Bombenabwurf, Luftnahunterstützung und Marinefliegereinsätze36. Bis 1939 hatten 20000 Luftwaffenangehörige Einsatzerfahrung in einem modernen Krieg gesammelt. Die Luftwaffendoktrin wurde weiter ausgefeilt im Kampf gegen einen zähen Gegner, der von modernen sowjetischen Flugzeugen und einer Eliteriege sowjetischer Flugzeugführer Unterstützung erhielt. Der Spanische Bürgerkrieg hatte dafür gesorgt, daß die Deutschen bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges einsatzmäßige Erfahrungen sammeln und ihre taktischen Grundsätze erproben konnten, im Gegensatz zu den französischen und britischen Luftstreitkräften, die aus dem Luftkrieg in Spanien keine Erfahrungen sammeln konnten. Eine der wichtigsten Entwicklungen der 30er Jahre war die Betonung der Luftabwehr mit Hilfe der Flak und passiver Maßnahmen der Zivilverteidigung, um die Auswirkungen der feindlichen Bombeneinsätze gegen verteidigungswichtige Anlagen in Deutschland zu verringern. Im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung in den 30er Jahren wurden neue Luftfahrzeugwerke in der Mitte Deutschlands gebaut, d.h. an den für Feindbomber entferntesten Standorten. Ihre Anlage war auch unter Berücksichtigung ihrer Verteidigungsmöglichkeit aufgelockert, teilweise gehärtet und mit einem kompletten System von Luftschutzeinrichtungen versehen 37 . Diese Vorkehrungen zusammen mit der weltweit umfangreichsten Flak-Truppe bewirkten, daß die wichtigsten deutschen Industrieanlagen sehr schwer aus der Luft zerstört werden konnten. Das war eine Lektion auf dem Gebiet der Verteidigung, die die alliierten Bomberkräfte bei ihren Angriffen auf deutsche Produktionsanlagen in den Jahren zwischen 1942 und 1945 lernen mußten. Nachdem General Wever 1936 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, führten die Chefs des Generalstabes der Luftwaffe Albert Kesselring (1936-1937) und Hans-Jürgen Stumpff (1937-1939) die Weverschen Pläne zum Aufbau einer großen Mehrzweckluftwaffe fort, die in der Lage sein sollte, ihren Hauptauftrag, d. h. den strategischen Bombenabwurf, und zusätzlich verschiedene Unterstützungsaufgaben durchzuführen. Die britische und amerikanische Luftdoktrin in den 30er Jahren setzte vor allem auf den strategischen Bombenabwurf und vernachlässigte die anderen Aufgaben der Luftstreitkräfte, wäh-
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Bezüglich des ersten Einsatzes von Fallschirmjägern durch die L u f t w a f f e siehe Kühn, Fallschirmjäger, S. 1 6 - 1 7 . Zum Ersteinsatz v o n Radar siehe Niehaus, Radarschlacht, S. 32. W e r an einer guten Darstellung des Einsatzes der L u f t w a f f e in Spanien interessiert ist, wird verwiesen auf Proctor, Luftwaffe. Siehe auch Ries/Ring, Legion. Homze, Luftwaffe, S. 9 1 - 9 2 .
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rend die Doktrin der Luftwaffe umfassender und innovativer war. 1936 befahl General Wever z . B . die Aufstellung von Fallschirm)ägerkräften für die Luftwaffe 3 8 . Kesselring und Stumpff unterstützten solche Neuerungen nachhaltig, und bei Kriegsausbruch verfügte Deutschland über eine 2 Divisionen starke, schlagkräftige Luftlandetruppe sowie die größte Lufttransportflotte der Welt. Diese Kräfte wurden mit nachhaltiger Wirkung 1940 in Norwegen und in den Niederlanden und 1941 auf Kreta eingesetzt. Hierbei ging es um eine radikale und wirksame Nutzung der Luftstreitkräfte in einer strategischen und operativen Rolle, die die Westalliierten in Schrecken versetzte, weil sie vor dem Krieg keine Lufttransport- oder Fallschirmjägerverbände aufgestellt hatten.
Die Hauptschwäche der Luftkriegdoktrin Die verbreitete Meinung der angloamerikanischen Historiker ist, daß das größte konzeptionelle Versagen der Luftwaffe im Fehlen einer strategischen Bomberdoktrin oder geeigneter Kräfte zur Durchführung von Bombeneinsätzen begründet sei 39 . Die Auffassung ist nachweislich falsch. Zu Beginn des Krieges hatte die Luftwaffe nicht nur eine recht differenzierte Bombeneinsatzdoktrin, sondern verfügte auch über Kräfte, die den strategischen Bombenabwurf durchführen konnten. 1939 plante die Luftwaffe einen strategischen Lufteinsatz gegen Frankreich, der vor allem gegen die französischen Ölraffinerien, sowie die Transport- und Lagereinrichtungen gerichtet war. Das war eine wohlüberlegte Strategie gegen eine Nation, die vollkommen von Olimporten abhing 40 . Es zeigte sich im November 1940, als 450 deutsche Bombenflugzeuge die Rüstungsindustrieanlagen von Coventry in einem Nachtangriff schwer beschädigten, daß zu diesem Zeitpunkt außer der Luftwaffe niemand bei Dunkelheit gezielte Massenbombardements durchzuführen vermochte 4 1 . Das spricht in keiner Weise dafür, daß das Studium des strategischen Bombenabwurfs vernachlässigt worden war. Als größter Mangel der Luftwaffendoktrin erwies sich die Tatsache, daß vor dem Krieg keine schlagkräftigen Eingreifstreitkräfte für den Seekrieg aufgestellt worden waren. Die Luftwaffe hätte damals die nötigen Ressourcen und technologischen Möglichkeiten gehabt. Trotz der hervorragenden Leistungen der deutschen Seeluftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg zeigte die Führung der Marine in den 20er und 30er Jahren wenig Interesse und Investitionswillen für die Aufrechterhaltung dieser neuen Waffengattung. Unter den Admirälen Hans Zenker (Oberbefehlshaber der Kriegsmarine von 1924-1928) und Erich Raeder (Oberbefehlshaber von 1928-1943) wurden praktisch alle Initiativen und Mittel in den Aufbau einer schlagkräftigen Oberflächenflotte investiert. Die Verfügungsgewalt über die Seeluftstreitkräfte ging 1933 beinahe aus Versehen an die
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Kühn, Fallschirmjäger, S. 17. Siehe Keegan, World War, S. 91; Taylor, March, S. 24; D u p u y , Evolution, S. 243 sowie Craven/Cate, Army, S. 87-88. L u f t w a f f e - Generalstab, Planstudie 1939, H . 2, 1. Mai 1939, B A - M A , R L 2II/2-3, S.9. Cross, Bombers, S. 107-108.
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Luftwaffe über. O b w o h l die wiederbewaffnete Marine auch mit Flugzeugträgern ausgestattet werden sollte, wurden diese weniger unter einsatzmäßigen Aspekten, sondern mehr als Prestigeobjekte gesehen. Die Marine betrachtete ihre Flugzeuge in erster Linie als Mittel zu Erkundungs- und Aufklärungs-, weniger Angriffseinsätzen 4 2 . Einige Luftwaffengenerale wie Helmuth Felmy, der Befehlshaber der Luftflotte 2, drangen auf die Aufstellung spezieller Seeluftstreitkräfte für Angriffszwecke, aber die Führung der Marine zeigte bis in den Krieg hinein wenig Interesse an derartigen Kräften. Dann machten sich Marine und Luftwaffe zusammen an die improvisierte Aufstellung von Langstreckenseeluftstreitkräften. 1940 wurden Verkehrsflugzeuge vom Typ Focke Wulf F W 200 als Seeangriffsflugzeuge eingesetzt, und der bemerkenswerte Erfolg dieser kleinen Zahl überstürzt umgerüsteter Luftfahrzeuge gegen britische Schiffe in den Jahren 1941-1942 zeigt, wie wirksam umfangreichere, mit Spezialflugzeugen ausgestattete Seeluftangriffsverbände hätten sein können . Erst 1942 kamen spezielle Torpedoangriffsstaffeln zum Einsatz, und auch dann standen nur wenige Verbände zur Verfügung. D e r relative Erfolg dieser wenigen Verbände im Einsatz gegen alliierte Konvois im äußersten Norden und im Mittelmeer veranlaßte führende Luftwaffenoffiziere wie Feldmarschall Sperrle im Verlauf des Krieges mehr Seeluftangriffsverbände zu fordern 4 4 , was jedoch die Führung der Luftwaffe ignorierte.
Gliederung der Luftwaffe Der Aufbau der Luftwaffe begann durchaus geschickt mit der Entscheidung von 1933, alle in Zusammenhang mit der Luftfahrt stehenden Bereiche, d.h. militärische Luftfahrzeuge, Flak- und Zivilverteidigung, dem Luftfahrtministerium zuzuordnen. Damit wurde sichergestellt, daß die laufend wachsenden Luftstreitkräfte als umfassendes Ganzes gesehen wurden, und die Bodenverteidigungs- und Zivilverteidigungssysteme die ihnen angemessene Berücksichtigung fanden. Dies hatte Frankreich anders gehandhabt, wo die FlakArtillerie der Führung des Heeres und das Zivilverteidigungsprogramm dem Innenministerium unterstellt worden waren. D a Luftfahrtfragen für jene Institutionen zweitrangig erschienen, wurden Flak und Zivilverteidigung weitgehend vernachlässigt. Deshalb begann Frankreich den Krieg mit einer nur sehr kleinen und veralteten Flaktruppe und wenigen Zivilverteidigungsmaßnahmen. Mit dem weiteren Aufbau der Luftwaffe schlichen sich während der 30er Jahre einige letztlich fatale organisatorische Mängel ein. Die nachfolgend darzule-
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Das wurde in einschlägigen Zeitschriften wie der Marinerundschau diskutiert. 1939 waren die Seeluftstreitkräfte eine kleine Aufklärungs- und Patrouillenorganisation mit 167 Luftfahrzeugen. Siehe Groehler, Geschichte, S. 218. Zwischen August 1940 und Februar 1941 versenkten die F W 200 85 alliierte Schiffe mit insges. 363 000 B R T . Siehe Green, Warplanes, S. 2 2 5 - 2 2 6 . Rohden, Luftwaffe.
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gende unzweckmäßige Gliederung der Luftwaffe und die dem Generalstab der Luftwaffe übertragene Rolle waren wahrscheinlich die einzig größeren Schwächen dieser Teilstreitkraft. Als General Wever 1934 die Führung des in den Anfängen steckenden Generalstabes übernahm, sollte nach seiner Vorstellung vorrangig dieser und nicht das Luftfahrtministerium die Führungs- und Planungsaufgaben für die Luftwaffe übernehmen. Unter Wever arbeitete das Technische Amt der Luftwaffe, das für Entwicklung und Produktion der Ausrüstung zuständig war, eng mit dem Generalstab zusammen und folgte bei der Flugzeugkonstruktion und bei der Aufstellung von Produktionsplänen den Weisungen des Generalstabes 45 . Nach Wevers Überzeugung setzte die Generalstabstätigkeit auch Logistikkenntnisse voraus. Er führte aus, daß Luftstreitkräfte „eine Bodenorganisation benötigen, die nicht zusammenbricht, auch wenn ein Luftwaffenstützpunkt nach dem anderen den feindlichen Luftangriffen zum Opfer fällt, eine Bodenorganisation, die dafür gerade steht, daß Treibstoff, Munition und ungezählte Ersatzteile für die bedauernswert große Zahl verschiedener Luftfahrzeugtypen am richten Ort und zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen ... Es darf nicht der Einwand kommen, ,dies sei keine Arbeit für einen Generalstabsoffizier'" 46 . Wevers Plan für die Ausbildung der Führungsriege der Luftwaffe maß Themen wie Logistik, Kriegswirtschaft und Luftfahrzeugproduktion beinahe so viel Bedeutung wie den Gefechtsoperationen bei 47 . Durch Wevers vorzeitigen Tod verlor die Luftwaffe eine starke Führungspersönlichkeit, die über ausreichend Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsvermögen verfügt hatte, um sich gegen Luftfahrtminister Göring und den Staatssekretär für die Luftfahrt, Milch, durchsetzen zu können. Obwohl sich die nachfolgenden Chefs des Generalstabes der Luftwaffe Kesselring und Stumpff einer Schwächung ihrer Institution widersetzten, gelang es Göring und Milch, dem Generalstab viele seiner Befugnisse wegzunehmen. Der erfahrene Chef des Technischen Amtes, General Wilhelm Wimmer, der in allen Fragen der Flugzeugkonstruktion und -produktion eng mit General Wever zusammengearbeitet hatte, wurde kurz nach Wevers Tod im Jahr 1936 aus dieser Funktion entfernt. An seine Stelle trat Ernst Udet, ein bekannter Jagd- und Kunstflieger und Favorit der Nazi-Partei. Er kannte sich nicht in der Flugzeugkonstruktion und -produktion aus. Die zuvor enge Zusammenarbeit zwischen dem Generalstab der Luftwaffe und dem Technischen Amt kam während seiner Ära weitgehend zum Erliegen, bis er Ende 1941 durch Selbstmord aus dem Leben schied. Die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Generalstab und Technischem Amt bedeutete, daß jener Teil der Luftwaffenangehörigen, die die Einsatzpläne erarbeiteten und Einsatzgrundsätze festlegten, wenig Einfluß auf den Teil der Luftwaffe besaßen, der für die Konstruktion der Flugzeuge zuständig war, wo doch die Eigenschaften der Luftfahrzeuge und ihre Stückzahl den Einsatzgrundsätzen hätte angepaßt werden müssen 48 . Es lassen sich eindeutige Unterschiede
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Suchenwirth, Development, S. 142-145. General Walter Wever, Rede am Technischen Amt der Luftwaffe. Niederschrift in: USAF Η RA, Karlsruhe Collection, Doc. Κ 239. 716251-31, S. 8-9. Boog, Luftwaffenführung, S. 415—416. Homze, Luftwaffe, S. 238-240.
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zwischen den verhältnismäßig wirksamen Konstruktions- und Produktionsprogrammen aus Wimmers Amtszeit und den unter Udet verwirklichten feststellen. Unter Wimmer wurden leistungsfähige moderne Luftfahrzeuge wie die Me 109, H e 111, Ju 87 und D o 17 innerhalb von drei Jahren vom Entwurfsstadium bis zur Serienproduktionsreife entwickelt. Unter Udet verstrich viel Zeit, bis Luftfahrzeuge wie der Ju 88 und H e 129 in die Produktion gehen konnten, und bei anderen Luftfahrzeugen wie der H e 177 und Me 210 verzögerte sich nicht nur die Produktion erheblich, sondern die Flugzeuge selbst wurden den an sie gestellten Forderungen in keiner Weise gerecht. Der Generalstab der Luftwaffe verlor nicht nur die Kontrolle über Konstruktion und Produktion der Flugzeuge, sondern zwischen 1936 und 1939 auch beinahe jeden Einfluß auf Ausbildung, Personal und Logistik. Milch war bestrebt, möglichst weite Teile der Luftwaffe an sich zu ziehen. Göring bemühte sich um die Aufspaltung der Luftwaffenführung in mehrere konkurrierende Stäbe. 1938 schuf er gegen den Willen des Chefs des Luftwaffenführungsstabes Stumpff den Posten des Generalinspekteurs der Luftwaffe. Dieser sollte dem Chef des Luftwaffenführungsstabes gleichgestellt werden. Die Zuständigkeit des neuen Amtes sollte sich auf die zehn Güteprüfdienste der Luftwaffe und den Großteil der Ausbildungseinrichtungen erstrecken 4 9 . Die Kompetenzen des Luftwaffenführungsstabes wurden weiter von Oberst Hans Jeschonnek, dem Chef der Operationsabteilung, eingeschränkt. 1938 forderte dieser, der Generalstab der Luftwaffe solle ausschließlich als Operationsund Planungsstab fungieren und seine Zuständigkeit für die Ausbildung und Produktion der Ausrüstung aufgeben 5 0 . Anfang 1939 wurde Jeschonnek Chef des Generalstabes der Luftwaffe. Im selben Jahr beschnitt ein weiteres U m strukturierungsprogramm die Funktion des Generalstabes entsprechend der früheren Empfehlung auf Operationen und Planung 5 1 . In einem Zeitraum von nur fünf Jahren entwickelte sich die Luftwaffe von einem rationalen Organisationsmodell, im Rahmen dessen eng zwischen den technischen, logistischen und operativen Bereichen zusammengearbeitet worden war, zu einer unnötig komplexen Einrichtung, in der Konkurrenz an die Stelle von Zusammenarbeit getreten war. Görings Leitung hat die Konkurrenz zwischen Milchs Amt und dem Generalstab toleriert und sogar gefördert 5 2 .
Die Luftwaffe und Teilstreitkraft-übergreifende Operationen Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Einsatzgrundsätze der Luftwaffe war die Hervorhebung gemeinsamer Operationen zur Unterstützung von Heer und Marine. Im Gegensatz zum U S Army Air Corps und der RAF, die die U n abhängigkeit ihrer Teilstreitkraft durch Unterstützungsoperationen für das Heer gefährdet sahen und in der Zwischenkriegszeit Widerstand gegen die Auf-
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Boog, Luftwaffenführung, S. 225. Ebd., S. 222. Nielsen, Air Force, Abb. 5. Homze, Luftwaffe, S. 238-240.
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forderung geleistet hatten, Einsatzgrundsätze für gemeinsame Operationen zu erarbeiten, bestand die Luftwaffe darauf, daß sich ihre Angehörigen als Mitglieder der Wehrmacht und erst an zweiter Stelle als Luftwaffenangehörige sahen. Obwohl Wever und die meisten führenden Offiziere der Luftwaffe den strategischen Bombenabwurf als Hauptauftrag ihrer Teilstreitkräfte betrachteten, wurde Luftoperationen zur Unterstützung des Heeres große Bedeutung beigemessen. Bei der Aufstellung der Luftwaffe im Jahr 1935 waren recht beachtliche Kräfte speziell für die Aufklärung vorgesehen, die unter der Führung des Heeres eingesetzt werden sollten 53 . Außerdem schuf die Luftwaffe zu einem frühen Zeitpunkt ein System für die Koordinierung der Luftnahunterstützung für das Heer. Im Jahr 1936 betrieb General Wever vorrangig die Ausbildung von Luftwaffenverbindungsoffizieren, die zu den Armeekorps und Divisionen abgestellt werden und für die Koordinierung der Luftnahunterstützung zuständig sein sollten 5 4 . Zwischen 1936 und 1939 sammelten die in Spanien eingesetzten Verbände der Luftwaffe reiche taktische und operative Erfahrungen in der wirksamen Unterstützung von Bodentruppen. 1939 stellte die Luftwaffe aufgrund dieser Erfahrung eine spezielle Erdkampftruppe zur Luftnahunterstützung auf, aus der das VIII. Luftkorps hervorging. Als die Luftwaffe 1939 mit Kriegsbeginn zum Einsatz kam, gab es weltweit keine anderen Luftstreitkräfte, die über mehr Erfahrung bezüglich Luftaufklärung und -nahunterstüzung für das Heer verfügten. Die Luftwaffe arbeitete während der ersten Hälfte des Krieges weiter an den taktischen Einsatzgrundsätzen und der Leistungssteigerung auf diesen Gebieten. 1940 spielte in Frankreich ihre Fähigkeit, schnell mit massiven Angriffen gegen französische und britische Bodentruppen auf die Gefechtslage einzuwirken, eine entscheidende Rolle für den beeindruckenden Sieg, den die Wehrmacht davontrug. Mit Fortgang des Krieges entwickelten die Deutschen ein aus Angriffsverbänden zusammengesetztes Korps unter der Führung von Offizieren, die außergewöhnlich viel von der Durchführung gemeinsamer Operationen mit dem Heer verstanden. Feldmarschall Wolfram von Richthofen, der sich auf taktische Luftoperationen zur Unterstützung des Heeres spezialisiert hatte, war möglicherweise der beste taktische Luftwaffenbefehlshaber des Zweiten Weltkrieges. Schon 1941 setzte er erfahrene Stuka-Piloten als Fliegerleitoffiziere für Luftangriffe auf die ganz vorn an der Front eingesetzten Panzer 55 . Das war eine taktische Neuerung, die von den britischen und amerikanischen Luftstreitkräften erst zwei Jahre später angewandt wurde. Auf taktischer Ebene stellte die Luftwaffe große Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit dem Heer unter Beweis. Diese Fähigkeit zur Durchführung TSK-übergreifender Operationen verlieh den Deutschen einen großen Vorteil 53
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Bezüglich der Grundsätze f ü r die Zusammenarbeit mit dem Heer wird verwiesen auf die Dienstvorschrift der L u f t w a f f e 2/2: Der Aufklärungsflieger (Land): Luftaufklärung für die Kriegführung des Heeres (1938). Bis zum Jahr 1940 waren f ü r diese Aufgabe mehr als 300 Luftfahrzeuge zugewiesen. Siehe Murray, Strategy, S. 80. Bericht des Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, 4.1.1936, über Ausbildung und Übungen im Jahr 1935, N A R A , File T-177, Roll 1, Ziff. 6. Edwars, Panzer, S. 135.
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gegenüber den Verbündeten, die zwischen 1939 und 1942 dem nichts entgegenzusetzen hatten. Gemeinsame Operationen können jedoch nur dann erfolgreich geführt werden, wenn man über die Luftüberlegenheit verfügt. Als die Deutschen nach 1942 allmählich diese Luftüberlegenheit an allen Fronten verloren, sank ihr Können auf dem Gebiet TSK-übergreifender Operationen zur Bedeutungslosigkeit ab. In dieser Zeit lernten die alliierten Luftstreitkräfte ihre Lektion von der Luftwaffe und wandten 1944 bis 1945 eine vergleichbare Taktik - in größerem Maßstab und mit genau der gleichen entscheidenden Wirkung - gegen die deutschen Bodentruppen an. Die Luftwaffe zeigte zwar in TSK-übergreifenden Operationen gute Leistungen auf der taktischen und operativen Ebene, aber ihre Möglichkeiten auf der strategischen waren begrenzt. Als die Wehrmacht 1930 allmählich aufgestellt wurde, bestand der nachhaltige Wunsch, eine moderne gemeinsame Stabsorganisation zur Koordinierung der Anstrengungen und Planungsvorhaben aller Teilstreitkräfte auf strategischer Ebene zu schaffen. Werner von Blomberg, der Reichskriegsminister, und der Chef des Luftwaffenführungsstabes Wever bemühten sich mit Nachdruck um die Schaffung einer gemeinsamen Stabsakademie, in der sich erfahrene Generalstabsoffiziere aller Teilstreitkräfte während eines einjährigen Lehrganges intensiv mit solchen Themen wie TSK-übergreifenden Operationen, Kriegswirtschaft und Gesamtstrategie befassen sollten. Dieser gemeinsame Stabslehrgang sollte die Offiziere auf Stabsverwendungen in der Wehrmachtführung vorbereiten. Diese Fortbildungseinrichtung, die Wehrmachtsakademie, wurde 1935 mit einem ersten Lehrgang in Betrieb genommen, an dem sechs Offiziere des Heeres und je zwei Offiziere von Marine und Luftwaffe teilnahmen 56 Der Lehrplan der Wehrmachtsakademie entsprach in vollem Umfang Wevers Vorstellung, daß sich die Generalstabsoffiziere der Luftwaffe mit der Gesamtkriegführung auseinandersetzen sollten (d. h. Geopolitik, Gesamtstrategie, Wirtschaftswissenschaften und Operationen) 57 . Diese Konzeption der gemeinsamen Operationen und der Wunsch, einen wirklichen gemeinsamen Stab an der Wehrmachtsspitze zu schaffen, stieß auf starke Ablehnung in der Führung des Nazi-Staates. Insbesondere Hermann Göring sah die Schaffung eines gemeinsamen Stabes als Bedrohung seiner persönlichen Führung der Luftwaffe. Er machte entschieden Front gegen die Wehrmachtakademie, und durch den Tod von Wever im Jahr 1936 und Blombergs Entlassung 1938 verlor die Wehrmacht ihre stärksten Befürworter eines gemeinsamen Stabes. Die Wehrmachtakademie Schloß 1938 schließlich ihre Tore 58 . Das 1938 eingerichtete Oberkommando der Wehrmacht diente jedoch trotz seines Namens nie als gemeinsamer Stab der Streitkräfte. Das O K W wurde im wesentlichen ein kleiner persönlicher Stab des Führers. Er war nie wirklich teilstreitkräfteübergreifend, da ihm nie mehr als ein paar verhältnismäßig nachgeordnete Luftwaffenoffiziere angehörten. Im März 1942 gehörten von den 358 Offizieren des OKW, von denen einer im Rang eines Generals und vier Oberste waren, nur
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Model, Generalstabsoffizier, S. 105-107. Boog, Luftwaffenführung, S. 4 1 5 ^ 1 6 . Model, Generalstabsoffizier, S. 105-107.
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einer der Luftwaffe an 5 9 . Kurzum, Deutschland stellte nie - im Gegensatz zu den alliierten Mächten - einen obersten gemeinsamen Stab zur Koordinierung der Strategie und der Vorgehensweise der Gesamtstreitkräfte auf. Während des Krieges war das Führungssystem auf den Führer ausgerichtet, der eine Gruppe relativ unabhängiger Teilstreitkraftstäbe befehligte. Trotz des Fehlens eines gemeinsamen Stabes gelang es den drei Teilstreitkräften zeitweise, auf dem Planungssektor wirksam zusammenarbeiten, so zu Beginn des Krieges hinsichtlich der Eroberung Norwegens im April 1940. 6 0 Der Einsatz in Norwegen war die erste wirklich gemeinsame Operation in der deutschen Geschichte, in der Luft-, See- und Landstreitkräfte alle eine wichtige Rolle spielten und gleichen Anteil am Erfolg hatten. In dieser ersten gemeinsam von drei Teilstreitkräften durchgeführten Operation stellten die Deutschen weit größeres Geschick bei der Koordinierung von Maßnahmen als ihre britischen Gegner unter Beweis. Der britische Gegenschlag in Norwegen war schlecht geplant und unkoordiniert. Deutsche Stabsoffiziere aller Wehrmachtteile erkannten den Wert der Aufstellung gemeinsamer Stäbe auf der oberen Ebene. Die Planungsgruppe für Norwegen schlug vor, einen einzigen Offizier als Befehlshaber des Operationsgebietes zu benennen und einen gemeinsamen Stab mit vollen Führungsvollmachten für die Operation aufzustellen. Der Planungsstab empfahl die Ernennung von General Kesselring von der Luftwaffe zum Befehlshaber im Operationsgebiet. Kesselring hatte viele Jahre im Heer und dann als Chef des Generalstabes der Luftwaffe Dienst getan. Sein Stellvertreter sollte ein Admiral sein. Somit wäre das Wissen aller drei Teilstreitkräfte in der Person des Befehlshabers und seines Stellvertreters verkörpert gewesen, wozu noch die Unterstützung eines gemeinsamen Stabes gekommen wäre 6 1 . Dieser vernünftige Vorschlag wurde von Göring kurzerhand verworfen. E r widersetzte sich hartnäckig einer Regelung, durch die „seine" Luftwaffe unter die Führung eines aus einer anderen Teilstreitkraft stammenden Befehlshabers im Operationsgebiet hätte kommen können. Die Operation in Norwegen war erfolgreich, obwohl es keinen Befehlshaber oder Stab für die Koordinierung der gemeinsamen Operationen gab. Nach Abschluß des Einsatzes hoben jedoch die daran beteiligten Stabsoffiziere nachdrücklich darauf ab, weitere Operationen könnten noch erfolgreicher verlaufen unter der Führung eines einzigen, von einem gemeinsamen Stab unterstützten Befehlshabers im Operationsgebiet 6 2 . Dieses Verfahren wurde erneut von Göring und Hitler verworfen, die eine Operationsführung von Berlin aus ohne Zwischenschaltung eines Befehlshabers vor O r t vorzogen. Während des gesamten Krieges wurde die Luftwaffe an den nominellen und im wesentlichen aus dem Heer kommenden Befehlshabern in den Einsatzgebieten vorbei direkt von Berlin aus eingesetzt. Auf taktischer Ebene war das nicht besonders schwierig,
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Siehe B o o g , Luftwaffenführung, S. 343. D i e beste Berichterstattung über die deutsche Planung und die Operationen in Norwegen im J a h r 1940 siehe O t t m e r , Weserübung, S. 3 8 - 4 0 . Knauss, Feldzug, S. 2 7 - 2 8 . Gruppe X X I , Erfahrungsbericht (7.10.1940), B A - M A , 2 4 - 2 1 / 5 0 , S. 4.
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da wirkungsvolle gemeinsame Operationen unter Beteiligung von Luftwaffe, Marine und Heer ad hoc geplant wurden. Für die Durchführung riesiger Operationen über die äußerst weiträumigen Gebiete wie Rußland und über längere Zeiträume hatte das Fehlen eines wirklich gemeinsamen Stabes oder gemeinsamer Einsatzstäbe zur Folge, daß nach 1940 die Koordinierung von Planung und Einsatz mangelhaft war.
Führung in Demokratien und in totalitären Staaten Totalitäre Staaten besitzen in der Regel gegenüber Demokratien die bessere Möglichkeit, der Bevölkerung im Frieden große Opfer abzuverlangen, um aufrüsten und sich auf den Krieg vorbereiten zu können. Während der Wiederaufrüstung in den 30er Jahren waren der Nazi-Staat und die Sowjetunion in der Lage, ungeheure Flugzeugproduktions- und Luftwaffeninfrastrukturprogramme zu verwirklichen, ohne durch öffentliche Kritik behindert zu werden. Sobald die Wiederbewaffnung beschlossen war, gab es für die deutschen und sowjetischen Luftstreitkräfte kaum mehr finanziell oder materiell bedingte Einschränkungen. Im Gegensatz dazu kann keine Demokratie im Frieden ihrer Bevölkerung so viele Opfer abverlangen. O b w o h l Frankreich und Großbritannien Anfang der 30er Jahre ihre Rüstungsanstrengungen forcierten, standen ihre für die Luftstreitkräfte unternommenen Anstrengungen in keinem Verhältnis zu dem, was Deutschland auf die Beine stellte. Zwischen 1933 und 1939 gaben die Deutschen jährlich zwei- bis dreimal so viel für ihre Luftwaffe aus wie die Briten und Franzosen zusammen 6 3 . U n d dabei trugen die letzteren auch noch die Verantwortung dafür, Luftwaffenstützpunkte in all ihren Kolonien aufzubauen, während sich Deutschland ausschließlich auf die Aufstellung von Truppen in Europa konzentrieren konnte. Bis 1939 verfügten die Sowjets über die größten Luftstreitkräfte der Welt und Deutschland über erheblich modernere und stärkere Luftstreitkräfte als Großbritannien und Frankreich 6 4 . Der große Nachteil totalitärer Staaten ist, daß sogar im Krieg die Loyalität gegenüber dem Regime vor der Kompetenz rangiert. Ein extremes Beispiel dafür war die Sowjetunion, in der die Streitkräfte zwischen 1936 und 1939 durch „Säuberung" ihrer fähigsten und erfahrensten Offiziere verlustig gingen, weil Stalin seiner obersten militärischen Führung nicht traute. O b w o h l sich das N a zi-Regime nicht so extrem verhielt, gibt es zahlreiche Beispiele in Luftwaffe und Wehrmacht, w o die Loyalität gegenüber Hitler und der Partei mehr als die Befähigung zählte. Die bekanntesten Fälle sind die Ablösung der sehr fähigen Generäle Blomberg und Fritsch im Jahr 1938, und Hitlers Entscheidung, Spitzenpositionen im O K W mit so mittelmäßigen „Ja-Sagern" wie den Generalen Jodl und Keitel zu besetzen. Auch die Luftwaffe blieb vor wie während des Krieges nicht von solchen Revirements verschont. General Wilhelm Wimmer, der von vielen als der größte Fachmann eingeschätzt wurde, mußte den Posten
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Groehler, Geschichte, S. 204. Ebd., S. 218. Im September 1939 verfügte die Luftwaffe über 3441 Luftfahrzeuge,während Großbritannien nur 1660 und Frankreich 1735 hatten.
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als Chef des Technischen Amtes räumen, und an seine Stelle trat Ernst Udet. Udet war für diese Stelle vollkommen ungeeignet, aber er war ein alter Freund Görings und in der NSDAP sehr populär. Der begabte Wimmer wurde auf verhältnismäßig zweitrangige Posten wie den des Luftbefehlshabers für Ostpreußen abgeschoben. General Bruno Loerzer beispielsweise erhielt Führungsstellungen und wurde vorrangig vor allem deswegen befördert, weil er Hermann Görings „Kunstflieger" und alter Freund vom Jadgeschwader 1 im Ersten Weltkrieg war. Göring zog - wie Hitler - „Ja-Sager" starken Persönlichkeiten vor. Der junge und unerfahrene Hans Jeschonnek wurde 1939 zum Chef des Generalstabes der Luftwaffe über die Köpfe viel erfahrenerer Generale hinweg ernannt. Jeschonnek verehrte den Führer wie einen Helden, und gegenüber Göring war er viel nachgiebiger als die älteren Generale, die über wesentlich mehr Erfahrung verfügten 65 . Generale, die sich nicht voll hinter Görings Auffassung stellten, wurden auf untergeordnete Führungsposten versetzt. General Helmuth Felmy, der Befehlshaber der Zweiten Luftflotte von 1938 bis 1940, war einer der kenntnisreichsten und erprobtesten Offiziere in der Führung der Luftwaffe. 1938 und 1939 äußerte er gegenüber Göring rundheraus, daß die Luftwaffe nicht für einen wirkungsvollen strategischen Einsatz gegen Großbritannien vorbereitet sei 66 . Anfang 1940 wurde Felmy abgelöst und fand während des ganzen Krieges auf verhältnismäßig zweitrangigen Posten Verwendung, wie z.B. als Besatzungskommandeur Südgriechenlands. Es kann sein, daß Demokratien im Frieden in ihren Streitkräften ein großes Maß an Unfähigkeit tolerieren, aber im Krieg werden demokratische Regierungen dem Mittelmaß gegenüber sehr kritisch aus dem einfachen Grund, sich letzten Endes gegenüber den Wählern verantworten zu müssen, und weil die Abwahl sicher ist, wenn im Krieg die Augen vor der Unfähigkeit verschlossen und dadurch große Verluste verursacht werden. In Großbritannien, Frankreich oder den Vereinigten Staaten gibt es keine Personalmaßnahmen, die mit dem Fall Ernst Udet oder Hans Jeschonnek vergleichbar wären. Generale und Minister im Kabinett entsprachen entweder den Erwartungen oder wurden entlassen. Die Briten lösten Neville Chamberlain im Mai 1940 an der Regierungsspitze ab, weil die Maßnahmen in Norwegen unter seiner Regie nicht gut gelaufen waren. Es wäre unvorstellbar, daß die Westmächte Hermann Göring als Minister der Luftfahrt oder einen Ernst Udet sechs Jahre lang als Chef der Flugzeugproduktion toleriert oder Jeschonnek nach den Niederlagen der Luftwaffe in den Jahren 1941-1943 weiter im Amt belassen hätten. Udet und Jeschonnek konnten nur durch Selbstmord aus den Führungspositionen ausscheiden, und Göring blieb beinahe bis zum Ende des „Dritten Reiches" Oberbefehlshaber der Luftwaffe.
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Zu Jeschonneks Persönlichkeit siehe Suchenwirth, Command, S. 2 1 3 - 2 9 3 . General Felmy, Schlußbesprechung des Planspiels 1939, 13.5.1939, B A - M A , RL 7/43, S. 1 3 - 1 4 .
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Entscheidungsfindung im Generalstab der Luftwaffe Generaloberst Hans Jeschonnek, Chef des Generalstabes der Luftwaffe von 1939 bis 1943, trägt einen großen Teil der Verantwortung für den Niedergang der Luftwaffe als wirksame Kampftruppe nach 1941. Jeschonneks Auslegung der Einsatzgrundsätze verhalf der Luftwaffe in den Anfängen des Krieges zum Erfolg, brachte sie jedoch um die Möglichkeit, wirkungsvolle Maßnahmen gegen einen Abnutzungskrieg in der Luft, auf den sie nicht vorbereitet war, zu treffen. Er war der Meinung, die Luftwaffe könne am sinnvollsten in kurzen, gezielten Blitzkriegkampagnen eingesetzt werden. Die Luftwaffe griff zu Beginn einer Kampagne auf alle verfügbaren Luftfahrzeuge und Truppen zurück, um mit Ubermacht gegen die feindlichen Luftstreitkräfte anzutreten. Nach der schnellen Lähmung der feindlichen Luftstreitkräfte sollte sie sich der Zerstörung des feindlichen Transportsystems widmen, um dem Feind die Möglichkeit zu rauben, Truppen zu bewegen. Die Flugzeuge sollten massenweise zum gnadenlosen Beschüß feindlicher Truppenkonzentrationen und zur Erzielung eines Schockeffektes eingesetzt werden, den die Panzertruppe und die mechanisierten Verbände auszunutzen hatten. Zum schnellen Erlangen der Luftüberlegenheit und des Massierungseffektes wurden Reserven zurückgehalten. Für die Dauer der Kampagnen griff man sogar auf die Ausbildungseinrichtungen zurück, d.h. es wurden erfahrene Fluglehrer von den Schulen abgezogen und Transportflugzeuge an die Front geschickt. Das war eine gefahrvolle, auf kurze Einsätze zugeschnitte Strategie. Bei längeren Einsätzen konnten die Ausbildungseinrichtungen die schweren Verluste nicht mehr wettmachen 67 . Jeschonneks Luftkriegstrategie bewährte sich 1939 im Feldzug gegen Polen und 1940 in Norwegen, Frankreich und den Niederlanden. Der Luftwaffe gelang es in der Luftschlacht um England nicht, die Luftüberlegenheit zu gewinnen, aber dies wurde nur als vorübergehender Rückschlag gesehen. Auf dem Balkan im Frühjahr 1941 zeigte die Luftwaffe erneut, wie entscheidend starke Luftstreitkräfte in einer Blitzkriegkampagne sein können. Jeschonnek freute sich, 1941 mit dem Angriff auf Rußland beauftragt zu werden. Seine Reaktion auf Hitlers Invasion war: „Endlich ein richtiger Krieg. " 6 8 . Jeschonnek dachte an einen weiteren kurzen Blitzkrieg. Aber die durch die Kämpfe in den Jahren 1939 und 1940 angeschlagene Luftwaffe litt schon daran, daß den Ausbildungskommandos Personal und Ressourcen entzogen worden waren. Die Luftwaffe stieg in den Rußlandfeldzug mit weniger Luftfahrzeugen als gegen Frankreich im Jahr 1940 und ohne Reserven an Flugzeugführern und Luftfahrzeugen ein. Obwohl die Luftwaffe 1941 gegen Rußland schnell die Luftüberlegenheit erlangte und Hervorragendes in der Unterstützung des Heeres bei der Vernichtung der riesigen russischen Truppenverbände leistete, sollte sich das vergebliche Bemühen, Rußland im Jahr 1941 zu besiegen, als einer der schicksalhaftesten Rückschläge für die Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg erweisen. Bis zum Winter 1941 war die Luftwaffe „erschöpft". Nachdem man von einem kurzen Feldzug ausgegangen war und keine ausreichenden logistischen Vor67 68
Suchenwirth, C o m m a n d , S. 226-227. Muller, Air War, S. X .
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kehrungen zum Nachführen von Ersatzteilen und Treibstoff getroffen hatte, waren die Luftwaffentruppenteile in Rußland Ende 1941 weit von ihrer SollStärke entfernt. Weniger als die Hälfte der Luftfahrzeuge waren einsatzbereit. Die übrigen waren flugunfähig, weil sie nicht ausreichend gewartet werden konnten und weil Treibstoff und Ausrüstung für kalte Temperaturen fehlte 69 . Die Luftwaffe war unvorbereitet in einen Abnutzungsluftkrieg geraten. Obwohl sie 1942 allmählich wieder an Stärke gewann und ein Comeback erlebte, begannen die massiven angloamerikanischen Ausbildungs- und Produktionsprogramme für die Alliierten Früchte zu tragen. Die Briten und Amerikaner erlangten 1942 die Luftüberlegenheit im Mittelmeerraum, und die nächtlichen Bombereinsätze der R A F über Deutschland begannen Wirkung zu zeigen. Die Luftwaffe reagierte auf ihren schon merklichen Mangel an Flugzeugführern durch die Reduzierung der Flugausbildungszeiten 7 0 . Vor 1942 wurden die Piloten mit mehr Flugstunden als ihre englischen Kollegen im Gefecht eingesetzt. Ab Mitte 1942 flogen sie ihren ersten Einsatz mit erheblich weniger Erfahrung als ihre britischen und amerikanischen Gegenspieler. Dadurch fielen mehr Flugzeugführer aus, woraufhin die Zahl der Flugstunden der in Ausbildung befindlichen wiederum heruntergesetzt wurde. 1943 kamen die Piloten mit nur 160 Flugstunden zum Einsatz. 1944 wurden den Jagdstaffeln Flugzeugführer mit weniger als 100 Flugstunden zugewiesen. Sie mußten den Kampf gegen britische und amerikanische Piloten aufnehmen, die ihren ersten Einsatz mit einer Erfahrung von mindestens 400 Flugstunden absolvierten 71 . Das Desaster von Stalingrad legt eine Anzahl der Probleme offen, die auf typische Entscheidungen der Luftwaffenführung zurückgehen. Als Hitler Jeschonnek und Göring fragte, ob die vom Feind eingekesselten 250000 Mann der 6. Armee aus der Luft versorgt werden könnten, machte ersterer, ohne eine richtige Stabsstudie oder Uberprüfung der Ergebnisse anderer Lufttransportoperationen im Krieg und auch ohne Beratung mit führenden Luftwaffenoffizieren an der Front (wie ζ. B. mit dem Befehlshaber der Luftflotte 4, Wolfram von Richthofen) Hitler Hoffnung 7 2 . Es war eine verhängnisvolle Entscheidung, die nicht nur zum Verlust der gesamten Armee führte, sondern auch von beinahe 500 Bombenflugzeugen, die für diesen Lufttransport herangezogen wurden 73 . Zu diesem Zeitpunkt konnte sich die Luftwaffe keine Dezimierung ihrer Bomberkräfte und den Verlust von so erfahrenem mehr fliegenden Personal leisten. Jeschonnek beging im August 1943 Selbstmord, nachdem er von den ungeheuren Verlusten unter der Zivilbevölkerung durch den Luftangriff auf Hamburg und die geringen Verluste des Angreifers gehört hatte. General Günther Korten, der neue Chef des Luftwaffenführungsstabes, versuchte mehrere Reformen. Er verfolgte beispielsweise die Verteidigung Deutschlands durch Jägerein-
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73
Murray, Strategy, S. 9 4 - 9 7 . United States Strategie Bombing Survey, S. 3. Ebd., S. 3, 5 - 6 , 19-20. Eine gute Studie über die Entscheidungsmechanismen in der L u f t w a f f e im Falle des Lufttransports nach Stalingrad ist Hayward, Stalingrad, S. 2 1 - 3 7 . Suchenwirth, Points, S. 104.
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sätze mit größerem Nachdruck. Aber auch Korten setzte nachdrücklich auf die Erhaltung einer starken Bomberflotte, und der Führungsstab der Luftwaffe klügelte Ende 1943 einen Plan zur Aufstellung eines Verbandes mit 300 Bombenflugzeugen aus, mit dem die russische Rüstungsproduktion durch nächtliche Bombardierung lebenswichtiger Industrieziele bei Moskau und weiter ostwärts lahmgelegt werden sollte 74 . Nichts verdeutlicht besser den Realitätsverlust im Führungsstab der Luftwaffe. Zu einem Zeitpunkt, als viel umfangreichere alliierte Luftangriffe gegen deutsche Industrieziele keine entscheidenden Ergebnisse erzielten, glaubte der Führungsstab der Luftwaffe, er könne die russische Rüstungsproduktion mit einer Handvoll ausgebildeter Flugzeugbesatzungen und Bomber empfindlich schwächen. Ein strategischer Feldzug gegen die russische Industrie hätte möglicherweise 1941 Erfolg gehabt, als die Deutschen die volle Luftüberlegenheit hatten und noch über weit umfangreichere Ressourcen verfügten, aber 1943 war ein solcher Plan völlig illusorisch. Auf jeden Fall wurde dieses Vorhaben nie verwirklicht, weil die letzten noch vorhandenen Bomberreserven der Luftwaffe durch Hitlers unmittelbaren Befehl Anfang 1944 zur Bombardierung von London eingesetzt werden mußten. Diese als „baby blitz" bekanntgewordenen Vergeltuηgsangriffe zur Verbesserung der Stimmung an der Heimatfront, richteten in London wenig Schaden an, führten dafür aber zur Vernichtung der letzten ausgebildeten Bomberbesatzungen. Bei Abbruch dieser Einsatzserie im Mai 1944 hatten die Deutschen 329 Bombenflugzeuge mit ihren Besatzungen verloren 75 . Als die Alliierten im Juni 1944 in der Normandie landeten, verfügten die Bomberverbände in Frankreich über kaum mehr als 100 einsatzfähige Flugzeuge, mit denen Tausende von alliierten Luftfahrzeugen und Schiffen abgewehrt werden sollten 76 .
Die Rolle des Führungsstabes Als eines der grundlegenden Probleme der Luftwaffe erwiesen sich die falschen Vorstellungen von der Rolle des Führungsstabes und des Chefs des Generalstabes der Luftwaffe bei der Führung des Luftkrieges. Der Chef des Generalstabes Jeschonnek hatte wenig Interesse an Ausbildung, Produktion und Logistik. Er vertraute hinsichtlich der Gesamtstrategie auf Hitler. Nach seiner Vorstellung war der Führungsstab vor allem für die Planung und Gefechtsführung zuständig. Er persönlich verwandte etwa 80% seiner Zeit auf Operationen. Sein Vertrauen in seine Luftwaffe und ihre einsatzmäßige Überlegenheit kannte keine Grenzen. Jeschonnek kann man in Vergleich setzen mit dem Befehlshaber des U S Army Air Corps, General H a p Arnold, der eine andere Auffassung von den Aufgaben seines Führungsstabes hatte. Arnold war das genaue Gegenteil von Jeschonnek. Er sah sich für die Ausbildung sowie die Gliederung und Versorgung sowie die Ausrüstung der Luftstreitkräfte verantwortlich. Obwohl Arnold gelegentlich 74 75 76
Muller, Air War, S. 177-188. Cooper, Air Force, S. 332-333. Price, Air Corps.
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nicht der Verführung widerstehen konnte, in nachgeordnete Aufgabenbereiche einzugreifen, überließ er die einsatzmäßige Seite des Luftkrieges seiner Befehlshaberriege, während er die Aspekte der Gesamtstrategie des Luftkrieges im Auge behielt. Im Gegensatz zu Jeschonnek wandte Arnold ungefähr 80% seiner Zeit für Logistik und Ausbildung und weniger als 20% für Operationen auf 77 . Es war der erfahrene und praktisch denkende Arnold und nicht der brilliante Generalstabsoffizier Jeschonnek, der wirklich wußte, was die eigentlichen Aufgaben des Führungsstabes der Luftstreitkräfte sind.
Zusammenfassung Die Luftwaffe hatte zu Beginn des Krieges mehrere Vorteile: Sie besaß gut ausgebildetes Personal, eine gute Ausrüstung, die Fähigkeit zur Durchführung teilstreitkräfteübergreifender Operationen, überlegene Möglichkeiten auf dem Gebiet des strategischen Bombenabwurfs, umfangreiche Luftlandetruppen und die größte militärische Lufttransportflotte. Zu Beginn des Krieges waren die Einsatzgrundsätze der Luftwaffe umfassender als die der Briten und Franzosen. Die Luftwaffe war ihren Gegnern in den meisten Bereichen überlegen. Außerdem verfügte die Luftwaffe auf der operativen Ebene über ein ausgezeichnetes Führerkorps. Die Feldmarschälle Kesselring, Sperrle und von Richthofen, die Generäle Korten, Koller, Pflugbeil und andere können gleichgesetzt werden mit den besten Einsatzbefehlshabern der Alliierten. Aber die Luftwaffe verspielte ihre Vorteile in den ersten Kriegsjahren. Der fatale Fehler der Führungsspitze war das Festhalten an der riskanten Doktrin, der Sieg könne durch kurze, blitzkriegartige Einsätze herbeigeführt werden. Die ersten Siege ließen die Illusion aufkommen, man befinde sich auf dem richtigen Weg. Aber der Fehlschlag 1940 gegenüber Großbritannien hätte für die Führung der Luftwaffe eine Warnung sein müssen, daß die Stärke der Luftkriegführung nicht in Blitzkampagnen, sondern im Zermürbungskrieg lag.
77
Zu Arnolds Führungsstil siehe C o f f e y , Hap. Siehe auch James, Time.
Williamson Murray Betrachtungen zur deutschen Strategie im Zweiten Weltkrieg
Ziel dieses Essays ist es, eine der besonders spannenden Fragen des Zweiten Weltkrieges zu untersuchen, und zwar: Wie kam es, daß das „Dritte Reich", Adolf Hitler sowie seine militärischen und zivilen Berater sich als unfähig erwiesen, die Kernfragen von Strategie anzugehen, die der im September 1939 entfesselte Krieg aufwarf? In der Tat könnte der Kontrast zwischen der Strategie der Alliierten - Großbritannien, die U S A und die Sowjetunion auf der einen Seite - und der der Achsenmächte auf der anderen vom Ergebnis her kaum anschaulicher sein: 1945 waren die U S A und die Sowjetunion als Supermächte aus dem Krieg hervorgegangen; Großbritannien hatte zumindest die katastrophale Lage von 1940 überlebt; Deutschland, Japan und Italien hingegen lagen völlig zerschlagen und zerschmettert am Boden, wobei dem Reich eine Aufteilung auf die Einflußsphären der Siegermächte noch bevorstand. Gleichwohl muß jede Abhandlung über die Strategie des „Dritten Reiches" zuallererst eine wichtige Frage beantworten, und zwar die nach dem Erfolg oder Nichterfolg der alliierten Mächte auf der strategischen Ebene des Krieges, bevor die Frage des strategischen Versagens des „Dritten Reiches" untersucht werden kann. Es reicht nicht, die Behauptung aufzustellen, die Strategie des nationalsozialistischen Deutschland sei verfehlt gewesen, ohne sie mit den strategischen Ansätzen, die seine Gegner entwickelt hatten, zu vergleichen.
Strategie der Alliierten: In jeder Hinsicht überlegen? Eine vergleichende Untersuchung der Strategie der Alliierten und der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg birgt, betrachtet man sie nur unter dem Blickwinkel der Ergebnisse, erhebliche Gefahren. Der mit der alliierten Strategie verbundene Entscheidungsprozeß wirft, wenn man ihn vor dem Hintergrund der damals tatsächlich herrschenden Bedingungen kritisch beurteilt, manch interessante Frage auf. Nehmen wir ζ. B. Winston Churchills Entscheidung, nach dem Fall Frankreichs im Juni 1940 Widerstand zu leisten und den Kampf fortzusetzen. Rückblickend ist diese Entscheidung von einer mythischen Aura umgeben - vermutlich eine der mutigsten (und richtigen) Entscheidungen im Hinblick auf Strategie, die im 20. Jahrhundert auf internationaler Ebene getroffen worden war. Letzten Endes erwies sich Churchills Strategie als erfolgreich, und zwar aufgrund der Entscheidung Hitlers, im Juni 1941 in die Sowjetunion einzufallen und gleich nach Pearl Harbor im Dezember 1941 den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären. Ohne wie die Historiker den Vorteil der Retrospektive zu
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haben, beinhaltete der britische Entschluß zur Fortsetzung des Kampfes im Juni 1940 gleichwohl die eine oder andere eher unsichere Prämisse: Erstens, daß ein großer Konflikt zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion ausbrechen und zweitens, daß Franklin Roosevelt es schaffen würde, die USA mit der allgemeinen Unterstützung durch das amerikanische Volk in den Krieg hineinzuziehen. Churchills Strategie im Sommer 1940 basierte in jeder Hinsicht gleichermaßen auf romantischen Prämissen wie nüchternem, rationalem Kalkül. Zur Verteidigung von Churchills Entscheidung im Sommer 1940 sei jedoch gesagt, daß Strategie niemals nur auf nüchterner, rationaler Entscheidung basieren kann. Gelegentlich muß ein Staatsmann ebenso wie das politische System subjektive Faktoren einbeziehen. In diesem Fall wurde von Churchill im Unterschied zu den Appeasement-Anhängern in den späten dreißiger Jahren erkannt, daß das nationalsozialistische Deutschland eine fundamentale moralische Gefahr für alles, wofür Großbritannien eintrat, darstellte. In seinen großen Reden im Sommer 1940 hob er auf diesen moralischen Unterschied ab, und diese Reden waren es auch, die das Terrain vorbereiteten für den Umschlag in der öffentlichten Meinung Amerikas, von der Roosevelts Politik eines stärkeren US-Engagements dann getragen wurde. Wenn Churchills Entscheidungsfindung auf der Ebene der Strategie hinterfragt werden kann, so hatte die Situation im Hinblick auf Stalins Sowjetunion und Roosevelts USA mit einem rationalen Herangehen an ureigenste nationale Interessen ebenfalls wenig zu tun. Vor dem 22. Juni 1941 hatten im Falle der Sowjetunion die ideologischen Scheuklappen der Stalinschen Marxismusversion eine Einschätzung des nationalsozialistischen Deutschland zur Folge, die mit der Parteiideologie völlig konform ging, für die reale Welt jedoch in hohem Maße belanglos war 1 . Aus der Sicht Stalins (wie aus der überlebender Gesinnungsgenossen) konnte der Nationalsozialismus eine revolutionäre Ideologie per definitionem nicht vertreten; folglich übersah Stalin ab 1930, als die NSDAP als ein bedeutender politischer Faktor in der Weimarer Republik hervortrat, die revolutionäre Dynamik der Hitlerbewegung. Da die Sowjets die Nazis überdies in der Rolle von Marionetten des internationalen Finanzkapitals sahen, schien obendrein die Annahme gerechtfertigt, die Eroberung Westeuropas und seiner industriellen Ressourcen im Mai und Juni 1940 werde die unmittelbaren Bedürfnisse des deutschen Kapitalismus hinreichend befriedigen 2 . Und wie konnte ein guter Kommunist auch die in NS-Schriften enthaltene Akzentuierung von Blut, Boden und Lebensraum ernst nehmen. Das Ergebnis war die Katastrophe im Sommer und Herbst 1941, als Stalins Unfähigkeit zur Analyse der strategischen Lage der Sowjetunion die vollständige Überraschung der Roten Armee und eine Reihe von in der Geschichte vielleicht beispiellosen militärischen Niederlagen zur Folge hatte. Durch die massiven Säuberungen in der Roten Armee in den späten dreißiger Jahren, die genau zu dem Zeitpunkt stattfanden, als sich die internationale Lage zu verschlechtern begann, wurde die Wirkung des Überraschungsangriffs vom 22. Juni 1941 na1
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Zu den ideologischen Scheuklappen der sowjetischen Politik gegenüber NS-Deutschland siehe insbesondere Ulan, Expansion, S. 1 9 9 - 2 7 2 ; auch Weinberg, Germany. Weinberg, W o r l d , S. 164.
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türlich noch verschlimmert. Darüber hinaus stellte der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt einen für Hitlers Erfolge 1940 geradezu wesentlichen Faktor dar. Die Wehrmacht wurde praktisch ohne jede Ablenkung 1941 an die sowjetische Grenze gebracht 3 . Völlig zu Recht beklagte sich Molotov denn auch gegenüber dem deutschen Botschafter am Morgen des Einfalls mit den Worten, das haben wir doch gewiß nicht verdient Zumindest 1944 wurde dann die Verwirklichung der sowjetischen Militärstrategie und Operationsführung im Rahmen von Stalins Strategie ein blendender Erfolg. Doch selbst hier ist die ernste Frage angebracht, inwieweit dies strategisch klug war. In Anbetracht des Ausmaßes an Wehrmacht- und NS-Verbrechen in den besetzten sowjetischen Gebieten mag eine gewisse Vergeltungspolitik unvermeidlich gewesen sein. Die von der Roten Armee gegen die deutsche Bevölkerung in den Ostprovinzen des Reichs entfesselte Wut jedoch garantierte, daß es der Nachkriegs-DDR an jeglicher Legitimationsbasis fehlte. Überdies sorgte das undisziplinierte Verhalten sowjetischer Truppen gegenüber der Bevölkerung selbst in freundschaftlich gesonnenen Gebieten, wie in Jugoslawien5, für eine Atmosphäre des Mißtrauens in ganz Osteuropa. Für die Schaffung eines effektiven bzw. langwährenden Sowjetreiches war das jedenfalls kaum förderlich.. Zugegeben, die sowjetische Strategie triumphierte, zumindest gemessen daran, wie 1945 von Stalin Erfolg definiert wurde. Doch der Preis an Menschenleben - Schätzungen zufolge 27 bis 40 Millionen Tote - und die infolge des Krieges weitgehend verwüsteten Gebiete im europäischen Teil der Sowjetunion - ein Ergebnis vorangegangener strategischer und militärischer Fehler der Sowjetführung - waren kaum das, was als uneingeschränkter Erfolg bezeichnet werden konnte. Was die Vereinigten Staaten anging, so scheint Roosevelt die NS-Gefahr für die europäische Stabilität schon früh während seiner Amtszeit erkannt zu haben 6 . Mit Sicherheit ist ihm der Expansionismus nicht entgangen, der im Mittelpunkt der strategischen Politik Japans nach der Invasion Chinas 1937 und der Bombardierung der „Panay" stand. Eine andere Sache war es für den Präsidenten, die US-Wähler dahin zu bringen, die so rasch sich entwickelnden strategischen Gefahren zu erkennen. Es bedurfte der ganzen politischen und manipulativen Fähigkeiten Roosevelts, die Vereinigten Staaten im Sommer 1940 in Richtung einer aktiven Unterstützung Großbritanniens zu bewegen, zu einem Zeitpunkt also, da er sich um eine - was bisher noch nie dagewesen war - dritte Amtszeit bewarb. Und im Sommer 1941 - Großbritannien befand sich immer noch in einer verzweifelt schwachen Lage und die Sowjetunion am Rande eines Zusam-
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Und mit denen ein beträchtlicher Teil der Rohstoffe, die „Barbarossa" möglich machten, bereitgestellt wurde. Siehe Friedensburg, Kriegslieferungen, S. 3 3 1 - 3 3 8 ; Volkmann, Sowjetunion; neuerdings Schwendemann, Zusammenarbeit. Hilger/Meyer, Allies, S. 336. Siehe Stalins Kommentare zu den Jugoslawen im Hinblick auf die Vergewaltigung von jugoslawischen Frauen durch Rotarmisten, in: Djilas, Wartime, S. 435. Im Sommer 1933 hatte Roosevelt (der während der elterlichen Sommerbesuche Deutsch gelernt hatte), Hitlers Reden im Original gelesen und damit die abweichende Ubersetzung des State Department vermieden. Unterredung mit William Emerson, Direktor der F D R Bibliothek, H y d e Park, N e w Y o r k 1981.
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menbruchs; deutsche Angriffsspitzen drangen hingegen zum Dnepr vor, in die Randgebiete Leningrads und die Ukraine - erneuerte der amerikanische Kongreß die Wehrpflicht in Friedenszeiten nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit. Gleichzeitig organisierte eine beträchtliche Anzahl von Eingezogenen die „Ohio-Bewegung", Akronym für „ Over the Hill in October". Der japanische Angriff auf Pearl Harbor fegte den US-Isolationismus restlos hinweg, zumindest im Hinblick auf das kaiserliche Japan. Hitlers Kriegserklärung an die USA vom 11. Dezember 1941 festigte die Unterstützung der Amerikaner für einen Krieg noch mehr. Sie machte es Roosevelt überdies möglich, die Achsenmächte als eine vereinte Bedrohung darzustellen, was sie so natürlich nicht waren 7 . Die daraus resultierende nationale Einheit im Hinblick auf die Führung eines Krieges schuf eine in der amerikanischen Geschichte einzigartige Situation, die mit der US-Einstellung gegenüber anderen Kriegen kontrastierende. Dieser Krieg fand von von Anfang bis Ende die Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung 8 . Am Ende waren es weniger strategisch kluge Entscheidungen, die die USA in den Krieg führten, als die furchtbaren strategischen Fehler ihrer Gegner. Die Handlungen der Achsenmächte schufen ein von Churchill als „Große Allianz" tituliertes Bündnis, was auf die Sowjetunion bezogen bestenfalls als „unheilige Allianz" bezeichnet werden könnte. Die enge Verbindung zwischen den beiden demokratischen Mächten USA und Großbritanien ermöglichte jedoch die Ausarbeitung einer Strategie, in der sich auch die demokratischen und kapitalistischen Werte im Herzen Europas widerspiegelten. Zwar wurde das Bündnis infolge beträchtlicher Differenzen und Streitigkeiten mancher Prüfung unterzogen, doch gelang es beiden Mächten, eine effektive Strategie auszuarbeiten, die dazu beitrug, das faschistische Italien Mussolinis, das „Dritte Reich" Hitlers und schließlich das kaiserliche Japan zu vernichten. Von Seiten der USMarine ausgeübter Druck wie auch die amerikanische öffentliche Meinung zogen beträchtliche Ressourcen für den Pazifik ab, ungeachtet der „Germany first"-Strategie, doch führte diese Politik nach der Niederlage von NSDeutschland innerhalb von drei Monaten auch zur Niederlage Japans 9 . Zugleich aber sind die zufälligen und unbestimmten Einflüsse hervorzuheben, welche der angloamerikanischen Strategie einen Verlauf gaben, der zum Sieg führte. 1942 und Anfang 1943 drängten amerikanische Strategen auf eine di-
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In der Tat waren Amerikaner und Briten im N o v e m b e r und Anfang D e z e m b e r aufgrund der Entschlüsselung des japanischen Funkverkehrs besser über die japanische Absichten im Bild als die deutsche Regierung. Tatsächlich war der Zweite Weltkrieg der einzige Krieg in der U S - G e s c h i c h t e (abgesehen von dem Scharmützel im G o l f 1991), der von Anfang bis E n d e so große Unterstützung fand. Während des Unabhängigkeits-, des Bürger- und des Ersten Weltkrieges hatte es große Teile der amerikanischen Bevölkerung gegeben, die den Kriegsanstrengungen feindlich gegenüberstanden bzw. sie nicht unterstützten. F ü r die kleinen Kriege Amerikas, den von 1812, den Mexikanischen Krieg, den Korea- und Vietnamkrieg galt dies ebenfalls. Eine Situation, die rein zufallsbedingt war, die U S - A u ß e n p o l i t i k indes in den Stand setzte, in der unmittelbaren Nachkriegsphase eine Position beizubehalten, in der Europa „zuerst" kam, was wiederum bei der Stabilisierung Westeuropas eine bedeutende Rolle spielte.
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rekte Konfrontation mit der Wehrmacht durch eine Landung an der französischen Küste. Da die Briten aber immer noch über das Ubergewicht an Landstreitmacht verfügten, waren sie in der Lage, einer solchen Strategie, die nahezu mit Sicherheit in eine militärische Katastrophe geführt hätte, ihre Zustimmung zu verweigern 10 . Die 1942 auf eine Strategie im Mittelmeerraum hinauslaufende britische Alternative fand bei den US-Militärs so wenig Anklang, daß es einer direkten Order des Präsidenten bedurfte, um sich über die Präferenz der Militärs für eine Verlagerung der amerikanischen strategischen Schlagrichtung auf den Pazifik hinwegzusetzen und ihnen zu befehlen, die Landungen in Nordafrika zu unterstützen 1 1 . Zum Glück für die gemeinsame Sache erwies sich das, was Amerikaner und Briten aus den Erfahrungen im Mittelmeer lernten, von immenser Bedeutung, als sie schließlich im Frühjahr 1944 die Invasion Frankreichs in Angriff nahmen. 1944 war es den Amerikanern dann auch möglich, den Entscheidungsprozeß zu bestimmen, weil die für das Bündnis verfügbaren US-Truppen erheblich vermehrt worden waren. Das Ergebnis war „Overlord" und die Invasion Südfrankreichs 12 , beides Voraussetzungen, um die angloamerikanischen Verbündeten zu einem erfolgreichen Feldzug in das Herz Mitteleuropas zu führen und eine Vormachtstellung in Westeuropa zu errichten, die dann die Grundlage für eine erfolgreiche politisch-strategische Linie bildete, welche schließlich zum Triumph im Kalten Krieg führte. Der Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hing somit in einem hohen Maße sowohl vom Glück, vom Zufall und von den Fehlern der Gegner ab, wie von der überlegenen Klugheit der eigenen Strategen. In der Tat erwies sich, wie in der Geschichte insgesamt, daß die Entwicklung von Strategie ein schwieriges
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Von einigen Autoren w u r d e vehement vorgebracht, eine anglo-amerikanische Landung an der Küste Frankreichs wäre 1943 möglich gewesen, weil die Deutschen nur wenig Truppen in Frankreich stehen hatten, die Widerstand hätten leisten können. W a s bei diesen Argumenten außer acht gelassen wird, ist folgendes: erstens, die politischen Gegebenheiten in den Vereinigten Staaten, die den Einsatz von beträchtlichen Kräften für den Pazifik verlangten; zweitens die Tatsache, daß die Schlacht im Atlantik erst im Mai 1943 gewonnen wurde und es erst dieser entscheidende Sieg (zumindest noch im M ä r z 1943 unvorhersehbar) möglich machte, mit dem substantiellen Aufbau von US-Streitkräften im Vereinigten Königreich zu beginnen; drittens, daß die Luftüberlegenheit selbst über Westfrankreich bis 1944 nicht völlig erreicht werden konnte und viertens, daß die Deutschen immer noch strategisch die Wahl hatten, das Gewicht ihrer Streitkräfte von der Ostzur Westfront zu verlagern, wenn es offensichtlich geworden wäre, daß sie der Möglichkeit einer großen anglo-amerikanischen Landung an Frankreichs Küste 1943 hätten ins Auge sehen müssen. Es ist bemerkenswert, daß sich Churchill während des gesamten Verlaufs des Zweiten Weltkriegs ungeachtet all seiner Auseinandersetzungen mit seinen militärischen Beratern niemals über sie hinwegsetzte, wenn sie seine Position nicht akzeptieren wollten. Eine Reihe von Autoren im englischen Sprachraum haben den britischen Standpunkt vertreten, daß die Landungen in Südfrankreich unnötig gewesen seien und ein Feldzug durch Norditalien nach Osterreich viel mehr gebracht hätte. Solche Argumente lassen die Tatsache außer acht, daß die Eroberung von Marseille und das bis zur französisch-deutschen Grenze führende relativ unbeschädigte Eisenbahn- und Straßennetz sich als Gottesgeschenk für die alliierte Logistik erwies. In der Tat ist es zweifelhaft, ob die Alliierten ohne diese Unterstützung ihre Position an der Westfront im Winter 1944 hätten halten können, in Anbetracht ihrer logistischen Probleme quer durch Zentral- und Westfrankreich wie auch Montgomerys Mißerfolg, bis Dezember 1944 die Scheide zu öffnen und den Hafen von Antwerpen in Gebrauch zu nehmen.
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und komplexes Geschäft ist - vielleicht noch mehr von Reibungen, Unsicherheiten und Ungewißheiten bestimmt, als es militärische Operationen sind. Frei nach Clausewitz erscheint alles in der Strategie einfach, nur ist ihre Ausführung mehr als schwierig. U m die Schwierigkeiten dieses Prozesses im Hinblick auf die Entwicklung der deutschen Strategie zu verstehen, werfen wir am besten einen Blick auf die Faktoren, von denen die Entwicklung und Ausarbeitung der Strategie im „Dritten Reich" beeinflußt wurde.
Die Begleitumstände der deutschen Strategie Es hat unter Historikern eine Tendenz gegeben, der Rolle von Einzelpersonen, seien es Staatsmänner oder Theoretiker, bei der Untersuchung von Entwicklung und Ausführung strategischer Pläne ein zu großes Gewicht einzuräumen 1 3 . An strategischen Prozessen ist indes weitaus mehr als nur die Eigenart individuellen Verhaltens beteiligt. Die Geographie, die Geschichte, der Charakter eines Regimes (Ideologie) wie auch die Form und Kultur militärischer und bürokratischer Entscheidungsinstanzen - all dies trägt zur Entwicklung von Strategie bei 14 . Einzelne Persönlichkeiten finden sich, auch wenn sie Schlüsselelemente in der strategischen Entscheidungsfindung darstellen, zumeist als Gefangene von Umständen wieder, die für sie nicht gänzlich vorhersehbar sind. Daher kann man sich nicht ausschließlich auf Adolf Hitler konzentrieren, will man die NS-Strategie im Zweiten Weltkrieg verstehen; vielmehr muß auch ins Blickfeld genommen werden, welche Einflüsse auf die deutsche strategische Entscheidungsfindung gewirkt haben und wie sich der Prozeß innerhalb der deutschen Führung vollzogen hat. Dieser Abschnitt wird sich daher den Bereichen zuwenden - der Geographie, der Geschichte, dem Charakter des Regimes und der Ideologie - , die sich auf die Entwicklung der Strategie im „Dritten Reich" ausgewirkt haben.
Geschichte Der Einfluß der Geschichte auf das Denken ziviler wie auch militärischer Führer im „Dritten Reich" war immens, auch wenn er nur unbewußt vollzog bzw. durch bewußte Falschdarstellung einzelner Verstorbener verdreht worden war. Die kollektive Erinnerung an die Katastrophe vom 14. Oktober 1806, als Napoleon die preußische Armee an einem einzigen Tag vernichtete, blieb im Un-
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Tatsächlich verleiht allein schon der Titel der beiden in den Vereinigten Staaten bekanntesten Bücher über Strategie Einzelpersonen bei der Erörterung von Strategie eine vorrangige Rolle. Siehe Meade (Hrsg.), Makers, und verbessert sowie erweitert Paret (Hrsg.), Makers. Im Hinblick auf die Untersuchung der deutschen Strategie im Zweiten Weltkrieg beruht dieser Essay auf den Rahmenbedingungen des ursprünglichen Essays in: Murray u.a. (Hrsg.), Making; ebenfalls herangezogen wird Murray, N e t Assessment, sowie Deist, Road.
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terbewußtsein deutscher Offiziere unauslöschlich eingeprägt 15 . Die Akzentuierung der „operativen Notwendigkeit" als das Wesentliche von Strategie bestimmte entscheidend die Mentalität des preußisch-deutschen Offizierskorps, war in hohem Maße das Produkt der Erinnerung an diese militärische Katastrophe, die den preußischen Staat beinahe vernichtet hatte. Gleichermaßen wichtig für die Entwicklung der deutschen Sicht von Strategie war der Konflikt zwischen Bismarck und Moltke im Hinblick auf Preußens Strategie und das Ausmaß, in dem sie die Führung militärischer Operationen beeinflussen sollte. Moltke zufolge sollte die Diplomatie (Strategie) im Frieden das Sagen haben, im Krieg hingegen in hohem Maße das Militär 16 . Meist waren Bismarcks Argumente stärker, doch um einem beträchtlichen Preis für die spätere deutsche Geschichte. Ein Historiker merkte dazu einmal an: „Die Siege der Armee 1866 und 1870 haben die preußisch-deutsche Politik und Gesellschaft derart aus dem Gleichgewicht gebracht, daß selbst Bismarcks zivile Nachfolger zu der Ansicht gelangten, das deutsche Schwert sei das einzige Heilmittel für strategische Hindernisse. Bismarcks Erfolg stärkte den bürokratischen Absolutismus selbst gegenüber dem nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Reichstag. Das Deutschland, das er hinterließ, verfügte weder über die zivile Kontrolle noch über die Koordination der Teilstreitkräfte, und es besaß auch keine Mechanismen, Strategie anders zu entwickeln als ein Generalstab, dessen kollektive Weisheit nach 1912 auf das Credo hinauslief .Krieg je eher, desto besser' 17 . Ein Teil dieser Unfähigkeit, Krieg in seiner politischen Komplexität einzuschätzen, lag in der Erziehung, mit der deutsche Offiziere für die Ausübung ihres Berufs vorbereitet wurden. In diesem Zusammenhang schrieb der Panzergeneral und frühere Militärattache in London Leo Geyr von Schweppenburg nach dem Krieg über seine Generalstabsausbildung an Liddell Hart wie folgt: „Ich habe niemals Clausewitz, Delbrück oder Haushofer gelesen. Clausewitz galt in unserem Generalstab als ein Theoretiker, den Professoren lesen sollten" 18 . Das führte schließlich dazu, daß das Militär die Führung des Ersten Weltkriegs von Anfang bis fast zum Ende bestimmte, auch wenn es ihm gelang, im Oktober und November 1918 rechtzeitig abzuspringen, kurz bevor das Bismarcksche Reich unterging, ein Fehlschlag, der zum großen Teil auf Mißerfolge auf strategischer und politischer Ebene zurückzuführen war. Der Schlieffenplan mit seiner Akzentuierung der „operativen Notwendigkeit", einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, gewährleistete, daß Großbritannien seinen Verpflichtun-
Als deutlichste Beschreibung der Katastrophe von Jena und Auerstedt siehe Chandler, Campaigns; zur Erholung der preußischen Armee nach der Niederlage siehe insbesondere Parets brisante Studien: Clausewitz; Yorck. 16 „Der Kriegsverlauf wird vorwiegend von militärischen Erwägungen bestimmt, wohingegen die Ausnützung militärischer Erfolge oder Mißerfolge den Bereich der Diplomatie darstellt... [im Krieg] verdienen politische Elemente nur insoweit Berücksichtigung, als damit nicht Forderungen erhoben werden, die militärisch untauglich oder unmöglich sind." Zit. n. Ritter, Sword, S. 194 f. 17 Knox, Conclusion, S. 617. " Brief von Leo Geyr von Schweppenburg an B.H. Liddell Hart vom 3. 8. 1949 (Übersetzung), Liddell Hart Papers, 9/24/61, Liddell Hart Archives, King's College, London.
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gen in einem Höchstmaß nachkommen konnte. Die Einstellung gegenüber der 100000 Mann starken britischen Armee - der „erbärmlichen kleinen Armee", um den herrlichen Ausspruch des Kaisers zu zitieren - als einer lediglich kleinen Streitmacht, die von der deutschen Armee zusammen mit der Vernichtung der französischen Armee hinweggefegt werden würde, sorgte dafür, daß schließlich das volle Gewicht des Vereinigten Königreichs und schließlich der Vereinigten Staaten in den Kampf gegen das Reich geworfen wurde. Die deutsche strategische Entscheidungsfindung lernte nichts aus diesem Fehler; statt dessen forcierte die Kriegsmarine ihre Forderung nach einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg von 1915 bis zum endgültigen Erfolg 1917 - eine Entscheidung, der Hindenburg und Ludendorff fast bedenkenlos zustimmten 19 . Im Ergebnis traten die USA im Frühjahr 1917 in den Krieg ein und besiegelten damit das Schicksal Deutschlands. Nach dem Zusammenbruch des Bismarckschen Staates wurde das strategische Denken in Deutschland von zwei Faktoren beeinflußt. Auf der einen Seite schuf die massive Desinformationskampagne einflußreicher politischer Kräfte eine Reihe von Mythen, an die nicht nur die NS-Führung, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Angehörigen des Offizierskorps sowie viele der Gebildeteren in der deutschen Gesellschaft vehement glaubten 20 : Die Dolchstoßlegende - die Erklärung für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg als Ergebnis einer ungeschlagenen und ungebeugten Armee, der von Seiten marxistischer und jüdischer Elemente ein Dolchstoß in den Rücken versetzt worden war - führte dazu, daß deutsche Führungseliten die entscheidende wirtschaftliche und militärische Rolle der USA im Spätsommer und Herbst 1918, die den entscheidenden Ausschlag gegen das Reich gab, nicht begriffen 21 . Vor dem Hintergrund dieses in den zwanziger Jahren tief in der deutschen Psyche verankerten Mythos war es für deutsche Führer relativ einfach, die USA als einen scheinbar wenig bedeutenden Faktor in der strategischen Gleichung weitgehend außer acht zu lassen. Für allzu viele Armee- und Marineoffiziere bot diese schlichte Desinformation ein total verzerrtes Bild von Strategie und Politik. Dieses sowohl im Offizierkorps als auch in der deutschen Gesellschaft damals präsente Bild hilft, die Bereitschaft zu erklären, ein Regime zu akzeptieren, das trotz seiner „pöbelhaften" Ursprünge die nationale Einheit - gar eine „Volksgemeinschaft" zu versprechen schien, Voraussetzung dafür, die Belastungen eines Totalen Krieg im 20. Jahrhundert bestehen zu können 22 .
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Zur Diskussion über Deutschlands Entscheidung, einen uneingeschränkten U-BootKrieg zu führen, siehe Stegemann, Marinepolitik, S. 71 ff. Als besten Beitrag hierzu siehe Herwig, Clio. Dieser Mythos sollte den deutschen strategischen Entscheidungsprozeß stark beeinflussen, als infolge des japanischen Uberfalls auf Pearl Harbor Hitler mit der Frage konfrontiert wurde, ob Deutschland dem Beispiel folgen sollte. Da Hitler, wie seine Militärberater, die Niederlage von 1 9 1 8 im Sinne der Dolchstoßlegende interpretierte und die Rolle der amerikanischen Wirtschafts- und Militärmacht bei dieser Niederlage überging, war es einfach, dieses Potential 1941 außer acht zu lassen. Ausführlicher dazu siehe Weinberg, Hitler; siehe auch den Beitrag Weinberg in diesem Band. A m Schluß erfüllte das NS-Regime sein Versprechen im Hinblick auf die nationale Einheit bis zum bitteren Ende. Es gab keine Novemberrevolution, nur den traurigen und dilettantischen Putsch v o m Juli 1944. A r m e e und Volk taten ihre Pflicht, während in der
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Geographie Alle, die sich in Deutschland mit der Ausarbeitung einer Strategie für den Zweiten Weltkrieg befaßten, mußten geographische Gegebenheiten berücksichtigen. In einigen Fällen waren das für das deutsche Militär vorteilhaft. Zum Beispiel entwickelte die Luftwaffenführung aufgrund der Verwundbarkeit der eigenen Landesgrenzen weitaus realistischere Führungs- und Einsatzgrundsätze als dies bei britischen und amerikanischen Fliegern der Fall war. In der deutschen Luftkriegstheorie wurden neben strategischen Bombardierungen auch streitkraftübergreifende Aufträge wie Luftnahunterstützung und Abriegelung durchaus anerkannt, wohingegen britische und amerikanische Flieger von einer unabhängigen Luftstreitmacht träumten und außer strategischen Bombardierungen jeden anderen Auftrag ablehnten 23 . Allerdings scheint Deutschlands geographische Lage auf die Gedankengänge derer, die die Seestrategie entwarfen, wenig Wirkung ausgeübt zu haben. Holger Herwig dazu: „Seemacht, kurzum, besteht aus Flotte und Position; das eine ist ohne das andere sinnlos. Tirpitz hat Alfred Thayer Mahans ungeschriebene Prämisse, derzufolge ein uneingeschränkter Zugang zu den Weltmeeren die entscheidende Grundvoraussetzung für eine Seemacht ist, entweder ignoriert oder nicht begriffen. Wenn man davon ausgeht, daß Großbritannien Deutschlands potentieller Hauptgegner war, so hätte ein kurzer Blick auf die Landkarte das Offensichtliche bestätigt; die Briten konnten die auf Kiel oder Wilhelmshaven an der Nordsee gestützte deutsche Flotte einschließen, wenn sie die Straße von Dover und das Gewässer zwischen Schottland und Norwegen hätten sperren wollen. Dessenungeachtet hat Tirpitz keine Alternativstrategie entwickelt" 24 . Von allen Beschränkungen, denen sich deutsche Strategen in beiden Weltkriegen ausgesetzt sahen, stellte die geographische Lage das größte Hindernis dar. Innerhalb Zentraleuropas hatten die Deutschen, selbst die fanatischsten Nazis, eine gewisse Ahnung von den Stärken und Schwächen ihrer potentiellen Gegner. Jenseits aber des kontinentalen Zentrums tappten sie buchstäblich im Dunkeln. Die Weite des russischen Raumes flößte schließlich vielen, die an der Ostfront kämpften, Angst und Schrecken ein; aber es war die Ignoranz im Hinblick auf die Vereinigten Staaten und das Britische Empire, die den Deutschen am teuersten zu stehen kam. Nur wenige hatten Nordamerika bereist und von daher eine Vorstellung von dem ungeheuren ökonomischen Potential der USWirtschaft gewonnen. Aber es gab allzu viele Deutsche, die mit Herman Goring darin übereinstimmten, daß die Amerikaner nur Radios und Kühlschränke bauen könnten 25 . Ebenfalls von Bedeutung war die Tatsache, daß die Dimensio-
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Wehrmacht noch nach der Kapitulation Soldaten und Matrosen wegen politischer (d. h. sozialdemokratischer) Aktivitäten erschosssen wurden. Siehe insbesondere Murray, Luftwaffe. Ironischerweise ist das Handbuch f ü r Führungsund Einsatzgrundsätze der Luftwaffe, „Die Luftkriegführung", Berlin 1936, immer noch das beste seines Fachs. Siehe Murray, Tale. Herwig, Dynamics, S. 90 (Übersetzung). Lee, Goering, S. 58.
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nen eines vom Nordkap bis nach Ägypten und vom Kaukasus bis nach Großbritannien sich ausdehnenden Weltkrieges einen räumlichen Faktor darstellten, den die Logistik des deutschen Militärs - noch nie eine Stärke ihrer Kriegsmaschinerie - niemals bewältigen konnte. Es waren nicht nur NS-Führer, die von Weltgeographie wenig Ahnung besaßen. Ungeachtet der Tatsache, daß die deutsche Kriegsmarine eine solch zweifelhafte Rolle dabei gespielt hatte, die USA in den Ersten Weltkrieg hineinzuziehen und damit die Niederlage herbeizuführen, drängte Großadmiral Raeder, unterstützt von Admiral Karl Dönitz, Hitler im Sommer und Herbst 1941 dazu, den USA den Krieg zu erklären - mit dem gleichen Ergebnis 26 . 1917 wie 1941 erwies sich die Einschätzung des notwendigen Aufwands für einen erfolgreichen U-Bootkrieg gegen die alliierte Schiffahrt als Fehlprognose. Das Schwergewicht, das Dönitz auf den Einsatz des 750 Tonnen U-Boots vom Typ VII legte, zeigte, daß ein U-Bootkrieg eigentlich nur im Nahbereich gegen den britischen Handel auf den westlichen Zufahrtswegen zum Vereinigten Königreich vorgesehen war und nicht in den Weiten des Atlantik - also eine Widerspiegelung der Massierung dort, wo der U-Bootkrieg 1918 geendet hatte, und kein Weiterdenken, was ein künftiger Krieg mit sich bringen konnte. Folglich mußten die Deutschen, als sich der U-Bootkrieg nach der „glücklichen Phase" vom Herbst 1940 in die Weite des Atlantik ausdehnte, den Krieg mit Booten führen, denen es an Reichweite, Kampfkraft und Fürsorge für die Besatzung mangelte 27 . Einen Hinweis auf das Ausmaß deutscher Ignoranz im Hinblick auf die größeren geographischen Dimensionen des Krieges mag folgende Begebenheit in Hitlers Hauptquartier im Dezember 1941 liefern, als Informationen über den japanischen Erfolg bei Pearl Harbor eintrafen. Offensichtlich niedergedrückt durch die alarmierenden Nachrichten über den Stand der Kämpfe im Osten wie auch über Rommels Schwierigkeiten in Nordafrika, war der „Führer" über den japanischen Erfolg geradezu entzückt. Als sein militärisches Gefolge einen Trinkspruch auf den Verbündeten ausbrachte, fragte Hitler die versammelten Offiziere, wo denn Pearl Harbor liege: Keiner wußte es28. Für Menschen, die sich vorgenommen hatten, die Welt zu erobern, eine wahrlich seltsame Begebenheit.
Der Charakter des Regimes Die ideologischen Einflüsse waren für die Entwicklung der deutschen Strategie im Zweiten Weltkrieg der vielleicht wichtigste Faktor. Bis in die späten siebziger Jahre hinein gab es unter angloamerikanischen Historikern die Tendenz, die
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Siehe insbesondere Herwig, Politics. Fehlende Klimaanlagen, mit denen amerikanische U - B o o t e im Pazifik ausgestattet waren, machten die Einsatzbedingungen f ü r die U - B o o t e in der Karibik und im Golf von Mexiko zu einem Alptraum. Zu einer klaren Einschätzung der Vorbereitungen der deutschen Marine f ü r einen U-Bootkrieg in den dreißiger Jahren siehe Herwig, Innovation. Boog, Command, S. 129.
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Ideologie als wichtigen Faktor in der Kriegführung außer acht zu lassen. Der Einfluß grundlegender Arbeiten deutscher Historiker machte jedoch schließlich deutlich, daß, um zumindest die deutsche Kriegführung auf jeder Stufe nachvollziehen zu können, ein Verständnis der Ideologie von essentieller Bedeutung ist 29 . In der Tat gab es eine wachsende Annäherung zwischen Regime und Militär, und zwar in dem Maße, wie Hitlers Erfolge in den dreißiger Jahren an Stoßkraft gewannen und all jene hinter Schloß und Riegel gebracht oder aus dem Wege geschafft worden waren, die offen am Regime zweifelten. Gleich zu Beginn seiner Machtübernahme hatte Hitler gegenüber den Spitzen der Reichswehr klargestellt, daß er außerordentliche Ziele für das neue Regime verfolge. Sie wurden von ihm auch später immer wiederholt und liefen darauf hinaus, Deutschland möglichst rasch wieder in einen Krieg zu führen, „Lebensraum" zu erobern und die Herrschaft der germanischen „Herrenrasse" zu sichern. Vor allem war Hitler klar, daß zur Erreichung seiner ideologischen Ziele ein Krieg vonnöten war, damit eine europäische Ordnung, deren Schaffung mehr als tausend Jahre gebraucht hatte, zerstört werden konnte. Aber nicht nur für die Eroberungspolitik nach außen war Krieg die notwendige Voraussetzung. Hitler zielte darauf ab, diese Erfolge als Legitimierung zu nutzen, um damit die innere Revolution zu vollenden. In dem Maße, wie sich die Geschichte des „Dritten Reichs" vor uns ausbreitet, ist eine wachsende Akzeptanz der ideologischen Prämissen des Regimes zu registrieren. Im Falle des Militärs besiegelten die Erfolge von 1940 endgültig sogar die Zustimmung von Seiten der konservativen Heeresführung. Die Ironie, die in dieser wachsenden Akzeptanz der Hitlerschen Weltanschauung liegt, ist darin zu erkennen, daß die nationalsozialistischen Erfolge in den dreißiger Jahren mit NS-Ideologie wenig zu tun hatten, dafür mehr mit solider strategischer Einschätzung 3 0 : Erstens spielte Hitlers intuitive - und richtige Uberzeugung, daß die Führung des Westens damals nicht bereit war, einen militärischen Konflikt zu riskieren, eine wesentliche Rolle. Zweitens machte Hitler, als er 1938 die Konfrontation im Hinblick auf die Tschechoslowakei beinahe zu einem Krieg eskalieren ließ, im letzten Moment einen Rückzieher eine Entscheidung, die er bis zum Schluß bereute, die das Reich aber vor einer schwierigen strategischen Lage bewahrte 3 1 . Und drittens führte die militärische Kompetenz der deutschen Armee, die aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs eine realistische Doktrin der verbundenen Waffen entwickelt hatte, zu dem überwältigenden Sieg im Westfeldzug von 1940 32 . Damit faßte aber zugleich die ideologische Überzeugung von der vermeintlichen deutschen Über-
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Unter den vielen Arbeiten siehe insbesondere Jäckel, Weltanschauung; Messerschmidt, Wehrmacht (1969); Deist u.a., Reich, 1; Knox, Conquest. Einer der Hauptgründe, warum einer Reihe von britischen Historikern von A. J. P. Taylor bis John Charmley die Rolle der Ideologie in der NS-Politik zu einem großen Teil entgangen ist. Zur Diskussion der militärischen Faktoren im Zusammenhang mit der tschechischen Krise im Herbst 1938 siehe Murray, Change, Kap. VII. Zur Entwicklung der Doktrin der verbundenen W a f f e n und ihrem Verhältnis zur Entwicklung der deutschen Panzerkriegführung siehe Murray, Warfare.
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legenheit sogar in der strategischen Analyse im Generalstab und in der höheren Armeeführung Fuß. Die Resultate der ideologischen Einflüsse traten in ihrer Heimtücke bei der Planung von „Barbarossa" klar zu tage. Im militärischen Bereich wurde die angebliche Überlegenheit der deutschen Soldaten über ihre slawischen, wie man meinte, der Spezies Untermensch angehörenden Gegner generell akzeptiert. So war selbst ein derartig gebildeter und konservativer Soldat wie Günther Blumentritt 1941 in der Lage zu behaupten: „Die Geschichte aller russischen Kriege zeigt, daß der Russe als Kämpfer Analphabet und Halbasiate anders denkt und fühlt" 3 3 . General Erich Hoepner, der später wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung vom 20. Juli hingerichtet wurde, gab vor den Soldaten der Panzergruppe 4 folgenden Kommentar von sich: „Dieser Kampf muß die Zertrümmerung des heutigen Rußland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden . . . Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems" 3 4 . Es war dieser ganz auf ideologischer Uberzeugung basierende Ausrottungskrieg gegen die sowjetischen Völker, der den Kitt lieferte, um das Stalinsche Regime zusammenzuhalten. Damit wurden alle Chancen einer politischer Kriegführung, mit der die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg im Osten erfolgreich gewesen war, zerstört. Die ideologischen Vorstellungen einer rassischen Überlegenheit ermöglichten zugleich den größten Triumph der allierten Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg. Daß es ihnen gelang, den Enigma-Code zu knakken, beeinträchtigte die gesamten deutschen Anstrengungen gegenüber den angloamerikanischen Mächten - von der Schlacht im Atlantik bis zur Combined Bomber Offensive und den Kämpfen im Westen 1944 und 1945 erheblich 3 5 . Das war größtenteils nur deshalb möglich, weil die Deutschen in ihrer Überheblichkeit nicht glaubten konnten, daß die Gegner Enigma möglicherweise auf Dauer gebrochen haben könnten 3 6 . Und in der Hauptsache war es „Ultra" - die aus Enigma entschlüsselten Nachrichten - , das auf allen Ebenen, von der strategischen bis zur taktischen, auf die alliierte Kriegführung einwirkte.
Systematische strategische Bewertung Man staunt im Falle NS-Deutschlands über das nahezu vollständige Fehlen einer systematischen und umfassenden Bewertung bei der Ausarbeitung der Strategie. Hier liegt der größte Unterschied zwischen der deutschen Herangehensweise sowie derjenigen von Briten und später der Amerikaner, die auf der
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Zit. n. Reinhardt, Wende, S. 21. Zit. n. Förster, Unternehmen, S. 446. Z u r sowjetischen Täuschung siehe Glantz, Deception; zu den alliierten Geheimdienstanstrengungen siehe unter anderem Hinsley, Intelligence; Beesley, Intelligence; Bennett, Ultra. Dazu siehe insbesondere Welchman, Story.
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Casablanca-Konferenz im Januar 1943 erfuhren, wie wichtig eine systematische Analyse für die Lösung strategischer Probleme ist. Die Briten hatten mit der Bildung des Committee of Imperial Defense den Weg gewiesen. Diese Kommission versuchte mit einigem Erfolg, militärische, politische und wirtschaftliche Faktoren zusammenhängend innerhalb eines strategischen Rahmens zu integrieren. Obgleich sie während des Ersten Weltkriegs an Bedeutung verloren hatte, wurde sie vom vorletzten Sekretär, Maurice Hankey, zu neuem Leben erweckt; Hankey schuf darüber hinaus eine Reihe anderer Kommissionen wie die Chiefs of Staff, um die strategischen Dilemmata, mit denen sich das Britische Empire in der Zwischenkriegszeit konfrontiert sah, einschätzen zu können 37 . Ungeachtet seiner Schwächen gestattete das methodische Vorgehen der Briten bei der strategischen Bewertung, insbesondere unter Churchills fähiger Führung, die sorgfältige und systematische Untersuchung aller Möglichkeiten und Handlungsalternativen. Auf deutscher Seite gab es nichts Vergleichbares. Im übrigen, wäre in der Weimarer Republik eine strategische Bewertung solcher Art entwickelt worden, hätte Hitler zweifellos alles in seiner Macht Stehende getan, um diese nüchterne Systematik auseinanderzunehmen. Der entscheidende Punkt dabei aber ist, daß es mit Ausnahme von Wilhelm Groeners Amtszeit als Reichswehrminister in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren weder im Wilhelminischen Reich noch in der Weimarer Republik Beispiele für eine bürokratische und systematische Bewertungsmethode gegeben hat. In der Anfangszeit des „Dritten Reichs" versuchte Hitlers erster Reichswehr(und späterer Kriegs-)minister General Werner von Blomberg mit Unterstützung seines wichtigsten militärischen Gehilfen Walter von Reichenau die deutsche strategische Planung und Kontrolle im eigenen Ministerium zu konzentrieren. Sie stießen auf die unbeugsame Opposition der Wehrmachtteile. Das Heer hatte keinerlei Absicht, dem Kriegsministerium zu gestatten, sich in etwas einzumischen, was es als sein Monopol betrachtete 38 . Verweigerte schon die Heeresführung eine Zusammenarbeit, so war die Situation zwischen Kriegsministerium und der jüngsten Teilstreitkraft noch gespannter. Hermann Göring war als Oberbefehlshaber der Luftwaffe nicht nur Blombergs Untergebener, er war als Reichsminister der Luftfahrt Blomberg auch gleichgeordnet. Kein Wunder, daß die deutsche Marine, einer langen Tradition folgend, wenig Interesse bekundete, in einem größeren strategischen Rahmen mitzuwirken. Das Ergebnis vor und während des Krieges war nach den Worten des Abteilungschefs im O K W Walter Warlimont „ein verhängnisvolles Vakuum" 3 9 . Warlimont hatte lediglich den Stand der Dinge beim deutschen Militär beschrieben. Dagegen hat
Zur Beurteilung dieser Systematik siehe Gooch, Titan; Murray, Collapse. Siehe in diesem Zusammenhang das Schreiben von Erich von Manstein an Beck auf der Höhe der Sudetenkrise, in dem Manstein ausführte, daß es die Armee unter keinen U m ständen zulassen sollte, daß das O K W bei der Ausarbeitung der deutschen Strategie eine dominierende Position erlangte. Ihm zufolge sollte dies die Domäne der Armee bleiben. Schreiben Mansteins, Kommandeur der 18. Division, 21. 7. 1938, an Beck, B A - M A , Ν 28/3. " Warlimont, Headquarters, S. 54.
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es unter den Briten zwischen allen Teilen der Regierung, zivilen wie militärischen, umfassende Abstimmung und Zusammenarbeit gegeben. Dieser eklatante Mangel an strategischer Koordination war freilich sehr nach Hitlers Geschmack. Zu Beginn der Wiederaufrüstung, auf dem Höhepunkt der Depression, gab er den drei Wehrmachtsteilen carte blanche und wies sie an, sich an die Arbeit zu machen. Das Ergebnis waren drei klotzige Aufrüstungsprogramme ohne jegliches zusammenhängende strategische Konzept bzw. ohne inneren Zusammenhang. Und es gab auch kaum Bemühungen, auf Alternativen hinzuwirken unter Berücksichtigung dessen, was die deutsche Wirtschaft in Anbetracht der Devisen- und Rohstoffknappheit realistischerweise leisten konnte. Solch allgemeiner Widerwillen, ein verbindliches Konzept zu entwerfen, war wesentlicher Bestandteil von Hitlers Haltung gegenüber strategischen Problemen. So befahl er 1939 eine fünffache Ausweitung der Luftwaffe, eine Größenordnung, bei der diese Streitmacht 85 Prozent der Weltvorräte an Flugbenzin verbraucht und Kosten in Höhe der gesamten deutschen Verteidigungsausgaben von 1933 bis 1939 verursacht hätte. Wie Deutschland solche Erdölimporte hätte bezahlen bzw. erwerben sollen, war natürlich ebenfalls Nebensache. Die Reaktion des Chefs des Generalstabes der Luftwaffe, Hans Jeschonnek, ist ein interessanter Hinweis darauf, wie innerhalb der obersten Militärführung eine profunde Bewertung außer Kraft gesetzt worden war. Jeschonnek gegenüber denen, die er als „Kleingläubige" in seinem Stab einschätzte: „Meine Herren, aus meiner Sicht ist es unsere Pflicht, den Führer zu unterstützen und nicht gegen ihn zu arbeiten" 40 . Der Kernpunkt hierbei ist folgender: Sowohl vom Systematischen als auch von der individuellen Präferenz her waren die Deutschen meistens unfähig, KostenNutzen-Analysen zu erstellen - ein wesentlicher Punkt, wenn in einem Umfeld, in dem von Natur aus Knappheit herrscht, über Ressourcenzuteilung für Rüstungsproduktion entschieden werden muß; erwähnenswert dabei ist, daß die Amerikaner sich sehr gut darauf verstanden, solche Entscheidungen zu treffen. Gerhard Weinberg hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der ganze U-Bootkrieg ein fataler strategischer Fehler gewesen ist, einer, der das „Dritte Reich" viel mehr gekostet hat - vor allem im Hinblick auf die Umdisponierung von Material und Anstrengungen - , als der anderen Seite an Verlusten zugefügt werden konnte 41 . Der allerbeste Hinweis aber auf Deutschlands Unfähigkeit, Kosten gegenüber der potentiellen Wirksamkeit von Waffensystemen abzuwägen, kam mit dem V 2-Programm. Es zielte darauf ab, einen Gefechtskopf mit einer Tonne Sprengstoff über eine Entfernung von weniger als 500 Kilometern bis nach Südengland zu transportieren. Größere Fähigkeiten waren zwar von den Wissenschaftlern theoretisch skizziert, spielten aber für den aktuellen Krieg, d. h. für das Uberleben des NS-Regimes, erkennbar keine Rolle. Dafür
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Zit. n. Homze, Luftwaffe, S. 223 f. (Übersetzung). In diesem Zusammenhang kann man anführen, daß sich die U S A ohne die U-Booterfolge von 1940 und 1941 niemals auf ihren massiven Handelsschiffbau eingelassen hätten, mit dem die von den Deutschen versenkten alten Schiffe nicht nur durch neue ersetzt, sondern 1944 und 1945 so viele Schiffe produziert wurden, daß die U S A ihre militärische und wirtschaftliche Macht sowohl i m Atlantik, als auch im Pazifik zur Geltung bringen konnten.
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investierte Hitler ein Drittel dessen, was die USA für das Manhattan-Projekt ausgaben42. Nach Schätzungen des Strategie Bombing Survey hat das V 2-Programm Ressourcen aufgebraucht, die einer Produktion von 24 000 Kampfflugzeugen entsprachen. Es muß daran erinnert werden, daß die ursprüngliche Konzeption des Raketenprogramms nur darauf zielte, das Äquivalent eines wirklich großen Artilleriegeschosses zu produzieren 43 - also keine kriegsentscheidende strategische Waffe. Es überrascht nicht, daß die unkoordinierte Wiederaufrüstung 1937 eine verzweifelte wirtschaftliche Situation geschaffen hatte, die Hitler zum Handeln veranlaßte, lang bevor seine Militärs dazu bereit waren. Aber wie er 1938 sagte, bestand die Kernfrage nicht darin, wie gut die deutsche Wehrmacht im Augenblick für einen Krieg vorbereitet war, sondern wie das Verhältnis zwischen den deutschen Möglichkeiten und denen seiner Feinde aussah. Die Auseinandersetzung zwischen Hitler und dem Militär über seine Politik im Sommer 1938 ist wahrlich aufschlußreich; sie zeigte ganz deutlich das Fehlen jeglicher Bewertungsmethode auf strategischer Ebene. Die Last der Argumentation gegen Hitlers provokante und gefährliche Politik, die eine militärische Konfrontation mit den Tschechen suchte, fiel weitgehend auf den Chef des Generalstabs des Heeres44. Ab Mai schrieb Beck eine Reihe von wichtigen Denkschriften, in denen er auf die Schwachpunkte in der militärischen, strategischen und politischen Lage hinwies. Wie sie ausgearbeitet waren, ist in unserem Zusammenhang wichtiger als die Frage, was sie aussagten 45 . Becks Memoranden waren zunächst einmal das gedankliche Ergebnis eines einzelnen, denen, auch wenn es sich um den Generalstabschef handelte, letztlich das volle institutionelle Gewicht fehlte. Was die Einsicht in die strategische und militärische Lage betraf, so waren Becks Schriften allem, was die britischen Stabschefs in jenem Frühjahr und Sommer produzierten, bei weitem überlegen; allerdings hatten sie nichts von der komplexen wirtschaftlichen und strategischen Differenziertheit der britischen Ansätze. So ist es kein Wunder, daß Becks Argumente innerhalb des Offizierskorps auf beträchtliche Skepsis stießen, die infolge der von Hitler verursachten Eskalation der Lage und des Unvermögens der Westmächte, darauf zu reagieren, nur größer wurde. Nur einige wenige Generale waren bereits durch und
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Neufeld, Rocket, S. 52. Ebd., S. 272 f.; U.S. Strategie Bombing Survey, V - W e a p o n s (Crossbow) Campaign, Bericht Nr. 60, Washington, D C , January 1947. Es gab eine Reihe weiterer Memoranden, die von einzelnen, über Deutschlands strategische Perspektiven beunruhigten Personen wie dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, sowie Admiral Guse und Kapitän Heye v o n der Seekriegsleitung ausgearbeitet w o r d e n waren, aber keines davon wies die geistige Differenziertheit von Becks Bemühungen auf. Zu Weizsäckers Versuch siehe A D AP, D, Bd. II, Nr. 259, Memorandum vom 2 0 . 6 . 1938. Zu den Bemühungen der Marine siehe Kapitän Heye, Beurteilung der Lage Deutschland-Tschechei, Juli 1938, sowie Kommentare Admiral Guse vom 17. 7. 1938, B A - M A , Κ 10-2/6. In der Tat kam Beck, der als Einzelperson schrieb, der Sache, d. h. der tatsächlichen militärischen Lage viel näher als die sorgfältig ausgearbeiteten und begründeten Studien, die der britischen Systematik bei der strategischen Bewertung folgten. Zum Vergleich siehe Murray, Change, S. 1 5 7 - 1 6 2 , 1 7 4 - 1 7 7 .
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durch Nazis: In seinem Tagebuch notierte Jodl, daß viele höhere Offiziere ganz in den Traditionen der alten Armee aufgingen und ihnen die Kraft des Herzens fehlte, um an das „Genie des Führers" zu glauben 46 . In diesem Zusammenhang sprudelte es nach einem Kriegsspiel im Frühjahr 1938 aus dem bald zum Chef des Generalstabes der Luftwaffe beförderten Hans Jeschonnek heraus: Der Blinde werde sehen, sobald es Beck nur wolle. Dreißig Tage für die Besiegung jener lächerlichen Hussiten! Als ob da nicht die Luftwaffe wäre! Schlieffen habe die Militärtechnik um 20 Jahre zurückgesetzt, und an der Marne habe man dafür den Preis bezahlen müssen. Für Beck seien unsere Geschwader nur ein lästiger Anhang. Aber alle würden bald die erstaunlichsten Dinge erleben 47 . Nachdem Daladier und Chamberlain die Tschechoslowakei aufgegeben hatten, war die letzte ernsthafte Auseinandersetzung über Strategie im „Dritten Reich" beendet. Da es keine systematische Strategiebewertung gab, konnten nur noch persönliche Meinungen geäußert werden. Es sollte zwar manchen erheblichen Dissens zwischen dem „Führer" und seinen Generalen geben, doch betraf das nur Teilaspekte strategischer Fragen. So hatte die große Auseinandersetzung im Herbst 1939 allein mit der Ansicht der Heeresführung zu tun, daß die Truppen noch nicht für eine Offensive gegen die Westmächte gerüstet waren, und nicht damit, ob es überhaupt sinnvoll sei, einen solchen Feldzug zu beginnen. Es ging strikt um operative Belange; 1943 wurde zwischen Hitler und seinen Generalen über taktische Fragen gestritten - Strategie fehlte immer in der Gleichung.
Die Entwicklung der deutschen Strategie Bei einer vernünftigen Bewertung hätte die deutsche Führung selbstverständlich zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Idee eines globalen oder auch nur kontinentalen Krieges illusorisch war. Vor dem Hintergrund seiner weitgesteckten Ziele war Hitler allerdings fest davon überzeugt, daß ein größerer Krieg unvermeidlich sein würde. Seine Aufgabe, wie er sie in der Anfangszeit des Regimes sah, bestand darin, den politischen und psychologischen Boden zu bestellen, damit sich das Militär allen Bedenken zum Trotz auf den unvermeidlichen Konflikt vorbereitete. Von Anfang an ging Hitler mit seinen außen- und militärpolitischen Entscheidungen erhebliche Risiken ein 48 . 1936 war ein erstes kritisches Jahr, und Hitler zeigte sich erstaunt über die Nervosität der Generale angesichts der riskanten Aktion zur Remilitarisierung des Rheinlands. Der Diktator setzte daraufhin einen Prozeß in Gang, in dessen Folge das kollektive Urteil der höheren Truppenführung immer weniger galt. Die höchsten Repräsentanten der Wehrmacht blieben nicht im Unklaren, worauf Hitlers radikales Aufrüstungsprogramm zusteuerte. Der Chef des Allge-
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Tagebuch Jodl, Eintragung für den 10. 8. 1938, in: IMT, 28, Nr. 1780-PS, S. 374. Taylor, Munich, S. 684. Wie er gegenüber der höheren Militärführung im Februar 1933 sagte, würden die Franzosen, wenn ihre Führung überhaupt über Schneid verfügte, das Reich unverzüglich angreifen, solange es noch schwach sei. Siehe Aufz. Liebmanns, 3. 2. 1933, in: Vogelsang (Bearb.), Dokumente, S. 434/435.
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meinen Heeresamtes, Generalmajor Fritz Fromm, forderte den Oberbefehlshaber des Heeres, General Werner von Fritsch, dazu auf zu klären, ob die Führung die „feste Absicht" habe, militärische Gewalt „zu bestimmtem schon festgelegtem Zeitpunkt einzusetzen" 49 ; falls ja, müsse die Devisen- und Rohstofffrage geklärt werden. Fritsch und Beck war anscheinend die Bedeutung von Fromms Warnung nicht aufgegangen; Hitlers Erklärungen gegenüber den Spitzen des Reichs im November 1937 und seine Handlungen 1938 hätten für sie keine Überraschung sein dürfen. 1936 hatte Hitler die nächsten Jahre höchstwahrscheinlich noch nicht als ein Stadium des Entweder - Oder gesehen; 1938 aber hatte der Aufrüstungsdruck einen Punkt erreicht, an dem ihn Umstände und Neigung dazu trieben, zuerst gegen Österreich und dann gegen die Tschechoslowakei notfalls vorzugehen. Das führte zum letzten strategischen Dialog zwischen dem „Führer" und seinen höheren Offizieren und endete bekanntlich mit einer größeren Säuberung in den obersten Rängen der Außenpolitik und der Militärführung des „Dritten Reichs". Später im Rückblick auf Becks Opposition fiel Hitlers Kommentar gegenüber seiner Umgebung folgendermaßen aus: „Was sind das für Generale, die ich als Staatsoberhaupt womöglich zum Krieg treiben muß ! . . . Ich verlange nicht, daß meine Generale meine Befehle verstehen, sondern daß sie sie befolgen" 50 . Der „Führer" traf auch mit jüngeren Generalen zusammen, und zwar mit den Stabschefs verschiedener für die Invasion der Tschechoslowakei in Aufstellung begriffener wichtiger Truppenteile. Und hier stieß er ebenfalls auf erheblichen Widerstand. General Wilhelm Adam, Chef des Stabes der Heeresgruppe West, wagte sogar daran zu zweifeln, ob seine Truppen die Befestigungen des eilends errichteten Westwalls auch nur drei Wochen lang würden halten können. Hitler entgegnete, daß sie drei Jahre gehalten werden könnten 51 . Doch schon vor München war eine beträchtliche Anzahl von Generalen dahin gelangt, Hitlers Vorrecht, Richtung und Tempo der deutschen Strategie zu bestimmen, vorbehaltlos zu akzeptieren. So schrieb Manstein Ende Juli an seinen Mentor Beck, Hitler habe bis jetzt die politische Situation immer richtig eingeschätzt52. Die Armee beschränkte sich darauf, die Fragen des Landkriegs zu beurteilen. So gab es keine Opposition gegen die Entscheidung, Polen im September 1939 anzugreifen, indes beträchtlichen Widerstand gegen Hitlers Versuche, die Armee im Spätherbst 1939 zu einer Offensive im Westen zu bewegen. Aber diese Auseinandersetzung hatte nichts mit strategischen Belangen zu tun. Die überwältigenden Siege gegen die alliierten Truppen in West- und Nordeuropa im Frühjahr 1940 beendeten die erste Phase des nationalsozialistischen Vorstoßes in Richtung Welteroberung. Bis zu diesem Punkt hatte Deutschland vor durchaus gravierenden, in einigen Fällen unlösbaren wirtschaftlichen Fragen gestanden. Sie betrafen die mangelnde Rüstung der eigenen Truppen und
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Zit. n. Deist, Aufrüstung, S. 436. Zit. n. Messerschmidt, Außenpolitik, S. 645. Taylor, Munich, S. 697. Wahrscheinlich hatte Hitler recht, aber nur, weil die Franzosen nicht beabsichtigten, unter welchen Bedingungen auch immer, im Westen anzugreifen. Brief Mansteins, Kommandeur der 18. Division, 21. 7. 1938, an Beck, BA-MA, Ν 28/3.
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die generelle Unfähigkeit, einen langwierigen Krieg auf der unzureichenden eigenen ökonomischen Basis zu führen. Hitlers Erfolge ermöglichten dem „Dritten Reich" lediglich, aus einer schwachen ökonomischen und strategischen Position auszubrechen und die Ressourcen sowie das wirtschaftliche Potential zu erobern, um einen richtigen „Weltkrieg" gegen Mächte zu führen, die über wirtschaftliche Ressourcen und analytische Fähigkeiten in einem Ausmaß verfügten, die jenseits des Horizonts deutscher „Strategen" und Militärführer lagen 53 . An diesem Punkt hätten die Deutschen der Tatsache ins Auge sehen können, daß sie ihre europäischen Eroberungen rücksichtslos ausnutzen mußten und sich für den großen Krieg, der noch kommen sollte, und mit Sicherheit in Anbetracht des Ausmaßes ihrer Ziele kommen mußte, vorzubereiten. Sie taten es nur ansatzweise. Statt dessen begab sich Hiter, der die Schlachtfelder an der Somme besuchte und im Rheinland picknickte, nach dem Fall Frankreichs in die Ferien und hinterließ niemanden, der sich um das strategische Geschäft kümmerte, während die deutsche Bevölkerung von der Möglichkeit träumte, mit dem „perfiden Albion" abzurechnen 54 . Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, bald darauf Generalfeldmarschall, Wilhelm Keitel, zugestandenermaßen nicht einer der eindrucksvollsten Köpfe des deutschen Militärs, unterzeichnete Anfang Juli 1940 eine Weisung, aus der hervorging, daß unter deutscher Luftüberlegenheit die Invasion der britischen Inseln auf eine mächtige Flußüberfahrt hinauslaufen würde 5 5 . Und Jodl, der sich im O K W um die Operationsführung kümmerte, notierte in einer strategischen Einschätzung Ende Juni, daß der Endsieg Deutschlands über England nur eine Frage der Zeit sei 56 . Gefährlicher aber als diese Analyse war die Tatsache, daß viele nunmehr ernsthaft bereit waren, Hitler den Titel „größter Feldherr aller Zeiten" zuzuerkennen. Gleichwohl ist zu betonen, daß Hitlers enorm riskanter Kurs, der die Deutschen dahin gebracht hatte, wo sie im Juni 1940 waren, jeden Rahmen einer differenzierten strategischen Analyse gesprengt hätte. Nun, im Sommer 1940, als die deutsche Strategie solche Einschätzungsfähigkeiten verzweifelt gebraucht hätte, waren innerhalb des NS-Staats keine Ansätze vorhanden, eine Situation, die nicht nur den Wünschen des „Führers" entsprach, sondern auch von seinen Militärs keineswegs als Manko empfunden wurde. Als sich das britische Problem, zumindest im Hinblick auf eine direkte Entscheidungsschlacht als unlösbar erwies, wandte sich des „Führers" Aufmerksamkeit stärker der Sowjetunion zu 5 7 .
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Vgl. zu dieser Problematik Volkmann, NS-Wirtschaft. Vgl. zu dieser Problematik Förster, Entscheidung, S. 3 ff. Air Ministry, Rise, S. 75. Chef W F A , 30. 6. 1940, Die Weiterführung des Krieges gegen England, abgedr. in: Klee (Hrsg.), Dokumente, S. 298. Das Versagen der Luftwaffe war das Ergebnis einer Reihe von komplexen operativen und technischen Problemen, deren Lösung 1940 wahrscheinlich die Fähigkeiten jeder Luftstreitmacht überstiegen hätte. Gleichwohl war die Luftwaffe der R A F und dem U S Army Air Corps bei dem Versuch, diese Probleme anzugehen, weit voraus. Siehe Murray, Luftwaffe.
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Tatsächlich war die Heeresführung seinem Denken bereits vorausgeeilt. Ende Juli 1940 faßten Hitler, Brauchitsch und Halder den Entschluß zum Einfall in die Sowjetunion. Es war neben der Flucht aus strategischen Zwängen auch die Entscheidung für einen erbarmungslosen Krieg gegen den ideologischen Hauptfeind, die Sowjetunion, das Herz der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, wie man meinte 5 8 . Bei der Analyse der Gründe dafür, daß sich die deutsche Strategie in Richtung einer Konfrontation mit der Sowjetunion verlagerte, darf nicht außer acht gelassen werden, daß ein erheblicher Teil der Armee, höhere Dienstgrade eingeschlossen, den Sieg von 1940 nicht nur auf die technologische bzw. operativ-taktische Überlegenheit deutscher Waffen zurückführte, sondern auch auf die ideologische. So notierte General Erich Mareks kurz nach dem Abschluß des Frankreichfeldzugs in seinem Tagebuch: „Aber die Änderung der Menschen wiegt schwerer als die der Technik. Es waren eben nicht mehr die Franzosen von 14/18, auf die wir trafen. Das Verhältnis ist etwa wie das der Revolutionsheere von 1796 zu denen der Koalition; nur sind wir diesmal die Revolutionäre und Sansculotten" 5 9 . Das „Revolutionäre" im Sinne des Nationalsozialismus bestand von Anfang an in der Absicht Hitlers, einen politisch-ideologischen Ausrottungskrieg gegen die Juden und einen Unterwerfungskrieg gegen die slawischen „Untermenschen" zu führen. Dafür schien jetzt die Zeit gekommen zu sein. Freilich hätten die militärischen und logistischen Tatsachen darauf hinweisen müssen, daß die Eroberung der Sowjetunion operative Probleme gänzlich anderer Art aufwerfen würde als der Kampf gegen die alliierten Truppen im Westfeldzug 1940 6 0 . Indes, wo eine gewisse Bereitschaft hätte vorhanden sein müssen, die Aussichten kritisch zu durchleuchten - insbesondere den Gedanken, daß die Wehrmacht die absehbar gigantischen logistischen Schwierigkeiten überwinden könnte - ist sie nicht zu finden. Statt dessen akzeptierte die höhere Militärführung Hitlers Uberzeugung, daß die Sowjetunion nach vollzogener Invasion wie ein Kartenhaus einstürzen würde. Die militärische Version dieser Überzeugung lief darauf hinaus, daß schon die Vernichtung der Roten Armee in den Grenzgebieten unweigerlich und rasch in den Zusammenbruch des sowjetischen Staates und seiner militärischen Macht münden würde. Mit dieser Annahme erlag Halder mit Sicherheit einer Selbsttäuschung, als er in den rauschhaften Tagen Anfang Juli 1941 in seinem Tagebuch notierte: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, daß der Feldzug gegen Rußland innerhalb (von) 14 Tagen gewonnen wurde" 6 1 . Gut einen Monat später ging aus Halders Tagebucheintragung das Ausmaß der deutschen Fehleinschätzung hervor: „In der gesamten Lage hebt sich immer deutlicher ab, daß der Koloß Rußland, der sich bewußt auf den Krieg vorbereitet hat, mit der ganzen H e m mungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist, von uns unterschätzt worden ist. Diese Feststellung bezieht sich ebenso auf die organisatorischen wie auf
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Klink, Landkriegführung, S. 2 0 2 - 2 1 0 . Zit. n. Jacobsen/Marcks, Soldat, S. 87 f. Klink, Landkriegführung, S. 2 0 2 - 2 4 2 . Halder, K T B , 3, S. 38, 3. 7. 1941.
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die wirtschaftlichen Kräfte, auf das Verkehrswesen, vor allem aber auf rein militärische Leistungsfähigkeit. Wir haben bei Kriegsbeginn mit etwa 200 feindlichen Div. gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360. Diese Div. sind sicherlich nicht in unserem Sinne bewaffnet und ausgerüstet, sie sind taktisch vielfach ungenügend geführt. Aber sie sind da. Und wenn ein Dutzend davon zerschlagen wird, dann stellt der Russe ein neues Dutzend hin" 62 . Als die strategischen und operativen Fakten sich störend auszuwirken begannen, hielt das deutsche Oberkommando verbissen an dem einmal eingeschlagenen Kurs fest. Hoffnung und Ideologie ersetzten sinnvolle Planung. In einem Gespräch mit den Stabschefs der Heeresgruppe Mitte meinte Halder Mitte November 1941, in den nächsten sechs Wochen werde es kaum schneien, und es gäbe immer noch, auch wenn die Lage düster scheine, eine Chance, große Operationen durchzuführen, um den Feldzug siegreich zum Abschluß zu führen. Auf warnende Berechnungen des Quartiermeisters der Heeresgruppe antwortete er: „Sie haben sicher recht mit Ihren Berechnungen, aber wir (das OKH) möchten Bock nicht aufhalten, wenn er sich die Sache zutraut; etwas Glück gehört ja auch zum Kriegführen" 63 . Bezeichnend für diese fatale Neigung deutscher Generalstabsoffiziere, eine nüchterne, sachliche Analyse im Zweifelsfalle der Absicht der höchsten Führung unterzuordnen und dann letztlich dem „Glück" zu vertrauen, ist eine Äußerung von General der Infanterie Hermann Geyer, Kommandierender General des IX. Armeekorps in einem Brief an seine Divisionskommandeure: „Wer in kriegerischen Dingen .objektiv' das Für und Wider abzuwägen versucht, kommt leicht dazu, das Wider, also die Schwierigkeiten, stärker zu sehen als das Für. So sind nun einmal der menschliche Charakter und die Natur des Krieges. Doppelt pflegt das zu sein, wenn man von einer Stelle aus urteilt, in der man keinen vollen Uberblick h a t . . . Eine solche Einstellung und solche Haltung ist für den Soldaten geradezu verbrecherisch ... Es kommt darauf an, in jeder Lage auch das Positive zu erkennen und zu betonen, dieses in erster Linie. Bekanntlich hat auch der Gegner stets Sorgen, bekanntlich ist nichts verloren, was man nicht selbst verlorengibt. Gerade in schwierigen Lagen kann der Soldat immer noch mehr aus sich herausholen, auch wenn es über die menschliche Leistungsfähigkeit zu gehen scheint. Oft hängt der Erfolg nur an einem seidenen Faden, in der letzten Sekunde. Oft merkt man erst später, daß der Gegner gefallen wäre, wenn man nur noch ein klein wenig gestoßen hätte" 64 . Hier klingt das deutsche Trauma von 1914 an, das den Franzosen damals als „Wunder an der Marne" erschien, und zugleich deutet sich an, was die Generale 1944/45 dazu verleiteten sollte, den sinnlosen Kampf „bis zur letzten Sekunde" fortzusetzen, scheinbar in dem irrigen Glauben, was für die menschliche Leistungsfähigkeit gelte, müsse sich auch für die objektiven Faktoren des strategischen Kalküls anwenden lassen. 62 63 64
Ebd., S. 170, 11. 8. 1941. Zit. n. Reinhardt, Wende, S. 140 f. Zit. n. ebd., S. 138.
B e t r a c h t u n g e n z u r d e u t s c h e n Strategie im Z w e i t e n W e l t k r i e g
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Im Dezember 1941 sahen sich die Deutschen nicht allein mit den strategischen Konsequenzen konfrontiert, die sich aus der Uberschätzung eigener Möglichkeiten und der Unterschätzung dessen, was die sowjetischen „Untermenschen" zu leisten vermochten, ergaben: Die Japaner waren mit einem verheerend wirksamen Eröffnungsschlag gegen amerikanische Schiffe in Pearl Harbor endlich in den Krieg eingetreten. Wie oben angedeutet, hatte die deutsche Kriegsmarine im Sommer 1941 erhebliche Anstrengungen an den Tag gelegt, um den „Führer" davon zu überzeugen, daß das aggressive Verhalten der Amerikaner im Nordatlantik als Antwort eine deutsche Kriegserklärung verdiente. Hitler hatte gezögert, doch eine Untersuchung der potentiellen Konsequenzen für Deutschland, die sich aus einem Hineinziehen der Amerikaner in den europäischen Konflikt ergeben würden, wurde in der Tat von niemandem vorgenommen. Dagegen ist klar erkennbar, daß die deutsche Kriegsmarine den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten anders als im Zusammenhang mit der Eröffnung eines taktischen und operativen Vorteils für den U-Bootkrieg sah, weil dadurch die Ostküste der USA für Angriffe von Dönitz, Booten bloßgelegt wurde. Zum Zeitpunkt des Angriffs auf Pearl Harbor befand sich das NS-Regime in einer besonders verwundbaren Lage. Die Heeresführung war darauf konzentriert, im Osten zu retten, was zu retten war, wie auch darauf, des „Führers" Zorn über das Versagen zu entgehen. Die Luftwaffe war fast gleichermaßen von den Ereignissen im Osten betroffen und zugleich an mehreren Fronten gefesselt, und die Kriegsmarine hatte einen enttäuschenden Sechsmonatskrieg im Nordatlantik hinter sich, wo Konvois vor den spähenden Augen ihrer U-Boote buchstäblich entschwunden waren. Aber Hitler bat um keine Ratschläge; seine Entscheidung, den USA ausgerechnet jetzt den Krieg zu erklären, spiegelte zweifelsohne sein Verlangen wieder, in Anbetracht der verzweifelten Lage im Osten und Rommels Schwierigkeiten in Nordafrika einfach zurückzuschlagen. In Ermangelung von Beratungen kam es zum unvermeidlichen „einsamen" Entschluß - der Kriegserklärung an die USA. In Halders Tagebuch findet sich noch nicht einmal eine Erwähnung der USA während dieser Phase; es gibt keinen Hinweis darauf, daß bei der Luftwaffe auch nur einer beunruhigt gewesen wäre, während die Kriegsmarine offensichtlich entzückt über die Chance war, endlich wieder ein paar Schiffe zu versenken 65 . Ab diesem Punkt war die Chance für das „Dritte Reich" gering, die ansteigende Flut selber zurückzudrängen - insbesondere, da nun die USA in der Lage waren, die Sowjetunion mit Rohstoffen und logistisch erforderlichen Mitteln zu unterstützen, um sie in den harten Kämpfen 1942 und 1943 zu stärken 66 . Es ist
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Allerdings völlig unvorbereitet, diese Gelegenheit auszunützen. Mitte Januar konnte D ö nitz lediglich sechs Boote gegen den verwundbaren Schiffsverkehr an der Ostküste der U S A entsenden. Gerhard Weinberg zufolge hätte 1942 eine Strategie der Achsenmächte, die darauf abzielte, die anglo-amerikanischen Mächte v o m Nahostöl abzuschneiden, zu einer erheblichen Erschütterung führen können. In Ermangelung einer strategischen Vision jedoch (in Japan wie in Deutschland - die Japaner hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Öltanks in Pearl Harbor zu treffen, und mit diesem Ol wurden die amerikanischen Seeoperationen im Pazifik bis 1943 unterstützt) oder jedweden Vermögens, als Verbündete
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erwähnenswert, daß über als 50 Prozent dieser Lend-Lease-Unterstützung über den Nordpazifik und durch das Japanische Meer nach Vladivostok gingen. Die Kriegserklärung Deutschlands an die USA hatte das eine potentielle Druckmittel außer Kraft gesetzt, mit dem die deutsche Diplomatie die Japaner dazu hätte bewegen können, diesen Verkehr als Gegenleistung für eine Kriegserklärung zu unterbrechen 67 . Da der „Führer" bei Kriegsende tot war, konzentrierte sich natürlich ein Großteil der Kritik an der deutschen Strategie in der Nachkriegszeit auf Hitlers Fehler. Aber gibt es irgendwelche Beweise dafür, daß es die Generäle besser gemacht hätten? 1942 erkannte Hitler zumindest, daß das zunehmende Gewicht der alliierten Militärmacht eine Entscheidung im Osten verlangte, bevor die Westmächte in ausreichender Stärke im Mittelmeerraum oder an der Westfront intervenieren konnten. Die Alternative des Heeres, für die sein Stabschef General Franz Halder eintrat, war überhaupt keine: im Osten 1942 Verteidigungsstellungen zu beziehen, um den Schaden zu reparieren, der den Fronttruppen durch den Winterfeldzug zugefügt worden war - das hätte die aus einem Zweifrontenkrieg herrührenden strategischen Probleme nicht beheben können. In ähnlicher Weise zeigte 1944 der Dissens zwischen Erwin Rommel, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, und seinem nominellen Vorgesetzten im Westen, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, wie wenig die deutsche Militärführung von Strategie verstand. In den Nachkriegsmemoiren deutscher Generale gab es die Tendenz, Rommels Defizite im Strategieverständnis herauszustellen, hauptsächlich wohl, so möchte man vermuten, weil er kein Mitglied des Generalstabes gewesen war. Tatsächlich aber scheint Rommel ein besseres Verständnis von den strategischen Gegebenheiten im Westen gehabt zu haben als Rundstedt. Obwohl die Auseinandersetzung zwischen den beiden Feldmarschällen in hohem Maße um operative Fragen kreiste - ob es besser war, die alliierte Invasion an den Küsten zu stoppen oder eine mobile Verteidigung Westeuropas gegen die alliierte Invasion zu führen - , enthielt Rommels Argument zumindest die strategische Erkenntnis, daß ungeachtet dessen, wie geschickt die Zugänge zum Reich verteidigt wurden, der Krieg verloren war, wenn nicht verhindert wurde, daß die anglo-amerikanischen Truppen auf dem Kontinent Fuß faßten. Rundstedts problematischer Zugang reflektierte einfach nur die rein operative Lösung einer Situation, die von strategischen Überlegungen heraufbeschworen worden war. Man kann in der Tat sagen: Je höher der Preis war, den die Deutschen von den Alliierten auf dem Schlachtfeld forderten, umso höher würde der von Deutsch-
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zu kooperieren, tauchte ein solcher koordinierter strategischer Ansatz bei den Sitzungen der Achsenführer nie auf. Weinberg, W o r l d , S. 307 f. Das Problem lag darin, wie die Japaner v o n Anfang an erkannten, daß jeglicher Eingriff in die sowjetische Lebensader über den Nordpazifik dazu hätte führen können, daß die Sowjets einen Krieg erklärten und die auf sowjetischem Territorium gegenüber Japan liegenden Flugplätze an die U S A r m y A i r Forces übergaben, von denen aus die Amerikaner dann einen strategischen Bombenkrieg gegen die Hauptinseln führen konnten. So aber mußten die Amerikaner einen schwierigen und kostspieligen Feldzug über den Mittelpazifik führen, der erst Ende 1944 und Anfang 1945 Stützpunkte für eine ernsthafte Bomberoffensive gegen Japan ermöglichte.
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land nach Beendigung des Krieges zu zahlende politische Preis sein. A m Ende verwechselte die deutsche Militärführung durchweg operative und sogar taktische Angelegenheiten mit Strategie. Gerhard Weinberg hat darauf hingewiesen, daß in der deutschen Memoirenliteratur folgender Refrain ständig auftaucht: „Wenn der Führer nur auf mich gehört hätte." Das Problem dabei ist, daß damit nur auf die unmittelbar bevorstehenden operativen Angelegenheiten wie die Schlacht bei Kursk oder die Verteidigungsschlachten von 1944 Bezug genommen wird, nicht aber auf die strategische Wirkung einer verbesserten operativen Ausführung. Wir könnten also den Refrain „wenn der Führer nur auf mich gehört hätte" mit dem Kommentar abschließen: „dann hätte der Krieg in Europa noch ein weiteres Jahr gedauert, und die Amerikaner hätten die erste Atombombe auf das Reich geworfen" 6 8 .
Schlußfolgerung Die deutsche Strategie im Zweiten Weltkrieg spiegelte eine Reihe von Faktoren wider; keinesfalls stellte sie einen zusammenhängenden und rationalen Prozeß dar, auch wenn sie in ihrem eigenen ideologischen und historischen Rahmen durchaus plausibel war. Vor allem stellte sie eher eine Entwicklung, denn einen Plan dar. Die Bürde der Vergangenheit, ein begrenztes Verständnis der außerhalb Zentraleuropas liegenden Welt, die Auswirkungen von Ideologie, die alte Verwechslung von operativer Notwendigkeit mit Strategie sowie Hitlers Tendenz, sich bei seinem Vorgehen oft von unüberwindlichen Abneigungen leiten zu lassen - all dies hat in der Tat zu einem desolaten Prozeß beigetragen. Gleichwohl fiel die Ausarbeitung der alliierten Strategie, wie oben erwähnt, in vieler Hinsicht nur geringfügig besser aus. Aber gerade der Erfolg deutschen strategischen Kalküls zwischen 1933 und 1940 rief auf der anderen Seite ein Gefühl von Verzweiflung hervor, das den Anstoß zu einer verbesserten Planung und Zusammenarbeit gab. Auf der deutschen Seite stärkten die anfänglichen Erfolge auf allen Ebenen ein übermäßiges Selbstvertrauen, was zu den furchtbaren strategischen Fehlern von 1941 führte. Der weithin verbreitete Glaube, daß die Niederlage 1918 durch einen inneren Kollaps verursacht worden war, lenkte die Aufmerksamkeit in hohem Maße auf politische Reaktionen. Während des ganzen Krieges war das NS-Regime darauf bedacht, um nahezu jeden Preis die politische Solidarität und Unterstützung der Heimatfront zu sichern, auch wenn das militärische und rüstungswirtschaftliche Nachteile bedingte. Gleichzeitig betrieb es eine erbarmungslose Vernichtungspolitik gegen den angeblichen rassisch-ideologischen Hauptfeind, die Juden - und dies ohne Rücksicht auf den personellen und materiellen Kräfteeinsatz und auf eine ökonomische Verlustrechnung während Hitler und die Militärführer über operative Angelegenheiten stritten. Dabei ging Hitler zwar argumentativ als Sieger über seine Oberbefehlshaber hervor, aber infolge einer nicht nachlassenden, in mancher Hinsicht durch die ideologi-
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Ich verdanke Gerhard Weinberg diesen Hinweis.
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sehe Ausrichtung verstärkten Kampfkraft und taktischen Brillianz deutscher Truppen wurden die schlimmsten Aspekte der Entscheidungsfindung des „Führers" oft abgeschwächt. Die strategischen Entscheidungen Ende 1941 indes hatten das Ergebnis des Krieges in der Tat unvermeidbar gemacht: Die katastrophale Niederlage Nazi-Deutschlands. Allan R. Millett und der Autor bemerkten dazu an anderer Stelle: „Keine noch so große operative Virtuosität ... [kann] grundlegende Fehler im politischen Urteil [ausgleichen]. Ob die Strategie von der Politik oder die Politik von strategischen Notwendigkeiten bestimmt wurde, ist irrelevant. Fehleinschätzungen auf beiden Seiten führten zur Niederlage, und politschstrategische Fehler in jeglicher Zusammensetzung führten zu katastrophalen Ergebnissen ... Selbst die effektive Mobilisierung von nationalem Willen, Arbeitskräften, industrieller Macht, nationalem Reichtum und technischem Know how haben die Kriegführenden nicht davor bewahrt, die bitteren Früchte gravierender Fehler [auf strategischer Ebene] zu ernten, weil es wichtiger ist, richtige Entscheidungen auf der politischen und strategischen Ebene zu treffen, als auf der operativen und taktischen. Operative und taktische Fehler können korrigiert werden, politische und strategische niemals" 69 . Dieses Zitat ist in jeder Hinsicht ein passendes Epitaph für das „Dritte Reich".
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Millett/Murray, Lessons of War, (Übersetzung).
Martin van
Creveld
Die deutsche Wehrmacht: eine militärische Beurteilung
Mit dem Abstand von dreiundfünfzig Jahren soll eine kurze Rückschau zeigen, welchen historischen Platz die Wehrmacht als militärisches Instrument im 20. Jahrhundert einnimmt. Auf andere Probleme, wie die Rolle der Wehrmacht im deutschen Staat, die Wechselwirkungen zwischen Wehrmacht und Gesellschaft in Deutschland oder die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen der Nazis wird nur dann eingegangen, wenn es zur Erläuterung der Art und Weise ihrer militärischen Handlungen und Kampfführung dringend notwendig ist. Vielmehr sollen hier jene Faktoren herausgearbeitet werden, durch die sie den anderen Streitkräften jener Zeit ähnelte und durch die sie sich von ihnen unterschied. Außerdem gilt es herzuheben, was ihre Stärke ausmachte und was ihre Qualität schmälerte. Zudem soll der Versuch unternommen werden, die Wehrmacht auf der Wegscheide zwischen Altem und Neuem einzuordnen.
I. Verglichen mit dem, was vorher war und danach kam, war das hervorstechendste Merkmal der Wehrmacht allein schon ihr Umfang. Auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1942 hatte sie eine Personalstärke von mehr als neun Millionen Mann 1 . Fast 18 Millionen Mann haben die Wehrmacht und die Waffen-SS durchlaufen, wobei höchstens zwei Drittel davon während des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Heer gedient haben 2 . Diese gigantische Maschine wurde gestützt durch das System der allgemeinen Wehrpflicht, d. h. durch das aus dem 19. Jahrhundert entwickelte Nebeneinander von stehender Truppe, Wehrpflichtigen mit kurzer Wehrdienstzeit und den Reservisten, die ihre Zeit abgedient hatten, entlassen waren und bei Notwendigkeit wieder einberufen werden konnten. Im Fall der Wehrmacht, wie auch bei anderen Streitkräften Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde dieses Modell einerseits möglich durch die immer stärkere Entfaltung des Staates und andererseits durch den technischen Fortschritt, was sich als Infrastruktur des Krieges bezeichnen läßt 3 . Ersterer schuf mit seiner Regierung, seinen Rechtsinstitutionen und seinem Bildungsapparat eine Situation, in der die gesamte (männliche) Bevölkerung zum Wehrdienst verpflichtet werden konnte und dazu im großen und ganzen auch gewillt war. Durch letztere konnte das gesamte nationale Territorium mit einem Netz von Eisenbahnen und Telegraphen (später befestigten Straßen, Telephonen und
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Creveld, Power, S. 66, Tab. 7.1. Müller-Hildebrand, Heer, 3, S. 253. Siehe Creveld, Technology.
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Fernschreibern) überzogen werden, so daß man das Reservesystem einzurichten vermochte. In dem Bestreben, maximalen Nutzen aus seinem verfügbaren Potential an menschlichen Kräften zu ziehen, war Preußen als kleinste der Großmächte die erste, die das System angewandte. Aufgrund der Siege von 1866 und 1870-71 wurde es auf die Mehrheit der anderen Großmächte, ausgenommen Großbritannien und die USA, ausgedehnt (beide waren in erster Linie Seemächte). Jedoch unterschied sich das deutsche System von den meisten anderen. Die Reserven - drei Viertel der Gesamtstärke - sollten nicht nur ein allgemeines Reservoir menschlicher Kräfte sein, auf das das stehende Heer bei Notwendigkeit zurückgreifen konnte. Sie hatten vielmehr eigene Strukturen, für die die gesamte Ausrüstung in Depots für den Ernstfall eingelagert und sofort verfügbar war. Wenn die Reservisten wieder zu den Fahnen gerufen wurden und der Krieg begann, konnten und würden die jüngeren Jahrgänge in der vordersten Linie eingesetzt werden. In der fortgeschrittenen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ging man weitgehend von diesem System ab. Die Reserven existierten weiter auf dem Papier, wurden aber nur selten, wenn überhaupt, zu Einheiten der vordersten Linie mit erstklassiger Ausrüstung formiert. Die Wehrpflicht wurde zwar vielerorts aufrechterhalten, aber man wandte sie häufig nicht mehr so streng an wie früher. Es wurden sehr schnell Ausnahmen bei Verweigerung aus Gewissensgründen und auch im Hinblick auf die notwendige Ausbildung gewährt. Die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte ging immer mehr zurück. Das lag zum Teil daran, daß die Menschen nicht mehr so wie früher gewillt waren zu dienen - Nationalgefühl und die Bereitschaft, für seinen Staat zu sterben, waren deutlich im Abklingen - , und zum anderen wurde es aufgrund der wachsenden Kosten für Waffen und Waffensysteme immer schwieriger, Massenarmeen auszurüsten. Der weitaus wichtigste Faktor, der die früheren Strukturen der Wehrmacht veralten ließ, war jedoch die Verbreitung der Atomwaffen.
II. In Bezug auf den Umfang waren die Wehrmacht und die zugehörigen militärischen Organisationen und die gegenerischen Streitkräfte die größten, die es jemals in der Geschichte gab. Und trotz ihres gigantischen Umfanges war die Wehrmacht eine recht dezentralisierte Organisation. Zum Teil hatte diese Dezentralisierung historische Ursachen, d.h. sie war eine Widerspiegelung der späten Vereinigung Deutschlands im System der Wehrkreise und der auf ihnen basierenden Korps. Selbst während der NS-Periode, in der in vielen Bereichen der höchste Grad an politischer Zentralisierung in der gesamten deutschen Geschichte erreicht wurde, achtete man darauf, daß die Soldaten im landmannschaftlichen Zusammenhang blieben und gemeinsam in einem Truppenverband dienten 4 . Hier spiegelt sich die starke förderale Tradition wider, denn das deut-
4
Siehe ebd., S. 43
Die deutsche Wehrmacht: eine militärische Beurteilung
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sehe Heer bestand bis 1918 aus Kontingenten verschiedener deutscher Königreiche. Abgesehen von solchen mentalen und politischen Traditionen lag der Grund dafür war zum Teil auch in der Tatsache, daß es keine moderne Datenverarbeitungstechnik gab, so daß eine stärkere Zentralisierung nicht möglich und es daher notwendig war, insbesondere Personalangelegenheiten dezentralisiert zu lösen. Zum anderen lag es an der bewußten Entscheidung, viele Dinge, die in anderen Armeen zentral in einem höheren Führungsstab entschieden werden, der Entscheidung von Offizieren auf unterer Ebene, vom Regimentskommandeur abwärts, zu überlassen 5 . Die Dezentralisierung stärkte die Position der jüngeren Offiziere und erforderte und ermöglichte ihrerseits das System der Auftragstaktik. Auftragstaktik heißt nicht, daß jeder machen kann, was er will. Sie erfordert hingegen die Verbindung von Initiative und Disziplin, oder, um die Vorschrift von 1936 zu zitieren: „vom jüngsten Soldaten an aufwärts den selbständigen Einsatz aller geistigen, intellektuellen und physischen Fähigkeiten". Es ist hauptsächlich das Verdienst der Vordenker der Wehrmacht aus dem 19. Jahrhundert, wie von Scharnhorst und von Moltke, daß sie diesen Aspekt früher als alle anderen erkannt hatten und ihn systematisch von oben nach unten durchsetzten 6 . 1918, unter Ludendorff, reichte das sogar bis hinunter zum Unteroffizier und seinem Stoßtrupp. Dabei half eine Angriffsdoktrin, die davon ausging, daß die angreifenden Truppen wahrscheinlich häufig außerhalb des unmittelbaren Einflußbereiches des Kommandeurs handeln würden und daß man sich auf den Telegraphen stützen konnte. Das bedeutete jedoch von Anfang an, daß Befehle kurz und prägnant sein mnfiten 7. Seit Feldmarschall Blücher lautete der wichtigste Grundsatz, daß man in Richtung des Kanonendonners zu marschieren hatte, und ein Kommandeur, der so handelte, lag nicht unbedingt falsch. Obwohl Vergleiche schwierig sind, verkörperte wohl die Wehrmacht die Verbindung von Initiative und Disziplin besser als jede andere moderne Streitkraft zuvor und hernach. Im Gegensatz dazu tendierte die Britische Armee zu Schwerfälligkeit und zum sorgfältig geplanten Gefecht 8 , obwohl sie immer ein paar hervorragende K ö p f e hatte, die zu großer Initiative fähig waren. Aufgrund ihrer gewaltigen Ressourcen setzte die US-Armee gewöhnlich auf Feuerkraft anstatt auf das Manöver, wohingegen viele Offiziere der sowjetischen Streitkräfte nicht dazu ausgebildet warten, viel Initiative zu zeigen. Man kann darüber diskutieren, aber die Streitkraft des 20. Jahrhunderts, die der Wehrmacht in dieser Hinsicht am nächsten kam, war wohl die israelische Armee in ihren glorreichen Tagen etwa zwischen 1956 und 1973 9 . Jedoch selbst hier bedeuteten eine Disziplin, die viel zu wünschen übrig ließ, sowie Mängel in Professionalismus und Ausbildung, daß sie ihr - nicht-anerkanntes - Vorbild nicht erreichte.
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Müller-Hildebrandt, Heer, 3, S. 254; „Statistisches System", U S A r m y Historical Division Study PC-011, Koenigstein (Taunus), 1949, S. 68. Siehe Hughes (Hrsg.), Moltke , Kap. 2 u. 4. Creveld, Command, S. 108. Siehe Kiszley, Army. Siehe Creveld, C o m m a n d , Kap. 6: „Masters of Mobile Warfare"; L u t t w a k / H o r o w i t z , Army, S. 163, 172-174.
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Martin van Creveld III.
Im großen und ganzen legte die Wehrmacht mehr Betonung auf die rein militärischen oder operativen Aspekte des Krieges, als jede andere Streitkraft jener Zeit 10 . Auch das hatte teilweise historische Ursachen. Bereits Friedrich der Große hatte seinen Generalen erklärt, daß Preußen als die kleinste Macht mit hoffnungslos entblößten Grenzen die Offensive ergreifen müsse, um seine Kriege zu einem schnellen Ende zu bringen 11 . Obwohl Deutschland infolge der Bildung des Reiches zur damals vielleicht stärksten militärischen Einzelmacht der Welt wurde, blieb es, oder fühlte es sich zumindest gegenüber der Koalition potetieller Gegner unterlegen. Daher tendierte man unter Vernachlässigung vieler anderer Dinge dazu, alles auf operative Fragen auszurichten, d. h. darauf, wie man einen Krieg schnell gewinnt. Der Erste Weltkrieg machte den meisten Mächten die Bedeutung der Faktoren Ökonomie und Industrie klar. Die 1918 erschienene vierte Auflage von Foches „ De la Conduite de la Guerre " enthielt ein neues Vorwort, in dem die Rolle betont wurde, die diese Faktoren gespielt haben. Die britischen, amerikanischen und - in geringerem Umfang - die französischen Streitkräfte reagierten darauf, indem sie spezielle Akademien eröffneten, die eine bedeutendere Stellung als die Generalstabsakademien einnahmen. An ihnen sollte die Kriegführung auf höherer, nichtoperativer Ebene studiert werden 12 . In Deutschland öffnete die Wehrmachtakademie ihre Türen zwar 1935, wurde jedoch nach zwei Lehrgängen am 31. März 1938 wieder geschlossen. Die Wehrmachtteile konnten ihre unterschiedlichen Auffassungen über die Spitzengliederung nicht überwinden. Das Heer gab seinen Anspruch auf die Gesamtkriegführung nicht auf. Unter diesen Umständen machte die intensive Ausbildung von Offizieren für eine Tätigkeit oberhalb der Wehrmachtteile keinen Sinn. Im Ergebnis dessen und mit Ausnahme der sogenannten Reinhardt-Lehrgänge, die einige ausgewählte Offiziere gegen Ende der Weimarer Republik besuchen mußten 13 , blieb die Kriegsakademie von 1935 (eigentlich von 1919) bis 1945 die einzige bedeutende Bildungseinrichtung des Heeres. Kriegsmarine und Luftwaffe verfügte über ihre eigenen Kriegsakademien. Auf Weisung des Chefs des Generalstabes des Heeres, Ludwig Beck, wurde in der Akademie des Heeres deren ohnehin schon stark operative Ausrichtung noch mehr ausgebaut. Das galt in dieser Weise auch für die anderen Wehrmachtteile. Damit gab es im Gegensatz zu den meisten Streitkräften jener Zeit innerhalb der Wehrmacht keinen Raum für das systematische Studium der Aspekte von Industrie, Ökonomie und großer Strategie in der Führungsspitze. Die operative Ausrichtung der Wehrmacht spiegelte sich in der Struktur der Generalstäbe wider. Im Gegensatz zu den Systemen der Franzosen und Amerikaner war der 1. Generalstabsoffizier (Ia) immer erster unter gleichen. Auf
10 11 12 13
Siehe detaillierter Vergleich in Creveld, Power, S. 2 8 - 3 4 . Luvaas (Hrsg.), Frederick the Great, S. 181. Siehe Creveld, Training, Kap. 2. Siehe Bald u.a., Tradition, S. 1 6 7 f .
Die deutsche Wehrmacht: eine militärische Beurteilung
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Divisionsebene erfüllte er gleichzeitig die Funktion des Generalstabschefs 14 . Sie spiegelte sich aber auch in den Handlungen der Befehlshaber wider. Es kann kein Zufall sein, daß alle bekannten Befehlshaber bzw. Oberbefehlshaber, vielleicht mit Ausnahme von Rundstedt und Kesselring, allein auf der operativen Ebene wirkten und Verbände befehligten, die nicht über den Rahmen einer Armee oder Heeresgruppe hinausgingen. Das betraf beispielsweise Guderian, Rommel, Manstein und Manteuffel. Das ist so, als wenn das Oberkommando des US-Heeres ausschließlich aus Pattons bestanden hätte. Die Wehrmacht hat niemals einen Offizier hervorgebracht, der in der Lage gewesen wäre, das gesamte Spektrum eines Krieges zu befehligen, wie etwa ein Eisenhower oder McArthur oder gar ein Shukow. Das lag einesteils an der Struktur der Offizierausbildung - als höchste schöpferische Kunst im Sinne der Vorschrift galt eben das Führen einer Armee - und den Rivalitäten der Wehrmachtteile, und zum anderen hätte das Hitler gar nicht toleriert. Die gerade dargelegte Situation mag mithelfen, das Rätsel zu lösen, warum es Hitler gelungen ist, die Wehrmachtgenerale in diesem Umfange und solange zu beherrschen. Er war zwar kein ausgebildeter Fachmann, wußte aber mehr als sie um die Probleme und Zusammenhänge der Kriegführung auf höchster Ebene. Das war sein Führungsmonopol, und die Generale überließen es ihm nur zu gerne. Eine perfekte Illustration dessen ist der berühmte Entschluß vom Sommer 1941, den Schwerpunkt des deutschen Angriffs in die Ukraine zu verlegen, anstatt weiter auf Moskau vorzustoßen. Als der Chef des Generalstabes des Heeres, General Franz Halder, vom Plan des „Führers" Wind bekam, wurde er wütend, sah sich aber nicht in der Lage, ihn umzustimmen, und so wendete er sich an Guderian um Hilfe. Dieser flog gehorsam nach Rastenburg, wo er mehr als eine Stunde lang Hitler, der geduldig zuhörte, die Lage erläuterte. Als er geendet hatte, konterte Hitler mit einem einzigen Satz: „Meine Generale wissen nichts von der ökonomischen Seite des Krieges". Das stimmte, und das wußten beide. Also salutierte Guderian und machte sich daran, die Befehle seines „Führers" auszuführen 15 . Noch bemerkenswerter ist, daß man diese Episode als Beweis dafür ansehen kann, daß Halder selbst den ökonomischen Aspekt eines Krieges nicht ernst genug nahm. Hätte er das getan, dann hätte er seine Angelegenheit nicht über Guderian, einen relativ jungen Befehlshaber aus der Panzertruppe vorgebracht, sondern eher über den als Experten in diesen Dingen anerkannten General Georg Thomas. Halder ist dabei sicher auch von einem taktischen Kalkül geleitet worden, denn Guderian stand als erfolgreicher Panzerführer bei Hitler in höchstem Ansehen, der blasse und zurückhaltende Thomas dagegen fiel meist durch unangenehme Warnungen und Bedenken auf. Vor allem aber war er Keitels Untergebener im OKW, und Halder hatte ein Interesse daran, in Rüstungsfragen für das OKH eine größere Selbständigkeit gegenüber dem OKW zu erreichen. Für Spitzenfunktionen war das Ausbildungssystem der Wehrmacht eindeutig mangelhaft, und das konnte auf der Ebene der Generalstabslehrgänge niemals ausgeglichen werden.
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Für einen detaillierten Vergleich zwischen den deutschen und US-amerikanischen Stäben im Zweiten Weltkrieg siehe Creveld, Power, S 4 7 - 5 2 . Guderian, Panzer, S. 200.
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Bekanntlich verdankt die Kriegsakademie des Heeres ihren Ursprung der Academie des Nobles Friedrichs des Großen und mehr noch Scharnhorst 1 6 . In der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden hier ruhig und systematisch Stabsoffiziere ausgebildet. Wie die Kriege von 1866 und 1870-71 zeigen sollten, bot sie eine Vorbereitung auf den Krieg, die ihresgleichen suchte. Das war um so beeindruckender, als die Preußen im Unterschied z . B . zur französischen Armee in dieser Periode keine Gelegenheit hatten, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Nach 1871 wurde sie in aller Welt beneidet, und von nah und fern kamen Offiziere, um ihre Methoden zu studieren und ihnen nachzueifern 1 7 . Bis 1939 war sie die einzige Institution ihrer Art, die in einem dreijährigen Kurs die Kriegführung auf - wie es die Deutschen bezeichneten - taktischer Ebene lehrte, die wir jedoch als operative Ebene bezeichnen würden. Die lange Periode der abgesonderten Ausbildung und der einzigartige Erfolg der Kriegsakademie im Vergleich zu ihren Imitatoren und Konkurrenten sind nicht einfach zu erklären. Zum einen war es Tatsache, daß sie, bislang als ein Hindernis in der Karriere eines Offiziers angesehen, in der Lage war, die besten der besten als Ausbilder zu gewinnen, zum Beispiel Colmar von der Goltz, Hindenburg, Ludendorff und, in der Weimarer Zeit, Kluge, List, Model, Paulus, Adam, Guderian, Halder, Jodl und Reinhardt, um nur einige zu nennen 1 8 . Zum anderen gab es das Auswahlprinzip für die Lehrgänge. Während man anderswo gewöhnlich ein Studium auch abschloß, wenn man sich einmal dafür entschieden hatte, scheute sich das Heer in einem feudalistisch geprägten Deutschland, das für Demokratie und Gleichheit wenig Verständnis hatte, nicht, einige Bewerber „aus gewünschten Kreisen" auszuwählen und den Rest abzulehnen. Teilweise konnte die Kriegsakademie auch daraus Nutzen ziehen, daß sie sich in einer Weise auf Traditionen von Bildung und Militarismus stützte, wie es ihr keine andere vergleichbare Einrichtung in der Welt nachmachen konnte. N o c h wesentlicher und wiederum im Gegensatz zu einigen anderen Ländern war die Tatsache, daß die Ausbildung an der Kriegsakademie nicht differenziert nach Waffengattungen ablief. Offiziere aller Waffengattungen studierten gemeinsam und mußten bei Übungen die Aufgaben eines jeden anderen übernehmen. Diese Methode und das System der Ersetzbarkeit 1 9 förderten die außerordentliche Geschlossenheit der Truppe, die wie ein gut eingespieltes Team funktionierte. In der gesamten Geschichte der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges gibt es nichts eindrucksvolleres, als ihre Fähigkeit, Verbände aufzustellen, neu zu formieren oder umzubilden, ihnen die notwendige Geschlossenheit zu verleihen, und diese Truppen, wenige Tage nach einer schweren Niederlage oder nachdem sie zerschlagen worden waren, wieder in den Kampf zu werfen.
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Zur Reorganisation der Kriegsakademie durch Scharnhorst siehe Klippel, Leben, 3, S. 237-55. Britische Versuche, der Kriegsakademie nachzueifern bei Wilkinson, Brain; für amerikanische Nacheiferungsversuche siehe Upton, Policy. Model, Generalstabsoffizier, S. 38. Creveld, Power, S. 75-76.
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Im Vergleich dazu fehlte es amerikanischen Verbänden häufig an dieser Geschlossenheit. Britische Verbände hingegen waren als Ergebnis der erprobten und bewährten Regimentsstruktur oft zu sehr gebunden, so daß es ihnen an Flexibilität fehlte. Hier erinnern wir uns wieder an die israelische Armee, aber mit Ausnahme des Unabhängigkeitskrieges (als die PALMACH, bestehend aus zwei von zwölf Brigaden, sich als die weitaus beste Kampftruppe erwies) waren die israelischen Kriege zu kurz oder zu begrenzt, um die Geschlossenheit und Stabilität ihrer Verbände einer echten Prüfung zu unterziehen. Insgesamt hat im 20. Jahrhundert wohl keine andere Streitkraft eine derartige Geschlossenheit und Flexibilität besessen, wie die Wehrmacht, auch die Bundeswehr nicht. Dieses Gharakterium bedarf einer näheren Untersuchung. IV. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges führten die oben aufgelisteten Qualitäten zu exzellenten operativen und taktischen Leistungen, auf die die ganze Welt neidisch war. Die Feldzüge der Wehrmacht zwischen 1939 und 1942 verliefen zwar nicht gänzlich ohne Fehler. Einige davon waren auf Unerfahrenheit zurückzuführen, andere, wie die Entscheidung, in Dünkirchen anzuhalten, gingen auf Hitlers Einmischung in die Operationen zurück. Trotzdem sind sie insgesamt als Muster erhalten geblieben, wurden studiert und (in seltenen Fällen, wenn es zweckmäßig war) auch nachgeahmt. Es waren die Feldzüge, in denen die Wehrmacht erstmalig den Einsatz von modernem Gerät zur Durchführung tiefer Operationen demonstrierte. Das betraf besonders den Einsatz der Verbrennungsmaschine, die das Herzstück des Panzers bildet. Ein entscheidender Punkt, der die Leistung der Wehrmacht in jenen Jahren erklären hilft, ist die Betonung, die man auf die verbundenen Waffen gelegt hat20. Im Gegensatz zu einigen anderen Armeen hütete sich das OKW vor dem Glauben, daß eine einzelne Waffengattung die Entscheidung herbeiführen könnte. Das neue Gerät betrachtete es lediglich als „neuen Wein in alten Schläuchen". Von dem Zeitpunkt an, da im Jahre 1935 die Umrüstung begann, setzte man das Vertrauen in das disziplinierte Zusammenwirken aller Waffengattungen, Truppen und Waffen. Man führte Experimente durch, um die beste Kombination zu ermitteln, und mit der Zeit wurden die Verbände aufgrund der Erfahrungen immer ausgeglichener. Auf Kriegsschauplätzen wie Rußland oder in der Wüste hatte die Wehrmacht ihre Vorteile hauptsächlich den exzellenten Fähigkeiten der Panzer, Panzerabwehrwaffen, der Artillerie (einschließlich der Panzerabwehr· und Panzerartillerie), der Infanterie (einschließlich der motorisierten Infanterie) und der Pioniere zum Zusammenwirken zu verdanken. Das wiederum war aufgrund des hervorragenden taktischen Funknetzes möglich, ein Gebiet, auf dem die Wehrmacht ebenfalls Pionierarbeit leistete und das in vielem den Erfolg insbesondere gegenüber Frankreich erklärt 21 .
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Siehe DiNardo, Doctrine, S. 386 ff. Creveld, Command, S. 192 f.
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Nach 1942 änderte sich die Lage. Ein Heer, das auf Angriff ausgerichtet war - in den Vorschriften von 1936 tauchte der Begriff „Angriff" weitaus häufiger als alle anderen Begriffe auf - war aufgrund von überdehnten Fronten und niederschmetternder zahlenmäßiger Unterlegenheit zur Verteidigung gezwungen. Aus diesen Gründen, aber auch aufgrund der Befehle Hitlers, die einen Rückzug verboten, und infolge wachsenden Mangels an allem, beginnend bei Fahrzeugen bis hin zu Reifen und Treibstoff, konnten viele Kenntnisse und Fähigkeiten eines einzigartigen operativen Könnens nicht mehr ins Spiel gebracht werden. Die Beweglichkeit litt, die Operationen wurden mehr und mehr ortsfest, und einzelne Angriffe mußten von immer kleineren Verbänden vorgetragen werden, meist von improvisierten Kampfgruppen, anstatt von ganzen Korps oder Divisionen. Im taktischen Bereich jedoch blieb die Wehrmacht bis zuletzt so gut wie jede andere Streitkraft. Sie konnte nur durch die Kombination von zahlenmäßiger Überlegenheit und massivem Einsatz der Feuerkraft bezwungen werden.
V. Alle Streitkräfte des 20. Jahrhunderts hatten ein Problem mit dem Verhältnis zwischen Bodentruppen und Luftstreitkräften, und die Wehrmacht bildete da keine Ausnahme. Während die Briten die ersten waren, die 1917 selbständige Luftstreitkräfte aufstellten, blieb die Luftwaffe in Deutschland Teil des Heeres. Das galt auch für die Weimarer Zeit, in der es offiziell keine Luftstreitkräfte geben durfte. In der Tat bestand die Luftwaffe in jenen Jahren nur aus etwa 120 Offizieren, die Studien zu erarbeiten hatten, aus Segelfliegerclubs, die teilweise von der Armee finanziert wurden, Passagierflugzeugen, die man notfalls zu Bombern umrüsten konnte, sowie aus einigen wenigen Piloten, die zur Ausbildung in andere Länder geschickt wurden 22 . Der Aufbau der Luftwaffe ab 1935 ist häufig untersucht worden 23 . Sie war in vieler Hinsicht eine gewaltige Errungenschaft und entwickelte sich binnen vier Jahren zur stärksten Luftstreitkraft der Welt. Hierbei interessiert uns ganz besonders ihr Verhältnis zur Wehrmacht als Ganzes. Ein großer Vorteil zeigte sich darin, daß Offiziere der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte viel Gemeinsames verband, denn viele der höchsten Luftwaffenoffiziere waren ehemals Heeresoffiziere. Aus diesem Grunde dachte die Luftwaffe, anders als ihre Gegenspieler in anderen Ländern, normalerweise nicht in Begriffen eigenständiger Feldzüge. Im Unterschied zu ihren Gegnern verkam sie auch niemals zur bloßen Dienerin der Bodentruppen. Das war der Vorteil der in anderer Hinsicht nachteilhaften Eigenständigkeit und Konkurrenz der Teilstreitkräfte. Als es darauf ankam, erteilte sie eine deutliche Lehre , wie man Luftstreitkräfte im Verbund mit Bodentruppen einsetzen muß 24 . Neben der Erfüllung von Aufklärungs-, Verbindungs- und einigen Lufttransportaufgaben errang und behielt sie 22 23 24
Siehe Corum, Biplanes. Siehe vor allem Murray, Strategy; Homze, Arming; Mason, Rise. Siehe Creveld, Airpower, Kap. 2 u. 3.
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während der Blitzfeldzüge die Luftüberlegenheit. Sie flog Nahunterstützungseinsätze, bei denen sie ihre Bomben den eigenen Infanteristen buchstäblich vor die Füße warf. Sie setzte ihre berühmten Stukas in einer frühen Form der „Panzerjagd" ein, riegelte ganze Kriegsschauplätze ab und führte eine Reihe von Luftlandeoperationen durch, die in ihrer Brillanz und Kühnheit bis heute keine Parallelen gefunden haben. Zweifellos hatte die Luftwaffe selbst auf ihrem Höhepunkt auch Grenzen, wenn es etwa um strategische Bombeneinsätze und Operationen auf See ging. Das erste Problem zeigte sich während der Schlacht um Großbritannien, letzteres beeinträchtigte den Krieg von Anfang bis Ende. Zum Teil resultierten beide Probleme aus Fehlentscheidungen, etwa, als der Generalluftzeugmeister Udet (und hinter ihm Göring) festlegte, daß seine schweren Bomber sturzflugfähig zu sein hatten, und als die Kriegsmarine Schlachtschiffen den Vorzug gegenüber Flugzeugträgern gab. Fairerweise muß man jedoch eingestehen, daß Deutschland aufgrund von geographischen Gegebenheiten immer das Hauptaugenmerk auf die Landstreitkräfte legen mußte. Wahrscheinlich hätte es sich gar nicht leisten können, gleichzeitig und zusätzlich umfangreiche strategische Bomberkräfte und echte Marinefliegerkräfte aufzubauen, selbst wenn man es gewollt hätte und selbst, wenn man die oben erwähnten Fehler nicht begangen hätte. Nach 1942 ging es mit der Luftwaffe wie mit dem Heer abwärts. Das, was von ihr übriggeblieben war, mußte sich darauf konzentrieren, das Reich vor strategischen Luftangriffen zu schützen. Das gelang auch bis zur Einführung von Langstreckenjägern durch die Alliierten recht gut. Später dann waren es weniger technische oder operative Mängel, die zu den Niederlagen führten, als vielmehr der Mangel an Treibstoff, der die erforderliche Ausbildung der Piloten nicht mehr zuließ 25 . Mittlerweile konnten nur zweitrangige Kräfte für das Zusammenwirken mit den Bodentruppen bereitgestellt werden. Aber wo ein solches Zusammenwirken stattfand, wie an der Ostfront, blieb es weiterhin ein recht bedeutender Faktor. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Luftwaffe wie die anderen Teile der Wehrmacht ihre Schwächen und Stärken hatte. Im Gegensatz zu den Westmächten hat sie niemals strategische Bomber- oder Marinefliegerkräfte aufgebaut. Im Unterschied zur Luftwaffe der Sowjetunion ist sie niemals zur reinen fliegenden Artillerie entartet, sondern hat sich gegenüber den Bodentruppen immer ein beträchtliches Maß an Unabhängigkeit erhalten. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr war sie gezwungen, sich auf die Verteidigung der Heimat zu konzentrieren und konnte immer weniger andere Aufgaben erfüllen. Innerhalb dieser Grenzen erwies sie sich jedoch außerordentlich erfahren im Zusammenwirken mit den Bodentruppen, das sich bei anderen Luftstreitkräften sowohl im Zweiten Weltkrieg als auch danach häufig als ein wunder Punkt herausstellte. In der Tat könnte man behaupten, daß es beim Konzept der LuftLand-Schlacht (Air-Land battle), das die US-Streitkräfte in den achtziger Jahren entwickelt hatten, nichts gab, was die Luftwaffe nicht ein halbes Jahrhun-
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Murray, Strategy, S. 283 ff.
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dert zuvor über Polen, Frankreich, dem Balkan und Rußland vorgesehen und praktiziert hatte. Und das ist wahrhaftig ein hohes Lob. VI. Viel mehr als die Luftwaffe, die schließlich Görings Unterstützung hatte, war die Kriegsmarine des „Dritten Reiches" eine zweitrangige Angelegenheit. Als der Krieg im September 1939 begann, war sie auch weit weniger vorbereitet als die Luftwaffe. Die Überwasserflotte besaß noch nicht annähernd so viele große Schiffe, wie sie zu bauen geplant hatte. Möglicherweise noch bedeutsamer war, daß sie überhaupt keine Flugzeugträger besaß. Unter diesen Umständen zeigte sie sich von Anfang an nur begrenzt fähig, einen größeren Krieg zu führen. Die Norwegen-Operation war äußerst kühn und erfolgreich, aber sie kostete die Kriegsmarine einen Großteil ihrer Uberwasserflotte. Danach spielte diese Flotte nur eine untergeordnete Rolle im Krieg, zum Beispiel entlang der norwegischen Küste (wo sie gegen alliierte Geleitzüge operierte) und in der Ostsee. Die Unterwasserkräfte wurden jedoch zu einer ungeheuren Bedrohung für die Alliierten. Von ihren Stützpunkten in Norwegen und Frankreich aus waren sie in zwei voneinander unabhängigen Perioden - im Frühjahr 1942 und im Frühjahr 1943 - nahe daran, Großbritannien in die Knie zu zwingen. Es gibt gute Gründe zu glauben, daß es die etwa 1000 U-Boote, die während des Krieges produziert wurden, mit ihren insgesamt sechzig- bis siebzigtausend Mann Besatzung gewesen wären, die als einzelne Waffengattung den Krieg für Deutschland hätten gewinnen können 26 . Selbst als sie infolge der Kombination von Elektronik (in Form von Kurzwellenradar) und Luftmacht (in Form von landoder bordgestützten Langstrecken-Patrouillenflugzeugen) der Alliierten im Verlauf des zweiten Halbjahres 1943 stark dezimiert wurden, kämpften die U-Boote unter hohen Verlusten verbissen weiter, ohne daß es Anzeichen für ein stärkeres Nachlassen von Geist oder Moral gab. Keine andere Waffengattung der Kriegsmarine war effektiver, als jedes einzelne Boot der deutschen U-Bootwaffe in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird das auch immer so bleiben. Für die Vereinigung der drei Wehrmachtteile erwies sich die Kommandostruktur in der Spitze als ungeeignet für die Führung eines Weltkrieges 27 . Abgesehen von Hitler gab es überhaupt keine zivile Spitzenbehörde (so etwas wie ein Kriegskabinett oder einen Reichsverteidigungsausschuß, der nur auf dem Papier existierte). Dafür wurde der Krieg einerseits anhand der täglichen Besprechungen des „Führers" mit seinen militärischen Beratern und andererseits anhand der gelegentlichen Treffen zwischen ihm und einzelnen Ministern geleitet. Demzufolge gab es kein Forum, bei dem militärische und zivile Sachkenntnis auf höchster Ebene zusammenflössen. In gewissem Grade wurde diese Situation von Hitler als Teil einer Politik des Teilens und Herrschens absichtlich her26 27
Siehe Dönitz, Jahre, Kap. 11. Mir ist nicht bekannt, daß diese Berechnungen jemals widerlegt worden sind. Die neuesten Untersuchungen zu diesem Problem findet man bei Megargee, Triumph.
Die deutsche Wehrmacht: eine militärische Beurteilung
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beigeführt. Er hate während des gesamten Krieges nicht einmal das Kabinett zusammengerufen. Zum anderen widerspiegelte das die Geschichte eines Landes, in dem das Militär immer einzig und allein dem Staatsoberhaupt unterstand und das seit langem viel zu stolz und zu selbstsicher war, um Befehle von reinen Politikern entgegenzunehmen. Auch die Struktur des Oberkommandos der Wehrmacht war nicht viel besser. Vor 1933 hatten die (damals) beiden Wehrmachtteile überhaupt kein gemeinsames Oberkommando. Ihre jeweiligen Befehlswege trafen sich nur in der Person des Präsidenten der Republik, der gleichzeitig der Oberbefehlshaber der Streitkräfte war. In den frühen Nazijahren hatte Blomberg als Kriegsminister die Gewalt sowohl über das Heer als auch über die Kriegsmarine. Aber seine Stellung wurde von Göring umgangen, der zusätzlich zu seiner Position als Oberbefehlshaber der Luftwaffe auch noch den Rang eines Ministers innehatte. Als Blomberg 1938 gehen mußte, ernannte sich Hitler selbst zum Oberfehlshaber der Wehrmacht und schuf das OKW, das die Wehrmacht in seinem Namen zu führen hatte. Görings Stellung blieb jedoch erhalten, und dem OKW ist es niemals gelungen, sich ihm gegenüber zu behaupten. Da es Hitler während des Krieges seinen Wanderungen von einem Hauptquartier zum anderen zu begleiten hatte, blieb das OKW auch immer eine ziemlich kleine Organisation. Es hat jedenfalls niemals die Organe aufgebaut, die für die Führung einer millionenstarken Streitmacht in einem Weltkrieg erforderlich waren. In den Anfangsjahren des Krieges fiel ein Großteil der Aufgaben zur Leitung des Krieges dem Oberkommando des Heeres (OKH) zu, denn das Heer war der bei weitem größte Wehrmachtteil. Die Operationen gegen Polen, die Niederlande, Frankreich, die Balkanstaaten und Rußland wurden hauptsächlich vom Heer geplant und ausgeführt. Dazu fanden tägliche Besprechungen zwischen Brauchitsch, Halder und Hitler statt. Danach wurden die Weisungen des Diktators in detaillierte Pläne, Zeitpläne und Befehle umgesetzt wurden. Der Luftwaffe und der Kriegsmarine wurde die Leitung ihres Kriegs weitestgehend selbst überlassen. Ihre Oberbefehlshaber trafen sich mit Hitler gelegentlich, wenn es die Umstände erforderten. Die Koordinierung von Tag zu Tag mit dem Heer erfolgte nicht durch das OKW, sondern auf dem jeweiligen Kriegsschauplatz. Nur sehr selten trafen sich die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtteile und auch der Chef des OKW, um die Gesamtstrategie zu besprechen. Ab Mitte 1941 haben derartige Treffen offenbar gar nicht mehr stattgefunden. Während Luftwaffe und Kriegsmarine im wesentlichen ihre Kriegführung selbst bestimmen konnten, war das Verhältnis zwischen OKW und OKH komplizierter. Wie bereits festgestellt, trug letzteres zu Beginn des Krieges die meiste Führungslast, aber es hatte nicht die Kapazität oder die Erfahrungen, um Operationen durchzuführen, bei denen mehr als ein Wehrmachtteil eingesetzt werden mußte. Daher war es im Fall von Norwegen und Kreta nur logisch, die Operation einem General der Luftwaffe anzuvertrauen, der unter der Aufsicht des OKW handelte. Aber dabei blieb es nicht. In einem zielgerichteten Versuch, die Macht des Heeres als ältestem, größtem und einflußreichstem Wehrmachtteil herabzusetzen, übertrug Hitler dem OKW einen Kriegsschauplatz nach dem anderen, ob das die Umstände erforderten oder nicht. Bekanntlich bestand seit Anfang 1942 eine Situation, in der sich das OKH um die Ostfront und das
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OKW um alles andere kümmerte. Da die Ostfront die weitaus bedeutendste Front war, gab es zwischen diesen beiden Kommandos ein ständiges Tauziehen um Verbände und Gerät. Es wird also ersichtlich, daß die Führungsstruktur der Wehrmacht an der Spitze weder simpel noch erstklassig war. Insbesondere das Fehlen eines regulären Forums zur Koordinierung von militärischen und nicht-militärischen Angelegenheiten gab dem gesamten Apparat ein altmodisches, nahezu archaisches Ansehen. Man könnte die Wehrmacht mit einem Rennauto vergleichen, dessen Fahrer mit sich selbst uneins war. Mehr noch, dieser Fahrer hatte nicht annähernd genug daran gedacht, die Leistung seines Autos mit dem vorhandenen Straßennetz, mit der Kraftstoffversorgung und der Organisation der Instandsetzung abzustimmen. Es geht allerdings zu weit zu sagen, daß allein der Fahrer alle Schuld dafür trug. Wie das Streben des OKH nach Vormachtstellung zeigt, hatte diese Maschine ihre eigenen Traditionen. Nur unter größten Schwierigkeiten, wenn überhaupt, konnten diese Traditionen den Erfordernissen einer modernen, einen Weltkrieg führenden Großmacht angepaßt werden. Technisch gesehen, stand die Wehrmacht an einem Scheideweg. Einerseits verfügte sie mit Panzern, Flugzeugen, Funkgeräten, elektronischen Navigationshilfen für die Flugzeuge und vielem mehr über das modernste Kriegsgerät jener Zeit. Andererseits bestanden ca. drei Viertel ihrer Truppen noch aus marschierender Infanterie, und sie verließ sich auf bespannten Transport. Im späteren Kriegsverlauf wurde dieses Verhältnis, wenn man überhaupt von einem Verhältnis sprechen konnte, noch schlechter. Bereits 1940 war die Britische Armee, die bei Dünkirchen vom Festland vertrieben wurde, vollständig motorisiert
{Ausrüstung
glänzend,
Führung denkbar schlecht" - so der Kommentar des
Chefs des Generalstabes des Heeres, Franz Halder). Das US-Heer war selbstverständlich gänzlich von Motorfahrzeugen abhängig, und selbst die Sowjetarmee hatte eine halbe Million LKW aus den USA erhalten, obwohl sie niemals weder auf ihre Infanterie noch auf Pferde verzichten konnte. Im Gegensatz dazu ging der Motorisierungsgrad des deutschen Heeres im Verlauf der Zeit immer mehr zurück. In der Tat war die westliche Wüste der einzige Kriegsschauplatz, auf man ganz ohne Pferde auskam. Dafür wurden in der Steppe am Fuße des Kaukasus sogar Kamelkarawanen zum Transport von Treibstoff eingesetzt. Obwohl die Wehrmacht einen geringen Motorisierungsgrad besaß, waren viele ihrer Waffen im einzelnen betrachtet genauso gut, wie die ihrer Gegner, oder sogar besser. In den Anfangsjahren waren der Panzer IV und später der Panther mit ihrer sorgfältig abgestimmten Beweglichkeit, Panzerung und Feuerkraft jedem gegnerischen Panzer ebenbürtig (im Gegensatz dazu überbetonte man beim Tiger sicher die Panzerung, weswegen er zu langsam war). Die deutsche Artillerie war während des gesamten Krieges allen anderen überlegen (ein Geschütz, das 88-mm-Geschütz, erlangte sogar wohlverdienten Ruhm). Gleiches galt für die Infanteriewaffen, wie das MG-42 und das Sturmgewehr. In der Luft konnten die Bomben- und Transportflugzeuge der Luftwaffe nach 1942 nicht mehr mithalten. Jedoch die Jagdflugzeuge - die Me-109 und die Focke Wulf 190 - konnten es mit der britischen Spitfire bzw. der amerikanischen P-51 aufnehmen. Und in der Tat, je näher man die Spezifikationen all dieser Flugzeuge allein anhand der sorgfältigen Untersuchungen an abgeschossenen Flugzeugen
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auf mögliche technische Neuerungen betrachtete, desto deutlicher wurde, daß sie sich in gleichem Tempo entwickelten. Auf See konnte die deutsche Uberwasserflotte etwa nach 1942 auch nicht mehr mithalten. Die U-Boote blieben aber auf dem Laufenden und führten gelegentlich sogar Neuerungen ein, wie zum Beispiel den Schnorchel, radarabsorbierende Farbe und ähnliches. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß es kurz vor Ende des Krieges die Deutschen und nicht ihre Gegner waren, die das Walter-U-Boot mit seinem revolutionären Antriebssystem auf Wasserstoffperoxidbasis entwickelten. Wenn es um die Nutzung fortgeschrittenster Technologien des Jahrhunderts ging, hatte die Wehrmacht ebenfalls einen gemischten Ruf. Einerseits war sie bahnbrechend bei der Entwicklung von Strahl- und Raketentriebwerken. Das führte dazu, daß sie bei Ende des Krieges die einzige kriegführende Seite war, die über einsatzbereite Strahljäger, Marschflugkörper und Mittelstreckenraketen verfügte. Andererseits war sie bei der Elektronik, insbesondere aber bei der Atomenergie zurückgeblieben. Auf dem Gebiet der Elektronik war ihr Rückstand allerdings nicht so ernst. Die Deutschen leisteten nicht nur auf dem Gebiet von Hilfsmitteln für den Bombenabwurf Pionierarbeit. Auch ihr Radar erwies sich zu jeder Zeit nur geringfügig weniger effektiv als das der Alliierten. Das hatte zur Folge, daß letztere in große Schwierigkeiten gerieten, als sie im Herbst 1943 versuchten, Berlin in gleicher Weise anzugreifen, wie seinerzeit Hamburg. Zum anderen wäre das Reich aufgrund seiner Unfähigkeit, auf dem Atomgebiet mitzuhalten, zur Niederlage verurteilt gewesen, hätte der Krieg damals nicht ohnehin geendet 28 . Darüber hinaus wurde behauptet, daß selbst die Anstrengungen, die man für die Raketen aufbrachte, angesichts des Fehlens geeigneter (d. h. nuklearer) Sprengköpfe weitestgehend vertan waren 29 . Man könnte vielleicht abschließend sagen, daß die konventionellen Waffen der Wehrmacht, in dem Maße, in dem sie ihr zur Verfügung standen, den Qualitätsvergleich mit den gegnerischen nicht zu scheuen brauchten, ja manchmal für sich entschieden besser waren. Hitlers Armee entwickelte außerdem als erste eine ganze Serie von Raketen (Panzerabwehr-, Boden-Luft- und Luft-BodenRaketen), die jedoch nie zum Einsatz kamen, da nicht mehr genügend Zeit blieb. Die Anstrengungen der Wehrmacht auf damals entscheidenden Gebieten der Wissenschaft hielten den Kriterien der Rentabilität nicht stand, wie im Fall der Boden-Boden-Raketen und bei Marschflugkörpern, oder sie erzielten völlig ungenügende Ergebnisse, wie beim Atomsprengstoff. Fairerweise sollte hinzugefügt werden, daß Deutschland zwischen 1939 und 1945 sicherlich nicht die ökonomischen und industriellen Ressourcen besaß, um die Bombe zu bauen und gleichzeitig einen Weltkrieg zu führen, wenn es auch noch so glänzende Wissenschaftler gehabt und auf höchster Ebene eine gleichzeitig noch so gute Politik auf dem Gebiet der Technik betrieben hätte.
28
29
Über die Ursachen dafür, daß es Deutschland nicht gelang, A t o m w a f f e n zu entwickeln, ist viel geschrieben worden. Siehe Speer, Erinnerungen, S.239 ff; Irving, Atomic Bomb; Walker, Science. Siehe Neufeld, Rakete.
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VII. Zusammenfassend muß man sagen, daß die Wehrmacht ein seltsames Gemisch von Altem und Neuem war. Die Führungsstruktur erwies sich auf höchster Ebene in vieler Hinsicht als anachronistisch. Sie war eher auf die Durchführung einzelner Feldzüge am Boden (selbst solche, die von Luftwaffe und Kriegsmarine unterstützt wurden), als auf einen ausgedehnten Weltkrieg mit totaler Mobilmachung aller militärischen, industriellen und ökonomischen Ressourcen zugeschnitten. Diese Aussage muß jedoch näher bestimmt werden. In Bezug auf die Bevölkerung und auf das Bruttosozialprodukt war das Reich seinen Gegnern weit unterlegen. 1938 betrug seine Industrieproduktion 13,2 Prozent der Weltindustrieproduktion im Vergleich zu 55,5 Prozent für Großbritannien, die UdSSR und die USA zusammengenommen 30 . Diese Tatsache beweist die Irrwitzigkeit der deutschen Planung auf dem Gebiet der großen Strategie. Das bedeutet aber auch, daß die Wehrmacht den Krieg nicht hätte gewinnen können, selbst wenn das Führungssystem auf höchster Ebene besser gewesen wäre. Betrachtet man die einzelnen Wehrmachtteile, dann hat sich die Kriegsmarine aufgrund von geographischen Gegebenheiten und ökonomischen Zwängen niemals zu einer erstrangigen Kampfkraft entwickelt. Jedoch hat besonders die U-Bootwaffe im Rahmen ihres Umfanges und ihrer Zusammensetzung höchst effektiv gekämpft. Sie hätte Großbritannien mit ausreichenden Booten in den ersten entscheidenden Jahren in die Knie zwingen können. Gleiches trifft auf die Luftwaffe zu. Sie war operativ ausgerichtet und besaß praktisch keine strategischen Langstreckenbomber. Trotzdem war sie, bevor sie zur Verteidigung gezwungen wurde, mit ihren Luft-Luft- und Luft-Bodenmöglichkeiten (Nahunterstützung, Abriegelung und Luftlandungen) genauso gut wie alle anderen und einigen sogar überlegen. Und schließlich waren die taktischen und vor allem operativen Fähigkeiten des Heeres anfangs so eindrucksvoll, daß sie fast legendär wurden. Als dann später mehrere Dinge zusammenkamen, wie der Übergang zur großen Verteidigungsstrategie, Befehle, die keinen Rückzug gestatteten, furchteinflößende Verluste und Mangel an praktisch allem, geriet es in Verfall. Aber selbst dann blieb es auf der taktischen Ebene so gut wie jedes Heer und war manchem seiner Gegner sogar fast noch überlegen. Das System der Ausbildung und Erziehung, auf dem diese Fähigkeiten beruhten, beschränkte sich weitgehend auf die untere Ebene. In der Tat charakterisierte es die Wehrmacht, daß es oberhalb der Ebene der Generalstabslehrgänge wenig gab, was man überhaupt als Ausbildung und Erziehung bezeichnen konnte. Als Ausgleich dazu war die Wehrmacht bis einschließlich der Heeresgruppe in vieler Hinsicht eine hervorragende Kampftruppe. Es gelang ihr eine einmalige Kombination von Disziplin, Geschlossenheit und Flexibilität, wobei jede einzelne Komponente etwas damit zu tun hatte, daß die Wehrmacht mehr operativ orientiert, mehr dezentralisiert und mehr auf das Praktizieren des Zusammenwirkens zwischen den Waffengattungen ausgerichtet war und anders
30
Daten aus Kennedy, Rise, S 330. Im gleichen Jahr betrug der Anteil der französischen, japanischen und italienischen Industrieproduktion an der Weltindustrieproduktion 4,5 %, 3 , 8 % bzw. 2 , 9 % .
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als die meisten Streitkräfte jener Zeit weniger zur Arbeitsteilung und Spezialisierung neigte. Letztlich entsprach die Wehrmacht im Hinblick auf ihre Grundstruktur - stehendes Heer, Wehrpflichtige, Reserven - dem Typus der Zeit. Ihrer zahlenmäßigen Stärke nach war sie sowohl bei Personal als auch bei Material eine der größten Streitkräfte, die es je in der Geschichte gegeben hat oder wahrscheinlich geben wird. Seit jener Zeit wurden, soweit es eigentlich alle entwickelten Staaten betrifft, sowohl die Zahlen als auch das Mobilmachungssystem, auf dem sie beruhten, durch die Einführung der Atomwaffen überholt, wodurch ausgedehnte Kriege zwischen diesen Staaten obsolet geworden sind. Militärisch gesehen gehört daher die Wehrmacht zur Vergangenheit, einer Vergangenheit, die so weit zurückliegt, daß es eigentlich unmöglich ist, Lehren aus der Wehrmacht anzuwenden.
IV Zur Sozial- und Strukturgeschichte der Wehrmacht
Detlef Bald Einführende Bemerkungen
1. Der Mangel an sozialwissenschaftlicher Perspektive Am Anfang stand Potsdam. D o r t stellte sich am 21. März 1933, am „Tag von Potsdam", der Nationalsozialismus in die tausendjährige Tradition des Ortes, Preußens und des deutschen Kaiserreichs; dort erkannte die Reichswehr symbolträchtig die Führung des Staates an und nahm ihren Platz als Säule des N S Regierungssystems ein. U n d auf den Trümmern des Reiches fand dann in Potsdam die endgültige Auflösung der Wehrmacht und ihrer Institutionen statt, um den „Hort des Militarismus" ein für alle Male in Deutschland 1 zu beseitigen. Wie selbstverständlich klingt das Diktum der Alliierten von 1945 über die verheerenden Zustände im Militär und seine prägende Kraft auf Staat und Gesellschaft. Angesichts der erschreckenden Katastrophe gelangte der Historiker Friedrich Meinecke über die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer ähnlichen Bewertung mit den Worten, daß das Regime wesentlich von „der Gesinnung und dem Willen" seiner Armee abhängig gewesen sei. Doch die Wehrmacht habe die „gesunden" Verhältnisse, dem Primat der Politik zu folgen, „umgekehrt". „ G a n z elementar" hatte eine „tiefe Beeinflussung des staatlichen Wollens durch den Charakter des Heerwesens" stattgefunden. Meinecke zeigte sich bedrückt, in welch hohem Grade der Nationalsozialismus, nachdem er an die Macht gekommen war, von der „Haltung und Gesinnung" der Wehrmacht bestimmt wurde. Der spezifische politische Charakter des Militärs in der modernen Geschichte erschien als Ursache für die Bindung des Militärs an Adolf Hitler und durch ihn; dies äußerte sich - knapp angesprochen - als die „Einseitigkeit des preußisch-deutschen Militarismus", also als die Prägung des Militärs aus einem „hoch entwickelten technischen Geiste, seiner Fachdressur". Meinecke brachte dies in dem alten Satz klassisch zum Ausdruck: „Exercitus facit imperatorem" 2 . Die Analyse und Bewertung des Zeitzeugen Meinecke über Aufrüstung, Revisionismus und die Bande, die das Militär zur Stütze des Staates machte, wurden nicht zur Provokation der Historiker der fünfziger Jahre in Deutschland, um zu schauen, was denn wirklich in den Dreißigern gewesen ist. Die Geschichtswissenschaft, die Struktur- und Herrschaftsgeschichte wandte sich, obwohl sich die im NS-System aufgeblühten Apparate und Organisationen geradezu anboten, anderen historischen Themen zu; der Nationalsozialismus wurde zur Zeitgeschichte geschoben. Sozialgeschichtlich arbeitende Historiker waren nach
1
2
Vgl. zur eigenen lokalen Tradition des Militärs Kroener (Hrsg.), Potsdam, bzgl. der Alliierten, S. 501 ff. Meinecke, Katastrophe, S. 77 f.
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Detlef Bald
dem Krieg kaum akzeptiert, so daß die gesellschaftlichen, die mentalen und beruflichen, die technischen und wissenschaftlichen, aber vor allem auch die politischen und ideologischen Prozesse, Umbrüche und Kontinuitäten seit dem Kaiserreich aus dem Blickfeld gerieten. In der Bonner Republik setzte die Politik zudem auf diejenigen gesellschaftlichen Bedürfnisse, welche die „Dinge ruhen lassen" wollten; eine dezidierte Vergangenheitspolitik 3 entlastete die Gegenwart vom direkten Bezug in die Zeit davor. Die „Stunde Null" suggerierte den Mythos vom Neuanfang; Normalität suggerierte dies für die Wehrmacht und den Zweiten Weltkrieg. „Auf Befehl gehandelt" wurde zur Formel der Ehre, auf die sich nach den Erklärungen von Kanzler Adenauer und NATO-General Eisenhower alle berufen konnten. Das war der Nährboden für Legenden um die Wehrmacht 4 . An ihnen wurde weiter gezimmert, untermauert intensiv durch einen Berg an Memoiren. Wie hätte unter diesen Umständen die Wehrmacht zu einem sozialgeschichtlichen Thema werden können, zumal die Historiker sich und ihre Institute an den Universitäten erst wieder einrichten mußten? Hinzu kam der allgemeine Umgang der historischen Wissenschaft mit dem Militär. Diese staatliche Institution von höchster sozialer Repräsentanz war traditionell von besonderem Rang gewesen; ihr gebührte bezeichnenderweise Distanz und Respekt. Man kann daher während einer langen Zeit in der Nachkriegszeit feststellen, daß die Wehrmacht nicht zum Objekt der historisch-kritischen Betrachtung wurde. Die Tendenz, das Thema an den Universitäten zu übergehen oder gar zu tabuisieren, verband sich mit dem individuellen Zwiespalt von Forschern, mit einer Arbeit über die Wehrmacht eine pro-militärische bzw. eine pro-nationalsozialistische Einstellung zu attestieren. Auf diese Weise geriet die Wehrmacht weiter an den Rand, und es gab keine „Anwendung von Mitteln der Sozialforschung auf die Struktur, die Organisationsformen und Verhaltensweisen der Armee und des militärischen Establishments insgesamt" 5 , wie Rene König, der Doyan der deutschen Sozialforschung, noch am Ende der sechziger Jahre beklagte. Dieses noli me tangere der Wissenschaftler fand sein Pendant in der ablehnenden Haltung eines Teils des Militärs selbst, das sich dann seit der Aufstellung der Bundeswehr noch politisch bestärkt fühlte. Akademische, also zivile und kritische Untersuchungen über das Militär fanden dort schon seit je her keine Akzeptanz. Die Gemeinsamkeit der gegenseitigen Ablehnung ist, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen, ein andauerndes Kennzeichen der speziellen akademisch-militärischen Beziehungen. Dies sollte als Problem bewußt werden, damit nicht dem einen die Wissenschaftsfeindlichkeit des Militärs immer wieder als Alibi dienen kann wie dem anderen ebenso die Militärfeindlichkeit der Wissenschaft. Die Folgen für die Forschung über die Wehrmacht waren beträchtlich. Man ließ die Zeit und somit die Gelegenheit verstreichen, Material aus der Sicht der Soldaten und anderer Teile der Bevölkerung über die Wehrmacht, ihre Verstrik3 4
5
Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik. Hinweise auf Anfänge neuer Dolchstoßlegenden nach 1945 bei Wheeler-Bennet, Nemesis, 2, S. 724. König, Bemerkungen, S. 9.
Einführende Bemerkungen
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kung in das NS-System und den Krieg zu erarbeiten. Die vielfältigen sozialwissenschaftlichen Methoden wurden nicht eingesetzt, um die inneren Verhältnisse der Wehrmacht und ihres Umfeldes zu beleuchten und um das Beziehungs- und Wirkungsgeflecht von Militär und Staat sowie Gesellschaft präziser zu beschreiben. Dem gegenüber mobilisierten die Vereinigten Staaten bereits während des Krieges die Wissenschaften zur Optimierung ihrer Armee. Bekannt ist das Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe, das ungeheure Kapazitäten entfachte, Naturwissenschaften, Technik und industrielle Entwicklung zu verkoppeln und gezielt voranzutreiben. Der Krieg griff auch auf die übrigen Zweige der Wissenschaften. Zentrale Koordinierung der multidisziplinär angelegten Großforschungen des „big science" wurde das Zeichen der Organisation der Projekte; sie wurden dann als „think tanks" der Politikberatung bekannt. Auch sie faßten zunächst das Potential der Emigranten zusammen. In einer Research Branch der US-Armee wurden sozialwissenschaftliche Studien über die Strukturen, Mentalitäten und Sonderheiten der damaligen bedeutsamsten Armeen 6 angefertigt, neben der amerikanischen 7 natürlich auch über die deutsche Wehrmacht. Das Material der Auswertungen kam aus den Befragungen deutscher Soldaten. Ein internationaler Vergleich dieser Unterlagen allein bezüglich des Typs des im Krieg entwickelten Militärs wäre spannend. Doch man könnte jene Forschungsergebnisse mit den archivalischen Befunden des Historikers ergänzen und sich aus der Distanz von Jahrzehnten neue Dimensionen der Realität der Wehrmacht erschließen. Morris Janowitz 8 , Paul F. Lazarsfeld oder Samuel Ph. Huntington wurden schon früh mit ihren Untersuchungen über Ideologisierung und Autorität, über Kampfkraft und soziale Beziehungen, aber auch über Technisierung und Bürokratisierung der Wehrmacht berühmt. Derartige sozialwissenschaftliche Einsichten in das deutsche Militär vor 1945 wurden von der Geschichtswissenschaft bislang so gut wie nicht rezipiert; auch wurden die entsprechenden Archivbestände in den USA nicht ausgewertet, obwohl das - methodisch sicherlich nicht direkt vergleichbare - Material über Taktik und Kriegführung der Historical Division ausgiebig erforscht wurde. Die Militärgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik hatte sich lange schwerpunktmäßig auf das Kriegsgeschehen selbst konzentriert, bis sie sich zur breiten Erforschung des Militärs entfalten konnte. Vergleicht man diese Entwicklung mit den übrigen Zweigen der historischen Disziplin, war der sozialgeschichtliche Zugriff auf das Militär über Jahrzehnte enorm unterentwickelt.
6 7 8
Einen umfassenden Überblick bei Lang, Institutions. Vgl. Stouffer, Soldier. Vgl. die späteren Analysen allgemeineren Charakters: Janowitz/Little, Militär; Huntington, Soldier; Merton/Lazarsfeld, Continuities. Andere Forscher sind zu nennen wie D o nald Baier, N. W . Caldwell, Samuel E. Finer, C. I. Hovland, David G. Mandelbaum, S. A. L. Marshall, Delbert C. Miller, W . Millis, A r n o l d M. Rose, Rosinski, Edward A . Shils, Hans Speier, F. Sternberg, Hans L. Zetterberg.
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Detlef Bald 2. Wissenschaftlicher Ansatz: Militarisierung
In der Bonner Republik ist es nicht üblich geworden, vom Militarismus der NSZeit zu sprechen bzw. von der Militarisierung der Politik oder der Gesellschaft. Zu stark haben zwei Faktoren die Ablehnung begründet. Zum einen ging die Gesellschaft in Distanz zum Potsdamer Dictum der Alliierten über den Militarismus und zur Nürnberger und Landshuter „Siegerjustiz" über die Verbrechen der Wehrmacht. Zum andern spaltete die antagonistische Polarisierung des Kalten Krieges die Wissenschaft nach Ost und West; auch ihre Ansätze hatten die Thesen der jeweiligen anderen Seite der Elbe im Auge. Die Vorwürfe - Imperialismus und Totalitarismus - hatten wohl eher aktuelle Bezüge, doch auch Auswirkungen auf die Arbeit selbst, auf Themen und Terminologie u.v.a.m. Tatsache jedenfalls ist, daß im Westen, nachdem der „Hitlerismus" erst einmal alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, die Theorien des Totalitarismus und des Faschismus die fachlichen Auseinandersetzungen über die Zeit vor 1945 bestimmten. Das Nachdenken über den „Faktor Hitler" (Martin Broszat) hingegen hat dann mit einer feinen Stimmigkeit diese Diskussionen differenziert und vorangetrieben. Die Verdienste der so aufbereitenden historischen Forschung sollen und können gar nicht geschmälert werden. Dem gegenüber oder vielmehr: In Ergänzung zu diesen vielseitigen Forschungen erscheint es sinnvoll und für die Präzisierung der Erkenntnisse hilfreich, die Geschehnisse um die Reichswehr und Wehrmacht unter den Begriff des Militarismus zu fassen9. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, eine verbindliche Definition vorzutragen und einzuführen, sondern mit einem in der Disziplin bewährten Konzept eine Epoche neu zu befragen. Schließlich folgte die NSZeit auf eine Epoche des Militarismus in einer „klassischen" Ausprägung. Es ist doch auffällig, wie selbstverständlich der preußisch-deutsche Militarismus für das Kaiserreich bezeichnend, wie unstrittig der kaiserliche Militärstaat in der Literatur benannt oder wie die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens zumindest für mehr als fünf oder sieben Jahrzehnte 10 lang - das Militär mit dominierenden Konturen - festgestellt wird. Für das alte Preußen und das Kaiserreich wurden multiperspektivische Ansätze gewählt und keine einheitliche Begriffsabklärung 11 vorgenommen, um die zeitbezogen differierenden vielgestaltigen Phänomene des Militarismus zu erfassen. In der Weimarer Republik sind Kontinuität und Restauration bekannt; sicher gilt für die Reichswehr, daß Hans von Seeckt „alten Geist in neue Schläuche" füllen wollte, um die kaiserliche Armee in der Republik zu restituieren. Sinnbildlich hat das Wort vom „totalen Krieg", das Erich Ludendorff 12 popularisierte, die dreißiger Jahre bereits im Frieden geprägt. Alle Voraussetzungen scheinen historisch gegeben, der spezifischen Form und Gestalt des in der NSZeit aufgetretenen Militarismus nachzuspüren. Das schärft die Aussagen über
9 10
11 12
Vgl. Berghahn, Militarismus, S. 61 ff. Die Bedeutung zeitlich weiter, ins 18. Jahrhundert reichender Analysen ist zu betonen: Büsch, Militärsystem. Einen guten Einblick bietet Foerster, Militarismus, S. 122 ff. Ludendorff, Krieg; zur Einordnung vgl. Wehler, Krieg, S. 220 ff.
Einführende Bemerkungen
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die dreißiger Jahre und läßt sie distinkt vom Kaiserreich abheben, wo die Unterscheidung des Charakters der Epochen dies erfordert. Dies Vorgehen gewährt ebenso Einblicke in herrschende Traditionslinien wie in abgebrochene (Teil-)Identitäten. Wo anders als bei einem derart konstituierten Militär ist dessen Prägekraft und Machtanspruch gegenüber dem Wandel der modernen Gesellschaft, der Etablierung eines diktatorischen Regierungssystems und dem Einwirken auf die übrigen staatlichen Institutionen (vgl. den Beitrag von Franz-Werner Kersting) besser zu begreifen - und als spezifischer Militarismus zu deuten! Das Postulat an die Forschung, mit der Frage nach dem Militarismus erneut und innovativ umzugehen, wird auch damit begründet, daß die historische Zunft der Bonner Republik in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchwegs unbefangen und wie selbstverständlich die gerade vergangene Epoche derart klassifizierte. Beispielhaft - und ohne die „theoretische" Validität oder Stimmigkeit der jeweiligen Ansätze gegeneinander zu stellen werden einige zentrale Aspekte der damals eingeführten Militarismus-Begriffe vorgestellt. Die allgemeine „Gefahr des Militarismus" 13 war mit der Katastrophe des Jahres 1945 vorüber, bekannte vor dem Historikertag 1953 Gerhard Ritter; aber für die Epoche davor galt: „Niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt, niemals vorher ein so einseitiger Macht- und Kampfwille geschichtlich wirksam geworden...". Wichtig erscheint, daß Ritter hier die Perspektive auf die sonst vorherrschende Beschränkung auf die politische Führung überwindet und, wenngleich in offener Weise, auf die notwendige Verklammerung von politischem Militärsystem und Sozialverfassung verweist. Dies hatte es bereits im „Kriegsstaat" (Otto Büsch) des alten Preußen gegeben. Hans Herzfeld hingegen betonte direkt diese dominante und wechselseitige Abhängigkeit, „wo die militärische Organisation" ausufernd „eigenmächtig das Handeln des Staates nach ihrem besonderen technischen Gesetz bestimmt" hatte und die Friedens- zur „Kriegsordnung" umgestaltete. Damit hatte er klarsichtig die politischen Tendenzen der Radikalisierung des modernen Militarismus bezeichnet. Er verwies auf die „Selbstgesetzlichkeit" bei der „Ubersteigerung des Militärischen" 14 . Ahnlich grundsätzlich hatte Leopold von Wiese in dem Bemühen, die NS-Zeit in ihrer allgemeinen Erscheinung zu erfassen, das bekannte Wort von Clausewitz umgedreht und festgestellt, in den dreißiger Jahren habe der Staat im Frieden den Krieg mit andern Mitteln fortgesetzt. Diesen Autoren ist gemeinsam, daß sie begreifliche Bewertungen über die nahe Vergangenheit suchten und noch nicht befürchten mußten, durch das Kaleidoskop der Sachlichkeit detaillierter Untersuchungen den Blick aufs Ganze zu verlieren. Sie gaben Orientierung. Zur gleichen Zeit hatte die sozialwissenschaftliche Forschung in den USA sich dem Komplex der Dominanz des Militärischen bereits theoretisch genähert. Die von Harold D. Lasswell am Ende der dreißiger Jahre entwickelte Vorstel-
13 14
Ritter, Problem, S. 46 f; vgl. zur Kritik an Ritters Begriff Hinrichs, Preußen, S. 15ff. Zuerst gedruckt in: Herzfeld, Militarismus, S. 41 ff.
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lung vom „Kasernen-Staat"15 ging von der überbordenden Macht im Staate aus, der sich alle Bereiche des Lebens unterordnete. Das ergab vielerlei Parallelitäten zu der Ideologie vom „totalen Krieg" in Deutschland - mit weiteren Klärungen zum allgemeinen Militarismus. Es ist nicht zu übersehen, daß die deutschen konservativen Historiker der fünfziger Jahre mit ihrer Analyse des Militarismus auf verwandten Ansätzen kritischer Historiker der zwanziger Jahre aufbauten. Auch wenn diese zunächst nicht rezipiert wurden, ergeben sie heutzutage ein spannungsreiches Kontinuum. Der „Gesinnungsmilitarismus", so erkannte Alfred Vagts, drohte die Gesellschaft zu durchdringen und „zum beherrschenden Faktor aller Lebensbereiche, einschließlich der ökonomischen und künstlerischen" zu werden. Denn in Deutschlund wurde klarer als anderswo der Soldat in Friedenszeiten bewundert und der Primat des Militärischen „als etwas absolut Gutes"16 akzeptiert. Die gesellschaftliche Dimension der Militarisierung hatten in den zwanziger Jahren pazifistische Gruppen, an deren Spitze der Politiker Ludwig Quidde oder der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster zu nennnen wären, und auch Historiker - Franz Carl Endres oder Eckart Kehr17 - mit vorzüglichen Arbeiten über Rüstung, Eliten und Mentalitäten nachgewiesen. Diese Arbeiten zum Militarismus fundierten die sozialgeschichtliche Analyse der NS-Zeit; sie suchten den historisch vergleichenden Kontext herzustellen und differenzierten zugleich die Epochen. Doch in der Gegenwart ist offensichtlich ein Nachholbedarf entstanden; alte und gesicherte Studien sind in Vergessenheit geraten. Denn die Wehrmacht hat am Ende der Bonner Republik eine Rezeption18 erfahren, durch die in neotraditionalistischer Weise ihre historische Bedeutung geglättet wurde. Sie wird „unpolitisch" und moralisch „sauber" - bis in die letzte Phase des Kriegsverlaufes - präsentiert. Die eigene politische und militärische Verantwortung und die kooperativen Verstrickungen mit dem NS-System gingen legendenbildend verloren. Das Regime war dank der schleichenden Militarisierung aller Lebensbereiche seit Beginn der dreißiger Jahre - durch soziale Militarisierung (Otto Büsch) weiter erstarkt. Im Zeichen eines Modernisierungsschubes und einer demonstrativen Akzeptanz der technischen Revolution (vgl. den Beitrag von Ralf Schabel) konnten sich die obrigkeitlichen Institutionen, neben den zentralen Bürokratien vor allem das Militär, mit den Attributen der neuen Macht identifizieren. Aufkeimende Bürgerbewegungen, Jugendaufbruch, industrieller Fortschritt und soziale Emanzipation stärkten die gesellschaftliche Dynamik. Elemente der pluralistisch differenzierten Gesellschaft tauchten auf und stießen auf die Konkurrenz der traditionellen Werte und der sozialen Hierarchien. Reichswehr und Wehrmacht sind Zeugen dieser Konflikte. In der alten, etablierten Macht formte sich glänzend das Bild des neuen, des attraktiven Staates, 15 16 17 18
Vgl. Lasswell, Garrison-State, S. 455 ff. Vag Is, History, Einleitung; vgl. Obermann, Militarismus. Vgl. beispielsweise Kehr, Primat, und Endres, Tragödie. Vgl. Messerschmidt, Geschichtsbilder, S. 307 ff.; Bald, Neotraditionalismus, S. 277 ff.
Einführende Bemerkungen
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um schließlich seinen Anteil an der Formierung der Gesellschaft zu übernehmen. Dies hat die Stellung des Militärs im Gefüge des öffentlichen Lebens gewandelt und ihm die herausgehobene Funktion im und für den Herrschaftsapparat des Nationalsozialimus gegeben.
3. Wissenschaftlicher Ansatz: Professionalisierung Militarismus durchzieht nicht nur die Beziehungen zu Staat, Politik und Gesellschaft, sondern kann ebenso das Merkmal des Militärs selbst sein. Militär ist nicht monolithisch, ist nicht starre bürokratische Organisation oder soziale Institution allein. Seit den Anfängen des bürgerlich-industriellen Zeitalters brechen sich gerade im Militär konfliktreich die politischen, technischen und gesellschaftlichen Ausprägungen der Moderne. Die Entwicklung des militärischen Berufs ist durch permanente spannungsreiche Kontroversen gekennzeichnt. Der lange Weg vom Privileg zur Fachlichkeit, zur gesellschaftlichen und politischen Verortung des Offiziers wird als Professionalisierung bezeichnet. Die Professionalisierung ist geeignet, Auskunft über die Struktur und die innere Konsistenz des Militärs zu geben; sie ist zugleich Mittel der Politik, die Entwicklung des Militärs zu steuern. Grob lassen sich zumindest drei Ebenen unterscheiden: die soziale Rekrutierung, die normative Ausrichtung und die fachbezogene (Aus-)Bildung. Als ihre Probleme zeigten sich seit dem 19. Jahrhundert: Individuum versus Kollektiv, Einheit; Freiheit versus Disziplin, Pflicht; Kreativität versus Dienen, Befehl; Recht versus Unterordnung, Drill; aber ebenso: Geburt versus Gleichheit, Aufstieg; Stand versus Bildung, Ausbildung; Ehre versus Fortschritt, Technik. Der liberalen Entwicklung suchten schon die Reformer um Gerhard von Scharnhorst zum Durchbruch zu verhelfen, um den „Staat im Staate" aufzulösen und um die freiheitlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit „Staatsbürger in Uniform" dienen könnten. Dieser Anstoß zur Professionalisierung sollte die Militarisierung des Militärs aufbrechen. Die Reform des Militärs zielte darauf, den Widerspruch zwischen der Verfaßtheit des Staates und der Verfassung des Bürgertums evolutionär, von oben gesteuert aufzuheben. Das Vorhaben scheiterte. Das Militär verkörperte seitdem grundsätzlich eine konservative Institution mit den restaurativen Idealen der Vergangenheit. Wesentliches Dilemma der Professionalisierung blieb, daß das Militär mit den liberalen Idealen des Bürgertums auch die technischen Fortschritte verdächtigte, ablehnte oder repressiv bekämpfte. Nicht nur Aufklärung, Emanzipation oder Individualismus fanden auf diese Weise keinen Eingang ins Militär, sondern auch deren, im höchsten Grade politisch begriffenen Attribute wurden diskreditiert: soziale Gleichheit und Bildung. Es ist typisch, daß diese in Zeiten des bürgerlichen Aufbruchs - also nach 1806 und nach 1848 - einen Anspruch auf Reform erringen konnten, aber nur bedingt, gekappt, restriktiv „von oben" eingesetzt wurden. Diese Funktionalisierung führte zu Widersprüchen: zu
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reduktionistischer Modernisierung sowie zu bedingter Adaption des höheren Bürgertums. Das spitzte schließlich eine Entwicklung zu, die - nach dem erneuten Scheitern einer Reform um 1920 - in aller Grundsätzlichkeit in den zwanziger und dreißiger Jahren um so schärfer in Erscheinung trat. Für die einen ist es Wandel und Modernisierung, für die andern ist es Umbruch und Auflösung (vgl. den Beitrag von Wolfgang Petter). Diese längere Einleitung zur Frage der Professionalisierung des Militärs 19 soll den eigentlichen Zusammenhang betonen, um die Veränderungen der Binnenverhältnisse von Reichswehr und Wehrmacht einzuordnen und qualitativ zu bestimmen. Kontinuitäten oder Diskontinuitäten erhalten einen anderen Stellenwert. Im Militär manifestierte sich das „Symptom eines Zuges deutscher Sozialstruktur" 20 . Eine nachholende Modernisierung wurde das Zeichen der Zeit, beim Militär erst in den dreißiger Jahren erkennbar. Denn als Ziel galt, zunächst die Sozialstruktur des alten Heeres zu erhalten; dessen Adelsprivileg und -monopolisierung in bestimmbaren Führungsstrukturen ist eindeutiges Faktum 21 . Diese Verhältnisse wurden bis in die Wehrmacht transferiert. Denn schon Minister Noske hatte den Kampf um die soziale Reform gegen Seeckt verloren. Das Offizierkorps repräsentierte um 1930 in seiner Sozialstruktur mehr das kaiserliche Ideal als in den gesamten vier Jahrzehnten zuvor. Doch was unterscheidet den Kampf gegen die feudale Clique (Adolf Hitler) im Heer von einer sozialen·Öffnung nach pluralistischen Kriterien? Welche sozialen Bestimmungsgrößen der Rekrutierung der militärischen Führungsgruppen sind identisch, gerecht und fachbezogen, also „normal"? Aber wo liegen die Grenzwerte,.um den nationalsozialistischen Typ unterscheiden zu können? Die soziale Rekrutierung gibt nicht nur eine Antwort darauf, welche individuellen Rechte eine Gesellschaft verwirklicht, sondern auch, wie die Zivilgesellschaft und das exklusive Modell der alten Armee, die „organisch gewachsene" bzw. die „gesunde" Armee, bewertet werden 22 . Die Kriterien der Personalauswahl unterlegten die Politik der korporativen Festigung. Sie führte - via sozialer Basis - zu einer Verklärung des Soldatentums, zum Schutz seiner Mentalität, zum Bewußtsein von der herausgehobenen Kaste und von der Einzigartigkeit des Berufes, eines Berufes sui generis. Der politische Wille wollte die Kontinuität des Konservativismus im Militär künstlich aus ständestaatlichen Mythen herleiten und sozial konstruieren. Zugleich ging es um den Erhalt der alten Privilegien. Der „cultural lag" zum Zivilen war das Resultat der allgemeinen Ausgrenzung. Die Ausrichtung des Offizierkorps war amtlich als Programm vom „Adel der Gesinnung" beschrieben worden. Das nach außen wirksame Zeichen war die Distanz zu Demokratie und Parlament. „Gesinnung" verbürgte soldatische Tu-
19 20 21 22
Vgl. Bald, Streitfall, S. 1 7 7 ff.; ders., Militär, S. 1 5 4 f f . Dahrendorf, Gesellschaft, S. 250. Vgl. den Überblick bei Demeter, Offizierkorps; Bald, Offizier. Vgl. für die zeitübergreifende Bedeutung von sozialen Ursachen und elitärem Bewußtsein des Militärs Mosen, Bundeswehr. Für die Reichswehr bieten einen direkten Einstieg u. a. Endres, Kehr, G o r d o n A . Craig, Klaus Theweleit.
Einführende Bemerkungen
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genden, religiös-normative Orientierung und politische Haltung. Reichswehr und Wehrmacht definierten sich natürlich genauso nach innen. Sie standen in der Tradition dieser Politik der soldatischen Wertungen, des Selbstverständnisses und der Weltdeutung (vgl. die Beiträge von Dieter Beese und Johannes
Güsgen).
Wie weit sind spätere Wandlungen ursächlich auf den Krieg, die Technik, die taktischen Regeln oder die NS-Ideologie zurückzuführen (vgl. den Beitrag von Bernhard Kroener)} Was hat ursächlich Einflüsse ausgeübt? Auch da ist ein Blick auf die Binnenverhältnisse des Ersten Weltkriegs hilfreich. Die Ideologisierung des Militärs selbst ist jedenfalls nicht per se ein nationalsozialistisches Phänomen; sie gewann von dort weitere Akzente (vgl. den Beitrag von HansUlrich Thamer). D o c h , diesen Komplex weiter aufzulösen, ist für die Feststellung und Bewertung der Professionalität der Wehrmacht unerläßlich. Die Professionalisierung des Militärs ist schließlich mit dem Aufbau des militäreigenen (Aus-)Bildungssystems verbunden. Es reflektiert die Beherrschung der Technik, der Kommunikation und der Bürokratisierung ebenso wie das Aufkommen des Bürgertums und der Massenarmee. Denn bürgerlich war die individuelle Leistung, die Schulung, die Karriere. N o c h bis 1918 konnten die adligen Offiziere ihren Dispenz vom Nachweis der öffentlichen Leistungen (Abitur) erhalten; innerhalb des Militärs waren sie von derartigen Prüfungen selbstverständlich entbunden. Es ging lediglich um die Teilnahme an Kursen, nicht um bürgerliche (!) Leistungsnachweise. Das erklärt auch die relative Bedeutung der Marine- und Kriegsakademien; ihr Besuch war für die Adaption und die Akzeptanz bürgerlicher Offiziere obligatorisch. Die Kampagnen von Seeckt für Bildung im Militär zu Beginn der Weimarer Republik kamen jedoch nicht von ungefähr. Seeckt mußte die Ideale der Republik aufgreifen, da der Offizier erstmals in der deutschen Geschichte ein Beruf des öffentlichen Dienstes geworden war. Das hatte für Struktur und Inhalte des Berufes enorme Konsequenzen: eine neue Etappe der Professionalisierung. Diese Zäsur suchte Seeckt zu überspielen. Seine Kampagne war daher militärpolitisch gegen die demokratische Reform motiviert. Mit dem semantisch unverdächtigen Ziel der Bildung wurde die soziale Selektion des Offizierkorps betrieben. Dieser Hebel wirkte in professioneller Hinsicht antimodern und diente politisch zutiefst reaktionären Zielen: denn Seeckt differenzierte sogar die alten Eliten. Er wandte sich gegen soziale Gleichbehandlung (Frontsoldaten) und gegen intellektuelle Kritikfähigkeit im Offizierkorps. Bürgerliche Offiziere - es sei denn, sie gehörten zu den „erwünschten Kreisen" - hatten per definitionem keine Chancen. So war das Bildungssystem der Reichswehr keineswegs progressiv; es knüpfte unverblümt an den Verhältnissen der Vorkriegszeit an. Allenfalls nach dem Abgang von Seeckt gab es merklichere Bestrebungen nach Veränderung. Das reduktionistische Muster der Vorkriegszeit wurde jedoch nicht aufgegeben. Aufbau und Reorganisation des vollständigen Bildungssystems in den dreißiger Jahren hatten einen eminent politischen Rang - für die Repräsentanten des alten Militärs, für reformistische ebenso wie für technokratische Gruppen. Diese gab es gleichermaßen im Militär, in der Militärverwaltung wie unter Nationalsozialisten, in Partei- und Staatsführung. Zudem gilt, was 1935 angestrebt wurde,
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hatte sich bis 1939 gewandelt und machte längst im Frieden militaristische Enge deutlich 23 . Solide Ausbildung - selbst für die beruflich-handwerklichen Aufgaben - hat es, wenn man von partiellen Lösungen absieht, zu keiner Zeit wirklich gegeben, weder 1930, noch 1935, noch am Ende. Daneben entstand die machtpolitische und professionelle Konkurrenz der SS, anspornend und bedrohlich zugleich (vgl. den Beitrag von Bernd Wegner). Es gibt viele Gründe genauer zu schauen, welche professionellen Standards Reichswehr und Wehrmacht für ihr Bildungssystem definierten, daß diese keine Reformimpulse zu verwirklichen anstrebten, daß ihr Erziehungsprofil die Sozialisation von Militärfrömmigkeit wie das Training von Perfektion und Effizienz einschloß. Es ist notwendig, die genuine Tradition des Militärs von den wirklich NS-typischen Tendenzen zu unterscheiden. Die Reichswehr bietet nicht die gute Folie der militäreigenen (Aus-)Bildung, vor der die Entwicklung in der Wehrmacht leicht bewertet werden könnte. Optimierung, Effizienz und Modernisierung der Wehrmacht haben ganz unterschiedliche, aber auch unterscheidbare Ursachen. „Leistung" erweist sich als ein höchst komplexer Begriff der Professionalisierung. Doch zur Mobilisierung der Ressourcen gehört auch der Apparat zur Repression; er wurde nicht erst im Krieg aufgebaut (vgl. den Beitrag von Norbert Haase). Die Untersuchung der Professionalisierung ist wegen seiner großen Reichweite und des beachtlichen Differenzierungsvermögens geeignet, die Binnenverhältnisse der Wehrmacht auszuloten. Die Militarisierung von Staat, Politik und Gesellschaft im Nationalsozialismus ist augenfällig; diese Militarisierung hat einen Ursprung in der Tradition und in den Verhältnissen der Reichswehr. Potsdam - im Jahr 1933 - vermittelte sie in den Nationalsozialismus. Auch im Binnenbereich des Militärs manifestierten sich diese Tendenzen, Stukturen und Kräfte, obwohl sie nicht alle Ausprägungen der Wehrmacht durchdrangen. Ihre Gestalt blieb vielgesichtig. „Militarisierung" bietet jedoch einen Zugang, die Dominanz des Militärischen im Nationalsozialismus vor der militaristischen Vergangenheit vergleichend herauszuarbeiten. Damit wird zugleich der andere symbolische Stellenwert von Potsdam im Jahr 1945 — deutlich: Der gravierende Einschnitt in die Geschichte, das Ende des deutschen Militarismus.
23
Für die allgemeine Ausbildung vgl. Messerschmidt (Hrsg.), Offiziere; f ü r die Generalstabsoffiziere vgl. Bald u. a. (Hrsg.), Tradition.
Wolfgang
Petter
Militärische Massengesellschaft und Entprofessionalisierung des Offiziers
Oberleutnant Christoph von L'Estocq stand am 21. März 1933, Hitlers „Tag von Potsdam", als Fahnenoffizier vor der Garnisonkirche, und wenige Wochen darauf vor dem Traualtar. Seine junge Frau freute sich auf das „schönste" Ehejahr, aber traurig mußte ihr Gemahl in der Rückschau bekennen: „Honigmond? - nichts war davon zu spüren! Jeder Tag brachte neue Aufregungen und auch schlimme Nachrichten. Noch glaubten wir Soldaten uns auf einer einsamen Insel allein ... Aber nach und nach schwand auch das, und wir wurden unaufhaltsam mit hineingezogen in den Schlund des kommenden Unheils. Das Jahr 1934 insbesondere brachte uns Soldaten gewaltige Mehrarbeit, aber auch mehr Ärger, mehr Ungewißheit, wie es von nun an weitergehen sollte. Schon im Frühjahr 1934 gaben die Einheiten des 100000 MannHeeres die Kader für die Neuaufstellungen ab ... Es war das Ende unseres festgefügten und hervorragenden Berufsheeres, und es war schließlich der Beginn des Endes von Anstand und Würde, von Ansehen und von alledem, was uns bislang Halt und die Uberzeugung gegeben hatte, das Richtige zu tun und damit dem Vaterland zu dienen" 1 . Die Einheit, deren konkrete und moralische Zersetzung L'Estocq beklagte, war die renommierteste der Reichswehr, das 9. (Preußische) Infanterie-Regiment „IR 9". Der Weg des IR 9 ist paradigmatisch verlaufen: Zum 1. Mai 1932 umfaßte die Rangliste noch 76, davon 33 adlige Offiziere mit einem durchschnittlichen Rangdienstalter von vier bis fünf Jahren im Dienstgrad. Am 5. April 1945 meldete sich in Ostpreußen befehlsgemäß der letzte Regimentsadjutant, Hauptmann der Reserve Richard von Weizsäcker, als zur Aufstellung einer Panzerdivision ins Reich versetzt, vom IR 9 ab. In diesen letzten Kriegswochen, zwölf Jahre nach dem „Tag von Potsdam", oblag die Regimentsführung dem Stabsarzt der Reserve Dr. Aeffner; das IR 9 besaß keinen einzigen aktiven Offizier mehr2. Eigentlich kann man gar nicht von „dem IR 9" sprechen, denn das Paradigmatische manifestiert sich in der fortlaufenden Teilung, Auslöschung und Neuaufstellung von Stamm und Ablegern 3 . Richard von Weizsäcker hat ihm sechs Jahre lang angehört, aber das IR 9, zu dem er 1938 als Wehrpflichtiger eingerückt ist, war nicht einmal organisatorisch mit dem identisch, das er 1945 verließ. L'Estocqs Regiment gab es in Wirklichkeit schon seit 1934 nicht mehr. Das I. Bataillon hat damals ein IR 29 in Crossen, das III. ein IR 67 in Spandau formiert, nur das II. bildete den Stamm für das neue IR 9/2, das sich dann 1939 1 2 3
L'Estocq, Soldat, S. 111. Nayhauss-Cormons, Gehorsam, S. 485-489. Tessin, Verbände.
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Wolfgang Petter
noch in die Infanterieregimenter 9/3 und 178, 1940 in die Infanterieregimenter 9/4 und 415 geteilt hat 4 . Bis Kriegsbeginn sind seine Kader also schon schematisch gesechstelt und entsprechend aufgefüllt worden. Bei einer Stärke von 76 Offizieren 1932 und 461938 hatte das Nummernregiment im Frieden einen Durchlauf von 256 aktiven und insgesamt bis 1945 von etwa 1000 Berufs- und Reserveoffizieren 5 . Von den 72 des „Tages von Potsdam" 1933 hat Weizsäcker bei seinen Dienstantritt fünfeinhalb Jahre später keinen einzigen mehr im Regiment erlebt. Von den 46 der letzten Friedensrangliste 1938 waren 17 erst in den letzten drei Jahren zum Leutnant befördert worden, und zwei waren reaktivierte, sogenannte E-Offiziere mit dem Erfahrungsstand des Ersten Weltkriegs 6 . Auf die hochkarätige Reichswehrausbildung konnte also schon vor Kriegsbeginn nur ein Teil des Regimentsoffizierkorps IR 9 zurückblicken. Auf Heeresebene hat sich der Reichswehranteil im Krieg, der das Korps der anfangs etwa 100000 aktiven und Reserveoffiziere um fast 400000 Neuernennungen und Zuversetzungen vermehrte 7 , statistisch auf etwa 1 von 100 verdünnt. Daß sich die Art der Professionalität - was auch immer man zunächst darunter verstehen mag 8 - aufgrund dieser Umschichtung verändert hat, dürfte auf der Hand liegen. Nehmen wir als Beleg das Grundprinzip der klassischen deutschen Taktik, die bewegliche Kampfführung 9 . Auch im IR 9/1 hat sich die Ausbildung an diesem Ideal und an dem Ziel orientiert, künftig der Stagnation des Stellungskriegs zu entgehen. Hilfreich war dabei die Verknüpfung mit den Kameradschaftsvereinen der Traditionstruppenteile der alten Armee, denen die einzelnen Kompanien des Regiments zugeordnet waren 10 . Verbunden waren die 1., 3., 4. und 11. dem 1. bis 4. Garderegiment zu Fuß, die 5. und 6. dem Gardeschützen- bzw. Gardejägerbataillon, sowie die 13. Lettow-Vorbecks Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, so daß selbst der Busch- und Kleinkrieg zum
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9 10
Paul, Regiment 9, Textband, passim. Ebd., Dokumentenband, S. 98 ff.; Reich, „Graf Neun", S. 190 ff. Ranglistenauszüge bei Paul, Regiment 9, Dokumentenband, S. 7 0 - 8 5 . Zahlengrundlage hier und im Weiteren sind Kroener, Ressourcen; ders., Rüstung. Der Begriff „Entprofessionalisierung" wird im Folgenden als Arbeitsbegriff für die Entfernung der Wehrmacht von den Normen der als Militärelite geltenden Reichswehr benutzt. Die Problematik des gegebenen Falls mag deutlich werden anhand des berüchtigten, von anderen Großverbänden kopierten Befehls an die 6. Armee vom 1 0 . 1 0 . 1 9 4 1 , in dem Generalfeldmarschall v o n Reichenau die Akzeptanz von Aufgaben anordnete, „die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch ein Träger der unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muß der Soldat f ü r die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschen volles Verständnis haben", A O K 6, Abt. Ia, A z . 7 geh., B A - M A , R H 20-6/493. Im Sinne des Regimes gehörte diese A r t von Politisierung zur Professionalisierung der Wehrmacht, während der Historiker die A b k e h r v o m „hergebrachten einseitigen Soldatentum" eher als Entprofessionalisierung betrachten dürfte. Judenfeindschaft und Hitlergläubigkeit waren jedoch so unabdingbare Merkmale der Rekrutierung, Ausbildung, Rolle, Dienstpflichten und Aufstiegskriterien des deutschen Offiziers im „Dritten Reich", daß die neutrale Anwendung absoluter soziologischer Begrifflichkeit m. E. fragwürdig wäre. Borgert, Grundzüge. Teske, Analyse.
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Werte- und Erfahrungsschatz des IR 9 zählte 11 . Auf Rat und Hilfe der Ehemaligen griff man nicht nur 1920 bei der Wiederherstellung des inneren Dienstes zurück, der in Krieg und Bürgerkrieg abhanden gekommen war, sondern auch bei der Ausbildung zur Ausweich- und Stoßtaktik. Das dabei leicht vergessene unabdingbare Zusammenwirken mit dem Nachbarn hatte die Reichswehr dank ihrer einheitlichen Schulung verinnerlicht. Die an sich notwendigen, aber durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags vorenthaltenen modernen Transportmittel und Waffen wurden mittels geschickter Improvisationen, einem weiteren ihrer Markenzeichen, kompensiert. Vornehmlich diese hohe geistige und taktische Beweglichkeit sollte die Professionalität des deutschen Offiziers ausmachen, und in den Chroniken des IR 9 wird das auch gebührend hervorgehoben. Im Winter 1941 war es damit aber zu Ende12. Als General Ruoff sein V. AK, in dessen Rahmen das IR 9 entlang der Rollbahn Klin-Moskau kämpfte, Anfang Dezember aus dem gescheiterten Angriff in die bewegliche Verteidigung umsteuerte, traf er auf Unwillen und Unfähigkeit. An den Nahtstellen kam es zu schweren Krisen. „Von der Truppe wurde der Befehl zum Abbrechen des Kampfes und Absetzen... nicht verstanden", notierte der Kommandeur des IR 9, Oberst Raegener. „Dieser letztere Befehl ist für die Truppe unausführbar", stellte die 23. ID, der die Infanterieregimenter 9 und 67 angehörten, resignierend fest. Mit dem ständigen Ausbau, Räumen und Wiedergewinnen von Stellungen, um den Feind ins Leere laufen zu lassen und abzuriegeln, war die Truppe überfordert. Sie hat Hitlers Haltebefehl vom 16./17. Dezember als Erlösung begrüßt. Die Taktik war von der Elastizität zum „fanatisch" starren Halten degeneriert, bei dem man sich durch gelegentliche Angriffe Luft verschaffte. Und schon betrachtete man die Sache ganz anders: „Der Russe ist nicht kampfkräftig genug, um eine entscheidende Operation großen Maßstabes durchführen zu können", gab die 23. ID, optimistischer geworden, zu Weihnachten 1941 an, jeder „nachdrückliche Gegenstoß mit noch so geringen Kräften hat ihn in die Flucht geschlagen". Die Erschöpfung, das barbarische Klima und die militärtechnische Unterlegenheit haben natürlich ihre Rolle bei der Abdankung der beweglichen Taktik gespielt, aber entscheidend für unsere besondere Frage nach der Professionalität ist, daß sie, wie die Kriegstagebücher zugeben, für die Truppe zu kompliziert geworden war. An ihre Stelle trat der Appell: „In jedem einzelnen Mann muß der Wille zur Abwehr und der Glaube an die eigenen Stärke und Überlegenheit wiedergeweckt und befestigt werden",„befahl die 23. ID zur Jahreswende: „es geht um Leben und Tod". Die Quittung wurde dem IR 9 mit Verlusten bis zum Absinken auf eine Gefechtsstärke von 8 Offizieren, 70 Unteroffizieren und 241 Mannschaften zum 31. Januar 1942 erteilt 13 . Im September 1942 wurden die Infanterieregimenter 9/4 und 67/2 regeneriert und in die Panzergrenadierregimenter 9/5 und 67/3 umgewandelt. Nach der Vernichtung von 9/5 schuf man im November 1944 mit den Resten der 20. 11
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Die Pflege der Schutztruppen-Tradition wird hervorgehoben bei Paul, Regiment 9, Textband, S. 40; Teske, Analyse, S. 261. Das Folgende nach Paul, Regiment 9, Textband, S. 2 2 4 - 2 3 1 . Verlust- und Stärkemeldungen ebd., S. 242 f.
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Luftwaffenfelddivision das Panzergrenadierregiment 9/6. Aus dem Potsdamer Feldersatzbataillon erwuchsen schon 1942 die zwei Grenadierregimenter 9/7 und 67/3. Ihr Rückhalt wurde ein Infanterieersatzregiment 23. Der in Stalingrad untergegangene Berliner Zweig IR 178 wurde 1943 neuaufgestellt, 1944 in Rumänien vernichtet, und erstand danach als 178/3 wieder. Der Crossener Ableger des IR 9 brachte es bis zu Panzergrenadierregiment 29/5. Weizsäckers Abschied erfolgte vom Grenadierregiment 9/8, das 1945 in Ostpreußen neuaufgestellt worden war. Das Symbol des alten IR 9, die friderizianische Grenadiermütze, haben vier aus ihm hervorgegangene Divisionen getragen: die 76. ID und die 23. ID alt und neu sowie die 26. Panzerdivision. Das Stamm-IR 9/1 von 1932 hat sich in wenigstens 21 Regimenter und mehr aufgelöst, und dieser Befund läßt sich im Großen und Ganzen auf alle übrigen 20 Reichswehr-Infanterieregimenter und weiter übertragen. Auch im IR 9 hat sich das, wie L'Estocq bitter vermerkte, politisch ausgewirkt. Noch 1936 war sein Offizierkorps so geschlossen, daß sich Dr. Hans Frank, der spätere berüchtigte Generalgouverneur in Polen, während einer Reserveübung bei IR 9 in seiner Eigenschaft als Reichsminister einerseits zum schärfsten Gegenhalten bei den oft kritisch politisierenden Diskussionen, in seiner Eigenschaft als Leutnant der Reserve andererseits aber zum strikten Schweigen darüber verpflichtet fühlte 14 . Der aus dem IR 9/1 stammende Chef des Heerespersonalamts Schmundt hat Hitler im mehrfachen Sinn so nah gestanden, daß er als Opfer von Stauffenbergs Bombe gestorben ist; Schmundt verkörperte den gläubigen Nationalsozialisten in Uniform, aber auch für ihn war es undenkbar, den Regimentskameraden von Tresckow nur wegen dessen ihm wohlbekannter gegensätzlichen Haltung zu verraten 15 . Politisch war Schmundt auf der Höhe, aber mental war er ein Traditionsfossil. Vom Gros der 1000 Regimentsoffiziere im weiteren Sinn, die nicht zu den bekannten 20 „Neunern" des 20. Juli 1944 gehörten 16 , war derartiges nicht mehr zu erwarten. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich Weizsäcker unbehaglich an „die Geschichte mit den Schüssen auf das Hitler-Bild, als er und andere Offiziere vor Leningrad eines Abends zusammengesessen hatten" - so beschreibt sein Kriegsbiograph die offensichtliche Veränderung im Regiment, „konnte er noch sicher sein, daß dieser Vorfall über den Kreis der Beteiligten nicht hinausgetragen worden war" 1 7 ? Allein schon Weizsäcker wußte von zwei jüngeren Offizieren des Regiments, daß sie aus der SS stammten und die Befugnis zum Mithören von Telefongesprächen besaßen 18 . Und es waren 115908 SS-Angehörige, die 1944/45 wehrpflichtig oder freiwillig in der Wehrmacht dienten und sie von innen her zu kontrollieren vermochten 19 ! Die Aufschwemmung der Truppe hat also, nimmt man Ausbildungsstand und Korpsgeist der Reichswehr als Ideal und Maßstab für den Begriff „Professio14 15 16 17 18 19
Frank, Angesicht. L'Estocq, Soldat, S. 129-132. Reich, „Graf Neun", S. 192. Nayhauss-Cormons, Gehorsam, S. 397. Ebd., S. 377, 396. Müller-Hillebrand, Heer, 3, S. 318. Von den im März 1945 = 829400 Männern der Waffen-SS gehörten nur 63 881 zugleich der Allgemeinen SS an. Diese zählte 263 929 Mitglieder.
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nalität", eine Verwässerung bewirkt. Die damit verbundene Gefahr wird besonders deutlich bei der Luftwaffe und der Auswirkung gewisser Defizite bei der Beherrschung der Technik. Die Hast ihres Aufbaus von „Null-KommaLipezk" aus führte zu einem Anteil von 2 0 % E-Offizieren, zu einer Durchschnitts-Ausfallquote von 4 0 % der Maschinen wegen unsachgemäßer Behandlung und bis Sommer 1944 zum Verlust von 24557 Mann durch Flugzeugunfälle20; aber die Sache hatte auch eine anthropologische Dimension: Zu der Marodierwelle in Italien, auf der nicht wenige deutsche Soldaten 1943 ihre Wut über den Abfall des Verbündeten abritten, hat Generalfeldmarschall Kesselring in Nürnberg ausgesagt, daß er als O B Südwest die Truppe bald wieder in den Griff bekommen habe - mit Ausnahme der beiden einer „abweichenden" Art von Kriegführung zuneigenden Fallschirmdivisionen seines eigenen Wehrmachtteils21. Bei derartigen Defekten könnte das Bonmot vom „preußischen" Heer, der „kaiserlichen" Marine und der „nationalsozialistischen" Luftwaffe fast als Aphorismus ernstgenommen werden, wenn es sich nicht um hier besonders kraß zutage getretene Symptome der ganzen Wehrmacht gehandelt hätte. Das Durchschleusen von 20 Millionen Menschen ohne technische und personelle Tiefenrüstung im Krieg hat seinen Preis gefordert. Die Steuerung des Offizierersatzes im Heer erfolgte jahrelang durch das Heerespersonalamt (ΗΡΑ) 2 2 , das vom 1. März 1938 bis zum 30. September 1942 von General Bodewin Keitel, dem jüngeren Bruder des Chefs OKW, geleitet wurde. Anders, als diese Beziehung suggerieren möchte, setzte Hitler erst mit der Ablösung Keitels durch General Rudolf Schmundt, 1. Oktober 1942 bis 1. Oktober 1944, die Prinzipien durch, die er, die Partei und die Wehrmacht als genuin nationalsozialistisch verstanden. Der Tätigkeitsbericht des ΗΡΑ 2 3 hält sie unter dem 25. Januar bzw. 26. April 1944 fest: „Offizier soll in Zukunft nur sein, wer eine Truppe führt" bzw. „Einen unpolitischen Offizier gibt es nicht". Es war L'Estocqs „lieber, alter Freund" Schmundt, der Ende 1943 die „ZweiSäulen-Theorie" der Ära Blomberg-Reichenau, jenen Versuch zur Verbindung von Loyalität mit Eigenständigkeit 24 , sozusagen in Urlaub schickte. Hatte bislang die Parteizugehörigkeit bei Soldaten zu ruhen gehabt, so konnte nun mit der am 22. Dezember 1943 erfolgten Einführung des Nationalsozialistischen Führungsoffiziers (NSFO), der in der Regel ein der N S D A P angehöriger Reserveoffizier war, die Partei aktiv in die Wehrmacht eindringen. Freilich hat die Wehrmacht damit eher eine Loyalitätsbekundung abgeben, als sich ernsthaft unter Kuratel einer anderen Organisation stellen wollen. Das „Politruk"-System war nur als Transitorium bis zur effektiven Austilgung letzter Reste von politisch reservierter Haltung im Offizierkorps gedacht und sollte danach aufgehoben werden 25 . Denn die Auswahl und Ausbildung, wie sie das ΗΡΑ seit Schmundt steuerte, lief eo ipso auf den „politischen Offizier" hinaus, der seine
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Kroener, Ressourcen, S. 911 f. Schreiber, Kriegsverbrechen; IMT, 9, S. 255. Stumpf, Wehrmacht-Elite. Bradfey/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht. Müller, Heer; Messerschmidt, Wehrmacht (1969). Förster, Führerheer.
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Soldaten gleichermaßen militärisch wie ideologisch formen und führen sollte. Mit der Durchsetzung dieser Ausprägung von Professionalität hätte die Wehrmacht ihre Autonomie, die ihr vollends nach dem 20. Juli 1944 mit der faktischen Schaffung eines „NSFO-Dienstwegs" abhanden kam 26 , in der weiteren Zukunft wiedergewinnen können. Als Wegweiser für die Ausrichtung des Offiziers gab das ΗΡΑ Anfang 1944 die Schrift „Wofür kämpfen wir?" heraus 27 , der man allerdings über den „Endsieg" als solchen hinaus kaum ein positives „Wofür", sondern vor allem das wortreiche Konstrukt vom „Judentum" als dem verbindenden und steuernden Element der Feindkoalition von „Plutokratie" und „Bolschewismus" zu entnehmen vermochte. Letztlich hat sich wohl das ΗΡΑ damit liebedienerisch am Reinwaschen des „Führers" von der Schuld am Weltkrieg beteiligen wollen. Schmundts Nachfolger wurde General Wilhelm Burgdorf, zu dessen ersten, kennzeichnenden Amtshandlungen die Uberbringung der „seidenen Schnur" an den eine Kriegsbeendigung fordernden Generalfeldmarschall Rommel zählte. Das ΗΡΑ war inzwischen dem Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Himmler unterstellt worden. Grundsätzliche Verfügungen gab es seit Herbst 1944 nicht mehr heraus. Es hatte als Steuerungsstelle ausgedient. Die Offizierpersonalbearbeitung der ab Mitte 1944 neugeschaffenen, truppendienstlich Himmler unterstellten Volksgrenadierdivisionen und analogen Verbände erledigte das ΗΡΑ unter Aufsicht der SS. Das Weimarer Reichsheer hatte 4000 Offiziere und höhere Beamte - die Reichsmarine 1500-, mit einem durchschnittlichen Austausch von 200 pro Jahr. An Reserven gab es anfangs 200000 kaiserliche Weltkriegsoffiziere mit rasch fallender Stärke, Tauglichkeit und Verfügbarkeit. 1938 war der Stand von 14000 aktiven, 8000 aktiv verwendeten E.- und z. D.-Offizieren sowie 77000 Reserveoffizieren erreicht. Hauptergänzungsquelle des Heeres waren im Frieden die von 250 auf schließlich 3000 Teilnehmer gesteigerten Offizier-Lehrgänge, bei denen 30% der Anwärter negativ zu evaluieren waren. Für das Kriegsjahr 1943 errechnete das ΗΡΑ einen Verlust von 35500 Offizieren durch Tod oder Invalidität, den es durch 6000 Tapferkeitsbeförderungen und drei Lehrgänge von je 12000 Offizieranwärtern unter Ausscheidung von je 2000 auszugleichen beabsichtigte 28 . Die negative Evaluierungsquote wurde also mit 17 Prozent fast halbiert. Man muß aber in Rechnung stellen, daß unter den Anwärtern, die ja durchweg auf eine vormilitärische Schulung in der Hitlerjugend zurückblickten, über die Verleihung von entsprechenden Führerrängen bereits eine gewisse vormilitärische Auswahl stattgefunden hatte, so daß die Anforderungen gesenkt werden konnten. Uberraschende Lücken, z.B. beim Take off von 1934 oder 1943 nach Stalingrad und Tunis, stopfte man aus einem etwas problematischen Reservoir: Anders als im Ersten Weltkrieg, in dem sich das preußische Militärkabinett mit Offizier-
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Müller-Hillebrand, Heer, 3, S. 165 f. Personal-Amt des Heeres (Hrsg.) Wofür kämpfen wir? Hrsg. vom Personal-Amt des Heeres, Berlin 1944. Anreger und Bearbeiter dieser Dienstvorschrift war Oberst von Hellermann. Kroener, Ressourcen, S. 735; Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 28. 7. 1943, S. 83 ff.
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Stellvertretern und Feldwebel-Leutnants außerordentlich schwer getan hatte, griff das ΗΡΑ im Zeichen der Volksgemeinschaft leicht auf bewährte PortepeeUnteroffiziere zurück - nicht ohne sie in der Ära Keitel in einer eigenen Dienstaltersliste C zu führen, die Schmundt dann aufhob. Im ersten Kriegsjahr erfolgten 5000 von 37000 Offizier-Ernennungen aus dem Unteroffizierstand 29 . Der soziale Fortschritt von der „Adel der Gesinnung-Order" Wilhelms II. vom 29. März 1890, die die Rekrutierungsbasis des Offizierkorps auf den Adel, das Soldaten- und Beamtentum und den erwiesenermaßen christlich-patriotischen Sektor des Bürgertums eingeschränkt hatte 30 , und die stillschweigend für die Reichswehr fortgalt, bis zu diesem Punkt ist unübersehbar. In der Truppe sagte man zur Kehrseite freilich offen heraus, wie beim I. AK im März 1942, daß junge schneidige Offiziere leichter ersetzbar seien als altgediente Unteroffiziere. Ohne die Beförderung von Unteroffizieren aber hätte der Zustand der „Walküre"-Divisionen 17. Welle, denen ein Bericht Stauffenbergs damals zu junge Führer und zu alte Kommandeure bescheinigte, auf das ganze Heer übergegriffen; der gleichzeitig konstatierte Fehlbestand an qualifizierten Funktionsunteroffizieren, die wegbefördert worden waren, herrschte bereits allgemein 31 . Die Entwicklung wurde aber nicht gebremst. Sagt das Standardhandbuch der deutschen Sozialgeschichte zur Reichswehr noch: „Im Offizierkorps dieser Elitetruppe war der Adel manchmal stärker vertreten als in der alten Armee von 1914", so bringt es die Veränderung der Wehrmacht wie folgt auf den Punkt: „Im Frühjahr 1944 stammten 64 Prozent des deutschen Offizierkorps aus dem Mannschaftsstand" 32 . Am 4. November 1942 brach Hitlers „Verfügung zur Förderung von Führerpersönlichkeiten" in den Feldtruppen des Heeres mit dem herkömmlichen Dienstaltersprinzip 33 . Die Formulierungen des Prinzips der Beförderung nach Leistung entsprachen zwar bewußt dem in der Rabauken-Ära der NS-Bewegung entwickelten Postulat von der „Führerauslese im Kampf", aber das ΗΡΑ verwirklichte, indem es der Truppe das Initiativ- und Vorschlagsrecht gab, zugleich älteste vorbürokratische militärische Vorstellungen. Außerhalb der Feldtruppen wurde weiterhin schematisch nach Dienstzeit befördert, so daß ein heftiger Umschleusverkehr von Offizieren, die an sich keine Qualifikation zum Führen im Gefecht besaßen, einsetzte. Luftwaffe und Waffen-SS übernahmen die Verfügung. Die Marine konnte darauf verweisen, daß ihre Beurteilungsbestimmungen schon seit 1937 auf Leistungsbeförderung hinausliefen, und zwar nach moderneren Kriterien, als denen eines archaisch anmutenden bloßen „Kämpfertums". Der Prinzipienfehler der Vorzugsbeförderung nach Unerschrockenheit und vor allem Standfestigkeit, also zuerst nach Charakter, rächte sich im weiteren Rückgang der Führungsfähigkeit in einem so komplexen Ablauf wie dem modernen Krieg, der besonders viel Schulung und Erfahrung for29 30 31 32 33
Kroener, Ressourcen, S. 845. Messerschmidt, Armee, S. 18. Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 925, 732, 841. Aubin/Zorn (Hrsg.), Handbuch, 2, S. 902, 904. Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, hrsg. v o m M G F A , Stuttgart 1962, S. 2 8 6 - 2 9 5 . Zum Folgenden siehe Stumpf, Wehrmacht-Elite; Kroener, Weg.
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dert. Das Ausmaß der kontinuierlich ansteigenden Verluste und des Besetzungsfehls brachte es mit sich, daß unzählige Offiziere von vorneherein auf Ebenen führten, die oberhalb ihrer Qualifikation lagen, sich dort in bestimmten Situationen auszeichneten und dann in Dienstgrade aufrückten, die sie nicht mehr oder noch nicht verdient hatten. Es gab nicht wenige positive Fälle, aber offenbar beängstigend viele Mißgriffe. Das Auskämmen unter den Nicht-Truppenoffizieren, das der blutigen Negativauslese der Front begegnen sollte, und das Einschleusen aus Karriererücksichten vermehrte die Mißbesetzungen und verminderte die Zahl von Offizieren, die in anderen Bereichen als gerade im Felde sinnvoller wirken konnten. Das Lochkartensystem, das die Verrechnung ziviler Qualifikationsmerkmale mit dem Kriegsbedarf erleichtert hätte, wurde erst nach der Unterstellung unter Himmler im Herbst 1944 von der Waffen-SS auch auf das Heer übertragen 34 , zu spät, um das Potential an kriegsunterstützenden Begabungen auszunutzen. Auch Reserveoffiziere wurden einseitig als „Kämpfer" ausgewählt, so daß sich hier die in „nationalsozialistischer Menschenführung" bereits ausgewiesene Lehrerschaft in den Vordergrund schieben und die Hälfte der Ernennungen für sich verbuchen konnte 35 . Unter den fast 300000 Reserveoffizieren des Heeres hatten sich damit die Protagonisten der weltanschaulich korrekten, unbeweglichen Durchhaltetaktik als stärkste Gruppe etabliert. Konsequenterweise kehrte der Wehrmachtführungsstab im Frühjahr 1944 mit Anweisungen und Appellen zu dem zurück, was die Reichswehr bereits überwunden hatte, nämlich zum Stellungsbau und zum starren Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs 36 . Ausländer können von der Wehrmacht, die wir dergestalt kritisch sehen, einen durchaus anderen Eindruck haben. Martin van Creveld bescheinigt ihr in seiner Vergleichsstudie über ihre Kampfkraft mit der des amerikanischen Gegners gerade auf den unteren Ebenen ein „durch und durch professionelles Offizierkorps". Max Hastings, der Chronist der Invasion „Overlord", stimmt der hohen Selbsteinschätzung eines Offiziers im Hauptmannsrang zu, dem 1944 „weder unsere Männer noch unsere Panzer gut genug" waren und dem zugleich das Vertrauen zum Divisionskommandeur abging, und verallgemeinert sie im Einvernehmen mit Trevor Dupuy dahingehend: „Die deutsche Führung auf Korpsebene und darüber war oft wenig besser als die der Alliierten und manchmal deutlich schlechter. Aber auf Regimentsebene und darunter war sie hervorragend. Die deutsche Armee schien über ein unbegrenztes Reservoir... (von unteren Offizieren)... zu verfügen, die in der Lage waren, die Verteidigung eines ganzen Frontabschnitts zu leiten" 37 . Beim Sturm auf das Reich 1945 von Osten her bemerkt dagegen Christopher Duffy, daß jüngere Offiziere „unerfahren und nicht hart genug" gewesen seien, während viele einfache Deutsche Mut und Einsatzbereitschaft besaßen, „wie es der Volkssturm zumindest an der Ostfront mit seinen zäh kämpfenden alten Männern und den flinken, furchtlosen Hitlerjungen bewies". Das in der
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Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, 23. 8. 1944, S. 2 1 8 f . Kroener, Ressourcen, S. 904; Kater, Nazi Party, S. 232. Warlimont, Hauptquartier, S. 4 4 1 . Creveld, Kampfkraft, S. 2; Hastings, Unternehmen, S. 71, 206.
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Reichswehr so intensiv gepflegte hinhaltende Gefecht habe die Wehrmacht zunächst verlernt, aber nach Kursk 1943 erfolgreich wieder in ihr Repertoire aufgenommen 38 . Quot capita tot sententiae. Worauf Duffy anspielt, ist das Ausweichen vor dem sowjetischen Feuerschlag gegen die Seelower Höhen 1945, der letzte, wenn auch flüchtige Erfolg der Wehrmacht. Auf der operativen Ebene beherrschten Generaloberst Heinrici und sein Stab das von Hitler eigentlich verbotene „Schlittenfahren" noch, auch wenn die 9. Armee an der Oder schließlich von Marschall 2ukovs Frontmasse zerdrückt worden ist. Auf der taktischen Ebene war dieses mit Mansteins „Schlagen aus der Rückhand" vergleichbare bewegliche Kampfverfahren nicht mehr führbar 39 . Der Abbau ging aber noch weiter. Der Luftwaffenführungsstab lastete das Mißlingen der Ardennenoffensive aufgrund der Meldungen der Verbindungsoffiziere zu den A O K dem Sachverhalt an, daß „Binsenweisheiten" der taktischen Koordination einfach nicht mehr beachtet würden. Als Grund nannte er die „absinkende Qualität der Einheitsführer und Kommandeure", denen eine solide truppendienstliche Ausbildung fehle; der Großteil der jungen Offiziere falle „hinsichtlich Können und Erziehung" ab 40 . Der Chef des NSFührungsstabs beim OKW, General der Gebirgstruppen von Hengl, stellte Mitte März 1945, zehn Jahre post Reichswehr, fest, „daß manche Führer noch nicht genügend mit zusammengefaßten Haufen in der Abwehr und im Gegenstoß improvisieren können". Die Bildung des Brückenkopfs Remagen sei auf dieses Unvermögen zurückzuführen 41 . Wie weit die Professionalität eines Offizierkorps den Verlauf des Zweiten Weltkriegs mitentschieden hat, sollte dahingestellt bleiben. Es gilt darauf hinzuweisen, daß Frankreich bei der Mobilmachung den Grundbestand seines Heeres von 680000 Mann um 4,8 Millionen ausgebildete Reservisten verachtfachen und 32 000 aktive Offiziere durch die entsprechende Anzahl in langen Jahren geschulter Reserveoffiziere ergänzen konnte. Der gut geleitete bewegliche Widerstand an der Weygand-Linie zeigt, daß das vorausgegangene Desaster primär der veralteten Strategie geschuldet war und daß das taktische Führerkorps generell die Fähigkeit besaß, die in Deutschland nur der Ex-Reichswehrbruchteil mitgebracht hat. Dagegen hätte eine derart entprofessionalisierte Masse wie die Rote Armee, die im Sommer 1941 außerdem durch ihre ungünstige Dislokation sowie die gerade laufende Umbefestigung der „Stalinlinie" und ihre Umrüstung kapitaler Beeinträchtigung unterlag, Hitler den Blitzkrieg nicht so verdorben haben dürfen, wie sie es tatsächlich hat. Das rote Heer war gerade stürmisch von 0,5 auf 1,5 Millionen verdreifacht worden, als Stalin sein Offizierkorps in der „Großen Säuberung" 1937/38 mit schätzungsweise 35000 Opfern, der Hälfte der Kopfstärke, sogar noch umstrukturierte. Auf dieser labilen Basis wurde die Rote Armee in den wenigen Jahren vor dem Fall „Barbarossa" auf 38 39 40
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Duffy, Sturm, S. 67 ff., 382, 394, 396. Hoffmann/Neuhaus/Leidinger, Gegenschlag. Lw-Führungsstab/Ausb. Abt., N r . 1 7 0 5 / 4 4 g. Kdos., 15. 1. 1945: Eindrücke von der Kommandierung von Offizieren des Ο . K. L . anläßlich der Winterschlacht im Westen, B A - M A , R L 2 11/124. Der Chef des NS-Führungsstabes, N r . 3 0 4 / 4 5 gKdos, 19. 3. 1945: Truppenbesuch im Bereich O B West und Ersatzheer, ebd., R W 4/v. 495.
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9 Millionen, davon 4,7 an der deutschen Front vermehrt. Es gibt genug Berichte, die beginnend mit dem Finnischen Winterkrieg 1939/40 auf weit verbreitete Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit abheben. „Zahlreiche junge militärische Kader, die vor 1941 hohe Stabs- und Kommandofunktionen erhalten hatten", schreibt selbst das DDR-Weltkriegswerk dunkel, „besaßen nur geringe Erfahrung in der modernen Kriegführung" 42 . Aber schon im Spätsommer 1939 hat diese Truppe in der Mongolei die erfahrene japanische Kwantung-Armee geschlagen, und 1941 hat sie trotz der Millionenverluste von Bialystok, Smolensk, Kiev, Vjaz'ma-Brjansk u. s. f. pars pro toto das IR 9 bis zu dem physischen, psychischen und kriegshandwerklichen Tiefpunkt ruiniert, auf dem es um die Wende 1941/42 angelangt war. Andere Faktoren haben also offenbar eine noch stärkere Rolle gespielt. Die britische Armee hat sich von 0,5 Millionen ausgebildeten Männern bis Sommer 1940 verdreifacht und bis Kriegsende auf 2,9 Millionen insgesamt fast versechsfacht. Ohne ihre Rettung bei Dünkirchen hätte sie vermutlich noch mehr Amateurcharakter angenommen als die weiland „Kitchener-Divisionen", die Grabenverbände des Ersten Weltkriegs par excellence, die bei fast allen britischen Angriffen wenig erreicht, aber doch Ludendorffs gefährliche Frühjahrsoffensiven von 1918 durchgestanden haben. Der Oxford Companion for the Second World War vergleicht die deutschen und britischen Truppen in Nordafrika wie folgt: „Rommels force was numerically inferior, but his troops were more professional, better led and thoroughly steeped in the co-operation of all arms" 43 . Das Problem der britischen Streitkräfte bestand ja in der Versechsfachung der Marine, die England gerettet hat, und in der Verlagerung des Schwerpunkts auf die Luftwaffe, mit der man - vergeblich - den britischen Siegesbeitrag herbeizubomben hoffte. Dennoch war es die deutsch-italienische Heeresgruppe Afrika, die schließlich 1943 kapitulieren mußte, nicht die britische 8. Armee. Bemerkenswert ist das Bild, das die von 1939 bis 1944/45 auf 8,3 Millionen über verzwanzigfachte US-Army bietet. Ausgangspunkt sind nur 390000 Mann Bundestruppen und Nationalgarden mit 29000 Offizieren. Mit 132000 Reserveoffizieren verfügten die Amerikaner jedoch über das zweitstärkste modern geschulte Multiplikationspotential nach den Franzosen. Bei Kriegsende führten 990000 Heeressoldaten einen Offizierdienstgrad, was eine Ergänzung um 630000 mit einer meist nur kursorischen militärischen Ausbildung ausmacht. Das Bemerkenswerte ergibt sich daraus, daß der Zuwachs vorzugsweise in der 70% der Bodentruppen umfassenden logistischen Komponente aufging und dort dank eines mit der zivilberuflichen Qualifikation programmierten Personalsteuerungsmechanismus viel zweckmäßiger gewirkt hat, als es die rein militärfachliche Unterkompetenz signalisiert. Der amerikanischen Strategie des Supply Warfare war diese Konstruktion angemessen. Und Brennpunktkämpfen wie an der Normandieküste, in Bastogne oder auf Guadalcanal waren die amerikanischen Feldoffiziere offensichtlich quantitativ wie qualitativ gewachsen.
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Schumann u. a., Deutschland, 2, S. 40. Dear/Foot (Hrsg.), The Oxford Companion, S. 1269-1272.
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Der Begriff „Entprofessionalisierung" hat also mehrere Aspekte. Der vordergründige ergibt sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, der etwa beim Leistungssport zwischen Professionals und Amateuren unterscheidet. Der Oxford Companion, der die Professionalität des Deutschen Afrikakorps hervorhebt, würde „Entprofessionalisierung" als Verlust der kriegshandwerklichen Kompetenz verstehen. Für mit der Alternative „Professionalismus" contra „Nationalsozialismus" arbeitende Autoren, etwa Richard Lakowski 44 oder Omer Bartov, wäre „Entprofessionalisierung" folgerichtig die Anerkennung des Primats der Politik. Aber man sollte es strikt vermeiden, vom historischen Boden ins Allgemeine abzuheben, denn es hat sich hier um eine verbrecherische Politik gehandelt. Die Reichswehr meinte ihre Professionalität durch die Abgrenzung als „Staat im Staate" vom Alltag der Demokratie schützen zu müssen; 1933 hat sie sich im „Loyalitätswettlauf" an die Seite Hitlers sofort zu einer der zwei Säulen des „Dritten Reichs" neben der Partei proklamiert 45 . Bartov spricht der Wehrmacht „reinen Professionalismus und ideologische Indifferenz" kategorisch ab 46 . In der Tat war die Anerkennung des „Führers", des „Endsiegs" und der „Judenfrage" (wenn auch nicht unbedingt ihrer tatsächlichen „Endlösung") für die Volksarmee des Zweiten Weltkriegs, die ja die Befindlichkeit der dieser Trias verfallenen deutschen Nation getreu widerspiegelte, gar nicht anders als selbstverständlich. Das Offizierkorps konnte nicht darüber schweben, selbst wenn es anders orientiert gewesen wäre: „Mein Lieber", hat ein Soldat alter Schule, Generalfeldmarschall von Bock, zweifellos zu Recht bemerkt, „sollte ich mich gegen Hitler wenden, dann würde ich als erster von meinen eigenen Soldaten niedergeschossen werden" 47 . So hat auch Bock loyal den Krieg mitgeführt, über dessen Denaturierung er sich im Klaren war. Für das konkrete Handeln in Hitlers Krieg hat sich ein breiter Fächer von nach Befehlslage korrekten Möglichkeiten angeboten. Der berüchtigte „Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa" beispielsweise hob den Verfolgungszwang selbst bei ordinär kriminellen Verbrechen von deutschen Soldaten an der sowjetischen Zivilbevölkerung auf, verbot die Verfolgung und Aburteilung aber auch nicht, so daß Spielraum bestand; freilich definierte Hitler in einer Ansprache dazu das professionelle Verhalten nach seinem Verständnis, wie der Generalstabschef Halder notierte, einseitig: „Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden"48. In vielen Fällen war die moralische Seite der Professionalität unter Hinweis auf die Kriegsnotwendigkeit auf dem Dienstweg geklärt: Vom OKH-Befehl, bei Vergewaltigung von Frauen trotz grundsätzlicher Ablehnung dieses Verbrechens den schonendsten Straftenor zu wählen 49 , bis zu der OKW-Richt-
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Lakowski, Professionalismus. Salewski, Macht. Bartov, Wehrmacht, S. 220. Zit. n. Graml, Wehrmacht, S. 370. Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, Führerhauptquartier , 13. 5. 1941: Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa" und über besondere Maßnahmen der Truppe, BA-MA, R W 4/v. 577; Halder, KTB, 2, Eintrag 30. 3. 1941, S. 336 f.; vgl. Förster, Unternehmen, bes. S. 4 2 6 ^ 3 5 . Der Oberbefehlshaber des Heeres, 5. 7. 1940, Az. 458 GenQu (III) GenStdH, Nr. 1608/40, betr. Notzuchtverbrechen, BA-MA, RH 14/39, Bl. 12. Gegenwärtig sind
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linie, den Partisanenkrieg mit „allerbrutalsten Mitteln" zu führen und „ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt" 50 . Kein professioneller Ehrenkodex hätte hier gestattet, Recht vor Gnade bzw. Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Soldatentum ist nun einmal, wie Werner Picht in einer Bilanz des Zweiten Weltkrieges festgestellt hat, eine „weder liebenswürdige noch bequeme Lebensart" 51 . In welchem Maß HJ-Führer das deutsche Offizierkorps im Sinne der Entprofessionalisierung mitgeprägt haben, läßt sich nicht exakt quantifizieren, aber bestimmt nicht unterschätzen. „Nicht weniger als zwei Drittel aller Offizierbewerber der ersten Kriegshälfte", resümiert Bernhard R. Kroener, „hatten vor ihrem Eintritt in die Wehrmacht die Befehlsgewalt über mindestens 40 bis 50 Mitglieder einer Parteigliederung, in der Regel der HJ, innegehabt" 52 . Sie haben - in mehrfacher Hinsicht - gekämpft wie die Wilden. Dennoch hat man auch in der 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend" gesehen, daß die Dinge nicht in Ordnung waren; „Sollten wir diesen Krieg gewinnen", sagte ihr Fernmeldeoffizier in der Normandie 1944 zu einem seiner Untersturmführer, „dann werde ich ein Buch schreiben, warum wir ihn hätten verlieren sollen" 53 . Die Waffen-SS-Führer, inzwischen im Sinne des Systems zur Kampfelite unter den deutschen Offizieren herangewachsen 54 , waren von einer unvergleichlichen Standfestigkeit. Im amerikanischen Bombenhagel auf den Kessel von Falaise hat sich die standhafte „Hitlerjugend" auslöschen lassen. Das war tapfer, aber daß es dazu kam, kann nie und nimmer wirklich professionell gewesen sein.
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etwa 5000 Verurteilungen mit dem Strafmaß von drei Tagen Arrest bis zur Todesstrafe bekannt. OKW/WFSt/Op (H), Nr. 4870/42 g. Kdos., 16. 12. 1942, betr. Bandenbekämpfung, BA-MA, RH 19 11/153. Vgl. Warlimont, Hauptquarier, S. 300f. Richtlinien dieser Art und ihr Niederschlag in entsprechenden Truppenbefehlen auf allen deutschen Kriegsschauplätzen wurden von einschlägigen Charakteren fälschlich als Ermächtigung zur Vergewaltigung von Frauen aufgefaßt, z.B. von Soldaten der Freiwilligen-Stammdivision bei der Säuberungsaktion in St. Donat-sur-l'Herbasse am 15. 6. 1944 mit 54 weiblichen Opfern; siehe dazu Dreyfus, Vercors, S. 157. Immer wieder haben geharnischte Truppenbefehle an das grundsätzliche Verbot der Notzucht erinnert. Die pauschalierende Behauptung des den Vereinten Nationen am 16. 7. 1996 von Linda Chavez (USA) vorgelegten Reports, „German Soldiers used rape during the Second World War as a weapon of terror" etc., ist daher - nicht zuletzt aufgrund einer Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes - zu Recht zurückgezogen worden. Nicht abzustreiten ist aber, daß auch Frauen und Kinder „legitim" für Wehrmachtrepressalien herhalten mußten; siehe Andrae, Frauen. Picht, Soldat, S. 29. Kroener, Weg, S. 681. Zit. n. Hastings, Unternehmen, S. 199. Wegner, Soldaten.
Bernhard R. Kroener „Frontochsen" und „Etappenbullen" Zur Ideologisierung militärischer Organisationsstrukturen im Zweiten Weltkrieg.
1920 erschien in Berlin unter dem völlig unspektakulären Titel „Etappe G e n t " ein aufsehenerregendes Bändchen. Kriegserinnerungen ganz besonderer Art, die im Laufe der zwanziger Jahre dem Autor, mehrere Auflagen und noch mehr Verleumdungsprozesse bescherten. Heinrich Wandt, ein heute weithin vergessener Pazifist und Mitglied der Kommunistischen Partei, bezichtigte in diesem Traktat unwidersprochen eine ganze Anzahl namentlich genannter Angehöriger der militärischen Führungselite der Etappeninspektion Gent übelster U n terschleife und Ausschreitungen bis hin zum vollendeten Mord 1 . Nun mag man die Darstellung als bösartigen Kommißklatsch abtun, wogegen allerdings spricht, daß es der mehrheitlich konservativen Justiz der Weimarer Republik offenbar nicht möglich war, das Werk zu verbieten 2 . Die Glaubwürdigkeit des Informanden verstärkt sich, vergleicht man seine Aussagen mit der literarischen Verarbeitung des Themas in der Zwischenkriegszeit. Unbeschadet der politischen Lager finden sich bei Jünger und Remarque, Renn und Beumelburg, Bloem und Zuckmayer, wenngleich weniger drastisch illustriert, Schilderungen, die eine eindeutig negative Interpretation der „Etappenerscheinungen" des Weltkrieges zum Ausdruck bringen 3 . Linke und pazifistische Autoren verglichen die Begünstigung der junkerlichen und bürgerlichen Führungsschicht im Offizierrock mit dem Schicksal sinnlos geopferter Proletarier. Daneben geißelten sie die Dünkelhaftigkeit und charakterliche Minderwertigkeit einer selbsternannten Herrenkaste gegenüber der Bevölkerung der besetzten Gebiete. Die Literatur des konservativen Spektrums setzte hingegen den charismatischen Frontoffizier des modernen industrialisierten Massenkrieges dem frontfern entscheidenden Büroffizier der höheren Stäbe entgegen. Die Mannschaften der Etappe galten hier als eine Keimzelle der Revolution 4 . Man darf dieses auf verschiedene Art und Weise in die Nachkriegsöffentlichkeit transportierte Bild
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Wandt, Etappe. Im V o r w o r t nimmt der A u t o r Bezug auf die Begriffe „Frontochse" und „Etappenbulle", die der Soldatensprache des Ersten Weltkrieges entstammen. Vgl. hierzu das V o r w o r t , S. 4, des seit 1920 in mehreren Auflagen erschienenen Werkes. Zur literarischen Produktion im Ersten Weltkrieg, vgl. Michalka (Hrsg.), Erster Weltkrieg; Ulrich/Ziemann (Hrsg.), Frontalltag; Renn, Krieg, S. 398ff.; Zweig, Erziehung, S. 57, 75, 90; Jünger, Stahlgewitter, S. 65; Zuckmayer, Engele. Als ein der wohlfeilen politischen Polemik unverdächtiger Zeuge mag in dieser Hinsicht Heinrich Brüning gelten, der in seinen Memoiren seine Eindrücke von den Rückzugserscheinungen des deutschen Heeres im Herbst 1918 schildert; Brüning, Memoiren, S. 21 ff.
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der dunklen Seite der deutschen Kriegführung im Ersten Weltkrieg durchaus als communis opinio der Gesamtgesellschaft ansehen. In der Erinnerung hat eben jeder Soldat an vorderster Front gestanden. Damit entstand in Deutschland bereits während des Ersten Weltkrieges und verstärkt in der Zwischenkriegszeit die unheilvolle, da undifferenzierte Abwertung einer für jede moderne Armee unverzichtbaren militärischen Einrichtung. Die Etappenorganisation, wie sie sich während des Ersten Weltkrieges präsentierte, war das Ergebnis einer zunehmenden Technisierung und Mechanisierung der Kriegsmittel und der damit einhergehenden personellen Verstärkung der Armeen 5 . Durch die enorm gesteigerte Intensität der Waffenwirkung entstand die Vorstellung von den extrem gefährdeten Frontsoldaten einerseits und den nur wenige Kilometer hinter der Front liegenden, weitgehend geschützten Etappensoldaten andererseits. Ein Vorgang der in der Kriegsgeschichte bis dahin ohne Beispiel war und während des Ersten Weltkrieges die traditionelle Differenzierung in stürmende Waffengattungen: Infanterie und Kavallerie und unterstützende: wie etwa Artillerie und Pioniere, zu denen später noch die Kraftfahr-, Eisenbahn- und die Telegraphentruppen gezählt wurden, zunehmend obsolet werden ließ. An ihre Stelle trat eine einsatzspezifisch orientierte Klassifizierung nach Fronttruppe und Etappentruppen. Damit war der besondere Stellenwert des Kämpfers bereits akzentuiert, noch bevor seine ideologische Überhöhung im Frontkämpfermythos stilisiert wurde. Die statische Situation des Grabenkampfes verschärfte den Gegensatz zwischen einer ständigen existentiellen Gefährdung einerseits und einer friedensmäßigen Beschaulichkeit andererseits 6 . Was hinsichtlich des Ersten Weltkrieges geradezu überscharf akzentuiert wurde, scheint während des Zweiten Weltkrieges offenbar überhaupt keine Rolle gespielt zu haben. Im Gegenteil: Der sich inhaltlich eigentlich wechselseitig ausschließenden Begriffskombination „Heimatfront" oder noch deutlicher: „Heimatkriegsgebiet" wurde das Konstrukt des „Totalen Krieges" anschaulich fixiert7. Bereits Ende 1939 wies der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres im Rahmen einer Verfügung zur „Manneszucht" in der Heimat darauf hin: „In dem totalen Krieg, den wir zu führen haben, sind Front und Heimat nicht voneinander zu trennen" 8 . Meint man zunächst einen der zahlreichen nationalsozialistischen Kampfbegriffe vergleichbar der „Arbeitsfront" oder der „Erzeugungsschlacht" vor Augen zu haben, so läßt die zeitgleiche Verwendung der englischen Bezeichnung „Homefront" erkennen, daß die durch den Erfahrungshorizont des Ersten Weltkrieges geprägten europäischen Nationen mit dieser Wortschöpfung in letzter Konsequenz das Erscheinungsbild des modernen industrialisierten Massenkriegen meinten, in dem friedensmäßige Reservate keine Existenzberechtigung mehr besaßen. Vor allem die Auswirkun5
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Ott, Kriegs-Etappenwesen; Matuschka/Petter, Organisationsgeschichte, 2, S. 348-349; Matuschka, Organisationsgeschichte, S. 275-277. Zu den Phänomenen von Fronterfahrung und Etappenleben siehe Hirschfeld u. a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen; Ulrich/Ziemann (Hrsg.), Frontalltag. Paul, Heimatkrieg; Titus (Hrsg.), Home Front; Kroener, Volk. Der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, 14 a 12 AHA/Ag/H Nr. 1822/39 geh., 25. 1. 1939, BA-MA, RH 53-7/ v. 218b, fol. 161-162.
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gen des strategischen Luftkrieges und die umfassende Mobilisierung der Gesamtbevölkerung für den Kriegseinsatz scheinen auf den ersten Blick dieser Deutung Recht zu geben. D a s nationalsozialistische Regime, das erst im Krieg den seiner Kampfideologie adäquaten gesellschaftlichen und politischen Aggregatzustand fand, hat dieser Vorstellung durch die propagandistische Gleichstellung des Rüstungsarbeiters als eines „Soldaten der Arbeit" und der Verleihung von Kriegsverdienstkreuzen sinnfällig Ausdruck verliehen 9 . Wo alles Front ist, konnte es keine Etappe geben. Diese ideologisch überhöhte Vorstellung vom modernen Krieg als einen die gesamte Bevölkerung ergreifenden Massenkrieg, spiegelt sich letztlich auch in der weit verbreiteten Vorstellung von einer Wehrmacht, in der die Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus eine Bindekraft entwickelte, die an allen Fronten eine ununterbrochene Kampftätigkeit bis zur Bekanntgabe der Kapitulation bewirkte. Auf der anderen Seite habe das Regime dort w o die innere Kohärenz der Truppe verloren gegangen sei, mit der brachialen Gewalt des Militärstrafgesetzes, mit der Kriegssonderstrafrechtsverordnung und schließlich mit fliegenden Standgerichten die Truppen zum Durchhalten gezwungen. Schließlich, und diese Deutung gilt insbesondere für die Lage der Wehrmacht an der Ostfront, habe die Furcht vor der bolschewistischen Bedrohung die Verbände zusammengehalten. Erstaunlicherweise bleiben Hinweise auf Auflösungserscheinungen, Disziplinwidrigkeiten und Selbstdemobilisierungen, Verhaltensmuster, die unter dem Sammelbegriff „Etappenerscheinungen" subsumiert werden können, zumeist auf Einzelfälle beschränkt und erstaunlich unkonturiert. In der Wehrmacht, so könnte die aus der Literatur gewonnene Erkenntnis lauten, hat es das Etappenphänomen, wie es aus dem Ersten Weltkrieg überliefert ist, aufgrund der inneren Struktur der Armee und des Charakters des „totalen Krieges" nicht gegeben. Auf den ersten Blick scheint sich diese einfache Formel für die Situation der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg tatsächlich zu bestätigen. Während die Lexika der zwanziger Jahre noch ausführliche Artikel über die Etappenorganisation bereithalten, fand sich der Begriff seit Mitte der dreißiger Jahre in keiner militärischen Dienstvorschrift mehr. Dieser Befund macht stutzig und verlangt nach Aufklärung. Eine Erklärung findet sich an prominenter Stelle. Meyers Konversationslexikon aus den dreißiger Jahren, ein Werk dem man nach 1945 nicht zu Unrecht die unterscheidende Bezeichnung „Nazi-Meyer" verliehen hat, liefert eine eindeutige Lesart, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden. Unter dem Leitbegriff „Etappenschwein" heißt es hier: „im Weltkrieg entstandene, zunächst scherzhafte Bezeichnung seitens der Frontsoldaten für die zur Etappe gehörenden Truppenteile, bekam später einen häßlichen Klang, da man mit der Bezeichnung Etappenschwein gewisse Kreise in der Etappe (Drückeberger, Unabkömmliche, Schieber) meinte, die die ehrliche und pflichtgetreue Arbeit der anderen Etappentruppen diffamierten. Diese so bezeichneten Elemente, unter denen sich die Juden (50 v.H. der in der Etappe befindlichen Juden waren kriegsverwendungsfähig, die jüdischen Militärärzte !) besonders hervortaten, konnten sich gegen Ende des
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Krieges immer mehr ausbreiten und ihrer Bezeichnung .Etappenschweine' Ehre machen durch skrupellose Geschäfte, Verbreitung hoch- und landesverräterischer marxistischer Ideen und bei dem mit durch sie hervorgerufenen Zusammenbruch - durch Verschleuderung wertvollen Volksvermögens (z.B. Heeresmagazine und Depots)" 10 . Abgesehen von der sprachlich völlig desolaten Ausdrucksweise, finden sich in diesen Zeilen in konzentriertester Form alle Bestandteile einer der nationalsozialistischen Führung immanenten Angst vor einem Wiederaufleben von Etappenerscheinungen in dem zu erwartenden Kriege. Diese Furcht prägte offenbar so nachhaltig das Bewußtsein der politisch-militärischen Führung des Reiches, daß man sogar bereit war, den in der preußischen Armee traditionell eingeführten Begriff der „Etappe" aus dem militärischen Sprachgebrauch völlig zu tilgen 11 . Die nationalsozialistische Führung hatte seit 1933 die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung seismographisch zu messen gesucht. Das Ergebnis erschien wenig ermutigend. Hatten schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges nur bestimmte Gruppen der wilhelminischen Gesellschaft eine überschwengliche Begeisterung für den Krieg an den Tag gelegt, so stand die gesamte Bevölkerung 1939 einerseits im Banne der unblutig errungenen außenpolitischen Erfolge des NS-Regimes und der Nachwirkungen einer jahrelangen Friedenspropaganda, während andererseits die Leiden des erst zwanzig Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieges in allen Familien tiefe Spuren hinterlassen hatten 12 . Schließlich, und dieser Faktor beunruhigte das Regime besonders, war das Kriegsheer gezwungen, 1,2 Millionen Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges wieder zu den Fahnen zu rufen. Die Reaktion dieser inzwischen deutlich über vierzig Jahre alten Familienväter auf eine erneute Einberufung ließ sich nicht abschätzen. Viele dieser Soldaten wurden in den bodenständigen Divisionen der 3. Welle an der Oberrheinfront oder in Landesschützeneinheiten im rückwärtigen Frontgebiet eingesetzt 13 . Auf ihnen ruhte in besonderer Weise ortsfeste Verteidigung. Im Bereich der Heeresgruppe C wurden Ende Oktober 1939 erste Fälle bekannt, in denen Soldaten ihren Karabiner mit der Mündung nach unten getragen haben sollten 14 . Die damit verbundene Erinnerung an revoltierende Truppenteile im November 1918 versetzten die politische Führung des Regimes, aber auch die Heeresführung in erhebliche Unruhe. Erschwerend kam hinzu, daß die Frontbefehlshaber ihre Ablehnung eines frühen Angriffstermins auf Frankreich mit dem Hinweis zu versehen pflegten, in der Truppe sei
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Meyers Lexikon, 3, s 1 9 3 7 , Sp. 1 1 0 2 f . Hitler hatte in „Mein Kampf" ganz bewußt antijüdische Ressentiments mit Etappenerscheinungen verknüpft, S. 21, 221. Zu den Auflösungserscheinungen gegen Ende des Krieges, die bewußt mit der Haltung der Etappentruppenteile und -einrichtungen verbunden wurden vgl. Ziemann, Fahnenflucht, S. 102; Deist, Militärstreik. Verhey, Spirit; Hirschfeld u.a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen; zu 1939 vgl. Wette, Ideologien. Kroener, Ressourcen, S. 710; ders., Kampf, S. 4 0 2 - 4 1 7 . Der Oberbefehlshaber des Heeres, Genst. d. Η. Ο Q u IV Abt. z. b. V. Nr. 60/39 gKdos, 1. 11. 1939, B A - M A , R H 19 III/343.
Zur Ideologisierung militärischer Organisationsstrukturen
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ein offensives Vorgehen im Westen höchst unpopulär 15 . Bei der Verlegung von Fronttruppenteilen aus dem Osten in den Westen wurden Transportwaggons mit Parolen versehen, die in fataler Weise Gliederungen der Partei mit Etappenformationen des Weltkrieges gleichsetzten. So hieß es zum Beispiel: „Das Frontschwein ist da, wo bleibt die SS, wo bleibt die SA" 1 6 . Es ergab sich in den Monaten zwischen Polen und Frankreichfeldzug hinsichtlich des Verhältnisses von Front und Etappe eine komplizierte, da mehrschichtige Konfliktlage. Einerseits befürchtete die militärische Führung, daß sie nicht nur ungenügend gerüstet, sondern mehr noch mit einem nicht unbeträchtlichen Teil älterer kriegsmüder Soldaten in den Kampf gegen Frankreich gehen müsse. Eine Hypothek, die bei dem zu erwartenden Stellungskrieg nicht zu übersehende Folgen nach sich ziehen konnte 17 . Eine weitere Befürchtung wies über den Tag hinaus: Disziplinare Mängel, - etwa Alkoholexzesse in Kampfpausen auf die der Oberbefehlshaber des Heeres in einem Erlaß über die Haltung des Offizierkorps bereits Ende Oktober 1939 eindringlich hingewiesen hatte, konnten negative Auswirkungen auf die politische Stellung des Heeres haben 18 . Dem Wehrmachtteil, dem Etappenerscheinungen angelastet wurden, mußte nach Kriegsende mit einem empfindlichen Prestigeverlust im Einflußgeflecht der politischen und militärischen Eliten des „Dritten Reiches" rechnen. Das Heer versuchte mit verschiedenen Mitteln, beginnend mit einer rigiden Auffangorganisation für Versprengte, über regelmäßige Stimmungsberichte aus der Truppe, Beeinflussung der Soldatenfamilien in der Heimat durch die Betreuungsorganisation der Partei, bis hin zu einer verschärften Anwendung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ein Etappenverhalten bereits im Keime zu ersticken19. Brauchitsch und Halder verglichen übereinstimmend die Haltung der Truppe 1939 mit Verfallserscheinungen gegen Ende des Ersten Weltkrieges. So notierte sich der Chef des Generalstabes des Heeres Anfang November 1939 in sein Diensttagebuch: „es zeigen sich Bilder wie 17-18" 2 0 . Entsprechende Erscheinungen blieben aber in der Anfangsphase des Krieges Episode, nicht zuletzt weil die Erscheinungsformen des Krieges mit denen des Ersten Weltkrieges überhaupt nicht zu vergleichen waren 21 . So paradox es klin-
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21
Umbreit, Kampf, S. 243. Krausnick/Deutsch (Hrsg.), Groscurth, S. 292 (Eintrag vom 09. 10. 1939). Kroener, Kampf. Erlaß des O b d H , 25. 10. 1939, zit. n. Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 248. O K H , Der Befehlshaber des Ersatzheeres, N r . 9 2 6 0 / 3 9 geh. A H A / la VIII., 7. 11. 1939, Betr.: Aufbau einer militärischen Auskunftorganisation. Hierin heißt es u. a . : „Diese O r ganisation ist ein wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin auf den Wegen zur Front und zur Verhinderung von disziplinschädigendem Herumreisen in der Heimat oder hinter der Front. Sie soll die F r o n t vor zersetzenden Einflüssen der .Etappe' schützen", B A - M A , R W 15/36. D e r Oberbefehlshaber des Heeres P.A: (2) Ia N r . 5 8 4 0 / 3 9 geh. O.Qu. I V / O r g . Abt. (II) GenstdH N r . 1 4 3 1 / 3 9 geh., 18. 1. 1939, Betr.: Dienstanweisung Heeresstreifendienst, ebd., R H 3 9 / 4 2 1 . Halder, K T B , 1, Eintrag vom 3. 11. 1939, S. 116. Offenbar wurde zu Beginn des Krieges das Verbot der Verwendung des Begriffes „Etappe" im informellen Schriftverkehr noch nicht so rigoros durchgehalten, denn Halder notierte in seinen Aufzeichnungen zum 3 . 1 1 . 1939: „Etappentruppenverteilung - Gen Quartiermeister". Später findet sich dann die Bezeichnung Etappe nicht mehr. Die Angst vor Erscheinungsbildern wie man sie zuletzt gegen Ende des Ersten Weltkrie-
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gen mag, gerade der fortdauernde „Sitzkrieg" im Westen beförderte einerseits Etappenerscheinungen bei den zum Teil in der von der Zivilbevölkerung geräumten roten Zone im Westen einquartierten Soldaten, die zum Teil unkonventionelle Formen nichtehelichen Zusammenlebens praktizierten. Ein Verhalten, das sich interessanterweise auch im Angesicht der Niederlage Ende 1944 wiederholen sollte 22 . Andererseits empfand die Bevölkerung gerade durch den Sieg im Osten und die Kampfpause im Westen den Krieg immer weniger als eine Neuauflage des Weltkrieges. Mit dem unerwarteten Sieg über Frankreich endete dann auch innerhalb der politisch-militärischen Eliten zunächst jede Etappenfurcht. Zwar verwies die Wehrmachtführung in den folgenden Jahren in regelmäßigen Abständen auf bestimmte Erscheinungen in den besetzten Gebieten, die dazu angetan waren, das Ansehen der Wehrmacht in der Öffentlichkeit zu beschädigen. Dazu gehörte das explosionsartige Ansteigen von Geschlechtskrankheiten im Südosten und im Großraum Paris ebenso, wie die Zahl von angeblich mehr als 1 0 0 0 0 weitgehend beschäftigungslosen Luftwaffenangehörigen, die das O K H 1941 in Rumänien festgestellt haben wollte. Im fortdauernden Konkurrenzkampf der Wehrmachtteile wurde der Vorwurf geduldeter Etappenerscheinungen immer wieder als Argument gegenüber erhöhten Personalforderungen ins Feld geführt. Andererseits läßt ein Blick in die militärischen Fernsprechverzeichnisse von Paris und Brüssel, Belgrad, Riga oder Warschau erkennen, daß im Zeitalter hochtechnisierter Armeen der Anteil an Versorgungs-, Instandsetzungs- und Verwaltungseinrichtungen notwendigerweise erheblich sein mußte 23 . Dies galt
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ges gesehen hatte, scheint in der militärischen Führung größer gewesen zu sein als die reale Gefahr eines dramatischen Verfalls der Manneszucht: So gab der Ic der Heeresgruppe C am 24. 12. 1939 eine Meldung an das O K H , Abt. z.b.V., weiter, in der es hieß: „anstoßerregendes Verhalten eines SS-Obersturmbannführers . . . der Betreffende einen Soldaten veranlassen wollte, gegen den Einspruch des Schaffners die II. Klasse des Zuges ohne gültigen Fahrtausweis zu benutzen. Da das Betreten der II. Klasse durch Soldaten aus dem letzten Kriege als ein besonderes Zeichen von Auflösungs- und Zersetzungserscheinungen bekannt ist und auch in den letzten Wochen verschiedentlich solche Fälle gemeldet wurden, wird beantragt, den Fall weiter zu verfolgen". Heeresgruppenkommando, Abt. Ic, 24. 12. 1939, B A - M A , R H 19 III/343. Abwehrstelle im Wehrkreis XII, Abt. III H, 10. 2. 1940, B A - M A , R H 19 III/344, fol. 279. „Da es sich häufig bei den als Ehefrauen angegebenen Personen um zweifelhafte Elemente handelt, ist es im Interesse der Staatssicherheit dringend erforderlich, daß die Wehrmachtangehörigen, die mit Begleitung im Hotel übernachten auf die Bestimmungen der Reichsmeldeordnung hingewiesen werden"; Kommandierender General und Befehshaber im Luftgau XII, Adj. Ib/1 - A z 14 Nr. 569/(899)/43 geh., 4. 3. 1943, BA, R L 14/49. „In der letzten Zeit mehren sich die Meldungen, daß sich Soldaten mit Mädchen - zum Teil mit Jugendlichen unter 18 Jahren - einlassen, die in der Nähe oder sogar in Stellungen und Wehrmachtanlagen zu allen Tages- und Nachtzeiten herumlungern", Oberkommando der Wehrmacht, Nr. 6070/44, A W A / W Allg. (Ic), 13. 10. 1944, ebd., R 43 II /682, fol. 107. „Eine große Anzahl von Frauen, Bräuten und Eltern von augenblicklich im Zuge der Frontverkürzung im Westen eingesetzten Soldaten versucht, diese Soldaten im Westen zu besuchen". Seidler, Prositution; O K H , Heeressanitätsinspektion, S In 5165/40 g. S In W i G (I), 10. 10. 1940, B A - M A , R W 6/v. 137. Lagebericht über die Zunahme von Geschlechtskrankheiten im Elsaß; Halder, KTB, 3 (Luftwaffe in Rumänien). Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD III A 2 St/Gt, 6. 1. 1941, B A - M A , R W 6/ v. 52, Betr.: Denkschrift über Verwahrlosungserscheinungen in der weiblichen Jugend, Der Kommandant von Groß-Paris,
Z u r Ideologisierung militärischer O r g a n i s a t i o n s s t r u k t u r e n
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in besonderer Weise für die Wehrmacht, bei der nicht nur Standardisierung und Typenbereinigung aus hier nicht zu erörternden Gründen noch nicht einmal ansatzweise erreicht worden war, sondern auch die kriegswirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete zum Teil militärisch geführten Dienststellen übertragen war 2 4 . Dabei stand dieser Entwicklung eigentlich die durch die subjektiven Erfahrungen des Ersten Weltkrieges noch verstärkte nationalsozialistische Glaubensregel entgegen, nach der jeder Soldat in erster Linie Kämpfer zu sein habe. Unter den Bedingungen eines modernen industrialisierten Massenkrieges bedeutete sie aber eine gefährliche die militärische Effizienz schmälernde anachronistische Absurdität. Schließlich bewirkte sie, wie sich zeigen sollte, eine problematische Geringschätzung der zur Unterstützung der Kampftruppen notwendigen rückwärtigen Truppenteile und Einrichtungen. Solange der Pfad des Sieges nicht verlassen und der Personalersatz der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie nicht gefährdet war, sah man in Berlin über die Zahl, Stärke und Unterbringung der verschiedenen Stäbe, Dienststellen und Truppenteile in den besetzten Gebieten großzügig hinweg. Diese Einstellung wandelte sich ab 1942/43, als vor allem das Heer durch Änderungen der Kriegsstärkenachweisungen (KSTN) der Feldverbände und den Einsatz von Auskämmkommissionen gezwungen wurde, das bisher gültige Zahlenverhältnis zwischen Front und rückwärtigen Diensten zu korrigieren 2 5 . Der Kampf um die verfügbaren personellen Reserven wurde in erster Linie zwischen der Rüstungsindustrie, in der die Masse der wehrfähigen jüngeren Männer beschäftigt war, und der Wehrmacht ausgetragen. Speer nutze seine starke Position bei Hitler um immer wieder süffisant auf die erhebliche Personalverschwendung bei den Wehrmachtteilen hinzuweisen. Erst wenn hier ein grundlegender Wandel eingetreten wäre, sei er bereit, unabkömmlich gestellte Rüstungsdarbeiter für die Wehrmacht freizugeben. Durch den Kriegsverlauf bestimmte unabweisbare Zwänge entwickelten seit 1943 in Verbindung mit Frontkämpfermythos und Etappenangst eine fatale Eigendynamik. Die erheblichen Ausfälle an Unterführern im Osten veranlaßte die Heeresführung seit 1943 die rückwärtigen Dienste der Divisionen rücksichtslos auszukämmen. Zwar konnte dadurch mancher Unteroffizier einer Bäckerei- oder Schächtereikopmpanie in die Front gebracht werden, eine merkliche Verstärkung der Kampfkraft ließ sich dadurch aber nicht erreichen. Noch gravierender gestaltete sich die angeordnete Verminderung der Trosse. Sie wurden im Herbst 1943 zum Teil in einem Umfang reduziert, daß die Divisionen bei raschem Stellungswechsel zum Teil nicht mehr in der Lage waren, ihr schweres Gerät mitzuführen 2 6 . Die oberflächliche Vorstellung von Kampfkraft als ausschließlichem Ergebnis operativer Führungskunst und individuellem Durchhaltewillen, bewirkte nicht selten eine deutliche Geringschätzung versorgungstechnischer Notwendigkeiten.
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Leitender Sanitätsoffizier, Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten - Bericht über die Geschlechtskrankheitenerfassung und -bekämpfung in Frankreich. V o m 13. 5. 1941, ebd., Η 20/143. Deutsche Heeresmission Rumänien, Verb. Stab zum Rum. O b Kdo. Ivb Az.: 49r Nr. /42 vom (April 1942) Betr.: Geschlechtskrankheiten, ebd., Η 20/1082/2. Müller, Wirtschaftsallianz. Kroener, General. Ders., Rüstung.
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Andererseits vermitteln die Berichte der Auskämmkommissionen, die seit 1942 in den besetzten Gebieten und im Heimatkriegsgebiet eingesetzt wurden, in der Tat eine zum Teil erhebliche personelle Uberbesetzung rückwärtiger Stäbe und Dienststellen. Der von Hitler mit weitgehenden Vollmachten versehene General von Unruh, den die Truppe schon bald bezeichnenderweise als General „Heldenklau" apostrophierte, führte die erste und bekannteste einer bis Kriegsende nicht mehr abreißenden Zahl unterschiedlichster Kommissionen zur Personaleinsparung in der Wehrmacht. Bei Uberprüfungen vor allem im besetzten Frankreich stellte sie personelle Uberkapazitäten von bis zu 30 Prozent fest. So mußte allein die 120 Mann starke Feldkommandantur 544 (Chartres) 40 Mann, darunter 4 Offiziere abgeben. Zu diesem Ergebnis hatte möglicherweise mit beigetragen, daß sich die Offiziere, - ausnahmlos zu Reserveoffizieren beförderte Schulpädagogen - just am Tage der Uberprüfung - auf der Jagd befunden hatten 27 . Das Bild, das die Feldkommandantur Chartres bot, fällt dabei durchaus nicht aus dem Rahmen. In Vorbereitung der Invasionsabwehr unternahm der Chef der Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Jodl, im Januar 1944 eine Reise in den Bereich der 15. und 7. Armee. Seine Eindrücke schilderte er in drastischen Formulierungen, die so gar nicht recht in das herkömmliche Bild militärischer Korrespondenzen passen wollen: „Der OB West", heißt es eingangs, „tut gut daran, das Hotel Georg der V. gegen einen Gefechtsstand zu vertauschen, wo man den Himmel sieht, wo die Sonne scheint und wo es frischer riecht". Nach dem Oberbefehlshaber kamen die Armeebefehlshaber und Kommandierenden Generale an die Reihe: Die Ausstattung ihrer Hauptquartiere empfand Jodl als eine Gefahr für die innere Haltung und Einstellung der Truppe. „Der kriegerische Hauch", so notierte er, „geht völlig verloren, Klubsessel und Teppiche verleiten zu Hofhaltungen". Die Herren gehörten in ihre Gefechtsstände, doch leider lägen die immer neben den Schlössern. Schließlich habe er Bunkerwettbewerbe gesehen, wo Unteroffiziere Bilder an die Wände malten, anstatt sich mit ihren Waffen zu beschäftigen. Die Gefahr, daß sich im Westen ein Spießbürgerdasein herausbilde, schien dem Chef des Wehrmachtführungsstabes groß zu sein. Sein Reisebericht gipfelte schließlich in dem Hinweis, „der Westen hat an Offizieren alles bekommen, was lieber im 18. Jahrhundert leben würde als im nationalsozialistischen Deutschland. Der Ob West muß aber auch nicht nur die Scheiße feststellen, sondern sie beseitigen. Auch einem Herkules blieb diese Arbeit nicht erspart, bevor er in den Olymp einF0Γί>ΐΙ01ϊφ fjinfleftellt luerbcn.
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liehe Beziehungen zwischen Pfarrer und Kriegsgerichtsrat so ausgewirkt, daß das Schlimmste vermieden werden konnte. (Eine „Begnadigung" oder ein Absehen vom Todesurteil bedeutete aber immerhin, daß der Verurteilte sein zukünftiges Dasein in einer Strafkompanie, d. h. mit drastisch reduzierter Verpflegung unter gefährlichen Bedingungen und ohne Dienstgrad zu fristen hatte). In Ausnahmesituationen haben Kriegspfarrer auch die Verteidigung eines Soldaten übernommen. In der großen Mehrzahl der Fälle stand der Pfarrer vor vollendeten Tatsachen. Seine Bemühungen richteten sich darauf, dem Delinquenten noch einmal eine Möglichkeit zur Aussprache zu geben, ihm biblischen Trost zuzusprechen und mit dem Abendmahl für den letzten Gang zu stärken. Ein Brief an die Angehörigen wurde geschrieben. Dann begleitete der Seelsorger den Todeskandidaten zum Richtplatz, sprach ein Gebet mit ihm, während man ihm schon eine Augenbinde anlegte und an den Erschießungspfahl band. Im nächsten Augenblick fielen die tödlichen Schüsse. - Der schwäbische Schriftsteller und ehemalige Kriegspfarrer Albrecht Goes hat 1950 in seiner bekannten Novelle „Unruhige Nacht" die Geschichte einer solchen Hinrichtung geschildert. Er berichtet auch von den inneren Konflikten, in die ein Pfarrer mit wachem Gewissen dabei geriet. Für diesen Fall der Seelsorge an zum Tode verurteilten evangelischen Wehrmachtangehörigen erließ der Feldbischof, Franz Dohrmann, im Jahre 1942 eine „Anweisung". Er verfügte, daß die Seelsorge „unverzüglich nach Bekanntwerden des Falles einzusetzen" habe. Anhand der Akten und durch persönlichen Kontakt mit dem Gerichtsherrn habe der Geistliche sich ein Bild vom Angeschuldigten zu verschaffen und ihn sofort aufzusuchen, um ihm „das Neue Testament, das Feldgesangbuch und kleine geeignete Hefte für die stillen Stunden" zu übergeben. Im Neuen Testament waren bestimmte Stellen gekennzeichnet. Zwischen Bekanntgabe und Vollstreckung des Urteils habe der Pfarrer ihm „zur inneren Ruhe und zur letzten Sammlung zu verhelfen". Er „bringe den Verurteilten möglichst zu der Uberzeugung, daß sein Sterben eine Sühne für seine Tat, und eine Warnung für manchen, der sich in Gefahr befindet abzugleiten" 11 . Diese Weisung ist angesichts des Zustands der Kriegsjustiz unter Hitler höchst problematisch. Sie bedeutete für viele Fälle die Zuweisung von Schuld an das Opfer politischen und militärischen Terrors. Die Frage, ob und wieweit die Urteile der Kriegsjustiz vertretbar, politisch erzwungen oder willkürlich verhängt waren, beschäftigte die Wehrmachtpfarrer aus naheliegenden Gründen in existenzieller Weise. „Der häufigtste Grund für das Todesurteil war ohne Zweifel die Entfernung von der Truppe. Mir ist jedenfalls mit einer Ausnahme kein anderer Grund bekannt. Dieser Fall hat mich sehr erschüttert. Während des Vormarsches im Rußlandfeldzug kam es vor, daß ein blutjunger Soldat, der zur Nachtwache zur Sicherung seiner Einheit eingeteilt worden war, dreimal im Schlaf überrascht wurde. .Schlafen vor dem Feind' war ja mit Recht ein todeswürdiges 1
Anweisung für die Seelsorge an den zum Tode verurteilten evgl. Wehrmachtangehörigen. Ev. Feldbischof der Wehrmacht 25 h 63 Gef., 2. 1. 1942, B A - M A , R W 12/1.
Kirche im Krieg
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Verbrechen; denn von der Wachsamkeit eines Eingeteilten hingen oft Sicherheit und Leben einer ganzen Einheit ab. Die Kameraden, die nachts schließen, mußten sich darauf verlassen, daß die Wache mit aller Sorgfalt und Wachsamkeit wahrgenommen wurde. Wir wußten ja, daß wir während des Rußlandfeldzuges mit Partisanenüberfällen zu rechnen hatten. Aber wenn man sich vorstellt, welche ungeheuren Marschleistungen von der Truppe verlangt wurden, bis zur körperlichen Erschöpfung, und sich dann noch vorstellt, daß ein junger körperlich schwacher Soldat auf Wache stehend menschlich verständlich - einschlief, dann hatte man mit einem solchen Urteil seine innere Not". (Heinrich Link, 13./23./24./26. 8.1982) Menschliche Betroffenheit und das Sichfügen in vermeintlich unabweisbare militärische Notwendigkeiten sind ebenso dokumentiert wie hilf- und ratlose Empörung angesichts von Gnadenlosigkeit und Willkür: „Ich muß Ihnen ehrlich sagen, von den Erschießungen träume ich heute noch manchmal. Ich erinnere mich an einen Fall, wo ein Major drei Mann anbinden und einen nach dem anderen erschießen ließ. Ich habe protestiert und gesagt: ,Das ist doch barbarisch!' Ich habe mich auf dem Dienstweg über diesen Mann beschwert. Aber Sie können sich denken, daß da nicht viel herausgekommen ist." (Wolfgang Jung, 16. 11. 1982) Für die Pfarrer war es nicht unerheblich, inwieweit sie ein Todesurteil, das verhängt und vollstreckt wurde, persönlich nachvollziehen konnten. Sie haben die Kriegsgerichtsbarkeit jedoch nicht durchgängig als eine barbarische Terroreinrichtung erlebt. Es konnte durchaus vorkommen, daß zwischen dem Seelsorger und dem Kriegsrichter ein verständnisvolles Einvernehmen bestand: „Ich erinnere mich an einen anderen Fall, der sich gegen Ende des Westfeldzuges in einer unserer Einheiten abspielte. Ausgerechnet ein Unteroffizier wurde unmittelbar vor einem Angriff bei einem Kameradendiebstahl ertappt. Nach diesem Angriff trat ein behelfsmäßiges Kriegsgericht zusammen, das den Mann wegen .Vergehens vor dem Feinde' zum Tode verurteilte. Er wurde erschossen, ohne daß der Kriegsgerichtsrat vorher benachrichtigt worden war. Das führte zu einem ausgesprochenen Skandal. Eine Nachuntersuchung ergab, daß die Sache mit dem Kameradendiebstahl doch etwas zweifelhaft gewesen war. Die Tatsache, daß diese Einheit nicht versucht hatte, den Kriegsgerichtsrat zu erreichen, der sich an der Urteilsfindung hätte beteiligen können, führte zu einem Eklat. Der Kommandeur dieser Einheit wurde sofort abgelöst. Er kam vor ein Kriegsgericht und wurde mit Festungshaft bestraft, denn er hätte als Kommandeur wissen müssen, wie ein solcher Fall zu handhaben sei. In der Meinung, im Kriege müsse konkret gehandelt werden, hatte er sich über alle Vorschriften hinweggesetzt. Um die Manneszucht aufrechtzuerhalten, hielt er es für notwendig, auch solche Delikte streng zu bestrafen. Immerhin ist es doch bemerkenswert, daß in einem solchen Fall auch gegen einen Offizier streng durchgegriffen wurde und es zu einer Verurteilung, wenn auch nur zur Festungshaft kam. Bei dieser Gelegenheit darf ich anmerken, daß nicht nur das Verhältnis zu den Kriegsgerichtsräten mit einer Ausnahme außerordentlich gut war, sondern ich auch den Kriegsgerichtsräten durchaus die Anerkennung aussprechen muß, daß sie ihren Dienst gewissenhaft wahrgenommen haben, daß sie bereit waren, die
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Anwendung schärferer Paragraphen nach Möglichkeit zu vermeiden." (Heinrich Link, 13./23./24./26. 8. 1982)) Derselbe Pfarrer kannte auch das andere Gesicht der Wehrmachtkriegsjustiz: „Wir unterstanden damals der sechsten Armee. Der damalige Befehlshaber der sechsten Armee, der General von Reichenau, war ein sehr strenger Gerichtsherr und war in dem Falle, daß Todesurteile ausgesprochen wurden, nach meiner Meinung nicht bereit, solche Urteile im Gnadenakt abzumildern. Im Gegenteil, er war der Auffassung: Je schärfer die Urteile, desto besser die Manneszucht, was natürlich ein gründlicher Irrtum war." (ebd.) Die vorliegenden Äußerungen zeigen deutlich das Dilemma an, in dem die Kriegspfarrer steckten: Das mörderische System des Nationalsozialismus und seiner Wehrmacht spannte auch und gerade an diesem Punkt die Wehrmachtseelsorge für seine Zwecke ein. Teilweise gab es dafür Anknüpfungspunkte; denn Begriffe wie Desertion, Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind, Kriegsrecht und Todesstrafe waren im Prinzip ein unproblematischer Bestandteil des theologisch-ethischen Argumentationsrepertoires der Pfarrer. Bei unverhältnismäßiger Härte des Urteils, unrechtmäßigen Verfahren oder besonders grausamer Exekutionspraxis regte sich allerdings das Gewissen der Seelsorger. Soweit die Kriegsgerichtsräte Pfarrer durch persönliche Beratung, Akteneinsicht oder in einzelnen Fällen auch Mitwirkung am Verfahren in den Prozeß einbezogen, versuchten sie das Strafmaß zu vermindern. Die zynische Betrachtungsweise einiger Offiziere, in deren Augen es hauptsächlich darum ging, daß der Delinquent keine „Fisematenten" machte, wurde nicht zuletzt auch dadurch ermöglicht, daß christliche Pfarrer den Todgeweihten oft zu einem gefaßten Sterben verhalfen. Dieser Faktor war einplanbar, vor allem für ein Bewußtsein, das Militärseelsorge als Mittel der psychologischen Kriegführung einstufte. Den Pfarrern selbst stellte sich das Problem anders dar. Sie standen vor der Alternative: „Entweder der Mann wird hingerichtet unter allen entwürdigenden Umständen, die solch eine Prozedur mit sich bringt, oder er hat wenigstens noch ein letztes Mal die Möglichkeit der Aussprache und der menschlichen Begegnung mit einem Pfarrer, der in ihm nicht das .minderwertige Element' sieht, das es »auszumerzen' gilt, sondern den von Gott geliebten Menschen." (Anonymus, 1982) An dem grausigen Geschehen änderte das nichts. Was blieb, war die durch den Pfarrer von Amts wegen personifizierte Präsenz des gekreuzigten Gottes in einer Welt, die ihre Möglichkeiten auslebt bis zum Ende und der Erlösung bedarf.
Johannes Güsgen Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge in Deutschland von 1933-1945
Die Entwicklung der Wehrmacht im Spannungsfeld kirchenpolitischer Auseinandersetzungen Der personelle und materielle Aufbau der Wehrmacht hatte bereits im Herbst 1933 begonnen und wurde im Frühjahr 1934 verstärkt durchgeführt. D a die Wehrmacht sich zahlreichen anderen Problemen gegenübersah und auf kirchenpolitischer Ebene einer Konfrontation mit dem Nationalsozialismus möglichst ausweichen wollte 1 , suchten Wehrmacht-, Heeres- und Marineführung die bisherige Seelsorge politisch aufrecht zu erhalten und als in Ubereinstimmung mit den Vorstellungen Hitlers und der Partei befindlich zu erweisen 2 . Zunächst bemühte sich die Reichswehrführung, durch eine Politik der kleinen Schritte des Entgegenkommens, die Austragung von Konflikten zu vermeiden oder zumindest zu vertagen. Die Wehrmacht versuchte dann mit den einander korrespondierenden Methoden der Einlenkung und Abwehr, zu einem Arrangement mit der Partei zu kommen. Diese Taktik der Kompromißbereitschaft wurde vor allen Dingen dort deutlich, wo die Wehrmacht sich gegen die religiöse Einflußnahme durch Stellen außerhalb der Militärseelsorge wandte 3 . Dieser Sachverhalt muß für die weitere Darstellung als hermeneutischer Schlüssel betrachtet werden, wenn man zu einem wissenschaftlich relevanten Urteil über die katholische Militärseelsorge in der nationalsozialistischen Zeit gelangen will. Mußte die Militärseelsorge auf lange Sicht in den Augen der Partei zu einem Störfaktor im Prozeß der nationalsozialistischen Durchdringungspolitik werden, so war es neben der Selbständigkeit der Wehrrrtacht dem konservativen Sinn des Offizierskorps zuzuschreiben, daß die Institution zunächst von kirchenpolitischen Eingriffen verschont blieb 4 . J e direkter der Einfluß Hitlers und der Partei auf die Wehrmacht wurde und je entschlossener sich die Haltung der Kirche gegenüber der Partei artikulierte, um so mehr suchte die Wehrmacht ein gemeinsames Auftreten mit der Kirche zu vermeiden 5 . Der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Werner von Blomberg, der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Admiral Raeder, verstanden es, die Wehrmachtseelsorge aus den partei- und kirchenpolitischen Kämpfen soweit als möglich herauszuhalten. Ihr
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 172. ders., Aspekte, S. 10 f. ebd., S. 187. Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 174. ebd., S. 189.
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Vorgehen sicherten sie durch die Berufung auf die von ihnen als „Grundsatzerklärung" angesehene „Hamburger Rede" Hitlers vom 17. August 1934 ab, in der er die Bedeutung des Christentums als Fundament für Moral und Sittlichkeit besonders hervorgehoben hätte 6 . N o c h am 8. Dezember 1934 bestimmte Blomberg auf dem Erlaßweg, daß das christliche Bekenntnis Bedingung für den Eintritt in die Wehrmacht sei. O b wohl dieser Erlaß im Hinblick auf die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht am 13. Januar 1935 bereits wieder aufgehoben wurde, erklärte Hermann G o ring (als Reichsminister der Luftfahrt) noch am 21. März 1935 die Zugehörigkeit zu einer der beiden großen Konfessionen zur Voraussetzung für eine Einstellung in die Luftwaffe. Diese Situation änderte sich jedoch grundlegend durch die Entlassung der Generale Fritsch und Blomberg im Jahr 1938. Die Ablösung gab Hitler die Möglichkeit, die Wehrmachtführung völlig neu zu gliedern und entschieden mehr und direkten Einfluß zu gewinnen. Bereits hier wurden die immer stärker werdenden Einflüsse der „die totale Führung intendierenden Partei" 7 deutlich, die in bezug auf die Wehrmacht ihren Höhepunkt im Jahr 1941 fanden, als Hitler den General Walter von Brauchitsch ablöste und er selbst als Oberbefehlshaber des Heeres die Leitung im O K H übernahm. Von diesen organisatorischen Veränderungen war auch die katholische Militärseelsorge direkt betroffen. Sie geriet in gleichem Maß wie die Wehrmacht selbst immer mehr unter die Kontrolle der Partei. Die gesamte Organisation der Militärseelsorge - von der Logistik bis zur Stellenbesetzung - wurde von der „Gruppe Seelsorge" bearbeitet, die zur Amtsgruppe Ersatz- und Heerwesen im Allgemeinen Heeresamt gehörte 8 . A m Beispiel einer Ic Besprechung im Oktober 1936 wird deutlich, wie sehr die Wehrmacht daran interessiert war, ihr Verhältnis zur Partei als von „beiderseitigem Vertrauen und gemeinsamem Aufbauwillen" geprägt, darzustellen. In dieser Besprechung wurde angesichts des politisch und weltanschaulich von der N S D A P getragenen Staates festgestellt, daß auch die Wehrmacht zwangsläufig nur nationalsozialistisch sein könne. Dann wurde noch einmal der oberste Grundsatz der Wehrmacht in religiösen Fragen deutlich artikuliert: „Die Wehrmacht hält sich aus allen Fragen, welche Religion, Religionsanschauungen und Glaubensdinge behandeln, heraus. Es ist unter allen Umständen zu vermeiden, daß auch nur der Schein erweckt werden könnte, die Wehrmacht setze ihre Autorität für eine bestimmte Richtung oder ein bestimmtes Bekenntnis ein" 9 . In eindeutiger Weise spiegeln die Anordnungen der Wehrmachtführung das zunehmend vom Kirchenkampf geprägte Verhältnis zwischen der Reichsregierung und den beiden großen Kirchen 1 0 .
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Vgl. ebd., S. 174; diese Rede Hitlers ist auszugsweise gedruckt in: Domarus ( H r s g . ) , Hitler, 1,S. 4 4 0 - M 4 . Missalla, Volk, S. 33. Vgl. Absolon, Wehrmacht, 3, S. 153; May, Interkonfessionalismus, S. 68. Vgl. Niederschrift über die Ic Besprechung, 15. 10. 1936, B A - M A , R W 6/v56. Vgl. Steuber, Militärseelsorge, S. 9.
Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge
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Eine detaillierte Analyse der Militärseelsorgepolitik zeigt, daß die offiziell betriebene Kirchenpolitik der Wehrmachtführung de iure keinerlei Hilfe für die Militärseelsorge darstellte. Die Befehle der Wehrmachtführung dokumentierten gegenüber der Partei „Linientreue" und entzogen so die Wehrmacht der weltanschaulichen Kritik der nationalsozialistischen Partei. Auf die Durchführung der Befehle richtete die Wehrmachtführung allerdings kein großes Augenmerk. Dadurch war die Arbeit der Militärseelsorge größtenteils vom Wohlwollen der einzelnen Kommandeure und Truppenführer abhängig 11 . Obwohl das O K H am 25. Juni 1937 einen Grundsatzbefehl erlassen hatte, der regelmäßig zweimal im Jahr bekanntzugeben war und wonach diejenigen „nicht geringer geachtet oder benachteiligt werden" durften, „die ihr Glaubensbekenntnis wechseln, auch wenn der Wechsel mit dem Austritt aus der Kirche verbunden" sei 12 , erging am 22. November 1937 im III. Bataillon des Infanterie-Regiments 105 ein Befehl, der zur Frage des Kirchenaustritts 13 Stellung nahm: „Es liegt Veranlassung vor, darauf hinzuweisen, dass alle Handlungen, die dem Zusammenhalt und der Disziplin einer Kp. Schaden können, dem Kp.-Chef zu melden sind. Ich wünsche ζ. B. nicht noch einmal durch den Standortpfarrer eine Meldung zu erhalten, ein Angehöriger einer Kp. sei aus der Kirche ausgetreten, ohne daß es der Betreffende für nötig gehalten hat, vor seinem Kirchenaustritt seinem Kp. -Chef von seiner Absicht Meldung zu erstatten . . . Wenn auch Kirchenaustritte nicht verboten sind, bedeuten sie stets eine Gefahr für die Disziplin. Sie sind daher vom Standpunkt des Soldaten aus zu verwerfen. Der Soldat braucht die christliche Kirche, um in ernsten Lagen einen inneren Halt zu haben. Alle grossen Deutschen sind religiös gewesen. . . . Ich ersuche die Herren Kp. -Chefs, wenigstens jeden Monat einmal ernstlich ihre Angehörigen auf die Tragweite von Kirchenaustritten hinzuweisen u. mit allen Mitteln irgendwelche Propaganda, auch von Mund zu Mund, zu unterbinden" 1 4 . An diesem Beispiel wird besonders deutlich, wie unterschiedlich die Situation von Truppenteil zu Truppenteil war und wie sehr die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen und die Einstellung zur Religion von der Haltung einzelner Truppenführer gekennzeichnet war und wie schwer es ist, vom Verhältnis „der Wehrmacht" zu religiösen Fragen zu sprechen.
" Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 177; dieses „Wohlwollen der einzelnen militärischen Führer" wurde im Krieg zur wichtigsten Komponente der Arbeitsmöglichkeiten der katholischen Militärseelsorge, vgl. ebd., S. 176. Der Oberbefehlshaber des Heeres, General Fritsch, weist in einem Erlaß vom 6. 12. 1935 erneut darauf hin, daß der „vom Führer in seinem Wortlaut festgesetzte Fahneneid ... bei G o t t geschworen" werde und es keinen Zweifel über die „verpflichtende Heiligkeit des Eides" geben dürfe, vgl. Erlaß ObdH, Nr. 6427. 35 (PA 2), 6. 12. 1935, auszw. in: Messerschmidt, Aspekte, S. 33/34. 12 Vgl. O K H , A z . 31 v. J Ic Nr. 3555/37, 25. 6. 1937, Politisches Handbuch 1938, Heeresdienstvorschrift 22, Marinedienstvorschrift 594, Luftwaffendienstvorschrift 22, hrsg. v. Oberkommando der Wehrmacht, B A - M A . 13 Der vollständige Vorgang, einschließlich Vernehmungsprotokollen der Betroffenen, über die Kirchenaustritte von einem Unterfeldwebel und dreizehn Unteroffizieren befindet sich im B A - M A , R H 37/2582. 14 Infanterie-Regiment 118, III. Bd., Abt. Ia, A z 3 1 , 2 2 . 11. 1937, B A - M A , R H 37/2582.
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Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht als besondere Herausforderung an die katholische Militärseelsorge Am 16. März 1935 sagte Hitler sich von allen Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages los und nahm die Verdoppelung der Militärdienstzeit in Frankreich und die Erneuerung eines französich-belgischen Beistandsabkommens zum Anlaß für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 15 . Dadurch war die Wehrmacht, nach dem Willen Hitlers und der Reichswehrführung, „wieder zur großen Erziehungsschule der Nation" geworden 16 . Diese Entwicklung hatte auch für die Arbeit der Militärseelsorge erhebliche Folgen, weil sich nicht nur ihre Arbeitsbedingungen, sondern auch ihre Klientel änderten 17 . War die personelle Kontinuität der alten Reichswehr nicht nur eines ihrer prägnantesten Merkmale, sondern auch hervorragende Grundlage für eine kontinuierliche Seelsorge unter den Soldaten gewesen, so erfuhr dieser Zustand eine grundlegende Änderung. Die Uberschaubarkeit 18 der Militärkirchengemeinde war zusammen mit der inneren Geschlossenheit des Offizierkorps einer religiösen Dingen gegenüber indifferenten, unüberschaubaren und permanent das Personal wechselnden Gemeinschaft gewichen 19 . Die bei allen Gelegenheiten betonte „Freiwilligkeit" der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen und Gottesdiensten und die „Freiheit des religiösen Bekenntnisses" waren Formeln, welche die nationalsozialistische Ideologie immer mehr dazu nutzte, die Seelsorge in der Wehrmacht allmählich zurückzudrängen 20 . In der Truppe kristallisierte sich eine immer stärker werdende Schicht religiös gleichgültiger Mannschaften, systemtreuer Unteroffiziere und jüngerer, nationalsozialistisch eingestellter Offiziere 21 heraus. Den permanent stärker werdenden Auseinandersetzungen zwischen Partei und Kirche waren hauptsächlich die nebenamtlichen Standortpfarrer 22 ausgesetzt. Durch ihre hauptamtliche Gemeindetätigkeit standen sie unter besonderer Beobachtung der Partei und boten häufig Anlaß zu Auseinandersetzungen zwischen Wehrmacht und NSDAP. Diesen Reibungsverlust versuchte Blomberg zu vermeiden, indem er neue Planstellen für hauptamtliche Wehrmachtpfarrer schuf und so die Zahl der nebenamtlichen reduzierte 23 . Um die neu geschaffenen Planstellen besetzen zu können, bat der katholische Feldbischof die Ordinariate um Nam15 16 17
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Vgl. Dahms, Weltkrieg, S. 10; Absolon, Wehrmacht, 3, S. 6/7. Vgl. Reichswehrminister, Nr. 600. 35 g. ] Iva, 16. 4. 1935, zit. n. ebd., S. 9, 12. Messerschmidt weist darauf hin, daß es sich heute kaum noch erfassen läßt, welche Umstellungen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit sich brachte, vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 22. Vgl. Schübel, 300 Jahre, S. 63, der die „Stetigkeit der anvertrauten Gemeinde" als wesentlich f ü r eine erfolgreiche Seelsorge nennt. Vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 22/23. Vgl. ebd., S. 23/24; Messerschmidt sieht in der gesamten Sprachentwicklung, „die Einführung der um diese Zeit in den Parteiorganisationen benutzten kirchenpolitischen Formeln in den dienstlichen Sprachgebrauch der Wehrmacht". Er sieht in dem altliberalen Freiheitsrecht die Grundlage des „modus vivendi f ü r die religiöse Betreuung der Soldaten". Vgl. ebd., S. 26. Im Februar 1939 waren in der katholischen Militärseelsorge noch 2 1 5 Standortpfarrer im Nebenamt beschäftigt, vgl. Werthmann, Stand, S. 195. Vgl. Güsgen, Militärseelsorge, S. 320 ff.
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haftmachung von Geistlichen, „die den besonderen Anforderungen der Soldatenseelsorge gewachsen sind und bezüglich ihrer priesterlichen Lebenshaltung, ihres Seeleneifers und ihrer sonstigen Eigenschaften" für diesen Dienst geeignet erschienen 24 . Die kirchlichen Institutionen versuchten auf vielfältige Weise, den neuen Entwicklungen zu begegnen. Besonderer Wert wurde nun darauf gelegt, mit den jungen Männern, deren Einberufung zum Wehrdienst anstand, Kontakt aufzunehmen 25 . In diesem Zusammenhang erlangte eine Einrichtung wieder besondere Bedeutung, die im Hunderttausend-Mann-Heer überflüssig geworden war: Bereits im September 1935 wurden im Erzbistum Köln die zum Wehrdienst aufgerufenen Männer und deren Eltern vom zuständigen Ortspfarrer angeschrieben, auf die stattfindenden Exerzitien hingewiesen und zur Teilnahme eingeladen 26 . Die jungen Männer sollten, so die Vorstellung des Episkopats 27 , dogmatisch und sittlich für die „Jahre in der neuen Luftschicht" gefestigt und zur „Abwehr religionsfeindlicher Schlagwörter" gerüstet werden. Diese Rüstzeiten 28 und Exerzitien waren bereits im August 1935 in die Kritik der Gestapo geraten: „Die katholische Kirche bemüht sich in immer stärkerem Maß um die Erfassung der Wehrpflichtigen, die sie vor Beginn des Dienstes zu Exerzitien zusammenzuziehen versucht. Diese sollen dazu dienen, daß die Wehrpflichtigen während ihrer Dienstzeit den Konnex mit der katholischen Kirche nicht verlieren und deren Einfluß erhalten bleiben. Unter diesen Umständen erscheint es bedenklich, daß sich für diese höchst einseitige Beeinflussung Heerespfarrer zur Verfügung stellen" 29 . Das Reichs- und Preußische Ministerium für kirchliche Angelegenheiten erklärte dagegen, daß zum Wehrdienst Aufgerufene bereits in einer gewissen Beziehung zum Arbeits- bzw. Militärgesetz ständen und Exerzitien von daher nicht mehr ohne weiteres von irgendwem ohne Aufsicht und Kontrolle der Arbeits24
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Vgl. Feldbischof, A z . 25g/h 63, Nr. 344/37, 24. 8. 1937, vermutlich an alle Ordinariate, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, C R 25.2, 2. So erschien z.B. unter dem Titel „Katholische Christenfibel" im Bachem-Verlag in Köln im Jahr 1935 ein 128 Seiten umfassendes besonderes „Glaubensbuch f ü r den Soldaten", das zum Preis von 1 Reichsmark verkauft wurde und als „Abschiedsgeschenk" des Seelsorgers oder der Eltern an die zum Wehrdienst einberufenen Männer empfohlen wurde, vgl. Manuskript des Buches und Schriftwechsel zwischen Kardinal Schulte und dem Bachem-Verlag, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, C R . 2, 2. Im Jahr 1936 wurden die Pfarrer der Erzdiözese Köln wiederholt darauf hingewiesen, das offizielle „Katholische Militärgebet und -gesangbuch" den Wehrpflichtigen bereits in der Heimatgemeinde auszuhändigen und es denjenigen, die „unbemittelt waren", aus „caritativen Mitteln" bereitzustellen, vgl. Kirchlicher Anzeiger f ü r das Erzbistum Köln, hrsg. v. Erzbischöflichen Generalvikariat Köln, 76 (1936) 12, S. 107; ebd., Nr. 25, S. 228; ebd., Nr. 26, S. 239. Beispiele solcher Schreiben finden sich im Historischen Archiv des Erzbistums Köln, C R 25. 2, 2 und im Archiv der Erzdiözese Freiburg, B2—47-45. Vgl. Vorschlag des Deutschen Episkopats zur Reichswehrseelsorge, 20. 8. 1936, Stasiewski, Akten, 3, S. 459. Rüstzeiten waren das von der evangelischen Kirche angebotene Pendant zu den Exerzitien. Preußische Geheime Staatspolizei, II 1B1-69328/35, 3. 10. 1935, an Reichswehrminister und Reichs- und Preußischen Minister für kirchliche Angelegenheiten, zit. n. A u f z . Werthmann, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W VI.
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und Militärdienststellen durchgeführt werden dürften 30 . Im März 1936 verfügte der Reichskriegsminister an die beiden Feldbischöfe, daß Exerzitien „ausschließlich von Wehrmachtgeistlichen abgehalten werden" durften 31 . Dieser Erlaß behielt zwei Jahre Gültigkeit und wurde dann durch eine Initiative des Wehrmachtamtes 32 zwar am 15. Februar 1938 offiziell aufgehoben 33 , jedoch von den Feldbischöfen in gegenseitigem Einvernehmen nie veröffentlicht 34 . Wenn auch nicht definitiv festgestellt werden kann, wie die Exerzitien 35 fortgeführt wurden, so läßt der Jahresbericht 1938 des Sicherheitshauptamtes des Reichsführers SS, B l , vom Frühjahr 1939 ahnen, wie gefragt diese Einrichtung war: „Wie sehr die Kirche bemüht ist, ihren Einfluß auch weiterhin auf die Angehörigen der Gliederungen der Bewegung und der Wehrmacht auszuüben, beweisen die in diesem Jahr mit größerer Intensität als je zuvor betriebenen Rekruten- und Arbeitsdienstexerzitien und Einkehrtage. Die Werbung durch die Kirchenpresse ... hatte den Erfolg, daß teilweise die Räume der Exerzitienhäuser für die unerwartet zahlreichen Teilnehmer nicht ausreichten und Parallel- und Extrakurse eingelegt werden mußten" 36 . Während der 1933 eingeleitete sukzessive Kampf der Partei gegen die Kirche anfänglich im Bereich der Reichswehr nicht spürbar wurde, stand die Militärseelsorge seit 1937 besonders im Zeichen der zunehmenden kirchenpolitischen Spannungen 37 .
Die Organisation der katholischen Militärseelsorge bei Luftwaffe und Marine Die bisher gemachten Ausführungen beschäftigten sich überwiegend mit der Organisation der katholischen Militärseelsorge beim Heer. Dem katholischen Feldbischofsamt der Wehrmacht oblag aber de iure, sowohl kirchen- als auch reichsrechtlich, die Leitung der Seelsorge bei allen drei Waffengattungen. In den 30
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Vgl. Der Reichs- und Preußische Minister f ü r kirchliche Angelegenheiten, G i l a 4054, 16. 12. 1935, an Reichsminister der Luftfahrt, zit. n. ebd. Reichskriegsminister, A z 161/36g V 1 X , an die Feldbischöfe, nachrichtlich an ObdM, O b d L , Generalkommandos I-X, Abschrift, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, C R 25. 2, 2 u. E B A Freiburg, vgl. A u f z . Werthmann, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W VI; Werthmann, Exerzitien, in dem er sich über „Geist und Technik der Rekrutenexerzitien" ausläßt. Vgl. Wehrmachtsamt, W A 486/38 I lc, 18. 1. 1938, an Allgemeines Heeresamt, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W VI. Vgl. O K H / A H A / A g S , 334/38, 1 5 . 1 2 . 1938, an die Feldbischöfe, zit. n. A u f z . Werthmann, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W VI. Vgl. ebd. Es ist erstaunlich, daß die bearbeitete Literatur über die Militärseelsorge an keiner Stelle die Exerzitien erwähnt. Jahresbericht 1938 des Sicherheitshauptamtes des Reichsführers SS, B l , zit. n. Boberach (Hrsg.), Meldungen, S. 3 0 1 - 3 3 0 . Vgl. Missalla, Volk, S. 58. Die Beschränkungen der organisatorischen Wirkungsmöglichkeiten der Kirche auf eine rein seelsorgliche Tätigkeit und die Reduzierung der Kirche auf eine „Jenseitsbetreuung" gefährdeten die Substanz der Kirche, vgl. Gotto/Hockerts/Repgen, Herausforderung, S. 106, und vollzog sich analog, wenn auch in ihren Konturen weniger scharf und mit gewissen Verzögerungen auch in der Militärseelsorge.
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Oberkommandos der drei Wehrmachtteile waren eigene Referate für die Seelsorge vorgesehen, wobei die Amtsgruppe Seelsorge der Abteilung Heereswesen beim Allgemeinen Heeresamt im Oberkommando des Heeres in allen prinzipiellen Fragen der Militärseelsorge federführend war 38 . Am 21. März 1935 ordnete der Reichsminister der Luftfahrt den Aufbau der Militärseelsorge in der Luftwaffe an 39 . Danach sollten die Luftwaffenangehörigen in die Seelsorge des Heeres und der Marine einbezogen werden. In den neuen ungemischten Luftwaffenstandorten entstanden luftwaffeneigene Militärkirchengemeinden, denen jedoch keine eigenen beamteten Militärgeistlichen vorstanden. Damit war die Seelsorge bei der Luftwaffe grundsätzlich geregelt 40 . Das Reichsluftfahrtministerium sperrte sich zwar gegen die Einführung einer eigenen Luftwaffenseelsorge, hat aber die christliche Feldseelsorge nie grundsätzlich abgelehnt 41 . Im Rahmen der Mobilmachungsvorbereitungen fand ein Gespräch zwischen der Amtsgruppe Seelsorge und dem Reichsminister der Luftfahrt statt. Dabei wurde vereinbart, daß eine besondere Seelsorge für die Luftwaffe auch im Kriegsfall nicht erforderlich sei, da die Flugplätze im Heimatgebiet durch die zuständigen Standortpfarrer seelsorglich zu betreuen seien. Befände sich ein Flugplatz in einem Standort, in dem keine Heeres- oder Marineeinheiten lägen, so müsse das OKH für die Zuweisung eines Standortpfarrers sorgen. Die das Feldheer unterstützenden Luftwaffenverbände seien den entsprechenden taktischen Verbänden des Heeres angegliedert und durch die zuständigen Divisionsbzw. Lazarettpfarrer der Heereseinheiten zu versorgen 42 . Der allgemeine Kirchenkampf machte sich in der Luftwaffe besonders stark bemerkbar, weil ihr Oberbefehlshaber durch seine enge Bindung an die nationalsozialistische Ideologie den Kirchen extrem ablehnend gegenüberstand. Diese generell ablehnende Haltung der Luftwaffenführung machte die Seelsorge bei den Luftwaffenangehörigen in besonderer Weise von der Einstellung der einzelnen Kommandeure abhängig 43 . Obwohl ein Geheimerlaß Görings vom 23. November 1939 das Zusammentreffen von Soldaten der Luftwaffe mit Geistlichen in Kasernen und Feldlazaretten verbot und solche Kontakte ausschließlich im Zusammenhang mit Gottesdiensten oder in der Kirche zuließ 44 ,
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Vgl. May, Interkonfessionalismus, S. 69/70; Rokitta, Wehrmachtseelsorgedienst, S. 2. Vgl. Reichsminister der Luftfahrt, Z A (R), Nr. 1003/35 geh., 2 1 . 3 . 1935, B A - M A , RL 5/920. Vgl. A u f z . Werthmann, 16. 7. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 9. Die Aussage bei Demeter, Offizierkorps, S. 200, „in der Luftwaffe gab es diese .Militärseelsorge' von vornherein nicht", ist so falsch, hat sich aber bis heute gehalten; vgl. auch Messerschmidt, Aspekte, S. 10. Vgl. A u f z . Werthmann, 24. 6. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 9. Vgl. ebd. ; O K H , 31 u gKdos. A H A / A G / S (II), 242/38 g. Kdos II. Ang., an kath. und evang. Feldbischof, 17. 9. 1938, ebd., S W I, 9. Vgl. Aufz. Werthmann, 26. 5. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 9. Zit. n. Volk, Akten, 1, S. 717, Anm. 1. In seinem Referat über „Wesen und Aufgabe der Feldseelsorge" wies General Edelmann am 1 1 . 2 . 1941 darauf hin, daß dieser Erlaß „in keiner Weise das Abhalten von Gottesdiensten bei der Luftwaffe" verbiete, vgl. Referat
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gibt es zahlreiche Zeugnisse seelsorglicher Tätigkeit bei Luftwaffeneinheiten 45 . Durch den kommandierenden General der auf Sizilien eingesetzten fliegenden Verbände wurden noch Anfang 1942 beim Reichsluftfahrtministerium Militärpfarrer angefordert 46 und durch das OKH abkommandiert. Anläßlich einer erneut stattfindenden Kommandierung eines Heerespfarrers nach Sizilien im Jahr 1942 wurde zum wiederholten Male bei OKH/AHA/AgS die Frage erörtert, ob nicht doch eine eigene Luftwaffenseelsorge eingerichtet werden könne. Das Reichsluftfahrtministerium erteilte, nach vorheriger Rücksprache mit Göring, einen abschlägigen Bescheid und die Heerespfarrer mußten weiterhin zu den Luftwaffeneinheiten kommandiert werden 47 . Wie sehr Göring sich über die geistige Haltung seines Offizierskorps täuschte, das keinerlei Garantie für eine kirchenfeindliche Haltung bot, wird an folgendem Beispiel deutlich: Noch im Jahr 1944, als die Auszeichnung von Militärpfarrern bereits verboten war, zeichnete der Kommandeur einer Luftwaffenfelddivision den zu dieser Einheit kommandierten Kriegspfarrer mit dem Eisernen Kreuz II. aus 48 . Zusammenfassend kann heute festgestellt werden, daß die oberste Luftwaffenführung, im Gegensatz zu OKH und OKM, der Militärseelsorge ablehnend gegenüberstand, die Soldaten der Luftwaffe aber der Arbeit der kommandierten Militärgeistlichen offen gegenüberstanden und die meisten Kommandeure diese Arbeit förderten und unterstützen. Ein Seelsorgebericht vom 1. 4. 1943 aus Sizilien spricht von einer „ausgesprochen positiven christlichen Haltung" vieler Soldaten. Andere dagegen seien ausgesprochen gleichgültig, da sie nach jedem gefährlichen Einsatz, bei dem sie mit dem Tod rechnen mußten, einen „unbändigen Lebenshunger" hätten, der sich austoben müsse in „Wein und Bordell". Eine weitere Gruppe spreche zwar der Religion, nicht aber dem Christentum eine Bedeutung zu 49 . Bei der Marine hatte dagegen die Militärseelsorge eine bereits lange Tradition 50 . Obwohl die Marinepfarrer ein eigenes, in sich geschlossenes Korps darstellten
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Edelmann über Aufgabe der Feldseelsorge, als Anlage bei O K H (Chef Η Rüst und BdE), 31 ν 16 m AHA/Ag/S(IV), 526/41, an Verteiler, 28. 1. 1941, BA-MA, RH 15/282. So berichtet ζ. B. der Divisionspfarrer der 34. Infanterie-Division, daß er innerhalb von knapp vier Wochen zweimal besondere Gottesdienste für Luftwaffenangehörige gefeiert habe, bei denen sogar „Musikgestellung" durch Luftwaffeneinheiten möglich gewesen sei, vgl. Tätigkeitsbericht, 25. 5.-21. 6. 1941, Kath. Kriegspfarrer, 34. Inf.-Div., vom 20. 9. 1941, BA-MA, RH 26-34/41. Trotz der mit Erlaß vom 23. 11. 1939 verbotenen Besuche in Feldlazaretten gab es solche durch Kriegspfarrer durchaus. Dabei wurde immer wieder das Fehlen eigener Luftwaffenseelsorger beklagt. Der Dienst der Militärseelsorge würde sehr gerne angenommen und von vielen Offizieren begrüßt. Uber solche Erfahrungen berichtet z.B. auch der Pfarrer der 7. PzDiv, der in Evreux u.a. die Betreuung der Luftwaffeneinheiten übernommen hatte, vgl. Tätigkeitsbericht Kath. Kriegspfarrer, 1. 10. 1940-31. 3. 1941, 7. Pz. Div., o. D., BA-MA, RH 27-7/204. Vgl. Aufz. Werthmann, 20. 6. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, SW I, 9. Vgl. ebd. Vgl. Aufz. Werthmann, 3. 6. 1945, ebd. Vgl. die Berichte bei Schübel, 300 Jahre, S. 213; Ufer, Männer, S. 50/51; Weiss, Tagebuch, S. 15/16, 29; vgl. Seelsorgebericht, 1.1.-31. 3. 1943, o. D., Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, SW I, 9. Sie begann bereits am 7. 3. 1869 mit der Anstellung des ersten katholischen Marinepfarrers, vgl. Dünnwald, Militärkirchenrecht, S. 54.
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und die Marineseelsorge organisatorisch selbständig war 51 , bestand nie ein Zweifel darüber, daß sie kirchenrechtlich dem katholischen Feldbischof der Wehrmacht unterstand 52 . Zu der immer stärker werdenden Sonderstellung der Marineseelsorge trug nicht unwesentlich bei, daß die Marine ein vollkommen eigenständiger, sehr den Traditionen verhafteter Wehrmachtteil 53 war. Diese relative Unabhängigkeit, verbunden mit dem der Marine eigenen Traditionsverständnis, kamen der Seejsorge zweifellos zugute. Admiral Raeder, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, der als ein „Verfechter der Militärseelsorge" bezeichnet wird 54 , hat die seelsorgliche Arbeit nicht nur vor Angriffen durch die nationalsozialistische Partei und vor Ubergriffen des OKW geschützt, sondern sie sogar nachdrücklich unterstützt 55 . Aus seiner persönlichen christlichen Haltung heraus war es dem Großadmiral möglich, anfänglich die Militärseelsorge zu schützen. Auf Dauer konnte er allerdings dem wachsenden Druck durch die nationalsozialistischen Dienststellen nicht standhalten. Am 25. Februar 1941 gab Raeder, analog zum „Merkblatt über Feldseelsorge" vom 21. August 1939, „Organisatorische Bestimmungen über die Marineseelsorge während des Krieges" heraus 56 . Darin wurde die Marineseelsorge als Teil der Wehrmachtseelsorge zur dienstlichen Einrichtung der Marine erklärt. Sie hatte der kämpfenden Truppe zu dienen und um die „seelische Haltung der Truppe mit tapferem und getrostem Glauben bemüht zu sein" 57 . Diese Bestimmung macht deutlich, daß auch Admiral Raeder ein ihm persönlich völlig fremdes funktionalistisches Religionsverständnis formulierte und durch dieses Postulat versuchte, die Marineseelsorge den Angriffen der NSDAP zu entziehen 58 . Die im Heer 1942 einsetzenden Abbaumaßnahmen der Militärseelsorge wurden einige Monate später auch in der Marine spürbar, als Admiral Karl Dönitz, der 1943 die Nachfolge des von Hitler abgelösten Raeder angetreten hatte, die Militärseelsorge als „quantite negligeable" behandelte und sie gewähren ließ, aber nichts zu ihrem Schutz oder gar ihrer Förderung unternahm 59 .
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Vgl. Missalla, Volk, S. 57; A u f z . Werthmann, 15. 5. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 8. Vgl. Missalla, Volk, S. 57; ebenso Dünnwald, Militärkirchenrecht, S. 54. Einen eigenen Marinepropst gab es nicht. Dienstaufsicht übte ein Marineoberpfarrer aus. Werthmann bezeichnet die Marine in seinen Aufzeichnungen über die Exerzitien als den „immer noch kaiserlichen Wehrmachtsteil", vgl. A u f z . Werthmann, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 6. Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht (1969), S. 182. Vgl. Raeder, Leben, S. 139. Vgl. O K M , Α Μ Α W e h r IIb, Nr. 2099/41, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 8. Diese Bestimmungen durften allerdings nicht in den zu veröffentlichenden Tagesbefehl übernommen werden. Vgl. ebd. So wurden z.B. v o m O K W herausgegebene Befehle, welche die Militärseelsorge zurückdrängen sollten, auf Anordnung Raeders nicht ausgeführt, vgl. Raeder, Leben, 2, S. 147. Vgl. A u f z . Werthmann, 25. 6. 1945, Kirchliches Archiv beim Katholischen Militärbischofsamt Bonn, S W I, 8.
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Die Leitung der katholischen Militärseelsorge Die auf der Grundlage des Reichskonkordats und des Apostolischen Breves eingerichteten Leitungsinstitutionen der katholischen Militärseelsorge und deren personelle Besetzung bedürfen des besonderen Hinweises, daß aus der Distanz von nahezu siebzig Jahren vieles anders aussieht und leichter zu beurteilen ist. Dies gilt insbesondere für die Charakterisierung von Personen, deren Verhalten unlösbar mit ihrer Funktion und Position verbunden war. Eine objektive und historisch relevante Darstellung der umstrittenen Personen „Feldbischof Rarkowski" und „Generalvikar Werthmann" verlangt es, ihre Biographie, ihre Absichten und Möglichkeiten und die im folgenden zu behandelnden Situationen ihres Lebens in die Überlegungen einzubeziehen. Die Bestrebung, die einzelnen Faktoren nicht isoliert, sondern in einem umfassenden sozio-kulturell-politischen Kontext zu sehen, hat so wenig mit „Apologetik" zu tun 60 , wie der Wunsch nach einer historisch ehrlichen Darstellung und die dabei mögliche Aufzeichnung von Fehlverhalten mit „moderner Inquisition" 61 . Besonders bei der Charakterisierung von Franz Justus Rarkowski und Georg Werthmann kommt es darauf an, entsprechend der Forderung Heinrich Missallas, „um der historischen Wahrheit, wie um der Ehre der beteiligten Personen willen" 6 2 , niemanden anzuklagen und niemanden zu verteidigen.
Der katholische Feldbischof Franz Justus Rarkowski im Räderwerk der nationalsozialistischen Ministerialbürokratie In der Geschichtsschreibung bis Anfang der sechziger Jahre spielte der ehemalige Feldbischof (Febi) keine wesentliche Rolle 63 . Erst im Rahmen der von Gerhard Fittkau mit der „östlichen Agitprop" verglichenen Publikationen 64 , und den in diesem Zusammenhang veröffentlichten Auszügen aus den Hirtenschreiben des Feldbischofs 65 , wurde das Interesse an einem bis dahin fast unbekannten Mann geweckt 6 6 . Das Schweigen und die Spekulationen um seine Person führten dazu, daß die oft beklagte fehlende Kenntnis von „bisher nicht 60 61 62 63
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Vgl. Missalla, Volk, S. 4. Vgl. Fittkau, Feldbischof, S. 12. Vgl. Missalla, Volk, S. 3. In vielen Gesprächen des Verfassers mit Soldaten des Zweiten Weltkrieges stellte sich heraus, daß von wenigen Ausnahmen, die überhaupt wußten, daß die Militärseelsorge einen „eigenen Bischof" hatte, kaum einer seinen Namen kannte. Dagegen war vielen Gesprächspartnern der Dienst und der Name des jeweiligen Divisionspfarrers noch in guter Erinnerung, an die Verlesung von „Hirtenbriefen" konnte sich kaum jemand erinnern. Vgl. Fittkau, Feldbischof, S. 12. Mitte der sechziger Jahre erschien neben Zahn, Katholiken (Fittkau nennt dessen Darstellung eine „unhistorische Horror-Story") und Lewy, Kirche, auch das Schauspiel von Hochhuth, Stellvertreter, in dem der kath. Kirche massive Kollaborationsvorwürfe gemacht werden. Vgl. besonders Zahn, Katholiken, dem Fittkau, Feldbischof, S. 12, vorwirft, „nach einer aller redlichen historischen Methode hohnsprechenden Methode" habe „dieser Moralsoziologe aus dem Feldbischof einen wilden militärischen Nazi-Popanz gemacht", um seine These zu beweisen, alle deutschen Bischöfe hätten Hitler und seine Ziele unterstützt. Vgl. Missalla, Volk, S. 73.
Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge
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zu e r h e b e n d e n D a t e n seines L e b e n s - u n d B i l d u n g s w e g e s , b e s o n d e r s auch seiner L a u f b a h n in d e r M i l i t ä r s e e l s o r g e " 6 7 , i m m e r n o c h n i c h t b e h o b e n ist u n d auch nicht bis ins L e t z t e z u b e h e b e n sein w i r d . D a eine historische u n d kritische W ü r d i g u n g d e r P e r s o n des F e l d b i s c h o f s sich nicht auf die U n t e r s u c h u n g u n d A n a l y s e seiner H i r t e n b r i e f e b e s c h r ä n k e n d a r f , soll zunächst, u n t e r V e r z i c h t auf die t r o t z aller B e m ü h u n g e n nicht z u k l ä r e n d e n b i o g r a p h i s c h e n Details, d e r L e b e n s l a u f R a r k o w s k i s i m R a h m e n d e r hier g e b o tenen K ü r z e n a c h g e z e i c h n e t w e r d e n 6 8 , u m eventuell auf d i e s e m W e g A n h a l t s p u n k t e z u finden, die seine H a l t u n g v e r s t ä n d l i c h e r m a c h e n u n d ein n u a n c e n r e i cheres Bild v o n e i n e m M a n n v e r m i t t e l n , d e m einerseits „ n a t i o n a l - p a t r i o t i s c h e r G e i s t " 6 9 u n d begeisterte „ H i t l e r g e f o l g s c h a f t " 7 0 attestiert, andererseits aber eine „ R e t t e r - F u n k t i o n " 7 1 f ü r die k a t h o l i s c h e M i l i t ä r s e e l s o r g e z u g e s c h r i e b e n w e r den. R a r k o w s k i w u r d e am 8. J u n i 1 8 7 3 in A l l e n s t e i n in O s t p r e u ß e n g e b o r e n . Seine M u t t e r w a r die einzige S c h w e s t e r des k a t h o l i s c h e n K i r c h e n h i s t o r i k e r s u n d D o m k a p i t u l a r s F r a n z H i p p l e r . Sein V a t e r besaß in A l i e n s t e i n ein Stadtgut u n d betätigte sich als K a u f m a n n 7 2 . N a c h d e m G y m n a s i a l b e s u c h in A l l e n s t e i n u n d K u l m n a h m e n i h n die Patres d e r K o n g r e g a t i o n d e r M a r i s t e n als s o g e n a n n t e n I m m a t u r e n in ihr H a u s z u D i f f e r t in Belgien auf u n d ließen i h n z u m T h e o l o g i e studium z u 7 3 . 1 8 9 6 erhielt R a r k o w s k i in I n n s b r u c k die T o n s u r u n d die niederen W e i h e n als M a r i s t e n b r u d e r 7 4 . O h n e die O r d e n s z u g e h ö r i g k e i t i m M a t r i k e l b u c h
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Vgl. Brandt, Rarkowski, der die erste geschlossene Biographie Rarkowskis vorlegt. Dazu werden ein von Güsgen, Militärseelsorge, S. 365 ff., erstmals ausgewerteter Lebenslauf, den Rarkowski selbst auf Bitten Bertrams angefertigt hat und bis dahin nicht ausgewertete Quellen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts herangezogen, vgl. Bertram, 23. 5. 1929, an die Oberhirten der Diözesen Deutschlands, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, C R 25.2, 2. Vgl. Paul Roth, Irrtum und Widerstand, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 23 (1968) 50, 15. 12. 1968, S. 10. Vgl. Adolph, Kirche, S. 113; Zahn, Katholiken, S. 194-226. Vgl. Grimme, Geo, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 5,2. 2. 1969, S. 10, der behauptet, ohne Rarkowski wäre die Militärseelsorge schon früh beseitigt worden. Die verschiedentlich zu findende Angabe, Rarkowskis Vater sei „preußischer Offizier" gewesen (so ζ. B. Paul Roth, Irrtum und Widerstand, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 23 (1968) 50, 15. 12. 1968, S. 10), streitet Bernhard Maria Rosenberg, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 50,15. 12.1968, S. 10, entschieden ab. Vgl. Thimm, Franz Justus Rarkowski, S. X. Ob überhaupt, und wenn ja, wann Rarkowski das Abitur evtl. noch nachträglich abgelegt hat, kann nicht definitiv gesagt werden. W ä h rend Brandt, Rarkowski, S. 594, ohne Quellenangabe davon ausgeht, daß Rarkowski kein Reifezeugnis besaß und Bernhard Maria Rosenberg, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 50,15. 12.1968, S. 10,11, nur feststellt, daß er lediglich in Allenstein kein Abitur gemacht habe (so auch Thimm, Franz Justus Rarkowski, S. X), äußert Nuntius Orsenigo gegenüber Neurath eindeutig, daß Rarkowski ohne dieses Examen Theologie studiert habe, vgl. Neurath, 15. 1. 1936, an Blomberg, in: Albrecht, Notenwechsel, 3, S. 148. In dem auf Ersuchen Bertrams von Rarkowski selbst erstellten Curriculum, vgl. Bertram, 23. 5. 1929, an die Oberhirten der Diözesen Deutschlands, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, C R 25.2, 2, finden sich weder zur Schulzeit, noch zur Studien- und Ordenszeit Angaben. Vgl. Brandt, Rarkowski, S. 594, der nur von Theologiestudien in Innsbruck berichtet. Mit Sicherheit hat Rarkowski auch in Belgien, vgl. Bernhard Maria Rosenberg, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 50, 15. 12. 1968, S. 10, 11, und in der
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zu erwähnen, weihte ihn - unter Hinweis auf seine Herkunft „aus der Diözese Ermland" - 1 8 9 7 der Brixener Fürstbischof Simon Aichner auf den Titel des Privatvermögens zum Subdiakon. Bei seiner Priesterweihe am 8. Januar 1898, die ihm ebenfalls Aichner spendete, w u r d e die Ordenszugehörigkeit zu den Maristen im Matrikelbuch vermerkt 7 5 . Nach verschiedenen Tätigkeiten in der Diözese Ermland 7 6 beauftragte Feldpropst Joeppen am 25. August 1 9 1 4 Rarkowski wegen seiner Sprachkenntnisse mit der Seelsorge der Kriegsgefangenen in Berlin und Blankenberg. Gleichzeitig erhielt er die Bestallung als Garnisons- und Lazarettpfarrer f ü r Berlin und als Sekretär des Feldpropstes 7 7 . Feldpropst Joeppen hatte die Ernennung Rarkowskis zum Militärpfarrer beantragt, weil dieser „durch Studien in Belgien, England und Österreich, eine ausreichende Bildung erlangt habe" 78 . Mit den Hypotheken seiner nicht bis ins Detail zu klärenden Vergangenheit belastet, zog sich die Ernennung Rarkowskis zum Feldbischof nach dem Anschluß des Reichskonkordats noch ein halbes Jahrzehnt hin 7 9 . A m 13. Januar 1 9 3 6 w u r d e Rarkowski zum „Apostolischen Protonotar" 8 0 und am 11. August 1 9 3 6 zum „Administrator Apostolicus ad nutum Sanctae Sedis" f ü r die katholische Militärseelsorge ernannt 8 1 . Er führte den Titel „Kommissa-
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Schweiz, vgl. Neurath, 15. 1. 1936, an Blomberg, in: Albrecht, Notenwechsel, 3, S. 148, studiert; nach der zuverlässigen Aussage des Archivleiters beim KMBA, studierte Rarkowski auch in England. Vgl. Reichswehrminister, Nr. 723. 30 RIII, 29. 4. 1930, an Bischof von Berlin, abschriftlich bei Dörken, 24. 1. 1933, an Menshausen, AA, PolAbt II Pol 16, Bd. 5. Vgl. dazu und zu den unterschiedlichen Daten seiner Priesterweihe: Güsgen, Militärseelsorge, S. 367, bes. Anm. 29. Aus einem Schreiben des Reichswehrministers geht hervor, „daß er die Reife- und Pfarrprüfung nicht gemacht hat ... Durch Erlaß des Kultusministers vom 17. Juni 1915, GII 423, ist er aufgrund des Artikels 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 31. Mai 1882 von den zur Anstellung im geistlichen Amt gesetzlich vorgeschriebenen Erfordernissen der Vorbildung zwecks Verwendung in der Militärseelsorge befreit worden ... Nachdem der katholische Feldpropst ihn von der Ablegung der Pfarrerprüfung befreit hatte, hat auch das preußische Kriegsministerium von der Ablegung dieser Prüfung durch Erlaß vom 4. April 1916 Nr. 14. 4. 16 C4, abgesehen", vgl. Reichswehrminister, Nr. 723. 30 RIII, 29. 4. 1930, an den Bischof von Berlin, abschriftl. in: Dörken, 24. 1. 1933, an Menshausen, AA, PolAbt II Pol 16, Bd. 5. Vgl. Güsgen, Militärseelsorge, S. 367/368. Vgl. Curriculum vitae Rarkowskis, zit. n. Bertram, 23. 5. 1929, an die Oberhirten der deutschen Diözesen, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, CR 25.2, 2. Rarkowski meldete sich also nicht „im Uberschwang nationaler Begeisterung, freiwillig zum Seelsoreedienst bei der Armee", so Bernhard Maria Rosenberg, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 50,15. 12. 1968, S. 10, 11; Apold, Feldbischof, S. 95, und er war auch nicht in die Feldseelsorge gekommen, nachdem seine Diaspora-Missionsstation Lotzen vor den anrückenden Russen geräumt werden mußte, so Fittkau, Feldbischof, S. 12. Angesichts der vorliegenden Quellen ist weder die legendäre Protektion durch Hindenburg, noch die Behauptung, Rarkowski habe aus „nationalsozialistischer und militärischer Begeisterung seine Gemeinde ... verlassen, um eine Militärkarriere zu machen - vgl. ebd., der solche Vorwürfe entschieden zurückweist nur nicht durch nichts erwiesen, sondern widerlegt. Vgl. Reichswehrminister, Nr. 723. 30 RIII, 29. 4. 1930, an den Bischof von Berlin, abschriftl. in: Dörken, 24. 1. 1933, an Menshausen, AA, PolAbt II Pol 16, Bd. 5. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Güsgen, Militärseelsorge, S. 370-386. Vgl. Missalla, Volk, S. 88. Vgl. Nuntiatur, 11. 8. 1936, an Auswärtiges Amt, in: Albrecht, Notenwechsel, 3, S. 209.
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rischer Feldbischof der Wehrmacht" 82 . Bis Ende 1943 nahm Rarkowski die Aufgaben des Feldbischofs wahr 83 . Nach längerer Krankheit wurde er am 6. Februar mit Wirkung vom 1. Mai 1945 in den Ruhestand versetzt. Er starb am 9. Februar 1950 in München und ist dort in der Gruft der Münchener Domvikare beigesetzt 84 . Bei dem Versuch, die Person des Feldbischofs und seine unglückselige Rolle eingehender zu beurteilen, muß festgestellt werden, daß die Diskussion um Rarkowski überwiegend pejorativ aufgeladen ist. Die Zitate aus seinen Reden und Hirtenworten werden nicht nur von antikatholischen Autoren mit Vorliebe „vorgelegt, um die Hitlergefolgschaft der deutschen Bischöfe anscheinend unwiderruflich nachzuweisen" 85 , sondern sind für andere Autoren gar einziges Kriterium für eine Beurteilung 86 oder gar Verurteilung 87 . Die von Rarkowski herausgegebenen Hirtenbriefe und Verlautbarungen sprechen eine zweifelsfrei nationalsozialistische Sprache und brauchen hier nicht in ihren Einzelheiten behandelt zu werden, da sie nicht von allzu großer Bedeutung sind 88 . Bei der Beurteilung offizieller Verlautbarungen des Feldbischofs muß berücksichtigt werden, daß sie einer ständigen Kontrolle durch OKH/AHA/AgS, OKW-Inland, Parteidienststellen und NSFO unterlagen und dort unter Umständen passend „frisiert" wurden 89 . Ob diese Hirtenworte tatsächlich der Preis waren, „für den das kirchliche Schrifttum in der Wehrmacht zugelassen wurde" 90 , darf bezweifelt werden. Zu der Hilflosigkeit Rarkowskis trug mit Sicherheit auch sein gestörtes Verhältnis zum deutschen Episkopat nicht unerheblich bei. Vergegenwärtigt man sich die im Vorfeld seiner Berufunmg stattgefundenen Machtkämpfe zwischen Vatikan, deutschem Episkorat und Reichsregierung um das Amt des Militärbischofs im allgemeinen und um die Person Rarkowskis im besonderen 92 , dann wird deutlich, daß sich Rarkowski bereits
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Vgl. Verordnungsblatt des Katholischen Feldbischofs der Wehrmacht 1 (1937) 1. O b und wann die Dienstzeit Rarkowskis, der eigentlich schon 1938 in den Ruhestand versetzt werden sollte, de iure verlängert wurde, läßt sich nicht feststellen, vgl. dazu die ausführl. Darstellung bei Güsgen, Militärseelsorge, S. 387 /388. Vgl. Apold, Feldbischof, S. 97; Brandt, Rarkowski, S. 595. Adolph, Kirche, S. 113; ders., Hirtenamt, S. 73, Fußnote. Vgl. Zahn, Katholiken, S. 1 9 4 - 2 2 6 , der seiner Anklage dadurch Gewicht verleihen will, daß er dem Feldbischof eine diesem nie zuteil gewordene exponierte Stellung zuspricht. Diesem Verfahren schließt sich L e w y , Kirche, S. 262, an und behauptet, Rarkowski habe „mit den Millionen Katholiken in Hitlers Wehrmacht viel engeren Kontakt" gehabt, „als die anderen Bischöfe" und aus diesem Grund habe „er in der Förderung der deutschen Kriegsziele eine bedeutende Rolle" gespielt. So ζ. B. Bamberg, Militärseelsorge, S. 24, nach dem „die obersten Militärseelsorge-Führer ... mitschuldig ... an den grauenhaftesten Verbrechen der jüngeren Geschichte" sind. Vgl. dazu Missalla, Volk, S. 91. Vgl. ebd., S. 78. Uber den Zensurapparat berichten ausführlich Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht. Ziegler, Werk, S. 29/30. Die selbständige (exemte) Militärseelsorge w a r gegen den Willen der deutschen Bischöfe nach langjährigem Ringen im Reichskonkordat durchgesetzt worden. Vgl. dazu Güsgen, Militärseelsorge, S. 4 3 - 2 7 8 . V o n Juli 1935 bis Januar 1938 war um die Besetzung des Feldbischofsamtes gerungen worden. Auf Druck des deutschen Episkopats sperrte sich der Vatikan gegen eine Ernennung Rarkowskis. Vgl. dazu ebd., S. 3 7 4 - 3 9 2 .
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bei Amtsantritt in einer völligen Isolation befunden hat. Einer seiner härtesten Gegner war der ehemalige Zentrumsvorsitzende Ludwig Kaas, der in Rarkowski „eine unqualifiziert, unterdurchschnittliche und unbedeutende Persönlichkeit" sah, die er nie habe ernstnehmen können. Kaas sah in Rarkowski einen Mann, der nicht in das Gremium der Fuldaer Bischofskonferenz paßte. In seiner geistigen Mittelmäßigkeit sah Kaas die Gefahr, daß Rarkowski gegenüber der Partei Dinge ausplaudern könnte, die geheim gehalten werden müßten 93 . Entgegen der damals üblichen Praxis, bei allen sich bietenden Gelegenheiten der nationalsozialistischen Partei und dem Staat gegenüber die Geschlossenheit der Katholiken demonstrativ zu bekunden, nahmen an Rarkowskis Bischofsweihe nur die beiden assistierenden Bischöfe von Berlin und Münster, Konrad Graf von Preysing und Clemens August Graf von Galen, teil 94 . N o c h deutlicher wird die vom Episkopat betriebene Isolationspolitik am Beispiel der Bischofskonferenzen: Rarkowski erhielt nicht das Recht, an den Sitzungen teilzunehmen. Er sollte lediglich zu Fragen der Militärseelsorge gehört werden. Faktisch aber wurde er auch nicht zu diesen Sitzungen eingeladen, sondern mußte alle Eingaben und Anfragen schriftlich machen 95 . Die vom Episkopat betriebene Isolationspolitik 96 ließ den Feldbischof auf sich allein gestellt sein. Die Aussage Rarkowskis, „Ich weiß, daß die anderen meine Haltung verurteilen. Aber was soll ich tun? Wenn ich opponiere, hätte ich überhaupt keinen Einfluß. So kann ich manches Übel verhindern" 97 , macht seine Schwierigkeiten deutlich. Ist auch das Verhalten Rarkowskis „nur mit Mühe zu verstehen, schwerlich aber zu rechtfertigen" 98 , so muß es immer vor dem Hintergrund seiner Verstrickungen in die Kirchen- und Wehrmachtpolitik einerseits und in die parteiideologischen Auseinandersetzungen andererseits gesehen werden. Gerade die Feststellung, daß es „die Gefahr einer Beseitigung der Militärseelsorge als Institut nicht gegeben hat" 9 9 , fordert zu der Frage, deren Antwort immer hypothetischen Charakter haben wird, heraus, ob es nicht das Verhalten Rarkowskis war, welches dem Historiker diese Feststellung erlaubt.
Georg Werthmann - Person und Amt des Feldgeneralvikars Anders als in der Kontroverse um Rarkowski, sind die Darstellungen über sein „alter ego" schlüssig 100 . Danach war nicht der Feldbischof die wichtigste Persönlichkeit innerhalb der katholischen Militärseelsorge, sondern Feldgeneral-
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Vgl. A u f z . W e r t h m a n n , Kirchliches A r c h i v b e i m K a t h o l i s c h e n M i l i t ä r b i s c h o f s a m t Bonn, S W I , 2. Vgl. Missalla, V o l k , S. 88. Vgl. M e s s e r s c h m i d t , W e h r m a c h t (1969), S. 179; Missalla, V o l k , S. 84. Vgl. d a z u G ü s g e n , Militärseelsorge, S. 390/391, 396. Reifferscheid, B i s t u m , S. 268, A n m . 10. Missalla, V o l k , S. 92. M e s s e r s c h m i d t , A s p e k t e , S. 9. E i n e nicht ernst z u n e h m e n d e A u s n a h m e bildet die p o l e m i s c h e u n d ideologische A b h a n d lung v o n B a m b e r g , Militärseelsorge; vgl. d a z u G ü s g e n , Militärseelsorge, S. 399, A n m . 179.
D i e B e d e u t u n g der K a t h o l i s c h e n Militärseelsorge
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vikar Georg Werthmann, der besonders im Krieg mit offenen Worten für die Interessen der Kirche eintrat 101 . Georg Werthmann wurde am 8. Dezember 1898 in Kulmbach geboren und besuchte das „neue Gymnasium" in Bamberg. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg kam er schwer verletzt als Unteroffizier in französische Gefangenschaft. Dort faßte er den Entschluß zum Priestertum. Er wurde am 27. Juli 1924 in Bamberg zum Priester geweiht 102 . Nach Kaplansstellen in Nürnberg und Bamberg 103 war er hauptamtlich als Religionslehrer tätig 104 . Sein Auftreten gegen den Nationalsozialismus war so provokativ, daß die Schulleitung um die Ablösung Werthmanns bat, weil man befürchtete, daß sein engagiertes Auftreten die Existenz der kirchlichen Schule gefährde 105 . Aufgrund dieser Situation und in Anbetracht seiner Erfahrungen in der Jugendarbeit schlug ihn der Bamberger Ordinarius als Standortpfarrer für Bamberg vor. Als Bewerber für dieses Amt mußte Werthmann sich in Berlin bei Rarkowski vorstellen. Dieser behielt den „Probanden" sofort in Berlin. Auf Vorschlag Blombergs wurde Werthmann 1936 zum Feldgeneralvikar ernannt 106 . Es wird immer Spekulation bleiben, ob seine Berufung nur interimistischer Natur sein sollte, um nach der für Oktober 1938 vorgesehenen Pensionierung Rarkowskis dessen Amt als Feldbischof zu übernehmen oder ob er sich bis zu diesem Zeitpunkt in den Augen der Partei bereits so disqualifiziert hatte, daß seine Berufung auf den Feldbischofsstuhl nicht mehr möglich war. Weiterhin bleibt die Frage offen, ob die „Personalkonstruktion" sich nicht als für die Wehrmachtseelsorge durchaus günstig erwiesen hat. Auf der einen - „offiziellen" - Seite befand sich ein zwar „frommer, aber theologisch unbedarfter" 107 , gelegentlich „völlig passiver" 108 und in bestimmten „Angelegenheiten ,auf Wochen und Monate hinaus'" nicht ansprechbarer 109 Feldbischof. Auf der anderen - wirksameren - Seite stand ein „aktiver, führender und harter Mann" 1 1 0 , der aber bei aller Risikobereitschaft die Institution der Feldseelsorge nie aus dem Auge verlor 111 . Wenn Werthmann 1940 hoffte, „ohne FeBi manches drehen zu können" 112 , dann dürfen wir heute sagen, daß ihm dies unter steter Berücksichtigung und Sorge um die Wehrmachtseelsorge gelungen ist 113 . So versah er z.B.
Vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 21. Vgl. Brandt, Werthmann, S. 808. 103 Vgl. ebd.; Missalla, Volk, S. 72/73, attestiert dem Quickborn-Mitglied Werthmann eine radikal pazifistische Einstellung, die ihn 1926 an dem großen Friedenstreffen deutscher und französischer Jugendlicher in Donaumont bei Verdun habe teilnehmen lassen. 104 Vgl. Brandt, Werthmann, S. 808. 105 Vgl. Missalla, Volk, S. 73. 1 0 6 Vgl. May, Interkonfessionalismus, S. 68/69, 77; Missalla, Volk, S. 73, charakterisiert Werthmanns Einstellung „gut deutsch und erst recht katholisch, aber nicht und auf keinen Fall nationalsozialistisch". 1 0 7 Ebd., S. 90. 108 Aufz. Werthmann, 24. 2. 1940, zit. n. ebd., S. 89. 109 Werthmann, 3. 8. 1942, an Höfler, zit. n., ebd. 1 1 0 Perau, Priester, S. 28. 1 1 1 Vgl. zu Werthmanns „Risikobereitschaft" den Beitrag „Am Rande und jenseits der Legalität", in: Missalla, Volk, S. 1 2 0 - 1 2 6 . 112 Werthmann, 7. 6. 1940, an Höfler, zit. n. ebd., S. 94, Anm. 12. 1 1 3 Werthmann unterstützte manche Aktionen der „Kirchlichen Kriegshilfe" des Caritas101
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Paketsendungen Heinrich Höflers als Leiter der Kirchlichen Kriegshilfe mit Schrifttum für die Front entgegen den gesetzlichen Bestimmungen mit dem Freistempel des Feldbischofsamtes. Werthmanns 114 größte Sorge waren solche am Rande der Legalität durchgeführten Aktionen, die seiner Ansicht nach den „ganzen Laden gefährden" konnten und für die er mit „Kopf und Kragen einstehen" mußte 1 1 5 . In seiner Funktion als „Verbindungsmann" zwischen Feldbischof und Amtsgruppe mußte er nach der einen Seite ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen, an Takt und konzilianter Verhandlungsfähigkeit, nach der anderen Seite Energie und Standfestigkeit und eine klare theologische Haltung zeigen. Diesen Ansprüchen ist Georg Werthmann, der in dieser Funktion den Angriffen der Nationalsozialisten besonders ausgesetzt war, gerecht geworden. Seine Person läßt sich möglicherweise am besten mit einem Satz charakterisieren, den er Heinrich Höfler in einem Brief vom 8. Januar 1943 schreibt: „Mundus vult decipi. Also frisch drauf los" 1 1 6 .
Die katholische Militärseelsorge in den Wirren der Mobilmachung und des Krieges Der Reichswehrführung war an dem Zusammenhalt und der Einigkeit der Armee sehr gelegen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hatte die in der Gesellschaft um sich greifende „Entkonfessionalisierung" in die Wehrmacht hineingetragen und zu einer Spaltung des Offizierskorps 117 geführt 118 . Die unmittelbar bevorstehende Mobilmachung war Anlaß, die katholische Militärseelsorge für den Kriegsfall zu regeln und dem Druck der N S D A P auszuweichen. Verbandes „am Rande der Legalität" und wußte, daß diese Aktionen „unter Umständen den ganzen Laden gefährden" konnten, ebd., S. 124. Eine ausführliche Darstellung dieser Aktionen findet sich bei Werthmann, Heinrich Höfler. Werthmann beschreibt die „widerliche Begleitmusik" zu den systematischen Aushungerungsversuchen durch die verschiedenen Stellen der Wehrmacht, die Machtlosigkeit der Feldbischöfe beider K o n fessionen und das Wirken Höflers: „Die beiden Feldbischöfe Rarkowski und Dohrmann versuchten mehr als einmal, durch gemeinsame Aktionen die vorhandenen Schwierigkeiten zu beseitigen oder wenigstens herabzumildern. D i e eindeutigen und ernsthaften Vorstellungen der beiden wurden jedoch fast immer mit mehr oder minder zweifelhaften und fadenscheinigen Begründungen abgelehnt. In dieser Situation trat Höfler auf den Plan als ein .veritable genie createur-ein wahrhaft schöpferisches G e n i e ' . . . D a es keine Möglichkeit gab, auf normalem Weg die Versorgung der Soldaten mit religiösem Schrifttum auch nur in geringem Umfang durchzuführen, entschloß er sich, .streng i l l e g a l ' . . . durchzuführen, was auf legalem W e g nicht möglich w a r " , vgl. ebd., S. 149. 114
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N a c h dem Krieg arbeitete Werthmann bei den Besatzungsmächten und war bis 1955 leitender katholischer Geistlicher des „Labour-Service" der US-Streitkräfte in Deutschland. E r wirkte dann entscheidend an der Neukonzeption der katholischen Militärseelsorge für die Bundeswehr mit, vgl. Gritz, Beiträge, S. 30/31, Ehlert, Interessenausgleich, und wurde am 16. 12. 1955 erster Militärgeneralvikar der Militärseelsorge in der Bundeswehr. Am 30. 9. 1962 pensioniert, starb er am 25. 5. 1980 in Bamberg. Werthmann, 7. 6. 1940, an Höfler, zit. n. Missalla, Volk, S. 124. Werthmann, 8. 1. 1943, an Höfler, zit. n. ebd., S. 126. Vgl. May, Interkonfessionalismus, S. 100. Diese Prozesse hat May, Interkonfessionalismus, ausführlich dargestellt. Vgl dazu Güsgen, Militärseelsorge, S. 419—426.
Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge
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Die Einstellung der Parteiführung wurde, durch immer stärker werdende antichristliche Aktivitäten aller Gliederungen der NSDAP, besonders auf mittlerer, regionaler und unterer örtlicher Ebene spürbar 1 1 9 , die in der Wehrmacht wegen einer zunehmenden Gleichgültigkeit in religiösen Dingen, insbesondere bei den jungen Offizieren, auf wenig Widerstand stieß. Die von der politischen Führung zunehmend betonte Ablehnung des Christentums übertrug sich auf große Kreise des Offizierkorps. Das vielleicht beste Beispiel, die sich so ergebenden Schwierigkeiten auf den Wegen der Anpassung und durch eine Politik der Kompromisse auszuräumen, ist das „Merkblatt über Feldseelsorge" 1 2 0 . Ohne Absprache und Einverständnis mit den beiden Feldbischöfen ordnete das O K H / A H A am 21. August 1939 an, dieses Merkblatt beschleunigt an die Kommandobehörden und Truppen bis einschließlich Bataillone bzw. Abteilungen, sowie sämtliche kalenderführenden Dienststellen solcher Einheiten, die im Mobilmachungsfall mit Seelsorgern ausgestattet würden, zu verteilen 121 . Auch wenn Generalvikar Werthmann die Verfügung als „einen in vielen Einzelheiten unglücklichen Versuch der militärischen Führung" ansah 1 2 2 , so wurde mit diesem Merkblatt „zu Beginn des Krieges die Bedeutung und Wichtigkeit der Feldseelsorge . . . als dienstlich befohlener Einrichtung" anerkannt 1 2 3 . Diese Richtlinien beinhalten ein für große Teile der Wehrmacht bezeichnendes funktionalistisches Religionsverständnis, waren aber zugleich der Versuch des Arrangements mit der Partei 1 2 4 . In Ziffer 1 des Merkblattes wird erneut die seit 1935 von der Wehrmachtführung in Glaubensfragen betriebene „Neutralitätspolitik" deutlich. Das Merkblatt betont, daß die Feldseelsorge als „dienstlich befohlene Einrichtung der W e h r m a c h t . . . der Förderung und Aufrechterhaltung der inneren Kampfkraft umso wirksamer dienen" könne, „je mehr sie sich nach den seelischen Bedürfnissen des deutschen Soldaten im Krieg ausrichtet, allein das Gemeinsame betont und jeden konfessionellen Streit ausschließt" 1 2 5 . Bei der Beurteilung des Merkblattes darf die Verstrickung der Wehrmacht in parteiideologische Auseinandersetzungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die politische Abhängigkeit der Wehrmachtführung verbietet eine einseitig negative Darstellung des Merkblattes. Bei der zweifellos vorhandenen „Problematik der Einzelbestimmungen" 1 2 6 muß das Merkblatt in der Gesamtheit seiner Bedingungen gesehen werden, wenn man zu einem objektiven Urteil gelangen will. Nur einem mit den „militärischen Eigenheiten" nicht vertrauten Beobach-
Vgl. Schottelius/Caspar, Organisation, S. 384. Vgl. Merkblatt über Feldseelsorge vom 21. 8. 1939, hrsg. vom Oberkommando des Heeres, 31 u AHA/Ag/S, 2838/39. Dieses Merkblatt ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen, ζ. B. May, Interkonfessionalismus; Missalla, Volk; Messerschmidt, Aspekte; ders., Wehrmacht (1969); Werthmann, Feldgottesdienst. 121 Vgl. O K H , 31 u AHA/Ag/S, 2838/39, 21. 8. 1939, B A - M A , R H 36/45. 122 Vgl. Werthmann, Feldgottesdienst, S. 241/242. 123 Vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 60. 124 Vgl. ebd.; vgl. die ausführl. Darstellung des „Merkblattes" und seine Würdigung bei Güsgen, Militärseelsorge, S. 427-439. 125 Vgl. Merkblatt über Feldseelsorge vom 21. 8. 1939, hrsg. vom Oberkommando des Heeres, 31 u AHA/Ag/S, 2838/39, Ziffer 1. 126 Missalla, Volk, S. 61.
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ter können die sich der Militärseelsorge durch das Merkblatt bietenden Möglichkeiten entgehen. Da es für die Durchführung und Ausübung der Militärseelsorge im Kriegsfall keinerlei Bestimmungen gab, wenn man von den grundlegenden in Reichskonkordat und Breve einmal absieht, war das Merkblatt für die Feldseelsorge überlebensnotwendig. Seine Verfasser hatten mit einer nicht zu überbietenden sprachlichen Akrobatik und permanenten inhaltlichen Ambivalenzen dafür gesorgt, daß der Militärgeistliche sich - wenn er den Text entsprechend interpretierte - bei all seinem Tun auf das Merkblatt berufen konnte 127 . Die militärische Führung des deutschen Heeres habe im Jahr 1939 mit der Herausgabe des Merkblattes gute und beste Absichten verbunden, weiß der damalige Generalvikar die Intention der Verfügung zu begründen. Ihm soll es zustehen, das Merkblatt abschließend zu charakterisieren: „Es war der letzte Versuch der damaligen obersten militärischen Führung des Heeres, mit Hilfe einer geordneten Feldseelsorge die christliche Tradition des deutschen Heeres gegenüber der Ideologie des Nationalsozialismus unter allen Umständen zu hüten und zu erhalten. Dies ist nur zum Teil gelungen" 128 .
Die Arbeit der „amtlichen" katholischen Militärseelsorge Wie sehr die Militärseelsorge im Ganzen, die Militärgeistlichen aber im besonderen gefordert waren, macht die Geamtsituation der Wehrmacht deutlich. Im Februar 1939 standen in den fünfzehn Wehrkreisen und zwei Marinestationen für die seelsorgliche Betreuung der katholischen Soldaten 93 haupt- und 215 nebenamtliche Militärgeistliche zur Verfügung 129 . Der Feldbischof teilte am 18. September 1939 dem Episkopat mit, daß die Seelsorge für das Kriegsheer bereits in Friedenszeiten im Rahmen des Gesamt-Mob-Planes vorbereitet und organisiert gewesen sei 130 . Er berichtete, daß „mit präziser Schlagfertigkeit" alle schon in Friedenszeiten vorgesehenen Kriegspfarrer, einschließlich der Luftwaffe, auf die ihnen bekannten Sammelplätze beordert worden seien und dort, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das für den Kriegsseelsorgedienst notwendige Kultgerät, einschließlich Küster und PKW, vorgefunden hätten. Ein von der GeStaPo zitierter Feldpostbrief bestätigt diese Aussage Rarkowskis: „Es ist betrüblich sagen zu müssen, daß die Partei und unsere Weltanschauung schwer ins Hintertreffen geraten! Wenn das so weitergeht, verlieren wir täglich an Boden und die Vertreter der Kirchen, die als beamtete Divisionspfarrer den Rang von Stabsoffizieren einnehmen, können allein den Acker bestellen. Die Vertreter der Kirchen überschwemmen die Truppenteile mit Flugschriften, die sehr geschickt auf die Psyche der Frontsoldaten eingehen. 127
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Vgl. Güsgen, Militärseelsorge, S. 4 3 0 - 4 3 8 , der verschiedene Beispiele ambivalenter Interpretationen anführt. Werthmann, Feldgottesdienst, S. 254. Vgl. Werthmann, Stand, S. 195. Vgl. Rarkowski, 18. 9. 1939, an den deutschen Episkopat, Archiv der Erzdiözese Freiburg, B2-35/70.
Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge
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Schon die ganzen Umstände der Front schaffen den katholischen und evangelischen Divisionspfarrern vor. Die Predigten in den Feldgottesdiensten, die außerordentlich gut besucht werden, tun die Hauptsache. Den Feldpfarrern stehen Autos zur Verfügung, mit denen sie täglich zu den Truppenteilen hinauseilen und jeden einzelnen Mann bearbeiten können" 1 3 1 . Vielen Militärpfarrern war deutlich, daß bei den Soldaten der Wehrmacht der gleiche Säkularisierungsprozeß stattfand, der überall zu beobachten war: Auflösung der religiösen Autoritäten, Erschütterung des christlichen Glaubens und Handelns und eine betonte „Diesseitsorientierung", die jede religiöse Dimension menschlichen Lebens in eine reine „Jenseitsfunktion" verdrängte. Anläßlich einer Dienstbesprechung artikulierte ein evangelischer Wehrmachtpfarrer treffend die Probleme, denen die Kriegspfarrer in den ersten Kriegsmonaten begegneten: „Daß unter all diesen Einwirkungen der religiöse Boden weitgehend steril werden mußte, ist wohl kein W u n d e r . . . An Stelle der religiösen Substanz ... ist der religiöse Hohlraum getreten, der zwar mit politischem Gehalt zu füllen versucht wird, ohne aber für den Einzelnen zu einer lebendigen religiösen Kraft zu werden. Diese Entwicklung hat auch die Heeresseelsorge nicht abzubremsen vermocht" 1 3 2 . Diese Charakterisierung traf nicht nur auf die evangelischen Soldaten zu. Sie galt gleichermaßen auch für die Gesamtsituation der katholischen Militärseelsorge. Die Bestätigung findet sich in der „Analyse" eines katholischen Armeepfarrers: „Wie unser ganzes Volk im Umbruch dieser Zeit, befindet sich auch die Feldseelsorge im Zeichen des Ringens um geistige und seelische Freiheit. Weitaus der größte Teil der Soldaten ist religiös und sucht für die Erfüllung der Einsatzpflichten Kraft im Religiösen. Viele Soldaten allerdings sind religiös in ganz subjektiver Art, losgelöst von kirchlicher Gebundenheit und Tradition. Gar manche wertvolle Soldaten, darunter sehr ernst zu nehmende Offiziere, neigen zu der Überzeugung, daß die christlichen Kirchen ihre Lebenskraft eingebüßt haben und einer neuen Art von Religiosität zu weichen hätten. Diese neue und bessere Ausdrucksform der Religion sei allerdings noch nicht gefunden und entwickelt" 1 3 3 . Daß die Seelsorge von den meisten Soldaten gerne angenommen und von vielen Vorgesetzten gefordert und gefördert wurde, belegen viele Tätigkeitsberichte der Wehrmachtpfarrer 134 . Die katholische Militärseelsorge hatte sich bei Kriegsbeginn, als die Partei ihren Klammergriff um die Nation noch fester spannte 135 , als durchaus „lebens-,, oder um es im Soldatenjargon zu sagen, „frontverwendungsfähig", erwiesen. Da Hitler den von ihm für die Dauer des Krieges proklamierten „Burgfrieden" mit der Kirche nicht sehr ernst nahm und Meldungen aus dem Reich Nr. 3 2 , 2 2 . 12. 1939, in: Boberach (Hrsg.), Meldungen, S. 387. Referat Wehrmachtpfarrer Link von der 31. ID bei der Dienstbesprechung der evgl. Kriegspfarrer der 4. Armee am 29. 11. 1940, B A - M A , R H 2CM/1038. 133 TB kath. Armeepfarrer, 6. Armee, für 20. 4. 1 9 4 1 - 1 . 7. 1942, B A - M A , R H 60-6/906. 134 Vgl. ausführl. Darstellung bei Güsgen, Militärseelsorge, S. 4 3 9 - 4 5 1 . 135 Vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 45.
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Johannes Güsgen
er dieses Feld weitgehend Martin Bormann überließ 136 , bestimmte dieser Takt und Intensität des Vorgehens gegen die Kirchen im Krieg, vor allem aber gegen die Militärseelsorge. Die bei Kriegsbeginn einsetzende „Politik der Abdrängung" der Wehrmachtseelsorge wurde während des Krieges mit wachsender Intensität permanent fortgeführt. Dem nationalsozialistischen Fanatismus war die Militärseelsorge besonders ausgesetzt, weil die Partei zusätzlich versuchte, die Wehrmacht zu einem ihr dienlichen Instrument zu machen 137 .
Der seelsorgliche Dienst der „Priestersoldaten" Angesichts der fortschreitenden Revision des Versailler Vertrages kam es im Zusammenhang mit dem Abschluß des Reichskonkordates zur Regelung der Wehrpflicht der Geistlichen. Danach haben als Soldaten zum Sanitätsdienst einberufene Geistliche ihren Dienst in der Wehrmacht auch als Seelsorger getan. Die von Kardinal Faulhaber als „Synthese von Soldat und sacerdos" bezeichneten Geistlichen 138 wurden entsprechend den kokordatären Bestimmungen fast ausnahmslos zu den Sanitätseinheiten einberufen. Die meisten blieben in diesen Funktionen bis zum Kriegsende 139 . Andere meldeten sich freiwillig oder wurden vom Feldbischofsamt als Kriegspfarreranwärter angefordert, machten Kurzlehrgänge für Kriegspfarrer mit und kamen so zur ordentlichen Militärseelsorge. Auch wenn der seelsorgliche Aktionsradius der eingezogenen Geistlichen, die den „Priesterrock mit der Sanitätsuniform vertauscht hatten", und denen es zukam, die „vom apokalyptischen Reiter geschlagenen Wunden zu heilen" 140 , stark eingeschränkt war, konnten sie an vielfältigen Stellen segensreich wirken. Ein Befehl des ObdH 141 ermöglichte sogar die offizielle Vertretung des Divisionspfarrers 142 . Ohne die Arbeit der Priestersoldaten an dieser Stelle auch nur annähernd würdigen zu können, kann festgestellt werden, daß sowohl der offizielle „Aushilfeeinsatz", als auch das persönliche seelsorgliche Engagement der eingezogenen Geistlichen nicht nur vom Wohlwollen des zuständigen Kommandeurs abhingen, sondern es vielmehr eine Frage der Persönlichkeit des einzelnen Geistlichen und seines Einfallsreichtums war, inwieweit sein Dienst zur Unterstützung der offiziellen Wehrmachtseelsorge beitrug.
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Vgl. ebd., S. 58. Vgl. Missalla, Volk, S. 65. Vgl. Faulhaber, 30. 11. 1942, an die Geistlichen im Wehrdienst, zit. n. Volk, Akten, 2, Nr. 903. Zahlreiche Zeugnisse solcher Priester liegen in gedruckter Form vor: ζ. B. Wagner, Priestersoldat; Häring, Uberleben; Hamm, Priester; Perau, Priester. Vgl. Faulhaber, 30. 11. 1942, an die Geistlichen im Wehrdienst, zit. n. Volk, Akten, 2, Nr. 903. Vgl. H D v 373, 19, zit. n. Wagner, Priestersoldat, S. 12/13. Vgl. dazu Güsgen, Militärseelsorge, S. 457/458, bes. Anm. 192 u. 193; danach hat im Januar 1943 ein als Sanitätsfeldwebel dienender Geistlicher den Divisionspfarrer über mehrere Wochen vertreten.
Die Bedeutung der Katholischen Militärseelsorge
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Schlußbemerkungen Die Geschichte der Militärseelsorge in der nationalsozialistischen Zeit ist durch eine Vielzahl sich bedingender Faktoren geprägt. Der durch die doppelte Beauftragung der Militärgeistlichen durch Staat und Kirche nach außen sichtbar werdende Dualismus gilt mutatis mutandis für die gesamte Institution der Militärseelsorge. Für die Militärseelsorge ist darüber hinaus nicht einzig das Verhältnis der Kirche zum Staat bestimmend, vielmehr wirkt sich auf ihre Arbeit auch die Konstellation von Staat und Militär fördernd oder hemmend aus. In der Reichswehr der Weimarer Republik leistete die Militärseelsorge Dienst in einem Heer, das nach dem Willen seines „spiritus rector" ganz eigene Lebensbedingungen und einen Charakter hatte, der es von allen anderen Staatseinrichtungen unterschied 143 . Ist es auch dem Wohlwollen der Reichswehrführung und ihrem Einfluß im politischen Bereich zu verdanken, daß die katholische Militärseelsorge ihren Dienst im Reichsheer leisten konnte, so änderte sich die Situation erst, als ein aktiver Soldat die politische Position des Reichswehrministers übernahm. Mit General Schleicher stand den Bischöfen ein die Interessen der Reichswehr rücksichtslos vertretender Verhandlungspartner gegenüber. So wurde der Abschluß des Reichskonkordates für die Militärseelsorge eine existentielle Grundlage. Als mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1935 endgültig das Ende der alten Reichswehr eingeläutet wurde, stand die katholische Militärseelsorge in einer ersten Bewährungsprobe. Der immer stärker werdende Einfluß des Nationalsozialismus machte auch vor der Wehrmacht nicht Halt. Die Militärseelsorge bot ihren Dienst in einer Institution an, die zahlreichen anderen Problemen gegenüberstand und einer Konfrontation mit dem Nationalsozialismus auf kirchenpolitischer Ebene auf alle Fälle ausweichen wollte. Hitler hatte der Wehrmacht bereits in „Mein Kampf" die Aufgabe zugewiesen, letzte und höchste Instanz vaterländischer Erziehung zu sein. Seinen Vorstellungen gemäß sollte die Wehrmacht zum Schmelztiegel für die Erziehung des neuen deutschen Menschen werden 144 . Wenn aber die Kirche schon im Allgemeinen ein „Störfaktor" im nationalsozialistischen Weltbild war, um wieviel mehr mußte dann erst die katholische Militärseelsorge die Adaption der Wehrmacht an diesen Staat stören. Bei einer genauen Betrachtung der Situation wird deutlich, daß die Existenz der Wehrmachtseelsorge vom Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft an bedroht war 145 . Für die Partei war die Militärseelsorge ein „störendes, retardie143
Seeckt, Reichswehr, S. 191. Nur durch diese Konstellation und die Suche nach Halt in der Kontinuität der Institutionen der alten Wehrmacht konnte die Militärseelsorge, auch gegen die Abneigung der politischen Linken, beibehalten werden, vgl. dazu MeierWelcker, Hans von Seeckt, S. 528. 144 Vgl. Absolon, Wehrmacht, S. 3, 9. 145 Vgl. Reifferscheid, Bistum, S. 231, Anm. 111. Nicht ernst zu nehmen ist die Aussage von Lewy, Kirche, S. 260, Hitler habe die Politik seiner Vorgänger fortgesetzt und systematisch die Seelsorge für die Wehrmacht aufgebaut; er spricht der Militärseelsorge eine ihr nie zugekommene ideologische Bedeutung zu, um sie dadurch mitverantwortlich zu machen „für das Elend und die Verwüstung, die Hitlers Truppen über die Menschheit brachten".
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rendes Moment innerhalb der politischen Volkserziehung" und „prominente Weltanschauungsfanatiker und -theoretiker" bereiteten den Abbau der Soldatenseelsorge vor 146 . Die dargestellten unterschiedlichen Entwicklungen bei Heer und Marine einerseits und der Luftwaffe andererseits zeigen, daß die Existenz der Militärseelsorge nicht auf das von Hitler noch ausstehende „Zeichen zum entscheidenden letzten Angriff" zurückgeführt werden kann 147 . Waren es einerseits die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte Heer und Marine, welche die bedrohliche Lage der Militärseelsorge erkannt hatten und die durch vorsichtiges Taktieren versuchten, diese Gefahr abzuwenden, so wurde andererseits die Wehrmachtseelsorge mehr und mehr zu einer Frage der Persönlichkeit des Kriegspfarrers und geriet zunehmend in die nicht immer tragbare personelle Abhängigkeit von den jeweils zuständigen, der Militärseelsorge gegenüber wohlwollenden oder ablehnenden Kommandeuren und Chefs. Die Wirksamkeit der von Heeres- und Marineführung angewandten Methode ist oben dargestellt und deutlich geworden; durch diese Taktik wurde die Militärseelsorge zwar nicht direkt gefördert, aber de facto geschützt. Während sich bei Heer und Marine die Maßnahmen der NSDAP erst nach 1942 - die führenden Offiziere waren durch „linientreue" abgelöst - konzentriert bemerkbar machten, war die Situation in der Luftwaffe bedeutend bedrohlicher: die traditionslose Fliegertruppe stand unter dem Oberbefehl eines fanatischen Nationalsozialisten. Die oft weit gefaßten Vorschriften, auch im „Merkblatt über Feldseelsorge", ermöglichten einen großen Ermessensspielraum, da sie nicht nur interpretationsfähig, sondern sogar interpretationsbedürftig waren. Eingehende differenzierte Reglementierungen hätten dagegen mit der Einschränkung der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit bezahlt werden müssen und hätten erheblich schneller zu „Übertretungen" geführt. So kämpfte die katholische Militärseelsorge unter Ausnutzung des ihr gegebenen Freiraumes gegen den immer stärker werdenden Druck des Nationalsozialismus. Ohne Zweifel kann festgestellt werden, daß dieser defensive Widerstand der Militärseelsorge ein Uberleben ermöglicht hat. Auch die isoliert betrachteten Haltungen und Äußerungen des Feldbischofs Rarkowski dürfen nicht zu dem Urteil verleiten, daß die katholische Militärseelsorge als solche in den „Dienst fremder Herren und Mächte" geraten sei 148 . Die Militärseelsorge in der nationalsozialistischen Zeit stand zwar im Widerspruch von Kreuz und Hakenkreuz, aber sie diente dem Menschen und nicht dem System. Die Feldgeistlichen sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das zeigen die Forschungen zweifelsfrei, „Kirchenglocke geblieben" und nicht „Kanone geworden" 149 .
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Vgl. Messerschmidt, Aspekte, S. 31. So argumentiert Messerschmidt, ebd. Vgl. dazu die überwiegend unausgewogenen Urteile über Rarkowski bei Zahn, Katholiken; Lewy, Kirche; Zipfel, Kirchenkampf; A n t o n Kuhn, Leserbrief, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 24 (1969) 5 , 2 . 2 . 1 9 6 9 , S. 10, Paul Roth, Irrtum und Widerstand, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen 23 (1968) 50, 15. 12. 1968, S. 10; ausgewogener ist die Darstellung bei Apold, Feldbischof. Vgl. Volk, Akten, 1 , L V I I .
ν Mentalitäten und Kriegsalltag
Gerhard
Hirschfeld
Einführende Bemerkungen
Die seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt aufgekommene moderne Alltagsgeschichte ist in gewissem Sinn ein Stiefkind der bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor einsetzenden kritischen Sozialgeschichtsschreibung. Als solche versteht sie sich, teilweise in bewußter Absetzung von einer älteren Strukturgeschichte und der überwiegend analytisch orientierten Sozialgeschichte, als eine Geschichte des Alltags der sogenannten „kleinen Leute", als eine Geschichte „von unten". Mit der Wahl ihres historischen Gegenstands - der Geschichte der Menschen in deren alltäglichen Bezügen und Abhängigkeiten - und ihrer methodischen Vorgehensweise - der Erforschung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge aufgrund schriftlicher und mündlicher Quellen („oral history") - versuchen ihre Verfechter, historische Strukturen und gesellschaftliche Befunde mit dem konkreten, anschaulich gemachten Leben einzelner Personen wieder anzufüllen. Der auf den ersten Blick reichlich diffus anmutende Begriff des „Alltags" erweist sich dabei als ein von den jeweiligen Umständen abhängiger, stets neu festzulegender Sammelbegriff für Annäherungen an die Alltagserfahrungen von Menschen. In diesem Sinn zielt Alltagsgeschichte vor allem auf die Aneignung von Wirklichkeit und die Analyse individueller Empfindungen und Denkweisen. Während Alltagsgeschichte somit bemüht ist, die Lebensverhältnisse des Einzelnen zu rekonstruieren und dabei gleichsam dem historischen Individualitätsprinzip verpflichtet ist (Peter Steinbach), erforscht die Mentalitätengeschichte kollektive Weltsichten und die Einstellungen der Menschen gegenüber fundamentalen Lebenssituationen, gesellschaftlichen Institutionen und Machtverhältnissen. Interpretationen kollektiver Mentalitäten als sozio-kulturelle Muster schaffen nicht nur eine neue Sicht auf die Geschichte, sondern beziehen auch Bereiche ein, die historisch lange Zeit über als nicht oder nur in Ansätzen als bearbeitbar galten. Hierzu gehören beispielsweise Sinneswahrnehmungen, Gefühle und körperliche Bewegungen sowie der gesamte Komplex historischer Erfahrungen und deren Verarbeitung. In der Tradition der französischen Annales-Schule (u.a. Marc Bloch und Lucien Febvre) liegt der Mentalitätengeschichte ein umfassender Quellenbegriff zugrunde, der neben Zeugnissen der Alltagskultur und der Massenmedien auch künstlerische und literarische Dokumente berücksichtigt. Stärker noch als die Alltagsgeschichte gehört die Erforschung der Mentalitäten damit wesentlich zum Verständnis von Geschichte als einer umfassenden Sozialgeschichte (Heide Wunder). Für diese Vielfalt unterschiedlicher theoretischer Ansätze und methodischer Reflexionen hat in letzter Zeit zunehmend der Begriff der Kulturgeschichte Verwendung gefunden, ohne freilich zugleich den Eindruck einer gewissen Unübersichtlichkeit, die diesem bewußt weitgefaßten Terminus eigen ist, gänzlich zerstreuen zu können.
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Gerhard Hirschfeld
Im Zusammenhang einer Geschichte des Militärischen und der Kriege, zumal des Zweiten Weltkriegs, kommt den individuellen und kollektiven Erfahrungen des Alltags im Kriege eine hohe Bedeutung zu. Bereits vor einigen Jahren hat der (1994 verstorbene) Historiker Peter Knoch dafür plädiert, die Alltagsgeschichtsforschung künftig auf die Zeit der beiden Weltkriege auszudehnen, wobei er allerdings einräumte, daß sich mit dem von ihm eingeführten Begriff des „Kriegsalltags" keineswegs sämtliche Erfahrungen der Menschen im Kriege abdecken lassen. Der „Alltag an der Grenze des Todes" (Knoch) ist sowohl für Soldaten an der Front wie der Zivilisten in der Heimat gemeinhin eine Erfahrung, deren Umstände in der Regel derart bedeutsam sind, daß sie sich dem Alltäglichen, zumal einem auf Wiederholung und Routine festgelegten Leben, entziehen dürften. Innerhalb entscheidender Bereiche wird der Krieg daher auch stets etwas „Nicht-Alltägliches" (Hans Joachim Schröder), eben eine Ausnahmesituation bleiben. Wenn der Terminus „Kriegsalltag" trotzdem als sinnvoll erscheint, so vor allem wegen der diesem Forschungsansatz eigenen Geschichtsbetrachtung aus einer sozialen Perspektive „von unten". Allerdings dürfte den meisten Alltagshistorikern inzwischen sehr wohl bewußt sein, daß eine Geschichte „von unten" nur in ihrer Verschränkung mit einer Geschichte „von oben" gesehen werden kann (Schröder). Gerade die Kriegserfahrungen einfacher Soldaten lassen sich ohne einen Blick auf die, diese vielfach bestimmenden und prägenden Entscheidungen und Verhaltensweisen der vorgesetzten Offiziere nicht angemessen darstellen. Wenn die Historiker heute danach fragen, „wie der .kleine Mann' das Militär und den Krieg in der Doppelrolle des Opfers und Täters erlebt und erlitten hat" (Wolfram Wette), so gilt die erfahrungsgeschichtliche Dimension sicherlich nicht nur für die Ebene der Mannschaftssoldaten und Unteroffiziere. Der sogenannte „Krieg des kleinen Mannes" war immer auch der Krieg jener politischen und militärischen Entscheidungsträger, die für diesen Krieg und seine Führung in erster Linie verantwortlich zeichneten. Diese Feststellung trifft auch für die Ebene der Wahrnehmungen, Deutungen und der von diesen determinierten Handlungsweisen zu, wenngleich der Handlungsspielraum der „einfachen Soldaten", zumal unter den Bedingungen eines mörderischen Krieges, zwangsläufig erheblich eingeschränkt war. Die nachfolgenden Abhandlungen beschäftigen sich mehrheitlich mit der Erforschung der Wahrnehmung des Militärischen und des Krieges durch jene Angehörigen der Wehrmacht, die wir gemeinhin den „einfachen Soldaten" zurechnen. Mit ihren „case-studies" und Forschungsberichten betreten die Autoren dabei insofern Neuland, als sie inhaltlich und methodisch traditionelle Deutungsmuster hinterfragen und in einigen Fällen durchaus auch die klassischen Pfade historiographischer Vorgehensweisen verlassen. Eine zentrale Voraussetzung für die zunehmende Beschäftigung der Historiker mit dem Alltag und den Mentalitäten von Soldaten und Zivilisten in der Ausnahmesituation des Krieges stellt die umfangreiche Erschließung lebensgeschichtlicher Quellen und biographischer Selbstdeutungen dar, also u. a. von Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Zeitzeugen-Interviews. Trotz anfänglicher Bedenken dürften inzwischen keine grundsätzlichen methodischen Einwände gegen die Heranziehung und den Aussagewert dieser „subjektiven Quellen" mehr bestehen. Entschei-
Einführende Bemerkungen
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dend für die Vorgehensweise des Historikers bleibt jedoch die kritische Reflexion über die Reichweite dieses Materials, insbesondere die zu treffende Unterscheidung zwischen der Beschreibung faktengestützter Ereignisse und Zusammenhänge und ihrer nachträglichen persönlichen Bewertung (Hans Joachim Schröder). Dies gilt sowohl für kurzzeit- (Briefe, Tagebücher) als auch für langzeitorientierte (Autobiographien, Interviews) Quellenzeugnisse, wobei erstere zweifellos den Vorteil einer größeren Authentizität aufweisen. In seinem Beitrag „Wehrmachtsoldaten zwischen Normalität und NS-Ideologie, oder: Was sucht die Forschung in der Feldpost?" fordert Klaus Latzel explizit dazu auf, die ursprünglich gebotene Diskretion gegenüber den Feldpostbriefen der Kriegsteilnehmer aufzugeben und diese als historische Zeugnisse der „Innenansichten" von Wehrmachtangehörigen und deutscher Gesellschaft systematisch heranzuziehen. Ihr „Massencharakter und ihre Nähe zum Geschehen" lassen diese sehr privaten Dokumente als Kommunikations- und Auskunftsmittel „weitgehend konkurrenzlos" (Latzel) erscheinen. An einem konkreten Beispiel, der Dialektik von vermeintlich unpolitischen, tradierten bürgerlichen Hygiene- und Reinlichkeitsvorstellungen einerseits und der nationalsozialistischen Rassenideologie andererseits, gelingt es Latzel, den Nachweis zu führen, daß die in den Feldpostbriefen häufig angeführte konventionelle Entsprechung von „deutsch" und „sauber" unter den Bedingungen der deutschen Kriegführung im Osten zugleich das Einfallstor für rassistische Feindbilder darstellen konnte. Das ausgewählte Beispiel weist darüber hinaus, ohne daß der Autor dies thematisiert, auf das Fortbestehen entsprechender Deutungsmuster in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hin. Mit der Ambivalenz der Kameradschaftserfahrung, einem zentralen Leitbild militärischen Sozialverhaltens, der Wahrnehmung der „Kriegsgeneration" beschäftigt sich Thomas Kühne in seinem Aufsatz „Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht". Im Gegensatz zu Omar Bartov, für den sich der Zerfall der militärischen Primärgruppen an der Ostfront als eine wesentliche Ursache für die von ihm konstatierte „Barbarisierung" der Wehrmacht darstellt, sieht Kühne eine direkte Verbindung zwischen dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Soldaten und dem sich vollziehenden Brutalisierungsprozeß im Kriege. Zeitnahe persönliche Zeugnisse wie Tagebücher und Feldpostbriefe legen für ihn sogar die Vermutung nahe, daß sich beides beeinflußt und möglicherweise sogar verstärkt hat. Mit der propagandistischen Entfaltung des traditionellen Kameradschaftsmythos stellte die nationalsozialistische Ideologie gleichsam einen „Setzkasten" bereit, aus dem sich fanatische Anhänger Hitlers ebenso bedienen konnten wie jene Soldaten, die ihrer Teilnahme an der kriegerischen Auseinandersetzung einen anderen, unpolitischen Sinn zu verleihen suchten. Häufig genug allerdings ließen sich die dem Kameradschaftsmythos eigenen Ideale von „egalitärer Brüderlichkeit, selbstloser Hilfsbereitschaft und zärtlicher Geborgenheit" (Kühne), angesichts der von zahlreichen Soldaten mitzuverantwortenden barbarischen Grausamkeiten „auch gegen Frauen und Kinder", lediglich kompensatorisch realisieren. Indem die Werte der Kameradschaft und Ritterlichkeit schließlich nahezu ausnahmslos auf die Angehörigen der eigenen Volksgemeinschaft und der deutschen „Herrenrasse" bezogen wurden („der Russe ist kein Kamerad!"), wirkten sie als zusätzliche Aggregate für die sich steigernde Brutalisierung des Krieges.
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Gerhard Hirschfeld
Die Beiträge von Kühne wie von Latzel unterstreichen einmal mehr die große Bedeutung personenbezogener Dokumente für die Aufhellung der soldatischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, wobei sie allerdings aber auch deren quellenspezifische Grenzen markieren, etwa wenn es um die Annahme einer stringenten Umsetzung dieser radikalen Deutungen geht. Ob oder in welchem Ausmaß die nationalsozialistische Weltanschauung oder einzelne ihrer Elemente für die Soldaten der Wehrmacht handlungsleitend wurden, ist letztlich allein auf der Basis der privaten Kommunikation nicht zu entscheiden. Hierzu bedarf es der Klärung weiterer Umstände, wie etwa die der situativen und operativen Bedingungen im Einsatzgebiet. Eine weitere Möglichkeit der Erkundung soldatischer „Deutungs- und Handlungsdispositionen" (Anne Lipp) besteht in der Erforschung und kritischen Darstellung der unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs möglichen Verweigerungsformen in der Wehrmacht. Was waren die Motive und Umstände, die vermutlich weit über 100000 deutsche Soldaten dazu veranlaßten, ihre Einheiten zu verlassen, unterzutauchen oder sich, beispielsweise durch Selbstverstümmelung, sonstwie einem militärischen Einsatz zu entziehen? Gesicherten Erkenntnissen zufolge betrug allein die Zahl der von der Wehrmachtjustiz rechtskräftig verurteilten Deserteure mehr als 35000. In seiner Studie „Fluchten aus dem Konsens zum Durchhalten. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung soldatischer Verweigerungsformen in der Wehrmacht 1939-1945" hinterfragt Benjamin Ziemann - in durchaus revisionistischer Absicht - einen, seiner Ansicht nach, „normativ verengten Widerstandsbegriff" als ausschließlichen oder dominierenden Erklärungsansatz für die Desertion. Er plädiert statt dessen für eine breitere, sozialgeschichtlich orientierte Sicht der unterschiedlichen Verweigerungsformen in der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, die vor allem auch das Phänomen der selbst zugefügten Verletzungen einbeziehen müsse. Ausgehend von der Erkenntnis, daß es sich angesichts der, insgesamt betrachtet, relativ geringen Zahl von Verweigerern keineswegs - auch nicht in den letzten Monaten des Krieges - um ein massenhaftes Phänomen (etwa in der Größenordnung am Ende des Ersten Weltkriegs) gehandelt habe, gelte es somit den Status des „Außenseiters" unter den Deserteuren ernster zu nehmen. Der hohe Anteil von „Volksdeutschen" und Angehörigen zwangsrekrutierter Nationalitäten unter den „Fahnenflüchtigen" spreche für die Annahme, daß häufig die individuelle Isolation bzw. die mangelnde Integration der Betroffenen ausschlaggebend für ihre Absetzung von der Truppe gewesen seien. Zur Begründung hoher Strafen bemühten sich die NS-Militärrichter vielfach, „den Außenseiterstatus der Verweigerer" durch die Fiktion einer „asozialen" Vorgeschichte bzw. Täterbiographie zu konstruieren, anstatt die jeweiligen Umstände der Einfügung bzw. Nicht-Einfügung in die militärische Gemeinschaft zu betrachten. Angesichts eines bis in die letzten Kriegstage vorherrschenden erstaunlichen Grades an Kohäsion stellt sich jedoch die Frage nach den primären Mechanismen dieses sozialen Zusammenhaltes in Extremsituationen: ob die Erfahrung der Kameradschaft (im Sinne der Darlegungen von Thomas Kühne) oder möglicherweise auch die Einbindung in eine kollektiv empfundene Täterund Opfergemeinschaft ursächlich waren, steht als Ergebnis weiterführender
Einführende Bemerkungen
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Forschungen, beispielsweise auf der militärischen Ebene der Divisionen, abzuwarten. In welchem Maße nationale Deutungsmuster und ideologische Vorgaben die politische Integration von Teilen der deutschen Bevölkerung, einschließlich der Soldaten, im Sinne des NS-Regimes beeinflußten, untersucht Rene Schilling in seinem Beitrag „Die ,Helden der Wehrmacht' - Konstruktion und Rezeption". Dabei stellt sich heraus, daß die von der nationalsozialistischen Propaganda angestrebte „geistige Mobilmachung" durchaus erfolgreich war, zumal sie auf bereits kanonisierte U-Boot- und Flieger-Helden des Ersten Weltkriegs zurückgreifen oder sich erprobter Geschichtsmythen, u.a. aus der Zeit der deutschen „Befreiungskriege", bedienen konnte. Entscheidend für den anfänglichen Erfolg des Heldenkults in der sozialen Praxis erwies sich dabei die gesellschaftspolitische Entsprechung der im Heldenbild vermittelten und propagierten militärischen Eigenschaften und Tugenden: die Opferbereitschaft, die Kameradschaft und das charismatische Führertum. Allerdings büßten die „identitätsbildenden Deutungsangebote des Heldenkults" (Schilling) mit zunehmender Dauer des Krieges stark an Wirkung ein, da die eigene Erfahrung des modernen und bislang kaum vorstellbaren, grausamen Krieges sich mit den Mythen eines traditionellen Heroismus kaum mehr in Einklang bringen ließ. Ein irritierendes, da zumindest ambivalentes Element bei der Ausformung des Heldenkults verkörperten die Frauen in der Funktion der Mütter, Ehefrauen und Geliebten. Ihre Bedeutung hat die nationalsozialistische Propaganda immer dann marginalisiert, wenn das heroische Männerbild durch das andere Geschlecht entscheidend relativiert oder gar in Frage gestellt wurde. Für eine breite Diskussion über die bislang weithin unterschlagene Rolle der Frau im Kontext der traditionellen historiographischen Betrachtung der Wehrmacht wirbt der Forschungsbericht von Birthe Kundrus mit dem bezeichnenden Titel: „Nur die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945". Angesichts einer Öffnung der Militärgeschichtsschreibung für unterschiedliche Herangehensweisen, wie sie auch der vorliegende Band unternimmt, stellt die Verbindung von Geschlechtergeschichte und Militärgeschichte inzwischen kein unüberwindliches Hindernis mehr dar. Neben dem „weiblichen Wehrmachtgefolge" - die Zahl der sogenannten „Helferinnen" bei allen drei Wehrmachtsteilen betrug Anfang 1945 ca. eine halbe Million - hat sich die historische Forschung bislang vor allem mit folgenden Gruppen von Frauen beschäftigt: Frauen, die Deserteure unterstützten oder aber auch diese denunzierten; Frauen, die in Tagebüchern oder Feldpostbriefen ihre Meinung zu Krieg und Militär kundtaten; Frauen als Versorger der Familien und als moralischer Beistand ihrer kämpfenden Männer. Dabei wird deutlich, daß insbesondere mentalitätsgeschichtliche Betrachtungsweisen, wie sie in zahlreichen Untersuchungen zur Kommunikation zwischen Heimat und Front in letzter Zeit angewandt wurden, grundlegende Aussagen zu Erlebnis- und Erfahrungsebene der Frauen möglich werden lassen. Die Jahre zwischen 1939 und 1945 waren für die meisten „Soldatenfrauen" eine „höchst ambivalente Zeit" (Kundrus). Trotz sich bietender Freiräume infolge der ständigen Abwesenheit des männlichen Partners erfüllten die Frauen überwiegend den ihnen von Seiten des Staates und der Gesellschaft zugedachten Part. Allein die Ambivalenz der in
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dieser Zeit gemachten Erfahrungszusammenhänge verbietet es im übrigen, den Zweiten Weltkrieg (wie implizit auch den Ersten) undifferenziert mit Kategorien wie „Emanzipation" oder „Modernisierung" zu versehen. Ergänzend sei auf die Darstellung der Rolle der Frau als Mitwisserin und Täterin verwiesen, wie sie jüngst etwa in Studien zu Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft" dokumentiert wurde. Ein ausgesprochenes Desiderat der Forschung zur Geschlechtergeschichte im Krieg stellen vergleichende Untersuchungen über Frauen als Opfer der nationalsozialistischen Besatzungs- und Rassepolitik dar, an der auch die Wehrmacht ihren Anteil hatte: Frauen als Kriegsgefangene, in den Partisanenbewegungen sowie in Soldatenbordellen. Auch die in einigen nationalen Abhandlungen inzwischen thematisierten, häufig jahrelang tabuisierten Beziehungen zwischen Wehrmachtsoldaten und Frauen in den besetzten Ländern sollten in komparativer Absicht analysiert werden, um sowohl Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verhalten zwischen den Geschlechtern in den jeweiligen Kontexten feststellen als auch die langfristigen Folgen für die Betroffenen bis weit in die Nachkriegszeit ermitteln zu können. Hierbei gilt es, darauf macht Birthe Kundrus abschließend aufmerksam, die spezifischen Ansätze der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit jenen der Politik-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu verschränken. Eine grundsätzliche Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte haben Untersuchungen zu Perzeptionsfragen, insbesondere zur kollektiven Wahrnehmung und Verarbeitung von historischen Ereignissen und deren Folgen. Besonders aufschlußreich sind derartige Wahrnehmungen im Zusammenhang radikaler Herausforderungen und des Infragestellens der eigenen Position. Ein solches Beispiel bietet im vorliegenden Band der Beitrag von Paul Heider: „Reaktionen in der Wehrmacht auf Gründung und Tätigkeit des Nationalkomitees ,Freies Deutschland' und des Bundes Deutscher Offiziere". Allerdings beschränkt sich der Autor weitgehend auf die politische Resonanz, wenngleich seine Befunde über die Gegenpropaganda der Wehrmacht auf den Schritt der kriegsgefangenen und übergelaufenen deutschen Offiziere weitreichende Schlüsse über die ideologische Disposition und die bemerkenswerte Kohärenz innerhalb des Militärs angesichts eines zunehmend aussichtsloser werdenden Krieges erlauben. Es scheint, als ob die Übertragung des von der politischen und militärischen Führung propagierten antisemitisch-rassischen Feindbildes auch auf die Angehörigen der sich im sowjetischen Einflußbereich formierenden deutschen Widerstandsorganisationen insgesamt erfolgreich war. Weitere Aufschlüsse und Erkenntnisse über die Reichweite und den Grad der Indoktrination in diesem Fall ließen sich beispielsweise durch eine kritische Betrachtung der überlieferten Feldpost von nachgeordneten Diensträngen zutage fördern. Die Sektion „Kriegsalltag und Mentalitäten" runden zwei interessante und informative Beiträge ab, die sich mit der Wehrmacht als Gegenstand der zeitgenössischen Malerei und der Literatur im Dritten Reich beschäftigen. Dabei lassen sich sowohl in den Aufsätzen von Wolfgang Schmidt: „.Maler an der Front.' Zur Rolle der Kriegsmaler und Pressezeichner der Wehrmacht", als auch von Heidrun Ehrke-Rotermund: „Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des Dritten Reiches", Perspektiven der individuellen wie kollektiven
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Wahrnehmung und Selbstdarstellung erkennen, die zugleich Rückschlüsse auf die von den Künstlern und Schriftstellern verlangte (und von diesen im allgemeinen bereitwillig oder sogar freudig produzierte) bildliche bzw. literarische Rezeption und Realisierung ermöglichen. Aufschlußreich ist auch der Blick auf Schriftsteller der sogenannten „Inneren Emigration", unter ihnen Gottfried Benn, Ernst Jünger, Jochen Klepper und Georg von der Vring, die sich als Offiziere und Soldaten in der Wehrmacht bemühten, „kritische Gegenwürfe" (Ehrke-Rotermund) zur nationalsozialistischen Kriegsliteratur zu verfassen. Allerdings, so läßt sich einwenden, erschwerten sowohl die restriktiven Bedingungen der literarischen Produktion in Diktatur und Krieg als auch die formale Nähe einiger Schriftsteller zu Themen und Motiven (Kameradschaft, Heldentod, Technik und Führer) einer kriegsverherrlichenden NS-Literatur eine konsequente und literarisch befriedigende inhaltliche Auseinandersetzung mit den „Dichtersoldaten" des Regimes. Die in den Band aufgenommenen zahlreichen Bildreproduktionen zum Genre der Kriegsmalerei und die angeführten Beispiele für nationalsozialistische „Kriegsliteratur" illustrieren auf zugleich befremdende Weise die propagandistischen Möglichkeiten wie vor allem die ästhetischen Grenzen einer ideologisch dominierten Gebrauchskunst. Als Visualisierungen der Zeitgeschichte und als Dokumente zu einer mentalitätsgeschichtlich orientierten Betrachtung der Wehrmacht (wobei allerdings in beiden Aufsätzen eine eher traditionelle Annäherung an ihren jeweiligen Gegenstand vorherrscht) besitzen diese Bilder zweifellos ihren eigenen Reiz.
Thomas Kühne Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht
Wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 schrieb ein Unteroffizier der Wehrmacht seinen südbadischen Angehörigen von den verlustreichen Rückzugskämpfen im Osten. Er verschwieg nicht, daß „die augenblickliche Lage nicht besonders rosig zu nennen ist" und daß der „Ansturm aus dem Osten ... auch in meiner Komp[anie] tief einschneidende Veränderungen mit sich gebracht" habe - „so mancher Kamerad ist nicht mehr". Aber dem Kampfgeist taten die schweren Verluste keinen Abbruch. Mit Begeisterung berichtete der Soldat, wie seine Einheit mit 150 Mann „über 1000 Russen in die Flucht geschlagen" habe, und rühmte die Stimmung der Truppe: „Aber hier verstehen wir uns alle prächtig. Besonders meine kleine Einheit, mein Komp[anie]trupp, den ich selbst führe, ist ein Herz und eine Seele. Als ich neulich bei einem Angriff von meiner Kompanie versprengt wurde und dann einige Angehörige meiner Einheit zus[ammen]faßte, um als eigene Einheit zu kämpfen, da war die Freude nachts groß, als wir wieder in einer brennenden Ortschaft uns die Hände reichten und begrüßten. Die Kompanie war wieder beisammen. Der Geist in unserer Gruppe ist noch nie besser gewesen als zur Zeit. Zusammenbleiben können und gemeinsam kämpfen oder gemeinsam verwundet werden, ist unser Wunsch" 1 . Gewiß war dieser Unteroffizier nicht repräsentativ für die deutsche Wehrmacht und die Millionen von deutschen Soldaten, die bis zur Kapitulation „bei der Fahne" blieben. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß ein großer Teil der Soldaten seit 1943 oder spätestens 1944 nur noch das Ende des Krieges herbeisehnte und vor allem durch das militärische Repressionssystem daran gehindert wurde, wie ihre Vorgänger am Ende des Ersten Weltkrieges offen oder „verdeckt" zu meutern oder sich einfach auf und davon zu machen. Aber nicht dies, nicht die wachsenden Zweifel unter den Soldaten am „Endsieg" und am Sinn des Krieges überhaupt sind überraschend und erklärungsbedürftig, sondern die Tatsache, daß die gegenteiligen Einstellungen und Verhaltensweisen dominierten, daß die Wehrmacht also fast bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 intakt blieb und kaum von nennenswerten Auflösungserscheinungen ergriffen wurde. 1
Brief K.K.'s, 19. 2. 1945, an seine Eltern, Privatbesitz. Der vorliegende Text steht im Zusammenhang eines von der Volkswagen-Stiftung und der Universität Konstanz finanziell geförderten Untersuchungsvorhabens und führt frühere Überlegungen fort. Siehe Kühne, Kameradschaft; ders., Krieg. Für eine wesentlich - sowohl um theoretische Überlegungen zur kultur- und geschlechtergeschichtlichen Einordnung sowie insbesondere auch um Quellenbeispiele bzw. -belege - erweiterte Fassung der folgenden Ausführungen siehe Kühne, Zwischen Männerbund und Volksgemeinschaft. Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf das Allernötigste.
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Die Forschung hat sich diesem Phänomen bisher vor allem von sozialpsychologischen, institutions- und ideologiegeschichtlichen Ansätzen her angenähert. Die frühe amerikanische Militärsoziologie führte aufgrund von Befragungen deutscher Kriegsgefangener die überraschend starke, bis zuletzt anhaltende Kampfmotivation der deutschen Soldaten nicht - entsprechend der öffentlichen Meinung in den U S A - auf die Verinnerlichung der Rassenideologie zurück, sondern vor allem auf die besondere Festigkeit militärischer Primärgruppen. Die Soldaten hatten, so Edward Shils und Morris Janowitz 1948, nicht gegen die „Untermenschen", sondern für ihre vertrauten Kameraden gekämpft 2 . Dieser Befund war lange Zeit unangefochten, und er entsprach der kollektiven Kriegserinnerung in Westdeutschland. Zumal den Wehrmachtveteranen galt die Kameradschaftserfahrung und damit die Erfahrung von Altruismus, emotionaler Geborgenheit und reibungsloser Zusammenarbeit als die eigentliche des Krieges. Diese Kriegserinnerung gestattete es ihnen, ihre Verwicklung in seine verbrecherischen Ziele und Praktiken auszublenden oder zu marginalisieren. Sie ermöglichte es, den erlebten Krieg auch unter den - veränderten gesellschaftlichen und politischen - Bedingungen Deutschlands nach 1945 durch den Bezug auf christliche und humanitäre Traditionen zu legitimieren, und bot so die kulturelle Basis für die Identität der „Kriegsgeneration". Eine ernsthafte Gegenposition gegen Shils und Janowitz präsentierte erst Omer Bartov seit Mitte der achtziger Jahre. Bartov bestreitet die Bedeutung des Primärgruppenzusammenhalts angesichts der immensen Personalfluktuation an der Ostfront grundsätzlich und macht statt dessen die rassenideologische Fanatisierung, die primitiven Lebensumstände an der Ostfront und vor allem den militärischen Repressionsapparat für die Kampfkraft und die „Barbarisierung" der Wehrmacht verantwortlich. Bartovs These vom Zerfall der Primärgruppen ist freilich indirekt aus den personellen Umschichtungen erschlossen, nicht aber durch subjektive Quellen abgesichert 3 . Andererseits beruhen die Ergebnisse von Shils und Janowitz ebenfalls auf einseitigem Material (Befragungssituation von Kriegsgefangenen!). Neuerdings hat Stephen Fritz in einer (allerdings auf weite Strecken einem naiven alltagsgeschichtlichen Ansatz verhafteten) Studie zurecht darauf hingewiesen, daß die Kampfmotivation der Soldaten nicht nur auf negative Faktoren wie das Feindbild oder das militärische Zwangssystem zurückgeführt werden könne; er betont statt dessen die Attraktivität der Volksgemeinschaftsideologie für die Soldaten. Freilich stützt er sich dabei überwiegend auf unkritisch ausgewertete Erinnerungsdokumente 4 . Der derzeitige Forschungsstand leidet zum einen an der Favorisierung monokausaler Interpretationsmodelle und zum anderen daran, daß kultur- und geschlechtergeschichtliche Gesichtspunkte noch kaum berücksichtigt werden (anders als etwa in der Forschung zum Ersten Weltkrieg). Es ist überhaupt nicht begreiflich, weshalb sich Primärgruppenbindungen einerseits und Brutalisierungsprozesse unter den Soldaten andererseits als Faktoren der militärischen
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Shils/Janowitz, Cohesion. Bartov, A r m y ; ders., Front; ders., Brutalität. Fritz, Frontsoldaten; zum Ansatz siehe S. VII: „ M y purpose is to allow average German soldiers to speak [...]; to hear their words and to see the war through their eyes".
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Kampfkraft gegenseitig ausschließen sollen. Zeitnahe persönliche Zeugnisse legen eher die Vermutung nahe, daß sich beides gegenseitig verstärkt hat. Daran, daß die antisemitische und antibolschewistische Propaganda in den Köpfen der Soldaten feste Wurzeln geschlagen hatte, kann kein Zweifel bestehen. Die extrem schlechten Lebensverhältnisse in der Sowjetunion bewerteten die Soldaten als Bestätigung der Herrenmenschenideologie. Und spätestesten bei den Rückzügen ab 1942 griff die Propagandalüge vom Abwehrkrieg gegen die „asiatischen Bestien" bzw. die „jüdisch-bolschewistische Verschwörung", den die Wehrmacht im Osten angeblich führte. Der eingangs zitierte Unteroffizier kämpfte nicht zuletzt in dem Bewußtsein, daß „den verdammten Roten ein Halt entgegensetzt werden" müsse 5 . Andererseits machen gerade zeitnahe persönliche Zeugnisse wie Feldpostbriefe und Kriegstagebücher auch einfacher Soldaten immer wieder deutlich, daß Kameradschaft als Leitbild der sozialen Praxis in der Wehrmacht eine zentrale Rolle spielte und daß es so etwas wie militärische Primärgruppenbindungen bis zum Schluß des Krieges gegeben hat. Freilich findet sich vermutlich für jeden Beleg, der diese These stützt, auch ein Gegenbeleg. Diese Verwirrung stellt sich nicht nur ein, wenn man Zeugnisse verschiedener Soldaten betrachtet, sondern auch, wenn man die im Tagebuch oder in Kriegsbriefen festgehaltenen Eindrücke eines einzelnen Soldaten über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgen kann. Franz Wieschenberg etwa, der an der Ostfront von 1941 bis zu seinem Tod in Frühjahr 1945 als Mannschaftssoldat fast durchweg in derselben Truppe diente, konnte zunächst in der Rekrutenzeit und dann im Ersatzheer von Anfang 1940 bis Mitte 1941 - der militärischen Gruppenkultur wenig positive Züge abgewinnen. „Die ganze Kameradschaft bringt nichts ein", befand er im Oktober 1940 in einem Brief an seine Frau, der er fast täglich schrieb. Seine Kameraden empfand er als „Sauhaufen" und als „Pack", unter dem nur der Egoismus regierte und das nur durch Zoten und Prahlereien mit Frauenabenteuern zusammengehalten wurde, die er als gestandener Familienvater verabscheute. Aber an der Front holte ihn die Kameradschaft doch ein. Anfang September 1941 schrieb er, die Sorge um die Kameraden fülle ihn nun - an der Front - immer mehr aus, und apodiktisch stellte er fest: „Bei echter Kameradschaft kann es nicht anders sein." Bei dieser Haltung blieb es im großen und ganzen, bis er fiel, immer wieder aber notierte Wieschenberg in den Briefen an seinen Frau auch ambivalente Kameradschaftserfahrungen 6 . Diese Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten werden verständlicher, wenn man sie auf die mythische Verfassung der symbolischen Ordnung moderner Kriege und ganz besonders des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges bezieht und diese diskursive Ebene mit der sozialen Praxis der Wehrmacht kontrastiert. Opferbereitschaft, Heroismus, Männlichkeit, Kameradschaft - diese und ähnliche Leitbilder des modernen Militärs waren als überzeitliche, „ewige" Werte, als Mythen konstruiert. Ihre Attraktivität zehrte vom autoritativen Verweis auf das „Schon immer" - „Schon immer war es so, immer wird es so blei-
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Brief K.K.'s, 2. 2. 1945, Privatbesitz. Kempowski-Archiv, Nartum, Nr. 3386, f ü r die Zitate siehe die Briefe vorn 20. 10. 1940, 18. 12. 1940 u. 6. 9. 1941.
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ben". Mythen erzählen Geschichten, die sich der Argumentation und Diskussion entziehen, ihren Wahrheitsanspruch statt dessen durch die Präsentation einer als heilig begriffenen ursprünglichen Vergangenheit bekunden. Mythen haben eine gegenwartsbezogene Funktion, sie dienen der Kontingenzbewältigung und der kollektiven Identitätssicherung, indem sie die erzählte Geschichte als Natur, göttliche Fügung oder einfach als schicksalhaft und damit als Vorbild für die Gegenwart ausgeben. Von mythischer Qualität war auch das Kameradschaftsverständnis, mit dem Wieschenberg sein persönliches Soldatentum wie den Krieg überhaupt mit Sinn füllte. Er entnahm es dem üppigen diskursiven Repertoire, das die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und dann die NS-Propaganda zur Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges bereitgestellt hatten. Kameradschaft spielte dabei eine zentrale Rolle. Die Schützengrabengemeinschaft des Ersten Weltkrieges galt in der Erinnerung als warme Nische in der Kälte des technisierten Massenvernichtungskrieges, als Inbegriff der Geborgenheit einer Gemeinschaft gleichrangiger Männer, deren zivilgesellschaftliche, klassen- und bildungsmäßige Unterschiede keine Rolle spielten. Entscheidend dabei ist aber, daß diese Erinnerung nicht nur bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichte, sondern in ein sakrales und überzeitliches Koordinatensystem eingebettet war. Die Schützengrabengemeinschaft erschien als Aktualisierung einer „ewigen" Soldatentugend. Ihren sinnfälligsten Ausdruck hatte diese in dem Uhland-Lied vom „guten Kameraden" gefunden. Dieses Lied gehörte zum unverzichtbaren Bestandteil der zahllosen militärischen Rituale, die die politische Kultur Deutschlands seit dem Kaiserreich prägten. Paul Fussel hat darauf hingewiesen, wie sehr die Deutungsmuster auch einfacher Soldaten im Zweiten Weltkrieg durch den Ersten und die Erinnerung an diesen geprägt waren 7 . Anders gewendet lautet diese These: Die Soldaten suchten im Zweiten Weltkrieg das Erlebnis dessen, was in der Zwischenkriegszeit in Erinnerung an den früheren Krieg diskursiv entfaltet und mythisch verklärt worden war - in der Kriegsliteratur, in den Ritualen des Gefallenenkults, bei zahllosen Veteranentreffen (die in der Zwischenkriegszeit Massenveranstaltungen waren) und ebenso bei den alltäglichen Stammtisch- und Familienrunden. Dabei wurde mitunter der Grundstein für manche prominente Soldatenkarriere gelegt. „Soldat zu werden", das war für den Wehrmachtoffizier und späteren Bundeswehrgeneral Günther Kießling „sehnlichster Wunsch seit frühester Kindheit. Sicher war dafür auch das Vorbild des Vaters bestimmend, der 1926 nach zwölfjähriger Dienstzeit als Feldwebel ausgeschieden war. Ich selbst habe ihn als Soldat nie erlebt, aber seine Erzählungen haben mich beeindruckt... Bei dem, was er mir auf diese Weise aus seinem Soldatenleben vermittelte, stand nicht .Krieg und Kriegsgeschrei' im Vordergrund, sondern das Erleben der Gemeinschaft, der Kameradschaft, der militärischen Führung auf dieser unteren Ebene, der Kompanie. Das war es, was ich ersehnte" 8 . 7
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Fussel, The Great War. Siehe allgemeiner jetzt die konzisen Reflexionen bei Latzel, Kriegserlebnis, besonders S. 1 3 - 1 7 . Kießling, Widerspruch, S. 4.
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Der Kameradschaftsmythos ist ein besonders sinnfälliges Beispiel für die diskursive Vorprägung und Begrenzung der Kriegserfahrung. Er konstruierte eine als ursprünglich und sakral verstandene Totalität männlicher „Communitas", die alle Brüche, Aporien und Grenzen menschlichen (i.e. männlichen) Daseins zu transzendieren vorgab und ein Gegenmodell, eine „Anti-Struktur" gegen die „Welt" - insbesondere die Zivilgesellschaft - entwarf 9 . Mit der rituellen Aktualisierung dieses Mythos wähnten die Soldaten, an einem höheren, „sinnvolleren", nur im Krieg möglichen Seinszustand teilzuhaben. Und sie half ihnen auch, jene Brutalität, Demütigung und Isolation zu ertragen, die ihre psychosoziale Situation im Krieg alltäglich prägte. Ich beschreibe zuerst drei Dimensionen der rituellen Aktualisierung des Kameradschaftsmythos als „Anti-Struktur", zeige dann, inwiefern diese die ubiquitäre Gewalt im Krieg sowohl überwand als auch möglich machte, und gehe schließlich auf die Veränderungen des Kameradschaftsmythos durch den nationalsozialistischen Vernichtungskampf und die Totalisierung des Krieges ein. Kameradschaft als symbolische Antistruktur hatte für die Wehrmachtsoldaten drei miteinander verflochtene Dimensionen. Ihre negativen Bezugspunkte waren das militärische Herrschaftssystem, die materiellen Entbehrungen und körperlichen Risiken, und die emotionale Depravierung und Isolation. Der Kameradschaftsmythos lebte von seinem egalitären Impetus. In der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war es der gegen die Offiziere der verachteten „Etappe" gerichtete Zusammenhalt der Frontsoldaten, der diese Egalität vermittelt hatte 10 . In der Rekrutenzeit der Wehrmachtsoldaten, aber auch noch danach mochte sich der Zusammenhalt „unten" gegen schikanöse Ausbilder und Vorgesetzte richten. Kameradschaft war insofern Ausdruck einer Leidensgemeinschaft der Ohnmächtigen, die sich gegen ein vielfältig bestimmbares politisches „oben" - oft ganz allgemein das Militär als Unterdrückungsinstitution solidarisierten. Meist äußerte sich diese Seite der Kameradschaft in Form kleiner „Verschwörungen", die darin bestehen konnten, verbal Luft abzulassen, den Schinder einmal auflaufen zu lassen, oder aber darin, Kameraden zu decken, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen - mitunter auch solche, die im Verdacht der Fahnenflucht standen 11 . Die kameradschaftliche Deckung von Verfehlungen bildete den sozialen Untergrund der „verschworenen Gemeinschaft". Der egalitäre Impetus des Kameradschaftsmythos Schloß die Vorgesetzten keineswegs zwangsläufig aus. Der Schulterschluß konnte durchaus rangübergreifend wirksam werden. Als Kamerad galt ein Vorgesetzter insbesondere dann, wenn er seine Untergebenen deckte oder sich durch Habitus und „kameradschaftliche" Umgangsformen symbolisch auf eine Stufe mit ihnen stellte 12 .
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D i e Begriffe der Anti-Struktur und der Communitas verwende ich im Sinne V i c t o r Turners, der in seinen Studien zum Ubergangsritual auf deren Bedeutung als „Gegenwelt" hingewiesen hat; siehe insbesondere Turner, Ritual. Siehe Beitrag K r o e n e r in diesem Band. Siehe z . B . Wellershoff, Ernstfall, S. 188. Belege ζ. B . bei Schröder, Jahre, besonders S. 3 2 7 - 3 6 0 .
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Der kameradschaftliche Schulterschluß, die gegenseitige Deckung von Verfehlungen war eng mit einer Art Lastenausgleich verbunden. Eingeübt wurde er schon in der Rekrutenzeit, wenn „schwächere" Kameraden von „stärkeren" mitgezogen wurden. Diese Umsetzung des Leitbildes gegenseitiger Hilfsbereitschaft macht die moralische Dimension des Kameradschaftsmythos aus. Im Krieg konnte dieses Leitbild in vielfältiger Weise zelebriert werden. Die selbstlose Bergung des verwundeten Kameraden vom Schlachtfeld galt als Krönung der Kameradschaft. Ihre christlichen Traditionen sind unverkennbar. Symbolisch aufgeladen war auch das - mit dem ebenfalls christlichen Nimbus der fürsorglichen Gerechtigkeit versehene - Ritual des Teilens. Geteilt werden konnte alles mögliche - vom Kuchenpaket aus der Heimat bis hin zur „letzten" Zigarette oder dem „letzten" Stück Brot 13 . In mannigfachen Formen inszenierte sich die Truppe als Familie - mit dem Kommandeur als „Papa" und dem Spieß als „Mutter der Kompanie" 14 . Die idyllische Ausgestaltung des Bunkers als kleinbürgerliches Wohnzimmer gehörten dazu ebenso wie die Melancholie, in der das Weihnachtsfest an der Front zelebriert wurde: „Das Fest hier bei den Kameraden ist so, wie man es nie wieder erleben wird. Hier ist keiner allein oder vergessen, und die vielen Beweise der Liebe von Menschen, die man gern hat, verbunden mit der Treue, der man hier bei jedem begegnet, lassen einem diesen Tag als eines der vielen unverdienten Geschenke erscheinen, die das Leben bereitet" 15 . Die weiblichen Konnotationen der Inszenierung der Kameradengemeinschaft als Familie und als dem Garanten emotionaler Geborgenheit verweisen auf den Kern des Kameradschaftsmythos, den die Wehrmachtsoldaten rituell aktualisierten: den Austausch von Gesten der Zärtlichkeit im Kreis der „gestandenen" Männer. Kameradschaft als das „Beste im Leben des Mannes" wurde „wirklich", wenn der auf dem Schlachtfeld tödlich Verwundete nicht allein blieb, sondern ein Kamerad ihm „sanft über das Haar" strich, „wie es die Mutter zu tun pflegte", denn „dann konnte er beruhigt sterben". Dieses Zitat stammt aus einer Gefallenen-Gedenkrede der fünfziger Jahre 16 , aber solche Akte waren nicht nur ein Konstrukt der Erinnerung. Sie realisierten sogar das, was im Urtext des Kameradschaftsmythos, dem Lied vom „guten Kameraden", nicht mehr möglich war: „Er liegt zu meinen Füßen/als wär's ein Stück von mir./Will mir die Hand noch reichen,/.. ./kann mir die Hand nicht geben,/..." Indem die männliche Kameradengemeinschaft solche Rituale „mütterlicher" Zärtlichkeit beging, deutete sie eine imaginäre Auflösung des Geschlechtergegensatzes an, von der reale Frauen ausgeschlossen blieben. Diese Imagination verband den Kameradschaftsmythos mit den männerbündischen Phantasien, die nicht nur in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Blü-
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Siehe ebd., S. 352 und Fritz, Frontsoldaten, S. 168-170. Belege u.a. ebd., S. 164f. Zit. aus dem Brief eines „Reserveoffiziers und begeisterten Soldaten", Weihnachten 1942, in: Hartl (Hrsg.), Ursula von Kardorff, S. 376. Siehe Kühne, Kameradschaft, S. 525.
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tezeit erlebt hatten. Thomas Mann etwa schwärmte 1922 unter dem Eindruck der Lyrik Walt Whitmanns - aber mit explizitem Bezug auf die „Bluts- und Todeskameradschaft" im Krieg - von „dem besonderen Gefühlsbezirk", von jener „Zone der Erotik, in der das allgültig geglaubte Gesetz der Geschlechterpolarität sich als ausgeschaltet, als hinfällig erweist und in der wir Gleiches mit Gleichem, reifere Männlichkeit mit aufschauender Jugend, in der sie einen Traum ihrer selbst vergöttern mag, oder junge Männlichkeit mit ihrem Ebenbilde zu leidenschaftlicher Gemeinschaft verbunden sehen" 17 . Der Kameradschaftsmythos basierte nicht einfach auf der Kultivierung harter Männlichkeit, sondern ebenso auf dem Sich-Einlassen auf das Weibliche im Mann, genauer: auf männlichen Klischees von Weiblichkeit und Mütterlichkeit. Die Faszination des Kameradschaftsmythos beruhte aber nicht nur auf dieser imaginären Überwindung des Geschlechtergegensatzes, sondern darauf, daß er auch sämtliche anderen Begrenzungen, Brüche und Gegensätze menschlichen (i.e. männlichen) Daseins zu transzendieren vorgab, nämlich - zivilgesellschaftliche und weltanschauliche Trennlinien (Klassen, Regionen, Konfessionen, Parteien), die im Militär gelegentlich durch offene Diskussionen, vor allem aber durch Tabuisierungen im Sinne des Topos vom „unpolitischen Soldatentum" neutralisiert wurden, - den Gegensatz zwischen Freund und Feind im Ideal der Ritterlichkeit, also der Kameradschaft mit dem Gegner, die das Kriegsvölkerrecht u.a. in den Grundsätzen einer gewissen Schonung der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung normiert hatte, - und schließlich den Gegensatz zwischen Tod und Leben durch den Gefallenenkult, die Kameradschaft mit den Toten, die von der (notfalls mit großem Aufwand und unter großer Gefahr betriebenen) Bergung der Leichen wie insbesondere dem steten Gedenken an die Gefallenen reichte 18 . Indem die Soldaten den Mythos der Kameradschaft, die sakralen Leitbilder der Egalität, Selbstlosigkeit und Geborgenheit auf diesen Ebenen rituell aktualisierten, inszenierten sie sich als totale und ewige männliche Gemeinschaft. Mit der Aufhebung ziviler Gegensätze repräsentierte sie die Nation, mit der Aufhebung des militärischen Freund/Feind-Gegensatzes eine friedliche Weltordnung, mit der Aufhebung des Geschlechtergegensatzes die Menschheit schlechthin und mit der Uberwindung des Gegensatzes zwischen Leben und Tod die Unsterblichkeit. Was hatten diese Ansprüche der totalen männlichen Gemeinschaft, was hatten die Rituale der Brüderlichkeit, der Hilfsbereitschaft und der Zärtlichkeit mit der „Realität" des Krieges zu tun? Zunächst einmal: relativ wenig. Der Alltag der Soldaten, gleich in welcher Verwendung sie sich gerade befanden, war nicht von Egalität, Selbstlosigkeit und Geborgenheit beherrscht, sondern durch formelle und informelle Hierarchien, durch materielle und psychische Entbehrun-
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Mann, Republik, S. 8 4 7 f . Siehe Schröder, Jahre, S. 3 5 6 - 3 5 8 und Fritz, Frontsoldaten, S. 1 7 5 - 1 7 8 ; zu den mythischen Traditionen siehe Mosse, Vaterland.
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gen, Einsamkeit, Isolation und Egoismus, durch Demütigungen, Intrigen und Brutalität, durch direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt 1 9 . „Inmitten des Männerstaates herrschen Intrige und Eifersucht", mußte auch U d o von Alvensleben feststellen, der als Sproß einer alten Adelsfamilie den Krieg größtenteils als Ordonannzoffizier bei Armeekommandeuren und somit in privilegierter Position erlebte 20 . Die unteren Chargen trugen ihre Eifersüchteleien üblicherweise in Form brachialer Gewalt aus. Deren Ubiquität war nicht nur von außen bestimmt und nach außen - gegen den militärischen Feind - gerichtet, sondern strukturierte ebenso das Binnenleben des Militärs. Militärische Gruppenkultur war in erster Linie Gruppenterror. Der „Heilige Geist" 2 1 wirkte seit der Rekrutenzeit in der Stubengemeinschaft oder in der „Familie" der Kompanie als die Institution, die die gleichförmige Ausrichtung der Kameraden garantierte, Abweichler gewaltsam „auf Linie" brachte - und die Gruppe vor Kollektivstrafen schützte. Es gab wohl kaum einen Wehrmachtsoldaten, der davon nicht hätte berichten kön22
nen . Als Mann und Kamerad galt, wer die Brutalität des militärischen Initiationsritus, die Demütigungen der Rekrutenzeit, die rauhe, alkoholisierte, zotige Geselligkeit und das Ausgeliefertsein ans Schicksal (von der zufälligen Zusammensetzung der Stubengemeinschaft bis zum Ausgang der „Feuertaufe") akzeptierte. Daß das Durchleben und Durchstehen dieses Säurebades als Ausweis „echter", „eigentlicher" Männlichkeit stilisiert werden konnte, muß wohl vor allem in jener vielschichtigen kulturellen Tradition verortet werden, die das Leiden, den Verzicht, den Schmerz als Quelle und Voraussetzung der biographischen oder auch gesellschaftlichen Transformation zu einem wie immer definierten Besseren begriff; solche Vorstellungen wurzeln im Christentum, aber sie finden sich - wiewohl in sehr unterschiedlichen Formulierungen - auch in den faschistischen Bewegungen, besonders im Nationalsozialismus. Vom Konformitätsdruck erzählt der Mythos kaum anders als in der Rhetorik der Harmonie. Der aggressive Bezug - die Funktion der geschlossenen Ausrichtung der Soldatengemeinschaft als Faktor ihrer Kampfkraft - wird dabei diskret angedeutet. Im Lied vom „guten Kameraden" heißt es: „Die Trommel schlug zum Streite,/er ging an meiner Seite/im gleichen Schritt und Tritt." Die perfekte, reibungslose Kooperation in der Schlacht galt gleichsam als N a gelprobe darauf, ob die Soldaten dem Mythos der Kameradschaft gerecht zu werden imstande waren. Er arbeitete der kriegerischen Gewalt also nicht nur kompensatorisch vor, sondern leitete sie auch direkt an. Den praktischen Zusammenhang zwischen Konformitätsdruck, Sozialkohäsion und Kampfkraft hat die Militärsoziologie seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder herausgestellt. Zusammengefaßt lesen sich die einschlägigen Befunde folgendermaßen: 19 20 21 22
Diese Unterscheidung nach Galtung, Violence. Alvensleben, Abschiede, S. 436. Siehe Küpper, Welt, S. 79 f. Siehe Kühne, Kameradschaft, S. 514 f. Zahlreiche Belege bei Schröder, Kasernenzeit, passim, besonders S. 186 ff.
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„Je näher die Truppe am Feind ist, umso geringer ist der Einfluß des formalen Kontrollsystems und umso entscheidender wird das Norm- und Kontrollsystem der Primärgruppe für das Verhalten der Soldaten. Zwei Vorstellungen dominieren dabei: erstens die Norm, sich als Männer bewähren zu müssen, d. h. angesichts der Gefahr nicht zu versagen, sondern sich .zusammenzureißen' und .seinen Mann zu stehen'; zweitens die Norm, daß die Gruppe, was auch immer geschieht, wie ,Pech und Schwefel' zusammenhält und .Kameraden' nie im Stich gelassen werden. Diese Verpflichtung gilt ganz allgemein gegenüber jedem Mitglied der Gruppe und nicht nur gegenüber dem persönlichen Freund" 23 . Die Militärsoziologie übersieht freilich - zumindest im Fall der Wehrmacht zweierlei: den mythischen Bezugspunkt der Sozialkohäsion und ihre „weichen" Verstrebungen. Die Soldaten kämpften nicht einfach für ihre Kameraden. Sie kämpften, um einen Mythos zu aktualisieren und ihrem Leben Sinn zu geben, indem sie an einer Lebensform partizipierten, die der Kontingenz des Daseins die Anti-Struktur der Sakralität, Ewigkeit und Totalität der „Communitas" entgegenstellte. Konstitutiv für deren symbolische Ordnung aber waren nicht nur Kampf und Gewalt, sondern die Verschmelzung von Aggressivität und Geborgenheit, Zerstörung und Harmonie. In dieser Form konnte der Kameradschaftsmythos seine soziale Zugkraft auch dann noch entfalten, als der Krieg längst verloren und der Kampf völlig aussichtslos geworden war - wie der eingangs zitierte emphatische Brief des südbadischen Unteroffiziers deutlich macht. Die Sinnhaftigkeit der Kameradschaftsrituale und des Kameradschaftsmythos erklärt sich nur im Rahmen jener dialektischen Verschachtelung der Realitätsebenen von Struktur und Antistruktur, Welt und Gegenwelt, von der die symbolische Ordnung des Krieges schlechthin lebte. Der Kameradschaftsmythos konstitutierte ein symbolisches Gegenmodell nicht nur gegen die zivile Gesellschaft, sondern gleichzeitig auch und vor allem gegen die soziale Praxis und den ideologischen Kontext des Krieges selbst. Auf beides blieb sie gleichwohl bezogen, ja geradezu „angewiesen". Die Rituale der Zärtlichkeit antworteten auf die emotionale Depravierung, auf den Verlust „mütterlicher" Geborgenheit im Militär, die Rituale der Hilfsbereitschaft auf die materiellen Entbehrungen und körperlichen Überbeanspruchungen, die Rituale der Egalität auf die hierarchischen Strukturen und allgegenwärtigen Repressionen. Indem der Kameradschaftsmythos die soziale Praxis des Krieges symbolisch kompensierte, machte er sie für die Soldaten erst erträglich und praktizierbar. Mit den Kameradschaftsriten versicherten sich die Soldaten ihrer Menschlichkeit, ihrer Verbindung zu jenen Werten, denen sie ihre Identität als Angehörige der „Welt" verdankten. Die mit einer sakralen und überzeitlichen Aura aufgeladene, in brüderlicher Harmonie vereinigte männliche Kameradengemeinschaft wirkte so als idealisierter Transmissionsriemen, der kontingente, widersprüchliche, auch „sinn-lose" Kriegserlebnisse und Kriegshandlungen in einen „sinn-vollen", konsistenten Mythos verwandelte.
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Roghmann/Ziegler, Militärsoziologie, S. 174.
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Die rituellen Aktualisierungen des Mythos dürfen also nicht mit der Alltagspraxis oder den „Regeln" der symbolischen Ordnung der Soldaten verwechselt werden. In diesem Regelwerk waren sie zwar zugelassen und sogar nötig, aber nur als selten praktizierte, meist höchst kontingente Ausnahmen. Das gilt für alle Rituale und Dimensionen des Mythos, besonders aber für ihr zärtliches, „weiches" Element. N u r innerhalb des Gefüges „harter" Männlichkeit hatte es seine Berechtigung. Als - gleichsam utopisches - Modell der Uberwindung dieses Leitbildes wäre es völlig mißverstanden. Die Rituale der Zärtlichkeit waren fest begrenzt auf solche Anlässe (Weihnachten, Totenkult) und Situationen (die unmittelbare Bewältigung des Schlachteindruckes, die Tränen erlaubte), in denen sie den militärischen Daseinszweck der Soldaten nicht störten. Vor allem aber waren sie begrenzt auf einen gleichermaßen exklusiven wie fluiden Personenkreis, der durch extreme Konformität zusammengehalten wurde: Nur den „Insidern", nicht den Außenseitern war die die Kultivierung zärtlicher Männlichkeit erlaubt. Gewiß müßte man nicht nur differenzierter, als das hier geschehen kann, nach der sozial, funktional und temporär unterschiedlichen Resonanz und Akzeptanz des Mythos fragen. Man müßte ihn auch in Beziehung zu anderen verhaltenssteuernden Deutungsmustern sowie zu weiteren, psychischen, sozialen und institutionellen Faktoren der Gewaltbereitschaft setzen. Das wäre ein Unterfangen, dem nicht nur aus arbeitsökonomischen Gründen, sondern auch wegen der für den Zweiten Weltkrieg schwierigen Quellenlage enge Grenzen gesetzt sind. Immerhin kann kein Zweifel daran bestehen, daß viele Soldaten die Dinge, zumal in der letzten Phase des Krieges, ganz anders sahen als Franz Wieschenberg oder jener Unteroffizier, der im kollektiven Kampfrausch noch in den letzten Kriegstagen aufging. Nicht ganz wenige durchschauten den Zauber des Kameradschaftsmythos und sperrten sich bewußt gegen die Vereinnahmung durch den von ihm angeleiteten Gruppenzwang. Damit sind nicht nur die Deserteure angesprochen; es gab auch innerhalb der Wehrmacht Möglichkeiten, zur männlichen „Zwangsgemeinschaft" auf Distanz zu gehen. Der Preis dafür war, als Außenseiter abgestempelt, stigmatisiert, psychisch und physisch mißhandelt oder auch per Denunziation der oft tödlichen Militärjustiz ausgeliefert zu werden 24 . Der Kameradschaftsmythos und die Formen seiner rituellen Aneignung waren vermutlich ebensowenig ein Spezifikum des nationalsozialistischen Krieges wie die Tatsache, daß er in einer militärischen Massenorganisation nicht überall gleichermaßen rezipiert wurde. Die besondere Bedeutung des Kameradschaftsmythos für die Wehrmachtsoldaten hing damit zusammen, daß seine integrativen symbolischen Dimensionen durch die nationalsozialistische Ideologie (die in dieser Hinsicht wie auch sonst synkretistisch vorging) prinzipiell erweitert, gleichzeitig allerdings auch ebenso prinzipiell eingeschränkt wurden. Die NS-Volksgemeinschaft präsentierte sich als Gemeinschaft von Kameraden. Dieses Konstrukt einer nationalen Gemeinschaft trat mit dem Anspruch auf, die emotionale Vereinsamung, soziale Atomisierung und politische Fragmen24
So ζ. B. - allerdings mit relativ glimpflichem Ausgang - K u b y , Krieg; Stehmann, Bitternis, der (anders als K u b y ) noch 1945 fiel.
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tierung, die als Strukturmerkmale der Weimarer Republik, aber auch der westlichen Demokratien galten, zu überwinden durch die ubiquitäre Umsetzung jener Geborgenheit, von der der Kameradschaftsmythos erzählte. Kameradschaft wurde als Organisationsprinzip der Jugend (als kleinste Einheit in der HJ), des Berufslebens (als „Arbeitskameradschaft") und der Familie (mit der Frau als „Kameradin") eingerichtet 25 . Diese umfassende Erweiterung des sozialen Bezugsrahmens und Geltungsanspruchs der Kameradschaft war eingebunden in die totalitäre Tendenz der Volksgemeinschaftspolitik und in die Totalisierung des Vernichtungskrieges. Das nationalsozialistische Kameradschaftsmodell erweiterte den (bisher dargestellten) „traditionellen" Kameradschaftsmythos in zweierlei Hinsicht: erstens, indem sein egalitärer Impetus durch das Gefolgschaftsprinzip neutralisiert; zweitens, seine männliche Matrix durch eine rassisch definierte überlagert wurde. Der egalitäre Impetus des Kameradschaftsmythos als Faktor der militärischen Sozialkohäsion hatte eine latent subversive Seite, die in der Endphase des Ersten Weltkrieges manifest geworden war. Dort hatte er eine Eigendynamik entwikkelt, die nicht auf Stabilisierung, sondern auf Unterminierung der totalen Institution Militär zielte. Die Kieler Revolte war der Alptraum, der auf dem deutschen Militär nach 1918 lastete. Bereits die Reichswehr unternahm daher beträchtliche Anstrengungen, um diese Gefahr der Ablösung des Kameradschaftsmythos von seiner militärischen Zweckbindung durch normative Einhegungen und institutionelle Verstrebungen aufzufangen. Die militärische Ausbildungsliteratur regelte nun genau, was „gute" Kameradschaft und was „schlechte" „Kameraderie" war 26 . Und vor allem sorgte das Leitbild des fürsorglichen, „kameradschaftlichen" Offiziers und militärischen „Führers" nun dafür, daß die ehedem egalitäre Kameradschaft hierarchisiert wurde. Die NSIdeologie setzte Kameradschaft und Gefolgschaft dann auch gesamtgesellschaftlich in eins. Der „Begriff Kameradschaft" habe, so verkündete Trübners Deutsches Wörterbuch 1943 sehr treffend, im Nationalsozialismus einen „neuen tiefen Sinn" erhalten, „nämlich jenen Grundsatz der Kameradschaft, der die Gefolgschaft Adolfs Hitlers im Glauben und Gehorsam zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenschließt" 27 . Die Kameradschaft zwischen Offizier und Mannschaft war ein Programm, das auch im NS-Krieg gewiß nie vollständig, aber doch in einem für die Soldaten zumal auch solche der unteren sozialen Schichten - spürbaren Maße umgesetzt wurde. Die Beseitigung der getrennten Küchen für Offiziere und Mannschaften etwa hatte eine enorme symbolische Bedeutung. Ebenso konnten viele Gesten etwa die Beteiligung der Offiziere an der außerdienstlichen Geselligkeit der Mannschaften und institutionelle Veränderungen wie die soziale Öffnung des Offizierskorps 28 von den einfachen Soldaten gleichsam als Beweis dafür ge-
25 26 27 28
Kühne, Kameradschaft, S. 510-513. Siehe ebd., S. 517 f. Götze (Hrsg.), Wörterbuch, IV, S. 84. Kroener, Weg.
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nommen werden, daß das Regime gewillt war, die Versprechungen der Volksgemeinschaftsideologie einzulösen. Letztlich gelang es auf diese Weise, der tendenziell subversiven Dynamik der Kameradschaft die Spitze abzubrechen. Bekanntlich waren Meutereien für die Wehrmacht nie ein Problem. Statt dessen nahmen Denunziationen von Kameraden jenes gewaltige Ausmaß an, das die Voraussetzung für die Expansion der NS-Militärjustiz und ihrer drakonischen Urteile war 29 . Diese Denunziationen standen in denkbar schärfstem Kontrast zur Tradition des kameradschaftlichen Schulterschlusses. Soldaten, die sich eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus bewahrt hatten, waren sich dessen bewußt 30 . Der Wandel der sozialen Praxis der Kameradschaft vom Erstem zum Zweitem Weltkrieg führte - plakativ gesprochen - von der Meuterei zur Denunziation. Gewiß gab es auch in der Wehrmacht durchaus noch Schutzzonen gegen die totale Vereinnahmung durch das NS-System. Die in den Erinnerungen oft bezeugte „Redefreiheit" im engeren Kameradenkreis ist nicht nur eine nachträgliche Stilisierung. Dort, wo das kameradschaftliche Deckungsprinzip „funktionierte", mochte sie auch grundsätzliche Kritik am System und am „Führer" erlauben, zumal als die Zweifel am versprochenen Endsieg zunahmen, die NSund Hitler-Gläubigkeit abnahmen und „die Träume von einer Weltherrschaft" zerstoben: „Unter uns Kameraden darf man auch alles reden. Die Zeit des Fanatismus und der Nichtduldung anderer Ansichten ist vorbei, und allmählich beginnt man klarer und nüchterner zu denken" 31 . Bei der Einschätzung der Bedeutung solcher politischen Schutzzonen muß freilich die unberechenbare Wirksamkeit des kameradschaftlichen Zusammenhalts bedacht werden. Eine wirkliche Gewähr dafür, nicht denunziert zu werden, hatte kein Soldat, der sich zu verfänglichen Äußerungen hinreißen ließ, am allerwenigsten der, der im Kameradenkreis - aus welchen Gründen auch immer - unbeliebt war. Und offensichtlich hatte die „Redefreiheit" in den meisten Einheiten eine prinzipielle Grenze, die der Schriftsteller Jochen Klepper schmerzlich wahrnehmen mußte; er war mit einer Jüdin verheiratet, wurde daher nach einem dreivierteljahr als Mannschaftssoldat aus der Wehrmacht gedrängt und schließlich mit seiner Frau in den Selbstmord getrieben. Klepper war zwar berührt von dem offenen Gedankenaustausch mit einem SA-Mann unter seinen Kameraden; „daß deutsche Männer sich noch einmal abseits des ganzen Parteikomplexes begegnen", gehörte für ihn daher zu den „großen Eindrücken des Krieges". Aber die existentiellen Sorgen, die ihn ob seiner jüdischen Frau Umtrieben, konnte er mit niemandem besprechen: „Zu allen, von allem kann ich frei reden: nur nicht zur Judenfrage. Hier sehe ich, daß die Propaganda ihr volles Werk geleistet hat" 32 .
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Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz. Dazu die eingehende Fallstudie v o n Walle, Tragödie. So der Obergefreite H.H. am 12. Juni 1943 in einem vermutlich an seine Frau gerichteten Brief, zit. n. Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht, S. 1 1 7 f. Klepper, Überwindung, S. 132, 206, vgl. S. 160f., 213.
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Die Denunziation war das alltagspraktische Unterfutter der Ausgrenzungsstrategien, auf denen die Volksgemeinschaftspolitik basierte. Sie verfuhr in dieser Hinsicht nach demselben Prinzip wie der Gruppenterror in der Stubengemeinschaft der Soldaten. Sorgte der „Heilige Geist" für die Konformität der kleinen Soldatengemeinschaften durch nächtliche Prügel und kalte Duschen, so nahmen sich die Terrororganisationen des NS-Staates der Disziplinierung der Volksgenossen und der Eliminierung der „Gemeinschaftsfremden" im Dienste der gleichförmigen Ausrichtung der Volksgemeinschaft an. Wie die militärische Kameradschaft, so beruhte auch die „kameradschaftliche" Volksgemeinschaft gleichermaßen auf Integration wie auf Ausgrenzung. Die Welt der Kameradschaft wurde nicht nur durch die Kameraden, sondern auch durch die NichtKameraden zusammengehalten. An der Geborgenheit, die sie vermitteln mochte, partizipierte nur der Gemeinschaftszugehörige. Wer das war, konnte ganz unterschiedlich definiert werden. Die integrativen Wirkungen, die der Kameradschaftsmythos entfaltete, waren von höchst kontingenter Reichweite. Der nationalsozialistische Kameradschaftsmythos stellte einen umfassenden Gesellschaftsumbau in Aussicht. Dessen Zielpunkt bildete eine Nation, in der es keine politischen oder gesellschaftlichen Gegensätze und keine emotionale Vereinzelung mehr gab, sondern jeder „Volksgenosse" Kamerad des anderen war. Die rassenpolitische Grundlegung der NS-Volksgemeinschaft verschob die Vorstellung davon, wer überhaupt als Kamerad in Frage kam, jedoch grundsätzlich: Zum einen durch die Integration der Frauen, auch an der Heimatfront, und zum anderen durch die Exklusion der politischen Gegner sowie insbesondere der als rassisch minderwertig diskriminierten Männer. Darunter fielen vor allem die deutschen Juden, die nicht Soldaten werden durften, und die feindlichen Soldaten im Osten, die als „Untermenschen" nicht in den Genuß der ritterlichen Kameradschaft mit dem Gegner kommen sollten. Die Frau wurde als Kameradin des Mannes an der Heimatfront tituliert und dem Frontsoldaten als Kriegerin zuhause beigeordnet. Das war zwar nur eine rhetorische, als solche aber fundamentale Aufwertung, wurde die Frau als Kameradin doch nun öffentlich sichtbar gemacht. Die NS-Geschlechterkameradschaft löste so das traditionell private Koordinatensystem weiblicher Identifikation partiell auf. Freilich war das Modell der geschlechterübergreifenden Kameradschaft ebenso hierarchisch strukturiert wie das nationalsozialistische Kameradschaftsdenken insgesamt. Den Eintritt der Frauen in die öffentliche Sphäre der NS-Volksgemeinschaft flankierte eine neu begründete Heteronomie: „Statt der Unterordnung unter den Mann als Vater, Bruder und zukünftigen Gatten, ging es nun um die Unterordnung unter die Prinzipien von .Volk und Reich', sprich unter den Mann als Führer und Kameraden" 33 . Diese hierarchische Anordnung der Geschlechterkameradschaft bot die Gewähr dafür, daß diese nicht etwa als „Emanzipationsvehikel" mißverstanden werden konnte. Sie stellte also das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern nicht in Frage. Deswegen konnte sie von Frauen wie von Männern ohne weite-
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Klönne, Ringe, S. 270.
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res rezipiert werden - und als nationales Integrations- und Mobilisierungsinstrument im Totalen Krieg wirken. Die traditionell männliche Matrix des Krieges wurde aber zumal seit 1941 nicht nur auf der rhetorischen Ebene der harmonistischen Geschlechterkameradschaft aufgelöst, sondern mit weitaus größerer Radikalität in der grausamen Praxis des Schlachtfeldes. War die Grenze zwischen Kameraden und Nichtkameraden ehedem die zwischen Zivilisten und Soldaten (einschließlich der Soldaten der gegnerischen Seite) oder zwischen Frauen und Männern, so richtete der Nationalsozialismus diese Grenze neu ein. Sie verlief nun zwischen „Herrenmenschen" und „Untermenschen", und zwar jeweils beiderlei Geschlechts. Den Vernichtungskrieg trugen nicht mehr nur die Männer unter sich aus, er richtete sich, wie bekannt ist, explizit „auch gegen Frauen und Kinder" 34 . Es läßt sich kaum genau bestimmen, ob und inwieweit der „traditionelle" Kameradschaftsmythos und das von ihm transportierte Ideal der Ritterlichkeit als Bremsfaktor der· Barbarisierung des Krieges wirkten. Die berühmte Geheimrede Hitlers vom 30. März 1941, in der die versammelte Wehrmachtgeneralität auf die Regeln des „Vernichtungskampfes" eingeschworen wurde, deutete ein solche Wirkung zumindest indirekt an. Hitler legte dabei fest, daß man in diesem Krieg vom „Standpunkt des soldatischen Kameradschaftsdenkens" abrükken müsse, der Gegner im Osten nicht als Kamerad angesehen werden dürfe 35 . Aber auch wenn man davon ausgehen mag, daß nicht alle Soldaten diesen Bruch mittragen wollten, so besteht doch kein Zweifel an dem gewaltigen Ausmaß, in dem jenes Ideal durch die Grammatik des Vernichtungskrieges außer Kraft gesetzt wurde. Der nationalsozialistische Kameradschaftsmythos gab dem kollektiven Autismus, zu dem sich die kriegerische Gewalt im Vernichungskrieg steigerte, einen sakralen Rahmen. Der interne Austausch von „kameradschaftlicher" Mitmenschlichkeit kompensierte die Brutalität, mit der der Gegner überzogen wurde. Durchaus zutreffend hat daher Hans Buchheim in seiner frühen Studie über die SS von der „Tendenz zur milderen Praxis" gesprochen, „mit der die Apotheose der Härte und des Rigorismus des offiziellen Selbstverständnisses neutralisiert wurde. Gegenüber anderen war jede Härte recht, untereinander aber sah man sich die Schwächen nach" 36 . Die „Tendenz zur milderen Praxis" war ein zentrales Element der sozialen Umsetzung schon des „traditionellen" Kameradschaftsmythos. Im Vernichtungskrieg wurde sie nicht erst erfunden, sondern perfektioniert. Der kameradschaftliche Schulterschluß, die Deckung von Verfehlungen der Kameraden, entwikkelte sich zu einem umfassenden Deutungs- und Handlungsrahmen, in dem die „Barbarei zur Normalität"werden konnte 37 . Der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß, der die Soldaten mit einem weitgehenden Freibrief für Vergehen an der Zivilbevölkerung ausstattete, läßt sich als staatliche Institutionalisierung der kamerad-
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Andrae, Frauen. Halder, KTB, II, S. 3 3 5 - 3 3 7 . Buchheim, Befehl, S. 258. Vgl. dazu den Beitrag Wegner in diesem Band. Reemtsma, Krieg, S. 61.
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schaftlichen Deckung des Verbrechens deuten. Daß die Praxis der Militärjustiz kaum anders verfuhr, ist bekannt 38 . Der Nationalsozialismus drückte dem Kameradschaftsmythos seinen Stempel auf, ohne doch ältere Varianten ganz zu verdrängen. Auf diese Weise stand im Vernichtungskrieg ein kultureller Setzkasten bereit, aus dem sich sehr unterschiedliche Soldatengruppen bedienen konnten, um ihrer Partizipation an der kriegerischen Gewalt Sinn zu verleihen: Die Palette reicht vom nationalsozialistischen Fanatiker über die in der Tradition des preußischen Militarismus stehenden Soldaten und jene, die in der Wehrmacht die innere Emigration suchten, bis zur vermutlich großen Masse derer, die zwangsweise in den Krieg „geraten" waren, in ihm aber nicht „sinn-los" handeln konnten, sondern dieses Handeln in eine „sinn-volle", symbolische Ordnung einzubetten suchten. Eben diese Ordnung stellte der Kameradschaftsmythos bereit. Die mit dem Begriff Kameradschaft bezeichneten harmonistischen Leitbilder egalitärer Brüderlichkeit, selbstloser Hifsbereitschaft und zärtlicher Geborgenheit setzten die Soldaten durchaus praktisch um. Im Gefüge der ubiquitären, von den Soldaten nicht nur erlittenen, sondern auch bewirkten Gewalt, Demütigung, und Isolation bildeten sie jedoch nur ausnahmsweise zugelassene Rituale, die nicht auf Uberwindung, sondern auf Stabilisierung dieser Struktur abzielten. Die Faszination, die von der kameradschaftlichen Soldatengemeinschaft auf die „Kriegsgeneration" ausging, beruhte nicht nur auf der Aneignung „harter" Männlichkeit. Entscheidend war vielmehr, daß die militärische Vergemeinschaftung die allgegenwärtige Brutalität, die soziale Vereinsamung und emotionale Kälte, nicht zuletzt aber auch die ins Extrem getriebene geschlechtliche Halbierung des Menschen im Bild des harten Mannes symbolisch transzendieren konnte und die Teilhabemöglichkeit an einer „totalen", als ursprünglich und heilig begriffenen Lebensform suggerierte. Sie tat das nur ausnahmsweise, aber umso eher, je größer der Druck von außen oder oben war, je unmenschlicher und brutaler also der situative Kontext war. Indem die Soldaten den Kameradschaftsmythos rituell aktualisierten, bestätigten sie seine zeitlose Gültigkeit. Sie griffen dabei auf Verhaltensmuster zurück, die die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, aber auch an frühere Kriege diskursiv entfaltet und massenmedial vervielfältigt hatte. Die mythische Sinnstiftung des Krieges gab die Aggression als schicksalhaft aus und und löste so die Akteure aus der Verantwortung für ihre Teilhabe daran. Die Bedeutung des Kameradschaftsmythos für die breite soziale Partizipation an diesem Krieg bestand maßgeblich darin, daß er den Akteuren zusätzlich die Illusion vermittelte, jede noch so eklatante Verwicklung in die nach außen gerichtete Unmenschlichkeit durch gelegentliche Gesten der Menschlichkeit im Innern (der jeweiligen „Gemeinschaft") neutralisieren zu können. Die grausamen Innovationen des Totalen und Vernichtungskrieges setzten jenem Imitationsprinzip freilich Grenzen. Wie jeder Mythos war aber auch der Kameradschafsmythos unbestimmt und flexibel genug, um diesen Innovationen eingepaßt werden zu können. Der Nationalsozialismus verstärkte dabei nicht die männerbündischen
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Siehe Kühne, Kameradschaft, S. 518 f.
Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht
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Elemente des Leitbildes militärischer Sozialkohäsion, sondern unterminierte sie. Indem die männliche Exklusivität des Kameradschaftsmythos tendenziell aufgelöst wurde, wirkte er als geschlechterübergreifendes Integrationsvehikel bei der Totalisierung des Krieges; und indem sein Träger- und Adressatenkreis auf die Volksgemeinschaft der „Herrenrasse" neu zugeschnitten wurde, wirkte er als Motor der Barbarisierung dieses Krieges.
Rene
Schilling
Die „Helden der Wehrmacht" Konstruktion und Rezeption1
Die „Helden der Wehrmacht" - diese Sentenz birgt in sich eine Doppeldeutigkeit. Zum einen können damit Soldaten gemeint sein, die zwischen 1939 und 1945 in der Wehrmacht dienten und als „Helden" verehrt wurden. Zum anderen jedoch kann damit auch die Menge der nationalen Kriegshelden der Vergangenheit angesprochen werden, die während der gesamten NS-Zeit als Vorbilder gefeiert wurden. Eine Konzentration auf den ersten Typus, will man zudem die auch heute noch von rechtsgerichteten Veteranenverbänden geforderte Heroisierung von Wehrmachtsoldaten vermeiden, erscheint hier aus zwei Gründen verfehlt 2 . Erstens waren der Heroismus und die Verehrung von Kriegshelden im besonderen ein substantieller Bestandteil der NS-Ideologie 3 . Bereits 1933 wurde der Heldenkult in den von Reichsinnenminister Frick erlassenen reichseinheitlichen Schulrichtlinien verankert 4 . Die Verehrung nationaler Kriegshelden als ein Faktor geistiger Mobilmachung für den Krieg ging jedoch nicht nur in den Lehrplan, sondern auch in den offiziellen Festkalender ein. Der in der Weimarer Republik vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge initiierte „Volkstrauertag" für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs wurde 1934 durch einen Beschluß der Reichsregierung in „Heldengedenktag" umbenannt und zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Während den gefallenen „Helden" der Partei am 9. November in München gedacht wurde, hatte die Wehrmacht mit dem Heldengedenktag ihren festlichen Höhepunkt 5 . Aber nicht nur staatliche Institutionen, auch Verlage und Schriftsteller beförderten die 1933 einsetzende Renaissance des Heroismus und trugen so zur ubiquitären Präsenz der Kriegshelden bei. Uber Theodor Körner, den bürgerlichen nationalen Vorzeigehelden
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Für kritische Lektüre und konstruktive Hinweise danke ich U w e Barrelmeyer, Ute Frevert, C a r o l y n Grone, Thomas Kühne, Manfred Hettling, Dirk Schumann und last but not least J ö r n Stückrath. So warb die Deutsche Nationalzeitung v o m 5 . 7 . 1 9 9 6 f ü r das Buch Hillek (Hrsg.), Soldaten. Ü b e r den Heldenkult im NS-Staat informieren Baird, Germany; Behrenbeck, Kult. V o n sieben Hauptforderungen der Richtlinien waren zwei für die Heldenverehrung relevant. Erstens wurde die Wichtigkeit der Zeitgeschichte hervorgehoben, wobei dem Ersten Weltkrieg unter dem Titel „Das Ringen des deutschen Volkes gegen eine Welt von Feinden" eine besondere Bedeutung zugewiesen wurde. Zweitens forderte man ausdrücklich, den heldischen Gedanken verbunden mit dem Führergedanken so darzustellen, daß die Schüler dafür begeistert und zur völkischen Weltanschauung geführt würden. Siehe Genschel, Geschichtsunterricht, S. 266. Zur Geschichte des „Heldengedenktages": Schellack, Nationalfeiertage, S. 297-305, 340-345.
Die „Helden der Wehrmacht" - Konstruktion und Rezeption
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der Befreiungskriege, erschienen während der Weimarer Republik nur sechs Biographien, zwischen 1933 und 1945 insgesamt zwanzig. Die sprunghafte Zunahme kann auch für weitere prominente Kriegshelden wie Manfred von Richthofen, Otto Weddigen und für den zweiten sterbenden „Helden" des Lützower Freikorps, Friedrich Friesen, nachgewiesen werden 6 . Zweitens ist noch ein methodisches Argument zu beachten. Begreift man den Heldenkult formal als ein kulturelles Deutungsmuster, das Wahrnehmungen präformiert, Erfahrungen interpretiert und Verhalten motiviert, so muß berücksichtigt werden, daß gesellschaftlich breit verwurzelte Deutungsmuster nicht kurzfristig durchsetzbar und instrumenteil gänzlich verfügbar sind 7 . Die durch das Deutungsmuster des Heroismus entworfenen Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte konnten während des Nationalsozialismus nur dann handlungsleitend werden, wenn auf bereits bestehende und länger überlieferte Deutungen zurückgegriffen wurde 8 . Eine Beschränkung auf den Zeitraum von 1939 bis 1945 greift daher entschieden zu kurz, will man die strukturellen Bestandteile und Wirkungspotentiale eines Deutungsmusters analysieren, das als ein kausal relevanter Faktor für die Stabilität des NS-Regimes und die Kriegsbereitschaft der deutschen Bevölkerung betrachtet wird 9 . Deshalb ist hier nicht nur die Verehrung deutscher Kriegshelden während der gesamten Phase des NS-Regimes zu untersuchen, sondern auch zu überprüfen, inwieweit die zwischen 1933 und 1945 verwendeten strukturellen Elemente des Deutungsmusters nicht auch schon vor und während des Ersten Weltkriegs in Erscheinung traten. Folglich muß auf historische Figuren zurückgegriffen werden, die bereits vor 1933 als nationale „Helden" kanonisiert worden waren. Dabei gerät zum einen eine Gruppe von Personen in den Fokus, die aus Sicht des Chefs des Generalstabes der Luftstreitkräfte, Generalleutnant Thomsen, besonders geeignet erschienen, die „heiße Begeisterungsfähigkeit der Jugend" zu wecken. Thomsen nannte für die Zeit der „Befreiungskriege" unter anderem den Dichter Theodor Körner (1791-1813), für den Ersten Weltkrieg die „jungen Regimenter" von Langemarck, den Flieger Manfred von Richthofen (1892-1918) und den U-Boot-Kommandanten Otto Weddigen (1882—1915)10. Zum anderen wird als weitere exemplarische Figur der „Befreiungskriege" der Turner Friedrich Friesen (1785-1814) herangezogen und für den Zweiten Weltkrieg der U-BootKommandant Günther Prien (1908-1941), der zu den bekanntesten NS-Kriegs-
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Bei Richthofen stieg die Zahl der Neuerscheinungen von zwei auf elf, bei Friesen von zwei auf acht. Uber Weddigen erschien zwischen 1 9 1 9 und 1933 gar keine Biographie, während des Nationalsozialismus waren es immerhin sechs. Das „Deutungsmuster", so Georg Bollenbeck, „leitet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes und motiviert Verhalten", es „meint von außen angeeignete, vorgefertigte Relevanzstrukturen, die man nicht auswählt, sondern eher ü b e r n i m m t . . . Ein Deutungsmuster verfestigt sich kollektiv, ist ein Typus vorangegangener Erfahrung, dient als Bestimmungsrelation zur gegenwärtigen Zeit und kann mit seinen programmatischen Überschüssen auf zukünftige Möglichkeiten verweisen". Bollenbeck, Bildung, S. 19. Koselleck, Erfahrungsraum, S. 3 4 9 - 3 7 5 . So etwa Kershaw, Macht, S. 2 7 ff.; Wette, Ideologien, S. 49. Italiaander, Richthofen, S. 9.
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helden zählte. Allen diesen Personen ist gemeinsam, und das verschwieg Thomsen, daß sie im Krieg fielen, sprich den „Heldentod" starben. Diese Auswahl ermöglicht es, erstens der Frage nachzugehen, ob der NS tatsächlich einen eigenen Heldentypus hervorbrachte, mithin die Diskontinuität gegenüber dem bürgerlichen, mehrheitlich von rechtsliberalen und Konservativen getragenen Heldenkult betonte oder aber bei der Thematisierung heroisierter Figuren auf bereits vorhandene Deutungsmuster zurückgriff 11 . Zweitens soll geprüft werden, welchen spezifischen Beitrag das Deutungsmuster in der sozialen Praxis zur Stabilität des Regimes leisten konnte und wo seine Grenzen insbesondere während des Zweiten Weltkriegs lagen. In vier Schritten möchte ich dieser Aufgabenstellung nachgehen. Zunächst soll anhand der Heroisierung des U-Boot-Kommandanten Günther Prien gezeigt werden, daß dieser scheinbar genuine NS-Held seine heroische Aura nur in der Verbindung mit Mythen des Ersten Weltkriegs erzielen konnte (I.). Sodann wird beschrieben, welche identitätsbildenden Deutungsangebote der Heldenkult für die Rezipienten bereitstellte. Dies geschieht zum einen durch die Analyse der im Heldenbild entworfenen Gesellschaftsordnung, die auf den Faktoren der individuellen Opferbereitschaft, der Kameradschaft und des charismatischen Führertums basierte (II.)· Zum anderen wird das spannungsgeladene Verhältnis zwischen männlichen „Helden" und dem weiblichen Geschlecht geschildert (III.). Schließlich soll erörtert werden, wie der Heldenkult in der sozialen Praxis zur Stabilisierung des Regimes und des Führermythos beitrug, aber auch dargelegt werden, daß das Deutungsmuster für die Soldaten im Krieg nur beschränkt wirksam war (IV.). Grundlage dieser Untersuchung sind dabei Biographien, Zeitungsartikel, sowie Beschreibungen von Festen, die zu Ehren der heroisierten Figuren gefeiert wurden.
I. Günther Prien - Der „Held" von Scapa Flow oder eine Frage der Ehre Am 24. Mai 1941 gab das Oberkommando der Wehrmacht den Tod von Korvettenkapitän Günther Prien bekannt: „Das von Korvettenkapitän Günther Prien geführte Unterseeboot ist von seiner letzten Fahrt gegen den Feind nicht zurückgekehrt. Mit dem Verlust dieses Bootes muß gerechnet werden" 12 . Diese Nachricht beeinflußte die Stimmung der deutschen Bevölkerung. Von „allge-
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Die Studie von Behrenbeck, Kult, zieht die Vorgaben des 19. Jahrhunderts nicht in Betracht und geht auch nur unzureichend auf die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs ein. Daher erscheint der Heroismus des Nationalsozialismus als erratischer Block, kommen seine historischen Voraussetzungen nur partiell in den Blick. Zit. n. 110300 BRT von U-Booten versenkt. Das U-Boot von Korvettenkapitän Prien nicht zurückgekehrt. Die großen Erfolge der Luftwaffe im östlichen Mittelmeer, in: Frankfurter Zeitung, 24. 5. 1941, Nr. 261/262. Soweit möglich, wird bei Nachweisen der Tageszeitungen auch die Nummer der jeweiligen Ausgabe genannt. W o dies nicht geschieht, liegt dies daran, daß die Kopie des betreffenden Artikels durch Fernleihe erworben wurde und die versendende Bibliothek die Nummer nicht angab.
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meine[r] Trauer über den Verlust von Prien" sprachen die SD-Berichte 13 . Um die Bedeutung Priens wußte auch das Propagandaministerium. So wurde die Information über dessen Tod von Erfolgsmeldungen begleitet, die die negative Wirkung dieser Nachricht abschwächen sollten. Die erste fett gesetzte Uberschrift in den deutschen Tageszeitungen lautete: „110300 B R T von U-Booten versenkt", erst in der Unterzeile erfuhren die Leser etwas vom Schicksal Priens. Die Erfolge sollten weitere Siegesgewißheit vermitteln und die Trauer um Prien möglichst klein halten 14 . Die Popularität des Korvettenkapitäns vermittelten auch die Nachrufe. „Günther Prien ...! Wir sehen ihn noch, wie er lachend in Tempelhof aus dem Flugzeug stieg [...] und das lachende Gesicht hat uns seitdem wie die feste Vorstellung des Heldentums unserer Soldaten immer begleitet", schrieb der „Völkische Beobachter". Die „Westfälischen Neusten Nachrichten" aus Bielefeld erhoben ihn gar zum soldatischen Pendant des Parteihelden Horst Wessel. „Denn wie Horst Wessel als Verkörperung aller SA Männer im Herzen des deutschen Volkes unsterblich weiterlebt, die ihr Leben für ein erahntes freies Großdeutschland in die Schanze schlugen, so ist Günther Prien für jeden Deutschen und namentlich für unsere Jugend der Inbegriff und Prototyp des Ubootmannes schlechthin" 15 . Wer war Günther Prien, wieso eignete er sich dazu, in einer Reihe mit NS-Parteihelden genannt zu werden? Der 1908 geborene Günther Prien verließ vorzeitig das Gymnasium, um zur See zu fahren. Nachdem er sich vom Seekadett bis zum Kapitän in der Handelsmarine emporgearbeitet hatte, wurde er 1931 arbeitslos. Für die fehlende berufliche Perspektive und das soziale Elend machte Prien die Republik verantwortlich. In seiner Autobiographie Schloß er seine Attacke gegen die Republik mit den Worten: „Ein wütender Zorn packte mich. In diesen Tagen wurde ich Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung" 16 . Mit dem Aufstieg des NS-Staates konnte Prien, der seit 1931 der N S D A P angehörte, seine berufliche Karriere in der Kriegsmarine fortsetzen. Er verkörperte exemplarisch die sozialen Erfolge des NS. Außerdem aber, legt man die von Ackermann anhand von Staatsbegräbnissen ermittelte Typologie hervorragenden Soldatentums im Nationalsozialismus zugrunde 17 , stellte er als „.politische[r] Soldat' das NS-Idealbild" des Wehrmachtoffiziers dar. Dem „Völki13 14
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Boberach (Hrsg.), Meldungen, 7, S. 2342. Boelcke (Hrsg.), Kriegspropaganda, S. 756. Ein kurzer Überblick über verschiedene deutsche Tageszeitungen mag hier genügen: 1 1 0 3 0 0 B R T durch U - B o o t e versenkt. Günther Prien blieb vor dem Feind - Sein Geist beflügelt unsere U - B o o t - W a f f e zu neuen Taten, in: Völkischer Beobachter, 2 4 . 5 . 1 9 4 1 , N r . 144; 1 1 0 3 0 0 B R T versenkt. Neun feindliche Handelsschiffe aus einem Geleitzug vernichtet. Korvettenkapitän Prien von Feindfahrt nicht zurückgekehrt, in: Westfälische Zeitung. Bielefelder Tageblatt, 24./25. 5. 1941, N r . 120; siehe auch die ähnlich lautende Überschrift in der Frankfurter Zeitung, 24. 5. 1941, Nr. 261/262. Günther Prien - Unvergessen, in: Westfälische Neueste Nachrichten. Nationalsozialistisches Volksblatt für Westfalen. Bielefelder Stadtanzeiger, 24./25. 5. 1941, N r . 120. Prien, Weg. Ackermann, Totenfeiern, S. 126. Ackermann gibt drei Personengruppen an, wobei die dritte besondere Wertschätzung genoß: 1. Militärs, die ihre Erfolge während des Ersten Weltkriegs verbuchten, 2. Militärs, die sich in der Weimarer Republik für den Wiederaufbau der Armee einsetzten, 3. Militärs, die sich im Nationalsozialismus erst profilierten und zum Nationalsozialismus bekannten; ebd., S. 125.
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sehen Beobachter" zufolge hatte Prien die „eiserne nationalsozialistische Vorschule für diesen Kampf" passiert und personifizierte daher den „Typus, der die ewigen Tugenden des deutschen Soldatentums mit der unbändigen Energie verbrüdert, die der Führer im deutschen Volk ausgelöst hat" 18 . Ursache für diese Lobeshymnen war ein Selbstmordkommando gewesen, das Prien erfolgreich beendet hatte. Am 14. Oktober 1939 drang das von ihm geführte U-Boot U47 in die zwischen den britischen Orkneyinseln liegende Bucht von Scapa Flow ein, versenkte das englische Schlachtschiff Royal Oak und konnte mit Glück der dann einsetzenden Verfolgung durch die britische Marine entgehen. Die daraufhin in deutschen Tageszeitungen veröffentlichten Kommentare zeigen jedoch, daß hier nicht nur eine für unmöglich gehaltene militärische Leistung gelungen war, sondern auch historisch überlieferte Deutungsmuster die Reaktionen beeinflußten. In der Bucht von Scapa Flow war die deutsche Hochseeflotte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs interniert worden, von dort aus sollten die Schiffe den alliierten Siegermächten übergeben werden. Die „Forderung, die unbesiegte deutsche Hochseeflotte nach einem Hafen des Feindes zu überführen", war für die beteiligten deutschen Offiziere eine Zumutung und tangierte ihre persönliche „Ehre" 19 . Den drohenden Ehrverlust verhinderten sie schließlich, indem sie die deutsche Flotte am 21. Juni 1919 in Scapa Flow vor den Augen der überraschten britischen Bewacher selbst versenkten. Der Marine-Pfarrer Albert Klein sprach damals für das gesamte Offizierskorps, wenn er festhielt: „Und nun können wir den Namen [Scapa Flow] wieder mit Stolz nennen! Und England und seine Spießgesellen knirschen mit den Zähnen und schießen giftige Blicke beim Namen Scapa Flow.... Im Buch der deutschen Geschichte erhält nun Scapa Flow einen Ehrenplatz" 20 . Wenn daher Hitler beim Empfang der Besatzung Priens in der Reichskanzlei feststellte, daß die Mannschaft von U47 an einem Ort, an dem ein „deutscher Admiral diese Flotte vor der letzten Schande bewahrt und gerettet habe ... die stolzeste Tat, die überhaupt ein deutsches Unterseeboot unternehmen und vollbringen konnte", geleistet hätte, gab er das Bewußtsein großer Teile der Bevölkerung wieder, was auch die SD-Berichte wenig später bestätigten 21 . Außerdem aber hatte Prien, so faßte sein Biograph Wolfgang Frank die Stimmen der deutschen Blätter zusammen, die „Schmach von 1918 an jenem Ort mit unerhörter Kühnheit gerächt" 22 . Prien hatte den symbolischen Erfolg von 1919 in einen tatsächlichen Sieg verwandelt und außerdem der Revolution 1918, die von den Matrosen der kaiserlichen Marine ausgegangen war, auf der symbolischen Ebene ein überlegenes Handeln entgegengesetzt.
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Ich will, in: Völkischer Beobachter, 20. 10. 1939, Nr. 293. Reuter, Scapa Flow, S. 3 f. Der f ü r die Überführung verantwortliche Admiral von Reuter unterschied in dieser Rechtfertigungsschrift zwischen der persönlichen Ehre des Offiziers und einer dem Staatswohl verbundenen Ehre. Letztere war f ü r Reuters Entschluß maßgeblich, die Flotte nach Scapa Flow zu führen. Klein, Scapa Flow!, S. 89. Domarus (Hrsg.), Hitler, II, 1, S. 1401. Die SD-Berichte sprachen v o n der „Begeisterung" der Bevölkerung. Vgl. Boberach (Hrsg.), Meldungen, 2, S. 372. Frank, Prien, S. 76.
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Diese beiden Ereignisse wurden mit einem weiteren Mythos verknüpft, der quasi als strategische Handlungsanweisung für Priens Fahrt nach Scapa Flow gedient hatte und auch die Wahrnehmung des Geschehens im Oktober 1939 anleitete. So verglich der „Völkische Beobachter" sein Handeln mit dem des berühmten U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkriegs Otto Weddigen, nach dem 1935 die erste U-Flottille von Unterseebooten der Kriegsmarine benannt worden war: „Im zweiten Kriegsmonat des Weltkrieges versenkte die ,U 9', zu deren Gedenken ein U-Boot gleichen Namens heute das Eiserne Kreuz an seinem Turm trägt, unter dem Befehl des Kapitänleutnants Weddigen drei britische Panzerkreuzer. Weddigens Geist lebt auch in der neuen U-Boot-Waffe und hat sich in der Bucht von Scapa Flow herrlich bewährt" 23 . Bereits kurz nach Kriegsende war der Name Weddigens mit dem von Scapa Flow verbunden worden. Bis dahin war ungewiß gewesen, wo und wie Weddigen 1915 untergegangen worden war. Britische Angaben stellten 1919 jedoch klar, daß U29 mit seinem neuen Kommandanten Weddigen am 18. März 1915 in der Nordsee in der weiteren Umgebung von Scapa Flow beim Angriff auf drei Geschwader der Grand Fleet vom Schlachtschiff Dreadnougth gerammt und versenkt worden war 24 . Da Weddigens Einsatzgebiet und Marschbefehl auf die südirische See beschränkt gewesen war, vermuteten Fachleute wie der Militärhistoriker Arno Spindler und Weddigens 1. Wachoffizier auf U9, Johannes Spiess, daher, daß Weddigen in der Nähe Scapa Flows „noch auf englische Kriegsschiffe zu treffen hoffte" 25 . Was Spindler und Spiess annahmen, wurde für den greisen TrivialSchriftsteller und Kriegslyriker Friedrich Otto Weddigen, der sich der Namensgleichheit mit dem Kommandanten rühmte, zur Gewißheit. In einem Artikel, der in einem Zeitraum von gut zehn Jahren von mehreren deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften gedruckt wurde, schrieb er: „Er [Otto Weddigen] wußte, daß die englische Flotte bei den Orkney-Inseln ihren Standort hatte. Hier wollte Weddigen ihr den schwersten Schlag versetzen. [...] Und so unternahm er am 18. März 1915 mit ,U29' einen Angriff auf die bei Scapa Flow, dem britischen Stützpunkt, versammelte britische Flotte" 26 . Die endgültige Verbindung der Mythen Weddigens und der Selbstversenkung der deutschen Flotte von 1919 stellte schließlich der Journalist Hans Schwarz van Berk in der 1928 von Ernst Jünger herausgegebenen Anthologie „Die Unvergessenen" vor. Der spätere Goebbels-Intimus Schwarz van Berk 27 ließ Weddigen nach Scapa Flow einfahren und beim Angriff untergehen. Schwarz van Berk beendete die Legende folgendermaßen:
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Die Torpedos von Scapa Flow, in: Völkischer Beobachter, 18. 10. 1939, Nr. 291. Herzog zufolge versank Weddigen auf 5 8 ° 2 0 ' Ν - 0 0 ° 5 7 Ό nordwestlich vom Morray Firth. Vgl. Herzog, V o r 50 Jahren, S. 275. Spiess, Panzerkreuzer, S. 48 f.; ders., U-Boot-Abenteuer, S. 57; Spindler, Unternehmung. Friedrich Otto Weddigen, Kapitänleutnant Otto Weddigens Heldentod bei Scapa Flow, in: Deutsche Tageszeitung, 8. 11. 1919; ders., Weddigens Heldentod, in: Wochenschrift der Marine-Offizier-Hilfe 1 (1919), S. 382; ders., Otto Weddigens Heldentod, in: Neue Westfälische Volkszeitung, 18. 3. 1925, Nr. 65; ders., Otto Weddigens Heldentod, in: Herforder Heimatblatt 4 (1925) 3, S. 9; ders., Eines deutschen Seemannes Heldentod, in: Völkischer Beobachter, 1./2. 3. 1931. Ein Portrait Schwarz van Berks, in: Boelcke (Hrsg.), Kriegspropaganda, S. 1 1 0 - 1 1 4 .
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„U29 versank fast auf den Grund von Scapa Flow. Uns will dieses Ende heute bedeutsam erscheinen und dem Zufall entrückt. Der Vorstürmer der Flotte ging ihr voran auch im Untergang. Er bestimmte noch dieses Ende. Über seinem zerbrochenen stählernen Sarg wurden die entwaffneten deutschen Schiffe zusammengetrieben. In dieser Stunde der Verschacherung fand sie sich wieder. Weddigens Geist stieg aus der Tiefe und befahl den Kameraden die Ehre. Scapa Flow erhielt seinen ewigen Namen" 2 8 . Schwarz van Berk hatte durch diese Verknüpfung ein Wunschbild, wenn nicht einen Imperativ für die deutsche U-Boot-Waffe formuliert. Die seit 1919 mit dem Deutungsmuster „Weddigen" verbundene und von den Lesern geteilte Handlungsanweisung, heimlich mit dem U-Boot in Scapa Flow einzufahren und nun erfolgreich die englische Flotte zu torpedieren, affirmierten weitere Artikel, die über die während des Ersten Weltkriegs gescheiterten Versuche deutscher U-Boote, nach Scapa Flow einzufahren, berichteten 29 . Der 1939 gefaßte Beschluß der Seekriegsleitung, Prien mit der „Sonderunternehmung ,P'" zu betrauen, spekulierte auf die im Erfolgsfalle zu erwartende propagandistische Wirkung. Selbst der Verlust des Bootes nebst der Mannschaft hätte immer noch zu einem tragischen Heldenstück gereicht. So aber konnte die sorgfältig geplante Operation, über die mit „Rücksicht auf die aussergewöhnliche Bedeutung [...] strengste Geheimhaltung" selbst noch während der Rückkehr Priens angeordnet wurde - man wollte einen lebenden „Helden" feiern - als „herrlicher Erfolg" gepriesen werden 30 . Der aus NS-Perspektive ideale politische Offizier erfüllte mit seinem Handeln in Scapa Flow einen intergenerationellen Auftrag, löste ein durch Kriegsniederlage und Revolution erlittenes Trauma der älteren Generation. Zugespitzt formuliert: Prien hatte auf der symbolischen Ebene eine Frage der Ehre positiv gelöst, die durch den verlorenen Ersten Weltkrieg zunächst negativ beantwortet worden war. Zudem war faktisch ein Erfolg an dem O r t gelungen, der bis dahin das Symbol deutscher Niederlagen gewesen war. Die zwischen 1914 und 1919 entstandenen Mythen „Weddigen" und „Scapa Flow" leiteten die Wahrnehmung und Konstruktion des „Helden" Günther Prien an. Weitere substantielle strukturelle Komponenten des Deutungsmusters, die bereits auf die Zeit des Kaiserreichs zurückgingen, sollen im folgenden gezeigt werden. Die unbedingte Opferbereitschaft des „Helden" für die Gemeinschaft sowie seine charismatische Führerbegabung waren ebensowenig eine NS-typische Innovation, wie das ambivalente Verhältnis gegenüber dem weiblichen Geschlecht.
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Schwarz van Berk, O t t o Weddigen, S. 381. Spindler, Scapa Flow, S. 27-38. Rahn/Schreiber (Hrsg.), Kriegstagebuch, A, 2, S. 97, 117, 130. Siehe auch Hinrichs, Prien, S. 381-386.
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II. „Wir müssen sterbefreudiger werden" 3 1 - Der opferbereite „Held" als charismatischer Führer und Kamerad Die in den Texten über die „Helden" entworfenen Gesellschaftsbilder sind ein substantieller Bestandteil der Darstellung. In ihnen wird erstens eine ideale Gesellschaftsform und zweitens das Verhältnis des „Helden" zu ihr beschrieben. Der „Held" ist dadurch definiert, daß er einen Dienst für ein Kollektiv leistet. Die Art und Weise dieses Dienstes und seine Voraussetzungen erlauben weitere Differenzierungen für den Typus des Kriegshelden 3 2 . Während der Feldherr aus einer herausgehobenen sozialen Position handelt und mit vielerlei Ressourcen ausgestattet ist, leistet der Soldat, der den Heldentod stirbt, das existentielle Engagement par excellence für den Staat. Das Feldherrentum stellt ein exklusives Heldentum dar, dagegen ist der zweite Typus, der sterbende „Held" inklusiv. D a mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts jeder Staatsbürger den „Heldentod" gewärtigen mußte, war die Deutung des „Heldentods" besonders umstritten. Fraglich war nämlich erstens, für welche Gesellschaftsform der „Held" gestorben war. Verband er, wie das ζ. B. bei Theodor Körner 1813 während der Befreiungskriege der Fall gewesen war, mit seiner tödlich endenden Einsatzbereitschaft liberales Ideengut und die Hoffnung auf eine konstitutionelle Monarchie innerhalb der geeinten Nation, oder verteidigte er eine ständische Gesellschaft? Zweitens war aber auch von Belang, in welchem Verhältnis der Einzelne zu der als ideal betrachteten Sozietät stand. Da „Helden" als Vorbilder fungierten, war ihr persönliches Beispiel gefragt. Gab sich der „Held" dem Staat vollkommen hin oder bewahrte er ihm gegenüber Bereiche, die dem Zugriff äußerer Gewalt entzogen waren? Diese Frage konnte Günther Prien eindeutig beantworten. Die nach seinem Tod verfaßte Biographie leitete auf der ersten Seite der Satz an: „Das aber worauf es ankommt unter Männern, ist allein, das Herz eines Kämpfers zu haben und sich selbst vergessen zu können um der Sache willen, der man dient" 3 3 . Selbstverneinung, gepaart mit absoluter Hingabe, war die Kardinaltugend der „Helden". Anderen Figuren, wie etwa dem Flieger Manfred von Richthofen oder Weddigen, wurden ähnliche Bekenntnisse zugeschrieben. Karl Bodenschatz, während des Ersten Weltkriegs Adjutant in dem Geschwader, das Richthofen, später Göring kommandierten, und nach 1933 die rechte Hand Görings im Luftfahrtministerium, resümierte über das Testament Richthofens: „Ein wahrhaft soldatisches Vermächtnis. Nichts steht darin, was sein persönliches Dasein betrifft. [ . . . ] Kein weicher Blick nach rückwärts, zur Mutter, zum Vater, zu den Brüdern. Es braucht nichts geordnet werden in seinem privaten Leben.
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So lautete das Fazit der Rede von Feldbischof D o h r m a n n bei der Langemarck-Feier 1934 in Berlin. Langemarck-Feier. Alter und Jugend bewahren das Gedächtnis, in: Kreuz-Zeitung, 12. 11. 1934. Als weiterer T y p des Kriegshelden wären lebende bzw. überlebende Soldaten zu nennen, die aufgrund ihnen zugeschriebener „Heldentaten" geehrt wurden. Dieses „Heldentum" unterscheidet sich jedoch nicht von den beiden hier erwähnten Typen und wird außerdem nicht in dem großen Umfang thematisiert, wie der Typus des sterbenden Helden im Rahmen des politischen Totenkults. Prien, Weg, S. 188 f.
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Er hatte kein privates Leben. Sein Leben gehörte ohne Umstände, ohne Vorbehalt, ohne Rücksicht dem Vaterland." Ahnliches unterstellte der Trivialschriftsteller Alfred Becker dem Kapitänleutnant Weddigen: „Das Leben ist nicht das Höchste, sondern sein freudiger Einsatz für die große Gemeinschaft verleiht ihm erst den letzten und schönsten Adel" 34 . Daß jedoch dieser Topos der uneingeschränkten Hingabe erst für den Nationalsozialismus typisch war, darf füglich bezweifelt werden. Bereits 1913 proklamierten Texte, die den lOOjährigen Todestag Theodor Körners feierten, den Opfertod als das höchste Ziel und die Erfüllung des „Helden". „Es gibt keine größere Bürgschaft nationaler und menschlicher Größe", hieß es in der liberalen „Vossischen Zeitung", „als die opferwillige Hingebung, die das Leben für das Heil der Gesamtheit einsetzt" 35 . Noch 1933 erschien dem „Völkischen Beobachter" ein Kapitelausschnitt der Körner-Biographie Karl Bergers aus dem Jahre 1912 noch nicht veraltet 36 . Leitmotiv dieses Textes war das Körnerzitat: „Zum Opfertode für die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut". Die „ergreifende Schilderung, wie Theodor Körner sich zur Stellung als Kriegsfreiwilliger entschloß" 37 , beschrieb einen jungen Mann, der sämtliche affektiven Bindungen zu anderen Personen zurückstellte, um für die Nation kämpfen und sterben zu dürfen. Signifikant ist an diesen Texten, daß hier eine ausdrückliche Opposition gegenüber dem bürgerlichen Bildungsideal geübt wurde. „Die trockenen Bücherstudien waren nichts für den Jüngling, dessen Geist auf den leichten Schwingen der Phantasie dahinflog" 38 . Gerade aber die Bildung war im 19. Jahrhundert ein Bereich gewesen, der sich dem gesellschaftlichen Zugriff entzog. Bürgerlichkeit, verstanden als Spannungsfeld von Individualität und Vergesellschaftung, fußte zentral auf dem Bildungsbegriff, wenn es um die Entwicklung von Individualität ging 39 . Diese mußte auch gegen die gesellschaftlichen Forderungen erworben und durchgesetzt werden. Wenn Christian Gottfried Körner von seinem Sohn die „vollständige Ausbildung eines veredelten Menschen" forderte 40 , implizierte dies sowohl die Autonomie des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft als auch die Bereitschaft, für die Gesellschaft zu handeln, mithin sein Leben im Krieg einzusetzen. Theodor Körner war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein aus Sicht seiner Biographen ein „Held", weil er das Postulat, ein Bürger zu werden, erfüllt hatte. Von diesem bürgerlichen Projekt distanzierten sich die Autoren, die 1913 über ihn schrieben. Die zivilen Tugenden wurden zunehmend ignoriert, die militärischen präferiert. Bezeichnend für diesen Perspektiven-
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Bodenschatz, Richthofen, S. 21; Becker, Kapitänleutnant, S. 224. Theodor Körner. Zum hundertsten Todestag, in: Vossische Zeitung, 24. 8. 1913, Nr. 428. Berger, Theodor Körner. Den dort auf den Seiten 1 9 4 - 1 9 9 enthaltenen Text veröffentlichte der Völkische Beobachter, 31. 1. 1933, Nr. 31, unter dem Titel „Ein Bekenntnis Theodor Körners: ,Zum Opfertode für die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut'."
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Theodor Körner. Zum 26. August, seinem 100. Todestage, in: Dresdner Journal, 25. 8. 1913, Nr. 196. Bollenbeck, Bildung; Hettling, Bürgerlichkeit. Körner, Werke, 1, S. 31.
D i e „ H e l d e n der W e h r m a c h t " - K o n s t r u k t i o n u n d R e z e p t i o n
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Wechsel war eine während des Ersten Weltkriegs erschienene Biographie mit dem Titel „Theodor Körner. Der schwarze Jäger". Sie rekurrierte nicht mehr auf den Dichter, wie dies bis dahin üblich gewesen war, sondern hatte nur noch den Soldaten Theodor Körner im Blick 41 . Nach 1933 artikulierte sich die bereits zuvor entwickelte Kritik am bürgerlichen Bildungsgedanken im besonderen und an der Vorstellung von Bürgerlichkeit im allgemeinen als Ressentiment 42 . Der Autobiographie Priens zufolge war „der dicke Student [...] schon im vierzehnten Semester. Bis mittags lag er im Bett. Er sagte, er könne am besten im Liegen arbeiten. Durch die Tür hörte man sein Schnarchen" 43 . Verglichen mit dem Elend der Familie Prien erschien der Student als dekadent, die Tüchtigkeit und Leidensbereitschaft des „Helden" und Soldaten Prien hingegen vorbildlich. Friedrich Friesen konnte mit seinem Arbeitgeber, dem Wissenschaftler Alexander von Humboldt, nicht über die „Sorge um das Vaterland" angesichts der französischen Besatzung reden, „der war zu weltbürgerlich gesinnt" 44 . Mit der Ignoranz und Selbstbezogenheit der bürgerlichen Intellektuellen gegenüber dem Alltag und den Nöten der Gemeinschaft kontrastierte die Einsatz- und Opferbereitschaft des soldatischen „Helden" für die Gemeinschaft. Jegliche Attitüde, die ein Handeln andeutete, das nicht der Gemeinschaft galt, war ihnen fremd. Fazit: Obwohl sich der NS-Held dezidiert antibürgerlich gerierte, war er immer noch der Problemstellung verpflichtet, die bereits die um 1913 verfaßten Texte gekennzeichnet hatten, nämlich dem bürgerlichen einen militärisch-heroischen Lebensentwurf entgegenzusetzen. Im Idealfall war der „Held" ein unbedingt loyaler Soldat, der individuelle Bedürfnisse nicht kannte und Erfüllung nur im Dienst für das Kollektiv fand. Wenn er als solcher starb, wie etwa Prien, dann war es gelungen, „früh zu vollenden, was wenigen gegeben ist: das ganze Leben eines großen, klaren Soldaten durch Werden, Ruhm und Tod" 45 . Untersucht man die bezeichneten sozialen Formationen, für welche die „Helden" zu sterben bereit waren, so fällt auf, daß hier unterschiedliche Begriffe gewählt wurden. Vaterland, Nation, oder, jeweils als national bzw. deutsch etikettiert, Gesamtheit und Gemeinschaft lauten die Bezeichnungen. Diese begrifflichen Differenzen werden aufgehoben, wenn man die in den Texten dominierende soziale Gruppe, das Militär, untersucht. Der „Held" changiert in diesem idealen sozialen Gefüge zwischen zwei entgegengesetzten Polen. Zum einen ist er der anerkannte und souveräne Führer, zum anderen der Kamerad. Dies zeigt sich schon in der Jugendzeit der „Helden": „Seine Gespielen bewundern ihn, erkennen aber bald seine Macht an, und in fröhlicher Kameradschaft vergeht manche schöne Stunde eifrigen Spielens." Uber Friesen heißt es: „Schon damals zeigte es sich, daß in dem Jungen eine Führernatur steckte, obgleich er den Kameraden gegenüber eine gewisse Scheu an den Tag legte. Diese aber sahen zu
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Jocham, Körner. Siehe auch das Gespräch Hitlers mit dem Schriftsteller Hanns Johst über den Begriff des Bürgers, in: Domarus (Hrsg.), Hitler, I, 1, S. 3 4 9 - 3 5 1 . Prien, Weg, S. 6. Braun, Friesen, S. 6. Frank, Prien, S. 279.
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ihm auf; ja sie staunten ihn wegen seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten an." Richthofen verschafften „neben seinem fliegerischen Können [...] seine menschlichen Eigenschaften ein unbedingtes Ubergewicht über seine ihm unterstellten Kameraden" 46 . Drei Faktoren begründen aus Sicht der zeitgenössischen Autoren die unangefochtene Position der „Helden". Zum einen die überlegene militärische Begabung, hinzu kommt jedoch die Anziehungskraft und charismatische Aura des „Helden" und schließlich seine Fähigkeit, als Kamerad gerade diese Überlegenheit zu neutralisieren, mithin seine Herrschaft über die Kameraden erträglich zu gestalten 47 . Charisma, verstanden im Sinne Max Webers „als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit [...], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als .Führer' gewertet wird" 48 , zeigt sich insbesondere in der Wirkung auf seine Umgebung. Typisch ist die charismatische Konstellation, die den „Helden" als Mittelpunkt der ihm umgebenden Figuren ausweist, so daß sich seine Umgebung uneingeschränkt positiv auf ihn bezieht. So trat Theodor Körner „in den Kreis, jubelnd begrüßt von allen Seiten". Friesen war der „unsichtbare Mittelpunkt jeder Gesellschaft". Außerdem überträgt der „Held" seine Kraft auf seine Umgebung und führt sie so zum Erfolg. Richthofen und Boelke wiesen als „Lichtgestalten [...] den Weg der deutschen Kampfflieger" und begabten sie mit der „Kraft des Willens und des Geistes, auf ihm erfolgreich fortzuschreiten". Prien wird in den Zeitungsberichten als Zentrum und Ausgangspunkt jeglichen Handelns beschrieben. Er verlieh der „gesamte[n] Mannschaft ein so starkes Vertrauen zu ihrem Kapitän, daß seine Uberzeugung, das siegreiche U-Boot werde auch weiterhin mit gleichen Erfolgen für Deutschlands Ehre und Waffenruhm zur See tätig sein, auf einer festen unzerstörbaren Grundlage liegt" 49 . Und dennoch ist der „Held" seiner Umgebung nicht absolut enthoben. Als „Kamerad" ist Richthofen „ohne jede Spur von Überheblichkeit", sorgt Weddigen für seine ihm Untergebenen „wie ein Vater" und „trägt die Verantwortung für ihr Leben mit seltenem Ernst. Aber auch die ihm gleichgestellten Kameraden haben ihn sehr gern. Er ist der beste, treueste Kamerad, ein ganzer Kerl, auf den man sich immer verlassen kann." Eine Darstellung des „Helden", die seine ihm umgebenden Soldaten als gänzlich unterlegen und ohne das Bewußtsein für den Wert eigener Fähigkeiten beschrieben hätte, war schließlich 46
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Colell, Weddigen, S. 66; Braun, Friesen, S. 2; Schreiber, Flieger, Soldat und Mensch großen Stils. Zum 25. Todestag Manfred Freiherr von Richthofens, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 20. 4. 1943. Weitere Überlegungen zum charismatischen militärischen Führer bei Kroener, Veränderungen, S. 275 f. Zum Begriff der Kameradschaft siehe Kühne, Krieg. Weber, Wirtschaft, S. 140. Ernst Sprockhoff, Theodor K ö r n e r in Wöbbelin, in: Ludwigsluster Tageblatt, 26. 8. 1937; V. Fr., Ein Frühvollendeter. Friedrich Friesen, gefallen v o r 125 Jahren, in: Frankfurter Zeitung, 16. 3. 1939; Schepelmann, Boelcke und Richthofen, Gedanken zum 12. Januar, in: Berliner Börsenzeitung, 9. 1. 1936, Nr. 13; „Unvergeßlich für mein ganzes Leben". U - B o o t - K o m m a n d a n t berichtet über den erfolgreichen Angriff im Kriegshafen Scapa Flow, in: Völkischer Beobachter, 19. 10. 1939, Nr. 292.
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aus militärtaktischen Gründen nicht gewünscht. Denn eine „gute Wehrmacht ist niemals Masse", schrieb der Generalleutnant a.D. von Metzsch im Hinblick auf Richthofen. Dessen Beispiel solle den einzelnen Soldaten zu selbständiger „Leistung" beflügeln. Die sei nur möglich, so Metzsch, „wenn die Truppe aus starken Einzelpersönlichkeiten besteht" und die „Armee nicht .Masse', sondern eine grosse Einheit hochwertiger Einzelkämpfer ist". Deshalb dürfe das Vorbild und „Führertum" des „Helden" keine personale Bindung nach sich ziehen, sondern die Loyalität müsse „der Führereinheit, dem Führertum, also auch dem ungekannten Führer, der anonymen Führung gelten" 50 . Metzsch beschrieb damit eine Wirkungsabsicht der stereotyp präsentierten Erscheinungsformen des Heldenkults. Auch hier galt das Führerprinzip. Die Diagnose Norbert Freis, daß durch das Führerprinzip im politischen System des Nationalsozialismus, auf „Abertausende von ehrenamtlichen Funktionären [7] so ein Quentchen von der Macht des »Führers', ein winziger Lichtstrahl von dessen Glanz" fiel, kann auch auf die vom „Helden" gestiftete Gemeinschaft übertragen werden: Im Idealfall sollte jeder Soldat selbständig handeln, sich bereitwillig opfern und unterordnen. Beim „Helden" beschränkte sich der „Glanz" nicht auf eine Funktionärselite, sondern konnte von jedem Soldaten qua innerer Einstellung und den daraus folgenden Taten erworben werden. Jeder sollte daher durch die Vorstellung vom Ruhm motiviert sein, ein bißchen ein „Held" sein zu wollen 51 . Der im Nationalsozialismus inszenierte Nexus von gesellschaftspolitisch realisiertem Führerprinzip und heldischer Führerkameradschaft bezeichnet auch die Differenz gegenüber den schon vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weimarer Republik entworfenen Szenarien. Auch hier waren die Kameradschaftlichkeit des „Helden", sein Charisma und seine ihn zum Führer qualifizierenden überragenden Qualitäten in Zeitungsartikeln bereits präsent. 1913 „leuchtet die Gestalt dieses Heldenjünglings [Theodor Körner] in besonderem Glänze", ist er der „Führer der Begeisterung, der Genius des Freiheitskampfes" und der „Liebling der Soldaten". Und beim Gedenkgottesdienst für Richthofen in Berlin 1925 feierte der Feldpropst der Reichswehr, Schlegel, in Richthofen den „Heldengeist, der uns aufrüttelt", der „Kraft" gab, um mit „stahlhartem Willen zum Vaterland" zu gelangen 52 . Bis 1933 äußerten die Autoren allerdings nur Erwartungen und kritisierten die erstarrten Strukturen des Kaiserreichs oder die Republik, danach aber legitimierte und konstituierte das Heldenbild die Struktur des politischen Systems des Nationalsozialismus. Nun, so behauptete die NS-Propaganda, standen heldenhafte Führer an der Spitze des Staates,
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Schreiber, Flieger, Soldat und Mensch großen Stils. Zum 25. Todestag Manfred Freiherr von Richthofens, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 20. 4. 1943; Colell, Weddingen, S. 68; Metzsch, Richthofen als Mahnung, in: Berliner Tageblatt, 21. 4. 1938, Nr. 185/186. Frei, Führerstaat, S. 107. Theodor Körner. Zum 100. Geburtstag seines Heldentodes: 26. August, in: Germania, 25. 8. 1913, Nr. 393; A l f r e d Keller, Dichter und Held. Eine Studie zum 100. Todestage Theodor Körners, in: Neue Preußische Zeitung, 26. 8. 1913, Nr. 397; Zu Theodor K ö r ners Todestag, in: Kölner Zeitung, 26. 8. 1913, Nr. 965. Die Beisetzung Richthofens, in: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung, 2 1 . 11. 1925, Nr. 545. Zur Führererwartung in der Weimarer Republik siehe Sontheimer, Denken, S. 2 1 4 - 2 2 2 .
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die im Geiste der Helden handelten. Doch bevor darauf näher eingegangen werden kann, muß noch das Thema Männlichkeit als weiteres maßgebliches Konstituens des Helden beschrieben werden.
III. Heroische Männer und gefährliche Frauen Das Deutungsmuster des „Helden" bot auch Verhaltensregeln für den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Obwohl die soldatische Männergemeinschaft der eigentliche soziale Ort des „Helden", mithin die andere, weibliche Hälfte der Bevölkerung davon ausgeschlossen war, hatten die „Helden" auch Mütter, Ehefrauen oder Geliebte. Diese konnten in den Erzählungen nicht gänzlich ausgeblendet werden, sie waren sogar unverzichtbar. Denn der Typus des männlich-heroischen Geschlechtscharakters ergab sich erst in der spannungsreichen Beziehung zum weiblichen Gegenüber. Überdies gehörten auch Frauen zu den Leserinnen der Texte über die „Helden", sollten sie doch erfahren, welche Rollen sie gegenüber den „Helden" zu spielen hatten. Ein auch für die Frauen der NS-Gesellschaft bestehendes Problem thematisierte bereits Minna Körner 1813 in einem Brief an ihren Sohn Theodor, wenn sie bekannte, „daß ich eine Egoistin bin, denn da ich Dich entfernt von diesen Übeln [den Krieg R.S.] weiß und glücklich und froh" bin, „so habe ich keine Angst gehabt". Als Ehefrauen und Mütter von Soldaten mußten sie ihre Familienangehörigen in den Krieg ziehen lassen und dies mußten sie nicht nur akzeptieren, sondern auch bejahen. Dann konnten auch sie, so Hermann Göring, „kommenden Geschlechtern als Vorbild dienen". Wenn Göring in seinem Geleitwort für das „Kriegstagebuch" der Kunigunde von Richthofen, der Mutter Manfred von Richthofens, behauptete, daß „in dankbarer Ehrfurcht... sich das deutsche Volk vor den Müttern, den Frauen des großen Krieges, die im gläubigen Vertrauen für Deutschlands Größe, Freiheit und Stärke ihre Männer und Söhne selbstlos für Reich und Volk dahingaben", verneige, so propagierte er gleichzeitig die auch von den Frauen erwartete Kardinaltugend, Selbstlosigkeit und Hingabe gegenüber dem männlichen Handeln und der Nation 53 . Mit zunehmender Kriegsdauer mußte diese Haltung offensichtlich immer stärker betont werden. Der 100. Todestag Minna Körners am 20. August 1943 war daher ein guter Anlaß, die Rolle der trauernden, aber gleichwohl gefaßten Mutter und Ehefrau zu verdeutlichen. Minna Körner konnte „den Schmerz kaum fassen", als ihre beiden Kinder innerhalb von zwei Jahren starben. „Aber sie fühlt die Verpflichtung zu stiller und gefaßter Haltung, die aus allen Werken ihres Sohnes spricht" 54 . Das Beispiel Minna Körners führte die im Nationalsozialismus erwünschte „stolze Trauer" vor 55 . Der Tod eines Angehörigen stellte nicht eine ausweglose aporetische Erfahrung dar, die in Trauer und Fassungslosigkeit kulminierte, sondern wurde durch den Terminus „Heldentod" als per se sinnvolles Geschehen beschrieben. Der „Sinn des Todes" bedeutete dabei, daß Wert und 53 54 55
Richthofen, Kriegstagebuch, S. 5. St. Meyer, Die Kupferstechermamsell, in: Berliner Börsenzeitung, 20. 8. 1943. Latzel, Kriegsbriefe, S.245 ff.; Behrenbeck, Kult, S. 5 0 7 - 5 3 2 .
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Zweck des Sterbens bezeichnet waren. Der „Held" starb für den absolut gesetzten Wert der Nation und diente dem Zweck, den Krieg erfolgreich abzuschließen 56 . Infolgedessen ließ auch der Tod ihrer letzten beiden Angehörigen, des Ehemannes und der Schwester, Minna Körner nicht daran zweifeln, ein „langes, beglücktes Leben" geführt zu haben 57 . Wenn sie auch nicht selbst ihr Leben hingeben konnten, sondern nur das ihrer Angehörigen, sollten die Frauen eine passive Rolle nicht einnehmen. Der Ort und Bestimmung des Handelns war die Sorge um die Familie und im Kriegsfall auch der Einsatz als Pflegerin des Mannes. Hitlers Bemerkung auf dem Reichsparteitag 1935 gegenüber der NS-Frauenschaft, „wir sind bereit zu kämpfen, doch wenn wir verwundet sind, müßt ihr uns pflegen", gab die Erwartungen und das Idealbild der Frau als Krankenpflegerin wieder 58 . Das weibliche Pendant zum Heldenpart des Mannes hatte in Deutschland schon seit den 1860er Jahren mit der Gründung der Frauenvereine vom Roten Kreuz institutionell Fuß gefaßt. Die ideelle Verankerung der weiblichen Nebenrolle zum männlichen „Helden" illustriert die Freikorpsliteratur der 20er Jahre 59 . Das Kriegstagebuch Kunigunde von Richthofens stellte insoweit ein Handbuch für die deutsche Frau dar. So erfüllten die Richthofens beiderlei Geschlechts exemplarisch die vorgegebenen Geschlechterrollen. Die Mutter bejahte den Einsatz ihrer „Helden"-Söhne, pflegte diese als sie verwundet waren, die Tochter Ilse von Richthofen diente als Rot-Kreuz-Schwester. Sätze wie, „Ilse will unbedingt zufassen, wo es nur geht, das liegt in ihrer tätigen und frohen Natur", mochten einerseits die authentischen Beobachtungen einer Mutter wiedergeben, andererseits konnten sie als Vorbild dienen 60 . Eine weitere Tugend der Frau war ihre Treue gegenüber dem im Felde stehenden Geliebten oder Ehegatten. In einer Novelle über „Theodor Körner in Wöbbelin" hielt sich Ernst Sprockhoff nicht an die biographischen Schemata des 19. Jahrhunderts, in denen die Braut Körners in Wien zur treuen Geliebten stilisiert wurde, sondern schilderte die fiktive Szene zwischen der Wöbbelinerin Toni Beier und Körner. Kein Zweifel, daß ihr unter den „schneidigen Gestalten mit den jugendlich frischen Gesichtern" vor allem der Leutnant Körner aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung besonders gefiel. Bislang hatte die stolze Frau jeden Mann zurückgewiesen, erst recht die französischen Offiziere, denn „sie war Deutsche, sie haßte die Feinde". Körner aber gestand sie ihre Liebe und ewige Treue. Zumindest im 56
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Es ist methodisch höchst problematisch, den Begriff „Sinn" als systematische Kategorie zu verwenden, wie es derzeit allerorten geschieht. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Terminus „Sinn" spätestens nach dem Ersten Weltkrieg als Quellenbegriff omnipräsent ist und u. a. immer die Fragen nach Wert, Zweck des Todes und den Intentionen der Sterbenden thematisiert. Typisch etwa Max Wundt, Vom Sinn des Todes unserer Helden, in: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung, 8. 8. 1920, Nr. 380; zur Geschichte des Sinnbegriffs siehe Stückrath, Sinn. St. Meyer, Die Kupferstechermamsell, in: Berliner Börsenzeitung, 20. 8. 1943. Im gleichen Duktus auch Johannes Günther, Dichterfreundin - Dichtermutter, in: Straßburger Neueste Nachrichten, 20. 8. 1943. Zit. n. Burden, Nation, S. 150 f. Riesenberger, Dienst, S. 28 ff.; Frevert, Nation, S. 166; Theweleit, Männerphantasien, 1, S. 87-145. Richthofen, Kriegstagebuch, S. 12.
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Text realisierte denn Toni Beier die Handlungsanweisung, derer sich die Leser gewiß sein und die Leserinnen umsetzen sollten: auch nach dessen Tode bewahrte sie die Treue. Nach dem Begräbnis Körners unter den Eichen in Wöbbelin ging Toni Beier „jeden Abend, wenn die Dämmerung k a m , . . . zur großen Eiche und stand dort lange still und stumm. - Ich werde Dich nie vergessen Theodor Körner, wie ganz Deutschland Dich nie vergessen wird!" 6 1 Diesen ewig treuen, als Pflegerinnen auftretenden Frauen, die im Gegensatz zu den „Helden" körperlose, mithin geschlechtslose Wesen waren, stand das Bild der weichen und emotionalen, in ihrem Einfluß auf den Mann unberechenbaren Frau entgegen 62 . Ihre erotische Ausstrahlung war für den heroischen Mann ein Verhängnis und beglückende Verführung zugleich: „wenn ein Paar schöner Augen ihm freundlich zugrüßten, ein holdes Mündchen ihm freundlich zulächelte. Sogleich war er berauscht" 63 . Ein richtiger Soldat mußte zwar Härte zeigen und seine Gefühle gegenüber den Frauen beherrschen, andererseits war nicht zu bestreiten, daß die Liebe zu einer Frau auch beflügeln und die Motivation erhöhen konnte. Dieses ambivalente Verhältnis illustrierte der Journalist Alfred Hein, wenn er die letzte Nacht Theodor Körners vor dem tödlich endenden Gefecht in Gadebusch ausmalte und dabei Erotik und Krieg miteinander verknüpfte: „In den wenigen Stunden seines tiefen Schlafs begegnete Theodor Körner noch einmal seiner in Wien zurückgelassenen jungen Braut, der Hofschauspielerin Toni Adamberger, und redete in seltsamer Gedankenverwirrung bald mit ihr, bald mit dem .Schwert an seiner Linken', nicht wissend, wer ihm in seinem glückheiteren Jünglingsfieber mehr ans Herz gewachsen war" 64 . Vorbildlich war Günther Prien. Das Bild seiner Ehefrau hing in der kleinen Koje des Kommandanten. Sie stand jedoch seiner Bestimmung als Soldat nicht im Wege, nur in „Zeiten der Ruhe" warf ihr Mann einen Blick auf das Portrait 65 . Als Prien sich nach einer Bedenkzeit entschied, das Selbstmordkommando nach Scapa Flow zu übernehmen und seinem Vorgesetzten dies mitteilte, ließ sich dieser „schwer in den Schreibtischsessel fallen und greift nach dem Telefonhörer. ,Ich hab's mir eigentlich gedacht', sagt er dabei, ,nur wegen der Heirat hatte ich ein bißchen Angst'" 66 . Auch die Reaktion des Vorgesetzten unterstreicht noch einmal, wie unkalkulierbar Männer offensichtlich wurden, wenn sie emotionale Bezugspunkte außerhalb der Männerkameradschaft pflegten. Insbesondere die mit Weiblichkeit und männermordender Erotik besetzte Nacht konnte Männer sowohl motivieren als auch wehrlos machen und sie ihrer Bestimmung als Soldat entfremden. Deshalb gönnten die Biographen, wie sich am Beispiel Weddigen zeigen läßt, egal ob sie während des Ersten Weltkriegs oder in der NS-Zeit
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Ernst Sprockhoff, Theodor Körner in Wöbbelin, in: Ludwigsluster Tageblatt, 26. 8. 1937; siehe auch G. v. Stigler-Fuchs, Theodor Körners Braut, in: Neues Wiener Tageblatt, 29. 12. 1940. A u c h dazu Theweleit, der anhand der Freikorpsliteratur der bürgerlichen keuschen weißen Krankenschwester die rote Krankenschwester, gleichsam eine femme fatale, entgegenstellt. Ernst Sprockhoff, Theodor Körner in Wöbbelin, in: Ludwigsluster Tageblatt, 26. 8. 1937. Zum 150. Geburtstag Theodor Körners, in: Ludwigsluster Tageblatt, 20./21. 9. 1941. Frank, Prien, S. 56. Prien, Weg, S. 170.
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ihre Texte verfaßten, ihrem „Helden" nach der Hochzeit nur eine Nacht mit seiner Braut. Am Tag nach der Trauung kehrte er in die männliche Gemeinschaft „an Bord zurück: ,U 9' war wieder gefechtsklar" 67 . Aufgrund dieser ambivalenten Rolle der Frau, ihrem potentiell schädlichen wie stimulierenden Einfluß auf den Mann, trat die Familie in den Texten als Sozialisationsinstanz zurück, während diese als bürgerliche Lebensform in den Texten auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine tragende Rolle gespielt hatte. Die „Helden" der NS-Texte wußten schon im Schüleralter, daß sie Soldaten werden wollten, daran konnte auch die weibliche Erziehung nichts ändern. „Schon als kleiner Junge war es sein glühender Wunsch, ein großer Reitergeneral zu werden", erzählte eine Biographie von Richthofen. Ebenso stereotyp hieß es über Weddigen: „Immer hatte sich Otto gewünscht, einmal zur See fahren zu dürfen. Dieses Ziel hatte er dauernd vor Augen. Und er sollte es auch erreichen. Am 10. April 1901 trat Otto Weddigen als Seekadett in die kaiserliche Marine ein" 68 . Dieser soldatischen und damit männlichen Ausbildung wurde die eigentliche Prägekraft zugeschrieben, sie brachte erst den Mann und Soldaten hervor, hier in der Kadettenanstalt wurde man in „gemeinschaftlicher Schule zum Krieg erzogen" 69 . Das Gymnasium als bürgerlicher Hort der Bildungsreligion wurde verschwiegen, denn nicht die prinzipiell unabgeschlossene zweckfreie Bildung, sondern zweckrationale Beherrschung eines militärischen Wissensbestandes war gefragt. Rationalität, methodisches Denken und körperlicher Drill gingen Hand in Hand. Ein Idealbild dafür stellte Friedrich Friesen dar, denn er „kämpfte [...] unermüdlich um die Einheit von Leib, Seele und Geist. Alles zusammen sollte Ausdruck und Kraft des Deutschen sein. Begabt mit einem sehr scharfen Verstände, konnte er darum nie zum Verstandesmenschen werden und nie zum Streber" 70 . Männer verfügten mithin über Eigenschaften, die dem weiblichen Geschlechtscharakter diametral entgegenstanden. Männer waren nervenstark, handelten souverän, autonom und zielbewußt, verfügten dabei über einen „eisernen Willen" und agierten selbst im Kampf methodisch. Emotionale Irritation, Unsicherheit und Unterlegenheit angesichts komplexer, nicht zu übersehender Verhältnisse, das Gefühl der Abhängigkeit von individuell nicht zu steuernden Prozessen, all diese Eigenschaften, welche die Gegensätze der männlichen Charakterzüge darstellten, wurden zum einen als weibliche beschrieben und abgewertet, andererseits aber verwiesen sie auf die negativen Erfahrungen, die Männer und Soldaten in der sich ausdifferenzierenden Industriegesellschaft machten 71 . Das Deutungsmuster des „Helden" war im Hinblick auf die sich dynamisch wandelnde Gesellschaft und die damit einhergehende Auflösung tradierter sozialer Beziehungsmuster und Geschlechterrollen ein Gegenentwurf und bot Orientierung. Die Kameradschaft mit dem und um 67
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Maydorn, Weddigen, S. 149. Vgl. u.a. Weddigen, Unterseebootkrieg, S. 40; Eggstein, Seeheld, S. 12. Schwietzke, Richthofen, S. 6; Becker, Kapitänleutnant, S. 212. Colell, Weddigen, S. 77; Frevert, Militär. Siehe auch das Kapitel „Der Umbau des Leibs in der Kadettenanstalt", in: Theweleit, Männerphantasien, 2. Braun, Friesen, S. 4. Frevert, Aufbrüche, S. 102; Radkau, Ära.
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den „Helden", so suggerierten die Autoren, versprach Sicherheit, denn hier konnten Männer Männer sein, ohne durch Frauen verunsichert zu werden, hier vermittelten klare Hierarchien Transparenz, Erwartungssicherheit und Geborgenheit. Nicht das zivil-familiäre Leben, sondern der Kampf bot die Erfüllung. Deshalb „drängt es ihn [Richthofen] noch einmal zum Kampf an die Front.", bevor er zum Heimaturlaub aufbricht 72 . Nimmt man noch einmal die Entwürfe der Geschlechterrollen in den Blick, die bereits vor 1933 präsent waren, stellte der Nationalsozialismus jedoch nur eine graduelle Innovation dar 73 . Die Stereotypen von der weiblichen Pflegerin und der beglückenden wie gefährlichen attraktiven Frau finden sich auch in den Heldenviten des 19. Jahrhunderts. NS-spezifisch war die homogen ausgestaltete und radikaler konturierte Abgrenzung der Geschlechtercharaktere voneinander. So wurde im Zweifelsfalle die Geliebte auch ganz aus einer Lebensgeschichte verbannt, um nicht mögliche Konfliktzonen zu thematisieren, die die heroische Männlichkeit in Frage stellen konnten 74 . Welche Folgen und Wirkungen dies hatte, soll im letzten Abschnitt diskutiert werden.
IV. „Das deutsche Volk ist ein Volk von Helden geworden" Der Heldenkult zwischen Erwartung und Erfahrung Alter Wein in neuen Schläuchen. Diese Wendung beschreibt in zugespitzter Form die bislang aufgezeigte Beständigkeit des Deutungsmusters des „Helden" während des Nationalsozialismus. Obwohl Neuerungen nicht vernachlässigt werden dürfen, dominierten doch bekannte Muster, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg etabliert waren. Mithin kann nicht von dem originären Typus des NS-Kriegshelden gesprochen werden. Diese Kontinuität des Deutungsmusters war Bedingung für seinen Erfolg in den ersten Jahren des Regimes, aber auch Ursache für seine abnehmende Ausstrahlung in den Kriegsjahren. Gesellschaftspolitisch erwies sich das Deutungsmuster in dreifacher Hinsicht als erfolgreich. Es trug erstens zur sozialen und politischen Integration des Regimes bei, zweitens stabilisierte es den Führermythos und damit die Legitimität des NS-Regimes, drittens stellte es eine wichtige Form der geistigen Mobilmachung für den Krieg dar. Öffentliche Feiern waren insbesondere in der Anfangszeit des Regimes geeignet, auf lokaler Ebene das Regime zu stützen und im Fest die ständig beschworene Volksgemeinschaft zu erleben, dazu gehörten auch die Feste für die nationalen Kriegshelden. Hier wurden die neuen verbindenden Werte des Regimes gemeinsam erlebt und beschworen 75 . Die konservativen bürgerlichen Honoratioren feierten gemeinsam mit den Funktionären der NSDAP den neuen natio72 73
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Müller-Rüdersdorf, Richthofen, S. 364. Analyse und Überblick zur Entwicklung der Vorstellungen vom männlichen und weiblichen Geschlechtscharakter bietet Frevert, Mann, S. 1 3 - 1 3 2 . Typisch die Hitler-Rede vor der NS-Frauenschaft auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 8 . 9 . 1 9 3 4 , in: Domarus (Hrsg.), Hitler, I, 1, S. 4 4 9 ^ 5 2 . Herrmann, Körner. Freitag, Führermythos, S. 11, 19 ff.
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nalen Aufbruch. Ein gutes Beispiel ist die Weddigen-Feier in der Geburtsstadt des Kommandanten, Herford, am 22. September 1934, zu der die Familie die überlebenden Besatzungsmitglieder von U 9 eingeladen hatte 76 . Für die bürgerlichen Honoratioren stand bei dieser Feier die Familie Weddigen, die das Wirtschaftsbürgertum der Kleinstadt repräsentierte und mit Eduard Weddigen, dem Bruder Otto Weddigens, zudem einen ehemaligen Marine-Offizier aufbot. Ergänzung erfuhr die bürgerliche Fraktion durch den Admiral Sievers als Vorsitzenden der Marine-Kameradschaft „Otto Weddigen" und durch Heinrich Richter, den Pfarrer der Neustädter Kirchengemeinde und Begründer der Vaterlandspartei in Herford, der 1915 auch eine Weddigen-Biographie veröffentlicht hatte. Außerdem trat als Nachfolgeorganisation des „Stahlhelm" der „Nationalsozialistische Deutsche Front-Kämpfer-Bund" an, die NSDAP vertraten der SA-Marinesturm 9 und der Oberbürgermeister Keim. Eduard Weddigen formulierte die gemeinsamen Positionen dieses breiten Bündnisses, die zugleich auch wesentliche integrative Elemente des Heldenkultes darstellten: „Weil alle auf dem U-Boot erfüllt waren von einem Willen, von einem Geist, von dem Geist der Opferfreudigkeit, der Einsatzbereitschaft, der Zucht, der Ordnung und der Disziplin, allerdings verbunden auch mit dem Geist der Kameradschaft," sei der Erfolg von U 9 möglich gewesen 77 . Im Unterschied zu Helden-Feiern des Kaiserreichs blieb es nicht nur bei den durch Offiziere oder bürgerliche Honoratioren verbreiteten Phrasen von der Kameradschaft und ihren egalitären Momenten. Erstmals kamen auch, wie z.B. in Herford, auch untere Dienstränge, respektive soziale Schichten, nämlich zwei Matrosen der Besatzung zu Wort. Wie wichtig dieser Fest-Beitrag war, zeigt eine kurze Notiz über das Fest in der Zeitschrift des Marine-OffizierVerbandes, die besonders die Treuebekundungen der Matrosen hervorhob 78 . Die bisherige Dominanz der bürgerlich-konservativen Honoratioren wich der Vorstellung von der Volksgemeinschaft, die Klassen und Hierarchien transzendierte. Die repräsentative Einbeziehung unterbürgerlicher Schichten in den lokalen Heldenkult, hatte auf überregionaler Ebene ihr Pendant in der Gestaltung des Langemarck-Mythos. Bis 1934 hatten Teile der Jugendbewegung und der Studentenschaft, die Hochschulen und die Wehrmacht die Auslegung des M y thos von Langemarck geprägt. Infolgedessen verband man mit dem Namen Langemarck bis in die 30er Jahre hinein vor allem die „in den Heldentod gegangenen Studenten" 79 . Dies änderte sich 1934, als die Hitler-Jugend die Langemarck-Spende von der Deutschen Studentenschaft übernahm 8 0 . Fortan unterblieben bei der Nennung des Namens Langemarck die Hinweise auf die bürgerliche Klientel, nunmehr war Langemarck ein Beispiel für den Opfergang der gesamten Jugend 8 1 . Es blieb jedoch nicht bei dieser Sprachkosmetik. Nachdem
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Weddigen Gedenkfeiern, in: Kreuz-Zeitung, 24. 9. 1934, Nr. 223. Kameraden Otto Weddigens in Herford, in: Herforder Kreisblatt, 24. 9. 1934. Weddigen. Gedenkfeier Herford, in: M.O.V. 16 (1934)19, S. 279. Weihe des ersten Langemarck-Denkmals, in: Frankfurter Zeitung 7. 9. 1933 Nr. 666. Das Erbe von Langemarck. Deutschlands junge Mannschaft übernimmt den Ehrenfriedhof, in: Kreuz-Zeitung, 10. 11. 1934, Nr. 264. Unruh, Langemarck, S. 6 1 - 6 8 ; Ketelsen, Jugend, S. 84 ff.; Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 45-58.
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1936 in Heidelberg und Königsberg erste Kurse eingerichtet worden waren, wurde 1938 reichsweit das Langemarck-Studium mit dem Ziel propagiert, „die Schranken vor der Hochschule für Jungarbeiter und Jungbauern entschlossen und doch verantwortungsbewußt fortzuräumen". Nicht die „Uberbewertung des Akademikertums, sondern die auf der Volksgemeinschaft beruhende Leistungsgemeinschaft" sollte erreicht werden, denn „Studenten und Arbeiter leben und arbeiten gemeinsam in einer Front für Deutschland - wie sie einst in Langemarck gemeinsam für Deutschland starben" 82 . Die Herforder Feier zu Ehren des „Helden" Weddigen war noch in einem weiteren Punkt paradigmatisch. Der Heldenkult trug auch zur Herrschaftslegitimation des NS-Regimes bei, indem er den Führermythos stabilisierte 83 . In seiner Rede betonte Eduard Weddigen wie alle anderen Redner auch, daß der neue Geist des Aufbruchs der Nation Hitler zu verdanken war. „Und weil Adolf Hitler diesen Geist in das Volk hineingepflanzt hat, deshalb werden auch wieder Taten vollbracht," lautete nur eine seiner vielen Lobpreisungen auf Hitler. Die bei lokalen Feiern im NS-Staat erfolgende Identifikation des nationalen Aufbruchs mit Hitler war der eine typische Beitrag zur Fundierung des Führermythos, der die Feierlichkeiten am folgenden Tag abschließende Treueschwur gegenüber dem Führer der zweite. Am Gedenkstein für Weddigen versprach Pfarrer Meinhold, „daß auch wir treu sein wollen bis zum letzten Atemzug. Treu unserm Volk, treu unserm Führer Adolf Hitler, treu unserm Gott" 84 . Auf Festen gleich welcher Größe konnten die aktuelle Tagespolitik und durch Hitler veranlaßte Maßnahmen affirmiert, der Konsens mit dem Führer bestätigt werden. So wurden bei dem am 21. April 1935, dem 17. Todestag Richthofens, auf dem Berliner Flughafen Tempelhof erstmals begangenen „Tag der Luftwaffe" an „den Führer und Reichskanzler und an den Reichsluftfahrtminister [...] Begrüßungstelegramme gerichtet, in denen die versammelten 250000 Zuschauer für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Schaffung der deutschen Luftflotte ihren Dank aussprachen" 85 . Das Deutungsmuster des „Helden" trug aber auch dadurch zum Führermythos bei, daß dessen konstitutiven Elemente des Kameradschaftsgedankens und der Opferbereitschaft des Einzelnen auch als elementare Bestandteile des Führermythos fungierten. Die bei Domarus mit dem Begriff der „Parteierzählung" benannten und in der Regel nicht abgedruckten Einleitungspassagen der Reden Hitlers enthielten zwei Argumente für die Legitimität der Herrschaft Hitlers 86 . Zum einen bezeichnete er sich als „Arbeiter", der wie jeder andere
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Hans Merkens, Langemarck-Studium, in: Stuttgarter Neues Tageblatt, 8. 12. 1938, Nr. 574. Kershaw, Hitler-Mythos. Freitag (Hrsg.), Reich, S. 27 ff., 43; W i r gedenken Deiner! Die Gedenkrede des U-BootKameraden Pastor Meinhold, in: Herforder Kreisblatt, 24. 9. 1934. Flieger Ostern. Sturzflüge Udets in Tempelhof, in: Kreuz-Zeitung, 23. 4. 1935, Nr. 95. Domarus, Ziele, S. 49. Der von Domarus gewählte Begriff der „Parteierzählung" ist irreführend, weil Hitler eben auch auf sein Kriegserlebnis rekurrierte. Dies geschah auch schon in der Form der Anrede, so in der Rede am 30. 1. 1942 im Berliner Sportpalast: „Meine deutschen Volksgenossen und -genossinnen! Meine Kameraden!" Domarus (Hrsg.), Hitler, 11,2, S. 1826.
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die deutsche Misere erfahren und diese dann im zähen politischen „Kampf" gegen die inneren Feinde überwunden hatte. Diese Teilhabe am Leid des Volkes und die daraus erwachsene Einsicht in seine Bedürfnisse, die das politische Handeln anleiteten, war die eine Legitimitätsstütze. Die zweite war die eigene Fronterfahrung Hitlers, die ihn selbst mit den Qualitäten eines Kriegshelden ausstattete. Im Krieg hatte er als einfacher Soldat zum einen Einsatz- und Opferbereitschaft bewiesen und war so nicht nur mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse, sondern auch mit dem an Mannschaftsdienstgrade selten vergebenen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet worden 87 . Außerdem aber hatte er die egalitäre Kameradschaft erfahren und geteilt. So äußerte Hitler gegenüber den Arbeitern der Siemens-Schuckert-Werke in Berlin: „Wenn ich heute zu Ihnen und damit zu Millionen anderer Arbeiter und Arbeiterinnen spreche, dann habe ich dazu mehr Recht als. irgendein anderer. Ich bin aus euch selbst herausgewachsen, habe einst selbst unter euch gestanden, bin in viereinhalb Jahren Krieg mitten unter euch gewesen und spreche nun zu euch, zu denen ich gehöre, mit denen ich mich heute verbunden fühle und für die ich letzten Endes auch kämpfe" 88 . Drittens schließlich beanspruchte Hitler zu wissen, wofür die Soldaten des Ersten Weltkrieges gefallen waren. Der Behauptung, daß Sterben sei „umsonst" und damit „sinnlos" gewesen, stellte der Nationalsozialismus die Behauptung entgegen, daß der Sinrt - gleich Wert und Zweck - die Etablierung des NS-Staats, kulminierend in der Person Hitlers gewesen sei, der eben die Werte der Opferbereitschaft und der Kameradschaft inklusive des Führersystems verkörpere. Diese Argumentation bereicherte Hitler in „Mein Kampf" mit der Legende, einst selbst zu den Langemarck-Kämpfern gehört und durch diesen Einsatz seine Initiation zum Mann erfahren zu haben . Folgerichtig gab die Bayrische Staatszeitung am 10.11.1933 einem Vortrag des Reichspressechefs Dietrich über Hitler und die Parteigeschichte der NSDAP den allgemeinen Titel „Held und Heldentum" 90 . Hitler verfügte aufgrund seiner im Ersten Weltkrieg bewiesenen Opferbereitschaft und Kameradschaft über die substantiellen Qualitäten des sterbenden „Helden", als angeblicher Kämpfer von Langemarck umgab ihn zudem der Märtyrerstatus dieses Mythos. Aufgrund dessen zeichnete seine tatsächliche Rolle als strategischer Führerheld nicht die Exklusivität aus, die ansonsten für diesen Typus zutreffend ist. Aber er beanspruchte als Politiker die Ziele der sterbenden Helden zu verwirklichen und konnte deshalb als heroischer Führer von der „Volksgemeinschaft" Loyalität erwarten. Wenn in den Artikeln, Festreden und Büchern über die „Helden" und ihre Qualitäten gesprochen wurde, verwiesen die Autoren implizit auf die Qualitäten Hitlers. Die Wirksamkeit der Argumentation zeigte sich insbesondere bei den Feiern zum Heldengedenktag, die, da sie an allseits geteilte Erfahrungen und Deutungen appellierten, eine Basis zwischen
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Fest, Hitler, S. 103. Einer von Euch! Adolf Hitlers Rede an die deutsche Arbeiterschaft, in: Kreuz-Zeitung, 11. 11. 1933. Hitler, Mein Kampf, S. 180 f. Siehe auch Ketelsen, Jugend, S.73. Helden und Heldentum, in: Bayrische Staatszeitung und Bayrischer Staatsanzeiger, 10. 11. 1933, Nr. 260.
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dem Führer und der Bevölkerung herstellten. Im Gegensatz zu anderen Feiern des NS-Regime wurden diese Gedenktage am längsten ungebrochen akzeptiert 91 . Die geistige Mobilmachung der Nation, insbesondere der männlichen Jugend, war das vordringliche Ziel der Heldenverehrung. Die immer wieder geäußerte Erwartung an diesen Adressatenkreis formulierte die Trivialschriftstellerin Ursula Colell so: „Die Jugend des Dritten Reiches sieht in Euch [den „Helden", R.S.] ihr Vorbild und bemüht sich, Eurem Leben und Sterben gerecht zu werden, um später als ganze deutsche Männer das Vaterland zu verteidigen!" 92 Während des Krieges berichteten die lebenden Ritterkreuzträger der Wehrmacht, wie etwa der U-Boot-Kommandant Wolfgang Lüth in Herford, vor Schülern und den NS-Jugendorganisationen über ihre Erlebnisse. Sie pflegten damit zum einen die kriegswillige Stimmung an der Heimatfront, zum anderen aber sollten sie für die in der letzten Phase des Krieges rekrutierten Schüler Vorbilder sein 93 . Eine solche Veranstaltung war der Auslöser für den „Großen" Mahlke, Hauptprotagonist in Günter Grass' Romans „Katz und Maus", sich ebenfalls als „Held" bewähren zu wollen. Der ordensgeschmückte U-BootKommandant in Grass' Roman berichtete im übrigen, bevor er über seine eigenen Erlebnisse sprach, auch von den U-Booten des Ersten Weltkriegs: Weddigens U9, und „dann kam Prien mit U47, und Kapitänleutnant Prien bohrte die ,Royal Oak' in den Grund — wußten wir alles, wußten wir alles" 94 . Grass gestaltete literarisch den Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Jugend im „Dritten Reich". Reinhart Koselleck hat seiner eigenen Generation attestiert, daß sie „sicherlich einen gewissen Ehrgeiz hatte, sich als Held vielleicht bewähren zu können." Noch im letzten Kriegsjahr fuhren Schüler „an die Front mit der Vorstellung, ich werde jetzt den Heldentod sterben" 95 . Sogar in den letzten Kriegstagen vertraute man noch auf die pathetische Aura der „Helden". Im mecklenburgischen Ort Wöbbelin inszenierte Kreisleiter Grube an der Körnergrabstätte die „Waffenübernahme" durch „junge Rekruten", die als „Avantgarde der Rache" beweisen sollten, daß das „deutsche Volk [...] ein Volk von Helden geworden" sei 96 . 91 92 93
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Freitag (Hrsg.), Reich, S. 37f„ 60. Colell, Weddigen, S. 66. So hielt Ritterkreuzträger U-Boot-Kommandant Wolfgang Lüth am 10. 4. 1941 im Herforder Schützenhof einen Vortrag. Die Geschichte Otto Weddigens war auch für Lüths Berichte der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt. Von den Organisatoren wurde er als Kommandant eines deutschen U-Boots vorgestellt, „das die Tradition des deutschen Bootes ,U 9' aus dem Weltkrieg fortführt". Lüth selbst berichtete „von seinen Erlebnissen auf der Fahrt gegen England" und schloß mit dem Satz: „Ran an den Feind - so lange bis England am Boden liegt, das ist auch für uns U-Boot-Fahrer die Losung." Fahrt zu neuen Taten und Siegen, in: Herforder Kreisblatt. Westfälische Neueste Nachrichten, 16. 4. 1941. Grass, Katz, S. 66 f. 8. Mai 1945, S. 11, 13. Zur bereitwilligen Akzeptanz, mehr noch Begrüßung des Krieges durch große Teile der männlichen Jugend siehe auch die Berichte von Lenz und Wellershoff und mit Einschränkung von Wapnewski, in: Reich-Ranicki (Hrsg.), Schulzeit, S. 142, 157 u. 93. Zum ebenfalls affirmativen Verhalten der weiblichen Jugend siehe Walb, Alte, S. 179, 249 f., 260, 321 f. Waffenübernahme an der Körnerstätte, in: Niederdeutscher Beobachter, 15. 3. 1945.
Die „Helden der Wehrmacht" - Konstruktion und Rezeption
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Das Deutungsmuster mochte zwar für die junge und jüngste Generation einen Erwartungshorizont abgesteckt haben, dessen Erfahrungsraum war jedoch nicht kompatibel mit der erlebten Fronterfahrung. Untersuchungen von Feldpostbriefen des Zweiten Weltkriegs zeigen, daß die Begriffe „Helden" und „Heldentod" keine signifikante Rolle spielten 97 . Mochten die Soldaten also noch so heroisch gestimmt in den Krieg gezogen sein, angesichts der brutalen Gewalt des Krieges offerierte das Deutungsmuster im Unterschied zum Ersten Weltkrieg anscheinend keine Möglichkeiten der kognitiven und affektiven Verarbeitung dieser Geschehnisse. Dies lag auch daran, daß die Erzählungen über die „Helden", egal ob in Biographien, Zeitungsartikeln oder Festreden, die Erfahrung von persönlicher Hilflosigkeit und unerträglichen körperlichen Schmerzen ausblendeten, statt dessen Grausamkeiten sowie Gewalt pathetisch stilisierten. Bezeichnend ist, daß die 1933 in der dritten Auflage der Autobiographie Richthofens abgedruckte Notiz über das eigene Befinden in den später erscheinenden Biographien nur äußerst selten erwähnt und dann auch nur verfälschend zitiert wurde. Schwietzke kompilierte nur die folgenden Sätze: „Der Kampf, der sich an allen Fronten abspielt, ist ganz verteufelt ernst geworden; nichts mehr ist übriggeblieben von diesem frischen fröhlichen Krieg. Es ist nicht so, wie die Leute in der Heimat es sich vorstellen mit Hurra und Gebrüll. Alles ist viel ernster, verbissener —"98. Einen körperlich leidenden Richthofen mochte man nicht präsentieren und ließ deshalb diese Sätze aus: „Mir ist nach jedem Luftkampf erbärmlich zumute. Das kommt aber wohl von den Nachwirkungen meines Kopfschusses. Wenn ich meinen Fuß auf dem Flugplatz wieder auf den Boden gesetzt habe, dann mache ich, daß ich in meine vier Wände komme, will niemanden sehen und von nichts hören. Ich glaube, so ist es wirklieh" 99 . Die Fokussierung auf den „glanzvollen Heldentod" begrenzte zudem den vorgegebenen Erfahrungsraum, die offizielle Sprache konnte die Erlebnisse nicht mehr erfassen und angemessen wiedergeben. Die von Latzel für die Soldaten des Zweiten Weltkriegs konstatierte Sprachlosigkeit gegenüber dem Sterben im Krieg rührte auch daher, daß die angesonnene offizielle heroisch-pathetische Sprache nicht den erlebten Kriegserfahrungen adäquat war. Dies galt auch für die im Deutungsmuster vorgegebene Trennung zwischen dem kämpfenden Mann und der in der Heimat verbliebenen Frau. In den Großstädten funktionierte die Scheidung der Sphären Krieg und Heimat nach dem Beginn des alliierten Bombardements nicht mehr. Die Toten dieser Angriffe, Frauen und Kinder, wurden auch in den Kreis der „Helden" aufgenommen, doch ähnlich wie an der Front stieß diese Form der Trauer auf Ablehnung 100 . Diese Differenz zwischen vorgegebener Erfahrung und erlebter Wirklichkeit ist auch an der Biographie Priens zu beobachten, die gerade dem Zwecke der Heroisierung
9 7 Latzel,
Kriegsbriefe, siehe das Kapitel 11.6.7 „Helden"; Kohut/Reulecke, Sterben, S. 4 5 9 f . ; Behrenbeck, Kult, S. 5 3 3 - 5 7 0 . Gegenteilige Befunde präsentiert nur Papadopoulos-Killins, Verarbeitung. 98 Schwietzke, Richthofen, S. 28. " R i c h t h o f e n , Kampfflieger, S. 204. 100 Freitag (Hrsg.), Reich, S. 63 f.
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dienen sollte. Ihr Verfasser, der Kriegsberichterstatter Wolfgang Frank, begleitete Prien bei einer Fahrt. Während die Textpassagen vor und nach dieser Fahrt der pathetisch-heroische Sprachgestus kennzeichnet, erweist sich der unmittelbar über die Fahrt berichtende Textteil als sehr viel nüchterner. Das „Heldentum" rückte hier dem Banalen nahe, wurde ironisiert. So etwa in dieser Szene: Ein Utensil über dem Bett des Autors ist lose und stört seinen Schlaf: „Ich rapple mich auf und staue sie fest. Dabei fällt eine Butterdose dem schräg unten gegenüber liegenden Unteroffizier mit der Fettseite auf die Heldenbrust. Die anderen sparen nicht mit kräftigen Witzen" 101 . Fazit: Der NS-Kult um die Kriegshelden war keine creatio ex nihilo. Wesentliche strukturelle Bestandteile des Deutungsmusters, wie die Aufgabe eines autonomen Individuums zugunsten der Gemeinschaft, der Gesellschaftsentwurf einer soldatischen Kameradschaft um den charismatischen Führer und die polarisierende Bestimmung der Geschlechtercharaktere basierten auf Entwicklungen, die bereits in der Endphase des Kaiserreichs gegeben waren. So verwundert es auch nicht, daß selbst ein scheinbar originärer NS-Held wie der U-Boot-Kommandant Günther Prien vor allem durch den Rückgriff auf Geschichtsmythen des Ersten Weltkriegs seine Wirkung entfaltete und auf diese hin auch angelegt war. NS-spezifisch war die ausgeprägte Homogenität der Deutungen einerseits und seine, laut Propaganda, gesellschaftspolitische Entsprechung im Führerstaat andererseits. Dies beschränkte auch die Wirkung der nationalen Heldengedenkfeiern konservativer und rechtsradikaler Provenienz während der Weimarer Republik. Ihre Ausstrahlung war in einer pluralistischen Gesellschaft begrenzt. Gleichwohl wurden hier Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte kultiviert, die mit dem ab 1933 gegebenen Deutungsmonopol bei Feiern für die „Helden" genutzt werden konnten. Die politische und soziale Integration zwischen den bürgerlichen konservativen Parteien und den Nationalsozialisten konnte im Rahmen des Heldenkults vollzogen und zugleich gemeinsame politische Zielsetzungen demonstriert werden. Darüber hinaus trug das Deutungsmuster des Kriegshelden zur Präsenz und Durchsetzung des Führermythos bei und leistete so einen wichtigen Anteil zur Stabilität des NS-Systems. Die durch den Kult um die Kriegshelden beabsichtigte geistige Mobilmachung für den Krieg verfehlte zumindest bei der Jugend nicht ihren Zweck. Mit zunehmender Dauer des Krieges büßte das Deutungsmuster aber an Wirkungskraft ein. Die im Heldenkult propagierten Erwartungen an den Krieg waren mit den erlebten Erfahrungen nicht mehr kompatibel. Der Heldentod hatte seinen Glanz verloren.
101
Frank, Prien, S. 170, 208.
Klaus
Latzel
Wehrmachtsoldaten zwischen „Normalität" und NS-Ideologie, oder: Was sucht die Forschung in der Feldpost?
Ein Brief ist wehrlos gegenüber unbefugter Neugier. Vielleicht wird gerade deswegen die Indiskretion „als etwas ganz besonders Unedles" empfunden und die Ungeschütztheit des Briefs zur „Schutzwehr seines Geheimbleibens" - so Georg Simmel in seinen Überlegungen zur sozialen Bedeutung des Geheimnisses 1 . Auf privater Ebene mag das gesellschaftliche Gebot der Diskretion diesen Schutz gewöhnlich mehr oder minder gewährleisten. Wo aber mächtigere Interessenten als eifersüchtige Ehepartner oder überfürsorgliche Eltern vom Geheimnis des verschlossenen Umschlags angezogen werden, bedarf es zusätzlicher Sicherungen. Das Post- und Briefgeheimnis zählt darum zu den klassischen Schutzrechten gegenüber dem Staat, zum Katalog der Grund- oder Bürgerrechte, wie sie seit dem 18. Jahrhundert allmählich Verfassungsrang erhielten. Wer sich über fremder Leute Post beugt, muß dafür also gute Gründe anführen können. Als im Ersten Weltkrieg Milliarden von Feldpostbriefen zwischen Heer und Heimat verschickt wurden, war man von Seiten der Militärbefehlshaber zwar schnell mit „vaterländischen" und militärischen Notwendigkeiten bei der Hand, die den Zugriff der Zensur auf diesen endlosen Strom von Mitteilungen rechtfertigen sollten. Eine gesetzliche Grundlage für die Briefzensur, die unter anderem das im Artikel 33 der preußischen Verfassung garantierte Briefgeheimnis außer Kraft setzte, gab es freilich nicht. Also wurde die Konstruktion des „übergesetzlichen Staatsnotstands" im Kriege zur Legitimation herangezogen 2 . Im „Maßnahmen- und Normenstaat" (Ernst Fraenkel) des Nationalsozialismus war man um rechtliche „Begründungen" bekanntlich überhaupt nicht mehr verlegen. Das Briefgeheimnis der formal weiterhin gültigen Weimarer Verfassung war schon im Februar 1933 der „Verordnung zum Schutze von Volk und Staat" zum Opfer gefallen, so daß es im Kriege der angeführten Belange von militärischer Geheimhaltung, Stimmungserkundung und Generalprävention zur Legitimation der Schnüffelei gar nicht mehr bedurft hätte. Diese Schnüffelei war im übrigen international üblich, freilich kaum mit den potentiell mörderischen Konsequenzen für die Überwachten wie in der Wehrmacht verbunden 3 .
1 2
3
Simmel, Soziologie, S. 430. Huber, Verfassungsgeschichte, V, S. 61 f. Näheres zur Zensurpraxis bei Ulrich, Feldpostbriefe. Zur deutschen Zensurpraxis im Zweiten Weltkrieg siehe Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht, S. 13-25; wichtige Hinweise zur Briefzensur in den Armeen der „Achsenmächte"
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Die Indiskretion des Staates im Kriege gegenüber den Briefen seiner Soldaten berief sich also im Zweifelsfalle auf „überpositives Recht", sei es in „vaterländischer" oder „völkischer" Interpretation; im Endeffekt rekurrierte sie jeweils auf Macht und Gewalt. So leicht kann es sich die auf ihre Art nicht minder unersättliche Neugier der Wissenschaft selbstverständlich nicht machen. Der Rekurs auf Macht und Gewalt ist ihr nicht nur verschlossen, sondern läuft ihren Zwekken grundlegend zuwider, und ihre Indiskretion gegenüber den Briefen bewegt sich in den Grenzen, wie sie die Persönlichkeitsrechte und das Bundesarchivgesetz ihr vorzeichnen. Doch was legal ist, ist damit nicht auch schon legitim. Was also geht die Forschung die private Korrespondenz von Personen an, die gemeinhin nicht zu den „Personen der Zeitgeschichte" zählen? Mit welchem Recht wühlt sie in privaten Hinterlassenschaften und gerät dabei nicht selten unvermittelt in die Position des Voyeurs, der noch die intimsten Geständnisse ihm unbekannter Personen in Augenschein nimmt? Die Indiskretion ist nur dann legitim, wenn sie nicht Selbstzweck ist: Wenn im Privaten und Persönlichen der Briefe Dinge zu finden sind, die auf überpersönliche Spuren der Zeit verweisen, wenn ihr Inhalt also auch allgemeinere historische Relevanz besitzt. U n d genau genommen ist diese Rechtfertigung immer nur nachträglich möglich, denn jede Antwort auf die Frage nach dem Gehalt der Quelle setzt den zu legitimierenden Schritt immer schon voraus. Was also verraten uns Feldpostbriefe, das so in keiner anderen Quelle zu finden ist? Zwei Kritiken sollen zunächst zeigen, wie die Aussagekraft von Feldpostbriefen sowohl unterschätzt als auch überschätzt werden kann (I, II). Welche Erkenntnisse deren Analyse für eine Geschichte der Wehrmacht im nationalsozialistischen Krieg, hier: für das in jüngster Zeit heftig diskutierte Problem der Ideologisierung der Truppe bieten kann, soll anschließend in einem zentralen Erfahrungsbereich der Wehrmachtsoldaten demonstriert werden (III-VI).
I. Feldpostbriefe - nur „documents humains" ? Für die Unterschätzung des Quellenwerts von Feldpostbriefen mag ein programmatischer Aufsatz des ehemaligen Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Werner Rahn, stehen, in dem auch der Erkenntniswert einer „Geschichte von unten" und die Bedeutung von Feldpostbriefen diskutiert werden: Einige Historiker „vertreten die These, die Wirklichkeit des Krieges ergebe sich nicht daraus, wie wenige Generale und Admirale den Krieg geführt und erlebt haben, sondern daraus, wie es dem kleinen Mann, dem Schützen in der Feuerstellung ergangen sei. Immerhin gab es viel mehr Schützen als Generale. Also dürfen wir nicht mehr Armeebefehle und Kriegstagebücher analysieren, sondern konzentrieren uns auf die Auswertung von Feldpostbriefen. Eine solche Auswahl ist durchaus legitim. Man darf nur nicht behaupten wollen, man habe mit diesem Verfahren die ganze Wahrheit erfaßt. So erwie in den der Alliierten finden sich in den einzelnen Beiträgen des Bandes Vogel/Wette (Hrsg.), Helme.
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kennt man zwar, daß deutsche Soldaten im Winter 1941/42 an der Ostfront unter bitterer Kälte gelitten haben. Die Frage aber, warum sie leiden mußten, läßt sich mit dieser Perspektive nicht beantworten. Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich erst, wenn nach der Rolle der Wehrmachtführung gefragt wird: Die Wehrmacht hatte sich 1941 auf einen Blitzkrieg im Osten eingerichtet und nicht auf mögliche Rückschläge mit langen, verlustreichen Abwehrkämpfen. Die militärische Führung hatte für angemessenen Kälteschutz nicht vorgesorgt. Eine .Geschichte von unten' erlaubt andere, neue Zugriffe auf die Wahrheit des Kriegsgeschehens, aber auch sie gibt uns nur einen Teilausschnitt der Wahrheit frei. Wenn der Historiker die Auswahl seines Stoffes so trifft, daß er das Schicksal des einfachen Mannes schildert, dann muß er ehrlicherweise auch sagen, daß er auf eine Analyse von Ursachen und Folgen verzichtet und daß er damit einen wesentlichen Teil der Wahrheit wegläßt" 4 . Ich habe diese Argumentation so ausführlich zitiert, weil sie Gelegenheit gibt, gleich mehrere Mißverständnisse auszuräumen. Gewiß bietet eine „Militärgeschichte von unten" nur einen Teil der „Wahrheit". Doch gerade die Protagonisten einer „Militärgeschichte von unten" haben stets davor gewarnt, die traditionelle Geschichtsschreibung durch die neue Perspektive ersetzen zu wollen und die produktive Spannung in der wechselseitigen Ergänzung dieser Ansätze vielmehr als besonders erkenntnisträchtig herausgestellt 5 . Auch wenn einzuräumen ist, daß die Umsetzung dieses Anspruchs keineswegs immer überzeugend gelungen ist: Der Vorwurf der Eindimensionalität hinkt der Entwicklung der Forschungsdiskussion um mindestens zehn Jahre hinterher. Rahns implizite Gleichsetzung der Kriegsgeschichte von unten mit dem „Schicksal" des einfachen Soldaten sieht Feldpostbriefe allein als „documents humains", die vornehmlich von seiner universellen Leidensfähigkeit zeugen. Freilich beschränkt sich die Aussagekraft der Briefe nicht auf die oftmals ergreifenden Eindrücke von der Wirkung, welche die großen Ereignisse auf die kleinen Leute hatten. Sie ist vielmehr zunächst - und Feldpostbriefe unterscheiden sich hier in nichts von anderen Quellen - wesentlich von den Fragen abhängig, die an die Briefe gestellt werden. Werden weitergehende Fragestellungen nicht erwogen, ist dies weder ein Argument gegen die Quelle noch gegen die Geschichte von unten. Und warum sollen „Geschichte von unten" und speziell die Feldpostbriefe nicht zur Analyse der Ursachen historischer Vorgänge beitragen können? Die angeführte Erklärung für das Frieren und Erfrieren der Soldaten bricht allzuschnell ab. Gewiß: Die Wehrmachtführung, mit einem kurzen Krieg rechnend, hatte sie nicht mit Winterkleidung versorgt. Nur: Warum hatte die Wehrmachtführung mit einem kurzen Krieg gerechnet? Weil sie, in einer Mischung traditioneller Klischees von der vermeintlich „schwerfälligen, schematisch denkenden und handelnden, verantwortungsscheuen Roten Armee" und „hybride(m)
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Rahn, Wege, S. 5 4 - 6 4 , Zit. S. 55 f. Siehe nur Knoch, Feldpost, S. 156; Latzel, Sterben, S. 18; K n o c h , Kriegsalltag, S. 6; Schröder, Vergegenwärtigung, S. 14; Wette, Militärgeschichte, S. 14; Krumeich, Kriegsgeschichte, S. 17; Ulrich, Militärgeschichte, S. 474.
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Überlegenheitsbewußtsein" dank angenommener deutscher technischer und operativer Überlegenheit diese offensichtlich völlig unterschätzt hatte6. Die erhebliche Unkenntnis der deutschen militärischen Planung über das Potential der Sowjetunion war durch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster kompensiert worden, die die Wirklichkeit ihres Referenzobjekts erheblich verzerrten. Diese Muster gehörten zum überlieferten gesellschaftlichen Wissen über den „tönernen Koloß" im Osten 7 . Der Wissensvorrat einer Gesellschaft besteht aus der Gesamtheit alltagspraktischen Routinewissens ebenso wie aus all den Vorurteilen, Urteilen und Wertmaßstäben, mit deren Hilfe die Wirklichkeit gedeutet, verstanden und manchmal, wie im Falle der Wehrmachtführung, auch mißverstanden wird - er schließt also auch das Nichtwissen ein. Gesellschaftliches Wissen wird nicht nur auf dem Propaganda- oder gar Verordnungsweg in den Institutionen von Erziehung und Ausbildung oder als trickle-down-Effekt von den gesellschaftlichen Eliten ins „gemeine Volk" weitergegeben. Seine einzelnen Bestandteile werden auch in den unzähligen „mikroskopisch-molekularen" 8 Wechselbeziehungen, die die Individuen in verschiedensten Formen, Gruppierungen und auf jeder Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie alltäglich eingehen, erzeugt, am Leben erhalten, verändert und manchmal aufgegeben und durch andere ersetzt. Stereotypen über fremde Völker und deren „Nationalcharakter" gehören wie die politischen und militärischen Feindbilder konstitutiv zum gesellschaftlichen Wissensvorrat, denn sie erlauben über die Abgrenzung nach außen die eigene Standortbestimmung. Unter den Bedingungen, die die historischen Ereignisse zugleich ermöglichen und begrenzen 9 , besitzen also die Strukturen des sozialen Wissens zentrale Bedeutung. Fragt man nach den Ursachen von Kriegsereignissen, dann sind darum nicht nur die militärischen Kommandohöhen und politischen Entscheidungszentren in den Blick zu nehmen, sondern die Analyse muß sich auch auf Blickhöhe derjenigen begeben, die als einzelne Individuen zwar kaum historisch unmittelbar bedeutsame Entscheidungen treffen können, die aber nicht minder als jene an der permanenten und komplexen Produktion und Reproduktion der den historischen Ereignissen vorausliegenden Wahrnehmungsund Handlungsbedingungen beteiligt sind. Die Suche nach in diesem Sinne gesellschaftlichen Ursachen braucht geeignete Quellen. In Akten und Urkunden wird man hier kaum fündig. Die eben genannten Wechselbeziehungen basieren vor allem auf der mündlichen Kommunikation. Doch deren Inhalt ist flüchtig: Kaum ausgesprochen, ist er für die historische Forschung schon wieder unwiderbringlich verloren. Die Weltkriege haben - horribile dictu - dieses Quellenproblem auf ihre Art gelöst: Sie führten durch die Trennung der Soldaten von ihren Angehörigen zu einem historisch
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8 9
Hillgruber, Rußland-Bild, Zit. S. 180. „Gesellschaftliches Wissen" im Sinne v o n Schütz/Luckmann, Strukturen; zur Einstellung der politischen, militärischen und kulturellen Eliten gegenüber der Sowjetunion vgl. Volkmann (Hrsg.), Rußlandbild.
Simmel, Soziologie, S. 19. Koselleck, Darstellung.
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beispiellosen Schub der Verschriftlichung alltäglicher Kommunikation im Medium der Feldpostbriefe. Diese Briefe bieten der historischen Forschung eine einzigartige, für Friedenszeiten nirgends zu findende Gelegenheit, den Individuen bei diesen Beziehungen über die Schulter zu schauen 10 .
II. Feldpostbriefe - nur Indikatoren von Propagandawirkung? Omer Bartov hat kürzlich vehement für eine Öffnung der Militärgeschichte gegenüber neueren Ansätzen historischer Forschung plädiert, unter anderem für eine intensive Untersuchung der „Mentalität der Soldaten" 11 , und er verweist als einschlägiges Beispiel auch auf seine 1992 erschienene Untersuchung „Hitler's Army" 1 2 . Nicht zuletzt, weil er darin die Beziehungen zwischen Wehrmacht und Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Argumentation stellt, gehört Bartovs Buch zum Anregendsten, was bislang über Wehrmacht, Krieg und Holocaust veröffentlicht worden ist. Gut ein Drittel dieses Bandes befaßt sich mit der Frage, „in welchem Ausmaß die Indoktrination in den Jahren vor der Einberufung und später beim Militär das Realitätsbild der Soldaten verzerrte", und dabei spielt die Analyse von Feldpostbriefen die wichtigste Rolle 13 . Bartovs Verwendung der Briefe fordert jedoch ihrerseits zu Einwänden heraus. Der erste Einwand kann hier relativ knapp formuliert werden: Wie andere Studien, die Feldpostbriefe verwenden, erliegt auch Bartovs Untersuchung der Gefahr, die repräsentative Geltung des Quellenmaterials überzustrapazieren. Die Folge sind nicht näher ausgewiesene tentative Quantifizierungen von Wahrnehmungsweisen (die von manchen, einigen, nicht wenigen, vielen, zahllosen etc. Soldaten geteilt würden), Quantifizierungen, die durch „exemplarisches" Zitieren nur scheinbar belegt werden, während diese Zitate tatsächlich nur Inhalte illustrieren können 14 . Und prinzipiell sind generalisierende Aussagen über die Verbreitung von Wahrnehmungsweisen in der Wehrmacht auf der Grundlage der von Bartov verwendeten Briefsammlungen 15 natürlich umso gewagter, je stärker die Beweislast allein auf diesen Quellen ruht. Doch auch die zusätzlich verwendeten Erinnerungen und die für die Zwecke einer Mentalitätsgeschichte relativ oberflächlichen Stimmungs- oder Zensurberichte von SD- und Wehrmachtstellen sind hier als Belege nicht ausreichend. Seine These, daß zwar „nicht jeder deutsche Landser ein überzeugter Nationalsozialist war", daß aber „die große Mehrheit der Soldaten die pervertierte Weltsicht der Nationalsozialisten verinnerlicht hatte", muß nicht von vornherein falsch sein. Bartovs Brief-
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Systematisch zu den Möglichkeiten und Grenzen dieser Forschung Latzel, Kriegserlebnis; als Versuch der Umsetzung ders., Soldaten. Bartov, W e m gehört die Geschichte?, Zit. S. 609 f., 612. Im folgenden zit. n. Bartov, Wehrmacht. Ebd., S. 22, 1 6 3 - 2 6 6 . Ebd., S. 1 6 8 - 1 7 9 , 191, 2 2 2 - 2 6 3 . Für eine ausführliche Diskussion dieser Problematik am Beispiel des Bandes Vogel/Wette (Hrsg.), Helmer siehe Latzel, Kriegserlebnis, S. 6 - 1 0 , 26-29. Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht; Bähr/Walter (Hrsg.), Kriegsbriefe; Diewerge (Hrsg.), Soldaten; Strauß (Hrsg.) Briefe; Fuchs-Richardson, Sieg Heil!.
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auswahl macht sie freilich auch nicht überzeugender: Wenn die Briefserie eines nach eigener Auskunft überzeugten Nazis, die Broschüre „Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion" aus Goebbels' Propagandaministerium und die einschlägigen Zitate aus der ihrerseits quellenkritisch nicht näher ausgewiesenen Briefedition von Buchbender und Sterz den weit überwiegenden Teil der herangezogenen Quellengrundlage ausmachen, dann nimmt diese Auswahl die Ergebnisse der Analyse vorweg. Auf dieser Quellenbasis ist Bartovs These nicht zu verifizieren; „zahllose Belege"16 dafür anzuführen, begründet noch nicht, daß sie auch hinreichend sind. Auf dem gegenwärtigen Forschungsstand (und wohl auf absehbare Zeit) sind seine Verallgemeinerungen aber auch nicht zu widerlegen. Untersuchungen von umfassenden, inhaltlich nicht von vornherein eingeschränkten, unveröffentlichten Briefauswahlen gelangen jedoch bereits zu erheblich differenzierteren Ergebnissen17. Zudem ist die Authentizität der von Bartov ausgewählten Briefsammlungen erheblich fragwürdiger, als er in seinen quellenkritischen Bemerkungen vermutet18. Die in der Tendenz auf den Ausdruck umfassender Sinnlosigkeit des Kriegsgeschehens abgestimmte Edition „Letzte Briefe aus Stalingrad" wird schon länger mit manchen guten Gründen als Nachkriegsfälschung angesehen19. Und als die völlig konträr, nämlich radikal völkisch-rassistisch ausgerichtete Briefsammlung „Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion" im Propagandaministerium zusammengestellt wurde, war es Goebbels höchstselbst, der zu verfälschenden Eingriffen aufforderte, um das Ergebnis umso eindeutiger zu gestalten20. Bartovs Einschätzung und Analyse der qualitativen Aussagekraft von Feldpostbriefen führt zu einer weiteren kritischen Überlegung. Gewiß ist ihm darin zuzustimmen, daß sie Einblick „in die Art und Weise" gewähren, wie Soldaten „die Wirklichkeit wahrnahmen und ideologisch deuteten, sowie in das Vokabular und die Bildersprache, mit der sie ihren Gedanken Ausdruck verliehen"21. Um nun Verhalten, Kampfmotivation und Brutalisierung der Wehrmachtsoldaten zu erklären, benennt er neben objektiven Faktoren wie der „Entmodernisierung der Front", dem „Zerfall der Primärgruppe" und der „Pervertierung der Disziplin" als entscheidenden subjektiven Beweggrund das „ideologische" Weltbild der Soldaten. Indem er aber seine Untersuchung der subjektiven Faktoren auf dezidiert politische Feindbilder und rassistische Wahrnehmungsverzerrungen beschränkt und zudem diese „ideologischen" Wahrnehmungen und Deutungen der Soldaten allein als Wirkung von Indoktrination und Propaganda in den Blick nimmt, reduziert er die Aussagekraft der Quellen gleich in doppelter Hinsicht: In der von ihm gewählten Perspektive kann Bartov nur das, was ihm bereits aus anderen Quellen als NS-Ideologie bekannt ist, in den Briefen der Soldaten wie-
16 17 18 19 20 21
Bartov, Wehrmacht, S. 207. Latzel, Soldaten; jetzt auch Humburg, Feldpostbriefe. Bartov, Wehrmacht, S. 308 f. Dazu Beyer, Stalingrad, S. 62-68; Ebert, Mythos, 1, S. 31-34. Weißbecker, „Deutsche", S. 38 f. Bartov, Wehrmacht, S. 309.
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derfinden, also nur das schon Erkannte in einem weiteren Medium entdecken. Das Bewußtsein der Soldaten gerät dabei unter der Hand zur Leerstelle, wird gleichsam nur als Gefäß betrachtet, das die Propaganda einfach aufnimmt, deren Inhalt sodann zur Handlungsmotivation erklärt wird. Wenn Bartov aber das Weltbild der Soldaten untersuchen will, dann reicht es nicht, allein nach dem Niederschlag nationalsozialistischer Propaganda in deren Briefen zu suchen, sondern dazu muß das Verhältnis beider wirklich analysiert werden. Schon die Analyse biographischer Zeugnisse aus der NS-Zeit hat gezeigt, daß selbst „massiver Gleichschaltungsdruck" die „individuelle biographische Besonderheit" nicht überwältigen muß: „Wieweit bestimmte Intentionen beim jugendlichen Subjekt ankommen, wie bestimmte objektive Konstellationen in der persönlichen Erfahrung verarbeitet werden, ist kaum prognostizierbar"22. Dieser Befund läßt sich auf der Grundlage von Feldpostbriefen in besonderer Weise erhärten und anschaulich machen. Gerade weil, wie Bartov selbst sagt, deren Vokabular und Bilderwelten einen so sonst nirgends zu findenden, zeitgleichen Einblick in die subjektive Welt der Soldaten geben, wird man ihrer Aussagekraft nur dann gerecht, wenn die Sprache der Soldaten mit den ideologischen Vorgaben der Nazis insgesamt verglichen und nicht allein nach offensichtlichen Schnittmengen gesucht wird. Nur wenn die subjektive Realitätsoder Erfahrungsproduktion23 der Soldaten, also die Prozesse der Wahrnehmung und Deutung ihrer Kriegserlebnisse analysiert werden, kann die Bedeutung der nationalsozialistischen Ideologie bei dieser Produktion und damit für die Verhaltensmotivation der Soldaten eingeschätzt werden. Sollen die ideologischen Strukturen, wie sie Bartov aus den Briefen herausarbeitet, über das bereits Bekannte hinausweisen, dann müssen sie sich an den Individuen bewähren, die diese Briefe verfaßt haben24. Bartovs Beschränkung auf die „ideologischen" unter den subjektiven Faktoren setzt zudem voraus, was doch erst zu erweisen wäre: Daß nämlich unter den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern allein die ideologischen es sind, die das Verhalten der Soldaten, die Art ihrer Handlungsmotivation erklären. Die Funktion der NS-Ideologie wird damit jedoch nicht hinreichend erfaßt, denn wie sie am „Persönlich-Privaten" anknüpft, gerät auf diese Weise nicht in den Blick. So sinnvoll die analytische Trennung zwischen politischer Ideologie und „privaten" Lebensvorstellungen, persönlichen Anschauungen von „Normalität" auch ist: Wird der Untersuchungsgegenstand, hier also der Blick der Soldaten auf die Kriegswirklichkeit, auf eine dieser Seiten beschränkt, dann läuft man Gefahr, die Perspektive der Soldaten zur Hälfte zu verfehlen und damit den Gehalt der Quelle im gleichen Maße zu verschenken. Dies gilt sowohl für Rahns Reduktion der Briefe als Quelle allein für das persönliche Schicksal als auch für Bartovs Reduktion auf die NS-Propaganda. Nimmt man die Sprache von Feldpostbriefen umfassender und zugleich genauer in den Blick, um sie auf die soldatische Produktion von Erfahrung zu be22 23 24
Peukert, Dritte Reich, S. 548. Systematisch entwickelt bei Latzel, Kriegserlebnis, S. 1 0 - 1 7 . Siehe dazu Niethammer, Fragen, S. 412.
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fragen, dann wird deutlich, daß die NS-Ideologie von den Soldaten nicht im Verhältnis Eins zu Eins übernommen, sondern jeweils individuell angeeignet, integriert oder abgestoßen, jedenfalls in einer eigentümlichen Gemengelage mit ihren privaten, persönlichen, scheinbar unpolitischen Vorstellungen vom „normalen" Leben vermischt wurde. Es ist gerade die spezifische Melange dieser beiden Aspekte, die für die Kriegserfahrung der Wehrmachtsoldaten charakteristisch ist. Am Beispiel der Verbindung von „Normalität", Rassismus und NSIdeologie läßt sich das trefflich demonstrieren. Wenn dabei im folgenden vereinfachend von den Soldaten gesprochen wird, dann bezieht sich das allein auf die Quellenauswahl, die der Arbeit des Verfassers über Kriegserfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg zugrunde liegt25.
III. Die Besetzten in der Sprache der Besatzer Die Herausforderung des Krieges für die Soldaten bestand nicht nur in den aktiven und passiven Erlebnissen von Gewalt und Tod. Diese machten zwar qualitativ die Quintessenz, quantitativ oder zeitlich freilich nur einen eher geringen Teil der je individuellen Kriegserlebnisse aus - zumindest, wenn man nicht gleich die ersten Einsätze mit dem Leben bezahlt hatte. Neben diesen (und vielen anderen) Erlebnissen nahm die Begegnung oder besser das Aufeinandertreffen mit fremden Gesellschaften und Kulturen sowohl in der Wahrnehmung der Soldaten als auch in der Formulierung und Deutung dieser Wahrnehmung in ihren Briefen großen Raum ein. Im Zentrum des Interesses der Soldaten standen dabei die Lebensbedingungen, die ihnen im Kriege am nächsten und für ihre unmittelbare Versorgung am wichtigsten waren. Ihr Augenmerk richtete sich auf den natürlichen oder ökonomischen Reichtum respektive die Armut des Landes, auf die „Charaktereigenschaften" der Menschen, primär aber auf die „Sauberkeit" der fremden Länder und ihrer Bewohner. Ein paar Beispiele mögen den generellen Tenor der Briefe illustrieren: „So sauber wie bei uns ist es hier natürlich nicht." „Ich habe ja schon viel über polnische Verhältnisse gehört und gelesen, aber was man hier an Schmutz und Verkommenheit sieht, kann man sich als Mitteleuropäer gar nicht vorstellen." „Faul und dreckig, das ist ihr [der Polen] ganzes Können." „Es waren [in Rumänien] furchtbare Dreckhütten mit einem Mordsgestank nach Knoblauch und anderen schönen Sachen. Gewöhnlich bestehen diese Lehmhütten aus zwei Räumen; einer Küche, in der man es noch aushalten kann, weil dort der beizende Rauch die anderen Wohlgerüche übertönt, und einem anderen Raum, in dem die ganze Familie wohnt und schläft. Oft kommt es auch vor, daß sich in diesem Raum noch die Haustiere aufhalten. ... In einer Hütte wurde in der Wohnstube ein Schaf gehalten. Als das Tier 25
Latzel, Soldaten, Kap. 10. Die Argumentation greift die dort erhobenen Befunde auf, führt jedoch darüber hinaus. Nachweise f ü r im folgenden nicht eigens nachgewiesene Briefzitate ebd.
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mal ein Bedürfnis hatte, lief die ganze Familie nach einem Gefäß und ... Soweit ich beobachten konnte, handelte es sich um das gleiche Gefäß, in dem sonst das Mittagessen gekocht wurde." Rare Ausnahmen sind positive Stimmen wie die folgenden von der Krim: „Das Land hier scheint ganz annehmbar zu sein. Es ist zwar alles flach und eben. Die Dörfer sind aber schön sauber. Man sieht sogar weißbezogene Betten." „Land und Leute sind hier angenehmer als bisher. Vor allem ist alles viel sauberer." Im übrigen aber wiederholt sich die immer gleich Klage aus der Sowjetunion: „Es wird kaum einen geben in diesem elenden Lande, der nicht gern und oft an sein Deutschland und seine Lieben daheim zurückdenkt. Hier gibt es wirklich noch trostlosere Zustände als in Polen. Nur Schmutz und großes Elend herrscht hier und man kann es einfach nicht fassen, daß die Menschen unter solchen Bedingungen leben können. Ich habe ja in manch einer Wochenschau Bilder von Rußland gesehen die ich angezweifelt habe, nun aber voll bestätigen muß Ja mein Lieb, es geht nichts über ein Deutschland, das es nur einmal gibt." „Wir sind gestern aus unserem schönen Quartier ausgezogen und liegen nun in einer verfluchten Saubude, so was von Dreck habe ich noch nicht gesehen." „Das hätte ich nie gedacht, daß ich in einem dreckigen russischen Hause etwas essen könnte. Die Vorstellung von russischen Häusern, die man zu Hause hat (Dreck, Flöhe, Wanzen und Lumpen) ist nämlich richtig." „Was ist das doch ein Land das Rußland, mit seinen verlumpten, faulen Menschen." „Und ein Volk hier, verdreckt und verlaust, direkt zum ekeln." „Sonst war das allgemeine Bild auf dem Markt natürlich dem Osten entsprechend. Das tiefste Elend, die größte menschliche Verkommenheit steht dort zur Schau, man muß manchmal schaudern." „Uberall dieselben traurigen Hütten und das kaum menschenähnliche Volk." Inwiefern die hier anzutreffende Tendenz über die verwendete Quellenbasis hinaus verallgemeinert werden kann, läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung nur vage vermuten. Soweit ich bisher sehe, fehlt zumindest eine quellengestützte Gegenevidenz: Grundsätzlich positive Haltungen gegenüber der Bevölkerung in den östlichen Ländern scheinen doch eher die Ausnahme in den bislang bekannten Feldpostbriefen zu sein26. Unabhängig von diesem Problem der Quantifizierung besteht jedoch eine qualitative Evidenz: Die Sprache, mit der diese Soldaten ihrem Blick auf die fremden Länder und deren Bewohner Ausdruck verleihen, zeigt, daß jene hier nicht nur Kriterien äußerlicher Sauberkeit herausgefordert, sondern Maßstäbe bedroht sahen, die umittelbar ihre Identität als Person ausmachten. In der Konfrontation mit dem, was die Soldaten als „Dreck" und „Verkommenheit" beschrieben, erlebten sie einen unüber26
Ein Indiz f ü r diese Vermutung findet sich in den unter anderen Fragestellungen und auf anderer Quellenbasis gewonnenen, aber in mancher Hinsicht mit der Arbeit des Verfassers übereinstimmenden Befunden bei Humburg, Feldpostbriefe, S. 2 9 7 - 3 0 1 .
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sehbaren Identifizierungsschub mit dem, was sie aus der Heimat als „normal" und gewohnt kannten, mit dem, was ihnen, wie es einer zusammenfaßte, „von hier aus gesehen wie ein schöner gepflegter Garten" erschien. Das positive oder negative Urteil der Soldaten über die vorgefundenen Verhältnisse hing zwar zunächst vom Grad der Befriedigung ab, den sie für ihre unmittelbaren Lebensbedürfnisse im Kriege boten, und die hygienischen Zustände spielten für das Wohlbefinden und die Gesundheit von Soldaten seit je eine entscheidende Rolle. Diese zunächst funktionale Betrachtung galt im übrigen auch für die materielle Ausstattung, von der nicht zuletzt die eigene Verpflegung abhing, für die Verkehrs- oder Straßenverhältnisse, die über die eigene Beweglichkeit entschieden, und für die Haltung der Bevölkerung, die beruhigend wirken oder zur Gefahr werden konnte. Land und Leute wurden in erster Linie als Ressourcen betrachtet, die für das eigene Uberleben und für die Qualität dieses Uberlebens ausschlaggebend waren. Ein systematischer Vergleich zeigt, daß sich die gleichen Prioritäten im übrigen auch in Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg finden27. Aber bei dieser funktionalen Betrachtung der Soldaten blieb es nicht. Sie fühlten sich durch das Erlebnis von Schmutz und Elend nicht nur körperlich, sondern auf eine im Wortsinne radikale Weise auch als moralische Personen herausgefordert, und ihre Reaktion auf diese Herausforderung provoziert ihrerseits die Frage nach den Grundlagen dieser Moral: N u r selten regte sich Mitleid mit den Menschen, die unter oft menschenunwürdigen Umständen lebten; die fast durchweg abfälligen Äußerungen in den Briefen tendierten vielmehr dazu, diese Menschen selbst als Abfall zu betrachten. Freilich sind weder die offensichtliche rassistische Aufladung noch die existentielle Bedeutung der Grenzlinie zwischen „Sauberkeit" und „ D r e c k " allein als Ergebnis von Propaganda zu verstehen. Die im folgenden zu erläuternde These lautet vielmehr, daß hier Strukturen des sozialen Wissens als Wirkungsbedingungen virulent wurden, auf denen die NS-Propaganda zwar aufbauen, die sie jedoch nicht erzeugen konnte. U m dies verständlich zu machen, sei ein kleiner Exkurs in die Geschichte der gesellschaftlichen Vorstellungen von „Sauberkeit" und „Reinlichkeit" vom 18. bis zum 20. Jahrhundert gestattet, denn die Entwicklung derartiger Wissensstrukturen hält sich nicht an die Zäsuren der politischen oder der Kriegsgeschichte, sondern besitzt ihre eigenen Zeitrhythmen von meist sehr viel längerer Dauer.
IV. „Reinlichkeit": eine bürgerliche Tugend wird rabiat Wie wir aus neueren historischen und ethnologischen Untersuchen wissen 2 8 , wurde „Sauberkeit" oder besser noch „Reinlichkeit", ein Begriff, der weniger einen Zustand beschreibt als vielmehr Verhaltens- und Deutungsmuster verbindet, seit je als Maßstab zur Abgrenzung im sozialen und kulturellen, später auch im ethnischen und nationalen Sinne verwendet. Reinlichkeit umfaßte stets mehr 27 28
Latzel, Soldaten, Kap. 10. Douglas, Reinheit; Frey, Bürger.
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als nur den gesundheitlichen oder hygienischen Aspekt, war in besonderer Weise symbolträchtig oder, psychoanalytisch gesprochen, überdeterminiert. Darunter begriffene hygienische und moralische Vorstellungen lassen sich zwar rückblickend analytisch trennen, in der je zeitgenössischen Lebenspraxis gehörten Formen und Normen freilich unmittelbar zusammen. Historisch waren sie variabel: Im 18. Jahrhundert wurde Reinlichkeit unter aufklärerischen Vorzeichen aus bis dahin dominierenden religiösen Bedeutungszusammenhängen gelöst. Sie erhielt statt dessen zunehmend moralische Bedeutung und wurde so zum Distinktionsmerkmal des gebildeten und des besitzenden Bürgertums, dessen medizinische und pädagogische Experten „auf der Grundlage einer neuen Auffassung vom Körper und von seiner Leistungsfähigkeit ein Raster der Orientierung im sozialen Raum zwischen Oben und Unten, Wohlstand und Armut, Schönheit und Häßlichkeit, Fleiß und Faulheit, Gesundheit und Krankheit" 29 entwickelten. Wer durch dieses Raster fiel, lief schon damals Gefahr, zum „Antipoden der Menschheit" erklärt zu werden, dem allenfalls noch die „Logik des Thieres" zugestanden wurde 30 . Die aufgeklärten bildungsreisenden Bürger hatten diese Raster bereits im Kopf, wenn wie in Wilhelm Ludwig Wekherlins Reisebericht Bettler als „Ungeziefer" auftauchten 31 , und man braucht die seinerzeit tatsächlich oft himmelschreienden hygienischen Zustände nicht zu verkennen, um in der folgenden Beschreibung die Verknüpfung von Hygiene und Moral sowie die Assoziation zum Schweinekoben herauszuhören: „Der erste Anblick des Innern der Reichs- und Hansestadt Hamburg ist sehr ekelhaft und abschreckend. Die meisten Straßen sind eng, dumpficht und schwarz, und das gemeine Volk, welches sie durchwühlt, ist grob, wild und im ganzen auch nicht sehr reinlich" 32 . „Schmutz" und „Liederlichkeit" 33 wurden gern in einem Atemzug genannt, das Urteil über die äußere ging mit dem Urteil über die innere Sauberkeit Hand in Hand. Richtete sich der aufgeklärte Blick sozial nach unten, dann wurde zur Abwertung der dort erblickten Menschen auch zu drastischen sprachlichen Mitteln gegriffen. Dieser Sprachgebrauch zeugt von einem Intensitätsgrad sozialer und moralischer Distanzierung, der allein aus Empörung über die elenden Verhältnisse nicht zu verstehen ist. Die Gleichsetzung von Reinlichkeit und bürgerlicher Tugend war hier bereits zur „andern Natur" geworden, wie es in Erbauungsschriften und Moraltraktaten, in Haus- und Erziehungsliteratur verlangt wurde: 29 30 31
32
33
Ebd., S. 327. Zit. n. Bausinger, Bürgerlichkeit, S. 132. Anselmus Rabiosus Reise durch Ober-Deutschland, Salzburg und Leipzig 1778, zit. n. dem Nachdruck in: Estermann (Hrsg.), Wilhelm Ludwig Wekherlin, 1, S. 120. Der Begriff wird dort im Zusammenhang mit einer „Patriotischen Phantasie" über das Herzogtum Württemberg dessen „Schutzgeist" oder „Genius" (der sich schließlich als der Regent selbst entpuppt) in den Mund gelegt. Zit. n. G o l z (Hrsg.), Riesbeck, S. 394. Daß der wegen der Zensur als „Franzose" maskierte, in Mainz geborene Literat und Journalist möglicherweise me selbst in Hamburg gewesen ist (ebd., S. 555), macht die Urteilskriterien, die seine Sprache transportiert, für ihn nicht weniger gültig. Ebd., S. 54 f.
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„Reinlichkeit und Ordnungsliebe ist wichtiger, wie du glaubst, wichtiger wie die Welt glaubt; nicht blos um des äusseren Anstands und Wohlstands willen, sondern auch um der Sittlichkeit willen. Unser Inneres wirkt nicht blos auf das Aeussere: auch das Aeussere wirkt auf das Innere. Ein wüster, unreiner, von Seite der Sittlichkeitt verwahrloseter Mensch ist nicht leicht recht ordentlich und reinlich. Unreinlichkeit im aeußeren, Hang zur Unordnung richtet leicht Verwüstung, Unordnung im Herzen an" 34 . Diese Tugenden sollten soweit verinnerlicht werden, daß man „das Gegentheil nicht ertragen kann" 35 , sollten zu Alltagstugenden werden, die unter beständiger Aufbietung von Selbstdisziplin „jeden Tag, jede Stunde ... ausgeübt werden müssen" 36 . In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren diese zunächst sozial exklusiven Reinlichkeitsmaßstäbe des Bildungs- und Besitzbürgertums tendenziell zur klassenund schichtenübergreifenden normativen Grundausstattung, zu weithin gültiger „Normalität" geworden, auch wenn unterschiedliche materielle Hygienestandards unübersehbar weiterbestanden. Mit der Verbreiterung der sozialen Geltungsgrundlage ging eine Verschärfung der möglichen Konnotationen von Sauberkeit, Reinlichkeit oder Hygiene einher. Wurde im 18. Jahrhundert die Stigmatisierung des „Pöbels" noch „vom pädagogischen Impetus der Aufklärer aufgefangen" 37 , so standen seit dem späten 19. Jahrhundert und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg rassistische Imaginationen in sozialhygienischen und anthropologischen Varianten bereit, um individuelle und Volkskörperhygiene sozialmoralisch zu verknüpfen 38 . Aus ursprünglich sozial definierter Abweichung von gesetzten Standards wurde zusehends eine pseudowissenschaftlich begriffene biologische Abweichung. Die Kriterien für die nun eingeführte Unterscheidung zwischen „hochwertigem" und „minderwertigem" Leben wurden der rassistischen Utopie vom „gesunden Volkskörper" entnommen, dessen biologische Grundlage in den Erbanlagen geortet wurde, die wiederum den „Charakter" der Individuen bestimmten 39 . Charakter, als Substanz gedacht, wurde zum „als Grund vorgestellt e ^ ) Reflex seiner angeblichen Äußerungen" 40 verdinglicht; wurde er genetisch substanzialisiert, dann wurden Sauberkeit und Reinlichkeit zu äußeren Zeichen des jeweiligen „Erbgutes". Die Nazis führten die verschiedenen Stränge rassistischer Utopien zusammen und radikalisierten sie propagandistisch wie vor allem praktisch: „Rassenfrage" und „soziale Frage" wurden so miteinander kurzgeschlossen, daß „die Beseitigung gesellschaftlicher Probleme durch die Beseitigung derjenigen, die man als
34
35 36 37 38 39 40
Johann Ludwig Ewald, Erbauungsbuch für Frauenzimmer aller Konfessionen (1803), zit. n. Münch (Hrsg.), Ordnung, S. 342, 341. Ders., Vorlesungen über die Erziehungslehre und Erziehungskunst für Väter, Mütter und Erzieher (1808), zit. n. ebd., S. 351. Ders., Erbauungsbuch für Frauenzimmer aller Konfessionen (1803), zit. n. ebd., S. 341. Bausinger, Bürgerlichkeit, S. 132. Aufschlußreich dazu Sozialwissenschaftliche Informationen 26 (1997), Heft 1, zum Thema „Sauberkeit". Herbert, Traditionen; Peukert, Genesis. Haug, Faschisierung, S. 89.
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Verursacher dieser Probleme ansah" 41 , zur Leitlinie der Politik werden konnte. Solange diese Politik der „Sozialhygiene" vornehmlich Außenseiter wie etwa „Gewohnheitsverbrecher", „Homosexuelle", „Zigeuner", „Prostituierte", also im bürgerlichen Sinne „Abnorme" ins Visier nahm, wurde sie von den „anständigen Volksgenossen" mit einer „Art von desinteressierter Sympathie" 42 betrachtet. Der Verfolgung, Entrechtung und Deportation des „rassischen" Hauptfeindes der Nazis, der Juden, begegnete man gewöhnlich, indem man ihr auswich, mit wissender oder unwissender, wohlwollender oder mißbilligender, jedenfalls bald habitueller Ignoranz. Im Kriege aber fanden sich Millionen der bis dahin zumeist Wegschauenden in der Wehrmacht wieder und damit vor allem in Polen, auf dem Balkan und in der Sowjetunion in die Situation versetzt, die Konsequenzen der Politik rassistischer Säuberung im größeren Maßstab nunmehr selbst exekutieren zu sollen. „Hitlers eigentlicher Krieg" 43 war der unter rassenbiologischen Vorzeichen geführte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Die Briefe der hier zitierten Wehrmachtsoldaten zeigen, wie diese allgemein ihre Rolle in diesem Krieg und konkret ihre Position gegenüber dem „Rassenfeind" im „Osten" definierten. Vor dem Hintergrund des historischen Bedeutungswandels der Vorstellungen von „Reinlichkeit" und „Sauberkeit" läßt sich das Verhältnis von Wehrmachtsoldaten zu „Normalität" und NSIdeologie nunmehr genauer bestimmen.
V. Wehrmachtsoldaten, „Normalität" und NS-Ideologie Zunächst ist festzuhalten, daß Hygiene (im einfachen Sinne der Sauberkeit von Essen, Trinkwasser, Unterkunft, Kleidung) in jedem Kriege für die Soldaten einerseits lebenswichtig, andererseits nur unter extrem erschwerten Bedingungen zu gewährleisten ist. Allgegenwärtige Verlausung, Durchfall, aber auch Fleckfieber oder Hepatitis machten dies auch den Wehrmachtsoldaten umißverständlich klar 44 . Den hygienischen Umständen, in denen sich Soldaten bewegen müssen, ist also schon vor jeder moralischen oder ideologischen Aufladung generell eine besondere, für diese unmittelbar körperlich spürbare Bedeutung eigen. Sodann ist zu bedenken, daß die Soldaten der Wehrmacht der fremden Zivilbevölkerung in einer (durch den Angriffskrieg selbst herbeigeführten) Situation gegenübertraten, die bei ihnen zwangsläufig Gefühle von Unsicherheit und latenter Bedrohung hervorrief, welche das Gewaltverhältnis von Besatzern und Besetzten permanent unter zusätzlicher Spannung hielten und denen die Tendenz zur Uberreaktion gegenüber wirklichem oder vermeintlichem Widerstand von vornherein inhärent war. Diese aus situativen Gründen also bereits doppelt brisante Konstellation wurde von den Soldaten mit Hilfe des dieser Situation zuvorliegenden sozialen Wis41 42 43 44
Herbert, Traditionen, S. 485. Ebd., S. 487. Förster, Ort, S. 634. Kroener, Ressourcen, S. 881.
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sens interpretiert, das sie aus der „Normalität" der Heimat mit in den Krieg genommen hatten. Die situativen Faktoren oder Stressoren forderten das Urteil der Soldaten über Land und Leute heraus und radikalisierten ihre Aversionen; der den Soldaten zuhandene Wissensvorrat stellte ihnen - je aktuelle Stimmungen und Gefühle übergreifende - Maßstäbe zur Verfügung, die sie an die Situation anlegten, um ihr Urteil zu fällen. Wir haben gesehen wie es ausfiel: Die Verbindung von Hygiene und Moral ließ der unter oft äußerst erbärmlichen sozialen Verhältnissen lebenden Zivilbevölkerung vor den Augen der Soldaten kaum eine Chance. Wenn die Struktur des modernen Rassismus darin besteht, „die als ,fremd' oder ,anders' definierte Gruppe als ,minderwertig' einzustufen und ihr nicht nur das Recht auf ,Gleichheit' abzusprechen, sondern auch — und vielleicht wichtiger — ihr das Recht abzusprechen, ungestraft,fremd' oder,anders' zu sein, genauer: körperlich, geistig, seelisch — also kulturell — wirklich oder angeblich anders zu leben, leben zu müssen, leben zu wollen als diejenige Gruppe, welche die kulturellen Normen und Werte setzt" 45 , dann war das Urteil der Soldaten latent bis manifest rassistisch - aber es war dies auf seine eigene Weise: Was in der NS-Ideologie der „Rassenfeind" und der „jüdische Bolschewismus" waren, das waren, funktional gesehen, für die Soldaten auf der Alltagsebene die „schmutzigen", „dreckigen", „schmierigen" Bewohner der von ihnen Überfallenen Länder: die Verkörperung dessen, was „nicht ertragen werden kann". Ihre Kriterien der Abgrenzung aber, so zeigen es die Briefe, stammten nicht primär aus der rassenbiologischen Ideologie des Nationalsozialismus, sondern aus der alltags- oder erlebnisnäheren Sphäre bürgerlicher „Normalität" und „Wohlanständigkeit", in unserem Zusammenhang: „Reinlichkeit". Vor jeder ideologischen Betrachtung stand der spontane Vergleich: Die Soldaten dachten nicht primär in den NS-Kategorien von rassischer Volksgesundheit, von Verbesserung und Reinhaltung des Erbmaterials und so fort, sondern sie orientierten sich an der (nur scheinbar) umittelbaren Anschauung, an „weißbezogenen Betten" oder „Flöhen, Wanzen, Lumpen" und „Mordsgestank", an „Fleiß" oder „Faulheit", und zuallererst an „Sauberkeit" oder „Dreck". Was nicht dem von zu Hause gewohnten Standard entsprach, verfiel ihrem Verdikt. Dafür bedurfte es jedoch nicht der NS-Propaganda, die bürgerliche Grundnorm „Reinlichkeit" reichte als Zentrum ihres „Alltagsrassismus" 46 völlig aus. Die nationalsozialistische Rassenideologie ging nicht zwangsläufig aus dem Alltagsrassismus hervor, und dieser war ebensowenig einfach deren Reflex. Er schwächte jedoch zumindest jede potentielle Resistenzkraft gegen die NS-Rassenpolitik ganz erheblich, denn er stellte keinerlei Kriterium zur Kritik dieser Politik bereit, war ihr gegenüber gleichsam ideologisch wehrlos. Darum konnte die NS-Propaganda an ihm anknüpfen, aber sie hatte ihn nicht gestiftet. Ihre Funktion lag also weniger darin, die Soldaten mit Kriterien zur Beurteilung des Erlebten zu versorgen, auch wenn ihr das in einem exakt niemals festzustellendem Maße auch gelang. Ihre eigentliche Bedeutung erhielt sie, indem sie die Grenzen des Denkmöglichen, des als machbar Erscheinenden und des 45 46
Bock, Geschichte, S. 377. Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Bock, Krankenmord, S. 298.
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Erlaubten immer weiter auszog und damit den Soldaten, im Zusammenwirken mit den genannten situativen Faktoren, die Radikalisierung ihres Alltagsrassismus erleichterte. Die rassistische Utopie der Nazis war im Kern eine Utopie der Vernichtung. Ihre darauf abgestellte Propaganda schuf eher das für die Verwirkichung dieser schwarzen Utopie erwünschte Klima bedenkenloser Rücksichtslosigkeit, in dem auch gegenüber der Zivilbevölkerung „Säuberung" und „Vernichtung" deckungsgleich werden konnten, als daß sie die Handelnden fugendicht mit ihrem Weltbild versorgte. Der nationalsozialistische Krieg brauchte keine ideologisch hundertprozentig ausgewiesenen Nazis, um als nationalsozialistischer geführt werden zu können. Es genügte bereits, daß das zunächst unpolitische Vorurteil bürgerlicher Wohlanständigkeit von den Soldaten in einer objektiv höchst politisch, nämlich durch die nationalsozialistische Rassen- und Kriegspolitik definierten Situation zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind radikalisiert werden konnte und - nicht von jedem, aber in der Tendenz - auch wurde. Die These Carl Schmitts, daß der Feind „in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist"47, findet in den Aussagen der Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten östlichen Ländern eine für die bürgerliche „Normalität" äußerst bedenkliche Bestätigung. Die historische Forschung hat diesen Komplex, der hier nur angedeutet werden kann, noch kaum ausgemessen48. Die das Bewußtsein der Wehrmachtsoldaten nicht primär ausstattende und orientierende, sondern sekundär radikalisierende Funktion der NS-Ideologie und -Propaganda ist ausweislich der hier herangezogenen Feldpostbriefe auch in den anderen Erfahrungsbereichen festzustellen, die für die Soldaten von Bedeutung waren, mochte es sich um das Verhältnis zu ihren Angehörigen oder zum „Führer", zu den feindlichen Soldaten oder zu den (wirklichen oder angeblichen) Partisanen, zum „Soldatentum" oder zum Töten und Sterben handeln. Die Prägekraft von NS-Ideologie und -Propaganda war dabei jedoch durchaus unterschiedlich: Je stärker die NS-Ideologie eigene Opferbereitschaft forderte, desto weniger Bereitschaft zur Radikalisierung traf sie an; nahm sie hingegen den unbewaffneten oder bewaffneten Gegner als Feind ins Visier, fiel die Annäherung umso leichter. Davon unabhängig aber gilt: Die Soldaten, die durch den Krieg ständig zur Bestimmung und Aufrechterhaltung sowohl ihrer persönlichen als auch ihrer nationalen Identität herausgefordert wurden, bedienten sich dafür keineswegs nur, aber in erster Linie solcher Elemente des sozialen Wissens, die nicht der Sphäre des explizit Politischen oder der NS-Rassenbiologie, sondern der Sphäre alltäglicher Lebensweisen angehörten. Nicht nur die persönliche, auch die nationale Identifikation beruhte primär auf solchen scheinbar unpolitischen Einstellungen, von denen die Gleichsetzung von „deutsch" und „sauber" nur ein Beispiel darstellte, freilich für die Soldaten fundamentale Bedeutung besaß. Unter den Bedingungen des Krieges wurde das latent vorhandene und für die NS-Ideologie anfällige aggressive Potential solcher Einstellungen manifest, die 47 48
Schmitt, Begriff, S. 27. Siehe Sarasin, Objekte, S. 147-153, 158, 162-164.
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vorpolitische „Normalität" konnte nun ihre polemische Virulenz ausspielen. Die rückblickend von Zeitzeugen gern beteuerte „Normalität" des Alltagslebens auch im Nationalsozialismus (wenigstens bis zum Beginn der Bombennächte) ist für die Handlungsebene schon lange als äußerst fragwürdig erkannt worden 49 ; vor dem hier beschriebenen Hintergrund scheinen auch die grundlegenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster dieser „Normalität" weniger zur Apologie zu taugen als zu weiteren Fragen herauszufordern.
VI. Einladung zur Indiskretion In welchem Maße die hier formulierten Thesen über das Verhältnis von Wehrmachtsoldaten und NS-Ideologie verallgemeinert werden können, inwiefern sie nach sozialen oder anderen Kriterien zu differenzieren wären, ob sich schließlich grundlegende Einstellungen (und nicht nur augenblickliche Stimmungen!) gegenüber der Zivilbevölkerung „im Osten" im Verlaufe des Krieges geändert haben, ist wie gesagt vorerst eher vage auszumachen. Doch es erweist sich schon jetzt, auf welchem Wege die Analyse von Feldpostbriefen zu Innenansichten sowohl der Wehrmacht als auch der Gesellschaft, aus der sich diese rekrutierte, führen kann. Feldpostbriefe bergen „Geheimnisse" der Kriegsgeneration, die dieser selbst, so wie das menschliche Gedächtnis nun mal beschaffen ist, selbst beim besten Willen oft nicht mehr präsent sein können 50 . Sie lassen erkennen, wie sich die Gesellschaft und ihre Soldaten über das Leben, Sterben und Töten im Kriege ausgetauscht haben, ein Austausch, der im September 1939 nicht bei Null begann, sondern die Kommunikation aus der Vorkriegszeit schriftlich fortsetzte. Das in den Briefen niedergelegte gesellschaftliche Wissen ist zum größten Teil lange vor dem Krieg in Umlauf gebracht und angeeignet worden. Die Briefe können also nicht nur über das Bewußtsein im Kriege, sondern auch vor dem Kriege Auskunft geben. Ihr Massencharakter und ihre Nähe zum Geschehen machen sie weitgehend konkurrenzlos. Wenn die militärgeschichtliche Forschung mehr über die Innenseite des Zweiten Weltkrieges und über dessen gesellschaftliche Voraussetzungen erfahren, wenn sie Fragen, Methoden und Ergebnisse der Sozial- und Kulturgeschichte in ihre Arbeit integrieren will, dann kann sie auf die hier zu findenden Einblicke nicht verzichten - und darf sich darum guten Gewissens weiter der Indiskretion schuldig machen.
49 50
Peukert, Alltag; Lüdtke, „Formierung". Siehe jetzt zum Problem und zur Analyse der Aufschichtung von Sinnbildungsprozessen im Gedächtnis (am Beispiel von Uberlebenden des Holocaust) Jureit, Erinnerung.
Benjamin Thiemann Fluchten aus dem Konsens zum Durchhalten. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Erforschung soldatischer Verweigerungsformen in der Wehrmacht 1939-1945
Die Geschichte jener Soldaten, die sich während des Zweiten Weltkrieges dem militärischen Gehorsamszwang verweigerten oder ihrer Dienstpflicht zu entziehen versuchten, zählt zu den am meisten umstrittenen Themenfeldern in der Diskussion über die historische Bewertung der deutschen Wehrmacht. Wie sonst nur noch die Frage der von Wehrmachtangehörigen begangenen Kriegsverbrechen polarisiert dieses Thema seit Jahrzehnten die öffentliche Meinung ebenso wie die fachwissenschaftliche Diskussion. Vor diesem Hintergrund ist es eines der Ziele des folgenden Beitrages, zur Versachlichung, wenn möglich aber auch zur Erweiterung und Neuorientierung der Debatte um soldatische Verweigerung beizutragen. Das Ziel sollte dabei sein, die Forschung zur Fahnenflucht, Selbstverstümmelung etc. aus der Fokussierung auf einen normativ verengten Widerstandsbegriff herauszuführen und sie für die sozialgeschichtliche Analyse des Wehrmachtapparates als eines wichtigen Teilbereiches der nationalsozialistischen Herrschaft fruchtbar zu machen. Damit könnte auch zu einer Verklammerung und Integration jener spezialisierten Forschungszweige beigetragen werden, die sich mit der militärischen Massengesellschaft des Zweiten Weltkrieges beschäftigen. Die folgenden Überlegungen basieren auf einer kritischen Auswertung der mittlerweile recht umfangreichen Literatur über Verweigerungsformen in der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges 1 . Ihr Ziel ist es dabei zunächst (I.), einen Uberblick über die Zugangsweisen, Fragestellungen und historiographischen Praktiken zu vermitteln, die der Beschäftigung mit diesem Thema bisher zugrunde gelegen haben. In diesem Zusammenhang werden auch einige problematische Aspekte einzelner Arbeiten diskutiert. Sodann werden (II.) wesentliche Ergebnisse der vorliegenden Darstellungen resümiert. Darüber hinaus sollen hier Desiderate der Forschung angesprochen werden, soweit sie inhaltliche Einzelfragen bzw. -themen betreffen. Dabei muß, auch wenn dies nicht im Zentrum der Argumentation des Aufsatzes stehen soll, die komplexe Problematik der anhand von Statistiken über die Arbeit der Militärgerichte ermittelbaren quantitativen Dimension der Verweigerung behandelt werden. Dies geschieht zum einen deshalb, weil eine abschließende Behandlung dieser Pro-
Dr. Thomas Kühne bin ich f ü r seine konstruktive Kritik einer ersten Fassung dieses A u f satzes zu herzlichem Dank verpflichtet. Nach Abschluß des Manuskripts erschien die wichtige, den notwendigen Zusammenhang von Disziplinierung und Verweigerung reflektierende Arbeit v o n Bröckling, Disziplin. ' Vgl. die Zwischenbilanz bei Ruck, Bibliographie, S. 1983 f., zum Thema „Militärischer Ungehorsam und Kriegsdienstverweigerung".
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blematik in weiten Bereichen immer noch aussteht. Das Ausmaß der Verweigerung ist jedoch wichtig für ihre Bewertung, gerade wenn man, in der A b k e h r von einem allein auf die Motive abhebenden Widerstandsbegriff, nach den Wirkungen soldatischen Ungehorsams fragt. Z u m anderen hat das komplexe für und wider in der Kalkulation der Zahlen inzwischen offenbar solche Verwirrung ausgelöst, daß selbst seriösen Forschern Schnitzer unterlaufen, deren weitere Rezeption in der Öffentlichkeit verhindert werden sollte 2 . Schließlich werden (III.) Schwerpunkte und Perspektiven für die weitere Beschäftigung mit der Problematik soldatischer Verweigerung im Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen.
I. D i e Erforschung der Verweigerungsformen von Mannschaftssoldaten in der Wehrmacht steht seit ihren Anfängen im K o n t e x t der Behandlung des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Bereits G ü n t e r Weisenborn hatte in seiner 1953 erschienenen Darstellung über den „lautlosen Aufstand" der deutschen Widerstandsbewegung im militärischen Widerstand eine „untere" von einer „oberen Linie" unterschieden. J e n e umfaßte dabei, in Abgrenzung von den Angehörigen der militärischen Elite, die Angehörigen der Truppe aus dem Mannschafts- und Unteroffiziersstand, soweit sie aufgrund verschiedener Delikte von der Militärjustiz verfolgt wurden 3 . D i e Arbeit von Weisenborn regte zunächst keine weiteren wissenschaftlichen Arbeiten zur soldatischen Verweigerung an. Neuerliche Impulse brachte erst das - mit der Initiative in Kassel 1981 einsetzende - B e m ü h e n um die E h r u n g von Wehrmachtdeserteuren in F o r m von D e n k m ä l e r n oder Gedenktafeln. Es verband sich mit der F o r derung nach deren moralischer und praktischer Rehabilitierung. Diese Versuche stießen bei konservativen Politikern und den Soldatenverbänden auf entschiedenen Widerspruch. U n t e r der einseitigen Alternative „Vaterlandsverräter oder Widerständler" wurde der moralisch extrem aufgeladene Streit um die Fahnenflüchtigen der Wehrmacht zum Teil bis in jüngste Zeit ausgetragen 4 . Problematisch ist eine doppelte Verengung der Perspektive, die sich aus der „Schlachtordnung" dieser Kontroverse ergab. Sie führte zum einen zu einer in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute anzutreffenden Konzentration auf eine einzige Verweigerungsform, die Fahnenflucht, unter weitgehender Vernachlässigung der großen Bandbreite anderer Möglichkeiten indirekter oder direkter Verweigerung und Entfernung aus dem Truppenverband. Z u m anderen ist eine Verengung der Diskussion auf normative Fragen zu konstatieren, die
2
3 4
Vgl. Riedesser/Verderber, Maschinengewehre, S. 168, wo eine Schätzzahl von 13 000 „Todesurteilen" wegen Wehrkraftzersetzung vom 1.1. 1944 bis zum 30. 4. 1945 kolportiert wird, während tatsächlich Urteile jeglichen Strafmaßes gemeint sind. Behrenbeck, Kult, S. 570, kolportiert 50000 wegen „Wehrkraftzersetzung hingerichtetfe]" Soldaten, wo tatsächlich von schätzungsweise 20-22 000 vollstreckten Todesurteilen aller Deliktgruppen die Rede ist. Den falsch wiedergegebenen Bezugspunkt bilden in beiden Fällen die Angaben bei Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 87, 136. Vgl. Weisenborn, Aufstand, S. 103-113. Vgl. Abendroth (Hrsg.), Deserteure; Wette (Hrsg.), Deserteure.
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sich als Folge des legitimen Bemühens um die Einbeziehung der Fahnenflüchtigen in den Widerstand gegen das NS-Regime ergeben hat. Diese Forderung wurde vor dem Hintergrund der bis in die achtziger Jahre vorherrschenden Fixierung des Widerstandsbegriffs im Sinne einer politisch-moralisch motivierten Fundamentalgegnerschaft zum NS-Regime erhoben 5 . Inmitten der Wehrmacht als einer tief in die Verbrechen des Vernichtungskrieges in der Sowjetunion verstrickten Institution suchte man nach Subjekten des gesellschaftlichen Widerstandes. Damit mußte sich zwangsläufig die Perspektive der Forschung auf jenen kleineren Teil der Deserteure mit politischen oder sonstigen Gewissensgründen konzentrieren, und hier wiederum das für sich ebenso weitläufige wie komplexe Feld der Erhellung von Motiven in den Vordergrund rücken. Andere wesentliche, im weiteren angesprochene Aspekte der Fahnenflucht traten demgegenüber zurück. Die Widerstandsdiskussion ist inzwischen seit geraumer Zeit um die Frage nach den Wirkungen bei der Einschränkung des Anspruches und der Zumutungen der NS-Herrschaft erweitert worden. Damit verbunden war die Differenzierung von Stufen oder Ringen des Geltungsbereichs verschiedener Verhaltensformen wie „Dissens" oder „Verweigerung", die eine solche Wirkung hatten, und deren Unterscheidung nach dem jeweiligen Grad der Intensität 6 . Die Konzentration auf die Deserteure aus politischer Gegnerschaft zum NS-Regime hat dazu geführt, daß diese begriffliche Erweiterung in der militärhistorischen Forschung erst mit geraumer Verzögerung rezipiert worden ist und bis heute noch keinen Niederschlag in einschlägigen Darstellungen gefunden hat 7 . Trotz dieser einschränkenden Bemerkungen bleibt allerdings festzuhalten, daß die Erforschung soldatischer Verweigerung dem Streit um die Rehabilitierung der Deserteure entscheidende Impulse verdankt. Wissenschaftlich produktiv waren zunächst Darstellungen, die methodisch einen Zugang über den regionalen Kontext der Herkunft der Soldaten suchten. Ein Vorteil dieser Studien liegt darin, daß neben militärischen Quellen oftmals Materialien der Wiedergutmachungsbehörden, Interviews und Dokumente aus Privatbesitz benutzt werden konnten. Dadurch ist es vielfach möglich gewesen, den Lebenslauf der Verweigerer vor dem Militärdienst zu rekonstruieren. Damit lassen sich fundierte Aussagen über mögliche Hintergründe und auch Folgen ihrer Tat treffen, die aus militärischen Quellen in der Regel nicht zu erschließen sind 8 . Ein kaum vermeidbarer Nachteil dieser Zugangsweise liegt darin, daß der jeweilige Kontext des Truppenteils und der militärischen Gesamtsituation, in der die Verweigerung stattfand, bei der Auflistung von Einzelfällen meist nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind ferner die insbesondere für das Ruhrgebiet, aber auch für andere Industrieregionen in großer Zahl vorliegen5 6 7
8
Vgl. als Überblick Ueberschär, Einzeltat; Steinbach, Widerstandsforschung. Vgl. Kershaw, Widerstand; ders., NS-Staat, S. 287-315. Vgl. Haase, Gefahr, S. 112-123, der diese Fragen und Ansätze zwar diskutiert, aber letztlich in seiner stark deskriptiven Darstellung nicht umzusetzen vermag. Kammler, Metzelei; Fahle, Verweigern; Kahle, Konservierung. A u s dem Zusammenhang eines wichtigen Forschungsprojekts über „Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945" entstanden ist Paul, Soldaten. Zu den Quellen vgl. Fahle, Pfade, S. 180-191.
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den Lokaldarstellungen über die Geschichte des sozialistischen und kommunistischen Arbeiterwiderstandes gegen den Nationalsozialismus. Sie enthalten oftmals ausführliche Schilderungen der Lebensgeschichten soldatischer Verweigerer aus dem lokalen Umfeld sowie der Umstände und Motive für ihre Tat9. Alle Bemühungen um die Rehabilitierung von Deserteuren trafen auf das Problem, daß die Macht des Staates zur Definition von kriminellem Verhalten auch bei der Wehrmacht)ustiz zunächst generell als legitim, zumindest aber als moralisch gerechtfertigt unterstellt wurde. Diese Auffassung lag auch dem Urteil der Wiedergutmachungsbehörden über Anträge von Deserteuren zugrunde. Das Gegenteil, der Unrechtscharakter der NS-Militärjustiz, mußte historisch erst in komplexen Untersuchungen bewiesen werden, die sich gegen massive Apologetik, vor allem aus den Kreisen früherer Militärrichter, zu behaupten hatten 10 . Diese Arbeiten basieren vor allem auf den in der Zentralnachweisstelle Kornelimünster archivierten Unterlagen der Wehrmachtgerichtsbarkeit. In der Aufarbeitung statistischer Materialien sowie der ausgiebigen Darstellung von Einzelfällen werden zahlreiche Befunde zur Verweigerung von Soldaten vermittelt, insofern diese dem Zugriff der Militärjustiz unterlag. Die restlos nicht zu überwindende methodische Problematik dieser aus dem Zusammenhang der Verfolgung und Ahndung von rechtlich definierten Delikten stammenden Quellen wurde dabei angemessen reflektiert. Auch wenn dies nicht zu den eigentlichen Zielen der Forschungen zur Wehrmachtjustiz gehört, werden hier wichtige Einblicke in die Vielgestaltigkeit soldatischer Verweigerung im Zweiten Weltkrieg und ihre Verlaufsformen, Risiken und Hindernisse vermittelt. Eine zusammenfassende Deutung der Ursachen und Auswirkungen der Verweigerung und ihre systematische Einbettung in den Kontext des militärischen Herrschaftsapparates wird durch diese Arbeiten allerdings nicht geleistet. Dies gilt auch noch für die vor kurzem vorgelegte Arbeit von Norbert Haase zur Spruchpraxis der Marinejustiz. In ihren auf die Verweigerung fokussierten Abschnitten kommt sie letztlich über eine rein deskriptive Aneinanderreihung von Fallgeschichten, deren Auswahlkriterien zudem nicht erläutert werden, nicht hinaus 11 . Problematisch an einem primär auf die Akten der Militärjustiz gestützten methodischen Ansatz ist zudem, insbesondere im Falle der Fahnenflucht, der eng umgrenzte Ausschnitt der Verweigerung, den man mit den angeklagten bzw. verurteilten Soldaten nur erfaßt. Denn im Zweiten Weltkrieg machten - wie bereits in den Jahren 1914-1918 - insbesondere mit wachsender Kriegsdauer die verurteilten Deserteure nur einen kleinen Teil der tatsächlich fahnenflüchtigen Soldaten aus.
Vgl. ζ. B. Tappe/Tietz (Hrsg.), Tatort, S. 5 2 4 - 5 3 8 ; Schmidt, Lichter, S. 1 6 7 - 1 8 1 . Historiographischer Uberblick bei Zimmermann, Verfolgung. 10 Vgl. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz; Wüllner, NS-Militärjustiz; Eberlein u.a., Militärjustiz. 1 ' Vgl. Haase, Gefahr, S. 1 2 3 - 2 3 0 . Haase beschäftigte sich als einer der ersten Historiker mit der Geschichte der Verweigerung in der Wehrmacht und hat der Forschung zahlreiche Impulse vermittelt. Zum Versuch einer pointierten Deutung des Phänomens der Fahnenflucht ist er jedoch in seinen zahlreichen Arbeiten nicht gelangt; vgl. ders., Deserteure; ders., Zeit, S. 1 3 0 - 1 5 6 ; ders., Desertion; ders., Gewalterfahrung. Vgl. dagegen die zahlreichen grundlegenden Aufsätze von Messerschmidt, jetzt gesammelt in ders., Recht. 9
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Auf die Bemühungen um eine historische und juristische Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure hat der Militärhistoriker Franz W. Seidler in einem 1993 publizierten Buch über Fahnenflucht explizit ablehnend reagiert: „Diese Studie will zeigen, daß die Debatte um den Deserteur des Zweiten Weltkriegs mit falschen Argumenten geführt wird und das Ziel hat, das Militär insgesamt und die Bundeswehr im besonderen zu diskreditieren." Es ist vorbehaltlos anzuerkennen, daß Seidler damit die bis heute einzige zusammenfassende Darstellung zur Geschichte der Fahnenflucht in der Wehrmacht vorgelegt hat, die deren Umfang, die Motivlagen, die Uberläuferpropaganda und andere Aspekte in geschlossener Form behandelt 12 . Die Darstellung von Seidler beruht auf der Auswertung zahlreicher archivalischer Quellen aus dem In- und Ausland und enthält viele Fakten und bedenkenswerte Interpretationen, fordert allerdings in methodischer Hinsicht und vielen Details auch entschiedenen Widerspruch heraus. Von zentraler Bedeutung ist vor allem der durchgängig anzutreffende methodische Fehler Seidlers, die spezifische Perspektive der von Militärrichtern und anderen Herrschaftsinstanzen in Wehrmacht und Partei hinterlassenen Quellen nicht, dem üblichen quellenkritischen Vorgehen entsprechend, einer hermeneutischen Kontrolle und Objektivierung zu unterwerfen. Statt dessen wird deren Sichtweise, und damit die bei der Auswahl und Wertung von Fakten durch die damaligen Akteure mitwirkenden Vorannahmen und Unterstellungen, unkritisch übernommen. Auf diese Weise verletzt Seidler elementare Standards der zeithistorischen wissenschaftlichen Arbeit, was im Ergebnis zu der durchgängig anzutreffenden Tendenz einer nachträglichen Diffamierung und Kriminalisierung der Fahnenflüchtigen führt 13 . Darüber hinaus sind eine Reihe mangelhaft belegter oder fehlerhafter Detailaussagen sowie verschiedene Unstimmigkeiten in der Darstellung Seidlers zu konstatieren, denen erkennbar die eben bezeichnete Tendenz zugrunde liegt 14 . Die langwierige Auseinandersetzung um die Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure hat deutlich gemacht, daß die durch das NS-Regime vorgenommene Kriminalisierung dieser Gruppe von Soldaten nicht mehr das heutige Urteil bestimmen kann, und zwar historisch wie auch politisch-moralisch. Es ist allerdings charakteristisch für eine in inzwischen überholten Frontstellungen erstarrte Debatte, daß eine eingehende Auseinandersetzung mit den negativen
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Vgl. Seidler, Fahnenflucht, S. 6 1 - 3 6 4 , Zit. S. 18; thematisch naheliegend ist eine frühere Veröffentlichung Seidlers, an die er in vielerlei Hinsicht anknüpft, Militärgerichtsbarkeit. Vgl. ders., Fahnenflucht, passim, insbes. S. 163 ff., 167f., 272, 314. Ζ. B. wird nirgends die weitreichende, an zeitgenössische Stereotype anknüpfende Aussage belegt, die Preisgabe militärischer Informationen durch Überläufer habe „in vielen Fällen böse Folgen" für ihren alten Truppenteil gehabt. Ebd., S. 21. Die nicht tabellarisch, sondern nur in Form einer Säulengraphik präsentierten Angaben über das Vorhandensein ziviler Vorstrafen bei einem Sample v o n Deserteuren addieren sich erkennbar zu mehr als 1 0 0 % (ebd., S. 298, A b b . 39). Jene angeblich fast 5 0 % der Fahnenflüchtigen mit einer zivilen Vorstrafe umstandslos als „Kriminelle" (ebd., S. 297) zu bezeichnen, ist v o r dem Hintergrund der kriminalpolitischen Strategien des NS-Regimes unergiebig und wissenschaftlich haltlos. Verfehlt wird dadurch der Kontext steigender Kontrolle und Kriminalisierung von Jugendlichen gerade während der Kriegsjahre, die sich nach ihrer Einberufung in der Zahl der Vorstrafen junger Soldaten niederschlug. Für eine theoretisch reflektierte Darstellung dieser Problematik vgl. grundlegend Kebbedies, Kontrolle.
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Aspekten des Werks von Seidler bisher auch dort nicht in Angriff genommen wurde, wo man um eine unvoreingenommene Darstellung der Deserteursproblematik bemüht ist 15 .
II. Im Anschluß an die hilfreiche Typologisierung von Verweigerungsformen durch Günter Fahle sollen hier allein innerhalb des militärischen Apparats begonnene Handlungen erörtert werden, also nicht die in der Regel vor der Einberufung erfolgende Kriegsdienstverweigerung 16 . Den Bezugspunkt der folgenden Ausführungen bildet primär das Heer, während sich die Zahlenangaben, wo nicht anders angegeben, auf alle drei Wehrmachtteile beziehen. Ein systematischer Vergleich der Intensität der Verweigerung zwischen Heer, Marine und Luftwaffe ist noch nicht in Angriff genommen worden. Die Verurteiltenzahlen der Statistik geben zumindest einen Hinweis darauf, daß in der Luftwaffe nahezu durchgängig erheblich weniger Fahnenfluchtfälle auf 100000 Mann vorkamen als in Heer und Marine 17 . Die Gesamtzahl der verurteilten Fahnenflüchtigen, um mit dieser Verweigerungsform zu beginnen, lag bei ca. 35000, nach anderen Berechnungen vielleicht sogar bei 40000 18 . In der zeitlichen Progression ist dabei für das Heer ein entscheidender Wendepunkt im Sommer 1943 auszumachen. Bei der Interpretation der folgenden Tabelle ist ein etwa halbjähriger „Verspätungsfaktor" zu berücksichtigen, der zwischen einer Verurteilung und ihrer Zählung in der Wehrmachtkriminalstatistik lag. Zahlen für das zweite Quartal 1944, das letzte vorliegende, spiegeln also den Stand von Ende 1943 wider. Tabelle 1: Zahl der militärgerichtlichen Verurteilungen wegen Fahnenflucht im Heer auf 100000 Mann 19 . Quartal
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1943/11 1943/III 1943/IV 11.2 11.8 13.0
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Nicht schon im Gefolge von Stalingrad, sondern vor allem nach dem schrittweisen Rückzug der deutschen Truppen, der auf die Schlacht von Kursk im Juli 1943 folgte, wuchs die Zahl der Deserteure in rasch steigender Progression. Die Initiative war nun endgültig auf die sowjetischen Truppen und die in Sizilien landenden Amerikaner übergegangen, was von den Soldaten aufmerksam regi15 16
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Nicht einmal erwähnt wird diese Arbeit ζ. B. bei Knippschild, Krieg. Fahle, Verweigern, S. 28 f.; als Überblick zur Kriegsdienstverweigerung Garbe, Verweigerun8-·
Hennicke, Auszüge, S. 449; Seidler, Fahnenflucht, S. 284 ff., mit einer plausiblen Deutung der Differenzen. Vgl. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 90 ff.; Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 445 f. Tab. 1 nach Hennicke, Auszüge, S. 449; vgl. zum „Verspätungsfaktor" Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 2 8 7 - 2 9 4 , 307 f., 445.
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striert wurde 20 . Dies gestattet die Hypothese, daß bei den so Handelnden nicht bei der Mehrheit der Mannschaften! - die Einsicht wuchs, daß weitere Anstrengungen der deutschen Truppen zur erfolgreichen Beendigung des Feldzuges angesichts der nun vorherrschenden Kriegslage dauerhaft aussichtslos seien21. Das „Vertrauen in die eigene Leistung" war bei den Truppen generell im Schwinden begriffen, wie die Feldpostprüfstelle bei der 2. Armee für die Monate September und Oktober 1943 feststellte 22 . Vor diesem Hintergrund und einer allgemein steigenden Kriegsmüdigkeit waren seit dem Sommer 1943 mehr und mehr Soldaten fahnenflüchtig 23 . Noch deutlicher als die Steigerung der Verurteilungen macht dies die Zahl der sog. „flüchtigen Beschuldigten" beim Heer deutlich, die trotz Fahndung nicht festgenommen werden konnten. Sie verdreifachte sich von Juli bis Oktober 1943 fast, während sie in den zwölf Monaten nach dem Oktober 1943 dann „nur" noch um das zweieinhalbfache stieg. Dies bestätigt den Eindruck einer entscheidenden Wende in der Intensität der wichtigsten Verweigerungsform 24 . Eine Schätzung der Gesamtzahl aller Fahnenflüchtigen, also auch der nicht gefaßten, ist eine wichtige und bis heute nicht zufriedenstellend in Angriff genommene Aufgabe. Die Ursachen dafür liegen auch im Problem der definitorischen Abgrenzung gegenüber jenen Flüchtigen, die keinen festen Entschluß zur dauerhaften Entfernung gefaßt hatten. Diese Unterscheidung ist sowohl durch die Sache als auch durch den militärgesetzlichen Rahmen bestimmt. Im Ersten Weltkrieg hatte rund ein Drittel der Deserteure diesen Willen durch Ubertritt in das neutrale Ausland dokumentiert, eine Möglichkeit, die 1939-1945 weitgehend fortfiel 25 . Auf der Statistik der „flüchtigen Beschuldigten" beruht die Schätzung von „weit über hunderttausend" Fahnenflüchtigen, die unter Hinzunahme der „Endphase ab [gemeint ist wohl: Ende; B.Z] 1944" auf eine „Zahl
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Der daraus resultierende Stimmungsumschwung läßt sich auch den SD-Berichten erstmals im September 1943 entnehmen, wonach Fronturlauber in der Heimat v o r allem mit ihren Angaben über das „Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion" negativ wirkten. Zuvor hatten die Fronturlauber die Stimmung in der Heimat stets positiv beeinflußt und waren zumeist optimistischer als die Zivilbevölkerung; vgl. Steinert, Krieg, S. 340, 351, 382, 3 8 8 f „ Zit. S. 4 1 6 f . Dieser Überlegung liegt die These zugrunde, daß die Motivation der Soldaten generell starke Antriebe aus der sich stetig erneuernden Hoffnung auf naheliegende Wendepunkte, Offensiven etc. erfährt, während die in der subjektiven Wahrnehmung dauerhafte Enttäuschung dieser Hoffnung in entscheidender Weise demotivierend wirkt. Vgl. für die Jahre 1 9 1 4 - 1 9 1 8 : Ziemann, Front, S. 1 6 3 - 1 9 7 . Die „skrupellose Opferung der eigenen Truppen" in Stalingrad, die oft als Stimmungswende bezeichnet wird, wäre dagegen ein f ü r die Motivation der Soldaten insgesamt nachgeordnetes Phänomen; vgl. Haase, Desertion, S. 528. Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht (1995), S. 226 f. Bei direkt in Kursk eingesetzten Truppenteilen gab es sogar gravierende Auflösungserscheinungen. So etwa bei der 18. Panzer-Division, w o ein ganzes Bataillon aus der Stellung floh. Die Division wurde nach weiteren häufigen Desertionen und Paniken im O k tober 1943 aufgelöst; vgl. Bartov, Front, S. 11 f., 33 ff. Die Zahl der flüchtigen Beschuldigten war um das Dreifache gegenüber dem Zeitraum von August 1941 bis Juni 1943 gestiegen; vgl. Hennicke, Auszüge, S. 444; Wüllner, NSMilitärjustiz, S. 452 ff.; ferner Seidler, Fahnenflucht, S. 31. Vgl. auch im folgenden für den Ersten Weltkrieg Ziemann, Fahnenflucht, S. 1 1 6 f.
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von einigen hunderttausend" zu erweitern wäre 26 . In der Endphase des Krieges ist allerdings die Abgrenzung der Fahnenflüchtigen von den Versprengten nicht immer genau zu treffen. Das O K H erließ kurz vor Kriegsende Befehle über die standrechtliche Erschießung von abseits ihres Truppenteils angetroffenen Soldaten und gab damit die Unterscheidung zwischen Versprengten und Fahnenflüchtigen in der Praxis auf 27 . Auf der Statistik der flüchtigen Beschuldigten baut auch eine neuerliche Schätzung von „kaum unter 300000" Fahnenflüchtigen bis Ende 1944 auf. Sie basiert auf mannigfaltigen Unwägbarkeiten und bezeichnet deshalb vermutlich einen Maximalwert 28 . Ein bisher nahezu völlig vernachlässigtes Themenfeld sind die möglichen Fluchtwege und -chancen sowie die Überlebensstrategien der Deserteure29. Den sichersten Weg bot wiederum die Flucht in das neutrale Ausland. Im Zweiten Weltkrieg gelang es allerdings nur einer sehr kleinen Zahl von Wehrmachtsoldaten, Schweden oder die Schweiz zu erreichen. Auch wenn die zur Verfügung stehenden Zahlenangaben in gewissem Umfang schwanken, dürften es letztlich nicht mehr als wenige Tausend gewesen sein30. Der gesamte Komplex der Behandlung und Internierung der Deserteure im neutralen Ausland verdient weitere Forschungsanstrengungen, für die Schweiz auch im Rückblick auf die Situation in den Jahren 1914-1918. Dies gilt insbesondere für die differenzierte Aufarbeitung der im Schweizerischen Bundesarchiv für den Zweiten Weltkrieg vorhandenen Einvernahmeberichte. Diese vermitteln detaillierte und offenbar weitgehend vorbehaltlose Aufschlüsse über Motivlagen der Fahnenflüchtigen und deren militärisches Umfeld vor der Flucht 31 . Nur wenige Informationen liegen über die spezifische Motivation, praktisch überhaupt keine über die Zahl jener Soldaten vor, die an den verschiedenen 26
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Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 131. Die Formulierung ist unklar, und sowohl der Modus der Berechnung als auch die einfließenden Annahmen sind nicht angegeben. Diese Schätzung von „weit über hunderttausend" liegt - z.T. in abgewandelter Form - vielen Angaben in der Literatur zugrunde; vgl. ζ. B. Haase, Desertion, S. 534. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 127. Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 457 ff., Zit. S. 459; Seidler, Fahnenflucht, S. 320, bezeichnet diese Schätzung als „absurd". Die von ihm vorgebrachten Argumente sind fadenscheinig, insbesondere hinsichtlich der von Wüllner explizit berücksichtigten Abgrenzung von Fällen unerlaubter Entfernung. Völlig unseriös ist es, sich auf die - ohnehin bereits nach oben zu korrigierende - Verurteiltenziffer der Wehrmachtkriminalstatistik von 13000 Fällen als einzig objektiven Wert zurückzuziehen und alle weiteren Schätzungen als unbelegbar zurückzuweisen; vgl. ebd., S. 21, 154, 287,294. Vgl. die Fallbeispiele bei Haase, Alltag, S. 272-282. Für die Schweiz vgl. Haase, Desertion, S. 532 (ca. 550, ohne Beleg); Seidler, Fahnenflucht, S. 206-243, hier S. 207 (434 „anerkannte" Deserteure, aber seit Herbst 1944 täglich 150 Grenzübertritte deutscher Soldaten mit einer unbekannten Zahl von Deserteuren); für Schweden vgl. Haase, Desertion, S. 532 (ca. 300, ohne Beleg); Seidler, Fahnenflucht, S. 245 (700 registrierte Deserteure, ohne nachvollziehbare Angabe der Fundstelle); Müssener, Exil, S. 94 (etwa 1000 Deserteure, von denen ca. 300 politisch Stellung bezogen haben). Bislang unerschlossene Quellen befinden sich in Stockholm im Reichsarchiv und im Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek; freundliche Auskunft von Herrn Martin Grass, Stockholm. Eine erste quantitative Auswertung bei Seidler, Fahnenflucht, S. 315 ff-, allerdings ohne zeitliche Aufschlüsselung und ohne Angabe des sozialen Kontextes; abweichend, mit knappen Hinweisen auf den Kontext der Kriegsmüdigkeit bei Haase, Gewalterfahrung, S. 127f.
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Fronten zu den gegnerischen Linien überliefen. Gut erschlossen ist diese Thematik allein im Hinblick auf jene Uberläufer, die dezidiert politische Motive hatten und sich nach dem Erreichen der gegnerischen Linien den nationalen Befreiungsbewegungen oder dem Nationalkomitee Freies Deutschland anschlossen 32 . Als quantitativ marginales Sonderphänomen ist auch die Geschichte der vorwiegend durch politische Motive bestimmten sozialistischen und kommunistischen Verweigerer und Überläufer aus den Bewährungstruppen 500 und 999 sowie der SS-Sonderformation Dirlewanger ausgiebig behandelt worden 33 . Gänzlich unbekannt ist dagegen die - vermutlich nicht unbeträchtliche - Zahl von Uberläufern zu den westlichen Alliierten in Frankreich und Italien sowie deren Motivationslagen. Ebenfalls in ihren Konsequenzen bisher überhaupt nicht bedacht wurde die Tatsache, daß die proportional auf die Mannschaftsstärke bezogene Zahl der militärgerichtlichen Verurteilungen wegen Fahnenflucht im Ersatzheer stets um das drei- bis fünffache über derjenigen im Feldheer lag 34 . Völlig unklar ist demnach, ob sich darin nur die Abgabe von Fällen an andere Gerichte oder etwa eine höhere „Erfolgs"-Quote bei der Ergreifung und Aburteilung von Flüchtigen im Heimatheer widerspiegelt 35 . Oder ist diese Diskrepanz doch ein Hinweis auf tatsächlich bestehende Unterschiede in der Intensität der Fahnenflucht zwischen Feld- und Heimatheer? Die Klärung dieses Sachverhaltes wäre nicht nur im Hinblick auf die Fluchtwege der Deserteure, sondern auch für die Frage nach ihren Motiven bedeutsam, da im Ersatzheer die Befreiung vor den Gefahren des Fronteinsatzes nur mittelbar in der Flucht vor der Frontabstellung motivierend gewirkt haben kann. Vielleicht lag die 1944 in der Relation zum Feldheer nochmals stark steigende Zahl an Verurteilungen im Ersatzheer an der vermehrten Einberufung bisher in der Rüstungsindustrie tätiger, u.k-gestellter Facharbeiter. Ein Teil von ihnen, zumal wenn sie bereits älter waren, mag nunmehr den Entschluß gefaßt haben, sich auf keinen Fall mehr an der Front „verheizen" zu lassen 36 . In der Etappe und den besetzten Gebieten gab es anscheinend relativ gute Möglichkeiten für Fahnenflüchtige, um für längere Zeit unterzutauchen, sofern sie neben gefälschten oder gestohlenen Ausweispapieren über gute Kenntnisse des Landes und wenn möglich auch seiner Sprache verfügten. Offenbar konnten Deserteure in vielen Fällen auch mit der Hilfe der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern rechnen. Dies galt ohnehin für zwangsrekrutierte Wehrmachtsoldaten aus Elsaß-Lothringen und Luxemburg, Slowenien sowie Angehörige der „Deutschen Volksliste" in den besetzten polnischen Gebieten, die
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Paul, Überläufer; Doernberg (Hrsg.), Bunde. Vgl. Klausch, Geschichte; ders., Bewährungstruppe; ders., Antifaschisten. Vgl., ohne jeden Versuch einer Interpretation, die Angaben bei Seidler, Fahnenflucht, S. 284 f. Für die Abgabe von Verfahren vgl. Eberlein u. a., Militärjustiz, S. 35, 1 1 1 . Vgl. Werner, Arbeiter, S. 274 ff., 338 f.; Beispiele bei Haase, Alltag, S. 277. Jugendliche A r beiter meldeten sich auch in der zweiten Kriegshälfte noch freiwillig f ü r den Dienst in Wehrmacht und Waffen-SS. Das als Kontrast zur Verweigerung aufschlußreiche Phänomen der Kriegsfreiwilligen beschränkte sich nicht auf Freiwillige aus den verbündeten und besetzten Ländern, wie Behrenbeck, Kult, S. 487, meint.
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in erheblichem Umfang desertierten oder zu anderen Verweigerungsformen griffen 37 . Nach dem bisherigen Kenntnisstand scheint die Mehrzahl der Fahnenflüchtigen aber im Reichsgebiet, oftmals sogar im Heimatwohnsitz oder dessen Nähe, eine Unterkunft gesucht zu haben. Ehefrauen, Verwandte und Bekannte, aber vor allem auch Frauen, die sie erst während der Flucht kennengelernt hatten, leisteten ihnen dabei Hilfe durch die Gewährung einer Unterkunft und die Versorgung mit Lebensmitteln 38 . Auf diese Weise war es in vielen Fällen durchaus möglich, für mehrere Wochen oder Monate, zuweilen sogar für ein bis zwei Jahre unterzutauchen. Andere Soldaten wurden dagegen in kürzester Zeit gefaßt. Das Leben in der Illegalität, daran gibt es keinen Zweifel, war mit zahlreichen schwerwiegenden Hindernissen und Risiken behaftet 39 . Die Kontrollen durch die Wehrmachtstreifen und Feldjäger waren, solange man noch Uniform trug, nur eines davon, dem sich mit gefälschten Papieren oftmals noch entkommen ließ 40 . Vielleicht mindestens ebenso gravierend war die Gefahr, die für den im Reichsgebiet Zuflucht suchenden Fahnenflüchtigen von einer Denunziation seiner Tat ausgehen konnte. Viele Festnahmen erfolgten, nachdem Nachbarn in ihrem Wohnumfeld eine verdächtig erscheinende männliche Person bemerkt hatten, oder wenn andere Zivilisten aus zufälligem Grund von der wahren Existenz des Flüchtigen erfuhren. Oftmals wurde dieser dann - aus eigenem Antrieb - bei den Behörden angezeigt. Um die Mithilfe der Bevölkerung bei der Fahndung nach Deserteuren hat die Wehrmacht, im Einverständnis mit den Parteidienststellen, erst als Reaktion auf das Attentat vom 20. Juli 1944 gebeten, nachdem einige Angehörige des Widerstands untergetaucht waren 41 . Deserteure waren in der zivilen deutschen Bevölkerung Außenseiter, mit denen sich kaum jemand solidarisierte. Dies hatte negative Folgen für ihre Bestrebungen, möglichst unentdeckt das Kriegsende zu erreichen. Eine systematische Analyse dieser Problematik dürfte die Vermutung stützen, daß die deutsche Bevölkerung in erheblichem Umfang selbst zur Kontrolle und
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Vgl. die Hinweise bei Haase, Deserteure, S. 68, 83 ff., 112 f.; Seidler, Fahnenflucht, S. 266 ff.; Erfahrungen aus dem Nachprüfungsverfahren, Heeresrechtsabteilung im O K H , 1. 9. 1943, abgedruckt in: Haase, Reichskriegsgericht, S. 6 5 - 7 0 , hier S. 66, 68 f.; Haase, Schicksal. Zahlreiche Hinweise in den Fallgeschichten bei Kammler, Metzelei, S. 2 3 - 8 6 ; Haase, Gefahr, S. 1 3 6 - 1 8 2 ; Fahle, Verweigern, S. 1 1 7 - 1 5 0 , v. a. S. 126 f. Haltlos dagegen die Formulierungen bei Seidler, Fahnenflucht, S. 272, der nicht beachtet, daß die v o n ihm präsentierte Quelle zur Information der Fahndungsbehörden diente; vgl. Haase, Alltag, S. 274. Vgl. den Hinweis bei Haase, Deserteure, S. 71, auf einen Deserteur, der während einer zweijährigen Flucht zehnmal durch Heeresstreifen kontrolliert wurde. Eine im Hinblick auf die Intensität der Kontrollen ergiebige Darstellung, die Böckle, Feldgendarmerie, ersetzt, bleibt ein Desiderat. Seit 1944 wirkte auch die Geheime Feldpolizei an der Fahndung nach Deserteuren mit; vgl., mit Hinweisen auf den geringen Erfolg, Geßner, Feldpolizei, S. 353. V o n Veteranen wird dieser Punkt in der Erinnerung oftmals stark hervorgehoben. Hinweise ζ. B. bei Saathoff/Eberlein/Müller, Tode, S. 81 ff.; Schluckner, Sklaven, S. 14; Seidler, Fahnenflucht, S. 178 f., 277; Schmidt, Lichter, S. 178; Fahle, Verweigern, S. 134; Haase, Alltag, S. 278.
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Überführung „verdächtig" erscheinender Militärpersonen beitrug und damit einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung der Fahnenflucht leistete. Die seit einiger Zeit in der Forschung problematisierte Rolle von Denunziationen für die Arbeit des Verfolgungsapparates verdient auch im Hinblick auf die Deserteure weitere Beachtung. Gerade in der zweiten Kriegshälfte wurde die Anzeigebereitschaft forciert und stieg die Zahl der Denunziationen rapide an, insbesondere gegen defätistische Äußerungen und „Drückebergerei" vor dem Kriegsdienst. Vor allem aus der systemloyalen Empörung gegenüber solchen Verfallserscheinungen an der Heimatfront dürfte auch die Bereitschaft zu erklären sein, fahnenflüchtige Soldaten der Wehrmachtjustiz in die Arme zu treiben 42 . Zu diesem gesamten, bisher von der Forschung sträflich vernachlässigten Komplex der Möglichkeiten und Risiken einer Fahnenflucht und damit zu den Manifestationsbedingungen soldatischer Verweigerung zählt schließlich die Frage nach der Abschreckungswirkung durch die militärjustizielle Sanktionsdrohung. In diesem Zusammenhang ist zunächst die irrige Vorstellung abzuweisen, die Frage nach der Durchhaltebereitschaft der Truppe sei letztlich durch den Hinweis darauf erledigt, daß ein Deserteur „normalerweise" mit dem Tode bestraft werde 43 . Die Summe der etwa 20-22 000 vollstreckten Todesurteile in der Wehrmacht, darunter allein 15 000 wegen Fahnenflucht, legt Zeugnis von der Unbarmherzigkeit einer hochgradig ideologisierten Militärjustiz ab 44 . Es bedeutet keine Relativierung dieser Schreckensbilanz, wenn man darauf hinweist, daß damit bis Ende 1944 schätzungsweise „nur" jeder achte bis zehnte tatsächlich fahnenflüchtige Soldat hingerichtet wurde. Allein durch die massive Androhung und Exekution von Todesurteilen läßt sich die Disziplin einer Truppe also nicht dauerhaft sicherstellen. Aus diesem Befund ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob und wie Soldaten, die flüchten wollten oder es dann wirklich taten, die ihnen drohende Gefahr einer Bestrafung einschätzten. Gingen sie nach ihrem Wissensstand von der regelmäßigen Anwendung der Todesstrafe aus, oder schätzten sie das Risiko als geringer ein? Ferner ist zu fragen, ob und wie die Kalkulation dieser Gefahr ihr Handeln oder Nicht-Handeln im Einzelfall beeinflussen konnte. Dies ist insbesondere für jene Gruppe von Fahnenflüchtigen bedeutsam, die erst nach einer Kette von kleineren Delikten den Entschluß zur dauerhaften Entfernung von der Truppe faßten. Walther von Brauchitsch drängte als Oberbefehlshaber des Heeres bereits Ende 1939 auf die zügige Vollstreckung von Todesstrafen, da sich „andere Soldaten von gleichen oder ähnlichen Taten" seiner Meinung nach dann leichter abhalten ließen. Eine generalpräventive Wirkung der Verkündung von Todesurteilen in der Truppe läßt sich allerdings mit Fug und Recht bezweifeln, zumal ihre systematische Bekanntmachung offenbar nur in den letzten Kriegsmonaten er-
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Vgl. grundlegend Diewald-Kerkmann, Denunziation, bes. S. 74—83, 1 0 0 - 1 0 5 . Vgl. etwa f ü r den Ersten Weltkrieg die Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung durcheinanderwerfende und angesichts der wenigen Todesurteile in den Jahren 1 9 1 4 - 1 9 1 8 völlig abwegige Formulierung bei Mommsen, Bürgerstolz, S. 716. Vgl. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 6 3 - 8 9 , 91.
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folgte 45 . Die tatsächliche Form und Häufigkeit der Belehrung über die Strafvorschriften in der Truppe ist momentan allerdings noch nahezu unerforscht. Dies gilt auch für ihre Verbindung mit den allgemein wirksamen disziplinarischen Aktivitäten auf niedriger Stufe, also den Ermahnungen, der Verhängung von Arrest und weiteren Maßnahmen, mit denen die Truppenoffiziere Verstöße gegen die Disziplin einzudämmen versuchten 46 . Zu dem gesamten, hier nur knapp umrissenen Themenkreis der förderlichen und restriktiven Bedingungen für die Entscheidung zur Desertion und ihre Durchführung hat die einschlägige Forschung bisher nur sehr wenig beigetragen. Erschreckend gering sind aber auch die Bemühungen, vorhandene Daten zum Sozialprofil der Deserteure und ihren Motiven zusammenzutragen, selbst wenn Informationen über ein Sample von Fahnenflüchtigen zur Verfügung stehen. U m so wichtiger sind die beiden vorliegenden Versuche dieser Art, die dem mit Vehemenz geführten Streit um die Motive zumindest ansatzweise eine zuverlässige Grundlage verschaffen können 47 . Die dem üblicherweise benutzten Quellenmaterial immanenten Schwierigkeiten bei der korrekten Zuschreibung von Motiven sowie das generelle Problem, daß in vielen Fällen ein ganzes Bündel von Motiven erst mit einem spezifischen, situativen Auslöser eine Fahnenflucht in Gang setzte, können auch diese Zusammenstellungen nicht aus der Welt schaffen. Das Bemühen um Generalisierung und Typologisierung bleibt dennoch unverzichtbar, wenn das analytische Begreifen nicht vorschnell vor der Komplexität der historischen Realität kapitulieren soll 48 . Bereits über eine aus den Gerichtsakten leicht verfügbare Information, das Alter der Fahnenflüchtigen, liegen jedoch keinerlei Erhebungen vor. Dies ist ausgesprochen bedauerlich, da in der Einstellung zum Militärdienst und zu den Belastungen des Krieges generell erhebliche Unterschiede zwischen jungen, ledigen und älteren Soldaten mit familiärer Bindung bestanden 49 . Diese Differenz zwischen den Altersgruppen mußte zudem in der Wehrmacht noch besondere Brisanz dadurch gewinnen, daß die jüngeren Soldatenjahrgänge bereits durch die Sozialisationsinstanzen des NS-Regimes wie etwa Schule und Hitler-Jugend geprägt waren. Wiederholt ist die These vertreten worden, in der Endphase 1944/45 habe es sich bei den Deserteuren um „immer jüngere" Soldaten gehan-
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O b e r b e f e h l s h a b e r des H e e r e s , 6. 12. 1939, zit. nach Seidler, Militärgerichtsbarkeit, S. 172. Z u einem negativen Urteil k o m m t die a b g e w o g e n e U n t e r s u c h u n g v o n Wüllner, N S - M i l i tärjustiz, S. 5 8 7 - 6 2 9 ; vgl. aber f ü r die V e r k ü n d u n g v o n T o d e s u r t e i l e n Eberlein u. a., Militärjustiz, S. 122 ff.; Fahle, Verweigern, S. 75 ff.; B a r t o v , F r o n t , S. 30. F ü r die subjektive W a h r n e h m u n g vgl. S a a t h o f f / E b e r l e i n / M ü l l e r , T o d e , S. 86 f. K n a p p e H i n w e i s e auf die einschlägigen V o r s c h r i f t e n u n d Befehle bei Seidler, Fahnenflucht, S. 160-163. F ü r die J a h r e 1 9 1 4 - 1 9 1 8 vgl. Z i e m a n n , F r o n t , S. 106-120. Vgl. Paul, Soldaten, S. 3 4 - 4 2 , auf der Basis v o n 67 Fällen, d a v o n 40 Deserteure; Seidler, F a h n e n f l u c h t , S. 2 9 5 - 3 0 2 , anhand v o n 240 Urteilen des G e r i c h t s der W e h r m a c h t k o m m a n d a n t u r Berlin, 185 nicht näher bezeichneten U r t e i l e n der Marine u n d einer nicht angegebenen Zahl v o n Feldurteilen der 3. u n d 4. Flakdivision. Z u den M o t i v e n aussagekräftiger die insgesamt 487 A n g a b e n mit M e h r f a c h n e n n u n g e n in Einvernahmeberichten der S c h w e i z , ebd., S. 3 1 5 - 3 1 8 . Vgl. beispielsweise K n i p p s c h i l d , D e s e r t e u r e , S. 136. F ü r die J a h r e 1 9 1 4 - 1 9 1 8 vgl. Z i e m a n n , F r o n t , S. 178-183. E i n e z u s a m m e n f a s s e n d e D a r stellung dieser D i f f e r e n z e n f ü r den Zweiten Weltkrieg liegt n o c h nicht vor.
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delt. Dies scheint angesichts eines ähnlichen Befundes für das Ende des Ersten Weltkrieges durchaus plausibel. Ein Beleg dafür wurde bisher allerdings nicht erbracht 50 . Nach den vorliegenden, soziographisch allerdings nur sehr ungenau klassifizierten Daten waren (ungelernte) Arbeiter unter den Fahnenflüchtigen überrepräsentiert, Angestellte und Selbständige aus Gewerbe, Handel und Landwirtschaft dagegen offenbar, gemessen an ihrem Anteil an den Erwerbstätigen, unterrepräsentiert 51 . Noch zu klären wäre, ob Soldaten mit landwirtschaftlicher Beschäftigung wie bereits im Ersten Weltkrieg deutlich weniger vertreten waren, als es ihrem Anteil an den männlichen Erwerbstätigen entsprach, der 1939 immerhin noch knapp 19% betrug. Jeder Versuch einer derartigen Analyse steht allerdings momentan vor dem weiteren Problem, daß Vergleichsdaten über die soziale Zusammensetzung der Truppenteile des Feld- und Ersatzheeres, also über Fluktuation, Alters- und Berufsverteilung m.W. nirgendwo vorliegen. Die entsprechenden Daten lassen sich vermutlich nur mit erheblichem Aufwand oder nur beispielhaft, oftmals vielleicht anhand der vorhandenen Quellen auch gar nicht erheben. Ungeachtet dessen ist damit ein gravierendes Defizit der Forschung zu den sozialstrukturellen Grundlagen der Wehrmacht bezeichnet, dessen Aufarbeitung unverzichtbare Ausgangsdaten für die Erforschung sozialer Ungleichheit in der bewaffneten Macht wie in der Kriegsgesellschaft insgesamt liefern würde 52 . Damit wären ferner wichtige Perspektiven für die Kenntnis sozialer und funktionaler Differenzierung in der Wehrmacht eröffnet, und, nicht zuletzt und hier vor allem interessierend, für die genaue Verortung und Ursachenanalyse soldatischer Verweigerung. Für all diese Zwecke ist die von Wolfram Wette vorgeschlagene Formel vom „kleinen Mann", der den Gegenstand einer sog. „Militärgeschichte von unten" bilden solle, als kategorialer Rahmen wenig tauglich 53 . Als Kampfbegriff gegen eine antiquierte Politikgeschichte des Militärs und seiner Eliten hat dieser Begriff eine wichtige Funktion erfüllt. Die erheblichen empirischen Probleme, aber auch die beträchtlichen heuristischen Vorteile einer methodisch trennscharfen Sozialstrukturanalyse des Militärs, die nicht nur für die Wehrmacht eine wichtige Aufgabe der Forschung bleibt, werden durch diesen unpräzisen Terminus allerdings unnötig vernebelt 54 . In Bezug auf die Motivlagen lassen die vorliegenden Erhebungen eine Differenzierung in drei große Gruppen von Fahnenflüchtigen erkennen 55 . Etwa 15%, in
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Vgl. Haase, Desertion, zit. S. 534; Messerschmidt, Deserteure, S. 69. Vgl. Paul, Soldaten, S. 37; Seidler, Fahnenflucht, S. 296. Die von Seidler vorgenommene Berufsanalyse ist in ihrer Klassifikation weitgehend wertlos. Für diese v. a. aus dem Wechselspiel von Rekrutierung und kriegswirtschaftlicher Verwendung resultierenden Zusammenhänge vgl. am Beispiel des Ersten Weltkrieges ausführlich Ziemann, Front, S. 57-75. Vgl. Wette, Militäreeschichte, S. 14 f. Angemerkt sei, daß der einem Seitenzweig der Volkskunde entstammende Begriff in der modernen sozialgeschichtlichen Forschung keinerlei Relevanz besitzt; vgl. als gute Einführung die Darstellung von Kaschuba, Lebenswelt. Vgl. im folgenden Paul, Soldaten, S. 36 ff., 40 f. (hier der Anteil von einem Drittel für die erste Gruppe, allerdings auf der Basis eines sehr kleinen Samples); Seidler, Fahnenflucht,
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einem anderen Sample ein Drittel der Deserteure nannte als Motiv die politische Opposition gegen das NS-Regime oder religiöse Motive. Diese Soldaten stammten in der Regel aus sozialdemokratischen und kommunistischen Elternhäusern oder waren christlich, vor allem katholisch geprägt. Explizit politisch oder religiös motiviert war also nur eine Minderheit von sicherlich nicht mehr als einem Fünftel der Fahnenflüchtigen. Die Angehörigen dieser Gruppe hatten zu einem erheblichen Teil schon vor der Stimmungswende im Sommer 1943 einen Fluchtweg aus dem militärischen Apparat gesucht. Oftmals brachten sie die Entschlossenheit, eine Chance zur Verweigerung zu nutzen, schon bei der Einberufung zum Militärdienst mit. Opposition zum NS-Regime motivierte direkt also nur einen sehr kleinen Teil der Fahnenflüchtigen. Selbst Überläufer zur Roten Armee beriefen sich bei ihrer Vernehmung kaum auf dieses Motiv, obwohl sie sich Vorteile davon versprechen konnten 56 . Erheblich größer war dagegen der Kreis jener Deserteure, die eine allgemeine Vorprägung durch soziale Milieus aufwiesen, die zum Nationalsozialismus in Distanz standen. In einem allerdings sehr kleinen Sample war insgesamt die Hälfte der Verweigerer von der Herkunft aus dem linksproletarischen oder katholischen Milieu geprägt. Eine direkte oppositionelle Motivlage für den Entschluß zur Flucht wiesen sie nicht unbedingt auf. Die in Elternhaus und Bekanntenkreis verbreiteten Wertvorstellungen hatten ihnen aber offenbar moralische Normen und Urteilskategorien vermittelt, die eine innere Distanzierung von Wehrmacht und Kriegsgeschehen zur Folge hatten. Durch diesen von der Mehrheit der Soldaten abweichenden sozialmoralischen Orientierungsrahmen wurde ein dann letztlich aus anderen Motiven erfolgender Entschluß zur Fahnenflucht oftmals erleichtert. Von der Motivation her bilden diese Deserteure damit keine eigenständige Gruppe 57 . Bereits vor dem Sommer 1943, der eine tiefgreifende Zäsur für die Bereitschaft zur Desertion darstellt, in steigender Zahl dann aber danach handelte die größte, mehr als die Hälfte aller Fälle umfassende Gruppe von Fahnenflüchtigen. Ihre Tat war durch familiäre Gründe wie das Heimweh nach der Familie oder die Sehnsucht nach einer Frau, vor allem aber durch Kriegsmüdigkeit motiviert. Die spezifischen Triebkräfte dieser Kriegsmüdigkeit lassen sich momentan nur ansatzweise bestimmen 58 . Neben Angst vor einer Versetzung an die
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S. 315 ff.; Saathoff/Eberlein/Müller, Tode, S. 70 ff.; Haase, Gefahr, bes. S. 136; ferner die Fallgeschichten bei Kammler, Metzelei; Fahle, Verweigern. Vgl. Bartov, Conduct, hier S. 43. Nicht belegt ist die These von Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 466, „Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime" sei vielleicht sogar das „Hauptmotiv" der Deserteure gewesen. Nicht überzeugend auch Messerschmidt, Deserteure, S. 118. Vgl. auch im folgenden die Belege in Anm. 55. Zur Diskussion der Zusammenhänge von Milieuprägung und widerständigem Verhalten vgl. Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), A n passung. Angemerkt sei, daß die spezifischen Milieuprägungen des Saarlandes, auf dessen Befunden diese These vor allem beruht, insbesondere hinsichtlich des hohen Anteils von katholischen Industriearbeitern exzeptionell waren. V o r allem im Hinblick auf die Leitbilder und die Rezeption der katholischen Soldatenpastoral besteht hier weiterer Forschungsbedarf. V o r dem Hintergrund immer noch vorhandener Vorurteile ist zu betonen, daß die Furcht
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Ostfront, Abscheu über die deutschen Greueltaten oder allgemeinem Entsetzen über die massenhafte Vernichtung von Menschenleben scheinen vor allem die Einsicht in die Vergeblichkeit des deutschen Feldzuges und, damit einhergehend, Zweifel am „Endsieg" dominant gewesen zu sein. Eine dritte, m.E. für sich zu behandelnde Gruppe von vielleicht 15-20% der Deserteure stellten jene Soldaten dar, gegen die nach häufig vorkommenden und eher geringfügigen Delikten wie etwa unerlaubter Entfernung, Wachvergehen und Urlaubsüberschreitung oder einer Gehorsamsverweigerung militärgerichtlich ermittelt wurde oder die deshalb bereits in Untersuchungshaft saßen. In kurzschlüssiger Panik oder im Wissen um die drakonischen Strafdrohungen der NS-Militärjustiz versuchten sie nun, sich dem militärischen Apparat dauerhaft zu entziehen. Der hohe Konformitätsdruck, der von der Sanktions- und Repressionsgewalt innerhalb der Wehrmacht ausging, trug somit zur Konstituierung dieser Gruppe von Verweigerern ganz wesentlich bei 59 . Die Grenzen jeden Versuchs, Desertion als Widerstand zu klassifizieren, werden hier besonders deutlich. Diese vermutlich überwiegend sehr jungen Soldaten leisteten weder subjektiv noch objektiv einen Beitrag zur Schwächung des militärischen Instruments. Sie waren nur die tragischen Opfer einer oftmals erbarmungslosen Militärjustiz, in deren Maschinerie sie nach einer Verkettung von Zufällen und Überreaktionen immer tiefer hineingeraten waren. Die hier vorgenommene Unterscheidung von drei Gruppen von Deserteuren ist als vorläufige Typologisierung gedacht, die weiteren Forschungen als Frageraster dienen könnte. Insbesondere zwischen den in einem weiteren Sinne milieugebundenen, aber nicht direkt politisch oder religiös motivierten Fahnenflüchtigen und jenen, die aus einem letztlich auf Kriegsverdrossenheit hinweisenden Motivbündel heraus handelten, gab es eine breite Zone der Überschneidung. Seit dem Sommer 1943 dürfte die zweite Gruppe eine stetig anwachsende Mehrheit der Deserteure gestellt haben. U m ihre Einschätzung der Kriegslage und damit die zugrundeliegenden Motivbündel genauer fassen zu können, wäre, über den engeren Kreis der aktiven Verweigerer hinaus, eine genauere Kenntnis der bei den Soldaten vorherrschenden Stimmungslagen und politisch-militärischen Situationseinschätzungen von Nutzen. Die sich etappenweise verschlechternde Stimmung und die damit verbundenen Erwartungen an den Fort- oder Ausgang des Krieges stellten in der zweiten Kriegshälfte gleichsam den Resonanzboden dar, auf dem eine kleine, aber stetig anwachsende Minderheit der Truppenangehörigen dann den Übergang zur Fahnenflucht vollzog 60 . Eine mit Hilfe der Berichte von Feldpostprüfstellen
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v o r unmittelbarer persönlicher Gefahr, „Feigheit" im Jargon des MStGB, in der Regel kein treibendes Motiv war; vgl. Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 464. Vgl. wie Anm. 55; ferner Eberlein u.a., Militärjustiz, S. 61, 78ff.; Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, 27. 4. 1943: Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 465. Besondere Beachtung verdient das bisher nicht systematisch untersuchte Phänomen, daß nun in offenbar nennenswerter Zahl auch Wehrmachtangehörige, die bereits v o r 1933 der N S D A P beigetreten waren, sowie insbesondere auch Offiziere desertierten oder sogar überliefen. Für einen unmittelbar durch den verheerenden Eindruck der Kursker Panzerschlacht im Juli 1943 und den folgenden Ubergang zur Verteidigung motivierten Einzelfall vgl. Haase, Schluß, bes. S. 373. Im Ersten Weltkrieg desertierte nur eine kleinere Zahl
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und anderen Quellenmaterialien zu erstellende Analyse der Stimmungsverschlechterung würde genaueren Einblick in die Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung des Krieges und den Motiven der Verweigerung verschaffen 61 . Weiter zu erhärten wäre dabei z.B. die oben formulierte These, daß anders als in der Zivilbevölkerung nicht die Niederlage von Stalingrad, sondern erst die militärischen Ereignisse des Sommers 1943 einen gravierenden Stimmungsumschwung bei den Soldaten auslösten. Sowohl von ihrem Umfang her als auch im Hinblick auf die Folgen für Militärbehörden und Soldaten war Fahnenflucht die bedeutsamste Verweigerungsform in der Wehrmacht. Trotz der genannten, ζ. T. gravierenden Forschungsdefizite ist sie insgesamt noch ein relativ gut aufgearbeitetes Thema. Dem stehen eine Reihe von Verweigerungsformen gegenüber, über deren Ausmaß, Motive und Bedeutung bisher nur wenige oder nur ganz bruchstückhafte Informationen vorliegen. Dies betrifft zunächst den Gesamtkomplex der durch die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17. August 1938 definierten „Wehrkraftzersetzung". Wegen Verstößen gegen diese Strafnorm einer im nationalsozialistischen Sinne politisierten Militärjustiz wurden bis Kriegsende schätzungsweise 35 000 Urteile gefällt 62 . Die Interpretation dieser Zahl wirft ein doppeltes Problem auf. Zum einen ist nach der Verteilung der Deliktgruppen des § 5, Absatz 1 KSSVO zu fragen, der unter Nr. 1 die „zersetzende" Rede, unter Nr. 2 die Verleitung zu Ungehorsam, Fahnenflucht etc. sowie unter Nr. 3 die versuchte Dienstentziehung durch Täuschung oder Selbstverstümmelung mit Strafe bedrohte 63 . Die in diesem Punkt in der Literatur anzutreffende Konfusion kann hier nur angedeutet, aber nicht endgültig aufgelöst werden 64 . Sie erfordert eine neuerliche gründliche Auswertung der Wehrmachtkriminalstatistik, die Aufschluß über die Verteilung dieser drei Deliktgruppen und deren jeweilige Steigerungsrate verschafft. Daran anschließend kann eine Kalkulation des tatsächlichen Gesamtumfanges der jewei-
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von Offizieren elsaß-lothringischer Herkunft. Die Desertion von Offizieren dürfte neben dem Stimmungseinbruch mittelbar auch der sozialen Öffnung des Offizierkorps und dem damit einhergehenden Verlust an „ständischer" Homogenität zu verdanken sein. Vgl. Kroener, Weg. Zu diesen Quellen vgl. Humburg, Feldpostbriefe; Vogel, Tod, S. 3 7 - 5 7 ; Arnold/Hettling, Briefe. Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 503. Reichsgesetzblatt, I, 1939, S. 1455 ff. Vgl. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, die auf S. 143 auf eine Anordnung vom 19. 11. 1942 ( B A - M A , R H 14/29) hinweisen, nach der die Fallgruppen des § 5 K S S V O in der Wehrmachtkriminalstatistik einzeln ausgewiesen werden mußten. Deren Unterlagen waren den Autoren damals nicht zugänglich. Dörner, Krieg, S. 108, behauptet fälschlich das Gegenteil, also das Nichtvorhandensein getrennter Nachweise. Seidler, Prostitution, S. 235, spricht ohne Beleg, aber offenbar aufgrund eines im B A - M A vorhandenen Splitters der Statistik davon, daß seit April 1942 nur die Selbstverstümmelung gesondert ausgewiesen wurde, und gibt f ü r das zweite Quartal 1942 einen Anteil von 6 0 % an allen Urteilen wegen § 5 K S S V O an. Darauf basiert vermutlich eine nicht weiter erläuterte oder belegte Schätzung von insgesamt 1 0 0 0 0 Urteilen nur wegen Selbstverstümmelung, ebd., S. 271. Schwinge, Verfälschung, S. 110, behauptet für die Zeit ab dem vierten Quartal 1942 eine Differenzierung nach vier Fallgruppen und nennt für dieses Quartal einen Anteil der Urteile wegen Selbstverstümmelung/Täuschung von rund zwei Dritteln.
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ligen Verurteilungen bei der Selbstverstümmelung und den anderen Delikten vorgenommen werden. Zum anderen ist vor allem bei den Deliktgruppen nach Nr. 1 und Nr. 3 zu konstatieren, daß sich hinter der so zu bestimmenden Zahl der Verurteilungen ein Dunkelfeld unbekannter Größenordnung verbirgt. Das ergibt sich bei der „zersetzenden" Rede aus der Tatsache, daß dieses Delikt in der Regel der Denunziation bedurfte, da nur ein Bruchteil der Verfahren von der Beanstandung von Feldpostbriefen durch die Zensur ausging. Die Bereitschaft zur Denunziation läßt sich aber kaum abschätzen. Plausibel ist allenfalls noch die Vermutung, daß sie im Ersatzheer, wo im übrigen auch Zivilpersonen beteiligt sein konnten, ausgeprägter war als an der Front 65 . Ein erhebliches Dunkelfeld ist aber auch bei Fällen der Selbstverstümmelung und der Simulation, also der gezielten Vortäuschung von körperlichen und psychischen Krankheiten, zu vermuten 66 . Fritz Wüllner ist aufgrund seiner Kenntnis zahlreicher Verfahrensakten wegen Selbstverstümmelung davon ausgegangen, daß die Dunkelziffer hier „mehrfach größer" sei als die - bis heute ebenfalls nicht bekannte - Zahl der Verurteilten. Die Annahme einer solchen Größenordnung scheint nicht unplausibel zu sein, kann angesichts der Natur des Dunkelfeldes aber niemals mehr als eine mehr oder minder gut begründete Vermutung darstellen 67 . Genauere Kenntnisse für die Bestimmung dieser Größenordnung könnte hier vor allem eine detaillierte Analyse der Arbeit der Heeressanitätseinrichtungen erbringen, denen die Erkennung von Selbstverstümmelungsfällen in der Praxis zunächst oblag. Die bisher vorliegenden Forschungen lassen erkennen, daß der Erfolg solcher Bemühungen vom Informationsstand des zuständigen Sanitätspersonals, deren Arbeitsaufkommen, daß nach größeren Gefechten erheblich anstieg, sowie dem für die Selbstverstümmelung gewählten Verfahren abhängig war. Aufgesetzte Schußverletzungen waren beim in den vierziger Jahren erreichten Stand der medizinischen Diagnostik relativ gut zu erkennen. Die häufig vorgenommenen Einspritzungen von Petroleum und anderen Flüssigkeiten, die Entzündungen hervorriefen, bereiteten dagegen zunächst größere Probleme. Doch auch hier entwickelten die Sanitätsbehörden im Laufe der Zeit eine große Routine bei der Entdeckung. Gegen Ende des Krieges überwogen deshalb schließlich Arm- und Beinbrüche, auf deren künstliche Zufügung sich einige Soldaten spezialisiert hatten. In dem permanenten Wettlauf zwischen Soldaten und Sanitätsstellen stieß insgesamt die „Erkennung und Erfassung von Selbstbeschädigten ... gewöhnlich auf große Schwierigkeiten." Zudem gab es Fälle vom Selbstverstümmelungen auch im Ersatzheer. Dort wurde 1944 des-
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Vgl. Messerschmidt, Zersetzer, S. 50 ff.; Haase, Gefahr, S. 182 ff. Die „zersetzende Rede" wird hier nicht als Verweigerungsform behandelt. Sie stellt nichts als die umfassende Kriminalisierung eines in allen Armeen ubiquitär anzutreffenden Verhaltens dar. Als verbale Form des Dissenses geben die Fallgeschichten allerdings Hinweise auf die Stimmung unter den Soldaten. Zur häufigen Simulation psychischer Krankheiten und den Gegenmaßnahmen vgl. Riedesser/Verderber, Maschinengewehre, S. 1 2 6 - 1 7 4 ; Eberlein u.a., Militärjustiz, S. 1 7 4 - 1 7 9 . Uninformiert und apologetisch Seidler, Fahnenflucht, S. 160, 182. Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 506; vgl. ähnlich Seidler, Prostitution, S. 255.
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halb für jeden Wehrkreis die Bildung einer Unterrichtsgruppe zur Schulung der Sanitätsoffiziere empfohlen. Im Ersatzheer suchten die Soldaten zuweilen aber zivile Arzte auf, die mit den typischen Verdachtsmomenten nicht vertraut waren 68 . Mindestens ebenso problematisch wie die medizinische Identifizierung war die militärgerichtliche Aburteilung der Selbstverstümmeler, wenn keine lückenlos erscheinenden Indizien vorlagen. Mit ausgeklügelten, die psychische Disposition des Verdächtigen berücksichtigenden Vernehmungstechniken versuchten die Untersuchungsführer dann ein Geständnis zu erreichen. Gelang dies nicht, wurde in der Hauptverhandlung ein neuerlicher Anlauf zur Einschüchterung des Angeklagten unternommen. Im Fall eines „häufig nicht einmal lückenlos zu führenden" Indizienbeweises stand das Gericht dann oft vor der Alternative „Todesstrafe oder Freispruch", wie der Präsident des Reichskriegsgerichts 1940 in einem Bericht an das O K W festhielt 69 . Auch dieser Aspekt der Selbstverstümmelung bedarf weiterer Forschungen anhand von militärgerichtlich verhandelten Einzelfällen, die gleichzeitig das spärliche Wissen über Alters- und Sozialprofil der betreffenden Soldaten erweitern könnten 70 . Plausibel und im Einklang mit ähnlichen Ergebnissen aus dem Ersten Weltkrieg sind Befunde, nach denen sich vor allem sehr junge Soldaten selbst verstümmelten, die oftmals neu an der Front eingetroffen waren und dann unter dem schockartigen Erlebnis der ersten Kampfeindrücke standen 71 . Dabei handelte es sich oftmals um Bauernsöhne oder junge landwirtschaftliche Arbeiter. Diese brachten für Verweigerungsformen wie etwa für den Versuch einer Fahnenflucht, die fortgesetzte Aktivitäten und erhebliches Durchsetzungsvermögen erforderte, nicht das nötige Selbstvertrauen mit. Andererseits ist davon auszugehen, daß viele Soldaten sich nach reiflicher Überlegung ganz gezielt in der nicht unberechtigten Hoffnung verstümmelten, daß dies sehr viel schwieriger zu entdecken und damit weitaus risikoloser sei als eine Fahnenflucht 72 . Insgesamt läßt sich feststellen, daß es sich bei der Simulation von Krankheiten und der Selbstverstümmelung um ungebührlich unterschätzte und dementspre68
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Vgl. Seidler, Prostitution, S. 233-255; Riedesser/Verderber, Maschinengewehre, S. 228; Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 378, 390 ff., 609 ff.; Zit. in: Merkblatt „Richtlinien zur Erkennung und Erfassung von Selbstbeschädigung", o.D. [1944], hrsg. v o m Chef des Wehrmachtsanitätswesens im O K W , und Fallschilderungen: Bundesarchiv Berlin (BA), R 58, 1058, Bl. 19 f., passim. Vgl. Wüllner, NS-Wehrmachtjustiz, S. 368 f., 506-509; Buchheim, Psychologie; Seidler, Prostitution, S. 256-263; Präsident des Reichskriegsgerichts, 3 0 . 5 . 1940, abgedruckt in: Haase, Reichskriegsgericht, S. 47-51, Zit. S. 50. N u r wenige Fallgeschichten bei Kammler, Metzelei, S. 90 ff., 118 f. In den von Haase, Gefahr, untersuchten Akten waren keine Selbstverstümmelungsfälle überliefert, was er mit den fehlenden Kampfhandlungen im Küstengebiet erklärt; vgl. ebd., S. 182. Vgl. im folgenden Seidler, Prostitution, S. 263-267; Ziemann, Front, S. 201-205. Einen Sonderfall stellt die ab Ende N o v e m b e r 1942 stark steigende Zahl von Selbstverstümmelungen im Kessel von Stalingrad dar, mit denen die Soldaten ihre Evakuierung erreichen wollten. Vgl. Overmans, Gesicht, S. 421, 424. Vgl. Fahle, Verweigern, S. 160, mit der plausiblen Vermutung, daß solche die Selbstverstümmelung mit Bedacht kalkulierenden Soldaten älter waren und in geringerem Umfang überführt wurden.
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chend von der Forschung vernachlässigte Verweigerungsformen handelt. Eine genauere Analyse sollte sich insbesondere um die Eingrenzung des Dunkelfeldes und die (nicht nur an den Verurteilungen abzulesende) Darstellung der Steigerungsrate im Kriegsverlauf bemühen. Es könnte sich dabei erweisen, daß diese beiden Verweigerungsformen quantitativ nicht weit hinter der Fahnenflucht zurückstehen, ihr vielleicht sogar - abgesehen von der Endphase 1944/45 - gleichrangig beizuordnen sind. Als weitere, bisher fast gar nicht erforschte Verweigerungsform ist die Befehlsund Gehorsamsverweigerung zu nennen. Hinter dieser Sammelbezeichnung verbirgt sich zunächst die Masse jener in allen Armeen üblichen Spannungen und Reibereien zwischen Vorgesetzten und Soldaten, die sich schließlich in der Weigerung der letzteren niederschlugen, bestimmte Dienstbefehle zu befolgen. In vielen Fällen lag solchen Verhaltensweisen sicherlich eine Vorgeschichte in der besonderen disziplinaren Kontrolle oder dienstlichen „Schikane" durch einen Vorgesetzten zugrunde 73 . Weitaus brisanter, auch angesichts der Kontroversen um die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen, ist dagegen eine andere Form der Befehlsverweigerung. Gemeint sind all jene Wehrmachtangehörigen, die die Ausführung eines ihnen gegebenen Befehls zur Exekution von Zivilisten oder unbewaffneten Kriegsgefangenen verweigerten. Dabei konnte es sich um Offiziere handeln, deren Einheit die Exekution ausführen sollte, dies aber nach Aufforderung durch ihren Vorgesetzten nicht tat. Oder Mannschaftssoldaten verweigerten sich der ihnen befohlenen direkten Teilnahme an einer Exekution. Die einzige neuere Analyse hat anhand des Aktenmaterials der Ludwigsburger Zentralstelle 85 Fallgeschichten solcher Befehlsverweigerungen ermittelt, die Angehörige verschiedener Dienstgrade von SS, Polizeieinheiten und Wehrmacht betrafen. Im Einklang mit den bisherigen Erkenntnissen über die Problematik des sog. „Befehlsnotstandes" steht das Ergebnis, daß die Mehrheit dieser Verweigerer keinerlei negative Konsequenzen zu erleiden hatte, der Rest nur geringfügige 74 . Weitere Nachforschungen und die Sammlung verstreut vorliegender Hinweise würden die Systematisierung der Anlässe und Motive für diese Form der Verweigerung erlauben. Das Spektrum der vorgekommenen Befehlsverweigerungen, die sich den Gewaltmaßnahmen gegen Zivilisten widersetzten, war vermutlich breiter als bisher bekannt. Dazu gehört nicht zuletzt die bereits gut erforschte Nichtbefolgung sinnloser Zerstörungsbefehle in den letzten Wochen des Krieges, aber auch die kollektive Verweigerung von gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten gerichteten Räumungsbefehlen 75 . Abschließend sei auf eine Verweigerungsform hingewiesen, die in der Regel kaum als solche gewertet wird, wenngleich sie für das Ziel der dauerhaften Entfernung vom Militärdienst wirksamer war als die meisten Formen der Fahnen73
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Für die Zahl der entsprechenden Verurteilungen siehe Hennicke, Auszüge, S. 450; vgl. Haase, Gefahr, S. 2 1 9 f f . ; Kammler, Metzelei, S. 1 5 0 - 1 6 2 . Vgl. Kitterman, Germans. Vgl. die Hinweise bei Paul, Soldaten, S. 93 f.; Andrae, Frauen, S. 73; Vogl, Widerstand, S. 112; zum Kriegsende vgl. Tietmann, Stadt. Nach Haase, Gewalterfahrung, S. 127, sind Fälle der Desertion, die im Zusammenhang mit der Verweigerung verbrecherischer Befehle erfolgten, noch nicht erforscht.
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flucht. Allerdings setzt sie nicht immer ein aktives Handeln der Soldaten voraus. Gemeint sind all jene Soldaten, die den Krieg durch eine freiwillige Gefangennahme für sich beendeten. Hinter diesem Terminus verbirgt sich eine Fülle nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzender Vorgänge. Die Bandbreite reicht dabei vom weitgehend passiven „sich-überrollen-lassen" eines Einzelnen oder einer Gruppe von Soldaten bis zur aktiv betriebenen, frühzeitig durch weiße Tücher oder erhobene Hände signalisierten Ubergabe ganzer Truppenteile an den Gegner. Vor allem in der Endphase des Krieges dürften solche Vorkommnisse in großer Zahl stattgefunden haben, insbesondere an der Westfront, in nicht unerheblichem Maße aber auch an der Ostfront. Dies lassen nicht zuletzt die im dritten und vierten Quartal 1944 steil ansteigenden Zahlen der Vermißten vermuten, die sich nur für diesen kurzen Zeitraum auf rund 1 Million Mann summierten, und ebenso die vor allem an der Westfront immens steigenden Gefangenenzahlen 76 . Eine Voraussetzung für dieses noch genauer zu ergründende Massenphänomen war neben der Kriegslage sicherlich auch ein Wandel in der Einstellung der Soldaten zur Gefangenschaft, der sich vorher insbesondere bei den im Osten kämpfenden Truppen teilweise vollzogen haben muß. Das elementare Bestreben nach Sicherung des eigenen Lebens war gewiß eine wesentliche Triebkraft dieses Prozesses.
III. Die neueren Forschungen zur Geschichte der Wehrmacht als eines militärischen Massenverbandes im Zweiten Weltkrieg gehen vor allem zwei Kernfragen nach. Dies ist zum einen die nach der Brutalisierung der Kriegführung und der Entgrenzung des Tötens, der Zivilisten, Kriegsgefangene, „Partisanen" und Juden in steigender Zahl zum Opfer fielen. Damit eng verknüpft ist als zweite Frage die nach den Ursachen für jene erstaunliche Bereitschaft zum Einsatz im Gefecht und zum Durchhalten, welche die deutschen Truppen auszeichnete. Beide Fragen stellen sich vor allem im Hinblick auf den Krieg gegen die Sowjetunion. Dieser war zum einen von vornherein als ein Vernichtungskrieg angelegt. Zum anderen kämpfte die überwältigende Mehrheit der deutschen Soldaten gegen die Sowjetunion, zählten die deutschen Truppen dort drei Viertel ihrer Toten und Vermißten 77 . In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß die Bereitschaft zum Durchhalten und die zunehmende Verschlechterung der Motivation, die Durchführung von Gewalthandlungen gegen Zivilisten und die Bereitschaft zur Verweigerung exzessiver Gewalt oder des Militärdienstes überhaupt stets nebeneinander bestanden. In den Truppenteilen einer Division oder unter den Offizieren und Soldaten einer Kompanie waren zur gleichen Zeit stets die eine und die entge-
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Vgl. ζ. B. die Hinweise in den Erinnerungsberichten bei Schüddekopf, Krieg, S. 19 f., 92; Shils/Janowitz, Cohesion, S. 282f., 286; Madej, Effectiveness, Zahl S. 235; Messerschmidt, Wehrmacht (1995), S. 248. Vgl. v. a. Bartov, Wehrmacht; Kühne, Kameradschaft; Hettling, Täter; zahlreiche Beiträge in: Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg.
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gengesetzte Einstellung und Handlungsweise anzutreffen. Nicht zuletzt gibt es gewichtige Hinweise auf Konstellationen, in denen sich eine zunehmende Kriegsmüdigkeit und Verweigerung sowie die Bereitschaft zur Gewalteskalation unmittelbar bedingten 78 . Aus diesen hier nur sehr summarisch bezeichneten Voraussetzungen sollten m.E. verschiedene Konsequenzen gezogen werden, welche die Erforschung soldatischer Verweigerungsformen im Zweiten Weltkrieg betreffen. Diese richten sich methodisch auf die Konzeptualisierung der praktischen Forschungsarbeit, inhaltlich auf die Akzentuierung des Status der Verweigerung als einer Ausnahmehandlung sowie zeitlich auf die hervorgehobene Problematisierung des Geschehens in den letzten 24 Monaten des Krieges. In methodischer Hinsicht ergibt sich aus den genannten Befunden, daß die Verweigerungsformen der Soldaten künftig nicht mehr nur als ein für sich geschlossenes Themenfeld bearbeitet werden sollten. Die oben skizzierten Desiderate verlangen gewiß jeweils für sich gezielte Forschungsanstrengungen. Eine weitere isolierte Bearbeitung der Fallgeschichten einzelner Deserteure und Befehlsverweigerer verfehlt jedoch letztlich das komplexe Gefüge von institutionellen Bedingungen und typischerweise vorkommenden oder primär individuell motivierten Handlungsformen, in dem die Verweigerung stattfand. Dies macht es erforderlich, die Verweigerung des verlangten Einsatzes und Gehorsams in den Kontext der militärischen Vergesellschaftungsmuster im Krieg einzubetten, von dem sie letztlich nur einen bestimmten Ausschnitt darstellte. Forschungspraktisch kann diese Forderung am besten durch die detaillierte Analyse einzelner Truppenteile, vorzugsweise von Divisionen, umgesetzt werden. Diese lassen sich zum einen als institutionell in verschiedener Hinsicht weitgehend eigenständiger, systematisch analysierbarer Handlungszusammenhang funktional aufeinander bezogener Teilbereiche und Akteure begreifen. Divisionen haben auf der anderen Seite aber auch eine jeweils besondere, anhand der äußeren Daten des Gefechtskalenders und der Einsatzorte strukturierbare und in narrativer Form darstellbare „Geschichte", die sich gleichwohl im Rahmen des Krieges bestimmten typischen Mustern zuordnen läßt. Auf dieser Ebene lassen sich Faktoren wie die soziale Zusammensetzung der Truppe, ihre Stimmung und Leistung im Gefecht, Form und Umfang der Verluste sowie die Verweigerung in ihrer komplexen Bedingtheit und zeitlichen Entwicklung darstellen. Für die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg liegen bisher nur vereinzelt Studien dieser Art vor, die das Problem der Verweigerung zudem nur am Rande streifen 79 . Das mit einer detaillierten, mikroanalytischen Beschreibung eines einzelnen Truppenteils verbundene Potential an methodischer Innovation und inhaltlicher Erkenntnis ist jedoch auch aus anderen Arbeiten zu erkennen 80 . Neben den üblicherweise bereits benutzten Quellenmaterialien der
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Vgl. Geyer, Maßnahmen, S. 2 2 6 ff.; Mazower, Gewalt. Dies gilt u. a. für die innovative Arbeit von Bartov, Front, der drei Divisionen analysiert. Für eine Etappenformation vgl. Schulte, A r m y , S. 2 4 0 - 2 7 6 , mit knappen Hinweisen auf die Stimmung der Soldaten und Besonderheiten in der Struktur der Verweigerung. Die vorzügliche Studie von Smith, Mutiny, demonstriert die Stärken eines solchen metho-
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Truppenverbände wie Kriegstagebüchern, Meldungen und Lageberichten wären für solche Studien die Berichte der Feldpostprüfstellen sowie, nunmehr allerdings im Kontext der „Normalität" eines funktionierenden Verbandes, die Unterlagen der Militärjustiz heranzuziehen. Dabei könnten bevorzugt zunächst jene wenigen Fronttruppenverbände bearbeitet werden, von deren Militärgerichten eine erhebliche, mehr als 500 Stück umfassende Anzahl von Einzelfallakten überliefert ist 81 . In inhaltlicher Hinsicht führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß die Verweigerer unter den Soldaten in der Wehrmacht bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges stets nur eine kleine Minderheit darstellten. Selbst mehr als hunderttausend Fahnenflüchtige und eine vielleicht ebenso große Zahl von Selbstverstümmelungen machten angesichts von rund 20 Millionen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges eingezogenen Wehrpflichtigen nur einen winzigen Bruchteil der Soldaten aus. Diese Einsicht sollte noch stärker als bisher dazu führen, den Status der Verweigerer als Außenseiter innerhalb der Truppe systematisch ernstzunehmen. Erst vor kurzem ist eindringlich herausgearbeitet worden, daß zum Zusammenhalt an der Front die integrativ wirkenden Bindungen in kleinen Gruppen von Soldaten erheblich beitrugen. Kameradschaftliche Formen gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit sowie gemeinsam gemachte Erfahrungen übersetzten die anonyme Maschinerie des Krieges in eine begreifbare Dimension und erleichterten damit das Durchhalten 82 . Die weitere Bearbeitung dieser Zusammenhänge kann aus der falschen Alternative herausführen, den Zusammenhalt der Wehrmacht entweder nur durch Repression oder nur durch eine Ideologisierung der Truppe im nationalsozialistischen Sinne erklären zu wollen. Sie trägt aber auch dazu bei, einen Widerstand gegen direkte Verweigerungsformen in das Blickfeld zu rücken, der bisher nur selten thematisiert wird. Für einen Teil der Fahnenflüchtigen, so die hier vertretene These, bestand ein erhebliches Problem darin, sich vor der Tat aus dem Geflecht persönlicher Beziehungen zu lösen, das durch den Begriff „Kameradschaft" bezeichnet wird, da dessen Träger mehrheitlich zum weiteren Durchhalten bereit waren. An diesem Punkt liegt in doppelter Hinsicht die Gefahr einer normativ besetzten Stilisierung nahe. Sie besteht zum einen in der Überbetonung einer invidualistischen Grundhaltung, die einen solchen Schritt aus der Vergemeinschaftung an der Front erst möglich machen würde. Diese Tendenz ist in der für die Bun-
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dischen A n s a t z e s gerade im H i n b l i c k auf die E r k l ä r u n g der V e r w e i g e r u n g , hier der Meutereien im F r ü h j a h r 1 9 1 7 . Dies gilt ebenso f ü r die b a h n b r e c h e n d e Studie v o n B r o w n i n g , M ä n n e r , die sich d e m P r o b l e m d e r Bereitschaft zu G e w a l t v e r b r e c h e n methodisch gerade auch d u r c h A n a l y s e jener P e r s o n e n genähert hat, die nicht z u r T e i l n a h m e daran bereit w a ren. Vgl. die H i n w e i s e bei W ü l l n e r , N S - M i l i t ä r j u s t i z , S. 136, S. 1 2 9 - 1 5 2 generell z u r A k t e n lage; Haase, G e f a h r , S. 3 2 - 3 9 , zu w e i t e r e n P r o b l e m e n der Q u e l l e n ü b e r l i e f e r u n g u n d -aufarbeitung. D i e einschlägigen Bestände des B A - Z N S w e r d e n z.Zt. mit H i l f e der E D V archivalisch erschlossen, w o d u r c h sich die Z u g r i f f s m ö g l i c h k e i t e n f ü r den B e n u t z e r erheblich verbessern w e r d e n . I m Bereich des Heeres u n d der L u f t w a f f e sind die Bestände bereits nach den einzelnen Militärgerichten geordnet. F r e u n d l i c h e A u s k u n f t v o n H e r r n R o nald M e e n t z ( A a c h e n - K o r n e l i m ü n s t e r ) v o m 1 0 . 6. 1 9 9 7 . Vgl. K ü h n e , K a m e r a d s c h a f t .
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desrepublik bedeutendsten Schilderung einer Desertion zu erkennen, den „Kirschen der Freiheit". Alfred Andersch hat in diesem literarisch verdichteten Erlebnisbericht seinen 1944 vollzogenen Ubertritt zu den Amerikanern als einen Weg aus der Zwangsgemeinschaft des Kameradschaftsverbandes gedeutet. Die Desertion war für ihn eine notwendigerweise einsame Entscheidung, die er inmitten eines „Haufens" getroffen hatte, der sich immer neue Rechtfertigungen für das Zusammenbleiben und Ausharren zurechtlegte. Spiegelt sich darin die eingangs bezeichnete Problematik plastisch wider, so ist die Schilderung des durch den Konformitätszwang unter den Soldaten erlittenen Verlustes an Individualität, der diese Tat für Andersch zu einer existentiellen Befreiung werden ließ, als eine literarische Stilisierung zu interpretieren 83 . Die NS-Militärrichter hingegen versuchten, den Außenseiterstatus der Verweigerer durch die in hohem Maße willkürliche Konstruktion einer „asozialen" Täterbiographie herzuleiten. Durch diese normative Stigmatisierung ließ sich die Begründung hoher Strafen erleichtern. Vereinzelt konnten sie sich dabei auf die Lebensläufe von Unterschichtenangehörigen unter den Deserteuren beziehen, die nicht den Maßstäben bürgerlicher Normalität entsprachen 84 . Ob es tatsächlich Zusammenhänge zwischen einer „unangepaßten" Biographie und der Bereitschaft zur Verweigerung gab, läßt sich schwerlich belegen 85 . In der hier vertretenen Argumentation wird der unmittelbare Kontext der Einfügung in die Truppe als entscheidend betrachtet, deren Gelingen oder Scheitern nicht unbedingt von der zivilen Vorgeschichte abhängig sein mußte. Fahnenflüchtige waren weder „Gemeinschaftsfremde", noch mußten sie unbedingt Individualisten sein. Mit ihrer Flucht mußten sie sich aber nicht nur von der Unmoral des NS-Staates und der Wehrmacht lösen, sondern auch aus dem sehr wirksamen Geflecht sozialer und normativer Bindungen, das von dem täglichen Beisammensein im Zug oder der Kompanie ausging. Die Reaktion der „Kameraden" war deshalb gewöhnlich scharf. Noch bei nach dem 8. Mai 1945 gefällten und vollstreckten Todesurteilen wegen Fahnenflucht gab es unter den Mannschaften offenbar weitgehende Einigkeit über die Angemessenheit dieser Strafe, da sich die Fahnenflüchtigen einen Vorteil verschaffen wollten und zudem um das Risiko gewußt hätten. Die große Mehrheit der Soldaten war bis in das Frühjahr 1945 hinein zum Weiterkämpfen motiviert. Wer aus diesem Konsens zum Durchhalten flüchtete, wurde mit Verachtung gestraft. Die in den Kontroversen um die Deserteursdenkmäler noch heute anzutreffende Diffamierung von Fahnenflüchtigen als „Verräter" ihrer Kameraden ist nun auch politisch motiviert und instrumentalisiert. Der hier aufkeimende Rigorismus läßt jedoch erahnen, wie isoliert die Verweigerer bereits damals gewesen sind. Der ihnen zugewiesene Ort ist in der Erinnerung bis heute präsent: „Nämlich ganz unten..." 86 . 83 84
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Vgl. Andersch, Kirschen, bes. S. 63, 67, 100 f. Vgl. Eberlein u. a., Militärjustiz, S. 1 4 8 - 1 5 6 . Auch bei der Bekanntgabe von Todesurteilen wurden v. a. die seltenen Fälle von Kameradendiebstahl und Mord herausgehoben, um den .Schulterschluß' mit der Militärjustiz zu unterstützen; vgl. Fahle, Verweigern, S. 76 ff. Vgl. Haase, Gewalterfahrung, S. 129. Vgl. Kammler, Metzelei, S. 80 f.; Mensch, S. 94; Messerschmidt, Deserteure, Zit. S. 99. In den Jahren 1 9 1 4 - 1 9 1 8 betrachtete man die Fahnenflüchtigen dagegen mit Neid, wie oft-
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Aus diesen Gründen konnte es im Gegenzug gerade sozial nicht voll integrierten Soldaten leichter fallen, einen Entschluß zur Fahnenflucht zu treffen. Dies galt für die der deutschen Sprache kaum mächtigen „Volksdeutschen" und Zwangsrekrutierten ebenso wie für eine Reihe von österreichischen Soldaten, die sich in ihren Einheiten isoliert fühlten. Betroffen war aber auch jene nicht unbedeutende Zahl von Soldaten, die nach permanenten gezielten Schikanen durch unmittelbare Vorgesetzte flüchteten, weil sie sich ungerecht behandelt fühlten. N o c h gegen Kriegsende ließen sich zur Fahnenflucht entschlossene Soldaten durch die Drohung von Offizieren mit negativen Folgen für ihre Kameraden abhalten. Wenn es zu dieser Zeit vereinzelt Zustimmung zur Flucht von Kameraden gab, so betraf dies vor allem verheiratete Familienväter, deren Bindungen an den „Haufen" geringer waren 87 . Die Verweigerer waren Außenseiter nicht nur in der zivilen Gesellschaft, in die sie sich zu flüchten versuchten, sondern auch im Kreise ihrer „Kameraden". Dies trifft vor allem für die Fahnenflüchtigen zu, und verdeutlicht damit nochmals die Attraktivität einer Verweigerungsform wie der Selbstverstümmelung, deren moralischer Makel nicht immer auf Anhieb zu erkennen war. Versteht man als eine Bestimmung von Widerstand das Bemühen, gegen die Trennung, Klassifizierung und Atomisierung der Menschen durch ein diktatorisches Regime Ansätze zur Rückgewinnung von Solidarität zu entwickeln, dann ist die Verweigerung der Soldaten als Widerstand praktisch nicht existent gewesen 88 . Berichte über Meutereien sind Einzelfälle, und kollektive Fahnenflucht blieb weitgehend auf politisch oder landsmannschaftlich homogene Gruppen wie die Angehörigen der Bewährungsbataillone oder Kompanien mit Österreichern beschränkt 89 . Die soldatischen Verweigerer konnten ihre Kameraden nicht von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugen. Sie mußten vielmehr versuchen, sich vor deren Bereitschaft zum Weitermachen in einer notgedrungen einsamen Entscheidung zu schützen. Schließlich gilt es, im Hinblick auf die zeitliche Dimension der Verweigerung, die Frage nach der erstaunlichen Kohäsion der Wehrmachteinheiten auch im Rückzug seit dem Sommer 1943 in den Vordergrund zu rücken 90 . Auf die seit dieser Zeit beträchtlich ansteigende Intensität individueller Verweigerung vor allem durch Fahnenflucht ist bereits hingewiesen worden. Dennoch bleibt es erklärungsbedürftig, daß auch im andauernden Rückzug noch zwei Jahre lang mit erheblicher Intensität gekämpft wurde. Der Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg läßt dieses Problem deutlich hervortreten. Denn dort dauerte es nach der
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mals kolportierte Gerüchte über Massendesertionen belegen. Ihre Tat wurde als ein erfolgreicher Ausbruch aus dem weithin verhaßten militärischen Apparat begrüßt, von dem man selbst meinte, ihn noch nicht leisten zu können; vgl. Ziemann, Front, S. 139. Vgl. die Angaben und Hinweise bei Seidler, Fahnenflucht, S. 302, 316 f.; Shils/Janowitz, Cohesion, S. 285 f.; Vogl, Widerstand, S. 107,110, 114, 180 f. Vgl. Geyer, Resistance, S. 333. Vogl, Widerstand, S. 120, S. 109 ein ganz vereinzelter Hinweis auf eine Meuterei; Paul, Uberläufer, S. 142 ff.; Seidler, Fahnenflucht, S. 327, 204. Vermuten läßt sich, daß kollektive Desertion häufiger bei den west- und osteuropäischen Zwangsrekrutierten vorkam. Die gemeinsame Flucht von zwei oder drei guten Freunden mag dagegen zum Kriegsende hin häufiger vorgekommen sein; dazu Kühne, Kameradschaft, S. 517. Vgl. Boch, Krieg, S. 254 f.
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letztlich entscheidenden Kriegswende im Juli 1918 nicht länger als drei Monate, bis nach einer Welle massenhafter individueller Verweigerung, der sich rund 1 Million Mann anschlossen, nur noch ein „Spinnwebennetz von Kämpfern" (Ludwig Beck) an der Front anzutreffen war 9 1 . Demzufolge wären für die Wehrmacht Chancen und Hindernisse der Verweigerung gerade für jenen Zeitraum vom Sommer 1943 bis in den Spätsommer und Herbst 1944 zu untersuchen, in dem das Gefüge der Truppen trotz wachsender Kriegsverdrossenheit noch intakt geblieben ist. Erst seit dem Herbst 1944 gab es dann in zunehmend kürzerem Rhythmus Befehle der Wehrmachtführung, in denen „Maßnahmen gegen Auflösungserscheinungen in der Truppe" wie kollektive Absetz- und Fluchtbewegungen oder das Zerstören von Waffen verkündet wurden 9 2 . Wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat, gab es seit Ende 1944/Anfang 1945 einen Erosionsprozeß in der Truppe, der Partei- und Wehrmachtführung an das Jahr 1918 erinnerte. Er bildete den Vorwand für den beispiellosen Durchhalteterror in der Endphase des „Dritten Reiches", der mit der Arbeit von „fliegenden Standgerichten" und zahllosen willkürlichen Erschießungen gerade die Wehrmachtsoldaten mit völliger Willkür und immenser Gewalt traf 93 . Das Ausmaß der Desintegration präzise zu bestimmen und zu bewerten, fällt auf dem bisherigen Stand der Forschungen schwer. War das „innere Gefüge der ausgelaugten Armee" tatsächlich schon „ein Vierteljahr vor Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde vollständig kollabiert" 9 4 ? Der äußere Augenschein der vielen abseits der Truppe umherirrenden, völlig erschöpften Soldaten mag für diese These sprechen. Ihre Zahl wurde Ende Februar 1945 auf eine halbe Million geschätzt. Das war aber immer noch nur ein geringer Teil der Truppen. Viele Einheiten gaben letztlich, so kann im Gegenzug argumentiert werden, den Widerstand trotz der Ubermacht des Gegners erst dann auf, als die Alliierten sie in ihre Ausgangsposition in den Kasernen zurückgedrückt hatten. Detaillierte Untersuchungen zu einzelnen Divisionen können auch hier klären, ob und mit welchen Folgen die Verweigerung der Soldaten im Frühjahr 1945 tatsächlich ein Massenphänomen wurde.
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Vgl. Deist, Militärstreik, S. 159. Vgl. Absolon, Wehrmacht, 6, S. 594-609, Zit. nach dem Titel des ersten einschlägigen Befehls des O K W vom 23. 9. 1944, S. 595. Vgl. Messerschmidt, Wehrmacht (1989); ders., Krieg; ders., Verweigerung; Schröder, Terror; Hennicke, Justizterror. Vgl. Henke, Besetzung, S. 8 0 2 - 8 1 3 , Zit. S. 812. Die folgende Zahl bei Seidler, Fahnenflucht, S. 168 f.
Paul Heider Reaktionen in der Wehrmacht auf Gründung und Tätigkeit des Nationalkomitees „Freies Deutschland" und des Bundes Deutscher Offiziere
Bis in das Jahr 1943 hatte die Wehrmachtführung die von deutschen kommunistischen Emigranten unterstützten Versuche der Roten Armee, durch propagandistische Einwirkung die Kampfmoral der Truppe zu zersetzen, weitgehend ignoriert. Wie wir noch sehen werden, sollte sich der Versuch, auch nach Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" (NKFD) und des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) diese Linie einfach fortzusetzen, bald als untauglich erweisen. In dem auf Entschluß der sowjetischen Führung am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk gegründeten Nationalkomitee schlossen sich deutsche kommunistische Emigranten und kriegsgefangene deutsche Offiziere und Soldaten mit der im Manifest des NKFD erklärten Absicht zusammen, auf die Bildung einer wahrhaft deutschen Regierung hinzuwirken. Nur eine solche Regierung könne dem deutschen Volk den Frieden bringen. An die Soldaten und Offiziere an den Fronten erging der Ruf, unter Waffen zu bleiben und sich mutig unter verantwortungsbewußten Führern im Kampf gegen Hitler den Weg zur Heimat, zum Frieden zu bahnen 1 . Präsident des Nationalkomitees war der deutsche kommunistische Schriftsteller Erich Weinert. Zu Vizepräsidenten wurden Major Karl Hetz und Leutnant Heinrich Graf von Einsiedel gewählt. Die Emigrationsführung der KPD war mit Anton Ackermann, Wilhelm Florin, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht im NKFD vertreten. Ihm gehörten neben kommunistischen Intellektuellen weitere zehn Offiziere und dreizehn Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade an. Zunächst hielten sich alle kriegsgefangenen deutschen Generale gegenüber der ins Leben gerufenen Bewegung „Freies Deutschland" im Abseits. Dennoch zeigten sich eine Reihe Offiziere und Generale von dem patriotischen Geist, den die Gründungsveranstaltung des NKFD ausgestrahlt hatte, durchaus beeindruckt, doch einer kommunistisch gelenkten Organisation wollten sie sich nicht anschließen. Daraufhin schlugen die Sowjets noch im Juli 1943 diesen Offizieren vor, eine Initiativgruppe zu bilden, die eine selbständige Offiziersvereinigung vorbereiten sollte. So kam es schließlich am 11./12. September 1943 in Lunjowo zur Gründung des Bundes Deutscher Offiziere. General Walther von Seydlitz-Kurzbach wurde zum Präsidenten, Generalleutnant Alexander Edler von Daniels und die Obersten Hans Günther van Hooven und Luitpold Steidle wurden zu Vizepräsidenten des BDO gewählt. Die Generalmajore Dr.
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Siehe dazu Manifest des Nationalkomitees „Freies Deutschland" an die Wehrmacht und an das deutsche Volk, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 2 6 5 - 2 6 8 .
R e a k t i o n e n in der W e h r m a c h t
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Otto Korfes und Martin Lattmann gehörten neben einer Reihe weiterer Offiziere dem Vorstand an. Am 14. September erfolgte auf einer Vollsitzung des Nationalkomitees der Anschluß des BDO an das NKFD, gleichzeitig wählte es von Seydlitz, von Daniels und Soldat Max Emendörfer zu weiteren Vizepräsidenten des Komitees. In einem Aufruf an die deutschen Generale und Offiziere, an Volk und Wehrmacht hieß es, die Kämpfer der Stalingrad-Armee erheben ihre Stimme in dem Bewußtsein, damit ihre heiligste Pflicht gegenüber der Nation zu erfüllen. Heerführer, Generale und Offiziere der Wehrmacht wurden aufgefordert, kühn und unverzüglich zu handeln, um dem sinnlos gewordenen Krieg ein schnelles Ende zu bereiten 2 . Von der nazistischen Propaganda seit ihrer Gründung verteufelt, war auch nach Kriegsende die Bewertung von NKFD und BDO „als Widerstandsorganisationen gegen Hitler und das NS-Regime in der historischen Forschung, wie in der öffentlichen Meinung umstritten" 3 . Wegen der unumgänglichen Zusammenarbeit mit der sowjetischen Gewahrsamsmacht hält sich gegenüber den militärischen Mitgliedern der Bewegung „Freies Deutschland" teilweise bis heute der Vorwurf der Kollaboration und des Landesverrats, während man den Kommunisten fälschlicherweise von vornherein keine patriotischen Motive im Rahmen dieser Bewegung konzediert. Zahlreiche Meinungsverschiedenheiten über das NKFD ergeben sich aber aus der Heterogenität der Bewegung. Es ist sicher ungewöhnlich, wenn kriegsgefangene Generale sich an ihresgleichen wenden, die an der Spitze von eingekesselten oder in harten Abwehrkämpfen stehenden Fronttruppen stehen, mit der Aufforderung, von ihrer Befehlsgewalt Gebrauch zu machen und die ihnen unterstehenden Formationen an die Reichsgrenzen zurückzuführen oder - in einer späteren Phase - den Ubertritt auf die Seite des NKFD zu wagen, was tatsächlich Gefangenschaft bedeutete. Derartiges Verhalten läßt sich nur aus der für Deutschland ausweglosen Situation erklären, die vom BDO richtig erkannt und eingestanden, von der Wehrmachtführung einschließlich der Heeresgruppen- und Armeebefehlshaber bis hin zu den Divisionskommandeuren hingegen negiert und verdrängt worden ist. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich, daß wir es bei den Reflexionen und Reaktionen in der Wehrmacht auf Existenz und Tätigkeit von NKFD und BDO einerseits und dem Verhalten der Mitglieder dieser antinazistischen Organisationen, soweit es sich um Angehörige der Wehrmacht handelt, andererseits, mit zwei diametral entgegengesetzten Auffassungen von Pflichterfüllung zu tun haben. Freilich ist Pflichterfüllung keine Tugend an sich, zumindest ist sie nur in übergeordneten Zusammenhängen verstehbar. Bei Pflichterfüllung von Militärs kommt dem Primat der Politik eine überragende Bedeutung zu, denn es verpflichtet zu Loyalität und Gehorsam gegenüber der politischen Führung und
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Siehe dazu Aufruf „An die deutschen Generale und Offiziere! A n Volk und W e h r macht!", in: Scheurig, Verräter, S. 1 8 9 - 1 9 2 . Fischer, Nationalkomitee, S. 258. W i e Erich Kosthorst in seiner neuesten Publikation dezidiert hervorhebt, folgte die Bundeswehr in ihrer Aufbauphase und auch später gegenüber ehemaligen Angehörigen des B D O und N K F D der nationalsozialistischen Ausgrenzungspraxis. Kosthorst, Geburt, S. 81 f.
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der von ihr verfochtenen Politik. Natürlich darf man den Primat der Politik in einem demokratischen nicht mit dem in einem totalitären Staatswesen gleichsetzen. Vom Nationalsozialismus wurde er als Instrument in Anspruch genommen, um die Wehrmachtführung aller Ebenen bedingungslos der Befehlsgewalt unterzuordnen. Dennoch handelte es sich bei diesem Vorgang um keine bloße Unterwerfung der Militärs. Die auf faktischer Unterordnung beruhende Zusammenarbeit geschah auf der Grundlage einer weitgehenden Identität von Interessen und Zielen der politischen und militärischen Führung, weshalb die Militärs ihre eigene Entmachtung zwar mit Murren und Widerwillen, doch in ihrer großen Mehrheit ohne nennenswerten Widerstand hingenommen haben. Die militärische Führung hatte nicht nur die generalstabsmäßigen Planungen der Ostfeldzüge auftragsgemäß erarbeitet und deren praktische Verwirklichung geleitet, sondern war zumindest partiell auch mitverantwortlich für die verbrecherische Kriegführung. Nicht zuletzt deshalb hielt die militärische Führung verschiedener Ebenen ihrem Führer und Obersten Befehlshaber auch dann noch die Treue, als der Krieg militärisch längst verloren war und nur noch eine politische Lösung - allerdings ohne und gegen Hitler - ein für Deutschland erträglicheres Kriegsende unter gewissen Umständen hätte herbeiführen können. Zwar gab es ständig Reibereien wegen dieser oder jener militärischen Führungsentscheidung Hitlers, doch zu einer grundsätzlichen Gehorsamsverweigerung aus militärischen Gründen oder gar einem politisch motivierten Widerstand vermochte sich kein Befehlshaber oder höherer Kommandeur zu entscheiden. Wo dies, wie im Falle des Generals von Seydlitz-Kurzbach, im Stalingrader Kessel wenigstens ansatzweise geschah, wurde dieser durch den Stabschef der 6. Armee, der sich zugleich selbst Absolution erteilte, mit den Worten entmündigt: „Wir haben uns nicht den Kopf des Führers zu zerbrechen und Gen. v. Seydlitz nicht den des Ο. B." 4 . In der Diskussion um Bedingungen und Grenzen soldatischen Gehorsams kam während des Krieges und auch später der Schlacht um Stalingrad gewissermaßen die „Rolle des Katalysators" 5 zu. Das Erlebnis Stalingrad hat bei vielen Stabsoffizieren, die dem BDO beitraten, einen tiefen Graben zum NS-Regime aufgerissen. Während die aus der 6. Armee hervorgegangenen Mitglieder des BDO im Geschehen von Stalingrad eindeutig die Grenzen militärischen Gehorsams erkannten, verwiesen andere auf übergeordnete militärische Belange, um das sinnlose Sterben der Stalingradkämpfer zu rechtfertigen und als beispielgebend für weiteres Durchhalten hinzustellen. Im übrigen sei man „durch schwerste Aufgaben an der Front" so in Anspruch genommen gewesen, daß man „das Abgleiten des Regimes zum Schlechten, wie auch die wahre Natur Hitlers" 6 gar nicht habe erkennen können. Bemerkenswert an dieser simplen Erklärung Erich von Mansteins ist aber, daß sie wie selbstverständlich eine gedankliche Identifikation mit dem Regime als etwas Gutes impliziert, denn wie sonst wäre sein Abgleiten zum Schlechten möglich. 4 5 6
Seydlitz, Stalingrad, S. 2 1 1 . Kehrig, Stalingrad, S. 203. Manstein, Siege, S. 603.
Reaktionen in der Wehrmacht
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Andere rechtfertigten damals und auch später das eigene Verhalten damit, daß man sich aus „Vaterlandsliebe" und „Dienst am Gemeinwohl" glaubte „der anerzogenen und überlieferten Pflichterfüllung ... nicht entziehen zu können" 7 . Die genannten Standpunkte bestimmten bis auf zahlenmäßig geringe Ausnahmen das Verhalten der militärischen Führungsschicht und der großen Masse des Offizierskorps zum Aufstandsversuch des 20. Juli ebenso wie zum NKFD und BDO. Doch vor einer derartigen Pflichtauffassung hatte bereits 1938 der damalige Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, gewarnt. Er nannte es einen „Mangel an Größe und an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung" in Zeiten, in denen es um das Schicksal der Nation geht, „seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten Rahmen seiner militärischen Aufträge sieht, ohne sich der höchsten Verantwortung vor dem gesamten Volke bewußt zu werden. Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen" 8 ! Die Männer um General von Seydlitz nahmen nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, nach dieser von Generaloberst Beck vorgegebenen Maxime zu handeln. Man muß ihnen wohl deshalb, ebenso wie den Männern vom 20. Juli einräumen, „als Patriot(en) gehandelt zu haben" 9 . Die Gründung des NKFD und des BDO beunruhigten in starkem Maße die Führungsspitzen des sogenannten Dritten Reiches und der Wehrmacht. Dienststellen des Propagandaministeriums und des OKW stellten unmittelbar nach Gründung umfangreiche Recherchen über Zustandekommen, Zusammensetzung und Zielstellung beider Organisationen an 10 . Intern findet sich frühzeitig das Eingeständnis, daß die Gründung des BDO tatsächlich erfolgt war und es sich nicht, wie man der Öffentlichkeit gegenüber glauben machen wollte, bloß um ein sowjetisches Propagandamanöver handelte. Bereits am 24. September 1943 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, der BDO betätige sich „im Auftrage Stalins propagandistisch außerordentlich aktiv. General Seydlitz spricht sogar über den Rundfunk. Tiefer kann ja wohl ein General aus einem alten preußischen Geschlecht nicht sinken" 11 . Leider habe man sich der Generalsopposition nicht, wie Stalin, rechtzeitig durch Erschießen entledigt 12 . Den Tagebuchnotizen Goebbels' ist zu entnehmen, daß ihm ebenso wie Hitler die Tätigkeit des BDO erhebliche Sorgen bereitete. In diesem Zusammenhang scheint die Frage berechtigt, um wieviel größer die Auswirkungen gewesen wären, wenn Generalfeldmarschall Friedrich Paulus und andere Generale der 6. Armee, die erst später dem BDO beitraten, diesen Schritt bereits zum Zeitpunkt seiner Gründung getan hätten. Obwohl die meisten Generale der 6. Armee mit der im Manifest des NKFD enthaltenen Beurteilung der Kriegslage übereinstimmten, ging „ein Sturm der Entrüstung" 13 7 8 9 10
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de Maiziere, Pflicht, S. 101. Vortragsnotiz General Becks vom 16. Juli 1938, in: Müller, A r m e e (1987), S. 349. Carnes, General, S. 120. Siehe dazu W o l f f , Seite, S. 83 ff.; Scheurig, Verräter, S- 78 ff.; Flugblätter des N K F D , S. 1 1 8 - 1 5 6 . Goebbels, Die Tagebücher, II, 9, S. 596. Ebd., 10, S. 179. Adam, Entschluß, S. 375. Siehe dazu auch Welz, Stunde, S. 2 8 8 f .
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durch die Reihen, als sie von der Gründung des N K F D erfuhren. Als sie vernahmen, daß eine antifaschistische Offiziersvereinigung gegründet werden sollte, gerieten manche von ihnen in regelrechte Hysterie. Sie nutzten die Autorität von Paulus, in dem man allenthalben einen integeren Soldaten sah, um die Auswirkungen der beabsichtigten B D O - G r ü n d u n g zu paralysieren. Während sich zunächst nur die Generale von Seydlitz, Lattmann und Dr. Korfes bereit erklärten, einen deutschen Offiziersbund zu gründen, denen sich am 1. September 1943 von Daniels anschloß, unterzeichneten am gleichen Tag 17 Generale und ein Oberst mit Paulus an der Spitze eine Erklärung, in der sie sich auf das Entschiedenste von einem solchen Bund distanzierten. Bezugnehmend auf dessen angekündigten Aufruf, für einen erträglichen Frieden zwischen Deutschland und Rußland wirken zu wollen, bekundeten auch sie verbal ihre Hoffnung, Deutschland und Rußland mögen künftig in Freundschaft miteinander leben. Doch den Weg, den der B D O gehen will, könnten sie nur scharf verurteilen, ohne selbst eine gangbare Alternative zu benennen. Offenbar glaubten sie noch immer an einen für Deutschland siegreichen Ausgang des Krieges, zumindest aber an ein Remis. In der Erklärung fand sich das Diktum: „Was die im .Bund' vereinten Offiziere und Generale betreiben, ist Landesverrat. Wir betrachten sie nicht mehr als unsere Kameraden und sagen uns mit aller Bestimmtheit von ihnen los" 1 4 . Die für die Bearbeitung der deutschen Generalität zuständigen Stellen des N K W D sahen in dieser Feststellung einen Affront gegen die sowjetische Führung, die ja schließlich der Gründung des B D O zugestimmt hatte. Im Ergebnis langwieriger und komplizierter Auseinandersetzungen, an denen sich Paulus mit persönlichen Gesprächen beteiligte, nachdem ihm erhebliche Zweifel an der Richtigheit kollektiver Verdammnis gegen die Generale im B D O gekommen waren, nahmen am 17. Oktober die Generale ihre Erklärung vom 1. September als eine nicht gegen die Sowjetregierung gerichtete Handlung zurück und stellten es jedem persönlich frei, seine Haltung zum B D O zu bestimmen. Paulus begann allmählich, sich stärker als noch im Herbst 1943 für die politische und militärische Lage zu interessieren 15 . D o c h bis er sich zum N K F D bekannte und General von Seydlitz patriotische Motive seines Handelns konzedierte, sollte noch einige Zeit vergehen. Die unter den kriegsgefangenen deutschen Generalen einsetzenden Differenzierungen und das Hervortreten verschiedener Gruppierungen bedürfen weiterer Untersuchungen. Die Tatsache, daß sich zunächst nur wenige der gefangenen Generale zum B D O bekannten, haben es der N S - und Wehrmachtführung zweifellos erleichtert, mit Lügen und Verleumdungen zu reagieren. Es ging ihnen vor allem darum, ein Bekanntwerden der in den Erklärungen des N K F D und B D O enthaltenen nüchtern realistischen Einschätzung der ausweglosen Gesamtkriegslage Deutschlands, insbesondere der militärischen Lagebeurteilung auf dem östlichen Kriegsschauplatz und der daraus abgeleiteten Verantwortung der Wehrmacht zur Abwendung einer nationalen Katastrophe zu verhindern.
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Reschin (Resin), Feldmarschall, S. 69. Ebd., S. 132-134.
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Im Tätigkeitsbericht des Chefs des Heerespersonalamtes, General der Infanterie Rudolf Schmundt, wird mit einem auf den 12. September 1943 datierten Eintrag die Gründung des Bundes deutscher Offiziere eingestanden. Zum Präsidenten sei der General der Artillerie von Seydlitz gewählt worden, außerdem würden ihm die Generale Korfes, Daniels und Lattmann sowie etwa 100 Offiziere als Mitglieder angehören. Der Bund sei von den Sowjets auf „nationaler Grundlage" organisiert worden und setze sich zum Ziel, „den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und seinen Führer aufzunehmen" 16 . Wertend wird den Tatsachen entsprechend der Sachverhalt hinzugefügt, es sei den Sowjets mit einer „diabolischen Geschicklichkeit" gelungen, „unter Anwendung der raffiniertesten Mittel, diesen Erfolg zu erzielen. Mit der Zeit ist durch diesen Bund eine erstzunehmende Gefahr enstanden" 17 . Daraus ist zu ersehen, daß die Führungsspitzen der Wehrmacht frühzeitig über die Existenz von NKFD und BDO unterrichtet waren. Dennoch versuchte das NS-Regime bis weit in das Jahr 1944, Nachrichten über die Tätigkeit dieser Organisationen zu unterdrücken 18 . Das gelang allerdings nur zum Teil. Die Sendungen der Rundfunkstation „Freies Deutschland" waren in allen Teilen des Reiches zu hören und nicht wenige Deutsche versuchten, durch illegales Abhören des Senders etwas über ihre als vermißt gemeldeten Angehörigen zu erfahren 19 . Durch massive Flugblattpropaganda oder Sendungen über Grabenlautsprecher wurde die Existenz des NKFD und BDO den Fronttruppenteilen bekannt 20 . In entsprechenden Stellungnahmen von Frontstäben findet sich das Eingeständnis, es handle sich um die „bisher geschickteste und für harmlose Volksgenossen daher gefährlichste Propaganda der Bolschewisten" 21 . Da man sich nicht anders zu helfen wußte, wurde das Ganze zunächst als Fälschung, Bluff, Theaterstück und Bauernfängerei charakterisiert, organisiert und ausgeführt von jüdisch-bolschewistischen deutschen Emigranten in Moskau. Die Gründer des Komitees seien aus früherer Zeit bekannte deutsche Kommunisten, „die sich feige nach Sowjetrußland in Sicherheit gebracht" hätten. Bei den Unterzeichnern des NKFD-Manifestes Martha Arendsee, Johannes R. Becher, Wilhelm Pieck und Friedrich Wolf handle es sich um „übelste, z.T. jüdische System-Marxisten", angeblich seit 10 Jahren von der deutschen Gerichtsbarkeit gesucht, „von deren verheerendem Wirken sich der junge Soldat heute gar keine Vorstellung" 22 machen könne. Der Kommandeur der 246. Infanterie-Division sah in einer Stellungnahme vom 31. Oktober 1943 in der Zeitung „Freies Deutschland" in Stil, Form und Inhalt „typische Lügen16 17
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Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, S. 96. Ebd.; die zitierte Feststellung deutet darauf hin, daß die wertende Bemerkung, wenn nicht der ganze Eintrag, später zugefügt worden ist, denn die Gründungsveranstaltung des B D O fand ja erst am 11./12. September 1943 statt. Steinbach, Widerstand (1994), S. 267. Siehe dazu Scheurig, Verräter, S. 92. Siehe dazu W o l f f , Seite, S. 86. A u f r u f des Kommandierenden Generals des X X I V A K vom 1. 11. 1943, S A P M O - B A , N Y 4065 (Nachlaß Erich Weinert) Bl. 90. Es handelt sich um eine Sammlung „Faschistische Dokumente" zum N K F D . Stellungnahme des A O K 17 v o m 22. 8. 1943 zur Nr. 1 der Zeitung „Freies Deutschland", ebd., Bl. 76.
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produkte jüdischer Gehirne". Zugleich wurde das Judentum als „tausendjährige Unterwelt", die sich nunmehr in „bolschewistischer Maske" anschicke, zum „Totengräber des Abendlandes" zu werden, verdammt. Daher hätten die Kompanie- und Batterie-Führer das Erscheinen dieser Propaganda unermüdlich zu nutzen, „um unseren braven deutschen Soldaten" bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen „abgrundtiefen Haß und Vernichtungswillen ins Herz zu legen . Da auf jede Art und Weise versucht würde, der Wehrmacht moralisch das Rückgrat zu brechen, müsse der Gegenschlag in der „Pflege größten Vertrauens zwischen Führung und Volk im politischen und militärischen Leben" bestehen, denn „einig sei Deutschland immer unbesiegbar gewesen" 24 . Was die nichtkommunistischen Unterzeichner des Manifestes des NKFD aus den Reihen kriegsgefangener Offiziere betrifft, wurden deren Unterschriften durchweg als Fälschung oder als erpreßt ausgegeben. Anscheinend echte Unterschriften oder Fotos könnten aus Soldbüchern, Fragebögen oder Briefen ohne Wissen der Betreffenden entnommen sein. Nicht selten taucht auch die Version auf, derartige „Beweise" wären unter Zwang durch Anwendung narkotischer Mittel oder durch Hypnose erschwindelt worden 25 . In einer Sondernummer der vom OKW herausgegebenen „Mitteilungen für das Offizierskorps" wurden der Gruppe der Majore, Hauptleute und Leutnante, die dem NKFD angehörten, ausdrücklich günstige Beurteilungen ausgesprochen. Auf die Frage, wie solche „zum Teil überzeugte Nationalsozialisten" dazu kämen, ein „antinationalsozialistisches Manifest" zu unterschreiben, könnte nur geantwortet werden, daß es sich um einen ungeheuerlichen Mißbrauch ihrer Namen handelt. Die Existenz des BDO wird rundweg geleugnet, denn es sei unwahrscheinlich, daß sich ehemalige Stalingradkämpfer mit General Walter von Seydlitz an der Spitze für eine antinationalsozialistische Propaganda zur Verfügung stellen. Hochverdiente, teilweise berühmten alten Soldatengeschlechtern entstammende Offiziere würden nach einer Dienstzeit von 25 bis 30 Jahren nicht innerhalb von sechs Monaten ihre Uberzeugung wie einen Handschuh wechseln. Es sei auch kaum anzunehmen, daß die Generale von Seydlitz und von Daniels sich mit einem Soldaten wie Emendörfer, der ein kommunistischer Funktionär war und deshalb als Verräter gehandelt habe, an einen Tisch setzten. Die „Deutsche-Offiziers-Union", wie der BDO hier genannt wurde, sei ein „plumper bolschewistischer Schwindel", auf den kein deutscher Soldat, der nur ein wenig nachdenke, hereinfallen werde 26 . NKFD und BDO nahmen in einem Antwortflugblatt auf die ausdrückliche Ehrenerklärung des OKW Bezug und betonten, das Verdienst der genannten
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246. Infanterie-Division, Divisionsgefechtsstand, 31. 10. 1943, Betr. Feindpropaganda, ebd., Bl. 89. Das Nationalkomitee „Freies Deutschland" - ein großes Beispiel feindlicher Giftmischerei. Erklärung des lc der 78. Sturm-Division vom 4. 11. 1943, in: ebd., Bl. 94. Aufruf des Kommandierenden Generals des XXIV A K vom 1 . 1 1 . 1943, ebd., Bl. 90; Stellungnahme des A O K 17 vom 22. 8. 1943 zur Nr. 1 der Zeitung „Freies Deutschland", ebd., Bl. 76. Sondernummer der vom O K W herausgegebenen „Mitteilungen für das Offzierskorps" zum Moskauer Komitee „Freies Deutschland" vom Oktober 1943, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 269-278, hier S. 274 f.
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Männer für Volk und Wehrmacht sei nicht zu bezweifeln. Geläutert durch die Tragödie von Stalingrad hätten sie aber „sich rechtzeitig der Fortsetzung des aussichtslosen Krieges widersetzt und das Volk gegen Hitler aufgerufen, um den Bestand, die Freiheit und die Ehre unserer Nation zu retten" 2 7 . In einer persönlichen Erwiderung gestand General von Seydlitz ein, er habe zunächst an die nationale Sendung des Nationalsozialismus geglaubt, dennoch hätten es zehn Jahre nationalsozialistischer Ideologie aber nicht vermocht, den klaren, nüchternen Blick für die Wahrheit zu trüben. Der Verrat Hitlers an der Armee von Stalingrad habe bei ihm den Rest jeden Vertrauens zu ihm und seinem Regime beseitigt. Als Soldat achte er jede ehrliche Gesinnung. „Wer aus ehrlicher Uberzeugung kämpft und für sie leidet - mag er Kommunist oder was immer sein - , ist in unseren Augen niemals ein Lump, niemals ein .Verräter'. So ist es für uns eine Selbstverständlichkeit und eine Ehre, an einem Vorstandstisch zu sitzen und zusammenzuarbeiten mit dem kommunistischen Schuharbeiter, dem Soldaten Max Emendörfer" 2 8 . Im Propagandaministerium war man mit den Reaktionen der Frontstäbe auf die Flugblattpropaganda nicht so recht zufrieden, da sie teilweise „sehr ungeschickt" und „unnationalsozialistisch" seien. Obwohl die Flugblätter noch längst nicht bei allen Truppenteilen bekannt wären, würde dort in langen Diskussionen unter Anführung von Zitaten ungewollt erst die Aufmerksamkeit auf das N K F D gelenkt 29 . Größere Sorgen bereitete allerdings Goebbels und auch im O K W das massive propagandistische Einwirken des B D O auf die bei Cerkassy eingekesselten deutschen Divisionen 3 0 . Ein Jahr nach Stalingrad drohte erneut einer starken deutschen Gruppierung die Vernichtung in einer Kesselschlacht. Das sowjetische Hauptquartier stellte den eingeschlossenen Truppen am 8. Februar 1944 ein Kapitulationsultimatum. Gleichzeitig kam es dort zu dem bis dahin größten Fronteinsatz des N K F D und B D O . Auf Anregung des Chefs der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee, Generaloberst Scerbakow, begaben sich die Generale von Seydlitz und Dr. Korfes, Major Lewerenz und Hauptmann Dr. Hadermann in Begleitung sowjetischer Generale und Offiziere am 8. Februar an die Kesselfront. Russische Flugzeuge warfen massenhaft namentlich unterzeichnete Flugblätter sowie von Seydlitz und Korfes verfaßte Briefe an die ihnen bekannten Truppenführer ab. General von Seydlitz wandte sich auch über den Äther an die eingeschlossenen Verbände. Obwohl sich Soldaten und Offiziere den sachlichen Argumenten des B D O kaum verschließen konnten, wurde das Ziel, die Truppen zur Kapitulation zu bewegen, nicht erreicht. Aber die Existenz des B D O und das tätige Mitwirken namhafter Generale und Offiziere konnte nicht mehr geleugnet werden. Das war wohl das bedeutsamste Resultat der Aktion bei Cerkassy. 27
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Antwort an das O K W von N K F D und B D O auf die Sondernummer der „Mitteilungen für das O f f i z i e r s k o r p s " vom Dezember 1943, in: ebd., S. 278-280, hier S. 279. Erwiderung von General von Seydlitz, in: Scheurig (Hrsg.), Verrat, S. 144-148, hier S. 147. Siehe dazu Flugblätter des N K F D , S. 135. Siehe dazu Scheurig, Verräter, S. 126 ff.; siehe auch Voigt, Frontorganisation; Deutschland im zweiten Weltkrieg, 5, S. 49-57.
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General Nikolaus von Vormann, der an der Kesselschlacht als Befehlshaber des 47. Panzerkorps teilnahm, hielt in seinen Erinnerungen als Fazit fest: „Der Schaden, den die Moral der Truppe erlitten, war irreparabel. Sie hatte das Vertrauen zur Führung verloren" 3 1 . Die Propaganda von N K F D und B D O hatte aus seiner Sicht wegen ihrer "Wahrhaftigkeit zu einer ungeheuren seelischen Belastung der Truppe geführt, der wegen der unglücklichen Lage an der Front nichts anderes entgegenzusetzen war, als der Appell an sogenanntes deutsches Soldatentum. Besondere Wirkung hatten die allgemein bekanntgemachten persönlichen Briefe von Seydlitz' an den Befehlshaber der eingeschlossenen Truppen, General Stemmermann und an andere Kommandierende Generale. Zur Wahrhaftigkeit der Propaganda von N K F D und B D O gehörte sowohl bei Cerkassy wie anderen Orts auch das Bemühen, Verstand und Gefühl der Wehrmachtangehörigen gleichermaßen anzusprechen. Das gilt insbesondere für die Berufung auf Marksteine aus der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, so auf die 1812 zwischen dem preußischen General Graf von York und dem russischen General von Diebitsch abgeschlossene Konvention von Tauroggen, Bismarcks realistische Rußlandpolitik, den Vertrag von Rapallo sowie die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee 3 2 . Bereits am 8. Februar, das heißt am ersten Tag des Einsatzes, notierte Goebbels, es sei erschreckend, daß durch General von Seydlitz Appelle an die eingeschlossenen deutschen Soldaten ergingen. Auch Hitler glaubte nach Kenntnis der Aufrufe nunmehr, daß von Seydlitz nicht etwa von den Sowjets gezwungen wurde, sondern daß er freiwillig so handele 33 . Der Propagandaminister hielt von Seydlitz nicht für einen verführten oder gar narkotisierten Offizier, der wider Willen im Dienst der Bolschewisten stand, nicht für ein bemitleidenswertes Opfer bolschewistischer Vernehmungstaktik, sondern für „ein ausgemachtes vaterlandsloses und verräterisches Schwein. Es zeugt sehr stark wider den deutschen Offiziersstand, daß solche Subjekte in seinen Reihen einmal Platz gehabt haben" 3 4 . Goebbels drängte offenbar auf baldige öffentliche Abrechnung. Doch Hitler war anderer Meinung. Als er mit ihm auf Briefe von Seydlitz und Korfes zu sprechen kam, warnte er davor, die Angelegenheit öffentlich zu behandeln, weil man sonst schlechthin „gegen die Generäle polemisieren" müßte, was immer, besonders aber während des Krieges, eine leidige Angelegenheit sei. Dennoch gelte es, die Argumente, derer sich Seydlitz und Korfes bedienten, in Presse und Rundfunk in einer massiven und aggressiven Weise zu widerlegen 35 . Goebbels erschien es besonders unangenehm, daß der Sender „Freies Deutschland" die N a m e n der in Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Soldaten durchgab. Denn man werde auf Dauer nicht vermeiden können, daß die Angehörigen vermißter Soldaten den Sender abhörten 3 6 . Diese Meldungen durchlöcherten das Lügengewebe, die Sowjetunion würde keine Gefangenen
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Vormann, Tscherkassy, S. 123. Siehe zu dieser Problematik Heider, Rußlandbild, S. 180 f.; Diesener, S. 333-342. Goebbels, Die Tagebücher, II, 11, S. 257, 260. Ebd., S. 240. Ebd., S. 403. Ebd., 12, S. 102.
Propaganda,
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machen. Damit ist eine spezifische, aber nicht unbedeutsame Form der Wirkungsmöglichkeit des N K F D berührt. Indessen dachten Goebbels und der Chef des Heerespersonalamtes, General Rudolf Schmundt, gemeinsam darüber nach, wie man die mit Cerkassy entstandene Lage bereinigen könne. Während eines gemeinsamen Abendessens bei Goebbels trug Schmundt „mit tiefster Bekümmernis den Fall Seydlitz vor", wobei auch er erwähnte, daß Hitler keine Möglichkeit zu öffentlicher Bereinigung sähe. Beide hielten es für dringend geboten, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Goebbels forderte, das Heer müsse sich in schroffster Weise von General von Seydlitz distanzierren und in einer Erklärung, die von sämtlichen Generalfeldmarschällen des Heeres zu unterzeichnen sei, ein „glühendes Treuebekenntnis zum Führer" ablegen. Schmundt war von diesem Vorschlag begeistert, Goebbels diktierte ihm die Erklärung, an der er kein Wort auszusetzen hatte 37 . Es bereitete auch keine Schwierigkeiten, die Zustimmung der Generalfeldmarschälle des Heeres zu dem Gelöbnis zu erhalten. Schmundt begab sich persönlich zu den einzelnen an den Fronten befehligenden Marschällen, um ihre Unterschriften einzuholen 38 . Am 19. März 1944 erfolgte auf dem Berghof die Übergabe der von Rundstedt, Rommel, von Kleist, Busch, von Kluge, von Manstein, Frh. von Weichs und auch Model - der zu diesem Zeitpunkt noch kein Feldmarschall war - unterzeichneten Erklärung an Hitler. Im Beisein fast aller Unterzeichner verlas von Rundstedt als ältester Feldmarschall die Treuebekundung und übergab sie anschließend dem Führer 39 , der, wie Goebbels notierte, mit der Entwicklung, die sich damit anbahnte, sehr zufrieden war 40 . Mit Zufriedenheit war wohl gemeint, daß es mit Hilfe der ranghöchsten Militärs gelingen würde, eine wirksame Einflußnahme von N K F D und B D O auf die kämpfende Truppe zu verhindern. Tatsächlich bezichtigten diese Militärs des Heeres den Präsidenten des B D O , General der Artillerie von Seydlitz-Kurzbach, des „schnöden Verrats an unserer heiligen Sache", er falle der kämpfenden Front in den Rücken, womit er das Recht verwirkt habe, den Offiziersrock zu tragen. Doch damit nicht genug. Sie bekundeten im Namen aller Offiziere und Soldaten des Heeres „innerste Verbundenheit und nie wankende Treue" zum Führer und zum Nationalsozialismus und versprachen, in diesem Sinne alles zu tun, „daß jeder Soldat des Heeres ein um so fanatischerer Kämpfer für die nationalsozialistische Zukunft unseres Volkes wird" 4 1 .
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Ebd., 11, S. 368. D i e Annahme von Eva Blimbach, der auch Erich Kosthorst folgt, Schmundt habe die Erklärung der Feldmarschälle initiiert und verfaßt (Flugblätter des N K F D , S. 138) bedarf offenbar der Korrektur. Kosthorst sieht in diesem Vorgang völlig zu recht die bedinungslose T r e u e der Marschälle dem D i k t a t o r gegenüber „zu absurden F o r m e n gesteigert", indem sie zu dem bereits 1934 geschworenen Eid „noch ein z u s ä t z liches feierliches Gelöbnis abgeben". Kosthorst, Geburt, S. 195. Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, S. 130. Ebd., S. 131. D i e Erklärung der Feldmarschälle ist neu abgedruckt in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 2 8 0 f. Siehe Goebbels, D i e Tagebücher, II, 11, S. 475. D i e Erklärung der Feldmarschälle, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 280 f.
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Die Generalfeldmarschälle gaben damit nicht nur den Weg frei für das Gerichtsverfahren gegen von Seydlitz, den am 26. April 1944 das Reichskriegsgericht in absentia zum Tode verurteilte, und der fürderhin stellvertretend für alle im BDO tätigen Offiziere und Generale als Sündenbock galt, sondern auch für eine erheblich verstärkte und weiter zugespitzte nationalsozialistische Indoktrination der Wehrmacht. Was nach dem 20. Juli 1944 einen weiteren Schub erfährt, setzt offenbar bereits mit den Reaktionen auf die Tätigkeit von NKFD und BDO ein. Am 16. April 1944 gab General Schmundt im Auftrag des Führers die Erklärung der Feldmarschälle zusammen mit einer Verfügung „Zersetzung der Wehrkraft" als „Geheime Kommandosache" heraus 42 . Neben einer gedrängten Information über die Tätigkeit von NKFD und BDO wurde in dem Schreiben - herunter bis zur Ebene der Kommandierenden Generale im Feldherr - mitgeteilt, daß das Urteil des Reichskriegsgerichtes gegen General von Seydlitz von Hitler bestätigt und damit rechtskräftig sei. Alle weiteren belasteten Soldaten würden laufend überprüft und die als notwendig erachteten Folgerungen unnachsichtig gezogen. Der „Verrat" weniger Offiziere beweise mit aller Deutlichkeit die entscheidende Bedeutung nationalsozialistischer Erziehung und entsprechender politischer Bildung für den Soldaten. „Nur der im Nationalsozialismus fanatisierte und kämpferisch erzogene Soldat wird auch in Krisenlagen und selbst bei Gefangennahme seinen Treueeid niemals vergessen und allen auf ihn einwirkenden Einflüssen zersetzender Art widerstehen" 43 . Bemerkenswert an der Verfügung war die Aufforderung, die Offiziere mündlich über den Inhalt zu informieren und, wie im folgenden dargelegt, entsprechend zu belehren: „Für das Offizierskorps ist der Verrat des früheren Generals der Artillerie, von Seydlitz, und einiger Offiziere eine eindeutige, erschütternde Tatsache. Der Öffentlichkeit gegenüber ist jedoch der Standpunkt zu vertreten, daß alle Offiziere, die in der sowjetischen Propaganda gegen das nationalsozialistische Deutschland auftreten, durch entsprechende Mittel in einen Zustand der Willenlosigkeit versetzt handeln" 44 . Offenbar hielten sich manche hohen Offiziere auch nach 1945 noch immer an diese Sprachregelung, wenn sie in ihren Erinnerungen den tatsächlichen Inhalt der Treueerklärung der Feldmarschälle und die Wahrheit über den BDO und entsprechende Reaktionen in der Wehrmacht verschwiegen 45 . Um alle hohen Militärs lückenlos mit dem Inhalt der Ergebenheitsbekundung und der Verfügung vom 16. April vertraut zu machen, entschloß sich Schmundt, die außer Dienst befindlichen Feldmarschälle und Generalobersten durch gleichlautende Schreiben zu unterrichten 46 und sie so in die Lage zu versetzen, „unzutreffende Auffassungen richtigzustellen und in der vom Führer gewünschten Richtung
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Oberkommando des Heeres, Heerespersonalamt, „Geheime Kommandosache", Betr. Zersetzung der Wehrkraft, Führerhauptquartier, 16. 4. 1944. Abgedr. in: Flugblätter des N K F D , S. 138 f. Ebd., S. 139. Ebd. Man vergleiche dazu beispielsweise Manstein, Siege, S. 602 f.; Guderian, Erinnerungen, übergeht sein Verhalten gegenüber dem B D O völlig. Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, S. 140.
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für das Heer und das Ganze wirken zu können" 47 . Es ist nicht bekannt, wie die so Angesprochenen im einzelnen auf die Informationen reagierten, doch dürften wohl die meisten sich etwa so verhalten haben, wie Generalfeldmarschall Fedor von Bock, der ohne nach Motiven und Zielen zu fragen, zum „Fall Seydlitz" notierte, es sei wohl „das erste Mal in der preußischen Geschichte, daß ein General zum offenkundigen Verräter wird". Da er von Seydlitz immer für einen geraden und anständigen Menschen gehalten habe, könne er sich das Unglaubliche nur damit erklären, daß er unter der ungeheuren seelischen Belastung durch die Kämpfe von Stalingrad „einer raffinierten bolschewistischen Beeinflussung" erlegen sei48. Analysiert man die Verlautbarungen in der Wehrmacht über Existenz und Tätigkeit von NKFD und BDO, ist deren Einordnung in die verstärkte ideologische Indoktrination der Truppe, die auf einen Geheimerlaß Keitels vom 1. Juni 1942 anläßlich der Übernahme des unmittelbaren Oberbefehls über das Heer durch Hitler zurückgeht, unschwer zu erkennen. Die Intentionen der weltanschaulichen Schulung der Wehrmacht waren klar: Generalfeldmarschall Keitel, Chef des OKW, sah ihre Aufgabe darin, „eine bedingungslose Ubereinstimmung zwischen den Grundauffassungen der Staatsführung und denen des Offizierskorps ... vor allem in weltanschaulicher Hinsicht herbeizuführen" 49 . Da man mit dem diesbezüglich Erreichten offenbar unzufrieden und durch die propagandistische Aktivität des BDO überdies aufgeschreckt war, ordnete Hitler schließlich in einem Befehl vom 22. Dezember 1943 an, im Oberkommando der Wehrmacht einen NS-Führungsstab zu bilden, der im Einvernehmen mit der Parteikanzlei der NSDAP dafür zu sorgen hatte, „die politisch weltanschauliche Führung und Erziehung der Truppe in verstärktem Maße durchzuführen" 50 . Wenn andererseits in den Informationen für das Offizierskorps und in den Mitteilungen für die Truppe auf die Propaganda des NKFD/BDO mit Lügen, Verleumdungen und Halbwahrheiten reagiert worden ist, kann man das nur als Ausdruck von Hilflosigkeit gegenüber dieser außergewöhnlichen Erscheinung des Krieges werten. Hauptsächlicher Beweggrund aller Gegenmaßnahmen aber war wohl die Angst, die patriotischen Motive des Handelns der Mitglieder des BDO könnten in der Wehrmacht erkannt werden und Folgen zeitigen. Natürlich ist bei alledem in Rechnung zu stellen, daß die propagandistischen Aktivitäten beider Seiten den Gesetzen des Krieges, auch denen der Sowjetunion, unterlagen, denn jede Seite wollte den Sieg erringen. Aber jenseits der
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Faksimiledruck des Schreibens von Schmundt an Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb vom 30. 5. 1944, in: Walle (Hrsg.), Aufstand, S. 4 6 0 - 4 6 1 , hier S. 460. Eintrag zum Fall Seydlitz, Mitte Juli 1944, in: Gerbeth (Hrsg.), Generalfeldmarschall, S. 486. Geheimerlaß Generalfeldmarschall Keitels, 1. 6. 1942, zit. n. Besson, Geschichte, Dok. Nr. 1 , S . 84. Führerbefehl f ü r die nationalsozialistische Führung der Wehrmacht, 22. 12. 1943, in: ebd., Dok. Nr. 5, S. 94. A m 6. 2. 1944 erging vom Chef des O K W die Weisung, bei den Oberkommandos der Wehrmachtteile NS-Führungsstäbe zu bilden und bei den Kommandobehörden bis zu den Divisionen/Gleichgestellten hauptamtliche NS-Führungsoffiziere einzusetzen, ebd., Dok. Nr. 7, S. 96).
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Einbeziehung der Tätigkeit von NKFD und BDO in die bolschewistische Propaganda, ist an der Einsicht der Mitglieder beider Organisationen nicht zu zweifeln, daß das Weiterkämpfen für eine längst gescheiterte Sache sinnlos war, eine Einsicht, der sich das Offizierskorps der Wehrmacht weitestgehend verschloß. NKFD/BDO ging es um die Verkürzung des Krieges, um den Bruch mit einem verbrecherischen Regime und um die Gestaltung einer den obwaltenden Umständen entsprechenden Nachkriegsordnung in Deutschland. Treffend bemerkte General von Seydlitz dazu in seinen Erinnerungen: „Dieser Krieg war der Krieg eines nationalen Verbrechers und daher auch ein nationales Verbrechen. Das allein setzt die richtigen Maßstäbe auch für unser Handeln" 51 . Generell traten in der Gegenpropaganda der Wehrmacht folgende Leitlinien hervor: Erstens wurde im einschlägigen Schrifttum der Wehrmacht nahezu durchgängig nicht zu unrecht herausgestellt, NKFD und BDO zielten darauf ab, das einvernehmliche Zusammenwirken zwischen militärischer und politischer Führung zu überwinden und die Wehrmacht dem NS-Regime zu entfremden. Dazu sei die Bildung einer wahrhaft deutschen Regierung, die nur aus dem Freiheitskampf aller Volksschichten hervorgehen könnte, notwendig, und die volks- und vaterlandstreuen Kräfte in der Armee, womit alle Hitlergegner in der Wehrmacht gemeint waren, hätten dabei eine entscheidende Rolle zu spielen 52 . Demgegenüber stellte das OKW die „vollkommene Ubereinstimmung zwischen politischer und militärischer Führung" als größte Stärke Deutschlands in diesem Kriege heraus, es gäbe „nur eine politische Bewegung, nur einen Willen zum Widerstand und Kampf" 53 . Solange diese deutsche Einigkeit, fest geschart um den Führer, besteht, sei Deutschland unbesiegbar. Nur wenn es gelänge, diese Einigkeit zu sprengen, werde das Land wie 1918 zu einer leichten Beute seiner Feinde werden. Das Trauma des Jahres 1918 mit Revolution, Soldatenräten und Versailler Vertrag war wohl auch eine nicht unwesentliche Ursache für das nervöse Reagieren von Hitler und Goebbels, und die in ihrem Denken der Dolchstoßlegende verhafteten Generale und Offiziere sahen wie damals eigene Karriere und Existenz gefährdet und schlossen sich nicht zuletzt deshalb - dem Beispiel der Generalfeldmarschälle folgend - noch fester um den Diktator und sein Regime zusammen. Zweitens wurden Komitee und Offiziersbund zu einer Verräterorganisation gestempelt, die - wie weiter oben bereits geschildert - von fanatischen landesverräterischen Kommunisten und Juden gelenkt würden. Während man in der ersten Zeit die Mitarbeit von Offizieren schlankweg leugnete oder durch irgendwelche Umstände als erzwungen hinstellte, kaprizierte man später alle Schuld am „Verrat" auf General von Seydlitz. „Die ganze Wut des NS-Regimes entlud 51 52
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Seydlitz, Stalingrad, S. 2 1 0 . Manifest des Nationalkomitees „Freies Deutschland" an die Wehrmacht und an das deutsche Volk, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 266 f. Mitteilungen f ü r das Offizierskorps, in: ebd., S. 269. In einer Reaktion der Abt. l c der 78. Sturm-Division heißt es, 1 9 1 8 hätten die Soldatenräte die innere Front gespalten, heute solle ähnliches mit dem Offiziersbund erreicht werden ( S A P M O - B A , NY/4065, Bl. 94). Parallelen zu 1 9 1 8 finden sich unter anderem in den „Mitteilungen für die Truppe" Nr. 356, 358, 359, alle vom September 1944 B A - M A , R H 15/314.
R e a k t i o n e n in d e r W e h r m a c h t
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sich gegen ihn" 5 4 . Noch im Herbst 1944 hieß es im „Völkischen Beobachter", die weiteren Mitglieder des Komitees seien „vereinzelte Kriegsgefangene, die sich unter dem Druck eines jüdisch-bolschewistischen Terrors in ehrloser Weise dem Feinde verkauft haben" 5 5 . Die Mitgliedschaft von Generalfeldmarschall Paulus im B D O seit 8. August 1944 sowie der Beitritt von Generalen der Heeresgruppe Mitte wurden totgeschwiegen, bzw. als „gemeiner Schwindel" 5 6 abgetan. Drittens wurde den Verlautbarungen des N K F D / B D O und deren Autoren jede selbständige, an nationalen Interessen und Belangen orientierte Bedeutung bzw. Überlegung abgesprochen. Bei den Verlautbarungen handele es sich ausschließlich um bolschewistische Vorgaben, während die Akteure keinerlei Handlungsspielraum besäßen. In den „Mitteilungen für das Offizierskorps" bemerkte das O K W , das schwarz-weiß-rot des N K F D sei Heuchelei und diene der Tarnung, es solle die nationale Note wahren, „man spielt den für Deutschlands echtes Wohl Besorgten, man gibt sich aus als der wahre und bessere Patriot, und dies alles Seite an Seite mit dem erbittertsten Feind, den Deutschland besitzt" 5 7 . Das N K F D sei lediglich ein Instrument zur Bolschewisierung des Reiches. Ein freies und unabhängiges Deutschland wäre „nur der klägliche Ubergang zu einer Sowjetrepublik". Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit wirklichen Zielen 58 , wie sie N K F D und B D O verfochten und wie sie im „Manifest" und in den „25 Artikeln zur Beendigung des Krieges" dargelegt waren, erfolgte indessen nicht. Ein Vergleich des tatsächlichen Inhalts der 25 Artikel mit den entsprechenden „Mitteilungen für die Truppe" ergibt, daß das O K W darauf ausschließlich mit Lügen und Verleumdungen reagierte 59 . Eine Steigerung erfuhr die antibolschewistische Hetze gegen das N K F D mit einem Aufruf des Generalstabschefs des Heeres, Generaloberst Heinz Guderian, vom August 1944 an die Soldaten, in dem er die Angehörigen des Komitees als „willenlose Werkzeuge in der Hand Stalins" verleumdete und verkündete: „Bräche die deutsche Front zusammen, so wäre nicht ein freies Deutschland die Folge, sondern die endgültige Vernichtung unserer Heimat und die Versklavung der gesamten deutschen Wehrmacht sowie Millionen deutscher Arbeiter; in die Zwangsarbeitslager des asiatischen Rußland verschickt, würde keiner von ihnen die Heimat jemals Wiedersehen" 60 . Viertens übertrug die Wehrmachtführung, wie aus oben Gesagtem bereits zu ersehen, das eigene Feindbild auf das N K F D / B D O , um die kämpfende Truppe 54
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Carnes, General, S. 242; siehe „Mitteilungen für die Truppe" N r . 355 vom August 1944, B A - M A , R H 15/314. Zit. n. Flugblätter des N K F D , S. 155. Mitteilungen für die Truppe N r . 3 5 6 und 357 v o m September 1944, B A - M A , R H 15/314. Zit. n. Ueberschär (Hrsg.), 20. Juli 1944, S. 277. Zu den Zielen des N K F D / B D O siehe Heider, Deutschland. Siehe Mitteilungen für die Truppe N r . 321 v o m April 1944. Faksimile in: Flugblätter des N K F D , S. 1 4 1 - 1 4 2 . Aufruf von Generaloberst Heinz Guderian, in: ebd., S. 1 5 0 - 1 5 1 . Der Chef des Heerespersonalamtes, General Schmundt, bezeichnete Guderian im Februar 1943 wohl nicht zu unrecht als einen der „getreuesten Gefolgsmänner" Hitlers in der Generalität, Bradley/ Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, S. 47.
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gegen die antifaschistische Propaganda der Bewegung „Freies Deutschland" zu immunisieren 61 . Die für die Unterweisung der Soldaten bestimmten Schriften trugen deutlich antisemitisch-rassistische Züge. Immer wieder wurde behauptet, kriegsgefangene Soldaten und Offiziere seien jüdisch-bolschewistischen Einflüssen erlegen, sie würden unter Druck und Terror handeln. In dieser Beziehung folgte man inhaltlich eindeutig dem im Januar 1944 vom Personalamt des Heeres herausgegebenen und jedem Offizier zu überreichenden Buch: Wofür kämpfen wir? In dem der Schrift vorangestellten „Führerbefehl" hieß es, das Buch solle dem Offizier „Wegweiser für seine eigene weltanschauliche Ausrichtung und geistiges Rüstzeug für die politische Erziehung und Ausbildung seiner Soldaten sein" 62 . Dieses geistige Rüstzeug war böswilliger Antisemitismus, den somit alle Offiziere und über sie alle Soldaten verinnerlichen sollten. Das Judentum, so war zu lesen, strebe seit Jahrtausenden die Weltherrschaft an. Aber das deutsche Volk habe sich von dieser Gefahr befreit, es sei die letzte germanische Bastion, die es gegen das Weltjudentum zu verteidigen gelte. Aus abgrundtiefem Haß werde dieses kein Mittel unversucht lassen, das deutsche Volk restlos zu vernichten. Die größte Bedrohung gehe vom Bolschewismus aus, der sich als Instrument des Weltjudentums im Streben nach Weltherrschaft mit der englisch-amerikanischen Plutokratie verbündet habe, um die angeblich „alttestamentliche Verheißung von der Weltherrschaft der Juden" 63 wahrzumachen. Amerikanismus und Bolschewismus würden die alte ehrwürdige europäische Kultur bedrohen. Der gegenwärtige Kampf entschiede darüber, ob „der Amerikanismus mit dem jüdischen Materialismus" und „der Geist der Steppe die Welt versklaven oder ob der germanische Geist, getragen vom nationalsozialistischen Deutschland, und der Geist der alten asiatischen Kultur (gemeint ist Japan, P. H.) zu einer schöpferischen Neugliederung der Welt führen werden". In diesem schweren Kampf seien „die germanischen Tugenden der Ehre, Treue, der Einsatzbereitschaft und Tapferkeit, des freiwilligen Gehorsams zu einmaliger Höhe gebracht" 64 worden. Das seien die Werte, die den Sieg verbürgten. Alles was sich dem entgegenstellte, war aufs Schärfste zu bekämpfen. Zur Erklärung im Manifest des NKFD, eine neue demokratische Staatsmacht werde alle auf Völker- und Rassenhaß beruhenden Gesetze aufheben, hieß es in Identifikation von Parlamentarismus und Judentum, hiermit sei „die Katze aus dem Sack.... Damit also würde der Jude in Deutschland wieder freie Hand bekommen" 65 . Und an anderer Stelle wird dazu gesagt: „Wenn wir der beseitigten
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Siehe dazu Heider, Rußlandbild, S. 1 8 9 f . Vgl. W o f ü r kämpfen w i r ? Bei diesem Buch handelt es sich um eine offen antisemitische Hetz- und Kampfschrift. Sie w u r d e im Auftrag von General Schmundt durch einen Oberst Hübner, der als Regimentskommandeur an der Front „die Notwendigkeit der Ausrichtung des Offizierskorps und der Truppe erkannt und aus eigenen Mitteln durchgeführt" hatte, ausgearbeitet. Er stützte sich dabei auch auf Unterlagen des SS-Hauptschulungsamtes. Siehe Bradley/Schulze-Kossens (Hrsg.), Tätigkeitsbericht, S. 98. W o f ü r kämpfen wir?, S. 2 1 . Ebd., S. 119. Mitteilungen für das Offizierskorps, in: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 272
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Judenherrschaft wieder Tür und Tor öffneten, dann würden sie mit ihrem aufgespeicherten Haß alles Deutsche in kürzester Zeit restlos ausrotten" 66 . Die Durchhaltestrategen operierten mit Horrorvisionen, mit denen die Kampfmoral der Truppe aufrechterhalten werden sollte. Von den Soldaten der Ostfront forderte Guderian, sich fester um den Führer zu scharen und dem „vom Judentum gedungenen Bolschewismus unnachsichtliche Härte und unerschütterliche Festigkeit" entgegenzustellen 67 . Die ohnmächtige Wut darüber, daß kriegsgefangene Generale und Offiziere in größerer Zahl besonders nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte Realitätssinn bewiesen und den weiteren Kampf als aussichtslos betrachteten und herausstellten, die politische und militärische Führung Adolfs Hitlers und seiner nächsten Gefolgschaft hätten Deutschland an den Rand des Abgrundes gebracht 68 , entlud sich auf NKFD und BDO auch in einer unflätigen, in bloßes Geschimpfe ausartenden Sprache. Da ist von „Giftbude", „Sauerei", „großer Schnauze" und „Verrätern" die Rede. Die Zusammenarbeit von Offizieren mit dem „Juden Weinert" sei eine „finstere Angelegenheit, die einem den Ekel ins Blut treibt". Dabei spiele „ein gewisser Seydlitz eine schändliche Rolle". Das „deutsche Volk" (sic!, P. H.) habe „daraus längst alle Konsequenzen gezogen. Das Reichskriegsgericht hat diesen ehrvergessenen Burschen in Abwesenheit zum Tode, zur Wehrunwürdigkeit und zur Einziehung des Vermögens verurteilt". Als „nationalsozialistischer Soldat" könne man „nur ausspucken, wenn man an diese Clique denkt" 69 . In den Kompaniebesprechungen wurde den Soldaten aufs Schärfste eingehämmert, daß das Abhören von Feindsendern und das Lesen feindlicher Flugblätter strengstens verboten war. Wer dagegen verstieß, machte sich nicht nur des Ungehorsams strafbar. Jeder Soldat müßte wissen, „daß es ehrlos, gemein, aber auch idiotisch dumm ist", feindlichen Einflüsterungen, „die von gerissenen jüdischen Agenten eigens zu dem Zwecke gemacht worden sind, uns zu vergiften", sein Ohr zu leihen oder sie zu lesen. Wo immer ein deutscher Soldat auf einen Angehörigen der Wehrmacht oder einen Zivilisten stößt, der sich derartiger Vergehen schuldig macht, habe er ohne Ansehen der Person rücksichtslos gegen ihn vorzugehen. „Der Soldat kann nicht brutal genug sein bei seinen Maßnahmen gegen solche politischen Deserteure" 70 . In einem Merkblatt für NSFO im Ostheer und in der Ostluftwaffe hieß es gar, „der Deserteur von Seydlitz, der kommunistische Jude Weinert und der Kommunist Pieck" würden die „Freigabe Deutschlands an die bolschewistische Sklaverei" betreiben. Es folgte die Aufforderung zum blanken Mord: „Wo immer ein solcher Verräter in unsere Hände fällt oder einem Soldaten in Gefangenschaft entgegentritt, ist er niederzumachen" 71 . Die hier geschilderten Reaktionen sind in inhaltlicher und stilistischer Hinsicht sowohl Teil wie auch
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Was will das Nationalkomitee „Freies Deutschland"?, in: Scheurig, Verrat, S. 141. Führer befiehl - wir folgen. Faksimile, in: Flugbläter des NKFD, S. 148. Aufruf der Generale und Truppenführer, in: Scheurig, Verrat, S. 239-250. Mitteilungen für die Truppe Nr. 355, August 1944, BA-MA, RH 15/314. Mitteilungen für die Truppe, Nr. 358, September 1944, ebd. Scheurig, Verrat, S. 171.
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Ausdruck des Realitätsverlustes und Selbsbetruges sowie der Brutalisiertung, die die Handlungen der Wehrmachtführung seit Ende 1943 maßgeblich bestimmten 72 . Fünftens schließlich wurde im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 den Männern um Oberst Graf von Stauffenberg als ein sie zusätzlich belastendes Moment unterstellt, sie hätten Verbindungen zum NKFD/ BDO unterhalten und im Einvernehmen mit diesen gehandelt. Das diesen wiederholt angelastete Ziel, das nationalsozialistische Deutschland, gestützt auf oppositionelle Kräfte der Wehrmacht, von innen her auszuhöhlen, erschien in den Augen der NS-Führung mit dem 20. Juli 1944 eine gefährliche Realität gewonnen zu haben. In einer ersten Reaktion vom 20. Juli abends urteilte Reichsleiter Martin Bormann in einem Rundschreiben an alle Gauleiter der NSDAP, das Attentat auf Hitler sei „offenbar nach Verabredung mit dem .Nationalkomitee Freies Deutschland'... inszeniert" worden, um die vollziehende Gewalt der „Generalsclique Fromm, Olbricht, Hoepner" zu übertragen und Frieden mit Moskau zu schließen. Das Scheitern des Anschlages bedeute daher die Rettung Deutschlands, denn nunmehr seien die in die „verräterischen Generale gesetzten Hoffnungen endgültig zerstört" 73 . Auch Guderian behauptete, die Verschwörer hätten Verbindungen zum Nationalkomitee unterhalten, wobei er sich auf eine dem NKFD zugeschriebene Verlautbarung berief, in der es heißt: „Männer wie von Stauffenberg sind aus unseren Reihen hervorgegangen" 74 ! Markig verkündete er, Verräter und Uberläufer gehörten an den Galgen, während der ehrliebende deutsche Soldat seinen Eid halte und für Führer, Volk und Vaterland weiterkämpft. In internen Diskussionen versuchten NSDAP- und Propagandaführung durch Gerüchte über Verrat und Sabotage von den tatsächlichen Ursachen militärischer Niederlagen, wie den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, der den ganzen Sommer über verschwiegen wurde, abzulenken. In den Verlautbarungen von NKFD und BDO in der Zeitung und im Sender „Freies Deutschland" zum 20. Juli ging es in der Hauptsache darum, die Gleichartigkeit der Anliegen und Ziele von Komitee und Offiziersbund und innerdeutschen Widerstand herauszustellen 75 , und in eben diesem Sinne betrachtete man Stauffenberg als zu den eigenen Reihen gehörig. Die anfänglich auch in den „Kaltenbrunner-Berichten" aufgestellte Behauptung einer direkten Verbindung konnte nicht aufrechterhalten werden. Im vorläufigen Abschlußbericht vom 29. November 1944 wurde festgestellt: „Unmittelbare Verbindungen nach der Sowjetunion zum Nationalkomitee .Freies Deutschland' haben nach bisherigen Feststellungen nicht bestanden" 76 .
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Siehe dazu Messerschmidt, Wehrmacht (1995). Jacobsen (Hrsg.), Spiegelbild, S. 592. Zit. n. Flugblätter des N K F D , S. 151. Zu den Versuchen, eine Verbindung zwischen der Verschwörergruppe um Stauffenberg und dem N K F D zu konstruieren siehe auch Ueberschär, N K F D , S. 40 f. Siehe dazu Finker, Stellung, S. 4 2 - 4 4 . Zur Gleichartigkeit der Ziele auch Scheurig, Nationalkomitee, S. 1 6 - 1 8 . Jacobsen (Hrsg.) Spiegelbild, I, S. 507 (Hervorhebung im Original).
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Natürlich war damit das letzte Wort zu dem genannten Sachverhalt noch längst nicht gesprochen, denn die Bewertung stützte sich auf Vernehmungsprotokolle, bei deren Inhalt zu berücksichtigen ist, daß die Verhörten bestrebt sein mußten, sich nicht noch zusätzlich zu belasten. Eine nachgewiesene Beziehung zum NKFD hätte Landesverrat bedeutet. Gleichwohl mußte im Ergebnis einer vergleichenden Analyse von Dokumenten der Widerstandskreise des 20. Juli und des NKFD von Kaltenbrunner eingeräumt werden, daß sich "die politischen Auffassungen dieser Gruppen weitgehend" deckten. Das sei aber nicht auf unmittelbare Kontakte, sondern darauf zurückzuführen, „daß auf beiden Seiten Militärs mit gleicher innerer Haltung zum Krieg und gleichen politisch-weltanschaulichen Grundauffassungen standen. Immerhin haben innerhalb der Verschwörergruppe gewisse Sympathien für Seydlitz und seine Gruppe bestanden" 77 . Manches spricht dafür, daß es ob der genannten Gemeinsamkeiten seitens der Männer um Oberst Graf von Stauffenberg ernsthafte Überlegungen gegeben hat, nach einem geglückten Attentat gegen Hitler sofort Verbindungen zum NKFD/BDO aufzunehmen und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit ihm zu sondieren 78 . Nach einschlägigen Quellen amerikanischer Geheimdienste soll seit Herbst 1943/Anfang 1944 versucht worden sein, Kontakte zum NKFD herzustellen 79 . Da letzte Klarheit noch nicht gewonnen ist, bedarf dieser Problemkreis weiterer Untersuchungen. Das Verdikt von NS- und Wehrmachtführung gegen jede wie auch immer geartete Verbindung wirkt teilweise bis in die Gegenwart fort und erweist sich als ernsthaftes Hemmnis entsprechender Forschungen 80 . Der nach dem 20. Juli maßlos gesteigerte Terror traf auch die Mitglieder des NKFD und BDO und deren Angehörige. Als Reaktion auf den Aufruf der kriegsgefangenen Generale der Heeresgruppe Mitte 81 und den Beitritt von Generalfeldmarschall Paulus zum NKFD entschloß sich Hitler, die bislang gegenüber der Öffentlichkeit zurückgehaltene Ergebenheitserklärung der Generalfeldmarschälle und das Kriegsgerichtsurteil gegen General von Seydlitz bekannt zu machen. Eine im Auftrag Hitlers von General Wilhelm Burgdorf, Nachfolger von General Schmundt als Chef des Heerespersonalamtes, herausgegebene Verfügung vom 2. August 1944 verlangte, die Soldaten in allen Dienststellen der Wehrmacht unter Bekanntgabe der mit dem NKFD zusammenhängenden Sachverhalte eingehend und wiederholt zu belehren, „daß jeder Soldat, der sich in den Dienst des Feindes stellt, sein und seiner Familie Leben verwirkt hat" 82 . Auch in den „Mitteilungen für die Truppe" wurde nunmehr die Existenz des NKFD offen zugegeben 83 .
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Ebd., Hervorhebung im Original. Ausführlich dazu Finker, Stauffenberg, S. 183 ff. Siehe Witzleben, Stauffenberg. Auch General Fritz Lindemann sei an Verbindungen zu General von Seydlitz interessiert gewesen. Siehe dazu Mühlen (Hrsg.), Leben, S. 80. Persönliche Information von Wolfgang Welkerling zu den v o n ihm während seiner Forschungen zu Fritz Lindemann gewonnenen Erfahrungen. Siehe A u f r u f der Generale und Truppenführer, in: Scheurig, Verrat, S. 2 3 9 - 2 4 5 . Abgedr. in: Flugblätter des N K F D , S. 149. Siehe „Mitteilungen f ü r die Truppe", Nr. 352 und 355 vom August 1944, B A - M A , R H 15/314.
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Schon im Herbst 1943 hatte Hitler unnachsichtige Maßnahmen gegen aktive Mitglieder der Bewegung „Freies Deutschland" verlangt, denjenigen von ihnen, die in deutsche Hände fielen, drohte die Todesstrafe. Freiwillig zurückkehrende Soldaten waren streng zu überprüfen und in besonderen Lagern zusammenzufassen 84 . Nunmehr wurde im Rahmen der Sippenhaft die Verfolgung auf Familienmitglieder, Frauen und Kinder ausgedehnt. NSDAP und Gestapo überwachten die Angehörigen der Komitee- und Offiziersbundmitglieder, frühere Offizierskameraden brachen jeglichen Kontakt zu diesen Familien ab, man Schloß sie aus der sogenannten Volksgemeinschaft aus. Ehefrauen wurden, wie im Falle Bechler und Seydlitz, zur Scheidung gedrängt. Andere Frauen, wie etwa Erica von Lenski, widerstanden diesem Druck der Verfolger. Nach dem 20. Juli kamen fast alle Angehörigen in Gefängnisse oder Konzentrationslager oder wurden anderweitig interniert. Dazu zählten die Frauen und - soweit vorhanden - die Kinder von Korfes, Lattmann, Lenski, Lewerenz, Paulus, Reyher und Seydlitz 8 5 . A m 5. Februar 1945 verfügte der Chef des OKW, Generalfeldmarschall Keitel, in einer generellen Anordnung; „Für Wehrmachtangehörige, die in der Gefangenschaft Landesverrat begehen und deswegen rechtskräftig zum Tode verurteilt werden, haftet die Sippe mit Vermögen, Freiheit oder Leben. Den Umfang der Sippenhaftung im Einzelfalle bestimmt der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei" 8 6 . Auch dieser Befehl war Gegenstand eingehender Belehrungen in der Truppe. In der Folgezeit tauchten immer wieder Gerüchte auf, die sich teilweise bis in die Gegenwart erhalten haben, Kräfte einer angeblichen „Seydlitz"- oder „Paulus-Armee" hätten an der Seite der Roten Armee in das Kampfgeschehen eingegriffen. Im Januar 1945 hielten es Hitler und Goebbels sogar für möglich, daß die Sowjetregierung im eroberten Ostpreußen eine deutsche Gegenregierung mit Paulus und von Seydlitz an der Spitze bilden könnte 87 , wenig später notierte Goebbels allerdings, Stalin werde aus Rücksichtnahme auf die Angloamerikaner darauf verzichten. Was die sogenannte „Seydlitz-Armee" angeht, ist zu bemerken, daß es sich dabei um nicht realisierte Überlegungen, die sich übrigens der Kenntnis der Wehrmachtführung entzogen haben dürften, handelt. Tatsächlich hatte General von Seydlitz bereits im September 1943 erste Überlegungen für ein deutsches Freiwilligenheer angestellt, die er im Februar 1944 präzisierte und wesentlich erweiterte 88 . Mit seinen Vorstellungen, die er der sowjetischen Führung als Vorschlag unterbreitete, reagierte Seydlitz auf die vom O K W in den „Mitteilungen für das Offizierskorps" 8 9 gestellte Frage, über welche Kräfte denn das Nationalkomitee verfüge, um seine Forderungen zu verwirklichen.
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Siehe dazu Scheurig, Verräter, S. 79 f. Ebd., S. 80; siehe dazu auch Welz, S. 307 ff.; Bechler, Antwort. Zit. n. Scheurig, Verräter, S. 243. Goebbels, Die Tagebücher, II, 15, S. 430. Siehe dazu Reschin (Resin), Seydlitz, Dok. Nr. 4 und Nr. 7, S. 230 f., 233-236; siehe auch Reschin (Resin), General. Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 271.
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Seydlitz hegte die Hoffnung, das Vorhandensein deutscher Freiwilligenformationen werde es dem Nationalkomitee ermöglichen, seinen Aufrufen an das deutsche Volk und die Wehrmacht Nachdruck zu verleihen. Es würde die Auseinandersetzung und Differenzierung innerhalb der Wehrmacht beschleunigen und der im Werben um die Wehrmacht ständig verbreiteten Losung: „Ubertritt auf die Seite des Nationalkomitees" erst ihren eigentlichen Sinn verleihen, denn die übertretenden Formationen würden sich nicht mehr in eine tatenlose Gefangenschaft begeben, sondern auf Seiten des Nationalkomitees in eine Armee einreihen, die entschlossen wäre, gegen Hitler zu kämpfen. Unabhängig davon, daß mit Blick auf die Wehrmacht und die Stimmungslage im deutschen Volk derartigen Vorstellungen wohl allzu viel Illusionäres anhaftete, besonders was den Grad der Loslösung von Hitler betraf, sind die von Seydlitz angestellten Überlegungen Beleg dafür, daß es ihm darum ging, den Krieg zu beenden, ehe er deutsches Territorium erreichen würde 9 0 . Anders ausgedrückt hieß das, die Rote Armee von den Grenzen Deutschlands und damit Mitteleuropas fernzuhalten. Das erkannte natürlich auch die sowjetische Führung, die aus eigenem Interesse und in Ubereinstimmung mit der erklärten Absicht der Alliierten, bis zur bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands zu kämpfen, auf derartige Überlegungen mit schroffer Zurückweisung reagierte. Einen ähnlichen, nicht näher ausgeführten Gedanken äußerte Generalfeldmarschall Friedrich Paulus in einem jetzt bekanntgewordenen Brief vom 30. Oktober 1944 an Marschall Stalin. Wie Paulus meinte, war von der Million kriegsgefangener Männer aller sozialen Schichten des deutschen Volkes der weitaus größte Teil inzwischen „überzeugter Streiter für den menschlichen Fortschritt sowie für die Freundschaft und Zusammenarbeit unserer Völker geworden", somit sei „mit ihnen eine Kraft vorhanden..., deren zweckmäßiger Einsatz von entscheidender Bedeutung für die schnelle Beendigung des Krieges sein kann" 9 1 . Natürlich fanden diese Überlegungen von Paulus ebenso wenig Resonanz bei Stalin, wie die bereits früher von Seydlitz unterbreiteten Vorschläge. Das Schicksal Deutschlands war mittlerweile entschieden und somit existierte auch keine „Seydlitz-Armee", kein „deutsches Korps" aus Freiwilligen, die an der Seite der Alliierten an der Niederschlagung des Hitlerregimes hätten teilnehmen können. Dennoch muß festgestellt werden, daß die Frontorganisation des NKFD zweifellos mehr war, als nur eine Institution für Zersetzungspropaganda. So kam es verschiedentlich zum Einsatz organisierter Gruppen, in der Regel in einer Stärke von 2 - 6 Freiwilligen, manchmal auch mehr, die in Wehrmachtuniformen im Hinterland der deutschen Frontlinien mit unterschiedlichem Auftrag operierten 92 . Am bekanntesten ist der Einsatz einer größeren Gruppe in der
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Vgl. dazu Seydlitz, Stalingrad, S. 288. Reschin (Resin), Feldmarschall, S. 136. Die sogenannte „Seydlitz-Armee" war - wie aus einer nach Abschluß dieses Beitrags veröffentlichten Studie hervorgeht - über viele Jahre ein Phantomgebilde in amerikanischen und britischen Medien. Siehe Bungert, Nationalkomitee. Siehe dazu Hamacher, Frontorganisation.
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Festung Breslau, die Leutnant Horst Viedt leitete, er ist während der Kampfhandlungen gefallen. Diese Einsätze waren immer mit höchster Gefahr für Leib und Leben verbunden. Ob diese Gruppen, wie in der Literatur der DDR angenommen, tatsächlich immer etwas mit dem NKFD zu tun hatten, ist eher zu bezweifeln 93 . Sie könnten auch von der sowjetischen militärischen Abwehr unter Mißbrauch des Namens des NKFD organisiert und eingesetzt worden sein. Doch mit einer „Seydlitz-Armee" hat das alles nichts zu tun, gleich in wessen Auftrag die Einsätze organisiert und durch Gerüchtemacher maßlos aufgebauscht worden sind. Die Argumentation in den Materialien der Wehrmacht ist eindeutig nationalsozialistisch geprägt. In ihnen spiegelt sich der Vernichtungswille nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern auch „gegenüber dem politisch Andersdenkenden, der nur als Bolschewist gedacht werden konnte" 94 . Indoktrination, Terror und Verfolgung erzwangen bedingungslosen Gehorsam und Durchhaltewillen, in einem längst sinnlos gewordenen Kampf. Es ist die Schuld der höchsten militärischen Führer, jeden Gedanken an eine Alternative zu Hitler und seinem Regime ausgeschlagen zu haben. Indem sie die Angehörigen der Wehrmacht, die im NKFD und BDO mitarbeiteten, aus der Wehrmacht ausstießen, für wehrunwürdig erklärten und der kriegsgerichtlichen Verfolgung preisgaben, banden sie das Offizierskorps und letztlich alle aktiven Soldaten fester denn je an Hitler und an das nationalsozialistische Regime, bis zum bitteren Ende.
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Heider, Nationalkomitee, S. 29 f. Steinbach, Widerstand (1994), S. 269.
Wolfgang Schmidt „Maler an der Front". Zur Rolle der Kriegsmaler und Pressezeichner der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
Nationalsozialismus und Malerei „Der Nationalsozialismus bekennt sich ... zu einer heroischen Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit sowie der ewigen Auslesegesetze und tritt somit bewußt in unüberbrückbare Gegensätze zur Weltanschauung der pazifistisch-internationalen Demokratie und ihren Auswirkungen. Diese nationalsozialistische Weltanschauung führt zwangsläufig zu einer Neuorientierung auf fast sämtlichen Gebieten des völkischen Lebens" 1 . Mit diesen Worten benannte Adolf Hitler zum wiederholten Male die seiner Herrschaftsabsicht zugrunde liegende ideologische wie politische Programmatik: Rassenlehre, Kampf als zentrale Lebensgesetzlichkeit sowie totale Erfassung und Umformung des Menschen. Bemerkenswert sind jedoch Anlaß und Ort dieser Erklärung: die Kulturtagung des Reichsparteitages der N S D A P in Nürnberg am 1. September 1933. Im Sinne des NS-Herrschaftsverständnisses war für den sich selbst als Künstler verstehenden Hitler die „Kunst eine erhabene und zu Fanatismus verpflichtende Mission" 2 . Sie hatte geistig auf die N a tion einzuwirken und wurde damit zu einem unentbehrlichen Teil der Propaganda: „Durch die Kunst und in der Kunst vollzieht sich eine geistige Beeinflussung des Volkes, die der Staat lenken, formen und mit Gehalt erfüllen will" so im Nachgang 1933 der Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, Walther Funk, auf einer Tagung über den Aufgabenbereich der Kunst 3 . In der ihm eigenen Deutlichkeit machte Hitler in jener Nürnberger Parteitagsrede auch seine kunstpolitischen Intentionen kenntlich: „ O b die Vorsehung uns alle die Männer schenkt, die dem politischen Wollen unserer Zeit und seinen Leistungen einen gleichwertigen kulturellen Ausdruck zu schenken vermögen, wissen wir nicht. Aber das eine wissen wir, daß unter keinen Umständen die Repräsentanten des Verfalls, der hinter uns liegt, plötzlich die Fahnenträger der Zukunft sein dürften. Entweder waren die Ausgeburten ihrer damaligen Produktion ein wirklich inneres Erleben, dann gehören sie als Gefahr für den gesunden Sinn unseres Volkes in ärztliche Verwahrung, oder es war dies nur eine Spekulation, dann gehören sie wegen Betruges in eine dafür geeignete Anstalt. Auf keinen Fall wollen wir den kulturellen Ausdruck unseres Reiches von diesen Elementen verfälschen lassen;
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Dreyer, Kultur, S. 11. Ebd., S. 18. Zit. n. Hinkel, Funktion, S. 108.
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denn dies ist unser Staat und nicht der ihre. Dieser neue Staat wird aber der Pflege des Kulturellen eine ganz andere Aufmerksamkeit schenken als der alte" 4 . In der Tat markierte der neue Staat auch in dieser Hinsicht deutliche Akzente. Mit der Grundsteinlegung für das „Haus der Deutschen Kunst" 1933 war den Künstlern bis zur beabsichtigten Eröffnung 1937 eine vierjährige Frist eingeräumt worden, um sich auf die neue Zeit einzustellen. Dann wollte der NSStaat die neuen künstlerischen Leistungen erstmals öffentlichwirksam und repräsentativ vorgestellt wissen 5 . U m den Malern und Bildhauern allerdings die Richtung zu weisen, inszenierte man parallel dazu unter dem Schlagwort von der „Säuberung des Kunsttempels" eine beispiellose Eliminierungskampagne gegen die als „jüdisch-bolschewistisch" stigmatisierten Vertreter der abstrakten bzw. expressionistischen Kunst. Ganz besonders richtete sich dabei der Haß konsequenterweise gegen die Vertreter der sogenannten Antikriegskunst, als deren Exponenten in der Malerei Otto Dix, George Grosz und Max Beckmann galten 6 . Mit dem Berufsverbot verschwanden auch die Werke dieser Künstler in den Museen von den Wänden, bis man sie schließlich 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst" anprangerte. Entsprechend der dem Nationalsozialismus inhärenten grundsätzlichen Ablehnung des Pazifismus, „dem er die Rühmung des Krieges als solchen entgegenstellte" 7 , wurden im Ausstellungskatalog die Arbeiten der genannten Künstler mit demagogischen Stichworten wie „Kriegsgreuelpropaganda" und „Gemalte Wehrsabotage" belegt 8 . Nachdem 1938 große Teile enteignet und gegen Devisen Ausland verkauft worden waren, wurden schließlich die Restbestände - über 5000 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Graphiken - am 20. März 1939 im Hof der Hauptfeuerwache zu Berlin unter Ausschluß der Öffentlichkeit verbrannt 9 . Eine Art Endlösung der Klassischen Moderne im nationalsozialistischen Stil. U m kulturpolitisch nichts dem Zufall zu überlassen 10 , schuf sich der in seinen Intentionen totale Staat mit der Reichskulturkammer und ihren Einzelkammern eine adäquate Organisation unter dem Vorsitz des Propagandaministers. Entsprechend der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungspolitik kam diesem Ministerium und seinen nachgeordneten Einrichtungen die Aufgabe zu, „in Deutschland eine geistige Mobilmachung zu vollziehen" 1 1 . Durch Zwangsmitgliedschaft war eine totale Kontrolle aller Kulturschaffenden gewährleistet.
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Dreyer, Kultur, S. 18. Hinz, Malerei, S. 32. Zur künstlerischen Verarbeitung des Ersten Weltkrieges durch die Klassische Moderne vgl. Rother (Hrsg.), Tage; Cork, Truth. Zur Haltung der kulturellen Eliten zum Ersten Weltkrieg unter vornehmlich kulturhistorischem Ansatz vgl. Mommsen (Hrsg.), Kultur. Einen Bogen vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart schlägt Jürgens-Kirchhoff, Schreckensbilder. Nolte, Bürgerkrieg, S. 535. Zit. n. Dünkel, Liquidierung, S. 47. Als zeitgenössischen Beleg für Stigmatisierung dieser Künstler als „Kunstbolschewisten" vgl. Willrich, Säuberung, S. 18 f. Dünkel, Liquidierung, S. 50. Vgl. Ausst.-Kat. „Entartete Kunst"; Zuschlag, Kunst. Allgemein zur NS-Kulturpolitik vgl. Piper, Kulturpolitik. Goebbles, Die zukünftige Arbeit und Gestaltung des deutschen Rundfunks. Rede vom 25. März 1933, in: Heiber (Hrsg.), Goebbels/Reden, 1, S. 90.
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Entzug der Mitgliedschaft kam einem Berufsverbot gleich. Die Künstler waren Amtsträger der nationalsozialistischen Sache geworden, die „öffentliche Belange zu wahren [hatten], ohne eine Besoldung aus der öffentlichen Hand zu erhalten" 12 . Nachdem am 24. Februar 1937 in den gleichgeschalteten Presseorganen auch die Kunstkritik verboten worden war - an ihre Stelle trat eine positiv-fördernde Kunstbetrachtung, die getragen sein sollte von den Grundsätzen einer völkischen Kultur war die Gleichschaltung der Kunst zu einem gewissen Abschluß gekommen 1 3 . Dabei darf aber nicht ubersehen werden, daß zu diesen staatlichen Reglementierungsmaßnahmen eine geistig-kulturelle „Selbstgleichschaltung" der Künstler kam - begangen aus Zwang, Opportunismus, aber sehr häufig auch unter freiwilliger Annahme der nationalistischen und sozialdarwinistisch-antisemitischen Machtideologie des Nationalsozialis14
mus . Mit der „Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung" im Sommer 1937, der Eröffnungsausstellung des „Hauses der Deutschen Kunst" in München, hob sich dann der Vorhang, und die unter solchen Voraussetzungen geschaffenen Produkte der zumindest von ihrem Anspruch her „neuen Zeit" konnten betrachtet und gekauft werden. Dabei ist sich die kunstgeschichtliche Forschung weitgehend einig, daß es sich bei den vertretenen Künstlern, den Bildthemen sowie dem Stil um nichts wirklich Neues gehandelt hat. Die Moderne war nur liquidiert worden - oder hatte sich angepaßt, und an ihre Stelle trat lediglich eine immer neben der Moderne vor allem in München vorhandene und gezeigte traditionelle Gattungsmalerei, die dem Geschmack Hitlers entsprach. Sein Gefallen an solcher Malerei, das von weiten Bevölkerungskreisen goutiert und durch die hohen Besucherzahlen in den Ausstellungen augenscheinlich auch bestätigt wurde, führte mit der reichsweiten Präsentation gleichsam zu einer künstlerisch-ideologischen Uniformierung 1 5 . Analog zur widerspruchsvollen Selbststilisierung des Nationalsozialismus als einer in Teilen gegen die Moderne
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Hinz, Malerei, S. 34 f. In den für den internen Gebrauch zu verwendenden „Grundgedanken f ü r die Errichtung der Reichskukurkammer" äußerte sich Goebbels recht eindeutig: „Zweck des ständischen Aufbaus ist es, daß der Staat den einzelnen Künstler erfaßt, in seinem Schaffen, seinem Lebensinhalt und Lebenssinn, als wirkende Persönlichkeit. Mit anderen Worten, der Staat verwandelt sich allmählich aus dem Rechtsstaat... in den Staat als Schaffensgemeinschaft". Zit. n. ebd., S. 35. Beispielhaft zeigt sich die Amtsfunktion des Künstlers an der Reaktion Hitlers und Goebbels' auf die Weigerung des Malers Constantin Gerhardinger, wegen der Gefahr von Luftangriffen keine Bilder zur Großen Deutschen Kunstausstellung 1943 nach München zu schicken. Aufgebracht vermerkte Goebbels in seinem Tagebuch: „Der Führer verhängt über ihn sehr schwere Strafen. Es ist ja auch unerhört, daß ein einzelner Maler sich das Recht herausnimmt, am nationalen Risiko unbeteiligt zu bleiben. ... Wenn der Künstler glaubt, er könne sich den nationalen Pflichten entziehen, so muß er entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden". Vgl. Fröhlich (Hrsg.), Goebbels, Tagebücher, II, 8, S. 258.
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Vgl. allgemein Thomae, Propaganda-Maschinerie. Zur Kunstbetrachtung vgl. Milian, Kunstbetrachtung. Bracher, Diktatur, S. 2 7 0 - 2 8 4 . Vgl. Broszat/Schwabe (Hrsg.), Eliten. A m 2 9 . 7 . 1 9 4 2 erklärte Hitler seinen Zuhörern bei den Tischgesprächen, daß die aus 1 0 - 1 2 0 0 0 Einsendungen f ü r die endgültige Schau vorgesehenen 1200 Arbeiten „unter allen Umständen erstklassig" wären. Überdies fühle er sich durch die Millionen Besucher in seiner Auffassung bestätigt. Vgl. Picker, Tischgespräche, S. 406.
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gerichteten politischen Bewegung war man in der Malerei auf einen „Traditionalismus in Stil, Technik, Ikonographie und Gattungsauffassung" zurückgefallen und hatte somit auch „bewußt eine Kunst der Anti-Moderne und der Pseudolegitimation durch große Kunst und Vergangenheit" installiert 16 . In den nach Bildthemen geordneten Münchner Ausstellungen dominierte quantitativ mit vierzig Prozent zwar die Landschaftsmalerei im Stil des 19. Jahrhunderts, an „der Spitze der Gattungshierarchie stand jedoch, zwar nicht von der Anzahl der Bilder, aber von ihrer politischen Bedeutung her, die sogenannte .programmatische Bildkunst'" 17 . Daran sollte sich bis zur letzten Exposition im Sommer 1944 nur insoweit etwas ändern, als mit Kriegsbeginn 1939 ein sprunghafter Anstieg der ohnehin immer vorhandenen Bildinhalte Militär und Krieg zu beobachten war, der gegenüber dem Anteil in Friedenszeiten zumindest einer Verdoppelung entsprach (1938 ca. 1,7%; 1939 ca. 1,9%; 1940 ca. 4,3%; 1941 ca. 7,2%; 1942 ca. 7,5%; 1943 ca. 6,2%; 1944 ca. 5,2%) 18 . Daß es sich auch dabei lediglich um eine Vermehrung von Werken, nicht aber um eine stilbildende Neuaufnahme von Sujets gehandelt hat 19 , geht auf das Wesen des NS-Staates zurück, der sich von Anfang an als Staat für den Krieg schlechthin begriffen hat. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und angesichts der Erwartung, daß ein zukünftiger Krieg nur noch als totaler Krieg stattfinden werde, ging es seit 1933 darum, die gesamte Gesellschaft mental auf den Krieg vorzubereiten und während eines Krieges propagandistisch zu lenken. Propagandaministerium und Wehrmachtführung - seit Frühjahr 1939 die Abteilung Wehrmachtpropaganda im Wehrmachtführungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW/WPr) arbeiteten dazu in großer Interessenidentität auf vielfältigen Gebieten Hand in Hand 20 . Nicht zuletzt aufgrund der Vorstellung, „daß die großen und entscheidenden Aufgaben des Soldaten - mehr noch seiner Führer - nur zu einem geringen Teil von der Wissenschaft, zum weitaus größten aber von der Kunst her unterbaut werden müssen" 21 , hatte die sogenannte Kriegsmalerei nach 1933 eine Renaissance erfahren. Wehrmachtsintern wiesen zahlreiche Erinnerungsbilder an den Wänden der in großer Zahl neu erbauten Kasernen auf die heroischen Leistungen im Ersten Weltkrieg hin, denen man stimulierenden Charakter zumaß 22 . Hinzu kam, daß neben den retrospektiven Werken zum Weltkrieg in der Großen Deutschen Kunstausstellung zum Beispiel ab 1937 auch eine vom Frontkämpferbund der Bildenden Künstler zusammengestellte Schau von 120 einschlägigen Gemälden und 800 Graphiken durch das Reich wanderte 23 . Dieser 1928 in Berlin gegründete Bund hatte sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur
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Mai, Historienbild, S. 160. Petsch, Kunst, S. 54. Vgl. Hinz, Malerei. Ausst.-Kat. Große Deutsche Kunstausstellung 1937-1944. Vgl. Merker, Künste, S. 165-167. Bussmann, Darstellungen, bes. S. 198. Wette, Ideologien, S. 106-113, 121-128. Böttcher, Erziehung, S. 61. Wendel, Kunst, S. 10-18. Kriegserlebnisse und Kriegsdarstellungen in der Künstlerfamilie Adam, Manuskript, Berlin, 6. 3. 1942, Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 676.
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das Frontkampferlebnis und die Frontkameradschaft des Weltkrieges zu gestalten, sondern im Sinne der NS-Ideologie auf die Darstellung „des Kampferlebnisses an sich [zu] wirken und seine künstlerische Leistungsebne [sie!] zu heben" 24 .
Wehrmacht und Malerei Aufgrund der solchen Bildern unterstellten propagandistischen Wirkung plante das OKW, nach ersten Überlegungen des Wehrmachtamtes im Jahre 193425, ab 1938 qualifizierte Künstler für diese Zweck zu interessieren mit dem Ziel, Kunstwerke zu schaffen, „die der Verherrlichung der neuen Wehrmacht dienen" 26 . Um Unterstützung gebeten, kümmerte sich die Reichskammer der bildenden Künste daraufhin um eine publizistische Verbreitung dieser Absicht in ihren Zeitschriften und empfahl der Wehrmacht im Frühjahr 1939 dazu 27 besonders befähigte Maler, die im wesentlichen ehemalige Kriegsmaler des Ersten Weltkrieges und besonders aktive Mitglieder im Frontkämpferbund der bildenden Künstler waren. Aus ihnen sollte sich schließlich nach Kriegsbeginn nicht nur ein Teil der innerhalb der Wehrmacht etatisierten Kriegsmaler des Zweiten Weltkrieges rekrutieren, sondern diese Künstler prägten aufgrund ihrer Loyalität zur NS-Ideologie auch nachhaltig das von den Machthabern intendierte Bild dieses Krieges. Den organisatorischen Rahmen nach Kriegsausbruch bildeten im wesentlichen, sieht man einmal von den im speziellen Auftrag einiger Parteigrößen, hoher Wehrmachtbefehlshaber, einzelner Heeresmuseen 27 oder NS-Organisationen wie die Organisation Todt 28 - arbeitenden sowie einzelnen den Wehrkreisen und Luftgauen unterstellten Künstlern ab, die Propagandakompanien der drei Wehrmachtteile bzw. ab 1944 auch der SS. In deren Kriegsberichterstatterzügen befanden sich neben den viel zahlreicheren Wort-, Bild-, Film- und Rundfunkberichtern auch einige als Pressezeichner oder Kriegsmaler bezeichnete Künstler. Den im Sommer 1938 unterzeichneten „Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Propagandaministerium" entsprechend, rekrutierte man dieses Fachpersonal zunächst anhand von Vorschlagslisten der Reichspropagandaämter 29 . Aufgrund von Aktenverlusten läßt sich die Anzahl der in den Propagandakompanien des Heeres dienenden Maler oder Zeichner leider nur vage schätzen. Bei 23 Propagandakompanien um die Jahresmitte 194 3 30 und 24 25
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Hartmann, Frontkampferlebnis, S. 464. Vgl. hierzu den Vortrag des Majors Hermann Foertsch vor den I c der Generalkommandos vom 26. 4. 1934, in dem er u.a. forderte, für die Herausstellung der Leistungen der Wehrmacht in der Öffentlichkeit auch Zeichner zu gewinnen, BA-MA, R W 6/v. 56, S. 48-51. Grundlegend zur geistigen Rüstung der Reichswehr/Wehrmacht vgl. Förster, Kriegführung. Weber, War Artists, S. 43. So ζ. B. Emil Rizek für das Heeresmuseum Wien. Ausst.-Kat. Im Hohen Norden, S. 4. Pöchlinger (Hrsg.), Propagandastaffel; vgl. Mit der OT beim Westwall. Zu Entstehungsgeschichte und Aufgabe der Wehrmachtpropaganda vgl. Buchbender/ Schuh (Hrsg.), Heil Beil!, S. 13-17; Buchbender, Erz, S. 16-27. Ebd., S. 21.
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unter Zugrundelegung von mindestens einem und höchsten drei pro Kompanie ergäbe dies eine Anzahl zwischen 23 und 6931. Nach der am 20. November 1940 neu festgelegten K-Landstärke Nr. 50 verfügte jede Marine-KriegsberichterKompanie schließlich über zwei Pressezeichner und einen Kriegsmaler im Leutnantsrang 32 . Dieselbe Zahl wird für die Luftwaffen-Kriegsberichter-Kompanien angegeben 33 . Kriegsausweitung und Vergrößerung der Wehrmacht führten auch bei der Propagandatruppe zu Neuaufstellungen und weiterem Personalzuwachs. Bereits im Sommer 1940 hatte das OKW daher in Potsdam eine eigene Propaganda-Ersatz-Abteilung als zentrale Ausbildungsstätte eingerichtet. Vor allem die Vorbereitungen für das „Unternehmen Barbarossa" machten eine so große Anzahl von Fachkräften erforderlich, daß die Reichspropagandaämter nicht mehr in der Lage waren, das benötigte Personal zu stellen. Für die Sparte der Kriegsmaler und bis 1942 auch der Pressezeichner war ein sogenannter Fachführer Maler zuständig. Ab Juni 1941 bekleidete der aus einer berühmten bayerischen Schlachten- und Historienmalerfamilie stammende Luitpold Adam diese Position. Adam war während des Ersten Weltkrieges als Kriegsmaler im Nebenamt zu gewissen Kenntnissen in diesem Genre gelangt 34 . Mitentscheidend für seine Berufung dürfte auch gewesen sein, daß er ab dem Frühjahr 1917 im Bild- und Filmamt in Berlin Dienste als künstlerischer Beirat und Adjutant verrichtete und somit Erfahrungen in der Propagandaorganisation aufweisen konnte 35 . Seit 1932 NSDAP-Mitglied, war er 1937 dem Frontkämpferbund der bildenden Künstler beigetreten und organisierte in dessen Auftrag bis 1939 Kriegskunstausstellungen. Zudem fertigte er seit 1933 im Auftrag verschiedener Parteigliederungen zahlreiche Porträts von Hitler oder sonstiger NS-Größen an36. Unter seiner Leitung erfolgten nun nicht nur die materielle Ausstattung und personelle Sicherstellung des künstlerischen Personalersatzes für die einzelnen Kriegsberichter-Kompanien, sondern insbesondere auch die Ausbildung der eingezogenen Künstler - im Winter 1941/42 wird ihre Zahl mit 45 angegeben 37
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Vgl. Yenne, W a r Art, der 43 Kriegsmaler dem Heer zuordnet. B A - M A , R W 4/v. 196, S. 227. Heysing, Adler, S. 24. Vgl. Barkhausen, Filmpropaganda, S. 213, der f ü r eine LuftwaffenKriegsberichterkompanie neben je zehn W o r t - und Bildberichtern, fünf Filmberichtern, je vier Rundfunksprechern und -technikern auch drei Pressezeichner angibt. Hinweise auf seine Arbeiten im Ersten Weltkrieg bei Hase-Schmundt (Hrsg.), Albrecht Adam, S. 362 f. Kriegserlebnisse und Kriegsdarstellungen in der Künstlerfamilie Adam, Manuskript von Luitpold Adam, Berlin 1942, Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 676. Zu Entstehungsgeschichte und Aufgaben des Bild- und Filmamtes vgl. Barkhausen, Filmpropaganda. Werkverzeichnis 1 9 0 9 - 1 9 4 3 , Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 690. Nach einem Politischen Führungszeugnis der NSDAP-Gauleitung Berlin vom 4. 6. 1942 war über A d a m in politischer Hinsicht nichts nachteiliges bekannt. Vielmehr bot er die Gewähr, „sich auch in Zukunft für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen", BA, R K K 2400 Box 0001 File 15. G o r d o n W . Gilkey, German W a r Art, Report, 25. 4. 1947, S. 14, U S - A r m y Center of Military History.
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- zu Kriegsmalern, wozu man in der Nähe übende Truppenteile gleichsam als Modelle heranzog 38 . Wie die Bild-, Wort- und Rundfunkberichter hatten auch die Kriegsmaler und Pressezeichner den Auftrag, die Leistungen der Wehrmacht auf allen Kriegsschauplätzen, vor allem natürlich im Kampf, festzuhalten. Ihr Ertrag fand dann in der Heimatpresse, in den Frontzeitungen, auf Werbeplakaten 39 , als Postkarten oder in Büchern Verwendung. Für den Bereich der Marine sei hier eine nach Künstler, Datum und Titel der Arbeit differenzierte Tätigkeitsmeldung der Marine-Propaganda-Abteilung West vom August 1942 angeführt 40 : „5. Zeichnungen: Friedel: 31.8. Dem Endsieg entgegen. Ölbild. Begegnung zweier deutscher Unterseeboote auf dem Atlantik (Zeichnung f. Frontzeitung) Tress: 8.8. Das ist der Seekrieg im Kanal. Farbige Illustration. 23.8. Das war Dieppe. Kohlezeichnung. Das ist der Seekrieg im Kanal. Kohlezeichnung. Benkert: 2.8. ,Alarm'. Ölbild 6.8. ,Mole von Zeebrügge im Sturm'. Ölbild Karb: 31.8. U-Stützpunkt im Werden. 3 Zeichnungen. Studien und Skizzen." Lier: Das OKW/WPr unterzog Tätigkeitsberichte und Arbeiten dann einer eingehenden Kritik, von der die Kriegsberichter-Kompanien umgehend in Kenntnis gesetzt wurden. Für gelungene Bilder wurden einzelne Künstler auch namentlich gelobt: „Besonders gute und propagandistische Arbeiten legten die Kriegsmaler und Pressezeichner Benkert, Schreiber und Tress vor" 41 . Zur Luftwaffe: Von den vier Malern bzw. Zeichnern der Luftwaffen-Kriegsberichter-Kompanie (mot.) 6 gingen zwischen Januar und August 1942 bei OKW/ WPr 115 Zeichnungen ein. Allein 67 stammten vom Sonderführer Angres und waren auf Sizilien gefertigt worden 42 . Noch am 1. August 1944 sandte die Luftwaffen-Kriegsberichter-Abteilung bei der Luftflotte 3 die gesamte Juliproduktion, 39 Blätter von zwei Zeichnern, über das Luftgaupostamt Paris nach Berlin. Dem Kriegsgeschehen entsprechend dominierten dabei Titel wie „Tieffliegerangriff auf unsere Fahrzeuge", „Panzerkampf in einem Städtchen der Norman-
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Kriegserlebnisse und Kriegsdarstellungen in der Künstlerfamilie Adam, Manuskript, Berlin 1942, S. 5 Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 676. Vgl. HaseSchmundt (Hrsg.), Albrecht Adam, S. 94; Weber, Artists, S. 44. Zur Marine-Nachwuchswerbung wurde beispielsweise die Reproduktion eines am 10. 10. 1942 gefertigten Gemäldes des Schweren Kreuzers Admiral Hipper in einer Auflage von 1 0 0 0 0 Stück vertrieben. Monatsbericht der Marine-Propaganda-Abteilung Nord vom 17. 3 . 1 9 4 3 , B A - M A , R W 4/v. 209. Ebd., R W 4/v. 208, S. 133. O K W / W P r an Marine-Propaganda-Abteilungen Nord, West, Südost vom 13. 11. 1942, ebd., S. 47. Ebd., RL 15/74.
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die", „Fw 190 im Kampf gegen feindliche Übermacht" oder „Eine Fortress montiert ab" 43 . Einige der PK-Maler kamen mit ihren Arbeiten auch zu eigenständigen Buchpublikationen, die wie in Wilhelm Wessels „Mit Rommel in der Wüste" von 1943 und „Umkämpftes römisches Land" von 1944 die Erlebnisse des Kriegsmalers mit den militärischen Vorgängen zu einer spannenden Abenteuergeschichte verwoben 44 . Während verschiedene Truppenteile, Kommandobehörden oder sogar einzelne Propagandakompanien insbesondere in den ersten Kriegsjahren die Produkte ihrer Maler auch als Kunstdruck-Sammelmappen auflegten, vornehmlich als Erinnerungsgabe zu Weihnachten 45 , reproduzierte man bis weit in die zweite Kriegshälfte hinein „Skizzenbücher" mit aktionsbetonten Zeichnungen 46 . Darüber hinaus boten die Bilder aus den Kriegsberichter-Kompanien ab 1940 aber auch einen Fundus für zahlreiche Kriegskunstausstellungen im Reich 47 und im besetzten Ausland. Eine vom Luftgaukommando VI unter dem Titel „Kunst der Front" zusammengestellte Schau wanderte 1940 von Berlin über zahlreiche Städte des Rhein-Ruhr-Gebiets nach Amsterdam, Brüssel und Paris 48 . Von Dezember 1941 bis November 1942 wurde die Ausstellung „Deutsche Maler sehen den Krieg" in Rom, Madrid, Agram, Sofia und Budapest gezeigt. Unter dem Titel „Krieg im Bilde" veranstaltete man in Helsinki und Budapest eine Gemeinschaftsschau mit finnischen bzw. rumänischen Künstlern 49 . Bestimmt für die Innen- und Außenpropaganda der Wehrmacht, lief im Historischen Stadtmuseum von München zwischen dem 20. Januar und 29. Februar 1944 eine unter der Regie des AOKIV zusammengestellte „Kunstausstellung von bemerkenswert hohem Nieveau" mit dem reißerischen Titel „Im Banne der Rollbahn" 50 . Vor allem die Inlandsausstellungen entstanden in der Regel in Zusammenarbeit mit dem Oberkommando der Wehrmacht bzw. den Oberkommandos der Wehrmachtteile oder der SS, der Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP (Amt Rosenberg) sowie dem Propagandaministerium. Die Federführung dabei scheint, zumindest hinsichtlich der publizistischen Umsetzung, zu einem guten Teil in den Händen des Propagandaministeriums gelegen zu haben. Gerade die Vorstellung oder der Abdruck eines Kriegsbildes in der von Hitler geförderten und von Rosenberg herausgegebenen Zeitschrift „Die Kunst im Deutschen Reich" war nicht nur ein wichtiges Kriterium dafür, welchen Rang der Künstler im NS-Kunstbetrieb 43 44 45 46
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Ebd., RL 15/109. Wessel, Rommel; ders., Land. Vgl. Mappe: Kunst; Mappe: Kampf; Seiler, Flak; Arens, Männer. Vgl. Petersen, Totentanz; Eigener, Skizzenbuch; ders., Skizzen; Willrich, Soldaten; Liska, Kriegs-Skizzenbuch. Vgl. Ausst.-Kat. Maler an der Front.; Ausst.-Kat. Krieg und Kunst; Ausst.-Kat. Künstler im Feldgrauen Rock; Ausst.-Kat. 2. Kunstausstellung; Ausst.-Kat. Soldat und Künstler; Ausst.-Kat. Kunstausstellung deutscher und italienischer Soldaten; Ausst.-Kat. Das Bild des Krieges; Ausst.-Kat. Soldat und Künstler; Kampf in Zentralrußland. Vgl. den Abdruck eines Werbeplakats in: Yenne, War Art, S. 10. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 90. BA-MA, RH 53-7/v. 185, S. 36.
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einnahm, sondern es sollte damit natürlich die öffentliche Meinungsbildung im Sinne nationalsozialistischer Kunstvorstellungen gelenkt werden 51 . Noch wesentlicher für den Stellenwert eines Künstlers aber war die Möglichkeit, seine Werke auf der überregionalen Großen Deutschen Kunstausstellung in München zeigen und verkaufen zu können 52 . Entgegen der Aussage, daß die „Werke der Kriegsmaler selten auf Ausstellungen, und erst recht nicht auf der GDK [Großen Deutschen Kunstausstellung, d. Verf.], zu sehen" waren 53 , gehörten gerade die Kriegsmaler und Pressezeichner der Propagandakompanien zu jenem dort häufig vertretenen Personenkreis. Als Beispiele seien hier der Marine-Kriegsberichter und -Zeichner Lothar-Günther Buchheim genannt, der gleichsam als „Spitzenreiter" aus dieser Gruppe zwischen 1941 und 1943 insgesamt 21 Arbeiten vorstellte, gefolgt von Rudolf Lipus, Kriegsmaler in einer Heeres-Propagandakompanie, mit 20 Bildern von 1941 bis 194454. Möglicherweise war es der große Erfolg solcher Arbeiten, die das Oberkommando der Wehrmacht am 13. Juni 1942 dazu veranlaßte, zusätzlich zu den in den Kriegsberichterkompanien der Wehrmachtteile integrierten Malern und Zeichnern im Rahmen der dem OKW direkt unterstehenden Propaganda-Einsatz- bzw. -Ausbildungs-Abteilung Potsdam eine eigene „Staffel der bildenden Künstler" aufzustellen . Die Initiative soll von Hitler gekommen sein 56 . Nach einem Truppenbesuch im Jahre 1941, bei der er sich an den künstlerischen Leistungen des „Hofmalers" eines Generals begeisterte, soll er den Befehl zur Aufstellung einer Künstlereinheit gegeben haben, um den Kampf der Wehrmacht professionell an den verschiedenen Fronten künstlerisch zu erfassen. Die Werke waren dann für die nach dem Endsieg einzurichtenden Armeemuseen vorgesehen oder sollten die Wände von Offizierkasinos und Kasernenfluren schmükken. Mit der Führung und künstlerischen Leitung der Staffel der bildenden Künstler wurde der bisherige Fachführer Maler der Propaganda-Ersatzabteilung, Hauptmann Luitpold Adam, beauftragt. Im Organisationsrahmen der
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Zur Zeitschrift „Die Kunst im Dritten [seit 1939 Deutschen] Reich" vgl. Merker, Künste, S. 161 f.; Artikel über Kriegsmaler und Kriegskunst in: Horn, Symbole; ders., Krieg; Rittich, Werke; Rosenberg, Kunst; Scholz, Malerei; ders., Kunst; Willrich, Männer. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 24. Davidson, Kunst, 2, 1, S. 18. Ausst.-Kat. G r o ß e Deutsche Kunstausstellung. Vgl. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 359. Zumindest fragwürdig erscheint in diesem Zusammenhang jene Einlassung im Nachwort zum Wiederabdruck v o n Lothar-Günther Buchheims Text-Bild-Band „Jäger im Weltmeer" aus dem Jahre 1943, wonach der „Kriegsmaler Buchheim ... keine ,Blut und Salzwasser'-Kunst" geliefert haben soll. Und weiter: „Seine Zeichnungen von U-Bootfahrern zeigen keine wie holzgeschnitzten Heroenköpfe, keine Dekors mit Tapferkeitsorden und Hakenkreuzemblemen. Gemessen an den damals gängigen Heldenkult-Ikonen sind sie schier antimilitaristische Seemannsstudien", Buchheim, Jäger, Nachw o r t S. VI. Stammtafel der Staffel der bildenden Künstler, B A - M A , R H 45/1. Mit Ausnahme des in den Unterlagen des O K W bestätigten Aufstellungsdatums der Staffel der bildenden Künstler stützen sich die Angaben über den Entstehungshintergrund und die Zusammensetzung dieser Einheit sowie die mit ihr beabsichtigten Ziele fast ausschließlich auf die mündlichen Informationen Luitpold Adams gegenüber einem amerikanischen Kunstoffizier kurz nach Kriegsende. Vgl. G o r d o n W . Gilkey, German W a r Art, Report, 25. 4. 1947, U S - A r m y Center of Military History.
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Staffel waren einhundert Personalstellen vorgesehen, darunter achtzig Künstler. Bis zum Juni 1942 konnte Adam etwa 45 geeignete Maler rekrutieren. Ob die vorgesehene Sollzahl später erreicht wurde, ist nicht bekannt 57 . Der „Maleinsatz" wurde zentral von Potsdam aus derart gesteuert, daß man einen Künstler oder eine kleine Gruppe für mehrere Monate mit einer mehr oder weniger klar vorgegebenen Aufgabe in das Operationsgebiet kommandierte. Daran Schloß sich ein sogenannter Arbeitsurlaub in den Räumen der Staffel oder auch im eigenen Atelier an. Die Arbeiten selbst waren Eigentum der Wehrmacht, wurden bei der Staffel der bildenden Künstler gesammelt, fotografiert und archiviert und teilweise für Ausstellungen verwandt - so im Dezember 1943 im Führerhauptquartier. Die letzte Präsentation soll am 13. Januar 1945 im Propagandaministerium in Berlin stattgefunden haben 58 . Wenige Wochen später, kurz vor Kriegsende, verlagerte Adam den Fundus der Staffel der bildenden Künstler nach Frauenau in den Bayerischen Wald, wo er zusammen mit weiteren Kriegsbildern aus dem Besitz der Luftwaffe, des Hauses der Deutschen Kunst sowie Hitlers und anderer NS-Funktionäre zur Kriegsbeute der US-Streitkräfte wurde. Die 1945 in Berlin verbliebenen Produkte der Kriegsmaler der Waffen-SS gerieten in die Hände der Sowjetarmee und gelten seitdem als verschollen. Gemäß den Bestimmungen des Potsdamer Protokolls, alles zu veranlassen, was ein Wiederaufleben von Nazismus und Militarismus in Deutschland zu verhindern geeignet war, erhielt im Frühjahr 1946 der Kunsthistoriker und U.S.Kunstoffizier Captain Gordon W. Gilkey (U.S. Army Air Corps) im Rahmen der Historical Division den Auftrag, nach dem Verbleib von kriegsverherrlichenden Bildern zu forschen. Bis zum Herbst dieses Jahres hatte er aus zahlreichen Verwahrorten 8722 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen von etwas mehr als 400 deutschen Kriegsmalern 59 - etwa 7000 Stücke stammten von der Staffel der bildenden Künstler - nicht nur gesammelt und katalogisiert, sondern 103 beispielhafte Arbeiten wurden in der ersten Dezemberhälfte 1946 in einer Ausstellung im Städel'schen Kunstinstitut in Frankfurt am Main Vertretern der amerikanischen Presse sowie Angehörigen der alliierten Streitkräfte vorgeführt. Im Frühjahr 1947 als Kriegsbeute in die Vereinigten Staaten von Amerika verschifft, lagerten die meisten der Bilder unter dem Terminus „German War Art" jahrzehntelang in verschiedenen Depots der US-Streitkräfte, wurden in Armeemuseen präsentiert oder schmückten Wandflure im Pentagon 60 . Im Laufe der Zeit vereinzelt dem amerikanischen Publikum in Ausstellungen gezeigt 61 , ei-
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In der amerikanisschen Nachkriegsliteratur werden 102 namentlich benannt. Vgl. Yenne, War Art. Gordon W. Gilkey, German War Art, Report, 25. 4. 1947, US-Army Center of Military History. Vgl. Weber, Artists, S.48-53; Yenne, War Art, S. 6 f. Vgl. Yenne, War Art, der vor allem auf der Grundlage der in den USA verwahrten Bilder 408 Kriegsmaler namentlich angibt, teilweise mit Dienstgraden, Einsatzgebieten und Zugehörigkeit zur Staffel der bildenden Künstler oder zu den Propagandakompanien. Weber, Artists, S. 15-41. Vgl. McNaughton, Nazi propaganda. Vgl. Ausst.-Kat. German War Art. Darin werden die nach Ansicht der US-Army Kunstexperten 50 repräsentativsten Bilder unter Angabe des Titels, des Künstlers, der Maße und des Versicherungswertes sowie der Ausleihbedingungen angegeben.
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nige Exemplare wurden auch dem Australian War Memorial in Canberra übergeben, erhoben schon bald nach Kriegsende ehemalige Angehörige der Staffel der bildenden Künstler Anspruch darauf und reklamierten deren Rückgabe 62 . Nach Abgabe eines geringen Teils militaristisch und nazistisch unbelasteter Bilder schon zu Beginn der fünfziger Jahre wurden aufgrund eines Kongreßbeschlusses 1982 bis auf einen Rest von 300 bis 400 Bildern schließlich im Jahre 1986 etwa 6250 dieser Kunstwerke in die Bundesrepublik Deutschland überführt 63 . Eine im Anschluß daran im kunst- und kulturpolitischen Raum geführte Auseinandersetzung über den Umgang - hauptsächlich über deren öffentliche Präsentation in Museen - mit diesem zunächst nur für die Forschung zugänglichen Teil des NS-Erbes - die Bilder lagerten als Bundeseigentum jahrelang in Depots - hat sich mittlerweile entspannt 64 . Einzelne Stücke sind mittlerweile in historischen Museen auch der Öffentlichkeit zugänglich. Inwieweit zeigen die Bilder der Kriegsmaler nun eine gestaltete Gesinnung gemäß der NS-Ideologie, wie es die Zeitschrift „Die Kunst im Deutschen Reich" 1940 beschreibt?: „Die Kunst, die das Kriegserlebnis unserer Generation würdig und gültig gestalten will, ist mehr als ein Tatsachenbericht mit Pinsel und Zeichenstift. Sie soll den Widerschein der Seele auf die Feuerbrände der Schlacht in sich tragen, die Erschütterung, die nach dem Sinn des Geschehens fragt. Sie soll mit der Bejahung des soldatischen Einsatzes und seiner letzten Steigerung im Opfer ein Sinnbild unserer Zeit schaffen ... Das Auge des gestaltenden Künstlers sei berufen,... die Macht des deutschen Soldatentums, die Entbehrungsbereitschaft der kämpfenden deutschen Nation in Waffen darzustellen, die tausend Zeugnisse der Tapferkeit und der Todesbereitschaft festzuhalten" 65 . Oder trifft es nicht doch eher zu, daß, wie manche Maler und Autoren nach 1945 behaupteten, abgesehen von einer „meist fern von der Front und oft zu Propaganda-Zwecken betriebenen Staffelei-Kriegsmalerei" zumindest die im Operationsgebiet entstandenen Werke „im wesentlichen mit Reportage und Beobachtung zu tun haben" und nicht unbedingt einen heroischen Zug aufweisen? Ist es tatsächlich so, daß die Mehrzahl der Bilder „eher die Kameradschaft der Männer hochpreisen [wollen] als die Kriegshandlung selbst" - ähnlich der offiziellen Kriegsmalerei in England oder den USA 66 ? Oder kann man gar so weit wie ein amerikanischer Autor gehen, der meint, daß diese Stücke „for
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Wessel, Kunstwerke; vgl. Weber, W a r Artists, S. 1 0 1 - 1 2 4 . Zur langwierigen inneramerikanischen Klärung der Restitutionsfrage vgl. ebd., S. 1 0 1 - 1 3 1 ; Feyvesi, Nazi A r t ; Decker, Nazi Art; Petropolos, Bannerträger. Vgl. G r o ß e Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE G R Ü NEN: Umgang mit der sogenannten entarteten und mit der sogenannten schönen Kunst, in: Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/2646 vom 8 . 7 . 1 9 8 8 ; A n t w o r t der Bundesregierung, ebd., Drucksache 11/4300 vom 5 . 4 . 1 9 8 9 . Zur kunstwissenschaftlichen Kontroverse vgl. Hinz (Hrsg.), NS-Kunst; Preiß, Reich; Ogan, Faszination. Einmalig f ü r den deutschen Sprachraum dürfte eine vom Heeresgeschichtlichen Museum Wien im Jahre 1984 veranstaltete Ausstellung gewesen sein, die dem Kriegsmaler Emil Rizek gewidmet w a r und in der ausschließlich Arbeiten (32 Bilder) aus der Zeit zwischen 1942 und 1944 präsentiert wurden. Vgl. Ausst.-Kat. Im Hohen Norden. Horn, Symbole, S. 37. Davidson, Kunst, 2,1, S. 1 7 f .
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the most part [are] not propaganda exercises, but the honest impressions of a generation of German artists whom history might remember differently had they not been caught up in Hitler's mad dream ? Da in erster Linie die unterstellte politische Dimension und nicht die künstlerische Qualität überprüft werden soll, erscheint es legitim, dies, in Anlehnung an die Methoden der Historischen Bildkunde und Politischen Ikonographie 68 , unter Zuhilfenahme eines politischen Kategorienrasters zu versuchen, das mit dem ideologischen Wesenskern des NS-Staates korrespondiert. Denkbare Rubriken sind: Führermythos, Volksgemeinschaft, Kampf, rassischer Kämpfer, Feind, Kameradschaft, Verwundung und Tod. Die Vielschichtigkeit des Themas kann hier nur in Ansätzen wiedergeben werden. Es soll dies beispielhaft anhand der sich spiegelnden Kategoriepaare rassischer Kämpfer und Feind sowie Kampf und Tod erfolgen.
Rassischer Kämpfer und Feind So wie der Krieg für den Nationalsozialismus Lebensgesetz war, so galt ihm der Soldat als Idealbild des deutschen Mannes. Alfred Rosenberg hat dieses Ideal im Rückblick auf den deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts" beschrieben: „Die Gesichter, die unterm Stahlhelm auf den Kriegerdenkmälern hervorschauen, sie haben fast überall eine mystisch zu nennende Ähnlichkeit. Eine steile durchfurchte Stirn, eine starke gerade Nase mit kantigem Gerüst, ein festgeschlossener schmaler Mund mit der tiefen Spalte eines angespannten Willens. Die weitgeöffneten Augen blicken geradeaus vor sich hin. Bewußt in die Ferne, in die Ewigkeit. ...Aus den Todesschauern der Schlachten, aus Kampf, Not und Elend ringt sich ein neues Geschlecht empor, das endlich einmal ein arteigenes Ziel vor Augen sieht, das ein arteigenes alt-neues Schönheitsideal besitzt, das von einem arteigenen Schöpferwillen beseelt ist" 69 . Möglicherweise hatte er dabei jenes Plakat für die 6. Kriegsanleihe aus dem Jahre 1917 vor Augen mit dem von Fritz Erler geschaffenen Antlitz des „Mannes mit dem Stahlhelm vor Verdun" (Abbildung 1). Das als Brustbild arrangierte untersichtige Porträt stellt einen aus der angedeuteten Grabendeckung sich herausbeugenden und spähenden Soldaten dar. Die umgehängte Gasmaske und zum Abzug bereite Handgranaten signalisieren Kampfbereitschaft. Die besondere Wirkung des Plakates, im übrigen ein Markstein in der deutschen Propaganda des Ersten Weltkrieges, geht von dem stahlhelmbewehrten, kompositorisch und farbig hervorgehobenen Gesicht aus, aus dem die Augen stechend hervorleuchten. Der große Erfolg dieses Bildes, das auch auf Postkarten vielfältige Verbreitung fand, liegt in der typenbildenden Formel von der „Tugend des
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Yenne, W a r A r t , S. 10. Vgl. Tolkemitt/Wohlfeil (Hrsg.), Bildkunde. Rosenberg, Mythus, S. 448 f. Allgemein zum nationalsozialistischen Heldenkult vgl. Behrenbeck, Kult.
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heroischen Deutschen, der an den nicht mehr zu verheimlichenden Schwierigkeiten wächst" 70 und in seiner Herausforderung zur Identifikation. In diesem anonymen Helden konnte sich jeder, der es wollte, im vierten Kriegsjahr wiederfinden, eine Intention, die Erler seinem Bildnis schon 1917 selbst zumaß: „Wer es einmal draußen wieder gesehen hat, das deutsche Gesicht, dem wird es gegenwärtig bleiben, wird innerlich dauern und wird Gestalt werden wollen" 71 . Von der extremen Rechten wurde dieses Antlitz in den zwanziger Jahren dann nicht nur als Abbild des selbst- und siegessicheren Helden nordischer Art verstanden, sondern man erhoffte davon abgeleitet eine Reinkarnation des wahren deutschen Wesens. In der Kunst erfüllte sich dieser Wunsch spätestens bei der „Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung" im Jahre 1937, als Elk Eber, Freikorpskämpfer, Blutordenträger und in seinen Werken pointierter Vertreter parteiamtlicher und weltanschaulicher Repräsentationsmalerei, sein Gemälde „Die letzte Handgranate" (Abbildung 2) vorstellte. Ein sich aus der Grabendeckung aufrichtender Soldat ist gerade im Begriff, eine Handgranate abzuziehen. Eber griff hier die typenbildende Stilisierung von Erlers „Mann mit dem Stahlhelm vor Verdun" zwar auf, doch entwickelte er sie analog zu den rasseideologischen und weltanschaulichen Vorstellungen des NS-Staates weiter. Die Physiognomie entspricht deutlich dem von Rosenberg beschriebenen Schönheitsideal, und der in der Darstellung des Gesichts zum Ausdruck gebrachte absolute Wille zum Kampf wird durch das spannungsvolle Zurückbiegen des Oberkörpers und das zupakkende Abziehen der Handgranate in die Tat umgesetzt. Kompositorische Elemente, wie Anschneiden des Motivs, das ein scheinbares Sprengen des Bildes suggeriert, sowie verschiedene Spannungslinien (Handgranate - linke Hand Unterarm und Helm - Gesicht - linke Schulter - linker Oberarm) steigern noch Dramatik und Dynamik 72 . Das von Hitler gekaufte Bild war eines der - in den Augen nationalsozialistischer Kunstredakteure - aufsehenerregendsten Gemälde im Haus der Deutschen Kunst. An prominenter Stelle den Besuchern präsentiert, stand es zusammen mit einem Führergemälde für den aus „arischer" Grundlage erstandenen willensstarken und kämpferischen Charakter des nationalsozialistischen Staates, „weil hier die Haltung der Partei und des ganzen Volkes sinnbildlich zum Ausdruck kam" 73 . Darüber hinaus formte der Künstler ein volkspsychologisches Rassenideal, das Ebenbild eines Vertreters der „Rasse aus Eisen und Stahl" 74 , das im Sinne einer Ikone auch typenbildend für die Darstellung des Soldaten im Zweiten Weltkrieg werden sollte. Er selbst reproduzierte diese Botschaft 1939 in seinem Gemälde „Kampf in Warschaus Vorstadt" (Abbildung 3). Nunmehr posiert ein Offizier zusammen mit einem Soldaten für die Nahkampf-Ansicht in einer Ruinenkulisse. Blick und Gestus
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Hoffmann, Mann, S. 105. Zit. n. ebd., S. 106. Hinkel, Funktion, S. 74 f. Dr. Werner Rittich, Zum Tode von Prof. Elk Eber, in: Völkischer Beobachter, 15. 8 . 1 9 4 1 , zit. n. Wulf, Künste, S. 2 7 8 - 2 8 0 . Westecker, Krieg, S. 13 f.
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des Offiziers entsprechen dabei dem Handgranatenwerfer des Ersten Weltkrieges und demonstrieren so eine gleichsam spirituelle Kontinuität. Wolfgang Willrich, ein betonter Vertreter des „Rassegedankens" in der Kunst75 und Mitorganisator der Ausstellung „Entartete Kunst" von 1937, der im Auftrag des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland sowie der Wehrmacht zahllose Ritterkreuzträger porträtierte 76 , hier beispielsweise den „Kampfflieger Werner Baumbach" (Abbildung 4), die auf Postkarten tausendfache Verbreitung fanden, rühmte sich, „daß bei aller Verschiedenheit ihrer Züge ... sich doch hinter der Vielfalt der Einzelformen das gemeinsame erkennen [läßt], der Ausdruck einer schlichten, verläßlichen Kraft der Seele, die überall und jederzeit in allen Lagen besteht" 77 . Bei diesen Porträts ging es auch gar nicht um die künstlerische Wiedergabe eines Individuums, sondern um die ständige Reproduktion eines aus arischem Nährboden erwachsenen heldisch-heroischen Typus 78 : „Das Gesicht des deutschen Soldaten wird in vielen Spiegelungen gezeigt, doch ist trotz vieler charakteristischer Eigenheiten ein Zug gemeinsam: der gleiche vom Kriege gehärtete Wille und die unbedingte Siegeszuversicht" 79 . Gerade in den Porträts von Willrich waren nach Ansicht des Kunstberichterstatters Walter Horn „die Züge rassischer Überlegenheit und männlicher Kraft festgehalten], die diese Auslese des Kämpfertums zu härtestem Dienst und kühnster Tat befähigt" 80 . Im Verständnis der zeitgenössischen Kunstbetrachtung beanspruchte das Soldatenbild gar nicht als Abbild, sondern vielmehr „als Sinnbild genommen zu werden", das über folgende Wesensmerkmale verfügt: „Es ist sparsam bis zur Kargheit, im guten Sinne formelhaft, also knapp und leichtverständlich in der Sprache, es arbeitet mit Typen, gleichbleibenden, geprägten Formen und gibt in dieser Beschränkung die ganze meisterhafte Kunst der Überhöhung der Wirklichkeit durch das Symbol" 81 . Die Wehrmacht stand auch in dieser Frage nicht an, eine solche Zuschreibung nötigenfalls durchzusetzen. Als im Herbst 1939 die Zeitschrift „Der Frontsoldat erzählt" das Aquarell „Leutnant der Landwehr" (Abbildung 5) des Kunstmalers Martin Forst von 1917 als Titelblatt publizierte, sah sich die Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW gegenüber dem Verlag zu der eindeutigen Feststellung veranlaßt, daß dieses Bild „nicht mehr den Anforderungen, die heute an den Typus des Frontsoldaten der deutschen Wehrmacht gestellt werden", entspricht . Die zeitgemäßen Soldatentypen, die es künstlerisch umzusetzen galt, erlebte indes Luitpold Adam, als Fachführer Maler für die Angehörigen der Staffel der bildenden Künstler eine Art „künstlerischer Führungsoffi-
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Vgl. hierzu Willrich, Säuberung. Wiske, Ritterkreuzträger. Willrich, Soldaten, S. 9. Allgemein zum nationalsozialistischen Verständnis des Heroischen in der bildenden Kunst - mit Beispielen aus der Kriegsmalerei des Zweiten Weltkrieges vgl. Burghardt, Mensch. Ausst.-Kat. Maler an der Front, S. 6. Horn, Symbole, S. 53. Feuer und Farbe. B A - M A , R W 4/v. 449.
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zier", nach eigenem Bekunden 1943 während eines Abends in einem Soldatenheim in Frankreich. In Anlehnung an Rosenbergs Vision führte er aus: „Aus ihren Erzählungen fühlte ich heraus, was das für famose Kerls waren, mit denen man Pferde stehlen konnte.... So jung wie manche noch waren, so hatte die Kriegszeit mit einem scharfen Stift sich eingezeichnet. Eine scharfgeformte Nase, eine Falte ums Auge oder um den Mund, hart abgegrenzte Backenknochen und ein markantes Kinn, das festen Willen zeigte, das alles wäre des Zeichnens wert gewesen" 83 . Folglich findet man bei nahezu allen von den offiziellen Kriegsmalern geschaffenen Darstellungen solche typenmäßig besetzten Gesichter, wie zum Beispiel bei Rudolf G. Werners „Gefreiter" (Abbildung 6), einem in einer Ruinenkulisse in Kampfsituation knienden Soldaten. Dessen unter dem Stahlhelmrand hervorstechende Augen scheinen den anrückenden Feind fest im Visier zu haben. Aus Rudolf Henzels Zeichnung „Brustbild eines Soldaten" (Abbildung 7) glaubt man, gleichsam von einem jener „famosen Kerle" Luitpold Adams fixiert zu werden. Die beim „Mann mit dem Stahlhelm vor Verdun" begonnene und in „Die letzte Handgranate" im Sinne der NS-Weltanschauung weiterentwickelte Typenbildung des heroischen Menschen erreichte im Porträt „Leutnant Matl" (Abbildung 8) von Adolf Lamprecht schließlich ihren Höhepunkt. Das Bild zeigt ein seitliches Halbporträt eines sitzenden Soldaten, zu dem der Betrachter aufschauen muß. Die 1943 für alle Soldaten eingeführte Einheitsfeldmütze sowie der Fleckentarnüberzug weisen ihn als Frontoffizier vom Typus „Volksoffizier" aus, in dem sich Tausende anderer wiedererkennen konnten 84 . In die Darstellung des Gesichts hat der Maler alle ideologisch erwünschten Merkmale des heroischen Menschen hineingelegt: „Der Blick des Auges als Merkmal der Klarheit; die Form der Stirn als Merkmal des Genialen; die Form des Kinns als Merkmal der Energie" 85 . Im Unterschied zu Ebers „Die letzte Handgranate" oder Werners „Gefreiter" fehlt hier allerdings eine künstlerische Umsetzung der dem soldatischen Menschen nationalsozialistischer Prägung zugeschriebenen Dynamik. Leutnant Matl sitzt ruhig und gelassen, eine Haltung, die seine auf den Oberschenkel gelegten und sich kreuzenden Hände noch verstärken. Das Signal, das damit gesetzt werden mochte, ergibt sich aus den Umständen der Präsentationszeit des Bildes. Es hing nämlich in der letzten Großen Deutschen Kunstausstellung vom Sommer 1944 und wurde auch im Katalog publiziert. Zeitgleich hatte der Bombenkrieg gewaltige Ausmaße erreicht, und durch den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront sowie der alliierten Invasion im Westen begann sich eine drohende Gefahr für das Reich abzuzeichnen. Mit dem Bildnis von Leutnant Matl wurde einer kriegsmüden und besorgten Bevölkerung ein kraftbewußte Überlegenheit signalisierendes, ordnende Ruhe und Zuversicht ausstrahlendes sowie Mut machendes Sinnbild präsentiert.
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Eine Studienreise als Kriegsmaler in Frankreich vom 2 . 5 . - 3 . 6 . 1 9 4 3 , Manuskript, S. 24, Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 673. Zum „Volksoffizier" vgl. Kroener, Weg. Burghardt, Mensch, S. 22.
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Die künstlerische Überhöhung und Typisierung des rassisch determinierten Kämpfers findet seine negative Entsprechung in der bildhaften Erniedrigung des Feindes. Ausdruck dessen ist zum einen die Zurücksetzung des geschlagenen Gegners, indem man ihn kompositorisch in den Hintergrund oder an den Rand rückt, ihn aus der Draufsicht abbildet und ihn im Bedarfsfall rassisch stigmatisiert. Ein frühes markantes Beispiel hierfür ist Ferdinand Staegers Gemälde „Aus dem Polenfeldzug" (Abbildung 9) von 1939. Wie das Bild zu lesen ist, belegt eine zeitgenössische Quelle, wonach „blumengeschmückte singende deutsche Jugend und gebrochene, stumpfgewordene Feinde einander gegenübergestellt, den Gegensatz so ins Völkische, ins Seelische vertiefend" 86 . Noch deutlicher als Staeger fällt bei Elk Eber die rassisch negative Zuordnung in seiner Gouache einer „Gruppe polnischer Gefangener vor der Kommandantur in Warschau" (Abbildung 10) - ebenfalls von 1939 - aus, eine auf der Großen Deutschen Kunstausstellung 1940 ausgestellte Arbeit, die im Kommentar der zeitgenössischen Kunstbetrachtung folgendes versinnbildlichte: „Auch Elk Eber hat diese völkische Gefahr, die für immer gebannt worden ist, in eindrucksvollen Bildstudien festgehalten: das geschlagene Heer der polnischen Gefangenen vor der Kommandantur in Warschau, Gestalten aus dem jüdischen Ghetto, die zum erstenmal in ihrem Leben nutzbringende Arbeit verrichten müssen" 87 . Daß gerade eine solche Zuordnung des polnischen Gegners keinesfalls singulär, sondern vielmehr Programm gewesen ist, belegt eine Pressemeldung zu der 1940 in Berlin gezeigten Ausstellung „Der Polenfeldzug in Bildern": „Die entscheidende politische Aufgabe, die sich die Ausstellung gestellt hat, liegt daran [sie!], daß sie einmal anschaulich die rassischen Gegensätze zeigt, die hier gegeneinander im Kampf stehen. Die polnischen Köpfe aus den Gefangenenlagern und die Judentypen vermitteln einen überwältigenden Anschauungsunterricht von der Minderwertigkeit der Dargestellten. Der Gegensatz zu den prachtvollen deutschen Soldatengestalten ist eindringlich und aufschlußreich" 88 . Mit einer bildlichen wie verbalen Erniedrigung sowie im Bedarfsfall einer negativen rassischen Klischierung war mit den ersten Kriegsbildern des Zweiten Weltkrieges eine Norm gesetzt worden, die im Verlauf des Krieges nur noch variiert und reproduziert wurde und die sich keinesfalls nur auf die Gegner des östlichen Kriegsschauplatzes beschränkte. Als Luitpold Adam während seiner Malreise im Frühjahr 1943 in Frankreich kriegsgefangene Kolonialsoldaten zeichnete, fühlte er sich veranlaßt, in seinem Reisebericht darauf hinzuweisen, daß trotz „dieser großen farbigen Armee ... Frankreich 1870, 1914 und 1940 von uns besiegt worden [ist] - innerlich ist es aber durch diese Hilfsvölker besiegt, weil durch die Anerkennung derselben als gleichberechtigte Franzosen der Rassestolz untergraben wurde und durch die Bastardisierung das französische Volk dem Untergang verfiel. Wieviel negroide mögen heute schon vor86 87 88
Feuer und Farbe. Horn, Symbole, S. 53. Erklärung vom 26. 1. 1940, zit. n. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 449.
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handen sein. Das schwarze Blut kann nicht mehr aus den französischen Adern herausgefiltert werden" 89 ! Ganz in dem Sinne, den geschlagenen Gegner kompositorisch gleichsam aus dem Bild zu drängen, hat Rudolf Hengstenberg sein Werk „Durchbruch durch die Burgundische Pforte" (Abbildung 11) 1940 arrangiert - hier allerdings in einem Stil, den man bedingt dem aus der an Sich verfemten Neuen Sachlichkeit hervorgegangenen expressiven Realismus zuschreiben könnte. Trotz anderslautender eigener Bekundungen nach dem Krieg, daß „Goebbles und die führende Prominenz der S.S.... nicht mit der Realistik meiner Bilder einverstanden" waren 90 , und trotz der in einer Retrospektive aus Anlaß seines hundertsten Geburtstages erhobenen Behauptung, daß „diese Arbeiten alles andere als verherrlichende Propaganda" sind 91 , wurden seine Bilder während des Krieges in Ausstellungen präsentiert und in Kunstzeitschriften reproduziert. Gerade die Stilelemente des Bildes „Durchbruch durch die Burgundische Pforte" fanden in der damaligen Kunstbetrachtung großen Anklang. Hengstenberg „bildet ... seine Bilder von den weit ausschwingenden Linien her. So gelingen ihm Bilder, die gerade das stürmische Tempo des Vormarsches außerordentlich fesselnd zu gestalten wissen" 92 . Dynamisch braust die bildbestimmende deutsche Kriegsmaschinerie nach Frankreich und drängt den sich dahinschleppenden Zug von Gefangenen und Verwundeten gleichsam zur Seite, aus dem Bild. Damit gelang Hengstenberg aber genau das von den Auftraggebern erwünschte „heroische Pathos", das ihm der „Völkische Beobachter" anläßlich des 50. Geburtstages bei allen seinen Kriegsbildern attestierte, eine Forderung, die er aber seinen lange nach dem Kriege geschriebenen Erinnerungen zufolge weit von sich gewiesen haben will 93 . Als weiteres kompositorisches Mittel stellten die Künstler den geschlagenen Feind von der Position des Betrachters her nahezu ausschließlich von oben 89
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Eine Studienreise als Kriegsmaler in Frankreich vom 2.5.-3. 6. 1943, Manuskript, S. 17, Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 673. Barfod, Rudolf Hengstenberg, S. 29. Anläßlich einer Ausstellung von einigen seiner Panzerbilder an der Panzertruppenschule der Bundeswehr in Munsterlager im Jahre 1959 wurde kolportiert, daß Hengstenberg nach 1933 Schwierigkeiten gehabt hätte, weil seine A r t der Darstellung nicht dem „parteiamtlichen Geschmack" entsprochen habe. So hätten seine Kriegsbilder nicht die Chance einer Verbreitung in Alben, in Drucken als Wandschmuck oder auf Postkarten gehabt; vgl. Prof. Hengstenbergs Panzerbilder. Tatsächlich aber wurde u. a. das Bild „Durchbruch durch die Burgundische Pforte" in der Ausstellung Maler an der Front vom 2 . 3 . - 2 7 . 3 . 1 9 4 1 präsentiert. Vgl. Ausst.-Kat. Maler an der Front. Außerdem prangte das v o n ihm f ü r das Reichsarbeitsministerium 1935 geschaffene M o numentalgemälde „Die Bauhütte" unter dem Titel „Kameradschaft" bzw. „Arbeitsgemeinschaft" im Deutschen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1937. Damit gelang ihm - er w a r seit 1931 Mitglied der N S D A P - eine sehr subtile bildhafte Umsetzung der von der NS-Kunstideologie als Vorbild propagierten Werkgemeinschaft, die auch als Sinnbild f ü r das Ideal der Volksgemeinschaft stand. Vgl. Davidson, Kunst, 2, 1, Nr. 536; ebd., 2, 2, S. 314; Barfod, Rudolf Hengstenberg, S. 27. Ebd., S. 13. Westecker, Krieg, S. 24. „Mit seinen Arbeiten hat der Künstler dem soldatischen Geist und den Taten dieses Krieges ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Der hochbegabte Künstler gehört in die erste Reihe der Kriegsmaler", Völkischer Beobachter, Nr. 2 3 0 , 1 7 . 8. 1944. Vgl. Barfod, Rudolf Hengstenberg, S. 29.
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herab dar, sowohl bei Gruppenbildern als auch bei Porträts 94 . Hengstenberg benutzte dies in seinem neben sieben anderen in der Ausstellung „Maler an der Front" im Frühjahr 1941 präsentierten Bild 95 „Die Verlassenen" (Abbildung 12) von 1940. Am Stahlhelm unschwer zu erkennen, handelt es sich um am Strand stehende oder kauernde französische Soldaten, die, der Titel legt es nahe, am Strand von Dünkirchen von den Engländern zurückgelassen worden sind. Die Endgültigkeit der Niederlage augenscheinlich erkennend, ist die in der linken Bildhälfte positionierte stehende Figur im Begriff, das Gewehr aus der Hand fallen zu lassen. Ihr über die Menschenleiber auf das Meer hinausgerichteter Blick, vermutlich den englischen Schiffen hinterher, mag dem Betrachter gegenüber einerseits die Verlassenheit verstärken. Andererseits demonstriert das Bild konkret die den Alliierten von der deutschen Wehrmacht zugefügte Schlappe 96 . „Das geschlagene Heer", wie dieses Bild auch bezeichnet wurde, versinnbildlicht das geschlagene Frankreich 97 . Identisch in Aufbau und Intention, wenngleich in einem anderen Stil, ist Olaf Jordans Aquarell einer in Decken eingehüllten „Gruppe russischer Kriegsgefangener" (Abbildung 13) von 1943. Die Farbenwahl unterstreicht dabei, daß dieser Feind vor dem Betrachter wahrhaft im Staube liegt. Durch die Darstellung der Gesichter wird hier dem negativen rassischen Stereotyp vom „Untermenschen" noch zusätzlich Gestalt gegeben. Vor dem Hintergrund des tatsächlichen Loses der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam 98 wirkt dann jene Einlassung im Katalog einer Kunstausstellung gleichsam wie Hohn, wenn auf die Frage, was der „Künstler im Feldgrauen Rock" beim Marsch durch die Landschaft im Gedächtnis behält, als Antwort steht: „Einem, der Sinn für Humor hat, wird ein heiteres Bild in der Erinnerung bleiben, vielleicht ein an ihm vorüberstreifender Gefangener, der ein komisches Gepäckstück mit sich schleppt" 99 . Sofern Angehörige des Sowjetstaates allerdings auf Seiten der Wehrmacht standen, wie beispielsweise die Kosakendivision unter General von Pannwitz, der Jordan zugeteilt gewesen war, verwendete dieser automatisch die Untersicht in der Darstellung. Mit Hilfe dieses Stilmittels, das den Betrachter leitet, hinaufzublicken, wurden die gleichsam als „Schöne und edle Wilde" (Abbildung 14) porträtierten Personen, pittoresk anmutende Gestalten mit kühn geschnittenen Gesichtszügen, ästhetisch monumentalisiert und gewissermaßen rassisch ebenbürtig. Weitaus häufiger, und damit dem Charakter des rasseideologischen Krieges gegen die Sowjetunion entsprechender, war jedoch die typisierte Darstellung des Feindes als ostischer Untermensch. Elend und häßlich tritt uns die Frau auf dem Bild „Russische Impressionen" (Abbildung 15) von B. Runte entgegen,
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Allgemein zur Positionierung des Feindes in der Bildpropaganda des Nationalsozialismus vgl. Hinkel, Funktion, S. 95 f. Ausst.-Kat. Maler an der Front, S. 10. Mit ganz ähnlichen Bildstrategien arbeiteten PK-Fotografen. Vgl. Hinkel, Funktion, S. 100. Nach dem Kriege wollte Hengstenberg dieses Bild gleichsam als Anklage gegen den Krieg verstanden wissen. Vgl. Barfod, Rudolf Hengstenberg, S. 82. Vgl. Streit, Kriegsgefangene. Ausst.-Kat. Künstler im Feldgrauen Rock, S. 2.
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ganz so, wie es einer der pointiertesten Rassespezialisten unter den Kriegsmalern, Wolfgang Willrich, 1943 zum Ausdruck gebracht hat: „Mit Grauen und Empörung erlebt der selbstbewußte und freiheitsliebende Deutsche auch die Eindrücke, die ihn im östlichen Utgard des Sowjetlandes anfallen. Elend und häßlich erscheinen uns die Herden stumpfer Kollektivmenschen" 100 . Blickt man beim Betrachten von Rudolf Henzels Zeichnung „Russischer Soldat" (Abbildung 16) nicht auf ein von „Verschlagenheit und Heimtücke" geprägtes Gesicht 1 0 1 ?
Kampf und Tod I.
Kampf und Tod gehörten nicht nur zum Wesenskern des Nationalsozialismus, sondern waren in der Form der Schlacht die Realität des Krieges. Beiden sich gegenseitig bedingenden Paradigmen hatten die Kriegsmaler und Zeichner naturgemäß ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen, zumal aus Sicht der NSKunstbetrachtung die Forderung im Raum stand, „im Kampf das schöpferische Dasein zu begreifen, die gesteigertste Form allen Lebens überhaupt und seiner heroischen Erhebung ein dauernd verherrlichendes Denkmal zu schenken" 1 0 2 . Ein Teil der PK-Maler zog daher mit der Infanterie ins Gefecht, flog Einsätze in Flugzeugen mit oder fuhr auf Schiffen 103 . Sie brachten eine Fülle von Skizzen, Zeichnungen und Aquarellen zurück, die in Zeitschriften oder auf Postkarten veröffentlicht wurden, zur Illustration von Büchern Verwendung fanden oder zu größeren Gemälden komponiert wurden 1 0 4 . Hitler zählte diese aus dem
Willrich, Soldaten, S. 14. Auch bei anderen Kriegsmalern finden sich außer gestalterischen auch verbale ideologische Einordungen. Ernst Eigener notierte ζ. B. auf eine am 27. 8. 1941 gefertigte Skizze am Boden liegender Frauen: „Unter den überlebenden und gefangenen Matrosen eines sowjetischen Kanonenbootes befanden sich auch einige Frauen, die mir verschlagener und verhetzter schienen als die teilnamslos dahinblickenden Männer". Auf einem Blatt mit Köpfen russischer Soldaten steht: „Verlauster Bolschewik". Eigener, Skizzen. 1 0 2 Feuer und Farbe. 103 So wurden beispielsweise die Pressezeichner Meckel und Schmitz der KriegsberichterKompanie der Kriegsmarine beim Marine-Gruppenkommando Nord am 14. 2. 1941 auf dem Linienschiff „Schleswig-Holstein" bzw. auf dem Schweren Kreuzer „Prinz Eugen" eingeschifft. Monatsbericht (1.-28. 2. 1941) an O K W / W P r vom 13. 3. 1941, B A - M A , R W 4/v. 199. Im Zusammenhang mit dem Luftlandeunternehmen auf Kreta meldete die 9. Marine-Kriegsberichter-Halbkompanie an O K W / W P r am 25. 5. 1941: „K. M. [Kriegsmaler; Anm. d. Verf.] Tappen ist bisher infolge der schwierigen Lage der Luftlandetruppen auf Kreta noch nicht zum Einsatz gekommen. Κ. M. Priesterjahn wird mit einer Kradschützenkompanie auf dem Luftwege nach Kreta befördert", ebd., R W 4/v. 200. Von Kriegsbeginn bis zum Oktober 1943 verzeichneten die Propagandatruppen fünf gefallene und vier verwundete Kriegsmaler. Vgl. Barkhausen, Filmpropaganda, S. 235. 104 So meldete beispielsweise die Kriegsberichter-Kompanie der Kriegsmarine beim MarineGruppenkommando Nord in ihren Monatsberichten vom Januar und Februar 1941, daß der Pressezeichner Schmitz und der Kriegsmaler Meckel in Berlin mit der Auswertung ihrer Einsätze beschäftigt sind, B A - M A , R W 4/v. 196 u. 197. 100 101
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„Selbsterlebten" der Künstler geschaffenen Werke „zu dem Wertvollsten, das an Gegenwartskunst von unseren Ausstellungen ζ. Z. überhaupt gezeigt werden könne". Mit einem Seitenhieb auf die akademische Ausbildung der Maler führte der zwar an der Aufnahmeprüfung zur Wiener Akademie gescheiterte, sich aber als künstlerische Autorität gebende „Führer" weiter aus: „Gerade die Kriegsbilder seien eine eindeutige Bestätigung dafür, daß der wahre Künstler durch die Praxis, durch das eigene starke Erleben reife, nicht aber im Schulbetrieb der Akademie" 105 . Dem Publikum wurde daher bedeutet: „Der deutsche Kriegsmaler ist kein Schlachtenbummler, dessen phantasievolle Schilderungen im umgekehrten Verhältnis zu den eigenen Erlebnissen stehen, sondern Soldat wie jeder andere auch, und was er draußen mit Feder oder Pinsel aufschreibt, geschieht oft genug unter dem Einsatz des Lebens, ist oft der letzten Bedrohtheit abgerungen" 106 . Obwohl man schon in den dreißiger Jahren der Schlachtenmalerei des 19. Jahrhunderts vorgeworfen hatte, sie sei „keine Erlebniskunst, sondern eine theatralische Ateliermalerei gewesen" 107 , entstanden doch auch viele der Kampfbilder des Zweiten Weltkrieges in sicherer Entfernung von der Front sowie in oftmals großem zeitlichen Abstand zum Geschehen und befanden sich somit exakt in dieser abgelehnten Tradition. Teilweise ließen sich die Maler Szenen auch einfach nachspielen, arbeiteten ausgiebig mit Modellen oder komponierten im Blick auf die Landschaft gleichsam imaginäre Bilder 108 . So zum Beispiel Luitpold Adam, als er 1943 auf seiner Malreise in Frankreich Studien für Gemälde zum Westfeldzug von 1940 - insbesondere über die Kämpfe bei Sedan - anfertigte: „Während ich noch an meine Frau schrieb, sah ich vor mir immer wieder die ruhig dahinfließende Maas und die bewaldeten Höhen von Floing, im Hintergrunde Sedan und Torcy und weit in der Ferne im Dunste des vergehenden Tages die Berge in Richtung Le Chesne. Und ich suchte mir vorzustellen, wie ich in diese Landschaft Gruppen und einzelne Figuren, Panzer oder Schlauchboote u.s.w. unterbringen könnte. Trotz aller Müdigkeit wirbelten die Bilder in meinen Gedanken herum [,] und auch im Traume komponierte ich weiter an den beabsichtigten Bildern. . . . Die vielen Erzählungen der Stonnekämpfer ließen in mir die Vorstellung zu neuen größeren Bildern reifen. ... Während der Morgenstunden hatte ich schon einen jungen Feldwebel und zwei anderen Burschen, die mir eine Szene vorführten, wie der eine seinen verwundeten Kameraden wegträgt, gezeichnet. Aber ich benötigte für 105
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Picker, Tischgespräche, S. 209. Vgl. Boberach (Hrsg.), Meldungen, 12, S. 4804 f., Meldung Nr. 359 v o m 15. 2 . 1 9 4 3 . Demnach wollte der S D aus „kunstinteressierten Kreisen" erfahren haben, daß das Kriegserlebnis nach einem neuen künstlerischen Ausdruck suche, „wie es die teilweise etwas festgefahrene akademische Malweise einer sogenannten Atelierkunst nicht mehr vermöchte". A l s Kriegsmaler bei den Kosaken, in: Signal, N o v e m b e r 1943. Hartmann, Frontkampferlebnis, S. 464 f. Auch andere Sparten der Wehrmachtpropaganda komponierten gestellte Kampfszenen im Nachhinein zusammen, wie beispielsweise beim Dokumentarfilm „Sieg im Westen". Da kaum Filmaterial über die K ä m p f e um die Bunker der Maginot-Linie existierten, wurden Szenen unter Mitwirkung kriegsgefangener französischer Soldaten nachgedreht. Vgl. Ertl, Hans Ertl, S. 49.
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die gedachten Bilder noch viele andre Studien von Bewegungen mit Gewehr, Handgranate oder MG, liegend, im Lauf u.s.w." 109 . Nachdem die Recherche aber im Raum von Sedan nicht ergiebig genug ausgefallen war, erhielt er schließlich von einer deutschen Dienststelle in Versailles die genügende Anzahl von Statisten - ein Zug Infanterie mit Sturmgepäck und Schlauchbooten - , um in der Nähe des Schlosses von Versailles die Kämpfe bei Stonne vom Mai 1940 auf den Skizzenblock zu bringen: „Gruppenweise ließ ich die Leute im Sprung gegen das Dorf vorgehen. Günstigerweise war diesem auch ein ansteigendes Gelände vorgelagert fast genau wie bei Stonne" 110 . Mit Blick auf den auf dem Blatt eingetragenen Entstehungszeitpunkt, 30. Mai 1943, dürfte sich die von Adam unter dem Titel „Sanitäter mit einem Verwundeten" (Abbildung 17) gezeichnete Szene wohl nicht an der Front abgespielt haben, sondern vielmehr in der sicheren und angenehmen französischen Etappe inszeniert worden sein. Im Unterschied zu seinem eigenen Verhalten fühlte sich Adam bei der Ubergabe des Archivs der Staffel der bildenden Künstler im Jahre 1946 an den US-Kunstoffizier Gilkey allerdings zu der mit offensichtlichem Stolz vorgetragenen Erläuterung veranlaßt, daß er immer dafür eingetreten sei, „that the war painters work up at the front while the battle was in progress, or immediately afterwards, in order to make a true historical picture" 111 . Auch der in der Maltradition des von Hitler sehr geschätzten Realisten Wilhelm Leibi stehende und demzufolge künstlerisch und kommerziell sehr erfolgreiche Paul Mathias Padua gab nach dem Kriege zu, daß seine beiden wesentlichsten Kriegsbilder fern der Front entstanden waren. Der 1941 in der Ausstellung „Kunst der Front" vorgestellte „Panzerführer" (Abbildung 18), den die Kunstbetrachtung als harten, kühn vorausblickenden Mann des technischen Krieges und als „Beispiel besten deutschen Soldatentums" 112 feierte, nahm im Atelier am Tegernsee Gestalt an 113 . Für „Der 10. Mai 1940" (Abbildung 19) - ausgestellt in der Großen Deutschen Kunstausstellung in München 1941 und in deren Katalog reproduziert - wurden Padua einige Pioniere in sein Atelier an der Pienzenauer Straße in München abgeordnet. Immerhin, der Künstler soll nach eigenem Bekunden zu Beginn des Westfeldzuges beim Skizzieren des Rheinübergangs verwundet worden sein 114 . Letztlich ging es bei allen diesen Bildern aber gar nicht um die Authentizität der Kriegshandlung selbst, sondern vielmehr um die dadurch zu transportierenden politischen Inhalte. Augenfällig bei „Der 10. Mai 1940" ist die Anlehnung an das für die nationale Identität der
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Eine Studienreise als Kriegsmaler in Frankreich vom 2.5.-3. 6. 1943, Manuskript, S. 1 1 - 1 5 , Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, Nr. 673. Ebd., S. 21. G o r d o n W . Gilkey, German W a r A r t , Report, 25. 4. 1947, S. 13, U S - A r m y Center of Military History. Westecker, Krieg, S. 23. Vgl. Davidson, Kunst, 2, 1, Nr. 934, 935. Müller-Mehlis, Kunst, S. 3 9 f . In der Tat erlitt Padua eine Verwundung - Fersendurchschuß - während des Westfeldzuges, jedoch nicht am 10., sondern am 22. Mai 1940. Das A O K 6, der Verband, dem er als Sonderführer zugeteilt gewesen war, befand sich zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr am Rhein, sondern im Vormarsch auf Dünkirchen, Deutsche Dienststelle f ü r die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt), Zentralnachweiskartei P. M. Padua.
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USA sehr wichtige Gemälde „Übergang Washingtons über den Delaware" (Abbildung 20), gemalt 1850 in Düsseldorf vom Emanuel Leutze. Bei seinem Erscheinen in Deutschland und Amerika enthusiastisch aufgenommen, war dieses Bild nicht nur ein Markstein in der Entwicklung der profanen Historienmalerei, sondern durch diese lebhafte und eindringliche Schilderung jener Flußüberquerung vom 25. Dezember 1776, die an den ersten Sieg amerikanischer Truppen im Unabhängigkeitskrieg bei Trenton erinnerte, ließ sich eine patriotische Sinnstiftung befördern. Der in heroischem Gestus gemalte Washington hinterläßt beim Betrachter keinen Zweifel am siegreichen Ausgang des Unternehmens und erscheint zugleich als „der weitblickende Staatsmann, der das ,Staatsschiff' ebenso kühn wie erfolgreich durch alle politischen Wogen führt" 115 . Der bestimmte historische Augenblick gerinnt damit zu einem zeitlos gültigen Symbol. In einem vergleichbaren Sinnzusammenhang als bildhafte Formulierung des heroischen nationalen Aufbruchs steht Paduas Bild. Anläßlich einer Würdigung dieses Künstlers zu seinem vierzigsten Geburtstag im Jahre 1943 wurde die damit intendierte Sinnstiftung auch expressis verbis formuliert: „Pulsierendes Leben, härteste Wirklichkeit sind in dramatischer Weise auf die Leinwand gebannt, Gegenwart, die aber in der künstlerischen Deutung über den Tag hinausgeht, Geschichte geworden ist und den Willen eines ganzen Volkes zu Tat und Sieg typisiert. Damit hat die Kunst ihre höchste Aufgabe erreicht, und der Künstler wird zum Künder des Volksmythos" 116 . Die energisch und unbeirrt vor Geschoßeinschlägen paddelnden Soldaten verkörpern die Volksgemeinschaft, der aufrecht stehende und mit weit ausholender Armbewegung die noch am Ufer zurückgebliebenen Kameraden zur Gefolgschaft auffordernde Offizier „erscheint wie die Illustration des Führerprinzips" 117 . Obwohl die Wirkung solcher heroischer Motive auf das Publikum von der kunsthistorischen Forschung heute eher als gering, ja aufgrund ihrer offensichtlichen ideologischen Eindeutig- und Einseitigkeit fast als gegenläufig eingeschätzt wird 118 , scheint zumindest dieses Ateliergemälde einen starken Eindruck hinterlassen zu haben. Unter Berücksichtigung aller Vorbehalte gegenüber einer solchen Quelle meldete der Sicherheitsdienst der SS [SD] in seinem ausführlichen Bericht über die Große Deutsche Kunstausstellung von 1941: „Besonders beachtet wurden alle Arbeiten, die das Kriegsgeschehen zu gestalten versuchen.... Besonders hervorgehoben wird in den Äußerungen der Bevölkerung das Kriegsbild von Padua ,Der 10. Mai 1940' " I 1 9 . Bereits 1940 hatte der SD die Reaktionen der Besucher der Großen Deutschen Kunstausstellung in dem Urteil zusammengefaßt, daß sich die „Versuche, den Geist der Zeit in Kriegsbilder[n], Motiven der Arbeit und des Wiederaufbaus
Jenderko-Sichelschmidt, Historienmalerei, S. 103. Vgl. Ausst.-Kat. Vice Versa, S. 306-310. Zit. n. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 353 f.; vgl. Rittich, Kunst, S. 17. 1 1 7 Bussmann, Darstellungen, S. 1 9 6 - 1 9 8 ; vgl. Rittich, Kunst, S. 17. 1 1 8 Hinz, 1933/45, S. 25. 1 1 9 Boberach (Hrsg.), Meldungen, 9, S. 3398, Meldung Nr. 264 vom 2. 3. 1942. 115
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künstlerisch zu gestalten, wirkungsvoll abheben" 120 . Auch 1942 sollen die Kriegsbilder „ziemlich allgemeine Anerkennung" gefunden und überdies breitere Besucherkreise „ganz unmittelbar angesprochen" haben 121 . Zu richtigen Publikumsmagneten entwickelten sich nach Erkenntnissen des SD ab 1940 gar die speziellen Kriegskunstausstellungen. Beifällig wurde 1943 vermerkt, „daß zahlreiche Besucher sehr häufig auch aus Kreisen der Bevölkerung kamen, die sonst kaum von Kunstausstellungen erfaßt wurden" 122 . Das Hauptinteresse scheint dabei weniger auf ein künstlerisches Erlebnis ausgerichtet gewesen zu sein, sondern das Publikum habe durch dokumentarische Bilder vielmehr eine Ergänzung zur Kriegsberichterstattung in Presse und Film erwartet. Als in diesem Zusammenhang besonders wirkungsvoll galten - gerade bei „einfachen Besuchern" - die Pressezeichnungen, während man anderen bildlichen Darstellungen oftmals „das Atelier oder den inneren Abstand zum Krieg" allzu stark anzumerken glaubte 123 . Die Tatssache, daß im Angesicht der harten Kriegswirklichkeit deutsche Soldaten noch Zeit und Muße zu künstlerischer Gestaltung fanden, soll von der Bevölkerung auch als Zeichen der Stärke, Sicherheit und Zuversicht beim deutschen Soldaten gedeutet worden sein. Gerade diese Wirkung mußte nach Ansicht des SD verstärkt ausgenutzt und durch eine recht sorgfältige Bildauswahl und Ausstellungsgestaltung gesteuert werden. Ungeachtet ihrer Wirkung beim Publikum stellt sich aber trotzdem die Frage, ob die Schlachten- und Kampfbilder wirklich ,,unmittelbar[e] Darstellungen des Kriegsgeschehens [sind], in denen die deutschen Künstler den Heldenkampf unserer Soldaten der Heimat vor Augen führen" 1 2 4 - also eher relativen Reportagecharakter haben, wie er ihnen auch von manchem Autor nachträglich attestiert wird. Oder muß man bei ihrer Betrachtung und Interpretation nicht vielmehr die ihnen von den NS-Kunstprotagonisten zugeschriebene politischemotionale Sinnstiftung in den Vordergrund rücken? Es sollten ja Sinnbilder geschaffen werden, die „mehr als ein Tatsachenbericht mit Pinsel und Zeichenstift" sein wollten. Sie sollten „den Widerschein der Seele auf die Feuerbrände der Schlacht in sich tragen . . . und mit der Bejahung des soldatischen Einsatzes und seiner letzten Steigerung im Opfer ein Sinnbild unserer Zeit schaffen" 125 . Insofern bemühte man sich auch im zeitgenössischen Schrifttum, sie von den modernen Propagandamedien wie der Fotografie und dem Film abzugrenzen. Während man behauptete, das Foto sei eine exakte und objektive Wiedergabe eines bestimmten Augenblicks von unmittelbarer Aktualität, maß man dem vom subjektiven Auge des Künstlers gestalteten Kriegsbild eine viel emotionalere Wirkung auf tiefere Bewußtseinsschichten des Betrachters zu 126 . Im PKJargon ausgedrückt, wirkte das Farbfoto eines Panzers „kaum . . . so grausig packend wie die Impressionen des Malers von der Panzerfahrt durch das bren-
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123 124 125 126
Ebd., 5, S. 1486, Meldung N r . 116 vom 19. 8. 1940. Ebd., 12, S. 4444, Meldung N r . 333 vom 9. 11. 1942. Ebd., S. 4803, Meldung Nr. 359 vom 15. 2. 1943. Vgl. ebd., 5, S. 1755, Meldung Nr. 140 vom 11. 11. 1940. Ebd., 12, S. 4804, Meldung Nr. 359 vom 15. 2. 1943. Scholz, Kunst, S. 204. Horn, Symbole S. 37. Seiler, Bild, S. 4 f.
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nende Dorf" 127 . Darüber hinaus wähnte man sich in einer jahrhundertealten Tradition von Kriegsdarstellungen, beginnend mit Albrecht Altdorfers „Alexanderschlacht", in die es sich einzureihen galt 128 . Vom Motiv her lassen sich die Schlacht- oder Gefechtsbilder im wesentlichen in zwei Gruppen einteilen. Da ist zunächst das schon bei Padua gezeigte Motiv der sogenannten kleinen Kampfgemeinschaft, in Anlehnung an Ebers „Die letzte Handgranate" und den Typus des rassischen Kämpfers heroisch ausgeführt in Wilhelm Sauters „Rheinübergang bei Breisach" (Abbildung 21). Im Zentrum des 1942 in München präsentierten Gemäldes, dessen Schauplatz durch das Breisacher Münster im Hintergrund festgelegt ist, steht aufrecht ein älterer Soldat, augenscheinlich ein Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, der gerade im Begriff ist, eine Handgranate abzuziehen. Zusammen mit den ihn flankierenden jugendlichen Kameraden ergibt dieses Arrangement ein Sinnbild der propagierten Traditionslinien deutschen Soldatentums, ein Motiv, das derselbe Künstler im übrigen später noch einmal in seinem Dyptichon „Der ewige Musketier" aufgegriffen hat 129 . Mit dem alten Soldaten bei Breisach gelingt dem Maler aber ein über das pädagogische Moment der nachahmenswerten soldatischen Tugend der Tapferkeit hinausreichendes politisches Signal. Am Winkel auf dem Oberarm deutlich erkennbar, scheint es der von einer Gloriole umgebene Gefreite des Ersten Weltkrieges und nicht der am linken Bildrand kauernde Unteroffizier zu sein, der die in Deckung liegende Gruppe unerschrocken und entschlossen in den Kampf führt. Der damalige Betrachter dürfte die damit wohl suggerierte Assoziation auch sofort verstanden haben: war es doch der Gefreite des Ersten Weltkrieges, Adolf Hitler, der die nach 1918 am Boden liegende Nation nicht nur wieder aufgerichtet hatte, sondern sie im Kampf zu neuer Größe führen wollte. Als typische Gefechtsszene wirkt das „Flak-Kampfbild" (Abbildung 22) einer Gruppe von SS-Soldaten energiegeladen und liefert auf den ersten Blick keine politischen Uberlagerungen. Spannung vermittelt auch der auf einen russischen T-34 lauernde Panzerzerstörtrupp in Hauptmann Rudolf Hengstenbergs Aquarell „Vorstoß" (Abbildung 23) von 1943. Hierzu existiert eine kompositorisch und farblich nahezu identische Vorstudie, die 1994 in einer Ausstellung über das Lebenswerk des Künstlers gezeigt wurde. Im Begleittext wird dem Betrachter erläutert, daß mit dem Motiv der drohend durch ein Kornfeld rollenden schwarzen Kolosse dem Maler „ein eindrucksvolles Sinnbild des zerstörerischen Krieges" gelungen sei 130 . Aber steht hier nicht vielmehr der Mut im Vordergrund, mit dem sich Infanteristen dem überlegenen Waffensystem Panzer entgegenstellen? Bot damit nicht gerade dieses Bild eine ausgezeichnete Folie für die Propagierung soldatischer Tugenden? Es sind deutsche Soldaten, die hier gegen ihr Land verteidigende russische Panzer vorgehen! Auf die Tatsache, daß die Ursache des „zerstörerischen Krieges" im deutschen Uberfall auf die Sowjetunion begründet war, sei an dieser Stelle deutlich hingewiesen.
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Kiaulehn, Gesicht, in: Signal, April 1942. Westecker, Krieg, S. 5 - 7 u. 24. Vgl. die zeittypische Interpretation ebd., S. 23. Barfod, Rudolf Hengstenberg, S. 84.
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Berücksichtigt man nun die zeitgenössische Wertung, ging es mit der Darstellung solcher Gemeinschaftshandlungen allerdings nicht, wie schon angedeutet, um die Reportage. Die Arbeiten sollten vielmehr verstanden werden als „besonders zeitnahe Ausdrucksform [des] Zusammengehörigkeitsgefühls einer Blutsgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft oder Kampfgemeinschaft letztlich germanischen Ursprungs" 1 3 1 . Was bei den Kampfbildern weiterhin auffällt - sowohl bei Gruppen- als auch panoramenhaften Schlachtendarstellungen, ist, daß es sich in der Regel um Kampfhandlungen ohne Feind handelt. Zumindest wird dieser nicht individualisiert, allenfalls mit einzelnen Waffensystemen nur angedeutet. Die alleinige Fixierung auf eine einzige am Geschehen beteiligte Partei, besonders prägnant bei Paduas „Der 10. Mai 1940" und Sauters „Rheinübergang bei Breisach", nötigt den Betrachter gleichsam automatisch, sich mit den Männern im Schlauchboot oder der kleinen Kampfgruppe zu identifizieren. Wilhelm Wessels „Brennende Panzer vor der Stellung" (Abbildung 24) führt schließlich noch eine weitere mögliche Schlußfolgerung beim Betrachten solch „feindloser" bzw. „feindarmer" Darstellungen vor. Im Bild erkennt man zwar einen Gefechtsstreifen in Nordafrika, und die aufsteigenden Rauchsäulen markieren abgeschossene englische Panzer. Aber durch „die Wahl der Totalen für solche Darstellungen konnte man jede Anteilnahme am individuellen Schicksal anderer ausschließen" 132 . Im Kampf gibt es den Sieg und die Niederlage, die Verwundung, den Tod. Wie gingen die Kriegsmaler der Wehrmacht nun mit solchen Situationen um? Zunächst zum Umgang mit der Niederlage, was insbesondere am Beispiel Stalingrad verdeutlicht werden soll. Der Untergang der 6. Armee zu Jahresbeginn 1943 machte nicht nur die Bevölkerung betroffen, auch die NS-Machthaber waren sich durchaus der möglichen negativen innenpolitischen Rückwirkungen bewußt. Daher der Versuch einer propagandistischen Umdeutung des Geschehenen. Im Anschluß an eine Unterredung mit dem Leiter der Abteilung Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht, Oberst Hasso von Wedel, über „die Behandlung der kommenden Abschlußmeldung über Stalingrad" vermerkte Goebbels unter dem 31. Januar 1943 in sein Tagebuch: „Wir müssen diese Frage vor der deutschen Öffentlichkeit außerordentlich vorsichtig behandeln. Vor allem muß dabei eine Sprache geführt werden, die dem geschichtlichen Gewicht dieses heroischen Kampfes gerecht wird. Wir müssen uns darüber klar sein, daß noch in Jahrhunderten die Nachricht von der Liquidierung Stalingrads als Beispiel in der Geschichte verzeichnet stehen wird" 1 3 3 . Beispielgebendes Heldentum, gepaart mit der Ideologie der Volksgemeinschaft, kennzeichnet daher die dynamische Zeichnung des damals bekanntesten Pressezeichners, Theo Matejko, in der Zeitschrift „Die Wehrmacht" vom 10. Februar 1943 (Abbildung 25). Im Zentrum der in einer Trümmerkulisse angesiedelten Handlung steht ein mit dem Ritterkreuz dekorierter General. Umgeben von nur mehr wenigen Soldaten reicht ihm einer aus der sich gegenseitig si131 132 133
Feuer und Farbe. Hinkel, Funktion. S. 98. Reuth, Joseph Goebbels. Tagebücher, 5, S. 1885. Vgl. Wette, Massensterben.
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chernden Gruppe ein gefülltes Magazin für seine Maschinenpistole. Die Bildunterschrift unterstreicht die propagandistische Intention: „Im heroischen Kampf um jeden Fußbreit Boden standen in Stalingrad Schulter an Schulter General und Grenadier. Wie in diesem beispiellosen Ringen alle Unterschiede nach Waffengattungen fielen, wie die Männer vom T r o ß mit der Waffe in der Hand neben dem Grenadier und dem Pionier, der junge Ersatz neben den alten Kämpfern standen, so waren auch alle Rangunterschiede gefallen. Ein Wille einte alle vom Oberbefehlshaber bis zum Grenadier: Der Kampf bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Atemzug". Ebenfalls exakt im Sinne Goebbelsscher Intention komponierte der Presse- und PK-Zeichner Hans Liska für den in der Märznummer der Auslandszeitschrift „Signal" erschienenen Artikel „Denkstein Stalingrad" (Abbildung 26) eine kampfbetonte Zeichnung, die zusammen mit dem Wortbericht zu einer emphatischen Würdigung wurde. Mit der Legende „Die Generale Pfeffer, von Hartmann und Stempel mit Oberst Crome und einer Handvoll Soldaten stehen offen und frei auf dem Bahndamm" wurden die Akteure auf diesem imaginären Bild nicht nur personalisiert, sondern sie sollten als Glied in einer Kette beispielhafter soldatischer Taten aus dem Geist des deutschen Soldatentums traditionsstiftend wirken 1 3 4 . Hans Liskas Stalingrad-Zeichnung erlaubt es darüber hinaus, die vorgebliche Realität des Geschehens auf solchen Bildern als Irrealität und Propagandalüge zu entlarven. In dem 1944 publizierten Kriegsskizzenbuch wird zwar der Leser durch die Einführung des PK-Wortberichters Walther Kiaulehn darüber in Kenntnis gesetzt, daß Liska den Auftrag hat, „im Angesicht der Schlacht, des Gefechtes, des Vormarsches einen schnellen und druckfertigen Bericht zu schaffen. . . . Den Kosmos und die ganze Arche Noah trägt der Pressezeichner in sich, um, wie im Fall des Kriegsberichters Liska, dem Menschen von heute, der Mutter, der Braut und dem Vater und Bruder zu erzählen, wie sich der Mensch in den unvorstellbaren Vorgängen verhalten hat und wie es dabei seinen Geschöpfen, den Maschinen gegangen ist, was der Landschaft für ein Leid geschah und wie sich der Regenbogen über allem wölbte. Die Fettflecke, die Dreckspritzer und die Notizen am Rande dieser Blätter sind besser als alle Stempel, für den, der sehen kann, der Beweis ihrer Echtheit. . . . Auf diesen Blätter agieren keine Sinnbilder und keine Gladiatoren, der Mensch wird gezeigt in seinen schwersten Augenblicken" 1 3 5 . Obgleich als PK-Zeichner an vielen Fronten im Einsatz, war Hans Liska aber nie in Stalingrad. Im Vorspann zu seinem Kriegsskizzenbuch-Reprint gab er 1977 auch zu, worin die eigentliche Aufgabe des zeichnenden Reporters bestand: „...so zu berichten, daß beim Betrachter der Eindruck entsteht, dabeigewesen zu sein . . . und Utopien [sic!] real im Bild darzustellen".
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Dollinger (Hrsg.), Querschnitt, S. 24. Mit ähnlich kampfbetonten Skizzen des P K - Z e i c h ners Martin G u h l wurde der Artikel „Ihre letzte Meldung. D e r Heldenkampf einer Flakdivision in Stalingrad" in der M ä r z - A u s g a b e der Luftwaffen-Zeitschrift „ D e r Adler" garniert. Liska, Kriegs-Skizzenbuch (Einführung des P K - W o r t b e r i c h t e r s Walther Kiaulehn).
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Von anderem D u k t u s und künstlerischem Anspruch, aber mit ganz ähnlichen Grundgedanken wie Matejko und Liska, stellte Franz Eichhorst im Sommer 1943 sein Gemälde „Erinnerung an Stalingrad" (Abbildung 27) auf der Großen Deutschen Kunstausstellung in München zur Schau. Angesichts der tatsächlichen Zustände im Kessel von Stalingrad 1 3 6 hätte das Bild kaum realitätsferner und damit verlogener sein können. D e r Blick in den Kampfgraben zeigt uns eine erschöpfte, in Teilen verwundete Besatzung. Die auf den Grabenrand gelegten Handgranaten sowie der auf der D e c k u n g liegende, spähende Soldat signalisieren aber dennoch Kampfbereitschaft. D i e zerfetzte Kette des über dem Graben hängenden sowjetischen T-34 Panzers verweist auf die noch immer siegfähigen deutschen Soldaten. Im Zentrum des Bildes steht jedoch ein in eine Decke eingehüllter, verwundeter Soldat, der die ihn umgebende gefahrvolle und bedrückende Realität nicht wahrzunehmen scheint. D e m Bildtitel folgend, scheint sein in die Leere gerichteter Blick vielmehr in die Vergangenheit zu weisen, auf das trotz aussichtsloser Lage heldenmütige Ausharren seiner Kameraden in Stalingrad. Tatsächlich aber führt v o m Gesicht des Verwundeten eine direkte Achse z u m im Ausstellungskatalog genau daneben positionierten Bild Rudolf L i p u s ' mit dem Titel „ K ä m p f e r " (Abbildung 28) 1 3 7 . Mit dieser Beziehung zu dem entschlossen seine Handgranate dem Feind entgegenschleudernden Soldaten konnte die Niederlage bei Stalingrad im Sinne des verbissenen und trotzigen Weiterkämpfens zumindest bildhaft umgedeutet werden. Die auf einer nach oben geneigten Fläche voranschreitenden Soldaten mochten auch als Symbol dafür gedeutet werden, daß es trotz mancher Rückschläge wieder aufwärts gehen würde. Propagandistische U m d e u t u n g der tatsächlichen Situation war die Reaktion der deutschen Kriegsmaler auch bei den Vorkommnissen im Heimatkriegsgebiet. Wilhelm Bechers Ölbild „ D e r Morgen nach dem Terrorangriff" (Abbildung 29) von 1943 verschweigt zwar nicht die durch die Bombardierungen hervorgerufenen Schäden. A u c h ist den Gesichtern der A u s g e b o m b t e n das schreckliche Erleben und die N o t anzusehen. D o c h die am linken Bildrand mit dem rechten A r m den Weg weisende Soldatenfigur, der die Spitze des Zuges anführende Parteifunktionär sowie der auf die Trümmer zumarschierende Trupp der Helfer mit der Hakenkreuzarmbinde signalisieren, daß trotz N o t und Bedrückung unter Führung der Partei das Leben wohlgeordnet weiterlaufen wird 1 3 8 . Wie anders mutet dagegen - unabhängig v o m Stil - die Gouache des offiziellen englischen Kriegsmalers Graham Sutherland mit dem Titel „Devastation in the C i t y " (Abbildung 30) von 1941 an, mit der er seine Eindrücke von der schrecklichen Wirklichkeit der Bombenangriffe auf L o n d o n z u m Ausdruck zu bringen versuchte. Wie Knochen eines zerborstenen Brustkorbs ragen gebogene Sicheln in den Himmel. 136 137
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Vgl. Overmans, Gesicht; Müller, Hunger. In manchen Exemplaren des Ausst.-Kat. sind beide Bilder auch auf der Vorder- und Rückseite der ersten Abbildungsbeilage reproduziert. Beide Gemälde hingen zudem im selben Ausstellungsraum nahe beieinander. Vgl. auch Hans Liskas Illustrationen zum Artikel „Skizzen von einer N a c h t " in der MärzN u m m e r der Zeitschrift Signal von 1943, in denen beispielhafte Rettungstaten nach einem Bombenangriff gezeigt werden.
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In Deutschland hatte eine ohnmächtige Empfindung im Angesicht der Kriegswirklichkeit keinen Platz in der Kunst. Dies galt insbesondere für den Umgang mit den massenhaften und realen Kriegsfolgen, der Verwundung und dem Tod. Als Konsequenz der staatlich verordneten und gleichgeschalteten Kunstauffassung, die ja ganz bewußt in der Tradition des idealisierenden und historisierenden Naturalismus des 19. Jahrhunderts stand 1 3 9 , griffen die Kriegsmaler hier ausnahmslos zum Mittel der Stilisierung, womit besonders die wenigen Darstellungen des Kriegstodes 1 4 0 zu einer bizarren Ästhetisierung gerannen. Die politische Vorgabe war eindeutig. A m 10. Juni 1940 ordnete Goebbels an, „daß wohl die Härte, die Größe und das Opfervolle des Krieges gezeigt werden soll, daß aber eine übertrieben realistische Darstellung, die statt dessen nur das Grauen vor dem Kriege fördern könne, auf jeden Fall zu unterbleiben habe" 1 4 1 , eine Anweisung, die für alle Sparten der Wehrmachtpropaganda galt 142 . Hans Strobls „Verwundeter" (Abbildung 31) ist ein Paradebeispiel für die U m setzung „des realistischen Schmerzes in die Sphäre des künstlerischen Ideals" 1 4 3 . Der fast gelöst und entspannt daliegende Verwundete, dessen Blessuren jedoch nicht erkennbar sind, wird von zwei Kameraden weggebracht. Zwar lassen die Gesichtszüge der Helfer den Ernst der Lage erkennen, aber die Tatsache, daß sich gleich zwei routinemäßig um den Verwundeten kümmern, verweist auf ausreichende sanitätsdienstliche Versorgung. Darüber hinaus steht auf diesem Bild auch weniger die Verwundung als Folge des Kampfes im Vordergrund, sondern es ist vielmehr ein Lobpreis der Kameradschaft. In diesem speziellen Fall wird gar die Bergkameradschaft zitiert, sind doch die Helfer durch das Edelweis am Ärmel und an der Bergmütze als Gebirgsjäger zuzuordnen. Die Uberlagerung und damit Verharmlosung der Verwundung durch die Tugend der Kameradschaft und des Mutes ist auch das zentrale Motiv des Gemäldes von Will Tschech, was auch expressis verbis im Titel „Kameraden" (Abbildung 32) zum Ausdruck gebracht wird. Trotz eigener leichter Verwundung schleppt ein im Gestus des heroischen Kämpfers gemalter Unteroffizier seinen anscheinend schwerer verwundeten Kameraden auf dem Rücken entschlossen zurück und bringt ihn - so die Suggestion - in Sicherheit. Gänzlich entrückt von jeglicher Realität zeigen sich schließlich jene wenigen Arbeiten, die den Kriegstod zum Inhalt haben 1 4 4 . Die Künstler bedienen sich dabei hauptsächlich zweier Darstellungsweisen, mit denen die folgenreichste und letzte Konsequenz des vom Nationalsozialismus angestrebten totalen Zugriffs auf den einzelnen Menschen im Sinne der Propaganda dienstbar gemacht 139 140 141 142
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Mai, Historienbild, S. 151-163. Petsch, Kunst, S. 57. Zit n. Thomae, Propaganda-Maschinerie, S. 492. Der Kameramann Hans Ertl berichtet in seinen Erinnerungen: „ L a u t unseren allgemeinen Propaganda-Anweisungen mußten eigene Verluste möglichst übergangen werden. Wir durften höchstens in einem Schwenk über wenige Grabhügel mit Kreuzen hinweg andeuten, aber so, daß man die N a m e n der Gefallenen nicht lesen konnte. Bei zerfetzten Leichen des Gegners war man in Berlin nicht so zimperlich." Ertl, H a n s Ertl, S. 74. Deutsche Plastik unserer Zeit, hrsg. von K. L. Tank, München 1942, zit. n. Hinkel, Funktion, S. 109. Allgemein zum Todesbild des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg vgl. Behrenbeck, Kult, S. 520-532.
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werden kann. Folgerichtig findet sich auf den Porträtdarstellungen kein zerfetzter oder zermalmter Soldat, sondern, wie im Gemälde von Thomas, ein „Schlafender" (Abbildung 33) mit jugendlichem Antlitz. Mit dem Band des Eisernen Kreuzes im Knopfloch als Held etikettiert, wird der Tod - im NS-Jargon die „Bejahung des soldatischen Einsatzes und seiner letzten Steigerung im Opfer" 1 4 5 - lediglich mit dem Attribut der abgebrochenen Erkennungsmarke angedeutet. Gerade mit einer solchen Darstellung sollte nach der zeitgenössischen Kunstbetrachtung eine Antwort auf das „Warum?" des Kriegstodes gefunden worden sein: „Sie liegt im Antlitz eines gefallenen Kameraden, das wie von einer feurigen Gloriole umgeben ist und kaum spürbar das Lächeln der Ewigkeit in sich trägt" 1 4 6 . Dem millionenhaften Tod ihrer Kameraden setzten die Kriegsmaler nur das Stereotyp des schlafenden Jünglings entgegen, das, einem Heiligenbild gleich, zum pathetischen Symbol eines sieghaften Optimismus gerann. Aus dem Sakralen entlehnte Emotionen und Assoziationen werden in den politisch-pädagogischen Bereich übertragen, und der „Heldentod" wird als nachahmenswertes Tugendbeispiel stilisiert. Dem Anschein nach realitätsnäher nehmen sich Bilder aus, die eine geläufige Form des Soldatengrabes zeigen; das Birkenkreuz mit dem Stahlhelm. Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sie sich aber nur in der Form, nicht hinsichtlich der ihnen innewohnenden oder zugewiesenen ideologischen Intentionen. Eduard von Handel-Mazettis „Soldatengrab bei Narvik" (Abbildung 34) ist in eine Gebirgslandschaft gelegt. Stark untersichtig präsentiert, ragen Stahlhelm und Kreuz steil gen Himmel und scheinen verhalten auf eine christliche Transzendenz des Todes zu verweisen. Der im Bildvordergrund piazierte knorrige Baum fügt dem Szenario jedoch eine deutlich säkulare Sinnhaftigkeit und damit symbolische Bestimmung hinzu. Auch in scheinbar unwirtlicher und toter Landschaft kann der kraftvolle Stamm weiter gedeihen. Von Rudolf Warneckes Holzschnitt „Soldatengräber" (Abbildung 35) kündet die Umschreibung diesen Sinngehalt: „Gräber des Krieges sind ewigen Sieges Aecker / und Saaten des Ruhms" 1 4 7 . Und auch Wilhelm Petersen, Kriegsmaler der Waffen-SS, hat seine „Kriegsgräberzeichnung" (Abbildung 36) mit dieser Intention komponiert. Blühende Weidenkätzchen vor den beiden Kreuzen sowie die Wiederholung der Gräberzahl in den blühenden Weidenbäumen symbolisieren hier das Fortleben des Soldatischen. Daß diese Gräber weniger als ein Memento mori, denn vielmehr als ein Zeichen soldatischen Vorbildes zu verstehen waren, dazu mögen auch die von den Gräbern wegführenden Fußstapfen beigetragen haben. Folgt man bei der Analyse der zeitgenössischen Interpretation, wonach diese beiden Soldatengräber „über der östlichen Landschaft [ein einsames] Symbol der kriegerischen Tat [sind], durch die unser Anspruch auf den germanischen Schicksalsraum . . . für alle Ewigkeit erhärtet ist" 148 , dann können die Spuren nur so verstanden werden: durch den Besuch bei diesen Gräbern leitet
Horn, Symbole, S. 37. Ebd., S. 52. 147 Davidson, Kunst, 2, 2, Nr. 1424. 148 Horn, Symbole, S. 52.
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man die Kraft zur kriegerischen Behauptung der Landnahme ab. Die Spuren sind also das bildhafte Verbindungsglied zu den Lebenden. Im Gegensatz dazu kommen britische Kriegsbilder ohne eine solche politischpropagandistische Nutzung aus, selbst bei der gleichzeitigen Darstellung von Toten und Lebenden. Der ab 1942 auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz eingesetzte offizielle Kriegsmaler Edward Ardizzone gewährt beispielsweise in seinem Aquarell mit dem makaberen Titel „On the road to Tripoli: a cup of tea for the burial party" (Abbildung 37) von 1943 nicht nur einen Blick auf die in ihren Gräbern liegenden Leichname britischer Soldaten, sondern er illustriert mit den im Hintergrund offenbar teilnahmslos Tee trinkenden Soldaten die viel wahrscheinlichere Auswirkung des Massensterbens auf die eigenen Kameraden: Abstumpfung 1 4 9 . Befleißigten sich die Kriegsmaler der Wehrmacht bei der Darstellung des Kriegstodes deutscher Soldaten im Sinne einer politisch-ideologischen Pädagogik ausnahmslos verklärender Gestaltungselemente, so neigten sie beim getöteten Feind durchaus zu einer realistischen Bildersprache. E. Gross zeigt in seinem 1943 in Nordafrika gefertigten Aquarell einen britischen „Panzerfahrer" (Abbildung 38), der seinen abgeschossenen und brennenden Panzer gerade verlassen hat, genau in dem Moment, als ihn die tödliche Kugel nach hinten reißt. Mit verrenkten Gliedmaßen und weit aufgerissenem Mund liegt ein getöteter russischer Artillerist im Zentrum von W. Gemms Gemälde „Zerschossene sowjetische Batterie an der Desna" (Abbildung 39) von 1941.
II. Uberblickt man die enorm fleißige Gesamtproduktion der Wehrmachtmaler, so fällt auf, daß ein großer Teil auf den ersten Blick keine mehr oder weniger erkennbaren oder intendierten nationalsozialistischen Bildinhalte aufweist. Es finden sich vielmehr zahlreiche Genreszenen des sogenannten Kriegsalltags, die allerdings erwartungsgemäß eher „den Eindruck eines sanften, idyllischen Krieges" vermitteln, wie beispielsweise Olaf Jordans „Trauben essende Soldaten" (Abbildung 40) von 1942 oder Max Ahrens' „Geigenspieler" (Abbildung 41) von 1944. Gerade deshalb aber, weil solche Bilder Kampf und Tod negieren, können auch sie als eine spezielle Form der Darstellung dieses Kategorienpaares gelten. Auf den Gedanken, Krieg habe etwas mit Wildschützenromantik zu tun oder sei ein Kinderabenteuer, könnte man gar bei der Betrachtung eines mit dem Titel „Urlauber" (Abbildung 42) versehenen Gemäldes von Paul Mathias Padua aus dem Jahre 1944 kommen. In der Manier eines Wilhelm Leibi gearbeitet, führt das Bild den Betrachter in eine Bauernstube. Auf der Ofenbank sitzt ein durch seine Embleme an der Uniform erkennbarer Scharführer der GebirgsWaffen-SS. Die ihn umringenden Buben und Mädchen lauschen offenbar andächtig. Vermutlich wird es auch kein Kindermärchen gewesen sein, wenn man 149
Harries, W a r A r t i s t s , S. 2 3 5 , 2 3 9 . W ä h r e n d des Feldzugs in Sizilien fertigte A r d i z z o n e m e h r e r e A q u a r e l l e v o n p l ü n d e r n d e n britischen S o l d a t e n an.
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die Gesten des SS-Mannes so deutet, daß er mit einem imaginären Gewehr im Anschlag demonstriert, wie auf den Feind zu schießen ist. Daß mit dieser banalen Genreszene aber eine eindeutige politische Sinnstiftung transportiert werden sollte, belegt das Vorwort im Katalog zur Ausstellung „Deutsche Künstler und die SS" in Salzburg von 1944, in der dieses Stück neben anderen hing. Mit solchen Bildern sollte gezeigt werden, „in welchem Maße der Anspruch auf den ganzen Menschen, auf den unbedingten und rückhaltlosen Einsatz jedes einzelnen durch den Kampf der SS bedingt ist" 150 . Welche Folgen dieser Anspruch auf einen Burschen haben konnte, der kaum älter gewesen sein mochte als die Kinder auf Paduas Bild, illustriert das Schicksal jenes „Rothaarigen jungen Soldaten" (Abbildung 43) von Emil Scheibe aus dem Frühjahr 1945. Der Porträtierte ist noch im April, kurz vor Kriegsende, bei Coburg gefallen 151 . Neben den Genrebildern sind auch reine Landschaftsdarstellungen sehr zahlreich vertreten. Gerade diese Motive wurden von manchem Kriegsmaler und Autor nach dem Kriege als Beleg dafür verwandt, daß nicht alle Künstler sich in ihren Bildern „zum Sprachrohr nationalsozialistischer Propaganda" gemacht hätten 152 . Es mag sein, daß, aus welchen Gründen auch immer, ein Kriegsmaler lieber Landschaften als Kampfszenen angefertigt hat. Tatsache aber ist, daß auch den Landschaftsdarstellungen sowohl von den Auftraggebern als auch von der veröffentlichten zeitgenössischen Kunstbetrachtung eine propagandistische Zweckbestimmung zugemessen worden ist. Die Frage, ob Landschaftsbilder überhaupt gemalt werden sollten und ob diese den intendierten Propagandazwecken dienen konnten, war allerdings im Kriege nicht unumstritten, wie verschiedene Anweisungen aus der Abteilung Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht demonstrieren. Am 7. Februar 1940 hatte OKW/WPr sämtliche Propagandakompanien aller Wehrmachtteile darauf hingewiesen, daß, bei allem Vorzug von Kampfbildern, die Pressezeichner in ruhigeren Zeiten durchaus „Zeichnungen der verschiedenen Waffengattungen, Landschaftsbilder und Porträts anfertigen" sollten, die von Zeitungen sehr gerne angenommen würden. Eine vermehrte Materiallieferung dafür wurde ein gefordert 1 5 3 . Im Herbst 1942 ist jedoch ein Auffassungswandel festzustellen. Gemäß einer Anordnung an die Marine-Propaganda-Abteilung Südost vom 10. November 1942 war der „Kriegsmaler Sdf. Lt. Μ. A. Amersdorffer . . . dahingehend zu beraten, daß das Schwergewicht seiner Arbeit von der reinen Landschaftsdarstellung auf die Kriegsberichterstattung unter besonderer Berücksichtigung der Belange der Kriegsmarine wenn irgend möglich zu verlagern ist" 154 . Anscheinend war dies kein Einzelfall, denn OKW/WPr fühlte sich zwei Tage später am 13. November 1942 gegenüber den Marine-Propagandaabteilungen zu folgender grundsätzlichen Stellungnahme veranlaßt: „Die in letzter Zeit vorgelegten Arbeiten geben Veranlassung, daß die Kriegs150
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Ausst.-Kat. Deutsche Künstler und die SS. V o r w o r t des Chefs des SS-Hauptamtes, SSObergruppenführer und General der W a f f e n - S S Berger. Vgl. SS-Leihhefte, 8 (1944). Todestag und -ort sind auf der Rückseite des Gemäldes angegeben. Adam, S. 164 f. Vgl. Davidson, Kunst, 2, 1, S. 17 f.; Schirmmacher, Heinz Hindorf; Wessel, Kunstwerke?; Yenne, W a r Art, S. 10. B A - M A , R W 4/v. 160, S. 57. Ebd., R W 4/v. 208.
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Wolfgang Schmidt
maier und Pressezeichner sich ihrer Aufgaben als Kriegsberichter stärker bewußt werden müssen. Mit den reinen Landschaftsdarstellungen, die ohne jede Beziehung zur Kriegsmarine (Marine-Artillerie, Küstensicherung) sind, kann weder im Augenblick eine aktuelle Propaganda erzielt werden, noch haben diese Arbeiten für die Zukunft einen dokumentarischen Wert" 1 5 5 . In diese Richtung zielten zu Jahresbeginn 1943 auch die Erkenntnisse des SD. Nach Urteilen von Besuchern der Kriegskunstausstellungen gingen Landschaftsmotive am eigentlichen Kriegsgeschehen nahezu völlig vorbei 1 5 6 . Dabei war es gerade der dokumentarische Charakter, der auch diese Produkte für die Propaganda so interessant gemacht hat. Ziel der Kriegsmalerei war es ja auch, neben der Schaffung von Sinnbildern des Krieges „der Gegenwart die G r ö ß e des Kampfes anschaulich zu machen, indem sie der Mitwelt den Kriegsraum vor Augen führt, den heute die deutschen Waffen beherrschen, den deutsche Kraft erobert hat und hält" 1 5 7 . Darüber hinaus erwartete man von solchen Motiven eine pädagogische Wirkung. Unter dem Titel „Am Wege unserer Divisionen" druckten die SS-Leihhefte seit 1943 Bilder von umkämpften Landschaften oder Orten ab, „die für die Gesamtheit einer SS- oder Polizeidivision oder sonstwie zusammengehörenden SS-Mannschaft Sinnbild ihres gemeinsamen Erlebens wurden, der Treue und Kameradschaft, der Verschworenheit in Freud und Leid, Erlebnisse, die uns auch künftig erheben und stark machen" 1 5 8 . Einem ohne militärische Attribute ausgeführten „Bild einer russischen Landschaft mit Fluß" (Abbildung 44) gab die Kunstbetrachtung die Deutung, daß die „weiten Gebiete des Ostens, Nordens und Westens, in die der siegreiche Vormarsch des deutschen Heeres seine Soldaten hineingetragen h a t , . . . in ihren charakteristischen Zügen erfaßt" sind 1 5 9 . Schließlich wurden Bilder wie Wilhelm Wessels „Ansicht des Hafens von Derna" (Abbildung 45) im Sinne der Funktion des Krieges als „Reiseveranstalter" gleichsam als „touristisches Werbeplakat" gedeutet: „Nicht nur der Kampf bestimmt das Erlebnis des Krieges, auch die Landschaft, in der er sich vollzieht oder vollzog, das sonst so ferne, nie geschaute Land, dessen Art, Menschen und Sitten kennenzulernen, erst durch den Krieg möglich wurde. Wer von denen, die in Afrika kämpften, hätte in Friedenszeiten auch nur daran gedacht, hierher zu reisen? W e m war z . B . Derna ein Begriff, dieses unbedeutende Küstenstädtchen mit seinen engen Gassen zwischen hohen schattengebenden Mauern, dessen Menschen nie etwas von dem modernen Krieg geahnt hatten und dessen Name nun durch ihn in aller Welt bekannt wurde" 1 6 0 ? Es ist die Weichzeichnung des Krieges und die trophäenhafte Intention, die diesen Bildern nicht nur anhaftet, sondern die letztlich auch sie zur formgewordenen Weltanschauung werden läßt.
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Ebd., S. 46 f. Boberach (Hrsg.), Meldungen 12, S. 4804, Meldung Nr. 359 vom 15. 2. 1943. Seiler, Bild, S. 3 f. SS-Leihhefte, 11 (1943). Ausst.-Kat. Maler an der Front, S. 6. Seiler, Bild, S. 7 f.
„ M a l e r an der F r o n t "
«irftnef bte Briea^wtietfte Abbildung 1 Fritz Erler: „Mann mit dem Stahlhelm vor Verdun"
Abbildung 3 Elk Eber: „ K a m p f in Warschaus Vorstadt"
Abbildung 2 Elk Eber: „Die letzte Handgranate"
Abbildung 4 Wolfgang Willrich: „Kampfflieger Werner Baumbach"
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Wolfgang Schmidt
Abbildung 5 Martin Forst: „Leutnant der Landwehr"
Abbildung 7 Rudolf Henzel: Soldat
Abbildung 6 Rudolf G. Werner: „Gefreiter"
Abbildung 8 Adolf Lamprecht: „Leutnant Mat!"
Maler an der Front"
Abbildung 9
Abbildung 10
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Ferdinand Staeger: „Aus dem Polenfeldzug"
Elk Eber: „Gruppe polnischer Gefangener vor der Kommandantur in Warschau'
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Rudolf Hengstenberg: „Durchbruch durch die Burgundische Pforte"
Abbildung
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Rudolf Hengstenberg: „Die Verlassenen"
Abbildung
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Olaf Jordan: Gruppe russischer Kriegsgefangener
.Maler an der Front"
Abbildung 14
Abbildung 15
Olaf Jordan: Kosack
B. Runte: „Russische Impressionen"
Abbildung 16 Rudolf Henzel: Russischer Soldat
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Wolfgang Schmidt
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Abbildung 17 Luitpold A d a m : „Sanitäter m i t v e r w u n d e t e m Soldaten"
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Abbildung 18 Paul Mathias Padua: „Der Panzerführer"
Abbildung 19 Paul Mathias Padua: „ D e r 10. Mai 1940"
.Maler an der Front"
Abbildung 20
Paul Girardet nach Emanuel Leutze: „Washington crosses the Delaware"
Abbildung 21 Wilhelm Sauter: „Rheinübergang bei Breisach'
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Wolfgang Schmidt Abbildung 22 Flak-Kampfbild
Abbildung 23 Rudolf Hengstenberg: „Vorstoß"
Abbildung 24 W i l h e l m Wessel: „Brennende Panzer vor der Stellung"
„Maler an der Front" Abbildung 25 T h e o M a t j e k o : Stalingrad
Abbildung 26 H a n s Liska: „ D e n k s t e i n Stalingrad"
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Wolfgang Schmidt
Abbildung 27 Franz Eichhorst: „Erinnerung an Stalingrad"
Abbildung 29 Wilhelm Becker: „Der Morgen nach dem Terrorangriff'
Abbildung 28 Rudolf Lipus: „Kämpfer"
,Maler an der Front"
Abbildung 30
Graham Sutherland: „Devastation in the City"
Abbildung 31 Hans Strobl: „Verwundeter"
Abbildung 32 Will Tschech: „Kameraden"
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Wolfgang Schmidt Abbildung 33 Thomas: Schlafender
Abbildung 34 Eduard von Handel-Mazetti: „Soldatengrab bei Narvik"
„Maler an der Front" Abbildung 35 Rudolf Warnecke: Soldatengräber
Gräber Des firleges find einigen Sieges
Reiher / und Saaten des Ruhms. Abbildung 36 Wilhelm Petersen: Kriegsgräber
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Wolfgang Schmidt Abbildung 37 Edward Ardizzone: „On the road to Tripoli: A cup of tea for the burial party"
Abbildung 38 Ε. Gross: Panzerfahrer
Abbildung 39 W. Gemms: „Zerschossene Batterie an der Desna"
„Maler an der Front"
t ^ j m ß s '
1
Abbildung 40 Olaf Jordan: Trauben essende Soldaten
Abbildung 41 Max Ahrens: „Geigenspieler"
Abbildung 42 Paul Mathias Padua: „Urlauber"
Abbildung 43 Emil Scheibe: Rothaariger junger Soldat
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Abbildung 44
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Russische Landschaft mit Fluß
Abbildung 45 Wilhelm Wessel: „Derna"
.Maler an der Front"
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Zusammenfassung Kunst im Kriege wird sich wohl nie ganz freimachen können von einer tatsächlichen oder intendierten politischen Zweckbestimmung. Auch in demokratischen Staaten leisten Künstler bis heute eine Art „künstlerischen Kriegsdienst", wenn sie, versehen oftmals mit einem militärischen Rang, als offizielle Militärmaler die Truppe begleiten. Im Unterschied allerdings zu amtlichen britischen Künstlern, die während des Zweiten Weltkrieges ganz selbstverständlich auch die Ausdrucksformen der Moderne in ihren Werken rezipierten 1 6 1 , standen die Kriegsmaler der Wehrmacht unter dem Diktum eines politisch erwünschten und schon vor 1939 durchgesetzten „Naturalismus" und vorgeblichen „Realismus" im Stile einer längst überholten Historienmalerei des späten 19. Jahrhunderts. Wie selbstverständlich bediente man sich zudem der in dieser Epoche entwickelten ikonographischen Formen und Formeln, um den Typus des deutschen Helden ins rechte Bild zu setzen 1 6 2 . Es mag daher auch kein Zufall gewesen sein, daß gerade Luitpold Adam zum Fachführer Maler der Staffel der bildenden Künstler avancierte, der aus jener Künstlerdynastie stammte, die die Gattung der Historien- und Militärmalerei als Mittel nationaler Identitätsstiftung in Deutschland entscheidend mit geprägt hatte 1 6 3 . Konsequenterweise stand das detaillierte Abmalen von Soldaten und Waffen daher im Zentrum der vom ihm geleiteten Kriegsmalerausbildung. Künstler, die einen solchermaßen vorgegebenen „Qualitätsanspruch" nicht einhielten, wurden von Adam auch entlassen 164 . Geradezu bizarr muten schließlich die weitgesteckten, im Sinne der NS-Kriegerstaatsideologie jedoch konsequenten Ziele an, die Adam und seine Auftraggeber im O K W mit diesen Bildern nach dem Endsieg zu verfolgen gedachten. Nicht so sehr die schrecklichen Seiten, sondern vielmehr die auf diesen Bildern festgehaltenen „lyrischen Momente" des Krieges sollten es dem deutschen Volk ermöglichen, sich über die geistig-kulturellen Werte einer N a tion klar zu werden 1 6 5 . Unter solchen Bedingungen konnte eine an der modernen Kunst orientierte Verarbeitung des Kriegsgeschehens dann allenfalls nur im Privaten vonstatten gehen, wie beispielsweise bei Fritz Winter, der den als Gebirgsjäger an der Ostfront erlittenen Krieg in abstrakte Bildmetaphern um-
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Vgl. Ausst.-Kat. Sutherland; Ross, Colours.; Harries, W a r Artists. Zur Entwicklung der Historienmalerei vgl. Mai, Historienbild, S. 1 5 1 - 1 6 3 . 1942 bereitete Luitpold A d a m eine Publikation über die Schlachtenmalerfamilie Adam vor, in der „hauptsächlich über Albrecht Adam die Rede sein (sollte) und zwar derart, daß man ihn erstens als Stammvater der Bildberichter der Propagandakompanien vorstellt", Stadtarchiv München, Nachlaß Luitpold Adam, N r . 699. Schreiben Luitpold Adam an den Verlag Wilhelm Langewiesche-Brandt vom 24. 2. 1942. G o r d o n W . Gilkey, German W a r Art, Report, 25. 4. 1947, S. 14, U S - A r m y Center of Military History. In der N S - K u n s t b e t r a c h t u n g scheint Adam jedoch kaum Anklang gefunden zu haben. W e n i g schmeichelhaft urteilte der Landesleiter der Reichskammer der bildenden Künste beim Landeskulturwalter Gau Berlin am 18. 1. 1945: „Trotz guter formaler Beherrschung etwas langweilig. . . . I m Ganzen bleiben die Darstellungen am Gegenständlichen hängen ohne geistig-künstlerische Durchdringung", B A , R K K 2400 B o x 0001 File 15. G o r d o n W . Gilkey, German W a r Art, Report 25. 4. 1947, S. 21, U S - A r m y Center of M i litary History.
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Wolfgang Schmidt
setzte 166 . Die exemplarisch vorgestellten Bilder dürften demgegenüber offenkundig gemacht haben, daß diese überwiegend von den Kriegsmalern der Wehrmacht gefertigten Arbeiten mit den politisch-ideologischen Absichten des Nationalsozialismus Hand in Hand gingen. Darüber hinaus ist vermutet worden, daß aus ihnen auch die Gesinnung ihrer Schöpfer spricht 167 . Als sicher kann gelten, daß zwischen 1933 und 1945 „kein als exemplarisch hingestelltes Kunstwerk [geschaffen worden ist], das nicht mit den Intentionen derer, die es bestellt oder benutzt haben, übereingestimmt oder wenigstens korrespondiert hätte" 1 6 8 . Während die vor 1939 produzierten Bilder mehr einer nach außen, d.h. vornehmlich auf die Gesellschaft gerichteten geistigen Mobilmachung dienten, die das Heroische des Ersten Weltkrieges in einen Krieg der Zukunft zu transportieren gedachten, waren die während des Zweiten Weltkrieges gechaffenen Stücke Bestandteil einer auch nach innen gerichteten geistigen Kriegführung, die mit dem Herausstellen der Leistungen deutscher Soldaten die Kampfmoral stützen sollten. Entscheidend für die Bewertung der Produktion der Kriegsmaler in der Wehrmacht ist daher nicht die Stilkritik, sondern, wie der Kunsthistoriker Berthold Hinz schon vor über zwanzig Jahren in seinen wegweisenden Studien zur Malerei im Nationalsozialismus festgestellt hat, „zu welchen Diensten die Kunst bestimmt oder unbestimmt - verfügt wurde, nicht daß sie überhaupt zu Diensten verfügt ist; sodann ob die Maler - bewußt oder unbewußt - auf diese Zwecke eingingen, nicht daß sie überhaupt auf Zwecke eingingen" 169 . Unter Bezugnahme auf die Ziele und die Vorgehensweise des NS-Staates trifft dann wohl auch für den Bereich Wehrmacht und Kunst jene Feststellung von Manfred Messerschmidt zu, wonach „Wehrmachtgeschichte und NS-Geschichte ... eine Geschichte gewesen ist" 1 7 0 .
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Winter, Kriegszeichnungen. Kuhn, D i e Bildende Kunst, S. 185. Hinkel, Funktion, S. 5. H i n z , Malerei, S. 8. Messerschmidt, Wehrmacht (1992), S. 403.
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Ehrke-Rotermund
Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches"
1939 verkündete Adolf Hitler den Spitzen der Wehrmacht in einer Reihe von „Offiziersreden" seine Absicht, die dem deutschen Volk zukommende „Weltführungsrolle" 1 auf kriegerischem Wege erzwingen zu wollen. U m diesem Anspruch Ausdruck zu verleihen, müsse nicht nur die deutsche Armee die „beste", „erste" und „stärkste" der Welt werden 2 , sondern sei auch die Architektur „einzusetzen": „Deshalb lasse ich dort [Hamburg] Wolkenkratzer hinstellen von der gleichen Gewalt der größten amerikanischen. Deshalb lasse ich Berlin zu einer gewaltigen Hauptstadt ausbauen. Deshalb in Nürnberg diese gigantischen Anlagen schaffen, deshalb in München desgleichen, deshalb diese riesigen Autostraßen im Deutschen Reich, nicht nur aus reinen Verkehrsgründen heraus, sondern auch noch zusätzlich aus der Uberzeugung, daß es notwendig ist, dem deutschen Volk das zerbrochene an sich früher schon nicht so große Selbstbewußtsein zu geben, das eine 80-Millionen-Nation beanspruchen kann und das es benötigt" 3 . Dem Medium Literatur stand Hitler fern 4 . Auf diesem Gebiet fand im „Dritten Reich" aber dieselbe Instrumentalisierung statt wie bei der Architektur. Auch die Schriftsteller sollten die deutsche Öffentlichkeit auf Kampf, Krieg und Welteroberung ausrichten. Daher wurden sie - etwa vom Reichsjugendführer Baidur von Schirach oder vom Reichsdramaturgen Rainer Schlösser - zu „Frontkämpfern" des neuen Reiches oder „Soldaten des Geistes" erklärt 5 . Schlösser sah 1935 diese neue Übereinstimmung von militärischem und literarisch-künstlerischem Sektor durch Hitlers Person gegeben, der zugleich Politiker und Künstler sei: „Der Künstler bejaht den Staat, das heißt: den künstlerischen Menschen, den das Volk an die verantwortliche Stelle entsandt hat. Geist und Macht, Feder und Schwert sind nicht mehr Gegensätze, sondern Ergänzungen. Das erste Reich der Soldaten des Geistes ward gegründet" 6 !
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Zit. n. Thies, Architekt, S. 115. Ebd., S. 108, 109, 119. Rede Hitlers, 10. 2. 1939, zit. n. ebd., S. 80. Vgl. Speer, Spandauer Tagebücher, S. 464. Dennoch versuchte Hanns Johst 1939, Hitler auch auf dem literarischen Sektor als Vorreiter zu etablieren: „Der Schriftsteller ist im Dritten Reich schon deshalb zur Führung berufen,... weil sich in das erste Mitgliederverzeichnis der N S D A P der Führer selbst unter: Hitler, Adolf, Schriftsteller, eintrug", zit. n. Strothmann, Literaturpolitik, S. 88. Zit. n. ebd., S. 84. Schlösser, Volk, S. 84.
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Die nationalsozialistischen Kulturpolitiker machten ihre Konzeption des „Dichtersoldaten" an den zahlreichen Schriftstellern fest, die im Ersten Weltkrieg oder in den paramilitärischen Organisationen der Partei gekämpft hatten. Damit wandten sie sich in bewußter Vermischung der realpolitischen und der geistigen Sphäre gegen alle Bestrebungen, die deutschen Dichter zu „weltenfernen, träumenden Romantikern" und Deutschland zum „Volk der Denker und Dichter" zu stempeln. Denn angeblich hatte sich das westliche Ausland dieser Vorstellungen propagandistisch bedient, um Deutschland zur Abrüstung zu zwingen und sich selbst „bis an die Zähne [zu] bewaffnen" 7 : „Es hätte unseren Gegnern so gepaßt, Deutschland wieder das ungefährliche /Volk der Dichter und Denker' sein zu lassen, mit dem sie politisch umspringen konnten, wie es ihnen beliebte.... Es gibt in Deutschland nicht mehr den Dachkammerpoeten, .... Es gibt auch nicht mehr jenes sogenannte .heimliche' Dichterdeutschland,.... Der deutsche Dichter steht heute als Soldat an der Front oder als Rufer und Mahner in der Heimat vor dem Volk, und er würde jeden Versuch, seine Tätigkeit auf eine unpolitische Aufgabe zurückzuführen, schärfstens ablehnen" 8 . Der von den Nationalsozialisten geforderte politische und kämpferische Dichter, der den Soldaten zum Maßstab nahm, sollte - wie der Leiter der Abteilung Rundfunk im Propagandaministerium, Alfred-Ingemar Berndt, es 1940 ausdrückte die deutsche Literatur „wirklich zu einer Waffe unserer Zeit" machen9. Schon 1935 hatte Kurt Hesse in seinem für die gerade wieder eingeführte allgemeine Wehrpflicht werbenden Buch ..Soldatendienst im neuen Reich" konkretisiert, wie die „soldatische Idee ihren notwendigen Platz innerhalb des geistigen" und „künstlerischen Lebens der Nation" einnehmen sollte. Hesse, den das Titelblatt bezeichnenderweise als „Major Dr. Kurt Hesse" 10 auswies, verlangte von den Schriftstellern, „die geschichtliche Leistung des Soldaten" auf eine Weise zu würdigen, „daß ihre Wiederholung der jungen Generation als höchstes Ziel erscheint" 11 . In dem auszugsweise im Anhang des Buches abgedruckten Gesetzestext über den „Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935" wurden „der Dienst in der Wehrmacht" als „Ehrendienst am deutschen Volk" und „die Ehre des Soldaten" als „bedingungsloser Einsatz seiner Person für Volk und Vaterland bis zur Opferung seines Lebens" bezeichnet (S. 154). Die von Hesse im Zusammenhang
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Merzdorf, Schrifttumsschau, S. 193. B u c h und Schwert, S. 1 f. Alfred-Ingemar Berndt, in: Völkischer Beobachter, N r . 23, 22. 1. 1940, S.5, zit. n. Strothmann, Literaturpolitik, S. 84. Berndt übernahm mit dieser Formulierung ein bekanntes Schlagwort der kommunistischen Literaturpolitik vom E n d e der 20er Jahre; vgl. dazu W o l f , Kunst. Hesse war Soldat, A u t o r und Universitätsprofessor, Strothmann, Literaturpolitik, S. 87. Als Oberleutnant der Danziger Grenadiere machte er den Ersten Weltkrieg mit, im Zweiten stieg er zum Oberstleutnant im O K W auf. E r verfaßte die Kriegsbücher „Der Patrouillengänger" und „Mein Hauptmann. Bildnis eines Soldaten" (1938) sowie das Reisebuch „An den Straßenecken der W e l t " , vgl. Pleyer, Dichterfahrt, S. 25. Hesse, Soldatendienst, S. 143. D i e im folgenden aus Hesses W e r k zitierten Stellen werden durch direkte Seitenangaben im fortlaufenden T e x t belegt. G e n a u s o soll in dieser Darstellung überall dort verfahren werden, w o ein W e r k im Zusammenhang darzustellen ist.
Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur im „Dritten Reich"
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mit diesem Grundpostulat dargestellten Normen (Vorbildlichkeit des Offiziers, Kameradschaft als blinde Gefolgschaft), Kenntnisse (souveräne Beherrschung der neuen Militärtechnik) und Feindbilder sind in zahlreichen einschlägigen Schriften wie in der verbreiteten „Deutschen Fibel. Worte an Kameraden" von Franz-Hermann Woweries (1940) immer wieder propagiert worden. Sie fanden ihre detaillierte Gestaltung in der Dichtung des „Dritten Reiches". Da, wie Hesse schrieb, „der Nationalsozialismus ... in seinem Wesen soldatisch" war (S. 147), erscheint es nur folgerichtig, daß die staatlichen Lenkungsstellen der NS-KRIEGSLITERATUR eine ganz besondere Förderung angedeihen ließen12. Wiederholt wirkten sie erfolgreich auf die Autoren ein, sich kriegerischen Themen zuzuwenden. Im Oktober 1936 beispielsweise veranstalteten die NS-Kulturgemeinde und der Reichskriegsopferführer anläßlich der 6. Berliner Dichterwoche „Wehrhafte Dichtung der Zeit" ein Kriegsdichtertreffen, bei dem sich 50 Autoren zu einer „Mannschaft Kriegsdichter" zusammenschlossen. Sie erhielten die Aufgabe, die Produktion der bereits umfänglichen Literatur zum Thema Krieg weiter zu steigern. Zwei Jahre später konnte die „Bücherkunde der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums" den Vollzug melden: „Es sind wohl über zwanzig Kriegsromane, die in den letzten Monaten des Jahres 1938 erschienen sind" 13 . Ab 1939 luden die Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums und das Oberkommando der Wehrmacht ausgewählte Autoren zu sogenannten Dichterfahrten durch die eroberten Gebiete in der Tschechoslowakei, Polen oder Frankreich ein. Eine Flut von Büchern, die das Kriegsgeschehen berichtend oder „literarisch" behandelten, war die Folge. Wie der Sicherheitsdienst herausstellte, wurden diese im Gegensatz zum übrigen politischen Schrifttum von der Bevölkerung positiv aufgenommen14. Zahlreiche Schriftsteller kamen im Krieg auch als Propaganda-Kompanie-Berichterstatter an die Front, um über ihre Erfahrungen zu schreiben. So publizierte Kurt Hesse als Leiter der „Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW" den von ihm und anderen Autoren verfaßten Bericht „Uber Schlachtfelder vorwärts! Mit dem siegreichen Heer durch Frankreich 1940" (1940). Von den vier Goebbelsschen „Weimarer Dichtertreffen" standen zwei offen unter kriegerischen Parolen15. 1940 ging es um „Die Dichtung im Kampf des Reiches", 1942 um „Dichter und Krieger". Es nahmen viele Weltkriegsautoren an den Tagungen teil, nicht wenige davon in Wehrmachtuniform16. Auch durch die zahlreichen von Staat und Partei vergebenen Literaturpreise wurde die Produktion der Kriegsliteratur gefördert. Mit Vorliebe ehrte man nämlich die Verfasser von Kriegsromanen aus älterer oder jüngerer Zeit17. Damit die massenhaft produzierten Bücher kriegerischen Inhalts auch ihre Leser fanden, wurden parteiamtliche Förderungslisten erstellt. In diesem Sinne machte das Rosen-
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Vgl. dazu E h r k e - R o t e r m u n d , Kriegsroman. Zur völkisch-konservativen und nationalsozialistischen Literatur sowie zur literarischen Inneren Emigration und zum literarischen Widerstand vgl. die Uberblicksdarstellung von R o t e r m u n d / E h r k e - R o t e r m u n d , Literatur. Langenbucher, B u c h , S. 186. Barbian, Literaturpolitik, S. 196. E h r k e - R o t e r m u n d , Kriegsroman, S. 242. Barbian, Literaturpolitik, S. 188. Strothmann, Literaturpolitik, S. 102 f.
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bergsche „Amt Schrifttumspflege" 1935 hundert Buchvorschläge für „Urlaub, Reise und Unterhaltung", davon stammten bezeichnenderweise „39 Titel aus der Sparte der Kriegsliteratur"18. Ein zentrales Motiv der nationalsozialistischen Kriegsdichtung, insbesondere ihrer epischen Formen, ist die vorbildliche Führergestalt, „der geborene [Panzer]Führer" 19 ; sie wird meistens von Offizieren verkörpert, die die unterschiedlichsten Dienstgrade haben können, aber durch eine Reihe von im großen und ganzen gleichbleibenden Zügen charakterisiert werden. Erstes Merkmal des vorbildlichen Führers ist absolute Furchtlosigkeit an der Front. In Α. E. Johanns Erlebnisbericht ..Zwischen Westwall und Maginotlinie. Der Kampf im Niemandsland" (1939) legt „Führer Leutnant Bork" 20 diese Eigenschaft denn auch im Gegensatz zu zwei jungen Meldern bereits während seines „ersten Feuers" im Keller eines halb eingestürzten Bauernhauses an den Tag: „Der Leutnant saß zwischen ihnen [Männer seines Zuges], klein, schmal, fast möchte man zart sagen; nicht eine Spur von Furcht war in ihm; man sah es seinen Augen an; sie blickten, als fühle er erst in diesem Augenblick das volle Leben wahrhaft beginnen. Um seinen Mund zuckte so etwas wie ein Lächeln; vielleicht freute er sich, daß er keine Furcht in sich aufkeimen fühlte" (S. 69). Die ruhige Selbstverständlichkeit des Führers in der Gefahr, verbunden mit seinem Sinn für Humor, gibt den Untergebenen ein Gefühl von Sicherheit (S. 70). Das gilt genauso für den General in Edwin Erich Dwingers „Panzerfahrer. Tagebuchblätter vom Frankreichfeldzug" (1941): „Obwohl das Feuer noch immer anhielt, ging der General, als ob er einen Spaziergang machte: Ohne den Kopf nur einmal einzuziehen, in beinahe amüsanter Unterhaltung, schritt er neben mir dahin. Die anderen haben es leichter, dachte ich unwillkürlich, sie können in Sprüngen die Lichtung nehmen ... Aber war er nicht gerade deswegen so schön, dieser Gang an seiner Seite, wurde er nicht gerade deswegen so unvergeßlich ...?" (S. 63 f.). Ein weiteres Kennzeichen des Führers besteht im „rücksichtslosen" Einsatz seiner selbst21. Insbesondere der Verzicht auf Schlaf wird hervorgehoben22; auch ein Privatleben hat er nicht zu beanspruchen. Er ist zudem meist jung, sogar „noch sehr jung" wie Leutnant Bork (S. 68); ist er das nicht mehr wie Dwingers General, wird er als „ungewöhnlich jugendlich" (S. 24)23 hingestellt; denn Jugend scheint Wagemut und „Draufgängertum" an der Front24 und damit letztlich den Sieg zu garantieren. Ganz besonders wichtig wird darüber hinaus die Fürsorge genommen, die der Führer seinen Soldaten angedeihen läßt, insbesondere wenn sie an vorderster Front kämpfen. In Just Schern „Tatsachenbericht" ..Die Stunde X. Mit Panzern in Polen und Flandern" (1941), aber auch bei Johann erscheint er deshalb gele18 19 20
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Ebd., S. 188. Dwinger, Panzerführer, S. 24. Johann, Westwall, S. 68. Dem Buch ist ein „Geleitwort" des Oberbefehlshabers des Heeres, Walther v o n Brauchitsch ( 1 9 3 9 - 1 9 4 1 ) , vorangestellt. Dwinger, Panzerführer, S. 72, 57. Johann, Westwall, S. 65, 72, 82; Dwinger, Panzerführer, S. 30,33. Vgl. ebd., S. 40. Johann, Westwall, S. 5.
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gentlich als „gütiger" 25 bzw. „strenger, aber unverhohlen wohlwollender Vater" 26 . Aus seiner Zuwendung entsteht auf Seiten der Soldaten ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Ein Unterkapitel in Johanns Buch heißt dementsprechend „Unser Leutnant!" (S. 68, 65), eine Bezeichnung, die immer wieder vorkommt (S. 70, 72) und sich bei Dwinger vom inflationären Gebrauch von „unser General" (S. 13, 15, 24, 56, 74, 77) sogar zu „unser geliebter General" steigert (S. 12, 32): „Keiner [Männer] wird es ihm [Leutnant Bork] vergessen, daß er nach diesem ersten, dem schwersten Feuer, jeden aufgesucht hat. Er gehört zu ihnen und sorgt sich um jeden; das wissen sie nun!" (S. 71). Auch der Führer spricht manchmal von „wir", wenn er seine Untergebenen meint27. Diese aber fühlen sich persönlich so eng an ihn gebunden, daß sie „für diesen Leutnant ... Pferde stehlen" 28 oder „für unseren Unteroffizier durchs Feuer" gehen29 würden. Die beabsichtigte Instrumentalisierung der persönlichen Führerbindung für Kampf, Tod und Sieg kommt am deutlichsten zum Ausdruck, wenn den Soldaten mit Adolf Hitler „der Führer" schlechthin entgegentritt. In Gerhard Schumanns Gedicht ..Des Führers Augen" (1941) ist dieser - wie in allen drei Strophen wiederholt wird - für die Kämpfer gleich Gott imaginär anwesend: „Wir spürten deine Augen auf uns schauen" (1,4; 11,4; 111,4). Genauso oft ist davon die Rede, daß „der Führer" „streng und gütig" sei (1,5; 11,5; 111,5). Aber worin seine Güte besteht, bleibt unerklärt; denn es geht ihm allein um die Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Sturmangriffs. Den angesichts physischer Uberforderung für Aufgeben plädierenden Soldaten spendet er „neue Kraft" und bringt ihre stillen Hilfeschreie so zum Schweigen (1. Strophe). Als sie dann wieder nur innerlich - die Frage nach dem Sinn des Durchhaltens im „feuerspeienden Grauen" stellen, setzt er seinen „Befehl" dagegen, der „Fahne" in erneutem Stürmen zu folgen. Zuletzt löst er auch die die Soldaten am Ende des Kampfes angesichts „frischer Gräber" bewegende religiöse Frage nach dem „Warum" der Opfer. Das wird möglich, weil „der Führer"-Gott selbst den Sinn des Kampfes verkörpert und sein Augenstrahl diese Gewißheit vermittelt. Mit dem Sieg der Kämpfenden über die eigene Schwäche ist aber zugleich der Sieg über den Feind gegeben: „Als wir den Helm kaum mehr zu heben wagten, Umbrüllt von Tod und feuerspeiendem Grauen, Als unsre Seelen schier ein - Sinnlos - klagten, Wir spürten deine Augen auf uns schauen, Die streng und gütig den Befehl uns sagten. Stürm, Fahne, flieg!
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Scheu, Stunde, S. 11. J o h a n n , Westwall, S. 57. Ebd., S. 72; Dwinger, Panzerführer, S. 72. J o h a n n , Westwall, S. 70. Scheu, Stunde, S. 10.
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Als frische Gräber unsre Trauer höhnten Und tränenlos und schwer die harten rauhen Soldatenherzen ein - Warum - aufstöhnten, Wir spürten deine Augen auf uns schauen, Die streng und gütig uns dem Sinn versöhnten. Das war der Sieg" 30 . Eine besondere Rolle spielt in der NS-Kriegsliteratur das enge Verhältnis der Soldaten zur Militärtechnik, vor allem das zu Maschinen wie Flugzeug, Panzerkreuzer, U-Boot oder Panzerwagen. Die Annäherung erfolgt von beiden Seiten her. In Franz Schauweckers den Ersten Weltkrieg behandelndem Buch ..Der Panzerkreuzer. Kriegsfahrt. Kampf und Untergang" (1938) wird die Technik verlebendigt und vermenschlicht: es ist vom „Pulsschlag der Maschinen" die Rede und die abgefeuerten Geschosse aus den Türmen des Kriegsschiffes werden zum „titanenhaften Herzschlag des Kampfes zur See" umgedeutet. Als „unsere maschinenhaften Götter" bekommen die Geschütze zugleich etwas Übermenschliches 31 . Das hier anklingende gefährliche, die Individuen auslöschende Moment wird jedoch nicht problematisiert, sondern als heroisch bewundert und gefeiert. Der Soldat tendiert seinerseits zur Vereinigung mit den Waffensystemen. Schauweckers Kommandant verschmilzt unmittelbar vor dem Heldentod geradezu mit seinem sinkenden Panzerkreuzer: „Der Kommandant stand für alle Leute, die an Bord noch lebten, sichtbar da, ein Bestandteil des Schiffes" (S. 272). Dwingers „Panzerführer" erscheinen bei ihrem „ungeheuren nächtlichen Aufmarsch" in Frankreich (S. 29) ebenfalls ohne eigene Individualität wie mit ihren Maschinen verwachsen. Sie sind alle gleich schwarz uniformiert, bleich und kalt, wodurch sie den Eindruck von maschinenhaften Todesboten hervorrufen. Dennoch wird ihnen Heroismus zugeschrieben, da ihre Bedrohlichkeit militärische Vernichtung garantiert: „Die Turmdeckel waren noch zurückgeklappt, in ihrem Rund standen die Panzerführer, bis zu den Hüften frei herausragend, die Arme leicht auf die Turmränder gelegt - ihre Haltung hatte etwas ungewollt Heroisches, das Schwarz ihrer Uniformen gab ihnen etwas Drohendes, auf ihren bleich schimmernden Gesichtern stand ohne große Worte eine kalte Selbstverständlichkeit. So ziehen diese Reiter also in die Schlacht, dachte ich in stiller Bewunderung . . . " (S. 28). Die Kriegsliteratur stellt die vollständige Anpassung an die Technik als für den Kampf unentbehrlich dar. Die von Wulf Bley unter dem Titel „Mit Mann und Roß und Wagen . . . " bearbeiteten „Funkberichte aus dem polnischen Feldzug" (1939) feiern das perfekte Funktionieren des Einzelnen in der militärischen Gesamtmaschinerie als Voraussetzung für den Sieg der Infanterie über Polen: „Denn alles das [Artillerie-, Fliegerangriffe] ist ... erst der Auftakt für den Angriff der deutschen Infanterie, die nun Mann gegen Mann überrennt, was sich ihr entgegenstellt. Wie ein Präzisionswerk arbeitet ihre Führung. Und
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Schumann, Augen, in: Die Lieder vom Krieg, S. 13. Schauwecker, Panzerkreuzer, S. 233.
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wie ein Präzisionswerk greifen die großen und kleinen Räder und Rädchen ineinander" 32 . Mit der Beherrschung der modernen Militärtechnik verbindet sich ein übersteigertes Elitebewußtsein der deutschen Kämpfer. Es beruht nicht zuletzt auf der Uberzeugung, daß ihre Waffen und ihre Moral die wirksamsten und besten seien. In Just Scheus „Die Stunde X" redet der ausbildende Unteroffizier seinen Rekruten die Unbesiegbarkeit ihres Panzers ein, die angeblich allein von ihnen selbst abhängt: „Ihr habt das Gefühl, daß ihr in diesem Panzerwagen unschlagbar seid, solange ihr selber das wolltl Verstanden" 33 ? Das Selbstbewußtsein der Angreifer gründet sich des weiteren auf die „harte und erbarmungslose" Handhabung ihrer Waffentechnik: „Aber der Pole muß erst beweisen, daß er die soldatische Härte besitzt, mit diesen Geschützen auch noch zu schießen, wenn er seinerseits dem Angriff deutscher Flugzeuge ausgesetzt ist. Möge er sich wehren, so viel er will, - was jetzt nach Gdingen und Heia fliegt, um dort jede kommende Gegenwehr hart und erbarmungslos auszulöschen, das ist Auslese der Auslese soldatischer Fliegerei in der Welt" 3 4 . Soldatische Härte bedeutete Ausblendung aller hinderlichen humanitären Aspekte bei gleichzeitiger perfekter Nutzung und Effektivität der Zerstörungstechnik. Die aus Polen berichtenden Radioreporter begutachten den deutschen Waffeneinsatz dementsprechend rein fachmännisch-militärisch nach der „vernichtenden Wirkung" (S. 16). Im Vordergrund ihrer detaillierten Berichte stehen „Präzision" (S. 13, 16, 24), „gute Trefferergebnisse" (S. 59, 99) und „Volltreffer" (S. 21) der Sturzkampfflieger sowie anderer Waffen. Dadurch wird der technischen Kriegführung ein Anstrich von Expertentum und sportlicher Leistung gegeben, der über ihren wahren Charakter hinwegtäuscht. Auch in der eroberten Normandie bewundert Pleyer immer wieder die „ausgezeichneten Treffer"; denn die Bombentrichter befinden sich exakt neben den noch benötigten Straßen, und die Stukas haben inmitten der zertrümmerten Städte systematisch die Kathedralen ausgespart: „Vernont. An einer Straßenkreuzung war die Arbeit unserer Stukas notwendig, und sie haben sie gründlich geleistet. Aber die schöne alte gotische Kirche steht, nur die Scheiben sind, wie nicht anders denkbar, vom Luftdruck zerstört. . . . Wieder eine wahrhaft furchtbare Zerstörung rund um die geschonte Kathedrale: Louvriers" (S. 41 f.). Ein weiteres zentrales Thema der nationalsozialistischen Kriegsliteratur neben dem vorbildlichen Führer und der Verherrlichung der Vernichtungstechnik ist die soldatische Kameradschaft. Die von dieser ausgehende Attraktion wurde im „Dritten Reich" ganz bewußt in der Lyrik, insbesondere im Soldatenlied eingesetzt, um für die Militarisierung der Gesellschaft, die Wehrmacht und den Krieg zu werben. 1936 stellte Herybert Menzel in seinem Gedicht „Deutschland im Marschschritt" die Kameradschaft als im gleichen Erleben wurzelnde Gefühlsbindung von Männern dar. Beim Marsch im Gleichschritt erfährt der Soldat die 32 33 34
Bley (Bearb.), Mann, S. 87. Scheu, Stunde, S. 8. Bley (Bearb.), Mann, S. 16 f.
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Übereinstimmung seines eigenen Bewegungs- und Herzrhythmus mit dem aller neben ihm Marschierenden. Jeder Nebenmann wird auf elementar einleuchtende Weise zum „Kameraden": „Wenn wir marschieren - Schritt um Schritt Wir lauschen: unser Herz schlägt mit. Mein Herz und dein Herz, Kamerad. Im gleichen Takt: Soldat! Soldat!" Die kameradschaftliche Bindung gilt nicht einem oder mehreren Einzelnen, sondern der Gemeinschaft, die beim Marschieren als Einheit erlebbar ist. Der emotionale Bezug, der in der ersten Strophe dreimal mit dem Wort „Herz" beschworen wird, läßt sich daher auch ohne weiteres auf das Kollektiv von Volk, Vaterland, Nation oder Deutschland übertragen. Indem der Soldat sich seinen Kameraden verbunden fühlt, soll er sich zugleich als Glied des lebendigen deutschen Volkskörpers empfinden lernen: „So Reih um Reihe - Schritt um Schritt Kolonnen stampfen gleichen Tritt. Wir ahnen's groß, wir beten's schon: Dies ist der Pulsschlag der Nation" 3 5 . Die über die Kameradschaft erfolgende Identifizierung mit dem Ganzen der Nation, ihrer ruhmreichen Geschichte und ihren heldenhaften Kriegen kommt in der Fahne, der die Soldaten folgen, zum Ausdruck. Deren Einzigartigkeit löscht angeblich alle zwischen ihnen bestehenden Klassen- oder Standesgegensätze aus. Diese schrankenlose Volksgemeinschaft der Wehrmacht preist Werner Altendorf 1935 in der zweiten und dritten Strophe seines Gedichtes „Ein junges Volk steht auf": „Wir sind nicht Bürger, Bauer, Arbeitsmann, haut die Schranken doch zusammen, Kameraden, uns weht nur eine Fahne voran, die Fahne der jungen Soldaten! Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen die toten Helden der jungen Nation, und über uns die Heldenahnen. Deutschland, Vaterland, wir,Rommen schon" 3 6 ! Hans Baumanns Gedicht ..Kameraden fragen nicht lange" (1936) - das hier stellvertretend für viele steht - zeigt unübersehbar, wie das soldatische Gemeinschaftsgefühl unter der einen Fahne geschickt in die Bereitschaft übergeleitet wird, füreinander zu sterben: Kameradschaft unter Männern dient so als Motivation für den Heldentod. Die dritte und letzte Strophe entlarvt ungewollt diese Verkoppelung von emotionaler Bindung und Kriegszielen des Nationalsozialismus. Sie diffamiert die Frage nach dem Sinn des Sterbens: „Kameraden fragen nicht lange: warum? warum die Haut denn wagen?
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Menzel, Deutschland, in: Gedichte der Kameradschaft, S. 22. Altendorf, Volk, in: Baumann (Hrsg.), Morgen marschieren wir, S. 31.
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Denn Deutschland ist stolz und Deutschland ist stumm und läßt sich von keinem erst fragen" 3 7 . Ahnlich wie in Baumanns Gedicht wird die Kameradschaft auch in den „Funkberichten aus dem polnischen Feldzug" (1939) instrumentalisiert. Die Radioreporter preisen den Zusammenhalt der deutschen Flugbesatzungen als Voraussetzung für den militärischen Sieg. Ihrer Darstellung zufolge findet in der Realität des Krieges eine Steigerung der Kameradschaft zur „unlöslichen Kampfkameradschaft" statt 38 . Diese verschmelzt die verschiedenen Soldaten zu einer „Einheit", in der sich die einzelnen beinahe wortlos verständigen können und intuitiv wissen, was jedes Gruppenmitglied tun oder denken wird (ebd.). Eine Art von kollektivem Wesen entsteht, dessen Glieder auswechselbar sind. Fällt der Flugzeugführer durch Verwundung aus, tritt der ungeübte Staffelkapitän für ihn ein, rettet den Kameraden das Leben und erfüllt den Auftrag, den polnischen „Zugverkehr auf dieser Strecke lahmzulegen" (S. 86). Auch angesichts der Toten muß die Kameradschaft als Trost und Anreiz herhalten. Gerhard Schumann widmet sein Gedicht ..Soldatengrab" (1941) pauschal „den Gefallenen meines Bataillons". Ihm zufolge überdauert die emotionale Bindung der Kameradschaft sogar den Tod. Die „Herzen" der Lebenden bewachen in vorbildlicher militärischer Form das Grab „in französischer Erde", während „unsre stille Mutter Deutschland" unvergängliche Kränze für „den ärmlichen Hügel" spendet. So wird der Nachruhm der Toten sichergestellt, die Volksgemeinschaft aufrechterhalten: „ D u Kamerad in französischer Erde, D u bist nicht im Dunkel allein. Unsre stille Mutter Deutschland Hütet die Ruhe dein. Sie legt auf den ärmlichen Hügel Kränze, die niemals vergehn. U n d die Herzen der Kameraden Werden Wache stehn" 3 9 . Alle Aspekte der nationalsozialistischen Kriegsliteratur münden letztlich in demselben Ziel, der Motivierung zum Sterben und Töten im Krieg: Der Führer wird erst durch „Vorsterben" wirklich vorbildlich, und die Kameradschaft erweist sich am überzeugendsten in der Bereitschaft, für den jeweils anderen das eigene Leben zum Opfer zu bringen. Das Töten und die Zerstörung von Lebensbereichen erhalten einen positiven Anstrich von sportlicher Leistung und heroischer Arbeit. U m das Sterben im Krieg erstrebenswert erscheinen zu lassen, muß ihm ein Sinn beigelegt werden. Daher deutet Hans Baumann in seinem Gedicht „ N u n laßt die Fahnen fliegen" (1936) den Soldatentod als Tod für Deutschland. Auch wenn der Einzelne stirbt, bleibt die Gemeinschaft des deutschen Volkes als religiöse Größe ewig bestehen. Sie braucht die Lebensopfer für den Sieg. Jeder Kriegstote wird so zum Samen, aus dem die zukünftige reiche 37 38 39
Baumann, Kameraden, in: H o r c h auf Kamerad, S. 8. Bley (Bearb.), Mann, S. 82. Schumann, Soldatengrab, in: Die Lieder vom Krieg, S.27.
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„Ernte" für neue Generationen hervorgehen soll. Der Tod erscheint als sein Gegenteil, als Beginn neuen Lebens und Voraussetzung für das Gedeihen Deutschlands. Er verwandelt sich in ein dem Vaterland dargebrachtes heroisches Opfer, in den Heldentod: „Denn mögen wir auch fallen wie ein Dom steht unser Staat. Ein Volk hat hundert Ernten und geht hundertmal zur Saat" 40 . Der auch von der Kriegsepik gestaltete Heldentod hat nichts mit dem qualvollen Massensterben durch eine anonyme Kriegsmaschinerie gemein. Er bleibt individuell und ästhetisch überformt und findet - was das Wichtigste ist - auch unter den unwahrscheinlichsten Umständen bewundernde Zeugen. Als die Todesbereitschaft der Wehrmacht noch nicht erprobt werden konnte, griffen die Autoren bei der Darstellung dieses Themas auf den Ersten Weltkrieg oder die Befreiungskriege zurück. In Erhard Witteks „Anekdote" ..Der Gruß des Fliegers" (1936) beobachtet der junge amerikanische Kriegsfreiwillige Harald Dodd aus seinem Flugzeug heraus den Absturz eines sich mit ihm im Zweikampf messenden deutschen Jägers. Dieser wurde von einem zwanzigjährigen, mit dem eisernen Kreuz dekorierten Offizier gesteuert, der bereits die Oberhand über Dodd gewonnen zu haben schien. Aber durch ein Mißgeschick flog die schon abgezogene Handgranate, statt den „Feind" zu treffen, ihm unerreichbar in das eigene Flugzeug. Wittek zeigt nun nicht etwa, wie der Körper des Deutschen von der unausweichlichen Explosion zerrissen wird, vielmehr läßt er den amerikanischen Flieger zum „erschütterten" Zeugen der wenigen Augenblicke werden, die seinem „todgeweihten" Gegner noch bleiben. Dieser zeigt angesichts des Todes weder Angst noch nennenswerte Gefühlsbewegungen. Statt dessen grüßt er in tadelloser soldatischer Haltung durch militärisches Handanlegen an den Helm: „Der Todgeweihte aber blickte mit ernsten, blauen Augen in dem erblaßten, schmalen, jünglingshaften Antlitz auf den Feind, er sah tief bedrängten, doch zugleich unsagbar gefaßten Blickes den Zeugen seines Schicksals an und sah zugleich fremd durch ihn hindurch in meilenweite Ferne, seine Lippen waren fest geschlossen, und nun erhob er langsam die rechte Hand an den Rand seines Helmes" 41 . Die Abschiedsgebärde des Fliegers wird vom zuschauenden Amerikaner nicht als Gruß an einen „einzelnen Menschen", sondern als Gruß an die „Heimat", an Deutschland gedeutet und verbürgt insofern die Sinnhaftigkeit seines Sterbens. Die Verklärung soldatischen Sterbens gipfelt in Darstellungen, die das Weiterkämpfen auf verlorenem Posten, das Durchhalten bis zum Tod feiern. Franz Schauwecker zelebriert in seinem von Hellmuth Langenbucher besonders gelobten 42 Kriegsbuch „Der Panzerkreuzer" mit dem bezeichnenden Untertitel „Kriegsfahrt, Kampf und Untergang" dieses unsinnige Kämpfen bis zum letzten Mann. Sein Kreuzer wird - vom Feind manövrierunfähig geschossen - zu 40 41 42
Baumann, Fahnen, in: Morgen marschieren wir, S. 84. Wittek, Gruß, S. 16 f. Langenbucher, Buch, S. 187.
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„einer langsam im Kreise fahrenden Zielscheibe" und muß mit tausend Mann an Bord vom eigenen Geschwader hilflos zurückgelassen werden (S. 216). Dem verantwortlichen deutschen Kommandanten und seinen Offizieren ist klar, daß ihr getroffenes Schiff allein „einer zermalmenden Ubermacht" der englischen Kriegsmarine gegenübersteht. Trotzdem führen sie den als vergeblich erkannten Kampf weiter. Das Durchhalten der Schiffsbesatzung, das allein der Demonstration eines heroischen Sterbens dient, wird als allgemeiner Konsens ausgegeben (S. 255): „Es sind ganze Tonnen von Eisen und Explosivstoffen aus den Breitseiten von drüben, die auf dieses eine einzige Schiff niedergehen, das nur noch aus einem Turm, aus dem achteren Turm D , schießt.... Der Turm feuerte beinah sinnlos. Die Rohre seiner Geschütze waren zu hoch in den Himmel gerichtet. .... Er schoß wie zum Protest, auf jeden Fall, unter allen Umständen. Es war wichtig, daß er schoß, um denen da drüben zu zeigen: wir ergeben uns nicht, wir wehren uns, - und wenn es auch keinen Zweck mehr hat, so hat es doch einen Sinn"(S. 256f.). Als der Panzerkreuzer „ein qualmender, brennender Trümmerhaufen" ist und kurz vor dem Kentern steht (S. 271), kommt es wie bei Wittek zu großen militärischen Gesten. Der Erste Offizier stimmt inmitten von Verwundeten das Lied „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot..." an und bringt „drei Hurras auf den Obersten Kriegsherrn" aus, „wobei er vergeblich versuchte, den schwergetroffenen rechten Arm an die rechte Schläfe zu bringen" (S. 269). Der Kommandant läßt sich, als er keinerlei Befehl mehr geben kann, für alle noch Lebenden sichtbar, von einer englischen Salve über Bord spülen (S. 272). Zuletzt hissen drei oder vier Mann am Kutter-Davit singend eine Bootsflagge, ehe sie getroffen werden (S. 273). Auch im Theater wurden - insbesondere nach Beginn des Zweiten Weltkrieges - Heldentod und Durchhalten propagiert. Werwer Deubels historisches Drama „Die letzte Festung" (1942), das Veit Harlan 1944 als Vorlage für seinen Film „Kolberg" diente, thematisiert die letztlich erfolgreiche Verteidigung des Ostseehafens Kolberg von 1807 gegen eine erdrückende Ubermacht napoleonischer Truppen. Held des Dramas ist der preußische Oberstleutnant Gneisenau, für den es im Namen Deutschlands keine Kompromisse, sondern nur die Alternative Sieg oder Untergang gibt. Er bleibt daher von seiner hoffnungslosen Lage, beispielsweise den hohen Gefallenenzahlen, unbeeindruckt. Als ihm der Leutnant von Gruben die Vernichtung eines ganzen Freikorps - ihn selbst ausgenommen - meldet, reagiert er bezeichnenderweise mit einer Ehrenbezeugung für die Toten und dem Versprechen, ein Siegeslied über ihren Gräbern spielen zu lassen. Alles wird dem Siegeswillen und dem Appell zum Durchhalten untergeordnet:
„Gruben (verwüstet, erschöpft, an den Pfeiler der Munitionskammer
ge-
lehnt): Leutnant von Gruben zur Stelle! Gneisenau (nach einer Pause - ruhig): W o ist das Freikorps? Gruben: Wäre Schill bei uns gewesen. Gneisenau: Sobald Schill nicht mehr bei euch ist, fällt euch der Firnis von der Seele.
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Gneisenau:... Wo ist das Freikorps? Gruben: Ich bin das Freikorps.
Lützow (wendet sich erschüttert
ab und besteigt langsam den Wall)
Gruben: Wie tolle Tiere haben wir uns gewehrt, an jede Schanze uns geklammert. Zweimal habe ich, was noch fechten konnte, ins Feuer geführt. Daß ich nicht im Blute bei den andern liege - die Toten wissens: meine Schuld ist's nicht. Gneisenau (senkt die Stirn, mit feierlicher Gebärde): Ich grüße das Freikorps. Särge kann ich Ihren Kameraden nicht mehr geben. Ich brauche alles Holz für die Schanzen. Aber über ihren Gräbern soll man das Lied von Prinz Eugen dem edlen Ritter blasen. Das ist mehr wert. .. ,"43. Bis 1939 entspricht das Feindbild der nationalsozialistischen Kriegsliteratur vorwiegend dem im Ersten Weltkrieg entwickelten Ideal gegenseitigen Respektes zwischen grundsätzlich gleichwertigen Gegnern. Das gilt für Witteks „Gruß des Fliegers" ebenso wie für Schauweckers „Panzerkreuzer". Auch in Α. E. Johanns „Zwischen Westwall und Maginotlinie" gibt es noch „Hochachtung" für militärische Leistungen der Franzosen 44 . Nach den Siegen über Polen und Frankreich jedoch wird die verächtliche Abwertung eines immer nur als Gruppe gesehenen Feindes üblich. In Kurt Hesses Sammelband „Uber Schlachtfelder vorwärts!" kontrastiert der Kriegsberichter Karl Mansfeld 45 „das afrikanische Völkergemisch" der geschlagenen französischen Armee mit „der in frischer, disziplinierter Haltung marschierenden deutschen Truppe"46. Die Minderwertigkeit der Feinde in rassischer wie in militärischer Hinsicht muß zur Erklärung des deutschen Erfolges herhalten: „Nur das Braun der Mäntel und die zweispitzigen Mützen zeigen einen einheitlichen Grundton in dem Zug der Franzosen. Dazwischen wimmelt es von den buntesten Farbklecksen. Senegalneger mit rotem Fes, Tonkinesen mit gelbem Turban, Marokkaner mit blauen Tüchern, dann wieder Franzosen, die nur den Ledereinsatz des fortgeworfenen Stahlhelms als Kopfschutz tragen, Soldaten, die sich mit Strohhüten, Filzhüten oder Mützen schon halb in Zivilisten verwandelt haben. So wogt es in lang auseinandergezogenen Trupps an der deutschen Marschkolonne vorüber" (S. 39). Die Abwertung des Gegners erfolgt insgesamt unter dem Verdikt „unsoldatisch", ein Begriff, der für eine Reihe von Vorwürfen steht. Nach Dwinger fehlt den Franzosen grundsätzlich die notwendige Härte, weil sie bei der Bergung ihrer Toten Verzweiflung zeigen und weinen: „Und wieder wurde mir klar, daß diese Menschen keine Krieger mehr sind, daß diese Nation aus dem Kampf ums Dasein abgetreten ist ..." (S. 75). Den Polen wird vorgeworfen, daß sie sich nicht an die „selbstverständlichen Grundregeln einer anständigen Kriegsfüh-
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Werner Deubel, Die letzte Festung. Schauspiel. Berlin 1942, zit. n. Ketelsen, Sein, S. 145. Johann, Westwall, S. 171. Dr. phil. K. Mansfeld (geb. 1897 in Aschersleben) trat im Mai 1933 in die N S D A P ein, vgl. Stockhorst, 5000 Köpfe, S. 284. Mansfeld, Straße, S. 40.
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rung" hielten47. Sie beantworteten ehrlichen Kampf und gute Behandlung der Gefangenen mit „feigen", „hinterlistigen" Partisanenmethoden: „Besonders übel war es, daß die Polen vielfach ihre Uniformen weggeworfen und statt dessen Zivilkleider angezogen hatten. Ohne als Soldaten kenntlich zu sein, beschossen sie dann ganz plötzlich unsere Truppen aus dem Hinterhalt. Damit mußte aufgeräumt werden" (S. 35). Zu den angeprangerten Vergehen des Feindes gehören auch Materialismus und sexuelle Gier. In seinem Gedicht ..Die Geschlagenen" aus der Lyriksammlung „Anders kehren wir wieder" von 1943 hebt Herybert Menzel die deutschen Krieger im hohen Ton von den angeblich besitzgierigen Besiegten ab, die sich ihr Elend selbst zuzuschreiben hätten: „Lange Kette der Wagen geschlagenen Volkes, Wir vorüber in Waffen, sie auf türmigen Betten, Elendem Plunder,... Zieht hin. Unsere Brüder erschlugt ihr feige. Von eurer Hand brannten die Schober, verkohlt Seht ihr sie wieder; nun klagt, klagt euch selbst an .. ," 4 8 . Ein weiteres Gedicht aus derselben Sammlung benennt den Feind konkreter. Unter dem Titel „Warschau" werden die überlebenden Bewohner der „zerdonnerten Stadt" als unbelehrbare Händler und Lüstlinge verurteilt. Die von der deutschen Wehrmacht verursachte totale Vernichtung läßt sie angeblich unbeeindruckt. Ihre Profit- und Geschlechtsgier geht buchstäblich über Leichen; daher erleiden sie nur die gerechte Strafe für moralische Verkommenheit: „Niederbrach die Gewalt. Noch im Schutt ist das Echo Sausenden Einschlags. Es reißt In den Ohren das Geschrille der Luft, Und der gebirgige Sturz der Häuser Kracht und paukt auf dein Herz, noch jetzt, Da das Feuer schon Ruß ward, Der Leichendunst sich verzog, das Überlebende Schon wieder schachert und lacht und lüstet Und alles dies leugnet; rot sind die Münder, Die Gier wuchert im Grauen; dies war reif, O, überreif zur Verdammnis" (S. 11). Beschimpft Menzel die Flüchtlinge im ersten Gedicht als „Zigeuner", so weist er im zweiten mit dem Wort „schachern" auf die Juden hin. In der Tat macht die Kriegsliteratur diese zum Sündenbock, auf den sämtliche bisher erwähnten Vorwürfe gegen den Feind in besonderer Weise zutreffen sollen. Nach den „Funkberichten aus dem polnischen Feldzug" sind Juden „schlechtes Material als Soldaten" und daher für den polnischen Zusammenbruch verantwortlich (S. 73). Infolge der „Hinterlist und Feigheit ihres Volkscharakters" haben sie als „treibende" Kraft die „Ermordung zahlloser Volksdeutscher" sowie die „Überfälle auf deutsche Soldaten im Hinterland" initiiert (S. 36). Auch die Plünde-
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Bley (Bearb.), Mann, S. 36. Menzel, Geschlagenen, in: Anders kehren wir wieder, S. 12.
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rung polnischer Dörfer geht auf ihre Rechnung (S. 37). In Frankreich hat ihre Geldgier sogar - wie Pleyer angesichts der Hinterlassenschaft einer „zusammengeschossenen ... Kolonne" behauptet - zu einer schlechten Ausstattung der Soldaten geführt: „Schon die wenigen Ausrüstungsstücke lassen erkennen, daß man sich - wie einer unserer militärischen Führer sagt - zu jedem Stück sechs Juden vorstellen müsse, die die Qualität vermindert und den Profit vermehrt haben" (S. 25). Die haßerfüllte Hetze mündet konsequent in die Aberkennung des Menschentums und den Vergleich mit Tieren. Dabei entpuppen die angeblich authentischen Tatsachenberichte deutscher Wehrmachtangehöriger im Radio sich als im voraus festgelegter, ideologischer Blick auf die fremde Welt und ihre Bewohner. Was die Offiziere in Schulungsheften, im „Stürmer" oder ähnlichem lasen, finden sie in Polen wieder und reichen es als Realität nach Deutschland zurück. Das beweisen die hier wie dort übereinstimmend auftauchenden Stichworte: „Die Freischützen, die unsere Truppe aus dem Hinterhalt angriffen und sich dann - allerdings vergeblich - davonzumachen suchten, waren ein Gesindel, das einen Anblick gewährte, gegen den die bekannten Karikaturen des Stürmers über die Ostjuden geradezu Bilder von Schönheit sind. Das waren keine Menschen mehr, das waren - möchte ich sagen - Lebewesen auf zwei Beinen. Selbstverständlich haben wir daraufhin scharf durchgegriffen. Bei der Durchsuchung der Juden stellte sich übrigens heraus, daß sie den Ort regelrecht geplündert hatten. Eines der Judenweiber schleppte einen ganzen Sack voll Zloty mit Silbergeld mit sich! Wenn man diese Gesellschaft sah, so hatte man den Eindruck, daß es keine Menschen mehr, sondern Tiere waren. Man sah ihren Gesichtern die Verschlagenheit und Gemeinheit an" (S. 36 f.). Das Negativbild der Feinde liefert die notwendige Folie für das strahlende Bild der deutschen Sieger, die alles Recht, alle Moral, alle Ordnung, Schönheit, ja selbst die Zukunft auf ihrer Seite haben. Ihr Sieg steht aufgrund ihres biologisch-rassischen Wertes fest. Wenn die feindlichen Gefangenen das nicht einsehen, „negieren" sie nach Dwinger die Weltgeschichte und müssen „vernichtet" werden: „Aber sie begriffen es nicht, dieser Krieg war für sie wie jeder andere, von seinem naturgesetzlichen Ablauf, von seinem im Biologischen steckenden Urgrund, von seiner damit verbundenen geschichtlichen Wende - nicht einer hatte sich darüber jemals einen Gedanken gemacht...! Es hilft nichts, dachte ich bedrückt, wir müssen sie vernichten, denn sie negieren die Weltgeschichte ..." (S. 20f.). In Herybert Menzels Gedicht „Die Geschlagenen" schätzen die deutschen Sieger sich selbst so hoch ein, daß sie für ihre unwürdigen Feinde keinen Haß und erst recht kein Mitleid übrig haben. Solche Empfindungen würden ihr Selbstwertgefühl herabsetzen: „Rechnet mit Milde nicht, weil euch kein Blick trifft Des Hasses. Das wäre der Mühe zuviel und der Ehre. Gleiches mit Gleichem zu ahnden, sind wir zu wert uns. Zieht hin, die ihr die Waffen zerschlugt, den Rock euch vom
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Leib rißt und nun fahrt wie Zigeuner, Den Topf des Unrats als Fahne" (S. 12). Im Lied „Bomben auf Engelland" aus dem Luftwaffenfilm ..Feuertaufe" von 1940 werden die deutschen Flieger dann auch noch zu Richtern über die anderen Völker erhöht. Die abschließende Strophe lautet: „Wir stellen den britischen Löwen zum letzten entscheidenden Schlag. Wir halten Gericht. Ein Weltreich zerbricht. Das wird unser stolzester Tag" 4 9 ! Die Vorstellung von der richterlichen Gewalt der deutschen Sieger erfährt in Menzels Gedicht „Warschau" eine weitere hybride Steigerung. Hier maßt sich das lyrische Sieger-Ich stellvertretend die Rolle des alttestamentlichen Gottes an, der Schuldige straft und Gerechte verschont. In Warschau findet es nur Verworfene. Die Zerstörung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht kann daher als verdientes Strafgericht ausgegeben werden. Den Siegern steht es zu, sie mitleidlos und ruhigen Gewissens unter ihre Stiefel zu treten: „Dies allein macht dich stumm. Und doch Stehst du schaudernd, nicht aus Mitleid mehr, Nein: suchend ein Herz, das nicht gleicht Dieser zerdonnerten Stadt, das wie die Stadt doch noch Birgt Tempel, verschonte, so Gott?! Aber ein roter Rock tanzt wie der Mohn Auf Trümmern. Die vergehende Sonne selbst Lacht aus dem Spiegel, der blieb hoch an Zersprungener Wand, eitel, wir zwingen zum Gleichschritt wieder uns alle, wir Sieger. Stiefel, bestaubter, durch Staub weiter! Du trittst Nichts, was verworfen nicht war" (S. 11). Als oberster Maßstab auf nahezu allen Gebieten war das Soldatische im „Dritten Reich" sakrosankt. Jeder, der es wagte, die Wehrmacht oder den Krieg öffentlich zu kritisieren beziehungsweise abzulehnen, mußte mit Sanktionen rechnen. Unmittelbar nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 brachte das Berliner Kabarett „Katakombe" in seinem Frühjahrsprogramm einen Sketch mit dem Titel ..Fragment vom Schneider". Werner Finck ließ sich darin als Kunde von einem Schneider (Ivo Veit) einen Anzug anmessen. Das zivile Verkaufsgespräch war doppeldeutig angelegt, so daß es immer wieder militärisch-politisch verstanden werden mußte. Mit diesem Kunstgriff gelang es Finck, die Militarisierung und Uniformierung NaziDeutschlands, sein Hinarbeiten auf einen Krieg und die Ordenssucht Hermann Görings verdeckt-satirisch aufs Korn zu nehmen: „Werner Finck kommt als Kunde zum Schneider SCHNEIDER. Womit kann ich dienen?
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Bomben auf Engelland. Lied und Marsch, in: Breuer (Hrsg.), Soldaten-Liederbuch, 3, S. 8.
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FINCK beiseite. Spricht der auch schon vom Dienen? Laut. Ich möchte einen Anzug haben ... Vielsagende Pause. Dann nachdenklich. Weil mir was im Anzug zu sein scheint. SCHNEIDER. Schön FINCK. Ob das so schön ist - Na, ich weiß nicht... SCHNEIDER ein wenig ungeduldig. Was soll's denn nun sein? Ich habe neuerdings eine ganze Menge auf Lager. FINCK. Auf's Lager wird ja alles hinauslaufen. SCHNEIDER. Soll's was Einheitliches oder was Gemustertes sein? FINCK. Einheitliches hat man jetzt schon genug. Aber auf keinen Fall Musterung! SCHNEIDER. Vielleicht etwas mit Streifen? FINCK. Die Streifen kommen von alleine, wenn die Musterung vorbei ist. Resigniert. An den Hosen wird sich ein Streifen nicht vermeiden lassen ... SCHNEIDER.Wie wünschen Sie die Revers? FINCK. Recht breit, damit ein bißchen was draufgeht. Vielleicht gehen wir alle mal drauf. Der Kronprinz hat ja gesagt: Immer feste druff ... . Vor allem des Schneider-Sketches wegen ließ Joseph Goebbels die Katakombe am 10. Mai 1935 polizeilich schließen. Das Deutsche Nachrichtenbüro begründete die Maßnahme in einer Meldung vorrangig damit, daß man „Militär- und Parteiuniformen ... verunglimpft" habe und „die Wehrpflicht in den Schmutz gezogen" worden sei 51 . Werner Finck wurde verhaftet und mit einigen Kollegen für sechs Wochen in das Konzentrationslager Esterwegen in Friesland gebracht. Danach hatte er ein einjähriges Arbeitsverbot. Aber als er wieder Schwierigkeiten mit dem Propagandaminister bekam und am 3.2.1939 aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, d.h. mit endgültigem Arbeits- und Auftrittsverbot belegt wurde, meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, um dort Schutz zu finden. Er wurde eingezogen, obwohl Goebbels alles daransetzte, „ihn für wehrunwürdig erklären zu lassen" 52 . Auch andere INNERE EMIGRANTEN haben die Institution Wehrmacht im „Dritten Reich" als persönlichen Zufluchtsort vor politischer Verfolgung angesehen. Gottfried Benn, der sich nach anfänglichem Engagement für „den neuen Staat" schon 1935 als Sanitätsoffizier reaktivieren ließ, sprach von „einer aristokratischen Form der Emigrierung" 53 . Er hatte sich zu diesem Schritt gezwungen gesehen, weil der NS-Arztebund ihm als angeblichem Juden und als expressionistischem Dichter das Recht der Attestausstellung entzog und er folglich seine ärztliche Privatpraxis aufgeben mußte. In der Wehrmacht überstand er 1936/37 den vehementen Angriff der SS-Zeitung „Das Schwarze Korps" sowie die Abstempelung zum „Kulturbolschewisten" durch den SS-Maler Wolfgang
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Finck, Fragment, S. 3. Deutsches Nachrichtenbüro: „Die Kabaretts .Katakombe' und .Tingeltangel' polizeilich geschlossen. Wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Einrichtungen", in: Das-12 Uhr-Blatt 17, Nr. 110, 11. 5. 1935, S. 2. Finck, Narr, S. 123. Schreiben Benns, 12. 12. 1934, an Ina Seidel, in: Benn, Briefe, S. 62.
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Willrich 54 . Ernst Jünger betrachtete angesichts der Bedrohung durch die Publikation seines kritischen Buches „Auf den Marmor-Klippen" (1939) die Armee ebenfalls als „Refugium" und „Ort größerer Sicherheit" 55 . Er und sein Verleger brachten daher auf der Rückseite des Titelblattes einen speziellen Vermerk an, daß der Autor die letzte Durchsicht schon „beim Heer" vorgenommen habe. Als das weitere Erscheinen des Werkes durch die Verweigerung von Papier unterbunden werden sollte, sorgte der Militärbefehlshaber in Frankreich, KarlHeinrich von Stülpnagel, dafür, daß 1942 eine „Wehrmachtsausgabe" der „Marmor· Klippen" in Paris zustande kam 56 . Im Falle Jochen Kleppers, der mit einer Jüdin verheiratet war, funktionierte der Schutz des Kriegseinsatzes allerdings nicht, so sehr er selbst auch daran glauben wollte. Wegen seiner „nichtarischen Ehe" wurde er im Herbst 1941 nach knapp einjährigem Dienst an der Ostfront als „wehrunwürdig" entlassen, obwohl seine Vorgesetzten sich für ihn verwendeten. Ein Jahr später beging er mit Frau und Stieftochter Selbstmord 57 . Trotz relativer persönlicher Sicherheit in der Armee schätzte Ernst Jünger die Wehrmacht nicht als einen von der nationalsozialistischen Partei und Politik streng getrennten Bereich ein. Der Autor war Anfang 1941 in den Kommandostab des Militärbefehlshabers in Frankreich als Hauptmann zur besonderen Verwendung (z. b. V.) versetzt worden, nachdem Generalstabschef Oberst Hans Speidel ihn gegen den Willen Wilhelm Keitels, des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, angefordert hatte. Zu den „historiographischen Aufgaben", die Speidel Jünger übertrug 58 , gehörte - wie dieser in seinen Tagebüchern „Strahlungen" (1949) darlegte-die Bearbeitung der „Geheimakten" über „den Kampf um die Vorherrschaft in Frankreich zwischen Heer und Partei" 59 . Dabei ging es beispielsweise um den Streit von militärischer und politischer Führung über die Frage der Erschießung französischer Geiseln. Der Kreis um Oberst Speidel bemühte sich unter größten Schwierigkeiten, in der Wehrmacht einen unabhängigen Bereich mit humanen Gesetzen zu erhalten: „Unter seiner [Speidel] Aegide bildeten wir hier im Innern der Militärmaschine eine Art von Farbzelle, von geistiger Ritterschaft; wir tagen im Bauche des Leviathans und suchen noch den Blick, das Herz zu wahren für die Schwachen und Schutzlosen" (13. 11. 1941, S. 64). Mit fortschreitendem Krieg erkannte Jünger, daß die allgemeine Korrumpierung Deutschlands auch die Armee erfaßte. Während einer Inspektionsreise an den Südabschnitt der russischen Front von November 1942 bis Januar 1943 wurde ihm der Abstand zwischen der Wehrmacht und dem alten Reichsheer aus dem Ersten Weltkrieg überdeutlich. Anlaß für diesen Vergleich waren die Erzählungen eines Generals bei der „Sylvesterfeier im Stabsquartier" über „ungeheuerliche Schandtaten des Sicherheitsdienstes nach der Eroberung von Kiew" und über „Giftgastunnels ..., in die mit Juden besetzte Züge einfahren". 54 55 56
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Willrich, Säuberung, S. 23. J ü n g e r J a h r e , S. 1 4 8 f . (1. 9. 1945). A u c h Jüngers Kriegstagebuch „Gärten und Straßen" (1942) erschien als Wehrmachtausgabe in Paris (1942). Klepper, Schatten, S. 9 5 5 - 9 5 7 . Speidel, Zeit, S. 110. Jünger, Strahlungen, S. 99, 73.
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Jüngers Abscheu vor diesen Verbrechen und sein Eintreten für die Menschenrechte des Individuums fanden in den Tagebüchern vermittels bereits aus den „Marmor-Klippen" bekannter Motive und Begriffe ihren Ausdruck. Auch dort schändeten die Techniker der Macht den Menschen in ihren „Schinderhütten": „Das sind Gerüchte, doch sicher finden Ausmordungen im größten Umfang statt. Ich dachte dabei an die Frau des guten Potard in der Rue Laperouse, um die er sich damals so ängstigte. Wenn man in solche Einzelschicksale hineingesehen hat und dann die Ziffern ahnt, in denen die Ermordung in diesen Schinderhütten sich vollzieht, eröffnet sich die Aussicht auf eine Potenzierung des Leidens, vor der man die Arme sinken läßt. Ein Ekel ergreift mich dann vor den Uniformen, den Schulterstücken, den Orden, dem Wein, den Waffen, deren Glanz ich so geliebt. Das alte Rittertum ist tot, wie es noch in den Kriegen Napoleons, ja noch im Weltkrieg der Macht den Adel gab. Die Kriege werden von Technikern geführt. Der Mensch hat also jenen Stand erreicht, der sich seit langem angedeutet, und wie ihn Dostojewski im Raskolnikow beschrieben hat. Dann sieht er seinesgleichen als Laus, als Ungeziefer an. Gerade davor muß er sich hüten, wenn er nicht in die Insektensphäre hineingeraten will. Es gilt ja von ihm und seinen Opfern das alte, ungeheure: ,Das bist Du'" (31. 12. 1942, S. 250). Im „Dritten Reich" wurde die große Tradition der Wehrmacht unwiederbringlich mißbraucht und entehrt. Hitler meinte, verdienstvolle Militärs aus dem Ersten Weltkrieg zu würdigen, wenn er eroberte Städte im Zweiten nach ihnen benannte. Da er dort aber Tötungsfabriken für Menschen einrichten ließ, entstellte er die Erinnerung an sie und ihre Taten. In diesem Zusammenhang wies Jünger auf die Benennung der polnischen Stadt Lodz nach dem Infanteriegeneral Karl Litzmann hin, der hier 1914 einen entscheidenden Durchbruch erzielt hatte: „Am Namen ,Litzmannstadt' wird deutlich, welche Ehrungen Kniebolo [Hitler] zu spenden vermag. Er hat den Namen dieses Generales, den Schlachtensiege zierten, auf alle Zeiten mit dem einer Schinderhütte verknüpft. Das war mir doch von Anfang an deutlich, daß seine Ehrungen am meisten zu fürchten waren ..." (16. 10. 1943, S. 434). Rechtlosigkeit und Willkür erreichten gegen Kriegsende den innersten Kern der Wehrmacht. Das wurde für Jünger an der Behandlung von Deserteuren ablesbar. Zu seinem Entsetzen äußerte ein Bataillonskommandeur ihm gegenüber die Absicht, er werde jeden Flüchtling sofort nach seiner Ergreifung „vor die Front führen lassen ..., um ihn dort mit eigener Hand ,zu erledigen'" (26. 5. 1944, S. 521 f.). Solche menschenverachtenden Methoden, die Exekution ohne jedes Gerichtsverfahren als angemessene Strafe für Soldaten, hatte Heinrich Himmler in einem Vortrag empfohlen. Jünger überschrieb das vom Reichsführer-SS zur Nachahmung aufgestellte Beispiel notwendiger Härte in der Wehrmacht mit dem Titel „Uber das Grab exerziert": „Rittmeister Adler kommt von einer Tagung im Hauptquartier zurück. Dort hatte auch Himmler einen Vortrag gehalten. Man müsse hart sein - so sei neulich ein Unteroffizier desertiert und zu seinem Bataillon zurückgebracht worden, das auf dem Kasernenhof exerziert habe. Man sei sofort zum Urteil geschritten, habe den Mann sein Grab graben lassen, ihn erschossen, die Erde
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darübergeworfen und festgestampft. Dann sei das Exerzieren fortgegangen, als ob nichts geschehen sei. Das ist wohl einer der grauenhaftesten Züge, die ich [E. Jünger] aus dieser Schinderwelt vernahm" (2. 9. 1944, S. 555). Eine Reihe von Schriftstellern der Inneren Emigration hat dominante Themen und Motive der nationalsozialistischen Kriegsliteratur wie vorbildliche Führergestalt, Militärtechnik, Kameradschaft, Heldentod oder Feindbild aufgegriffen und kritische Gegenentwürfe zu gestalten versucht. 1938 behandelten beispielsweise sowohl Gottfried Benn als auch Georg von der Vring das Thema des militärischen Führers, ersterer in einem Gedicht mit dem Titel ..General", letzterer in dem Roman „Der Goldhelm oder das Vermächtnis von Grandcoeur". Der historisch getarnte Roman wurde publiziert, das aktuelle Gedicht kam erst 1958 postum heraus. Benn hatte es am 30. 10. 1938 seinem Freund F. W. Oelze zugeschickt. Durch seine Tätigkeit als Oberstabsarzt für die Heeressanitätsinspektion in Berlin war der Autor über Hitlers Kriegsentschlossenheit und seine Angriffspläne unterrichtet, die das Münchener Abkommen nur kurzfristig aufhalten konnte. Sein Gedicht gestaltet satirisch die Befehlsausgabe eines Generals an seine Kommandeure im neuen Angriffskrieg. Bei dem Sprecher handelt es sich oberflächlich gesehen um einen im nationalsozialistischen Sinne vorbildlichen Soldaten, der den Ersten Weltkrieg als „Zugführer" mitgemacht hat und im bevorstehenden „Kampfwagenangriff" immer „im vordersten Tank" zu sein verspricht. Auch hat er Organisation und Technik eines Uberfalls auf den nichtsahnenden Feind perfekt im Griff, wie seine militärisch-knappe, zweckorientierte Sprache beweist. In den Kommandeuren sieht er bloße Befehlsempfänger: „keine Fragestellung! Geschieht!" Der menschliche Faktor aber ist im Planspiel des Generals nur Mittel zum Zweck des Sieges. Deutlich entlarvt Benn die nationalsozialistische Verklärung der Fürsorge des Führers für seine Männer, der Gefolgschaft und Kameradschaft als ideologische Lügen. Die einfachen Infanteriesoldaten werden auf den „letzten zweihundert Metern", „wo die Maschinen schweigen müssen", bedenkenlos als Kanonenfutter preisgegeben: „Vernichtung! Ein Rausch die Gräben!" Ihre angeblich von den Führern entfachte Kampfbegeisterung wird durch vermehrten Alkoholgenuß und die Angst vor der Feldpolizei erzeugt. Auch der General führt nicht aus idealistischen Gründen für Volk und Vaterland, sondern aus handfesten materiellen Interessen Krieg. Daher legt er schon im voraus die Grundstückspreise für das eroberte Feindesland fest und malt sich die Inbesitznahme von fremden Tresoren und Maschinen aus. Benn entlarvt den vorbildlichen Führer nationalsozialistischer Prägung als zynischen Menschenverächter und skrupellosen Materialisten, der den Sieg um jeden Preis will und daher vor den unmenschlichsten Mitteln nicht zurückschreckt: „Meine Herren - : Stichwort: Reginald! Spannungsstufe III, Sofortmaßnahmen - ! Zwanzig Uhr Verladung der beschleunigten Divisionen! Wozu die ganze Chose in Bewegung geht keine Fragestellung! Geschieht! Spähtrupps, mechanisierte Abteilungen,
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Heidrun Ehrke-Rotermund mot.-, t-mot.-, Raupenschlepper durch die blaue Zone, wo die Maschinen schweigen müssen, die letzten zweihundert Meter für die Infanterie! Vernichtung! Ein Rausch die Gräben! Wenn Sie wollen, vorher doppelte Rumration. Hinweis auf die Feldpolizei. Gefangene - Sie verstehn! Auf keinen Fall schriftlichen Befehl darüber! Der Materialwert der Angrenzerländer ist Reichsmark zehntausend für den Morgen, in der Avenue de l'Opera und den Docks von Bizerta wesentlich höher, demnach Bomber nie zum Luftkampf alle Last auf Produktionszentren! «60
Auch der durch den Antikriegsroman „Soldat Suhren" 1927 bekannt gewordene Georg von der Vring griff im „Dritten Reich" das Thema des soldatischen Führers auf. Sein Roman ..Der Goldhelm oder das Vermächtnis von Grandcoeur" (1938) stand nationalsozialistischen Kriegsromanen auf den ersten Blick nahe, unterschied sich aber in den wesentlichen Punkten fundamental von ihnen. Seine Publikation fiel in die Zeit des zwischen 1936 und 1938 staatlich geförderten „Verständigungsromans", der im Zeichen von Berliner Olympiade und Pariser Weltausstellung die angestrebte politische Entspannung mit dem Westen, insbesondere mit Frankreich, unterstützen sollte. Von der Vrings Roman handelt von Kriegsgefangenen verschiedener Nationalität im Augenblick der deutschen Niederlage bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Compiegne am 11. November 1918. In einer Baracke des Schweizer Internierungslagers Grandcoeur treffen vier Offiziere, zwei deutsche, ein ungarischer aus der verbündeten k. und k. Armee Österreichs und ein feindlicher französischer Leutnant zusammen. Der neunzehnjährige deutsche Fähnrich Clemens Weißgraf ist mit „seinem Hauptmann" 61 aus einem französischen Gefangenenlager geflohen, aber in der Schweiz aufgehalten worden. Hauptmann Eggers stellt sich in der Sicht des „begeisterten Jünglings" (S. 65) ganz im nationalsozialistischen Sinne als „außerordentlicher Soldat [dar], von dem Sagen berichtet hatten, damals, als er noch in der Front stand; den die Soldaten der fremden Divisionen kannten; der nichts... nie und nimmer nichts gefürchtet hatte" (S. 68). Für Weißgraf verkörpert Eggers auf exemplarische Weise Deutschland. Dieser selbst aber hat längst neue Wertmaßstäbe entwickelt und sich von Krieg und Kämpfertum distanziert. Vor Ferdinand Hodlers Fresko „Rückzug von Marignano" in der Kommandantur erkennt er das Zerstörerische der soldatischen Ideale: 60 61
Benn, General, in: ders., Gedichte, S. 429. Vring, Goldhelm, S. 67.
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„ ... so wurde es erklärlich, daß der Soldat der Westfront, der jahrelang mit dem Trommler Mors Arm in Arm gegangen war, den Atem anhielt und einen Händedruck von ganz woanders her empfing, nämlich vom heiligen Leben" (S. 175). Widerspruch erfuhr auch die in der nationalsozialistischen Kriegsliteratur betriebene Verherrlichung der Militärtechnik und des sich an sie perfekt anpassenden entindividualisierten Kämpfers, der ihr Vernichtungspotential bedenkenlos nutzt und aus seiner Effektivität ein gesteigertes Elite- und Siegesbewußtsein ableitet. 1941, während seiner Rekrutenzeit bei der Luftwaffe, schrieb der Gymnasiallehrer, Weltreisende und Schriftsteller Gerhard Nebel einen kaum mehr als zwei Seiten langen Aufsatz mit dem Titel ..Auf dem Fliegerhorst". Peter Suhrkamp publizierte diesen im Oktober desselben Jahres in der „Neuen Rundschau". Sein Erscheinen hatte „die schwerste Gefährdung der Zeitschrift im Dritten Reich" zur Folge62. Nebel, der inzwischen als Dolmetscher der Luftwaffe in Paris diente, war durch seine Zugehörigkeit zur Wehrmacht dem direkten Zugriff der SS entzogen. Jedoch sorgten die Stabsoffiziere der Luftflotte in Frankreich dafür, daß seine gerade ausgesprochene Beförderung zum Gefreiten vorläufig zurückgenommen und er in eine Baukompanie auf der Kanalinsel Alderney versetzt wurde. Im Essay „Auf dem Fliegerhorst" beobachtet ein nicht weiter charakterisierter Sprecher „am Rande des Rollfeldes" die bei „schönem, ruhigem Wetter" startenden und landenden Flugzeuge. Nur durch die Uberschrift wird angedeutet, daß es sich um Militärmaschinen handeln muß. Der Sprecher sieht sich durch seine Beobachtungen zu dem Schluß veranlaßt, „der allgemein geübte und auch in den amtlichen Sprachgebrauch übergegangene Vergleich der Flugzeuge mit den Vögeln [sei] falsch": „ ..., umgeben vom Lärm der Maschinen und ihm doch entrückt, wurde mir klar, daß es sich bei diesen Erzeugnissen der Technik nicht um künstliche Vögel, sondern um Insekten handelt. Die steife Art des Fluges erinnerte mich an die großen afrikanischen Heuschrecken, die gelbe Bänderung der Rümpfe und Flügel, aber noch mehr eine heute besonders spürbare Bösartigkeit in Gebaren und Ton ließ mich an Wespen denken. Der Flug der Vögel ist weich, blutvoll, schwebendes und schwingendes Leben in Luft und Wind; hier aber wird man an die starren und gleichförmigen Bewegungen vieler Kerfe erinnert, und man stößt auf die schwirrende Unbeholfenheit des Käferfluges"63. Nebel nimmt mit seinem Vergleich die in der nationalsozialistischen Kriegsliteratur gängige Ästhetisierung und Verlebendigung der Waffentechnik zurück und hebt statt dessen ihre automatenhafte Künstlichkeit hervor. Diese Abwertung bezweckt - wie es ausdrücklich heißt - eine Entlarvung der „suspekten" Vogel- und Raubvogelmetaphorik als „Masken ..., mit denen die wahren Verhältnisse verdeckt werden sollen" (ebd.). Denn die Militärmaschinen dienen eben nicht den Menschen, dem Leben oder der Schönheit, sondern der Tötung und Vernichtung. Daher Nebels Hinweise auf die wespenhafte „Bösartigkeit" 62 63
Schwarz, Zeitgespräch, Sp. 1446. Nebel, Fliegerhorst, S. 606.
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der Fluggeräte und das „aggressive Geräusch der Motoren", d.h. auf die Bedrohlichkeit der Waffentechnik für den Menschen: „Nun darf man das Flugzeug wohl als höchstes Erzeugnis der Technik ansprechen, sowohl wegen seiner Geschwindigkeit als auch wegen der mit ihm gesetzten Möglichkeiten der Zerstörung. Denn die beiden Hauptanliegen des technischen Geistes, Raum und Zeit zu überwinden und umfassende Vernichtungen durchzuführen, werden hier in einzigartiger Kombination erfüllt" (ebd.). Man braucht nur die Nebel gewiß bekannte erste Strophe des Liedes ..Bomben auf Engelland" aus dem Luftwaffenfilm „Feuertaufe" von 1940 heranzuziehen, um zu wissen, gegen was der Autor anschrieb: gegen eine rauschhafte Entrükkung über alles Alltäglich-Menschliche hinaus in der Rolle des majestätischen Raubvogels, die es den Fliegern ermöglichen soll, jeden konkreten Gedanken an die Vernichtung von Menschen oder die Möglichkeit des eigenen Todes auszublenden: „Wir fühlen in Horsten und Höhen des Adlers verwegenes Glück! .. ," 64 . Die in der nationalsozialistischen Kriegsliteratur so wichtige soldatische Kameradschaft wird von den Inneren Emigranten ebenfalls thematisiert - so in Ernst Penzoldts im November 1940 erstmals veröffentlichter Novelle „Korporal Mombour" oder in Jochen Kleppers ..Tagebüchern und Aufzeichnungen aus dem Kriege", die unter dem Titel „Überwindung" 1958 postum herauskamen. Klepper berichtet darin von seiner knapp zehnmonatigen Militärzeit an der Ostfront im Jahre 1941. Seine scharfen Beobachtungen differenzieren das wirklichkeitsferne kollektive nationalsozialistische Kameradschaftspathos. Deutlich unterscheidet der Autor zwischen der persönlichen Kameradschaft seines engeren Umfeldes und der soldatischen Kameradschaft insgesamt. Obwohl er als Verfasser der von den Wehrmachtoffizieren überaus geschätzten historischen Darstellung „Der Vater. Roman des Soldatenkönigs" (1937) 65 eine Sonderstellung eingeräumt bekommt, erregt sein „Herrenleben" (S. 42) keinen Unwillen bei den einfachen Soldaten (S. 42, 38). Klepper kann sich im Gegenteil über die „täglich schöner werdende Kameradschaft" (S. 41) mit ihnen freuen. Völlig anders sieht es im Ganzen der Wehrmacht aus. Spannungen prägen nicht nur das Verhältnis zwischen den verschiedenen Dienststellen von „Kommandantur, Adjutantur, Stabskompanie" (S. 64), sondern bestimmen auch die in der nationalsozialistischen Kriegsliteratur so überschwänglich gefeierte Kameradschaft zwischen Führern und einfachen Soldaten. Der Schriftsteller registriert hier zu seinem Bedauern soziale Konfrontationen und spricht vom „Allzumenschlichen", das „also auch nahe der Front weiter"gehe 66 : „Die Allüren des Offizier-Korps bei der Truppe immer verhaßter; sehr, sehr schade, da so viel Werte hier wie dort. Nichts von Frontkameradschaft zwi-
64 65
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Breuer(Hrsg.), Soldaten-Liederbuch, S. 7 f. Klepper, Überwindung, S. 4 3 , 4 4 , 52 f., 8 9 , 9 8 , 1 0 8 . - In dem v o n altpreußisch-christlichen Idealen bestimmten Roman über Friedrich Wilhelm I. erscheint die Armee als Garant der Sicherheit des Staates. Ebd.; vgl. auchS. 101.
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sehen Offizier und Mann. Mein Fall ist ja etwas ganz anderes. Leider" (5. 8. 1941, S. 127)67. In Ernst Penzoldts Novelle ..Korporal Mombour. Eine Soldatenromanze" (1940), deren Rahmenhandlung im Zweiten Weltkrieg und deren Binnenerzählung in den Befreiungskriegen spielt, entspricht die dargestellte Kameradschaft ebensowenig nationalsozialistischen Vorstellungen. Die Einleitung zeigt fünf Soldaten in einem Lazarett, nicht im Kampf an der Front. Es sind keine Verwundeten, sondern ganz normale Kranke, die die Erfahrung der Schwäche und des Uberlebens einer schweren Krankheit eint. Sie stehen auch nicht in einem militärischen Verhältnis von Befehl und Gehorsam, sondern in einem Gesprächszusammenhang. Um sich die Zeit zu vertreiben, haben sie „Fabulierabende" eingeführt, an denen ein vorher bestimmtes Thema „reihum" abgehandelt wird. Dabei prallen „die Meinungen ... hart aufeinander"68. Nur einer ist „ein begeisterter, ja rabiater Soldat" (S. 529), bei dessen Charakterisierung Anklänge an das aggressive Nazi-Vokabular auftauchen. Zwei Gruppenmitglieder, ein Humanist und ein „ewig verliebter Panzerschütze" (S. 528), werden ausdrücklich „unsoldatisch" genannt, zwei weitere tendieren zum Künstlerischen: Musik und Humor. Ihre Meinungsvielfalt wird nun nicht etwa auf ein Ziel hin ausgerichtet und aufgehoben, sondern ausdiskutiert und betont: „Auch zu hitzigen Religionsgesprächen kam es natürlich, wobei es sich herausstellte, daß unter Religion jeder etwas anderes verstanden wissen wollte. Kapitän Huber setzte sie der Natur gleich und der junge Mombour der Liebe. Für den streitbaren Willi war sie gleichbedeutend mit Vaterland, während unser einbeiniger Humanist wunderlicherweise den christlichen Standpunkt vertrat. Der alte griesgrämige Feldwebel meinte gar, die alten Griechen und Römer hätten nicht so ganz unrecht gehabt, wenn sie für alles ... eine besondere Gottheit sich dachten ..." (S. 529). Nur einer in der soldatischen Gemeinschaft des Krankenzimmers sieht im „Vaterland" den höchsten quasi-religiösen Wert. Die nationalsozialistische Vorstellung einer gleichermaßen auf Volk, Führer und Fahne eingeschworenen Soldatenkameradschaft erscheint von hier aus als ideologische Fiktion. Gerade wo der Erzähler von der Einigkeit der fünf so unterschiedlichen Menschen redet, stellt er ihre jeweilige Individualität heraus. Zwar wollen alle ihrem „Leben und damit auch dem Tod einen menschenwürdigen Sinn ... geben", aber „ein jeder [will es] auf seine Weise" tun (S. 528). Während Penzoldt und von der Vring der nationalsozialistischen Verherrlichung des Heldentodes und der Todesbereitschaft durch die Schilderung einer dezidierten Hinwendung von Soldaten zum Leben entgegenzuwirken trachteten, analysierte Gerhard Nebel in seinem schon erwähnten Essay „Auf dem Fliegerhorst" (1941) das „eigentümlich kalte und leere Verhältnis zum Tode ..., das Ernst Jünger als .mechanische Todesverachtung' bezeichnet hat" (S. 607). Es ist ihm zufolge typisch für den „das Insekt nachahmenden Menschen" des „technischen Säkulums" (ebd.). Ziel dieser „Vergewaltigung seines Wesens und seiner Geschichte" (S. 606) soll die Hervorbringung von „harten, zweckgebun67 68
Vgl. auch ebd., S. 134. Penzoldt, Korporal, S. 528.
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denen und gepanzerten Gestalten" sein (S. 607), die für den „Lebenskampf" ebenso gut gerüstet sind wie das seinem untrüglichen Instinkt folgende Insekt: „Denn w o es sich um das Außere, um Leistung, organisierte Masse, um Produktion und Zerstörung handelt, da ist das Kerbtier durch seinen unermüdlichen Fleiß, seine mechanisierte Todesverachtung, seine alles Einzelwesen aufhebende Staatlichkeit, durch seine massenhafte Vermehrung und durch die unbeirrbare Sicherheit seines Tuns allen lebenden Wesen überlegen" (ebd.). Die insektenhafte „Todesverachtung und die sich auf sie gründende Art des Sterbens" entsteht, wenn die metaphysische Qualität des Todes geleugnet wird. Wo die Gemeinschaft alles, das Individuum aber nichts gilt, wird sein Tod zu einer „gleichgültigen und unwesentlichen Sache"; er verliert seinen Sinn. Das Fazit von Nebels Angriff auf das Zentrum nationalsozialistischer Ideologie lautet, daß der sich für den Staat opfernde Soldat seiner Selbstbestimmung verlustig geht und zum unreflektierten „Werkzeug" verkommt: „Der Insektenstaat verwirklicht innerlich die Einheit der Qualle, wenn er auch äußerlich die Vielheit der Herde beibehält, und so muß man in der T o desverachtung seiner Krieger die Unbekümmertheit des Werkzeuges sehen, das über seine Verwendung, seinen Einsatz und seine Vernichtung nicht selbst zu entscheiden hat und zu entscheiden begehrt" (S. 608). Nicht weniger kritisch als Nebel behandelte Stefan Andres 1940 in seiner zur Zeit der französischen Revolutionskriege spielenden längeren Anekdote „Der Tod als Instrukteur" das Thema des soldatischen Opfertodes. Publikationsort war die ab 1939 im besetzten Polen erscheinende nationalsozialistische „Krakauer Zeitung", in der Kritisches nur indirekt formuliert werden konnte. Andres bediente sich daher der während des „Dritten Reiches" in der Literatur häufig benutzten historischen Analogie. Im Mittelpunkt seiner Anekdote steht der „junge Kapitän Muiron", der mit seiner Kompanie siegreich in die Forts der belagerten Stadt Toulon eindringt (1794), dann aber von einem „verrückten Rückzugskommando" des unentschlossenen Generals Doppet „aus dem bereits eroberten F o r t . . . zurückgezerrt" wird 6 9 . Zwar gehorcht Muiron dem militärisch sinnlosen Befehl, doch läßt er seine Kompanie danach antreten und auf sich selbst schießen. Die letzten Worte des Sterbenden lauten: „Bravo, ich bin also doch anscheinend ein Offizier!" (ebd.). In einem Brief an Doppet bezeichnete Muiron seine Tat als „Instruktionsstunde" für den General und zwei staatliche Aufpasser, die „die Brauchbarkeit" der Soldaten und die „tadellose Mechanik der Maschine ..., der Sie vorstanden" demonstrieren sollte. Der Artilleriegeneral Buonaparte kommentiert das „merkwürdige Ereignis" zum Schluß mit folgender Bemerkung an die vor dem toten Muiron präsentierende Kompanie: „Welches Unglück, Soldaten, ihr habt einen künftigen Marschall der Franzosen erschossen" (ebd.). Auf der Handlungsebene scheint Andres' Geschichte vom Selbsterschießungsbefehl eines Offiziers, dessen erfolgreicher Kampf im Augenblick des „tödlich verzückten Siegesgeschreis" (S. 144) durch seinen „feigen" Vorgesetzten abge69
Stefan Andres, D e r T o d als Instrukteur, in: Krakauer Zeitung 2, 23.Λ24. 6. 1940, zit. n. O r lowski, Krakauer Zeitung, S. 145.
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brochen wird, nationalsozialistischen Vorstellungen von soldatischer Ehre und Opferbereitschaft zu entsprechen; zumal Napoleon selbst das ehrende Schlußwort spricht. Auf einer weiteren Ebene aber regt der Text durch gewisse Ungereimtheiten zum Nachdenken und zu kritischer Sicht an. Beispielsweise war der Leser in der Lage, die Instruktion Muirons als militärisch sinnlos zu erkennen, da ihr Adressat General Doppet den Gehorsam seiner Truppen bereits erfahren hatte, als sie seinen absurden Rückzugsbefehl befolgten. Darüber hinaus konnte sich der Offizier kaum Hoffnung machen, einen Menschen vom Schlage des Generals wirklich zu belehren und dieser stand sowieso kurz vor der Absetzung. Nicht einmal Buonapartes Würdigung des Toten ist eindeutig; denn im gleichen Atemzug mit seinem Lob bedauert er das „Unglück". Die eigentliche Motivation für Muirons Selbstopfer geht auf eine umfassende Sinnkrise des Offiziers zurück, die ihn sowohl am Sinn seines Lebens und seiner politischen Überzeugungen als auch an der Zukunft des Vaterlandes verzweifeln läßt. Dieser Zusammenbruch alles Vertrauens erfolgt in Reaktion auf die „unverläßlichen und schwankenden Befehle" seines Vorgesetzten, der ein schlechter Soldat ist und in seinem Handeln primär von der Angst vor den staatlichen Überwachungsorganen bestimmt wird. Andres' Anekdote zeigt also verdeckt, aber beziehungsreich, daß ein Offizier unter einer unfähigen, selbst staatlichem Terror unterworfenen militärischen Führung in eine ausweglose Lage gerät (S. 143 f.). Plädoyers gegen das nationalsozialistische Feindbild enthalten - neben den bereits behandelten Aspekten - Georg von der Vrings Roman und Ernst Penzoldts Novelle „Korporal Mombour" (1940). Aber während von der Vring im Zuge der Propaganda für den „Verständigungsroman" noch offener, schreiben konnte, mußte Penzoldt während des Krieges auf das Mittel der historischen Tarnung zurückgreifen. Im Schweizer Internierungslager Grandcoeur begegnen sich die Offiziere der feindlichen Parteien in einem für die Aussöhnung denkbar ungeeigneten historischen Augenblick, dem Augenblick des von nationalsozialistischer Seite als demütigend erbittert bekämpften Waffenstillstandsabkommens von Compiegne. Wie unüberwindlich die Gegensätze sind, zeigt die Tatsache, daß die Gefangenen normalerweise nach Kriegsparteien getrennt untergebracht werden. Nur für eine Nacht kommt der kriegsbeschädigte französische Leutnant Rene Laporte in die mit zwei deutschen und einem ungarischen Offizier belegte Baracke. Daß er dort bleibt, ist laut Lagerkommandant „der einzige Fall dieser Art" (S. 176) und löst bei „einem französischen Patrioten" dezidierte Ablehnung aus (S. 180). Von der Vrings Roman setzt auf das gegenseitige Kennenlernen der Individuen, ohne daß die Schwierigkeiten des Annäherungsprozesses bagatellisiert würden. Zwischen Laporte und Fähnrich Weißgraf kommt es zunächst zu einer mit Schuldzuweisungen verbundenen Auseinandersetzung über die jeweiligen „Schikanen der Kriegsgefangenschaft" (S. 44). Aber der ungarische Oberleutnant Bodor Jenö fordert die Kontrahenten unter Hinweis auf den Namen des Internierungslagers zu „Großherzigkeit" auf (S. 45). Überhaupt stellt von der Vring die deutsch-französische Feindschaft nicht als unverrückbare Tatsache dar, sondern als Fragenkomplex, über den sich der deutsche Fähnrich angesichts der Begegnung mit dem französischen Leutnant nachzudenken gezwungen sieht. Die Annäherung der Weltkriegsgegner
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kommt durch Erfahrungsaustausch zustande. Die vier Offiziere erzählen einander reihum eigene Erlebnisse. Sie erkennen dadurch, daß sie als Frontsoldaten über nationale Grenzen hinweg zum Kreis der „Wissenden" gehören, denen die aus allen Völkern sich zusammensetzende Masse der „Nichtwissenden" gegenübersteht. Die zu Freunden gewordenen „Wissenden" aber müssen verhindern, daß „der Totentanz bald noch einmal von vorn" beginnt (S. 226). Ernst Penzoldts Absage an nationalsozialistische Feindbilder in der Novelle „Korporal Mombour" vollzieht sich historisch verkleidet in einer Geschichte aus den Befreiungskriegen; jedoch legen kunstvolle Andeutungen es dem Leser nahe, sie auch auf den Ersten Weltkrieg und den aktuellen Krieg zu übertragen. In der Binnenerzählung tötet der junge Korporal Friedrich Mombour von den Graf Schedyschen freiwilligen Jägern im Gefecht einen „todesmutigen französischen Offizier" (S. 531). Als er die Waffe des Toten an sich nehmen will, sieht er voller Entsetzen, daß der Name Gaston Mombour „in die Blutrinne eingraviert" ist (S. 532). Der Korporal wird dann bei der ahnungslosen Familie Mombour einquartiert und erfährt von Gastons Vater alles über die Verwandtschaft der deutschen und der französischen Mombours (S. 535). Madeleine, Gastons Schwester, bittet Friedrich, in der Uniform des Toten, dem er stark ähnelt, zu ihrer sterbenden Mutter zu gehen. Er identifiziert sich mit Gaston und wird, als die Franzosen angreifen, in dessen Uniform von seinem Vorgesetzten erschossen: „Es erscheint ihm auf einmal ganz natürlich, Gaston zu sein. Er vertauscht sein schwarzes Jägerkleid mit Gastons bunter, festlicher Uniform. Sie sitzt ihm wie angegossen. Er sieht im Spiegel, daß er dem Toten schrecklich ähnlich ist. Es ist ihm zumute, als sei der Geist des Toten in ihn gefahren, habe Besitz ergriffen von ihm und halte ihn eng umschlungen.... Da wird es draußen laut, Schüsse fallen, die Trompete ruft. Sich selbst vergessend, folgt der Korporal. Madeleine will ihn zurückhalten. Da ist er schon auf der mondhellen Straße mitten im Getümmel des feindlichen Überfalls. Jetzt erst fällt es ihm ein, daß er nicht der Korporal Mombour, daß er ja Gaston ist. Zwischen die Seinen und den Feind geraten, steht er, todgeweiht, die Arme aufgehoben, als könne er dem Kampfe Einhalt tun. Da kommt Graf Schedy auf seinem Schimmel geritten und schießt ihn mitten ins Herz" (S. 53 7 f.). Friedrich Mombour hat erkannt, daß man im Feind den Bruder und letztlich sich selbst tötet. Daher versucht er, durch einen unwirksamen Akt der Identifikation dem Töten „Einhalt" zu gebieten. Er wird von seinem Vorgesetzten, der ein rigides Feindbild nationalsozialistischer Prägung vertritt, daran gehindert. Schedy erstrebt die kollektive Vernichtung seiner Gegner, nachdem er sie zuvor „mit starken Worten beschimpft" hat. Sein aggressives „Schlachtgeschrei" heißt: „Sprengt sie [Feinde] allesamt an den Mond" (S. 536). Auf kunstvolle Weise stellt Penzoldt Verbindungen zwischen der historisch getarnten Botschaft, daß der Soldat im Feind seinesgleichen tötet, und der unmittelbaren und ferneren Gegenwart des Lesers im „Dritten Reich" her. Der Erzähler der Binnenerzählung von den beiden Mombours gibt „nicht ohne lehrreiche Absicht" seinen Figuren den Namen eines Kameraden aus dem Lazarett (S. 530). Also existiert auch im Zweiten Weltkrieg ein Friedrich Mombour, nur ist der bei den Panzerschützen. Graf Schedys Meinungen aber werden
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von einem Schlosser namens Willi Hornissen vertreten. Die Gültigkeit der Botschaft für den Ersten Weltkrieg demonstriert eine Grabinschrift, die der „humanistische Soldat" unter den Lazarettkranken im „Frankreichfeldzug" entdeckte. Sie biegt das nationalsozialistische Kameradschaftspathos ins Humane um und postuliert - ähnlich wie Georg von der Vrings „Goldhelm" - eine Gemeinschaft aller Frontsoldaten über nationale Grenzen hinweg. Die beigefügte Ubersetzung lautet: „Hier ruht der tapfere Soldat Hanspeter Moraud, gefallen bei der Verteidigung seines Vaterhauses, Seit an Seit mit drei Feindkameraden, die er als Begleitung mit ins Paradies nahm. Gott schütze alle Soldaten der Welt" (S. 529). In der EXILLITERATUR spielt das Thema Wehrmacht überraschenderweise eine kleinere Rolle. Jedoch greifen Autoren wie Zuckmayer, Brecht, Arnold Zweig oder Johannes R. Becher es gelegentlich durchaus auf und behandeln es das Feindbild ausgenommen - unter vergleichbaren Aspekten wie die Inneren Emigranten. Berühmtestes Beispiel ist wohl Carl Zuckmayers Drama ..Des Teufels General", das zwischen 1943 und 1945 im amerikanischen Exil entstand, 1946 in Zürich ur- und 1947 in Hamburg erstaufgeführt wurde. Im Mittelpunkt des Stücks steht der Fliegergeneral Harras, dessen Gestalt auf ein reales Vorbild, Zuckmayers Freund Ernst Udet, zurückgeht. Der erfolgreiche Jagdflieger des Ersten Weltkrieges stieg im „Dritten Reich" zum Generalluftzeugmeister der deutschen Luftwaffe auf und beging, nachdem diese an der Ostfront gescheitert war, im November 1941 Selbstmord, der offiziell als Flugunfall ausgegeben wurde. In „Des Teufels General" gibt es nach des Autors eigener Aussage „zu viele .sympathische Deutsche', besonders Offiziere" 70 . Zuckmayer differenzierte auf der nationalsozialistischen Seite zwischen dem antisemitischen „alten Kämpfer" aus Bayern, Hauptmann Pfundtmayer, dem idealistisch-gläubigen Oberst und erfolgreichen Führer einer Kampfstaffel, Friedrich Eilers, dem durch seine „Parteierziehung"71 um jede Lebensfreude gebrachten „tollkühnen" Leutnant Hartmann (S. 18) sowie dem aus dem KZ entkommenen kommunistischen Fliegersoldaten und Chauffeur Korrianke (S. 52). Ihnen stellte er den Widerstandskämpfer Oderbruch gegenüber, der als Chefingenieur bei den technischen Spezialtruppen Sabotage im Flugzeugbau betreibt. Seine Opposition entstand in dem Augenblick, als er sich „schämte, ... ein Deutscher" zu sein (S. 153). Zwischen diesen Polen ist die Hauptfigur des Dramas angesiedelt. General Harras besitzt fraglos Züge des aus der nationalsozialistischen Kriegsliteratur bekannten vorbildlichen Führers. Auch ihm wird ein „trotz gelichteter Haare noch jugendliches, ja jungenhaftes Gesicht" zugeschrieben (S. 11). Sein „persönlicher Mut" stößt nicht einmal bei seinen Gegnern auf Zweifel (S. 85). Trotz seines kometenhaften Aufstiegs hat er sich ein Herz für weniger erfolgreiche „Frontkameraden" aus dem Ersten Weltkrieg bewahrt (S. 23) und als Vorgesetzter sorgt er für jeden seiner Soldaten. Aber im Gegensatz zu nationalsozialistischen Führergestalten nimmt Harras eindeutig Stellung gegen die Rassen70 71
Zuckmayer, Stück, S. 535. Ders., General, S. 66.
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ideologic (S. 67 f.) und verurteilt die heldische Verherrlichung des Soldatentodes in einem Plädoyer für das Leben und Uberleben: „Schau - ich bin doch selbst ein alter Soldat. Ich versteh doch was von dem Geschäft. Und ich sage dir: jeder, der im Feld was wert sein soll, muß die Hoffnung haben und den Willen, durchzukommen. Am Ende gewinnt ja doch, wer überlebt. Wer ohne Hoffnung kämpft - der ist schon halb verloren. Und Hoffnung - das ist, daß man sich auf etwas freut. Ein junger Mensch muß sich doch freun - aufs Leben!" (S. 69f.). Wie der Widerstandskämpfer Oderbruch lehnt General Harras das nationalsozialistische Regime von einer humanistischen Grundeinstellung aus ab. Trotzdem ist er zu einem seiner wichtigsten militärischen Repräsentanten aufgestiegen. Er erklärt diesen Widerspruch mit der Begeisterung für seinen Beruf: „Ich bin ein Flieger, sonst nix" (S. 27). Nirgends hätten sich einem Experten wie ihm solche Entfaltungsmöglichkeiten geboten; politische Illusionen habe er sich zu keiner Zeit gemacht (S. 39). Harras' Haltung erweist sich insgesamt als ambivalent: Durch Ereignisse und Gespräche kommt der General im Verlauf des Dramas allmählich zur Einsicht in seine Schuld und Mitverantwortung für das nationalsozialistische Unrechtssystem. Aber er kann sich gerade im Bewußtsein seiner Mittäterschaft auch den Widerstandskämpfern nicht mehr anschließen, obwohl er Oderbruch zum Schluß ausdrücklich zustimmt. Deshalb wählt er statt der möglichen Flucht ins Ausland den als „Gottesurteil" verstandenen Selbstmord durch den Test einer defekten Kampfmaschine: „ H A R R A S schüttelt den Kopf, unbeirrt Zu spät, mein Freund. Für so was bin ich nicht mehr gut. Wer auf Erden des Teufels General wurde und ihm die Bahn gebombt hat - der muß ihm auch Quartier in der Hölle machen. Fallen Sie jetzt nicht um, Oderbruch! Sie hatten recht, mit allem. Haltet eure Waffen sauber und trefft die Wurzel, eh ihr die Krone schlagt" (S. 157). Neben dieser Anerkennung der Verantwortung und dem Schuldbekenntnis stehen bei Harras jedoch Begründungen für sein Mitmachen, die auf eine Selbstentlastung und Rechtfertigung des eigenen Handelns hinauslaufen 72 : „Was kann denn der einzelne tun, Anne - in einer Welt, die ihm den Donner ihres fürchterlichen Ablaufs - und seines eignen rettungslosen Mitgerissenseins - mit jedem Herzschlag in die Ohren dröhnt? Wer bin ich denn - daß ich es ändern sollte?" (S. 146 f.). Die Wehrmacht wird auch von Bertolt Brecht in „Furcht und Elend des Dritten Reiches" thematisiert und zwar unter Betonung der Militärtechnik. Zwischen 1935 und 1938 entwarf der Autor eine Szenenfolge für Slatan Dudows proletarische Spieltruppe in Paris, in der er nach Augenzeugenberichten und Zeitungsnotizen den alltäglichen Faschismus im Vorkriegsdeutschland darstellte. 1942/43 schrieb er in den U S A eine „Bühnenbearbeitung für Amerika" unter dem Titel „The Private Life of the Master Race". Darin gab er den Szenen, die er nun in drei Gruppen gliederte, einen Rahmen aus kommentierenden Texten. Dieser ergänzte die Innenansichten des „Dritten Reiches" durch eine Art symbolische Darstellung des sich aus ihnen zwangsläufig ergebenden Kriegs- und
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R o t e r m u n d , Vergangenheitsbewäldgung, S. 217.
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Vernichtungsterrors gegen andere Völker: „Geknechtet fuhrn wir aus, die Welt zu knechten/Und vergewaltigt brauchten wir Gewalt" 7 3 . Als „Grundelement der Dekoration" schlug Brecht den „klassischen Panzerkarren der Naziarmee" vor. Er sollte zwischen den verschiedenen Teilen der Szenenfolge und am Ende, d. h. insgesamt viermal erscheinen. Dabei war sein „dumpfes Rollen", „eine Stimme" und der „Chor der Panzerbesatzung" zu hören (S. 1187f.). Schon in der Wortwahl verrät sich deutlich Brechts Bestreben, die in der NS-Kriegsliteratur so hoch gepriesene Panzerwaffe zu entmythisieren. Der Autor, der sich selbst seit den 20er Jahren für die moderne Technik, insbesondere das Auto begeisterte, wußte genau um deren Faszination. Indem er den Panzer als unförmigen, primitiven Karren darstellte, nahm er ihm den Glanz und die sorgfältig aufgebaute Aura der Unbesiegbarkeit: „Aus dem Dunkel taucht zu den Klängen einer barbarischen Marschmusik ein großer Wegweiser mit der Inschrift ,Nach Polen' und daneben der Panzerkarren auf. Er ist bemannt mit zwölf bis sechzehn Soldaten, welche Gewehre zwischen den Knien halten, bestahlhelmt sind und kalkweiße Gesichter haben" (S. 1187). Die Beschreibung der Panzerbesatzung knüpft unübersehbar an die heldischen Posen der Panzerführer in der NS-Literatur, etwa bei Dwinger an. Allerdings wird der ästhetische Eindruck der Gewalt bewußt vernichtet. Während Dwinger die „bleich schimmernden" Gesichter und die schwarzen Uniformen effektvoll miteinander harmonieren läßt 7 4 , bekommen Brechts einheitlich „bestahlhelmte" Soldaten durch ihre „kalkweißen Gesichter" etwas Häßlich-Groteskes, das von der „barbarischen Marschmusik" und dem „dumpfen Rollen des Panzerkarrens" noch unterstrichen wird. Im C h o r der Panzerbesatzung werden dann die Gründe für eine solche Pejorisierung deutlich. Die modernen Waffen dienen der Unterdrückung des eigenen Volkes und fremder Völker. Hitler hat die Deutschen selbst zur Waffe „umgeschweißt" und mißbraucht sie nun für seinen Aggressionskrieg. Auch bei den Soldaten wird - wie die Attribute „bestahlhelmt" und „kalkweiß" andeuten diese erzwungene Instrumentalisierung angenommen: „Bald sah Europa unsre Eisenkärren Mit Blut beschmiert vom Seine- zum Wolgastrand Denn unser Führer hat uns ja zu einem HerrenVolk umgeschweißt mit eisenharter Hand" (S. 1188). Andererseits aber sind die Soldaten in Brechts Sicht auch die Aggressoren, die sich hybride auf ihre überragende Waffentechnik verlassen. Daher verbindet er das Geräusch des Panzers in den Szenen explizit mit dem Einsetzen des „Terrors ..., der die Menschen auf den Kriegskarren bringen wird" (S. 1187). Im russischen Winter versagt die von den Eroberern für unüberwindlich gehaltene deutsche Technik. Statt heldischer Todesbereitschaft und unerschütterlichen Glaubens an den Sieg empfinden die Soldaten nun - mit der Notwendigkeit des Rückzugs konfrontiert - kleinlaut „Furcht . . . zu weit gefahren" zu sein und ihre Heimat nicht mehr wiederzusehen: 73 74
Brecht, Anmerkungen, S. 1189. Dwinger, Panzerführer, S. 28.
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Heidrun Ehrke-Rotermund „Im dritten Winter freilich blieb der Karren Der Welteroberung uns plötzlich stehn Und eine Furcht kommt uns, wir sind zu weit gefahren Als daß wir je die Heimat wiedersehn.
Nun steht der Tod zur Linken und der Tod zur Rechten Weit ist der Heimweg, und es ist kalt" (S. 1189). Einen bewußten Gegenentwurf zur soldatischen Kameradschaft nationalsozialistischer Prägung gestaltete Arnold Zweig in seiner Erzählung ..Schipper Schammes". die in Palästina entstand und im Juli 1936 im ersten Heft der in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift „Das Wort" herauskam. Die berichtete Episode spielt im Ersten Weltkrieg während der Artillerieschlacht um Verdun. Sie handelt von fünf „Arbeitssoldaten, Armierern oder Schippern" 75 , von denen drei - nämlich der jüdische Schriftsteller Werner Bertin, der Berliner Gastwirt Karl Lebehde und der Setzer Wilhelm Pähl - bereits in Zweigs großem Antikriegsroman „Erziehung vor Verdun" (1935) auftreten. Dazu kommen noch als „ungleiches Paar" von Freunden der jüdische Bäcker und Metallarbeiter Schammes und der junge polnische Landarbeiter Robert Przygulla. Im Unterschied zur nationalsozialistischen Kriegsliteratur werden die Kameraden nicht durch ihren Rang in der Militärhierarchie, sondern durch ihre zivilen Berufe charakterisiert. Kein Offizier und Führer benutzt ihren Zusammenhalt für militärische Ziele. Alle Soldaten, auch die jüdischen, sind in der Gruppe gleichberechtigt. Ihre Kameradschaft ist eine Art Notgemeinschaft in der Extremsituation des Krieges. Sie soll durch gegenseitige Hilfe im Frontalltag und gemeinsame Freizeitgestaltung das Uberleben ermöglichen. Der Erzähler nennt diese Beziehung eine „anspruchslose Kameradschaft" (S. 236). Aber er zeigt auch, wie sie sich in der Todesgefahr des feindlichen Artilleriefeuers bewährt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Schipper Schammes den schwergetroffenen Przygulla aus der Schußlinie trägt und zum Sanitätsunterstand bringt, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von vergleichbarer Opferbereitschaft in der nationalsozialistischen Kriegsliteratur, schon weil der Soldat, der in Zweigs Erzählung sein Leben für den Kameraden einsetzt, ein Jude ist. Zudem hat die Rettungsaktion keinen militärischen Sinn, sondern gilt ausschließlich einem individuellen Menschen. Dieser aber wurde so schrecklich zerfetzt, daß jede Hoffnung auf seine Wiederherstellung sich von Anfang an als vergeblich erwies. Schammes' selbstloser Beistand für den sterbenden Kameraden wird vom Schriftsteller Bertin, Zweigs alter ego, als Zeichen für die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse und als Hinweis auf deren bessere Zukunft gedeutet: Und den Tag über, wenn Bertin den Schipper Schammes trifft, ..., immer dann weht es Bertin warm an: das war der Kamerad, der Schipper Schammes, der zwischen zwei Lagen aufsprang und, ein jüdischer Bäcker und Former, aus Galizien stammend, dem westpreußischen Landarbeiter Przygulla, einem Polen, zu Hilfe lief, um ihn dem Tod aus dem Rachen zu tragen. Das war Kameradschaft, der gleiche Rock und der gleiche Stand, Proben beide der glei-
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Zweig, Schipper, S. 235.
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chen Klasse und Masse, die als Mutterboden der Arbeit alle Güter des Lebens erzeugen hilft und von so vielem ausgeschlossen ist" (S. 240). Einer solch idealisierten Sicht der einfachen Soldaten entspricht die kritische Darstellung eines Angehörigen der konservativ-militärischen Opposition, des Oberstleutnants Lintze in Zweigs Roman ..Das Beil von Wandsbek" (1943). Lintze sieht Hitler zunächst positiv als Werkzeug der Wehrmacht und entschließt sich erst 1938, als pathologische Züge im Wesen eines „gewissen großen Führers" 76 nicht mehr zu übersehen sind, zum Widerstand. Gelegentlich wird in der sozialistischen Exilliteratur auch dargestellt, wie ein Wehrmachtoffizier die Truppe ganz verläßt. So sagt sich in Bodo Uhses Roman „Leutnant Bertram" (1943) der gleichnamige Protagonist nach seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg - er hat an dem Bombardement von Guernica teilgenommen - schuldbewußt vom Nationalsozialismus los. Bei den antifaschistischen Spanienkämpfern erhält er die Chance eines Neubeginns. Auf eine solche Umkehr in massenhafter Form zielte auch Johannes R. Bechers Kontrafaktur „Abendlied. Nach Matthias Claudius", die 1942 in der Zeitschrift „Internationale Literatur. Deutsche Blätter" 77 und 1943 in Bechers Gedichtsammlung „Dank an Stalingrad" in Moskau erschien. In ihr erfuhr der Themenkomplex Heldentod/Durchhalten eine auf unmittelbare politische Beeinflussung der Wehrmachtsoldaten abzielende Behandlung. Becher beteiligte sich im sowjetischen Exil wie seine Schriftstellerkollegen Willi Bredel, Erich Weinert, Friedrich Wolf u.a. nach dem deutschen Uberfall auf die Sowjetunion aktiv an der politischen Propaganda der Roten Armee, die durch Zeitungen, Rundfunk oder Flugblätter an der Front verbreitet wurde. Sehr bald merkten die Emigranten, daß sie ihrem Ziel, deutsche Soldaten und Offiziere zum freiwilligen Aufgeben zu bewegen, nicht durch kommunistische Parolen näherkommen konnten. Sie analysierten aufgrund von erbeuteten Materialien wie Zeitungen, Feldpostbriefen, offiziellen NS-Dokumenten sowie Verhören von Gefangenen und Uberläufern die Bewußtseinslage der als „irregeleitete und mißbrauchte Massen" 78 definierten Soldaten und entwickelten spezifische Konzepte der Beeinflussung. Insbesondere das Gedicht, auch in Form von Liederparodien 79 erwies sich dabei als wirkungsvolles Transportmittel für die beabsichtigten Botschaf-
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Ders., Beil, S. 264. In Zweigs Text ist ausschließlich von „Reichswehr" die Rede. Becher, Abendlied, S. 2 7 f.; ders., Dank, S. 98. Erich Weinert: Rufe in die Nacht. Berlin 1955, S. 31, zit. n. Barck, Kampfbedingungen, 1, S. 365. A l f r e d Kurella und Erich Weinert gaben einige dieser Parodien im Einband des nationalsozialistischen „Neuen Soldaten-Liederbuches" heraus, vgl. dazu Breuer (Hrsg.), Soldaten-Liederbuch, 3. Sie machten sich Tendenzen zunutze, die im Winter 1941/42 an der Front entstanden: „Unter den zurückflutenden Truppen der Wehrmacht begann eine eigentümliche Folklore zu wuchern: Liederparodien, Selbstpersiflagen, gereimte Parolen und Schlagzeilen gegen den Unsinn des Krieges kamen auf. Erich W e i n e n studierte diese Hintertreppen-'Volkskunst' des Hitlerkrieges nicht nur, er verstand es auch, sie sich nutzbar zu machen. Und es dauerte nicht lange, so erhielten wir ... die Gewißheit, daß einige von Erich Weinert erfundene ... Lieder, Parodien und Parolen anonymes Gemeingut kriegsmüder Soldaten geworden waren", Kurella, V o r w o r t zu Weinert, Freiheit, S. 14f., zit. n. ebd., S. 368.
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ten. Es war „volkstümlich" 8 0 , blieb im Gedächtnis haften und sprach emotional an. Daher eignete es sich hervorragend als Medium des von Erich Weinert entwickelten „sentimentalen Stils", der die Soldaten für rationale politische Argumentation vorbereiten sollte. Auch Johannes R . Becher knüpfte an das kulturelle „Erbe" Deutschlands an, um es von der faschistischen „Verzerrung" zu befreien. Er wollte die Identifikation der Soldaten mit Hitler und seiner Partei aufbrechen. N u r auf diese indirekte Weise konnten sie seiner Meinung zufolge zum Nachdenken gebracht und in den Stand gesetzt werden, den Heldentod in Rußland als „sinnlos" zu erkennen. Was der Schriftsteller dem Regimentskommissar und Historiker Sergej Tulpanow über sein „Lied von den einen und von den anderen" sagte, galt auch für die Kontrafaktur „Abendlied": „Man muß zu erreichen versuchen, daß viele deutsche Soldaten beginnen, zwischen sich und Hitler eine Grenze zu ziehen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Dann, und nur dann wird der .Faktor des Todes', dazu noch des sinnlosen Todes zu einer realen Kraft werden" 8 1 . Bechers „Abendlied" setzt mit der unveränderten ersten Strophe „Der Mond ist aufgegangen" des Gedichtes „Abendlied" (1779) von Matthias Claudius ein. Damit wird der emotionale stimmungsvolle Bereich deutscher Innerlichkeit beschworen. Die folgenden sieben Strophen behalten Metrum, Rhythmus, Strophenform und einfache Syntax des Originals bei, bringen aber inhaltlich Neues. Vertraute Begriffe der NS-Ideologie wie Heimat, Reich, Kameraden, Tote und Fahnen werden infrage gestellt und uminterpretiert. Denn der geistige Zustand der deutschen Soldaten ist dem Autor zufolge von innerer Unruhe und Ratlosigkeit über ihre Situation als „verlorener Haufen" im „fremden Land" bestimmt (V,2 f.). Er läßt ihre Gedanken von dem sie beherrschenden Grundgefühl der Sehnsucht nach „der fernen, fernen Heimat" ausgehen (111,6): Dabei wird ihnen klar, daß der Krieg an ihrer Trennung von Deutschland schuld ist und unzählige Tote gefordert hat (IV,2+5). Unabweisbar drängt sich die Frage auf: „Was hat er [Krieg] uns gebracht?" (IV,3). Die aufrichtige Antwort darauf lautet: „Um unsere Sache steht's nicht gut" (VI,6). Auch persönlicher Mut und äußere Haltung können die verzweifelte Lage nicht mehr ändern. Nach Becher würden die Soldaten am liebsten alle Verantwortung abwälzen und zu unmündigen Kindern werden: „Oh, käme wer und führte/ Uns heim wie Kinder an der Hand!" (V,5f.). Der Heimkehr steht aber der Gedanke an „das Reich" entgegen, für das die Soldaten nach nationalsozialistischer Auffassung kämpfen. An diesem Punkt ihrer Überlegungen soll die erstrebte Unterscheidung zwischen deutschem Volk und NS-Herrschern erfolgen. Im Anklang an Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser G o t t " , in dem der Teufel besiegt wird, müssen sie begreifen, daß Volk und Reich die Nazis überleben werden: „Das Reich muß uns doch bleiben/ In all dem wirren Treiben,/ Wenn unser Volk am Leben bleibt" (VII,4-6). Die letzte Strophe zieht dann die Konsequenzen aus dem Nachdenken der vorhergehenden, und zwar in F o r m einer Aufforderung der „Kameraden" aneinander, freiwillig heimzukehren. Auch die Toten rufen nicht etwa zur
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Erich Weinert, Analysen der sowjetischen Frontzeitungen, zit. n. ebd., S. 365. Sergej T u l p a n o w , W i e der Tag des Sieges vorbereitet wurde, in: Erinnerungen an Johannes R . Becher. Leipzig 1968, S. 186, zit. n. B a r c k , Kampfbedingungen, 1, S. 370.
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Nachahmung ihres Heldentodes auf, sondern mahnen zum Rückzug, bzw. bedeutungsschwer zur Umkehr, d. h. zur Abkehr vom nationalsozialistischen Irrglauben. Ihr Appell, „die Fahnen heimwärts ... wehn" zu lassen (VIII,5f.), dreht die Propaganda für den Heldentod in nationalsozialistischen Soldatenliedern wie Hans Baumanns „Nun laßt die Fahnen fliegen" 82 oder noch direkter in Herbert Napierskys „Lasset im Winde die Fahnen wehn" total um: „Lasset im Winde die Fahnen wehn, ihr lieben Kameraden! Alle müssen zur Fahne stehn, wenn wir zu Felde traben. Vorwärts den Schritt und vorwärts den Blick, für uns gibts nimmermehr ein Zurück" 8 3 ! Dagegen setzt Becher in seinem „Abendlied" - auf die Mentalität der deutschen Soldaten eingehend und an religiöse Traditionen wie Claudius und Luther anknüpfend - : „Darum, ihr Kameraden: Das Reich nimmt keinen Schaden, Wenn wir von selber gehn! Die Toten sind's, die mahnen: Kehrt um und laßt die Fahnen Heimwärts, heimwärts nach Deutschland wehn!" (VIII). Das von den nationalsozialistischen Schriftstellern entworfene Bild der Wehrmacht stimmte mit dem von Militärideologen wie Kurt Hesse oder Franz Hermann Woweries propagierten voll und ganz überein. Aus der Absicht, zur „Stärkung der Kampfkraft der Nation" beizutragen, ergab sich für die staatskonforme Literatur eine Aufwertung von Gebrauchstexten wie Soldatenliedern (Altendorf, Baumann, Schumann), Radioberichten und Kriegsreportagen 84 . Diese konnten direkter für ihren Gegenstand werben als etwa die formal anspruchsvollere Lyrik eines Herybert Menzel mit ihrem angestrengten hohen Ton. Spezifisch dichterische Gattungen wie Erzählung, Roman oder Schauspiel wurden vor allem dann bemüht, wenn der Heldentod an großen historischen Vorbildern, insbesondere aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt werden sollte (Wittek, Schauwecker, Deubel). Meistens bediente man sich aber der einen oder anderen Form des aktuellen Berichts, sei es des „Tatsachenberichts" (Scheu), des Erlebnisberichts (Α. E. Johann) oder auch des Tagebuchs (Dwinger, Pleyer). Hier befand sich immer ein scheinbar authentische Erfahrung verbürgendes Ich im Mittelpunkt, das sich dem Leser als Identifikations- und Leitfigur anbot. Im Gegensatz zur NS-Literatur stehen bei der Inneren Emigration die eigentlichen literarischen Formen im Vordergrund. Gerade die Inneren Emigranten waren, wenn sie ihre Absicht der moralischen Rückgratstärkung oppositioneller oder dissidenter Leser verwirklichen wollten, auf die Mehrdeutigkeit komplizierterer Texte angewiesen; die allgegenwärtigen militaristischen Ideale konnten im allgemeinen nur „Zwischen den Zeilen" kritisiert werden. Ernst 82 83 84
Baumann, N u n laßt die Fahnen fliegen, in: H o r c h auf Kamerad, S. 84. Napiersky, Winde, S. 143. Vgl. dazu Schumann, Krieg, S. 59-71.
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Penzoldt und Georg von der Vring benutzten deshalb die anspruchsvollen traditionellen Formen der Rahmenerzählung und des Novellen-Romans. Auch in der Literatur der Emigranten herrschten die herkömmlichen Aussageformen vor. Das Gattungsspektrum war allerdings, wie ein Blick auf das Drama erweist, erheblich größer. Während sich innerhalb Deutschlands eine oppositionelle Dramatik nur ansatzweise entfalten konnte 85 , kam es in der Exilliteratur zu einer relativ umfangreichen Produktion von Schauspielen aller Art, in denen die Kritik am Militarismus des Nationalsozialismus einen wichtigen Platz einnahm. Einige Werke dieses Genres wie Zuckmayers „Des Teufels General", Johannes R. Bechers „Winterschlacht" (1941) und Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches" spielten denn auch beim Versuch, nach 1945 die jüngste Vergangenheit kritisch zu wiederholen und zu erinnern, eine zentrale Rolle.
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Rotermund/Ehrke-Rotermund, Literatur, S. 3 8 1 - 3 8 4 .
Birtbe Kundrus Nur die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 - Ein Forschungsbericht
„Frauen und Wehrmacht": Aus dem kulturellen Gedächtnis scheint weitgehend verbannt zu sein, daß die Wehrmacht eine Institution war, die sich aus Männern und Frauen zusammensetzte. Arbeiterinnen und weibliche Angestellte waren bei den deutschen Streitkräften zwischen 1933 und 1945 eine alltägliche Realität. Auch für Ehefrauen, Kinder, Freundinnen von Soldaten spielte das Militär eine wichtige Rolle, die dadurch ihrerseits ins Blickfeld der Wehrmachtführung rückten. Im Krieg dehnte sich diese Involvierung aus - gewollt oder ungewollt, als Angehörige oder als Gegnerin der Wehrmacht, als Opfer oder als zufällig Hinzugekommene. Die Ursachen für die erwähnte Sichtblende liegen, wie Omer Bartov zu Recht feststellt, in Beschränkungen der deutschen Militärhistoriographie, die sich ebenso wie auch andere Teildisziplinen - mit neuen Konzepten der Geschichtswissenschaft schwer tut 1 . Zudem verhindert die Konstruktion von Krieg als einer Auseinandersetzung zwischen männlichen Armeen und von Militär als einem Ort von besonders ausgeprägter Männlichkeit die Thematisierung weiblicher Beteiligung und weiblichen Beteiligt-Seins 2 . Auch nähert sich die deutsche historische Frauenforschung nur zögerlich der Militärgeschichte. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Forschungsgebiet lassen sich lediglich sehr vereinzelt und an zum Teil recht disparaten Orten finden, manches befindet sich noch im Projektstadium. Systematische und vergleichende Analysen in Form von Monographien stehen fast ganz aus. Daher lassen sich im Augenblick nur Facetten beleuchten, eine Gesamtaussage zu „den" Frauen im Umfeld der Wehrmacht ist allerdings auch aufgrund ihrer vielfältigen Lebenslagen und divergierenden politischen, sozialen, ethnischen etc. Herkünfte unmöglich. Ich möchte im vorliegenden Aufsatz Ergebnisse dieser Forschungen vorstellen und problematisieren sowie offene Fragen markieren. Folgende Gruppen von Frauen sind bislang in den wissenschaftlichen Blick genommen worden: 1. Frauen in der Wehrmacht als „weibliches Wehrmachtgefolge"; 2. Frauen, die sich der Wehrmacht entgegenstellten, indem sie selber z.B. desertierten oder Deserteure unterstützten; 3. Frauen, die die Wehrmacht unterstützten, indem
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B a r t o v , Geschichte. D a s heißt aber nun w i e d e r u m keineswegs, daß die Militärgeschichte sich f r e u d i g Fragen der „ M ä n n e r g e s c h i c h t e " g e ö f f n e t hätte. „ G e s c h l e c h t " interessiert in der Militärhistoriographie nach wie vor höchstens im Z u s a m m e n h a n g mit K r a n k h e i t e n desselben u n d nicht als historische K a t e g o r i e . Vgl. z u m K o m p l e x Männlichkeit und Militär Seifert, MilitärK u l t u r ; dies., Militär u n d O r d n u n g ; siehe auch die Einleitung in H i g o n n e t u. a. (Hrsg.), Lines.
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sie Deserteure oder Deserteurinnen denunzierten; 4. Frauen, die in Feldpostbriefen und Tagebüchern ihre Meinung zum Krieg und zur Wehrmacht zum Ausdruck brachten; 5. Ehefrauen von Mannschaftssoldaten und die Versorgung ihrer Familien während des Krieges; 6. Frauen als Opfer der Okkupations- und Rassenpolitik, an der die Wehrmacht Anteil hatte (z.B. Frauen in Wehrmachtbordellen, als Partisaninnen, als· Kriegsgefangene); 7. Frauen in den okkupierten Ländern, die mit deutschen Soldaten eine Liebesbeziehung eingingen.
I Uber Frauen, die in Diensten der deutschen Streitkräfte standen, und darüber, wie die Wehrmacht und die NSDAP diese „Helferinnen" rekrutierten, informieren die Untersuchungen von Franz W. Seidler und Ursula von Gersdorff instruktiv und faktengesättigt 3 . Diese „Standardwerke" gehen jedoch über eine positivistische Darstellung nicht hinaus. Den Paradigmenwechsel der modernen Historiographie zur Sozial- und weiter noch zu einer Mentalitätengeschichte vollziehen sie (noch) nicht, und Fragen danach, wie Frauen als Angehörige des Wehrmachtgefolges ihre Tätigkeit erlebten und ver- oder aufarbeiteten, harren auch weiterhin einer Antwort. Es bleibt angesichts einer großen Anzahl von Analysen zu Frauen in den sowjetischen, britischen und US-amerikanischen Truppen 4 erstaunlich, daß seit diesen Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren sich offenbar niemand wieder an diesen Forschungsgegenstand gewagt hat. Ursächlich für diese Distanz könnte neben den oben genannten Gründen auch die Furcht sein, in die politische Instrumentalisierung der Wehrmachtgeschichte verstrickt zu werden. Im deutschen Militär existierten keine geschlossenen weiblichen Verbände und auch kaum weibliche Offiziere. So gab es im Sanitätsdienst keine Ärztinnen, sondern nur Pflegerinnen und Helferinnen. Allein die Luftwaffe beschäftigte einzelne Pilotinnen, die sich aber schon vor dem Krieg als Sportfliegerinnen ausgezeichnet hatten 5 . Die bei der Wehrmacht eingesetzten Frauen waren nicht Kombattanten, sondern galten als Wehrmachtgefolge, als im Bereich der Wehrmacht angestellte Zivilpersonen. Sie unterlagen den Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches und der Wehrmachtdisziplinarstrafordnung. Hintergrund für diesen Nichteinsatz von Frauen als Waffenträgerinnen war die auch bei den westlichen Alliierten verbreitete Auffassung, daß der Kampf mit der Waffe Männern vorbehalten sein müsse. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Wilhelm Keitel, erklärte im Juni 1942, daß die „naheliegende Militarisierung der Frauen" unbedingt unterbleiben müsse. „Der .weibliche 3 4
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G e r s d o r f f , Frau; dies., Frauen; Seidler, Frauen; ders., Blitzmädchen. Vgl. C a m p b e l l , W o m e n ; Alexijewitsch, Krieg; Barett/Smith, W a r ; dort, S. 2 6 1 - 2 6 4 , findet sich auch eine detaillierte Bibliographie mit w e i t e r f ü h r e n d e r Literatur. Vgl. auch Budge/Didur, W o m e n . Siehe auch die historischen Beiträge in der Zeitschrift Minerva. Q u a r t e r l y R e p o r t on W o m e n and the M i l i t a r y , ( 1 9 8 2 ) V o l . 1 ff. Vgl. die v o n jeglicher Einsicht o d e r Beschämung ungetrübten M e m o i r e n v o n Reitsch, insbesondere: Fliegen; Bracke, Melitta G r ä f i n Stauffenberg.
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Soldat' verträgt sich nicht mit unserer nationalsozialistischen Auffassung vom Frauentum" 6 . Aber auch diese Politik wurde wie alle frauenspezifischen Programmatiken gemäß den Kriegserfordernissen flexibilisiert. Helferinnen bedienten am Ende Flak-Geschütze, und viele erhielten wohl auch eine Waffenausbildung 7 . Im März 1945 schließlich gestattete ein Erlaß des Ο KW, Frauen mit Handfeuerwaffen und auch Panzerfäusten auszustatten. Ein Wehrmachthelferinnenkorps, in dem die Helferinnen zentral zusammengefaßt gewesen wären, wurde 1945 zwar beschlossen, aber nicht mehr aufgestellt 8 . Frauen waren schon vor dem Krieg als Angestellte oder Arbeiterinnen bei den deutschen Streitkräften beschäftigt. Mit der Okkupation Polens, Dänemarks, Norwegens, Hollands, Belgiens und Frankreichs entstand ein erheblicher zusätzlicher Personalbedarf. Auf möglichst freiwilliger Grundlage wurden Frauen zunächst als „Ergänzungspersonal" rekrutiert. Mit dem Uberfall auf die Sowjetunion und seinen hohen Verlusten sowie der immer anspruchsvolleren Organisation der Reichsluftverteidigung sah es die nationalsozialistische Führung als vordringlicher an, Soldaten für den Fronteinsatz freizustellen. Das weibliche Wehrmachtgefolge umfaßte also Frauen, die entweder als Zivilangestellte umgesetzt worden, notdienstverpflichtet, dienstverpflichtet oder neu bei der Armee angestellt waren oder ihren Kriegshilfsdienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes der weiblichen Jugend ( R A D w J ) ableisteten 9 . Auch ausländische Frauen wurden verpflichtet, ihre Zahl ist nicht bekannt. Es kennzeichnet die nationalsozialistische Rassen- und Geschlechterpolitik, daß baltendeutsche und ukrainische „Freiwillige" die einzigen Frauen waren, die an der Front eingesetzt wurden. Alle drei Wehrmachtteile beschäftigten Frauen: 1943/44 waren es im Bereich des Ersatzheeres 300000, im Feldheer und in den besetzten Gebieten etwa 2 0 5 0 0 . Die Luftwaffe waren zu diesem Zeitpunkt ca. 130000 Helferinnen beschäftigt, und bei der Marine arbeiteten ungefähr 2 0 0 0 0 Frauen. Die Fluktuation durch Krankheit, Schwangerschaft und altersbedingtes Ausscheiden soll erheblich gewesen sein. Anfang 1945 erreichte die Zahl der in der Wehrmacht beschäftigten Frauen ihren höchsten Wert mit ca. 500000. Damit betrug zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis von Männern und Frauen zwanzig zu eins. Die Einsatzgebiete der Helferinnen waren vielfältig: Es gab u.a. Nachrichten-, Stabs-, Marine-, Luftwaffen- und Flak-Helferinnen. Die Nachrichtenhelferinnen des Heeres arbeiteten als Fernsprecherinnen und Fernschreiberinnen. Stabshelferinnen waren im Bürodienst in den Kommandodienststellen und Stäben eingesetzt. Sie dolmetschten, führten die Rechnungsbücher, fuhren L K W s und ritten Pferde zu. Flugmeldehelferinnen verfolgten u.a. den Standort der Flugzeuge, Flakhelferinnen bedienten Zielgeräte. Der Kriegshilfsdienst im Rahmen des R A D w J wurde von sehr vielen Frauen im Bürobetrieb der Wehr6 7 8 9
Richtlinien vom 22. 6. 1942, zit. n. Gersdorff, Frauen, S. 361. Vgl. auch Schwarz/Zipfel, Gesellschaft. Vgl. Willmot, W o m e n . D i e Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung betraf die privatrechtlichen Dienstverhältnisse. D i e Einberufung zum Notdienst war dagegen allein den Dienststellen der öffentlichen Verwaltung vorbehalten.
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machtstellen, später zunehmend in Einsätzen rein militärischer Art wie der Bedienung von Scheinwerfern oder Hilfeleistungen in Flakbatterien abgeleistet. Bei der Luftwaffe ersetzten Frauen vereinzelt auch männliches flugtechnisches Personal. Im Sanitätswesen arbeiteten zu Kriegsbeginn 15000 Schwestern und Schwesternhelferinnen des Roten Kreuzes 10 . Wieviele Frauen aus dem Wehrmachtgefolge durch den Krieg ums Leben kamen, kann nicht angegeben werden. Sie starben zumeist wohl bei Bombardierungen und Partisaneneinsätzen. Mit dem Vorrücken der Alliierten gegen Kriegsende gerieten Tausende von Helferinnen in deren Machtbereich. Zwischen März 1945 und Juni 1946 registrierten die Kriegsgefangenenlager und Lazarette der Westalliierten außerhalb des Reichsgebiets insgesamt 8717 deutsche Frauen. Kurt W. Böhme schätzt, daß 25 000 Helferinnen von der Roten Armee in die Sowjetunion verschleppt wurden 11 . Über ihr Schicksal ist kaum etwas bekannt. Über die Darstellung der organisations- und ereignisgeschichtlichen Abläufe hinaus wissen wir kaum etwas ζ. B. über die Motive der Frauen, zur Wehrmacht zu gehen. Ebenso nicht aufgearbeitet sind die Haltungen zu ihrer Tätigkeit. Zu berücksichtigen ist, daß aufgrund der unterschiedlichen Einsatzgebiete, Verpflegung, Betreuung, Wohnunterkünfte, Dienstarten (Gruppen- oder Einzeldienste) und Besoldungen sich der Dienst höchst mannigfaltig gestaltete. In den Bereich der Mythen gehört jedoch vermutlich die Behauptung, man habe sich ja der Dienstverpflichtung nicht entziehen können. Anna Spieckermans nennt diese in ihren Erinnerungen ein eher „freiwilliges Muß" 1 2 , weil Druck ausgeübt worden sei, aber kein Zwang. Sie persönlich habe besonders die Möglichkeit gereizt, zu passender, warmer Kleidung sowie zu solidem Schuhwerk zu kommen und dem Elternhaus zu entfliehen. Auch eröffneten die Einsätze den jungen Frauen die Chance, ins Ausland zu gehen und damit vermeintlich Abenteuer und Freiräume zu erleben. Überzeugte Nationalsozialistinnen unter den Helferinnen betrachteten ihren Dienst als „Soldatenpflicht", beschworen die Kameradschaft und konnten es nicht fassen, als „der Führer im Kampf gefallen" war 13 . Manche derjenigen, die gegen Ende des Krieges zwangsverpflichtet wurden, sahen dagegen keinen Sinn in ihrer Tätigkeit: „Leuna ist von einem breiten Flakgürtel mit den schwersten Geschützen umgeben. Nacht für Nacht spielen hier kleine Jungen, übermüdete Mädchen und ein paar Großväter Krieg" 1 4 . Da auch der Sinn des militärischen Drills den Frauen nicht mehr recht einsehbar war, heckten sie als Gegenmittel Streiche aus und retteten sich in Albernheiten. In wohl nur sehr wenigen Fällen konnte die Abneigung gegenüber dem Regime und dem Krieg auch weitergehende Folgen haben. Zwei Nachrichtenhelferinnen nutzten ihre exponierte Stellung im Hauptquartier des OKW, um
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Vgl. auch die bei Fischer, Sanitätsdienst, aufgeführten Quellen. B ö h m e , Schicksal, S. 344. D e r Aufsatz enthält hauptsächlich Tabellen von Lagern, in denen die Anwesenheit von Frauen nachgewiesen werden konnte. Spieckermans, Flakwaffenhelferin, S. 31. Vgl. Rüdiger (Hrsg.), Problematik. Meves, Flakwaffenhelferin, S. 36.
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Abschriften „Geheimer Kommandosachen" via Schweiz in die Sowjetunion zu übermitteln 15 . Eine geschlechtergeschichtliche Analyse des Einsatzes von Frauen in den deutschen Streitkräften steht weiterhin aus. Sie wäre sicher sehr gewinnbringend, bereitete doch dem OKW und der NSDAP das Zusammentreffen von Frauen und Männern größtes Kopfzerbrechen 16 . Grundlegend für ihre Besorgnis waren Geschlechterzuschreibungen und -ressentiments. So befürchteten sie Schwierigkeiten für die „soldatische Manneszucht". Deshalb wurden die Wehrmachtangehörigen an ihre „deutsche Ritterlichkeit" erinnert. Umgekehrt sollten die Helferinnen weder zu „Flintenweibern" noch zu „Soldatenflittchen" mutieren. Die verantwortlichen Stellen sahen zudem durch „disziplinloses" Verhalten der Helferinnen in den okkupierten Staaten das „Ansehen der Deutschen" untergraben. In den „Mitteilungen für die Truppe" vom Juli 1944 hieß es resümierend: „Je sauberer die deutschen Menschen einst aus dem Kriege heimkehren, umso glücklicher wird ihr Familienleben sein, umso fröhlicher werden ihre Kinder ausschauen. Und das ist doch das Ziel, wofür wir kämpfen" 17 ! Zum einen verblüfft und entgeistert es heute zu hören, daß die deutsche Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg für ein glückliches Familienleben vom Zaun brach. Zum anderen weist die Rede vom moralischen Sauberbleiben angesichts des Vernichtungscharakters der nationalsozialistischen Feldzüge auf eine zutiefst verstörte und verstörende Perzeption des Krieges hin. Leider hat die Forschung diesen grundlegenden Charakter des Zweiten Weltkriegs, nämlich seine beispiellose Entgrenzung von Gewalt, bisher selten zu dem subjektiven Erfahren dieser Militäraktionen in Beziehung gesetzt; eine Auslassung, die den fatalen Anschein erwecken kann, als ob diese Frauen an einem „ganz normalen" Krieg teilgenommen haben. Bisher liegt nur ein Aufsatz vor, der thematisiert, was Frauen des Wehrmachtgefolges von den Verbrechen und Vernichtungsaktionen gewußt und mitgetragen haben könnten 18 .
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Vgl. Ruland, Augen. Siehe. z.B. Schreiben des O K W v o m 6. 6. 1941, in: Gersdorff, Frauen, S. 3 3 3 - 3 3 4 , in dem erwähnt wird, daß einige Nachrichtenhelferinnen sich über die Kasinoabende beschwert hätten, bei denen sich die Offiziere wie ein „barbarischer Sauhaufen" und „brünstige Stiere" benommen hätten, was den unterzeichenden Major veranlaßte, sich schützend vor seine Leute zu stellen: „Unsere Offiziere, die täglich ihr Leben f ü r die Zukunft des deutschen Volkes einsetzen, dürfen nicht in die Lage gebracht werden, daß jede verständnislose Gans sie in so entwürdigender Weise kritisiert." Siehe auch den Befehl des Militärbefehlshabers in Frankreich v o m 15. 05. 1 9 4 1 , in: ebd., S. 3 2 9 - 3 3 0 , der u.a. „Gelage, Alkoholmißbrauch" der Helferinnen und den „Besuch v o n Gaststätten über Mitternacht hinaus" beklagt. Siehe auch den um die erotischen Beziehungen kreisenden und gehaltlosen Roman v o n Kirst, Blitzmädel. B A - M A , R W D 9/5. Vgl. Chamier/Eschebach/Schmidt, Ton; siehe auch den Abschnitt über Frauen, die in Minsk beim SD tätig waren bei Zipfel, Frauen, S. 4 6 5 - 4 6 7 .
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Frauen, die entweder selbst als weibliches Wehrmachtgefolge den Gehorsam verweigerten oder Männern dabei halfen, stellen eine weitere Gruppe dar, die auf wissenschaftliches Interesse gestoßen ist. Gehorsamsverweigerung umfaßte die Handlungen, die darauf zielten, das Militär und den Krieg zu verlassen, und zwar durch Fahnenflucht, unerlaubtes Entfernen von der Truppe, Uberlaufen zum Gegner oder Selbsttötungen. Des weiteren gab es Ungehorsamsformen innerhalb der Wehrmacht, wie ζ. B. „zersetzende" Äußerungen, Befehlsverweigerungen, Selbstverstümmelungen, Vortäuschungen von Krankheiten, usw. 19 . Stefanie Reichelt rekonstruierte anhand von Interviews und Akten der Zentralen Nachweisstelle in Kornelimünster Fälle, in denen sich Frauen des Wehrmachtgefolges „unerlaubt" von ihren Einheiten entfernten 20 . Christiane Rothmaler hat die Fälle von 51 Frauen untersucht, die in Hamburg in der Zeit von 1939 bis 1945 wegen „Täuschung" der Militärdienststellen, Beihilfe zur Fahnenflucht oder Beihilfe zur unerlaubten Entfernung von der Truppe vor dem Amtsgericht bzw. in drei Fällen vor dem Sondergericht standen 21 . Beide Verfasserinnen kommen zu ähnlichen Ergebnissen, die die Desertionsforschung bekräftigen und erweitern 22 : Desertionen waren vielfach nicht geplant, sie ereigneten sich oftmals im Hinterland, viele begannen als unerlaubte Entfernung, und manche wurden im Team geplant. Offenbar nicht selten gaben Frauen ζ. B. Telegramme an ihre einberufenen Verwandten oder Ehemänner auf, in denen sie behaupteten, daß ein Familienmitglied im Sterben liege. Konnten die Soldaten im Heimaturlaub bzw. beim Lazarettaufenthalt der militärischen Disziplin entrinnen, versuchten sie häufig, diese Zeit zu verlängern. Eheprobleme, sich anbahnende Liebesbeziehungen und andere ungeklärte persönliche Beziehungen hatten vielfach Einfluß auf diese Entscheidung. Zu den Uberlebensstrategien sehr vieler Fahnenflüchtiger gehörte es zudem, zunächst bei der Ehefrau, Mutter, Freundin oder anderen weiblichen Verwandten unterzutauchen. Darauf rekurrierte auch der Aufruf des Reichsführers SS und Befehlshabers des Ersatzheeres, Heinrich Himmler, vom Januar 1945: „Ich bitte die deutschen Volksgenossen, insbesondere die Frauen, Drückebergern ... kein Mitleid am Unrechten Platz entgegenzubringen. ... Gerade die deutschen Frauen und Mädchen sind berufen, diese Männer an ihrer Ehre zu packen, zur Pflicht zu rufen, ihnen statt Mitleid Verachtung entgegenzubringen und hartnäckige Feiglinge mit dem Scheuerlappen zur Front zu hauen" 23 .
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Vgl. zur schwierigen Begrifflichkeit „Desertion" Haase, Zeit; Fahle, Pfade. Reichelt, Krieg; dies., Feiglinge. Rothmaler, Angst. Manche Aussagen Rothmalers sind nicht nachvollziehbar, wie etwa die These, daß der verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen ein „weibliches Massendelikt" gewesen sei oder daß die Soldaten in Hamburg auf ein Milieu von „Ablehnung, Verweigerung oder gar Opposition" bauen konnten (beides S. 467). Siehe dazu Kundrus, Unmoral. Siehe Haase, Alltag; Knippschild, Deserteure; siehe auch Meyer, Mutter. Zit. n. Hofer, Nationalsozialismus, S. 255.
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Neben dem erneuten Auftauchen einer Sauberkeitsassoziation bemühte Himmler entpolitisierende Weiblichkeitsstereotype und brachte damit seine paradoxe Einschätzung der „Volksgenossinnen" zum Ausdruck. Zweifelte er einerseits an der politischen Zuverlässigkeit des weiblichen Geschlechts, so schob er ihnen andererseits die Rolle zu, die Männer bei der Stange zu halten. Alle Frauen, die Reichelt erfaßt hat, wurden „nur" wegen „unerlaubter Entfernung" verurteilt, Anklagen wegen Fahnenflucht wurden nicht erhoben. Todesurteile gegen weibliche Mitglieder des Wehrmachtgefolges sind bis heute nicht bekannt 24 . Außerdem verbüßten die Frauen in der Regel kürzere Haftstrafen als die männlichen Angeklagten. Die nationalsozialistische Wehrmachtjustiz vermied auch im Strafrecht jede Gleichstellung von männlichen Soldaten und weiblichem ,.Gefolge". Da neben Interviews Justizakten die primäre Quellengrundlage bilden, ist es überaus diffizil, genaues über das Movens der Angeklagten zu sagen. Der Prozeß war ein Kampf um Leben oder Tod, die Motive mußten, gerade wenn sie politischer Art waren, verschleiert, die Helfer und Helferinnen gedeckt werden. Private Gründe waren höchstwahrscheinlich zumeist ausschlaggebend. Mütter wollten ihre Söhne vor den Gefahren des Krieges schützen, Ehefrauen und Liebhaberinnen ihre schon fahnenflüchtigen Männer und Freunde vor der Todesstrafe retten. Frauen des Wehrmachtgefolges setzten sich ab, weil Kinder betreut werden mußten, die Wohnung ausgebombt war oder der Ehemann auf Heimaturlaub kam. Obwohl sie gerne als Luftwaffennachrichtenhelferin gearbeitet hatte, entschied sich beispielsweise Helene B. gegen ihren Dienst, nachdem sie ihre Wohnung durch Fliegerangriffe und damit auch einen wichtigen Halt im Leben verloren hatte: „Zweimal hab ich alles verloren, bin total ausgebombt worden .... Mir war alles wurscht, ich hatte ja nichts mehr, was ich noch verlieren konnte. ... Da bin ich nicht mehr nach Freimann gegangen Ich wußte schon, daß das verboten war, aber daß das so schlimm ist, hätte ich nicht geglaubt" 25 . Sie wurde zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Im Konflikt zwischen persönlichen Beziehungen und der Loyalität zum nationalsozialistischen Staat entschieden sich diese Frauen für den privaten Bereich. Objektiv haben sie gegen die Einsatzbereitschaft der Wehrmacht gehandelt, und dementsprechend verfolgten die Nationalsozialisten diese Renitenz gegen ihren Absolutheitsanspruch. Politisch bewußter Widerstand, ethisch-moralische oder religiöse Bedenken dagegen lassen sich nur in wenigen Fällen nachweisen. Anzumerken bleibt aber, daß die Trennungslinie nicht immer eindeutig zu ziehen ist. Man könnte anhand des Materials von Rothmaler vermuten, daß die Grenzen zwischen einer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber Obrigkeiten und politischer Opposition fließend waren. Und auch Reichelt erwähnt einen Fall, der für ein Kontinuum zwischen privaten und politischen Motiven spricht: Maria B. schrieb 1943/44 an ihren Verlobten:
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Es gab aber Todesurteile gegen Helferinnen wegen anderer Delikte, ζ. B. wegen Verstoßes gegen das Heimtückegesetz. Vgl. den Fall von Margarete Schäffer, in: Szepansky, Blitzmädel, S. 58-64. Zit. n. Reichelt, Krieg, S. 184-185.
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„Wenn nur der Krieg bald ein Ende nähme, daß Du nicht mehr das furchtbare Spiel mitmachen müßtest. Denn D u und alle, die den grauen Rock tragen, ihr schützt vergeblich die Heimat" 2 6 . Die familiäre Grundlage der Solidarität konnte jedoch auch verhängnisvoll für den Wehrmachtangehörigen werden, wenn sie in eine Krise geriet. Herr F. ζ. B. hatte auf seiner Arbeitsstelle seine Hand in eine Maschine gehalten, um nicht einberufen zu werden. Mehr als zwei Jahre danach belastete Frau F. damit ihren Mann gegenüber der Staatsanwaltschaft. Die Beziehung war mittlerweile in die Brüche gegangen. Das Gericht glaubte den Aussagen der Frau und verurteilte Johann F. zum Tode. Im August 1944 wurde er hingerichtet 27 . Den wenigen Frauen, die sich selbst von den deutschen Streitkräften und dem Krieg abkehrten bzw. Männern dabei halfen, stehen mithin die wenigen Frauen gegenüber, die Fahnenflüchtige etc. denunzierten. Manfred Messerschmidt hat Fälle von Soldaten untersucht, die 1944 in Wien vom Zentralgericht des Heeres wegen „Zersetzung der Wehrkraft" 2 8 angeklagt wurden. Unter ihren Denunzianten befanden sich 47 Frauen und 39 Männer. Die meisten „zersetzenden" Äußerungen wurden während des Heimat- oder Genesungsurlaubes oder des Stadtausgangs gemacht. Daher überrascht auch der höhere Anteil von Frauen unter den Denunzianten nicht. In dieser Umgebung trafen die Soldaten eher auf Frauen, z . B . Kellnerinnen, Straßenbahnschaffnerinnen, Nachbarinnen, Verwandte oder Bekannte, die sie meldeten. Persönliche Absichten wie Eifersucht, Haß, Vorteilsgewinnung und eben keineswegs Überzeugungstaten waren für die Denunziationen ausschlaggebend. Dies bestätigt einmal mehr die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Denunziationen 2 9 .
III U m die wahrnehmungs- und erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen der Kriegszeit in den Blick zu bekommen, hat die Historiographie sich seit einiger Zeit der Auswertung von Selbstzeugnissen, wie Tagebüchern und Feldpostbriefen, angenommen. Im Zentrum der meisten Arbeiten steht dabei die Alltagsgeschichte von Soldaten 30 . Frauen- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen haben bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. So wird z . B . davon ausgegangen, daß die Kriegsfront allein aus Männern, die „Heimatfront" hingegen aus beiden Geschlechtern bestand. Folglich liegen Briefe von Wehrmachthelferinnen vollkommen im Windschatten der Forschung 3 1 . An dieser Stelle
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Zit. n. ebd., S. 128. Siehe ebd., S. 1 2 9 - 1 3 0 . Messerschmidt, Zersetzer. Vgl. auch Dörner, Krieg, der allerdings leider die Denunzianten nicht geschlechtsspezifisch aufschlüsselt. Zu Denunziationen siehe ζ. B. Dördelmann, Empörung; Diewald-Kerkmann, Denunziation; Gellately, Gestapo; Marßolek, Denunziantin. Siehe Humburg, Bedeutung; ders., Feldpostbriefe; Ulrich, Militärgeschichte; Vogel, Tod. Ein in jeder Hinsicht ärgerliches und überflüssiges Druckerzeugnis ist Sattler, Soldaten. Siehe die verklärenden pseudodokumentarischen Propagandawerke bei Müller-Beeck, Tagebuch; Seidel/Grosser, Herzen.
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kann somit nur ein Überblick über die in den Briefen von Frauen besonders angesprochenen Themen gegeben werden. Die wichtigste Funktion der Briefe war, ein Lebenszeichen zu geben. Daneben standen Mitteilungen und Sorgen aus dem Alltag sowie die Versicherung von Liebe und Treue im Mittelpunkt 32 . Die Angst, den Mann, Bruder, Sohn, Freund zu verlieren, war ein weiteres, wenn auch nicht immer verbalisiertes Hauptthema. Manche Frau schwankte zwischen Kriegsverdrossenheit und nationalem Pathos, zwischen Mutmachen und Stolz auf ihren männlichen, deutschen „Helden": „Man kann sich gar nicht vorstellen, daß es eines Tages heißt: ,Der Krieg ist aus, alle Qualen, alle Leiden, alles Blutvergießen hat ein Ende. Unsre Soldaten kommen alle wieder zurück.' Ach wäre das schön. Ich müßte weinen vor Freude und weinen um die vielen, vielen deutschen Soldaten, die ihr Leben dafür gaben, daß wir diesen Tag erleben konnten. Ach käme dieser Tag doch bald.... Der deutsche Soldat wird's trotzdem schaffen, das glaube ich felsenfest. Und daß Du einer der vielen deutschen Soldaten bist, darüber bin ich stolz und darum liebe ich Dich mehr denn je" 33 . Ähnlich schrieb auch die junge Offiziersehefrau Hildegard Wagener an ihren Mann: „Du gehörst jetzt auf Deinen Platz wie jeder Soldat draußen, und es ist ein schönes und stolzes Gefühl für mich, daß ich weiß, daß Du immer Deine Pflicht tun wirst" 34 . Andere wie die Journalistin Ursula von Kardorff steckten hingegen in einem schwierigen moralischen Dilemma: Für sie war dies ein schändlicher Eroberungsfeldzug eines verbrecherischen Regimes. Und doch fürchteten sie um die, die als Soldat für das nationalsozialistische Deutsche Reich kämpften: „Komme mir manchmal vor, wie eine Kerze, die an beiden Enden zugleich brennt. Draußen kämpfen Brüder und Freunde für den Sieg, vor dem ich ein Grauen nicht unterdrücken kann. Hitler als Herrscher über Europa? ... Aber kann man die Niederlage für sein eigenes Volk wünschen? Ist das nicht pervers" 35 ? Eine große Rolle spielte somit die Frage nach dem Sinn dieses Krieges und das Hoffen auf sein baldiges Ende. Nach der Niederlage bei Stalingrad notierte Frau S. am 7. Februar 1943: „Trotz des felsenfesten Vertrauens auf die deutsche Führung bekomme ich es doch mit der Angst zu tun, nur bei dem Gedanken, der Kommunist könnte doch noch siegen. ... Der heißeste Wunsch jedes Menschen wäre Frieden, wenigstens soll es den Soldaten und Hitler gelingen, im Osten endgültig aufzuräumen. Dann sind die Opfer von Stalingrad doch nicht umsonst gewesen" 36 . 32 33 34 35 36
Siehe z.B. Golovchansky u.a. (Hrsg.), Wahnsinn, S. 1 6 - 1 7 . Hildegard Pechtold, zit. n. Kempowski, Echolot, 1, S. 4 2 0 - 4 2 1 . Zit. n. ebd., S. 705. Zit. n. ebd., S. 499. Zit. n. Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht, S. 1 0 6 - 1 0 7 . Vgl. auch Golovchansky u.a. (Hrsg.), Wahnsinn, S. 38; Kempowski, Echolot, 3, S. 14; ferner Kilimann, Propaganda, S. 189; Nieden, Verarbeitung.
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Die 29jährige Hausfrau Marianne Sperl hingegen reflektierte den Krieg genauer und fürchtete Vergeltung: „Der Krieg, wie furchtbar, wie grausam ist er geworden.... Wenn man so in die Zukunft blickt, befällt einen namenloses, unendliches Grauen. Vater und ich saßen nach dem Essen stundenlang vor der Karte. Da kam mir plötzlich der schreckliche Gedanke: Wie, wenn die Russen zu uns kämen, zu morden, zu verheeren, himmelschreiende Not anzurichten" 37 ? Andere, wie die bekannte Photographin Liselotte Orgel-Purper, riefen noch am 14. Oktober 1944 in totaler Verkennung des tatsächlichen Kriegsverlaufs und voller Rachsucht ihre eingezogenen Männer auf, hart zu sein: „Geliebtester Mann! Zorn kommt mich an! Birg Dein weiches deutsches Herz unter äußerster Härte. Niemand auf der ganzen Welt schätzt oder achtet weiche Gemütsregungen - außer den Deutschen selbst! Denkt nur an die Grausamkeiten, denen Eure Heimat ausgeliefert ist. Denkt an die Brutalität, mit der wir vergewaltigt und hingemordet würden, denkt nur an das unbeschreibliche Elend, das allein schon der Luftterror über unser Land bringt. Nein, laßt die Bauern heulen, wenn Ihr das Vieh töten müßt. Nein, dem Feind schaden, wo Ihr könnt, dazu seid Ihr da" 38 . Die Schreiberinnen (und Schreiber) sorgten sich zudem um ein Auseinanderdriften der Vorstellungswelten von Heimat und Front. Da die Feldpostbriefe zum wichtigsten Bindeglied zwischen den Familienmitgliedern wurden, versuchten viele Frauen, sich in den Briefen und mittels der Briefe einen Begriff von der soldatischen Welt zu machen. Vielfach stand nur das offizielle Bild der Wehrmacht aus Funk und Zeitung zur Verfügung, und manche Frauen übernahmen diese Perspektive. Es gab folglich vielerlei Spekulationen darüber, was „die Soldaten" wohl fühlten, wollten und dachten. Nachdem das „Unternehmen Barbarossa" gestartet worden war, schrieb Frau N. am 22. Juni 1941: „Jedenfalls wird der Kampf wohl hart sein, und doch wird mancher aufatmen nach den langen Wochen des Wartens. Denn ein richtiger Soldat sehnt sich doch letzten Endes nach Kampf und Sieg, um dann wieder seinen Arbeiten nachgehen zu können" 39 . Handfester waren dagegen die Beunruhigungen der Gymnasiastin Irmela SperlBrogelli, die sich die strengen Winter in Rußland vorstellte und daher anfing, Wollsachen für die deutschen Soldaten zu stricken 40 . Frauen, die sich noch an den Ersten Weltkrieg erinnern konnten, besaßen offenbar eine andere Perzeption des Krieges. Manche versuchten, die Kriegsbegeisterung ihrer Söhne zu dämpfen, indem sie ihre Emotionalität als Mutter in die Waagschale warfen:
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Zit. n. Kempowski, Echolot, 2, S. 218. Vgl. auch Ursula von Kardorffs Aufzeichnung, daß f ü r Menschen wie ihren Vater „in diesem O p f e r [dem Tod seines Sohnes] überhaupt kein Sinn [lag]. Eine von ihnen gehaßte Führung, die f ü r eine von ihnen gehaßte Idee Krieg führt, fordert das Liebste, was sie haben", in: ebd., 4, S. 366. Orgel-Purper, Witwe, S. 175. Vgl. auch Golovchansky u.a. (Hrsg.), Wahnsinn", S. 18f. Zit. n. Buchbender/Sterz Hrsg.), Gesicht, S. 70. Siehe auch den Schulaufsatz der lOjährigen Anna-Mathilda Mollenhauer „Wie Soldaten Weihnachten feiern", nämlich mit den Liebespaketen v o n daheim, in: Kempowski, Echolot, 1, S. 38. Vgl. auch Kilimann, Propaganda, S. 190. Abgedruckt in: Kempowski, Echolot, 1, S. 1 4 5 - 1 4 6 .
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„Ach, lieber Fritz, ich weiß noch, wie Du am Anfang des Krieges immer sagtest, der Krieg dauert nicht lange, Du müßtest schnell weg, wenn Du noch etwas abhaben wolltest. Du hast doch jetzt bestimmt die Nase voll und weißt auch, was Krieg heißt. Typisch Mutter, nicht wahr" 41 ? Die nationalsozialistische Propaganda der Zusammengehörigkeit von Front und Heimat schlug sich auch in den Briefen und Tagebüchern von Frauen nieder 42 . Gerade von jungen Frauen wurden die vermeintlichen Fronterfahrungen der Männer vielfach zur Orientierung für das eigene Geschlecht hochstilisiert. So zitiert Susanne zur Nieden aus dem Tagebuch einer 16jährigen: „4.1. 44. Ich muß des deutschen Soldaten würdig sein. Der hat auch den Tod vor Augen" 43 . Ist jene Textpassage wohl eher Ausdruck einer pubertären Sehnsucht nach dem „Held", so stand das Blut und Boden-Gedicht, das Irmgard Rübe als „Soldatenfrau und geistige Mitkämpferin" dem OKW schickte, ganz auf dem Boden nationalsozialistischer Ideologie. Sie widmete es dem „Andenken an den großen Heldenmut der Stalingradkämpfer" 44 . Ihren Niederschlag fand diese Ideologisierung auch in den sehr beliebten „Wunschkonzerten für die Wehrmacht" im Rundfunk oder den „Wochenschauberichten" im Film. Insbesondere die Wochenschau transportierte die Geschehnisse an der Front in die heimatlichen Kinos: „Das schönste im Kino aber war die Wochenschau Und dann all die anderen interessanten Bilder von der Seeschlacht, der Verleihung der Eisernen Kreuze in Paris, dann die Verhandlungen usw., wunderbar" 45 ! Andere hingegen wußten um die geschönten Bilder, und dieses Wissen steigerte ihre Befürchtungen: „Durch die Wochenschau bekommen wir ja eine kleine Ahnung von dem, was im Osten geschieht, und glaube mir, dieser Ausschnitt erweckt in uns schon so viel Grauen, daß wir am liebsten die Augen schließen möchten .... Und die Wirklichkeit, wie mag sie nur sein? Ich glaube, vorstellen werden wir sie uns nie können" 46 . Auch die 33jährige Kauffrau Hilde Wieschenberg schrieb, daß die vermutete Grausamkeit des Krieges gegen die UdSSR ihr Vorstellungsvermögen übersteige: „Liebes, ich bemühe mich oft, mir von den Schlachten im Osten eine Vorstellung zu machen. Es kommt nur etwas Unvorstellbares heraus. Es wird auch für alle, die nicht dabei waren, ein Geheimnis bleiben" 47 .
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Frau S. aus Eldagsen am 14. 10. 1941, zit. n. Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht, S. 83. Auf die enge Verflechtung zwischen Moral und Motivation der Truppe mit der Einstelllung der Zivilisten weist auch Bartov, Wehrmacht, S. 19 und passim hin. Nieden, Alltag, S. 86. Vgl. auch Kempowski, Echolot, 3, S. 17, Hildegard Wagener: „Ich war manches Mal mit meinem Los nicht zufrieden ..., aber ich will nicht mehr klagen, denn Ihr Soldaten werdet auch nicht gefragt, ob Sonntag ist oder ob es Euch zuviel wird." Die Verpflichtung zum Durchhalten stellten vice versa auch Soldaten an ihre Ehefrauen und Kinder. Siehe Türmer-Rohr, Liebe; Rohr, Kinder. Vgl. Kempowski, Echolot, 3, S. 1 8 2 - 1 8 3 . Frau K. aus Aichach am 15. 7. 1940, zit. n. Buchbender/Sterz (Hrsg.), Gesicht, S. 63. Frau B. aus Düsseldorf am 8. 8. 1941, zit. n. ebd., S. 76-77. Zit. n. Kempowski, Echolot, 3, S. 761.
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Gerade der letzte Satz wirft für die Interpretation einige Fragen auf und markiert in seiner Mehrdeutigkeit ein grundlegendes Problem in der Analyse von Feldpostbriefen. Wollte die Briefeschreiberin überhaupt wissen, was an der Ostfront geschah? Drückt sich in dem vergeblichen Bemühen nicht der Rückzug in die Idylle, in die „normale" Seite der „Volksgemeinschaft" aus? Was genau meinte sie mit dem Begriff „Geheimnis": die imaginierten Greuel der gegnerischen Seite oder (auch) die der deutschen? Antizipierte Hilde Wieschenberg in dieser Passage das Schweigen der deutschen Öffentlichkeit nach 1945? Um diese Briefstelle besser verstehen zu können, müßten Informationen vorliegen zur Person und Biographie der Schreiberin, zu ihrem Ehemann, ihrer Lebenssituation etc. Methodisch sinnvoller scheint somit die Interpretation geschlossener Konvolute einer Person oder eines Paares, aus der sich beispielsweise ergebe, welche Bedeutung das Schreiben der Briefe oder Tagebücher für die Verfasser und Verfasserinnen hatte. Auch sollte ein einzelner Brief als Gesamttext gesehen werden, für dessen Analyse nicht nur wichtig ist, was verschwiegen wurde, sondern auch, wie die Schreiberin die Informationen arrangierte oder inwiefern traditionelle Schreibkonventionen die Briefe prägten 48 . Denn trotz der immer wieder verhandelten Topoi wird deutlich, wie schwierig es ist, aus Zusammenstellungen von Textpassagen etwas über die generelle Stimmung und Haltung an der weiblichen „Heimatfront" aus den Schriften herauslesen zu wollen. So ist es fraglich, ob für die Jahre von 1943 bis 1945 von einem „Prozeß zunehmender Integration" 49 der Frauen in den „totalen Krieg" gesprochen werden kann. Eine systematischere Analyse von weiblichen EgoDokumenten würde vermutlich zum Ergebnis haben, daß die Quellen kaum generalisierende Aussagen zulassen, sondern daß eine Vielfalt an Reaktionen auf den Krieg vorliegt, die je nach sozialem, kulturellem, religiösem und politischem Hintergrund differierte. Auch die Faktoren Alter, Bildungsstand, eigene Betroffenheit durch Kriegseinwirkungen und Stand des Kriegsverlaufs, ob Ostoder Westfrontbriefe, spielten eine große Rolle. Schließlich ist auch zu beachten, was Susanne zur Nieden und Ingrid Hammer ja selbst konstatierten, daß nämlich „scheinbar unvereinbare Gedanken und Gefühle nebeneinander stehen konnten, ohne daß die Schreiber dies bemerkten. Der Riß, den wir uns zwischen einzelnen Personen und Personengruppen verlaufend gedacht hatten, ging mitten durch den einzelnen hindurch .
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Siehe hierzu auch die Beiträge v o n Ulrike Jureit und Inge Marßolek zur Interpretation von Feldpostbriefen, die Anfang 1999 in WerkstattGeschichte erscheinen werden. Nieden, Alltag, S. 8 6 - 8 7 . Vgl. auch Mergner, Fatalismus. Hammer/Nieden (Hrsg.), Sehr selten, S. 9 - 1 0 . Siehe z.B. „Anni", in: Golovchansky u.a. (Hrsg.), Wahnsinn, S. 25: „Man freut sich ja immer wieder wenn unsere Truppen einen Sieg errungen haben. Zugleich kann man sich ja auch an fünf Fingern abzählen das dies alles viel blutige O p f e r kostet."
N u r die halbe Geschichte. Frauen im U m f e l d der Wehrmacht
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IV Die nationalsozialistische Sozialpolitik in der Kriegszeit wurde wesentlich von Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse bestimmt, wie ich an der Versorgung der Familien von Wehrmachtsoldaten zeigen konnte, die zum Kriegsdienst einberufen wurden 51 . Um den Ausfall des Ernährereinkommens zu kompensieren, subventionierte der nationalsozialistische Staat mittels des „Familienunterhalts" die Familien der eingezogenen Mannschaftssoldaten. Im Vergleich mit den Regelungen vor allem der demokratischen Kriegsgegner bemaßen die Amter für Familienunterhalt die Unterstützung sehr großzügig. Sie orientierte sich weitgehend an der Höhe des Einkommens, das der Ehemann vor seiner Einberufung bezogen hatte. Diese Großzügigkeit, die sich als starkes Hemmnis für die Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte ab 1940 erwies, stellte primär eine Reaktion auf das „Novembertrauma" der NS-Führung dar, auf den Zusammenbruch der „Heimatfront" im Ersten Weltkrieg. Mit dem Familienunterhalt sollte die Loyalität zum Regime und die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg gesichert werden. Zudem galten die Wehrmachtsoldaten samt ihren Frauen und Kindern als Keimzelle der „rassisch wertvollen" Volksgenossen und daher als fördernswert. Die Sorge um die Kampfmoral des Soldaten, der seine Familie in seiner Abwesenheit gut versorgt wissen sollte, prägte ebenfalls die Konzeption und die Administration des Familienunterhalts. Schließlich sollte die männliche Ernährerrolle erhalten bleiben und der Bestand der Familie gesichert sein. Damit ging es darum, die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse in den Soldatenfamilien möglichst stabil durch die Unordnung der Kriegszeit zu bringen. Allerdings befürchteten die verantwortlichen Stellen wie das federführende Reichsministerium des Innern und die regionalen Dienststellen der Sozialverwaltungen immer wieder, die Ehefrauen „verschwendeten" die Unterstützung ohne die gewünschte Gegenleistung wie eine geordnete Haushaltsführung und Kindererziehung, sexuelle Treue etc. zu erbringen. Mit dieser Haltung manövrierte sich die nationalsozialistische Verwaltung in den Konflikt, einerseits den Haushalt des Einberufenen erhalten, ohne jedoch andererseits die ökonomische Unabhängigkeit der Ehefrauen erweitern zu wollen. Die nationalsozialistische Verwaltung löste dieses Dilemma, indem sie nonkonformes Verhalten, das gegen die rassenpolitischen Grundsätze des Regimes verstieß, wie Beziehungen zu Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern oder vermeintliche „Asozialität", mit großer Härte - Entzug des Familienunterhalts bis hin zu Einweisung in ein KZ oder Todesstrafe - sanktionierte. Dagegen waren die Versuche von Soldatenfrauen, sich dem „Arbeitseinsatz" zu entziehen, meistens erfolgreich, weil der nationalsozialistische Staat nicht die loyalitätspolitische Zielsetzung gefährden wollte. Aus der Perspektive der meisten Soldatenfrauen waren die Jahre 1939 bis 1945 eine höchst ambivalente Zeit. Zu ihren Erfahrungen des Krieges gehörte einerseits die alleinige Sorge für die Familie, die Doppel- und Mehrfachbelastungen
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Kundrus, Kriegerfrauen.
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Birthe Kundrus
durch Erwerbs- und eine erschwerte Hausarbeit, die Bedrohung durch den Bombenkrieg und ein öffentlicher Tugenddiskurs, der die Ehefrauen an ihre weiblichen Pflichten mahnte. Andererseits nutzte manche Soldatenfrau die sich bietenden Freiräume, ging außereheliche Beziehungen ein, verfügte über ihr Einkommen autonom oder erzog ihre Kinder nach eigenem Gutdünken - ohne ehemännlichen Einspruch. Wünschenswert wäre im Anschluß an diese Ergebnisse eine komplementäre Studie, die sich Frage widmete, ob diese Dynamik der Geschlechterbeziehungen in Kriegszeiten auch für die männliche Seite galt.
V Sehr viel eher als die legalisierten Beziehungen wurden die außerehelichen sexuellen Kontakte von Wehrmachtsoldaten und ihre staatliche Kanalisierung zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses, so etwa die Einrichtung von Wehrmachtbordellen 52 . Für das Operationsgebiet der Wehrmacht wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn die Kasernierung von Prostituierten angeordnet. Zweck dieser staatlich kontrollierten Prostitution war es, den unterstellten soldatischen Sexualtrieb zu versorgen und damit die Kampfkraft zu stärken sowie Vergewaltigungen, Homosexualität und vor allem die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Die Verantwortung lag beim Wehrmachtsanitätswesen und den Ortskommandanturen. In den okkupierten Staaten wurden entweder bestehende Bordelle zu Wehrmachtbordellen erklärt oder neue Lokale eingerichtet. 1942 - so Seidler - habe die Wehrmacht über 500 öffentliche Häuser verfügt. Generalisierende Aussagen sowohl über die administrative Politik als auch über die Erfahrungen der in den Bordellen tätigen Frauen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht machen, weil grundlegende Untersuchungen, auch zum Wehrmachtsanitätswesen, fehlen 53 . Gleichermaßen klammern Studien zu den jeweiligen Okkupationssystemen diesen Bereich augenscheinlich aus. Die ab 1943 eingerichteten Soldatenbordelle im Reichsgebiet sind vollkommen unbekannt geblieben. Die „Anwerbung" der Frauen erfolgte in Rußland überwiegend durch brutalen Zwang seitens der deutschen Besatzer. Außerdem wurden Frauen aus dem KZ Ravensbrück in Wehrmachtbordelle verschleppt. Dagegen arbeiteten in Frankreich Frauen auch freiwillig in den öffentlichen Häusern. Unklar ist, inwiefern rassenpolitische mit kriegspolitischen bzw. geschlechterpolitischen Zielsetzungen kollidierten. In die Bordelle wurden nämlich neben Polinnen und Russinnen auch Jüdinnen gezwungen, obwohl der Geschlechts-
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Vgl. Seidler, Prostitution, S. 1 3 5 - 1 9 2 . Leider gilt auch für diese Arbeit Seidlers, daß sie wissenschaftlich keinesfalls genügen kann. So werden z.B. Quellen weder ausreichend belegt, noch kritisch eingeordnet. Vgl. auch Paul, Zwangsprostitution, S. 1 0 1 - 1 0 6 . Insa Meinen, Oldenburg, fertigt zur Zeit zum Thema „Wehrmacht und Prostitution in Frankreich 1 9 4 0 - 1 9 4 4 " eine Untersuchung an. Eine Dissertation zu Wehrmachtbordellen an der O s t f r o n t erarbeitet W e n d y J o Gertjejanssen an der University of Minnesota. A u c h das insgesamt siebenbändige W e r k von Fischer, Sanitätsdienst, das wegen seiner mangelnden Quellenkritik und seiner unreflektierten Parteinahme höchst problematisch ist, schweigt sich über die Frage der „sexuellen Versorgung" der Soldaten aus.
N u r die h a l b e G e s c h i c h t e . F r a u e n im U m f e l d der W e h r m a c h t
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verkehr mit ihnen sowie schwarzen und Roma- und Sinti-Frauen verboten war. Umgekehrt sollten die Soldaten verbündeter Armeen und die ausländischen Freiwilligen der Wehrmacht in eigene Bordelle geschickt werden. In der Praxis wurde auch diese Regelung nicht immer durchgeführt. Die Spanne zwischen ideologischer Norm und sozialer Realität im Nationalsozialismus bestätigt sich, wenn untergebene Stellen mitunter abweichend von Befehlen ihrer Vorgesetzten agierten. Komparativ angelegte Länderstudien könnten klären, welchen Handlungsspielraum die lokalen deutschen Militärbehörden jeweils besaßen 54 . Persönliche Kontakte, die nicht von der Wehrmachtführung kanalisiert und reguliert werden konnten, wurden demgegenüber unterbunden. Die Beziehungen zu russischen Frauen ζ. B. waren untersagt, weil diese „rassisch minderwertig" seien und daher einen „unwürdigen" Umgang für einen deutschen Soldaten darstellten. Überdies wurden die Frauen für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht und der Agentinnen- oder Partisaninnentätigkeit verdächtigt. Die Truppen wurden angewiesen, stärkste Zurückhaltung zu üben. Männer, die mit russischen Frauen verkehrten, erwarteten harte Strafen. Geschlechtskranken Wehrmachtangehörigen drohte eine Urlaubssperre. Omer Bartov erinnert an eine Kampagne in der Wehrmacht, beispielsweise seitens der Division Groß-Deutschland, der 18. Panzerdivision oder der 12. Infanteriedivision, die Soldaten von einer „Fraternisierung" mit russischen Frauen abzuhalten 55 . Einerseits scheint der Erfolg dieser Verbote gering gewesen zu sein. Andererseits - so Bartov - setzten die rassistischen Horrorgeschichten von der „geschlechtskranken, jüdisch versippten, feindlichen Agentin mit freundlichem Gesicht" vermutlich die moralische Schwelle herab, die etwa bei der Liquidierung von Frauen - und Kindern - im Rahmen der „Partisanenbekämpfung" zu Beginn des Uberfalls auf die Sowjetunion noch bestanden hatte. Auch Tausende von Soldatinnen der Roten Armee, die in deutsche Hände fielen, erwartete vermutlich ein zumeist genauso unmenschliches Schicksal wie ihre männlichen Kombattanten. Anders als diese - und wenn sie die Rotarmistinnen nicht schon vorher getötet hatten - übergaben die Wehrmachttruppen sie der Sicherheitspolizei. Diese wiederum wies die Frauen als „politisch-unzuverlässige" sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslager ein. Uber ihr weitere Schicksal wissen wir noch weniger als über die deutschen weiblichen Kriegsgefangenen 56 . Vergewaltigungen durch Angehörige der Wehrmacht sind nach wie vor weitgehend unerforscht. Birgit Beck aus Bern erarbeitet eine Studie, die die sexuelle Gewalt im Rahmen des „Unternehmens Barbarossa" zum Gegenstand hat57.
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Siehe hierzu u. a. Fleischer, Besatzungsherrschaft. Bartov, Wehrmacht, S. 1 4 4 - 1 4 6 . Siehe Streim, Gefangene, S. 1 9 7 - 1 1 1 , 142; Seidler, Frauen, S. 1 6 8 - 1 6 9 ; Unverzagt, Kriegsgefangene. A u c h in der Standard-Monographie v o n Streit, Kameraden, bleiben sie unerwähnt. Diese Konzentration auf die Geschichte der Deutschen gilt auch für die männlichen Kriegsgefangenen. Siehe Beck, Vergewaltigung; siehe auch Brownmiller, Willen, S. 5 5 - 6 2 . Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee fanden dagegen weitaus mehr Aufmerksamkeit. Vgl. Grossman, Frage; Hoerning, Frauen; den umstrittenen Film v o n Heike Sander, Befreier und Befreite, Krieg, Vergewaltigung und Kinder, Deutschland 1991/92, und das unter
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Probleme bei der Erforschung derartiger Thematiken birgt nicht nur die oftmals dürre Quellenlage. So bestand offenbar seitens der zuständigen Disziplinarvorgesetzten bei der Wehrmacht nicht immer Interesse daran, „sexuelle Gewalt gegen Zivilisten unnachgiebig zu verfolgen und zu ahnden, da im Rahmen des rassenideologisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungskrieges die Demütigung der Bevölkerung einen festen Bestandteil der Kriegführung darstellte" 58 . Auch die Ausnutzung von Kriegsvergewaltigungen zu Propagandazwecken erschwert historiographische Analysen. Diese Einschränkung gilt im übrigen nicht nur für die Fälle, die Vertreter der sowjetischen Regierung während des Krieges und später vorlegten, um Notzuchtverbrechen zu dokumentieren. Die ja nicht ganz unerhebliche Frage, ob diese Verbrechen Wehrmacht- oder SSoder Polizei-Verbände begangen haben, konnte aufgrund des vorgelegten Materials nicht beantwortet werden. Zudem wurden ausschließlich Augenzeugenberichte übergeben.
VI Auch die Beziehungen von Wehrmachtsoldaten und Frauen der okkupierten Nationen, die nicht auf Gewalt, sondern auf gegenseitiger Zuneigung basierten, haben inzwischen wissenschaftliche Beachtung gefunden 59 . Beispielsweise sollen ca. 40000 bis 50000 Norwegerinnen sexuelle Kontakte mit deutschen Soldaten gehabt haben. Im Mittelpunkt dieser Studien stehen zumeist die Anfeindungen, denen diese Frauen als „Deutschenliebchen" und damit als vermeintliche Kollaborateurinnen seitens ihrer Landsleute in der Kriegszeit, vor allem aber nach der Befreiung ausgesetzt waren. Nachdem es zunächst - anders als in Osteuropa - keine rassenpolitischen Bedenken gegen Kontakte mit der Zivilbevölkerung in Belgien, Holland, Nordfrankreich, Dänemark und Norwegen gegeben hatte, lehnten auch die nationalsozialistischen Machthaber diese „Fraternisierungen" ab. Aber je nach kriegs- und rassenpolitischer Einschätzung des okkupierten Landes wurde diese Pönalisierung beweglich gehandhabt. Auf den Kanalinseln ζ. B. befolgte offenbar kaum jemand die Kontaktverbote der Inselkommandanten. Anette Warring und Madeleine Bunting stellen in ihren Untersuchungen zu Dänemark und den Kanalinseln fest, daß Frauen sich Vorteile von der Beziehung erhofften oder sich einfach in einen deutschen
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dem gleichen Titel von Sander/Johr herausgegebene Buch sowie sehr ausführlich Naimark, Russen, S. 91-180; siehe generell Seifert, Krieg. Beck, Vergewaltigung, S. 45. Siehe Drolshagen, Nicht ungeschoren; dies., Schicksal; Bunting, Occupation, S. 55-73, 252-260. An der Universität Oslo ist ein Forschungsprojekt „Frauen, Krieg und Liebe" zu den Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und Norwegerinnen eingerichtet worden. Ich danke Ebba Drolshagen, Frankfurt, für diese Informationen. Hingewiesen sei hier auch auf das vergleichende Projekt von Almuth Roelfs, Universität Bremen, Uber die Geschlechterbeziehungen zwischen deutschen Frauen und sowjetischen bzw. amerikanischen Besatzern. Siehe auch zu den Beziehungen amerikanischer Soldaten Shukert/ Scibetta, War Brides.
Nur die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht
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Soldaten verliebten. Diese Verhältnisse - so Warring - hätten per se die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit überschreiten müssen, weil beide Beteiligten nolens volens in einer Doppelfunktion agierten: Sowohl der Soldat als auch die Frau seien Privatperson und Besatzer bzw. „Fraternisierende" in einem gewesen 60 .
VII Als Fazit läßt sich festhalten, daß bislang die Projekte und Publikationen nur Ausschnitte darlegen konnten. So bleibt der Kenntnisstand über die einzelnen Forschungsfelder, sei es die Einrichtung von Wehrmachtbordellen in den okkupierten Staaten oder die Beteiligung von Helferinnen an verbrecherischen Aktionen einzelner Wehrmachtteile, lückenhaft. Besonders zu beklagen ist das Fehlen von Untersuchungen zu den besetzten Gebieten bzw. zu Gruppen von Frauen aus den okkupierten bzw. gegnerischen Staaten. Gerade nach der Öffnung der Archive in den ehemals kommunistischen Staaten Osteuropas wäre dieser bislang fast völlig vernachlässigte Bereich der Okkupation und seiner geschlechtsspezifischen Dimensionen vermutlich sehr viel besser aufzuarbeiten als bisher. Komparative Analysen, vor allem vergleichende Länderstudien böten den Vorzug, viel präziser als bisher das tatsächlich Spezifische des nationalsozialistischen Herrschaftssystems bzw. des Vorgehens der Wehrmacht oder auch der Wahrnehmung ihrer (nicht nur) weiblichen Mitglieder zu bestimmen. Wünschenswert wären vor allem Analysen, die versuchten, methodisch zwei miteinander korrespondierende Untersuchungsebenen zu koppeln: Zum einen müßten die politischen Entscheidungsprozesse pointierter nachgezeichnet werden. Zum anderen könnten für die so wichtige Perspektive auf die Innenansicht des Zweiten Weltkrieges, auf die Erfahrungen und das Bewußtsein von Männern und Frauen im Krieg wahrnehmungsgeschichtlich ausgerichtete Studien wertvolle Ergebnisse liefern. Bekannte Quellen etwa des Bundesarchivs/Militärarchivs wären hierfür systematischer auszuwerten, neue Materialien müßten z . B . in den ehemals besetzten Staaten oder durch Interviews erschlossen werden. Entscheidend aber ist eine noch keineswegs selbstverständliche „Selbstverständlichkeit": nämlich synthetisierend zu arbeiten, d.h. Ansätze der Frauenund Geschlechtergeschichte mit denen der Militär-, Politik-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu verschränken.
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S. Warring, Tyskerpiger, und dies./Ellingsen/Björnsdottir, Krinner.
VI Die Wehrmacht als Teil des NS-Unrechtsstaates
Eberhard
Jäckel
Einführende Bemerkungen
Natürlich war die Wehrmacht ein Teil des NS-Unrechtsstaates. Das ist so selbstverständlich, daß es beinahe banal erscheint. Trotzdem wurde und wird es bestritten. Es ist ein in der Öffentlichkeit weitverbreiteter Irrtum vom Range eines Mythos, die Wehrmacht habe ein Eigenleben geführt. Dieser Mythos hat nacheinander zwei Ausprägungen erfahren. Früher wurde vielfach behauptet, die Wehrmacht habe lediglich ihre militärischen Aufgaben erfüllt, sie sei an den Unrechtstaten jenes Staates nicht beteiligt gewesen, sei „sauber" geblieben, die Verbrechen seien allein von der SS verübt worden. Dieser Mythos erfuhr noch eine Steigerung, als einige Generäle behaupteten, die Wehrmacht habe eine erfolgversprechende Strategie vertreten und sei durch Hitlers militärischen U n verstand um den Sieg gebracht worden. Neuerdings wird die gegenteilige Behauptung aufgestellt oder doch der Eindruck erweckt, die Wehrmacht habe sich aus eigenem Entschluß selbständig an den Unrechtsmaßnahmen beteiligt. Das läuft in umgekehrter Richtung auf ungefähr dasselbe hinaus wie der einst verbreitete Mythos vom Eigenleben der Wehrmacht. Beide Mythen widersprechen der Realität. Diese Feststellung kann man zunächst ganz allgemein und ohne besondere historische Einzelkenntnisse begründen. Dazu genügen einige begriffliche Klärungen. Es ist erhellend, im Staat Staatsgewalt und Staatsapparat zu unterscheiden. Staatsgewalt ist die Möglichkeit, die Gesetze, Weisungen und Richtlinien zu erlassen, die der Staatsapparat ausführt. Alle Armeen der Welt sind in der Regel Teil des Staatsapparates und insofern wie die übrigen Behörden, etwa die Polizei und die Justiz, den Weisungen der Inhaber der Staatsgewalt, also der Regierungen unterworfen. Dieser Vorgang ist in der Praxis und zumal unter der Bedingung einer Gewaltenteilung komplizierter. Aber grundsätzlich ist Politik so organisiert. Die Armee kann auch im Besitz der Staatsgewalt sein. Diese Herrschaftsform nennt man Militärdiktatur. Bekanntlich war und ist sie in vielen Teilen der Welt verbreitet. Gewöhnlich kommt sie durch einen Putsch oder einen Staatsstreich zustande, indem die Armee die Staatsgewalt an sich reißt und die Regierung selbst übernimmt. Es gibt vor allem in Kriegen auch gleitende Übergänge. Das war in Deutschland im Ersten Weltkrieg unter der 3. Obersten Heeresleitung der Fall gewesen, als Hindenburg und Ludendorff der Regierung Weisungen erteilten. In der NS-Zeit war jedoch das gerade Gegenteil der Fall. Der oberste politische Führer beschränkte sich nicht darauf, der Wehrmacht Weisungen zu erteilen. Er lenkte sie in weit größerem Ausmaß als die Regierungschefs zu früheren Zeiten und in anderen Ländern. Hitler war bekanntlich nicht nur Oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Er übernahm im Februar 1938 auch die Aufgaben des zuständigen Ministers und war seit Dezember 1941 sogar Oberbefehlshaber des Heeres, das heißt, er befehligte einen der drei Wehrmachtteile
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Eberhard Jäckel
unmittelbar. Selten ist eine Armee enger an die politische Führung gebunden und insoweit von ihr abhängig gewesen. D e r NS-Staat war wahrlich keine Militärdiktatur, und er war auch weit entfernt davon, militaristisch zu sein. Richtig ist, daß der Führerstaat nach militärischen Prinzipien geordnet war. D e r Führer befahl, und die Bürger hatten ebenso zu gehorchen wie die Soldaten ihren Vorgesetzten. Militarismus liegt aber nur dann vor, wenn das Militär einen entscheidenden Einfluß auf die Politik hat, wenn die Politiker sich von den Militärs nicht nur beraten, sondern auch ihre Entscheidungen vorschreiben lassen. Das aber war im NS-Staat gerade nicht der Fall, sondern das Gegenteil. Erst vor dem H i n t e r g r u n d dieser begrifflichen Klärungen wird das Verhältnis zwischen dem NS-Staat u n d der Wehrmacht einsichtig. Gewiß war es komplex; das wird in der Forschung und in diesem Sammelband untersucht. D o c h kann man auch hier ein paar grundsätzliche Feststellungen treffen. A m Anfang muß stehen, daß die Wehrmacht den NS-Staat vorfand und ihn keineswegs herbeigef ü h r t hatte. Hitler w u r d e am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten ernannt, u n d H i n d e n b u r g hatte sogar besondere Sorge, ihm die Reichswehr auszuliefern. Deswegen war in den Verhandlungen, die der Regierungsbildung vorangingen, festgelegt worden, daß er den Reichswehrminister allein bestimmen durfte. Das war gegen die Verfassung, die im Artikel 53 vorsah, daß die Reichsminister auf Vorschlag des Reichskanzlers v o m Reichspräsidenten ernannt und entlassen wurden. Indem H i n d e n b u r g den General von Blomberg noch vor der E r n e n n u n g u n d Vereidigung Hitlers z u m Reichswehrminister ernannte und ihn vereidigte, verstieß er nicht nur gegen die Verfassung, sondern beraubte den neuen Reichskanzler auch eines ihm nach der Verfassung zustehenden Rechtes. Wahr ist allerdings, daß sich zwischen dem Reichswehrminister und dem Reichskanzler bald ein besonderes Vertrauensverhältnis bildete wie auch zwischen der Reichswehr insgesamt und der neuen Regierung. Damit gelangt die Betrachtung v o m Prinzipiellen u n d Konstitutionellen in den Bereich des Politischen. Es ist vielfach beschrieben worden, aus welchen G r ü n d e n die Reichswehr dem NS-Staat gern diente. Ihr Verhältnis zur Weimarer Republik war immer distanziert gewesen. Das ergab sich einerseits aus der überlieferten engen Anhänglichkeit an das vorige Regime. Die Republik hatte anderseits die Auflagen des Versailler Vertrages erfüllen müssen, die insbesondere eine Verringerung des Militärs vorsahen. Viele Soldaten hatten ihren Beruf verloren. Hitler hingegen war von vornherein mit dem Programm angetreten, die Bestimmungen des Friedensvertrages nicht mehr zu beachten. Eine seiner ersten Maßnahmen war der Austritt aus dem Völkerbund, der gewissermaßen der Garant des Versailler Vertrages war. Indem Hitler eine Vergrößerung der Reichswehr und eine Wiederaufrüstung zuerst in Aussicht stellte und dann betrieb, kam er den Interessen der Reichswehr entgegen. Sie fühlte sich besser behandelt als zuvor. Allerdings entwickelte sich bald ein erster Gegensatz. Die Staatspartei ( N S D A P ) verfügte über eine Parteiarmee (die SA), die unter ihrem Chef Ernst R ö h m Bestrebungen verfolgte, neben der Reichswehr oder sogar an ihrer Stelle zu einer Milizarmee zu werden. Das beunruhigte die Reichswehrführung, die deutlich ihren Anspruch anmeldete, „der einzige Waffenträger des Reiches" zu
Einführende Bemerkungen
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bleiben. Indem Hitler sich auf die Seite der Reichswehr stellte und die SA im Sommer 1934 zerschlug, verpflichtete er sich die Reichswehr, und sie entgalt es ihm mit Dankbarkeit und gesteigerter Anhänglichkeit, die auch darin zum Ausdruck kam, daß sie nach dem bald darauf erfolgten Tode Hindenburgs und dem Ubergang seines Amtes auf den Reichskanzler aus eigenem Antrieb die Vereidigung der Soldaten auf Hitler persönlich beschloß. Sie fand sich auch widerspruchslos damit ab, daß Hitler im Februar 1938 die Befehlsgewalt über die Wehrmacht, wie es in seinem Erlaß hieß, „unmittelbar persönlich" übernahm. Noch im selben Jahr freilich entstand ein neuer Gegensatz. Die Heeresführung widersprach Hitlers Entschluß, einen Krieg gegen die Tschechoslowakei auszulösen, weil dieser zu einem Krieg mit England und Frankreich führen würde, den das Reich nicht gewinnen konnte. Die Heeresführung beschränkte sich zunächst auf ihre traditionelle Aufgabe einer Beratung der politischen Führung, indem sie auf das Risiko des geplanten Unternehmens hinwies, und steigerte sich, als sie erkannte, daß ihr Rat nicht angenommen wurde, zu dem ganz ungewöhnlichen Schritt, einen Staatsstreich zum Sturz des „Führers" vorzubereiten. Das war in der deutschen Militärgeschichte ohne Vorgang. Dieser Gegensatz hielt an, bis es Hitler im Sommer 1940 wider Erwarten gelang, Frankreich in einem kurzen Feldzug niederzuwerfen. Es war eine Folge dieses Triumphes, daß die Wehrmachtführung zwar auch von dem Krieg gegen die Sowjetunion abriet, aber ihren Widerspruch anders als 1938 nicht bis zum Widerstand steigerte. Zu dem Gefühl der Dankbarkeit war die Überzeugung von Hitlers Unfehlbarkeit getreten. In den Feldzügen seit 1941 sowohl auf dem Balkan wie in Osteuropa kam es dann zur Beteiligung der Wehrmacht an den schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts. Wie das möglich war, ist seit einiger Zeit ein wichtiger Gegenstand der historischen Forschung, und davon handeln auch die folgenden Beiträge. Während ihnen nicht vorgegriffen und auch der zuvor schon erreichte Forschungsstand hier nicht referiert werden soll, sind doch wiederum einige grundsätzliche Feststellungen zu treffen. Es darf nicht übersehen werden, daß die Entschlüsse zu diesem Krieg und der verbrecherischen Kriegführung sowie vor allem zum Mord an den europäischen Juden nicht von der Wehrmacht, sondern von der politischen Führung ausgegangen waren. Anfänglich war es nicht die Wehrmacht, die verbrecherisch geworden war, sondern die Staatsführung. Es kann aber auch nicht übersehen werden, daß die Wehrmacht keineswegs allein auf Befehl handelte, ganz abgesehen davon, daß viele dieser Befehle rechtswidrig waren und nicht befolgt werden mußten. Es ist wohl weithin zutreffend, daß die Wehrmacht inzwischen ein voll integrierter und engagierter Teil des verbrecherischen Staates geworden war und sich an den Verbrechen ebenso beteiligte wie die anderen Teile des Staatsapparates auch. Ein Eigenleben führte sie weder in dem Sinne, daß sie sich verweigerte, noch in demjenigen, daß sie die Verbrechen aus eigenem Entschluß einleitete. Die historische Forschung ist gut beraten, endlich von dem Mythos der Autonomie der Wehrmacht Abschied zu nehmen und immer die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge zu beachten. Während dies im einzelnen noch mancher Untersuchung bedarf, erscheint indessen eine letzte grundsätzliche Bemerkung angebracht. Nach der Wende des Krieges und besonders nach der Katastrophe von Stalingrad ergab sich ein drit-
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ter Gegensatz zwischen der militärischen und der politischen Führung, als Teilen der Wehrmacht bewußt wurde, daß Hitler dem Lande einen ähnlichen Untergang zumutete wie der Armee in Stalingrad. Dieser Gegensatz führte wie 1938 zu Staatsstreichplänen und kulminierte in dem Attentat vom 20. Juli 1944. Es darf nicht übersehen werden, daß dieser Schlag in erster Linie von der Wehrmacht ausging. Wenn man vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte eine Bilanz ziehen will, muß man das Gewöhnliche und das Ungewöhnliche unterscheiden. Ungewöhnlich war nicht, daß die Wehrmacht den Weisungen der Staatsführung folgte. Das tun in der Regel alle Teile des Staatsapparates und alle Armeen der Welt. Ungewöhnlich war schon, daß sie sich dabei an den verbrecherischen Maßnahmen beteiligte. Ungewöhnlich war aber vor allem, daß sie der politischen Führung dreimal Widerspruch und Widerstand entgegensetzte. Das hatte es in der früheren deutschen Militärgeschichte nicht gegeben. Erst wenn man sich diese Grundtatsachen klarmacht, kann man das Thema sachgerecht behandeln.
Hans Umbreit Die Verantwortlichkeit der Wehrmacht als Okkupationsarmee
Es ist eines der Verdienste des polnischen Historikers Czeslaw Madajczyk, auf eine Tatsache hingewiesen zu haben, die leider nicht zu bestreiten ist. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, der so viele Opfer gefordert hat, sind die meisten Menschen nicht an der Front ums Leben gekommen, sondern infolge des Terrors und der Verhältnisse in den besetzten Gebieten 1 . Man kann sogar weitergehen: Die meisten Europäer erlebten diesen Krieg zwar auch als kriegerisches Geschehen, das bei der Eroberung ihres Landes und dann wieder bei seiner Befreiung über sie hinwegging; sie erlebten ihn aber in der Hauptsache als eine mehrjährige deutsche Fremdherrschaft, die der heute älteren Generation als zumeist leidvolle Erfahrung in der Erinnerung geblieben ist. Das Leben unter deutscher Besetzung bedeutete Demütigung, Entrechtung, wirtschaftliche Verarmung, existenzielle Bedrohung und physische Verfolgung derjenigen, die sich den aufgezwungenen Verhältnissen widersetzten oder plötzlich verfemten ethnischen oder sozialen Minderheiten angehörten. Wer die Verhältnisse in den besetzten Gebieten näher zu ergründen sucht, wird nicht an der Feststellung herumkommen, daß Besatzungsregime unterschiedlichen Typs bestanden, daß deren Befugnisse beschränkt und die jeweiligen Kompetenzen unzureichend voneinander abgegrenzt waren, ja daß in der Ausübung der deutschen Besatzungsherrschaft mehr Improvisation als rationale Planung vorherrschte. Es gab weder eine Einheit der Verwaltung, noch eine Einheitlichkeit der Politik. Aus der Sicht der Bevölkerungen, die unter der deutschen Hegemonie zu leiden hatten, war das von nachgeordnetem Interesse. Soweit sie bei der Vielzahl von Instanzen, welche die Besatzungspolitik machten und zu verantworten hatten, zu Unterscheidungen in der Lage und bereit waren, sahen sie vielleicht noch Unterschiede zwischen Wehrmacht und Polizei, letztere häufig unter dem Schreckenswort „Gestapo" zusammengefaßt. In ähnlicher Weise uniformiert waren fast alle Besatzer. Ihre Zuordnungen und Abhängigkeiten waren selbst aus deutscher Sicht schwer zu erkennen und mitunter nicht einnmal eindeutig festgelegt. Für die besetzten Bevölkerungen stand die Wehrmacht im Vordergrund. Der Verlust ihrer Freiheit hatte mit dem Einmarsch der Soldaten begonnen. Die ersten Anordnungen und Maßnahmen gingen von militärischen Befehlshabern aus, und selbst wenn zivile Besatzungsbehörden nach einer Übergangszeit an ihre Stelle traten, so blieb die Wehrmacht als Okkupationsarmee präsent. Der Zustand des Besetztseins drückte sich am augenfälligsten in der Anwesenheit deutscher Soldaten aus, die hauptsächlich die deutsche Herrschaft gewährleisteten. Erst der Abzug der Wehrmacht be-
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Siehe Umbreit, Weg, S. 3.
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Hans Umbreit
deutete die Befreiung, und es lag daher nahe, daß deren Verantwortung für die Besatzungswirklichkeit von den Betroffenen sehr umfassend gesehen und dabei auch mitunter überschätzt wurde. Tatsächlich war der militärische Einfluß auf die Besatzungsherrschaft von der politischen Führung des Reiches von Anfang an eingeschränkt worden, und diese Entwicklung setzte sich im Verlauf des Krieges weiter fort. Die Befugnis zur Ausübung der vollziehenden Gewalt durch die Oberbefehlshaber von Heeresgruppen und Armeen, die sich anfangs auf das gesamte militärische Operationsgebiet erstreckt hatte, galt gegen Ende des Krieges, wobei auch die Ereignisse des 20. Juli eine Rolle gespielt hatten, nur noch für ein Gefechtsgebiet von 20 bis 25 km Tiefe und wurde lediglich mit einer umfassenden Befehlsgewalt und einem Anordnungsrecht gegenüber den Zivilbehörden umschrieben. Das politische Schwergewicht lag inzwischen bei den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren, nicht mehr bei den militärischen Kommandobehörden. Es ist eine müßige Spekulation, ob eine andere Entwicklung angesichts der Machtverhältnisse im „Dritten Reich" und eines sakrosankten „Führerwillens" möglich gewesen wäre. Der Diktator traute den Soldaten keinen „politischen Instinkt" zu - so wie er ihn für notwendig hielt - und vertrat überdies die nicht unbedingt absurde Auffassung, daß das Militär zum Kämpfen und nicht zum Verwalten bestimmt war. Dagegen erhob sich von Seiten der Wehrmacht auch kein nachhaltiger Widerspruch. Die Ziele des NS-Regimes und die Interessen der militärischen Führung wie der Truppe widersprachen sich nicht grundsätzlich. Die Absichten des sogenannten „Führers" stießen lange Zeit nur im Ausnahmefall auf Ablehnung. Sie beschränkte sich auf Einzelpersonen. Der Einflußverlust der bewaffneten Macht war von Hitler gewollt. Er wurde aber begünstigt durch ein Verhalten der militärischen Instanzen, das häufig durch Desinteresse, Versäumnisse und eine gläubige Unterwerfung unter den sogenannten „Führerwillen" gekennzeichnet war. Die bereitwillige und unkritische Unterordnung der Armee unter die politische Führung geriet unter den Bedingungen der NS-Diktatur zum Schaden für die Wehrmacht und bedeutete im Endergebnis, daß sie als Instrument der Kriegführung wie als Okkupationsarmee ihrer völkerrechtlich festgelegten Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Diese noch allgemeine Feststellung ist nicht neu und eigentlich schon nicht mehr als These zu betrachten. Diese Aussage soll im folgenden untermauert werden, wobei es unumgänglich ist, den pauschalen Begriff „Wehrmacht" aufzulösen und die tatsächlich unterschiedlichen Verantwortlichkeiten näher zu beschreiben. Dabei wird es kaum möglich sein, die Haltung und das Handeln einer Vielzahl von Spitzenmilitärs so zusammenzufassen, daß nicht sofort auf Gegenbeispiele verwiesen werden könnte. Es sollen zwei Zuständigkeitsebenen hervorgehoben werden, die vielleicht das Ausmaß militärischer Verantwortlichkeit und generelle Verhaltensweisen erkennbar werden lassen sowie die Folgen für die Besatzungswirklichkeit im deutschen Machtbereich erklären helfen: die der militärischen Zentralstellen und die der weisungsgebundenen Befehlshaber.
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Die militärischen Zentralstellen Traditionsgemäß stand im Falle eines Krieges dem deutschen Heer das Recht zur Ausübung der vollziehenden Gewalt zu. Dem trug noch das 1. Reichsverteidigungsgesetz vom 21. Mai 1935 Rechnung. Wenn der „Führer und Reichskanzler" den „Verteidigungszustand" für das Reich erklärte, übernahm er zugleich die gesamte vollziehende Gewalt, mit deren Ausübung, um „die Vordringlichkeit aller Forderungen der unmittelbaren Kriegführung" zu unterstreichen 2 , der Reichskriegsminister beauftragt war. Er konnte diese Befugnis ganz oder teilweise auf andere Personen übertragen, und ausgenommen von seinem Weisungsrecht an die obersten Reichsbehörden wurde nur der Reichswirtschaftsminister als „Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft". Von Seiten der Wehrmacht wurde eine innenpolitische Machtfülle, wie sie die bewaffnete Macht noch während des Ersten Weltkrieges besessen hatte, aber offensichtlich nicht mehr angestrebt. Die Überlegungen der 6. Abteilung des Generalstabes des Heeres, die unter Leitung des damaligen Majors und späteren Generalquartiermeisters des Heeres Eduard Wagner die Vorbereitungen zu treffen hatte, gingen davon aus, daß im Kriegsfall die vollziehende Gewalt auf die Armeeoberbefehlshaber übertragen wurde. Ihnen sollte jeweils ein hoher Beamter als „Chef der Zivilverwaltung" (CdZ) beigegeben werden, der in ihrem Auftrag die Verwaltung zu leiten hatte. Nach der anfänglichen Planung, die noch von der Notwendigkeit einer Reichsverteidigung ausging, bezog sich diese Regelung auf innerdeutsche Operationsgebiete, die nach der 1935 entworfenen H.Dv.90 „Versorgung des Feldheeres" vom Minister zusammen mit dem Generalstab des Heeres festzulegen waren. Die - soweit nach den erhaltenen Akten erkennbar - nicht sonderlich gründlich geplante CdZ-Organisation sollte bei der Eroberung fremden Staatsgebiets auch auf dieses übertragen werden. Nach Meinung des Generalstabes verboten sich weitergehende Vorbereitungen, da sie von der noch nicht bekannten militärischen Lage abhängig waren und der Gegenseite, wenn sie bekannt wurden, Rückschlüsse auf vorgesehene Operationsgebiete erlaubten und somit militärische Geheimnisse preisgaben. Immerhin wurden die CdZ mit ihrem kleinen Mitarbeiterstab in die Mob(ilmachungs)-Pläne aufgenommen. Auf diese organisatorischen Vorbereitungen hatte die Veränderung in der militärischen Spitzengliederung vom Februar 1938 keine direkten Auswirkungen. Daß Hitler an die Stelle des bisherigen Reichskriegsministers trat, bedeutete aber eine Erschwernis bei der Durchsetzung der militärischen Belange für den in der Folgezeit sich gelegentlich ergebenden Fall, daß es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Wehrmacht und politischer Führung kam. Gerade eine so hochpolitische Frage wie die Ausübung der vollziehenden Gewalt konnte dazu Anlaß geben. Daß Hitler sowohl die höchste politische und als Oberbefehlshaber der Wehrmacht nicht länger nur nominell auch die höchste militärische Führung verkörperte, erleichterte ihm die Einflußnahme auf die Verwaltung der besetzten Gebiete und die Verwirklichung seiner politischen und ideologi-
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U m b r e i t , M i l i t ä r v e r w a l t u n g e n , S. 15.
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sehen Pläne. Allerdings muß davon ausgegangen werden, daß der Umfang und die Dauer der Ausübung der vollziehenden Gewalt durch militärische Befehlshaber in einem so starken Maße von dem Willen der politischen Führung abhängig waren, daß eine eigenständige Besatzungspolitik über einen längeren Zeitraum hinweg ohnehin eine Illusion gewesen wäre. Die Abgabe der Exekutivbefugnisse an die bewaffnete Macht erfolgte seitens der Staatsführung nur als kurzzeitige Ausnahmeregelung für die von ihr festgelegten Operationsgebiete und für nur so lange, wie es aus militärischen Gründen geboten schien. Die Wehrmacht sah das nicht anders und paßte ihre Vorschriften den neuen Regelungen an, wie sie das 2. Reichsverteidigungsgesetz vom 4. September 1938 festschrieb. Inzwischen konnte davon ausgegangen werden, daß Operationsgebiete, in denen nur bei offizieller Erklärung des Verteidigungs- oder Kriegszustands der Oberbefehlhshaber des Heeres (ObdH) und durch ihn die Armeeführer automatisch die Befugnis zur Ausübung vollziehender Gewalt erhalten sollten, auf Reichsgebiet nur im grenznahen Aufmarschraum und nur für eine Ubergangszeit zu erwarten waren und sich in der Hauptsache auf die eroberten Länder erstrecken würden. Damit war das Grundmuster vorgegeben, nach denen die scheinbar „friedlichen" und die kriegerischen Besetzungen im Zweiten Weltkrieg abliefen. Die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den ObdH und die Oberbefehlshaber der Armeen sowie der Einsatz der hastig aufgestellten CdZ-Stäbe erfolgten zum ersten Mal beim Einmarsch in das Sudetenland. Die von den CdZ getragene Besatzungsverwaltung bewährte sich dabei ebensowenig wie bei ihrem späteren Tätigwerden auf tschechischem Gebiet und in Polen. Sie war nicht sofort arbeitsfähig und besaß nicht die Autorität, um Einfluß auf die sogleich auftretenden SS- und Polizeiformationen mit ihren von Himmler bestimmten „politisch-polizeilichen Aufgaben" 3 und die zahlreichen Vertreter von Reichsbehörden ausüben zu können. Die Heeresführung, die in der vollziehenden Gewalt bereits ein „politisch sehr heißes Eisen" sah und sehr wohl wußte, daß ihr die Exekutivbefugnisse nur vorläufig übertragen waren, zeigte sich erleichtert, wenn sie von einem Auftrag entbunden wurde, den Hitler nach eigenem Ermessen erteilte und wieder zurückzog. Im Falle des Sudetenlandes mußte der ObdH gegen seinen Wunsch gebeten werden, die vollziehende Gewalt noch eine Woche länger auszuüben, da die Zivilverwaltung des Reichskommissars Henlein noch nicht arbeitsfähig war. Die Militärbehörden hatten sich schon bei der ersten Ausübung ihrer Exekutivbefugnisse in einem besetzten Gebiet einem heimlichen Machtkampf ausgesetzt gesehen, den die einzelnen Reichsinstanzen untereinander ausfochten. Die Ausübung der vollziehenden Gewalt drohte, wie sie es empfanden, zur „Farce" zu werden. Sie fühlten sich zudem vor Entscheidungen gestellt, die sie in den Bereichen Verwaltung und Wirtschaft mangels ausreichender Weisungen überforderten und für die sie im Ernstfall, bei einer gleichzeitigen Kriegführung, auch keine Zeit zu haben glaubten. Die Unzulänglichkeiten der Planungen waren also schon beim ersten Einsatz jenseits der Reichsgrenzen offen zutage getreten. Bei der Besetzung der Tsche-
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Ebd., S. 42.
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chei im März 1939 wurde sie weniger deutlich, und Oberst Wagner war sogar zufrieden. Er sah eine „Glanzleistung des Heeres" vollbracht, „die ja generalstabsmäßig hervorragend geklappt hat" 4 , und gab sich der Überzeugung hin, daß alle Fäden bei ihm zusammengelaufen waren und er den „ganz großen Uberblick" besessen hatte. Mit dem Selbstbewußtsein der Soldaten, die mit ihrer „geradlinigen Denkart diese Dinge viel klarer und rascher lösen können", glaubte er sich in die Rolle Ludendorffs versetzen zu können, „der auch so vieles anpacken und lösen mußte, was eben der Zivilist in kurzer Zeit nicht fertigbrachte. Und was ist es anders" - so die Selbsttäuschung Wagners - „als die Kriegsverwaltung in Belgien, was ich z. Zt. mit ein paar tüchtigen Leuten schmeißen muß. Es ist eben doch alles Organisation und gesunder Menschenverstand." Dennoch war das OKH wiederum bemüht, „alles zu tun, um diese Aufgabe loszuwerden" 5 , und wie im Sudetenland hatten die Militärbehörden noch „länger regieren müssen", als sie eigentlich wollten - wozu sich der ObdH erst nach erbetener Bedenkzeit bereitfand. Tatsächlich hatte das OKH in erster Linie von dem Desinteresse profitiert, das die verschiedenen Reichsbehörden an den Verhältnissen im besetzten Gebiet zeigten. Sie wußten um die kurze Dauer der dem Heer verliehenen Befugnisse und konnten den Zeitpunkt der schon bekanntgewordenen endgültigen Regelung abwarten. Es lohnte sich für sie nicht, die vorgesehenen Maßnahmen noch mit den Militärbehörden auszuhandeln. Das sollte sich im besetzten Polen wiederholen, wo sich zudem eine Entwicklung fortsetzte, die beim Einmarsch in die Tschechei begonnen hatte: die Vergabe der CdZ-Posten an Gauleiter wie Konrad Henlein und Josef Bürckel, die sich aufgrund ihrer „Hausmacht" und ihres unmittelbaren Zugangs zu Hitler den Einwirkungen der militärischen Befehlshaber mühelos entziehen konnten. Wie wenig sich der Diktator an Zuständigkeiten und Planungen des Heeres zu halten gedachte, wenn sie mit seinen Absichten nicht mehr übereinstimmten, zeigte sich bei der Besetzung Polens. Schon nach wenigen Tagen, als es ihm auf eine schnelle Inbesitznahme der zur Annexion vorgesehenen westlichen und nördlichen Teile Polens ankam, ernannte er mit Albert Forster und Arthur Greiser neue CdZ für Danzig-Westpreußen und Posen. Nach Südostpreußen dehnte der Königsberger Gauleiter Erich Koch seine Dienststellen aus. Die vom OKH bestimmten Verwaltungschefs wurden teils überflüssig, teils noch für eine Übergangszeit benötigt, bis die politischen Persönlichkeiten gefunden waren: Reichsminister Arthur Seyß-Inquart als Verwaltungschef in Krakau, Reichsminister Hans Frank in Lodsch und zugleich Oberverwaltungschef beim Oberbefehlshabner Ost, Generaloberst Gerd von Rundstedt. Frank stattete seinem Vorgesetzten gerade zwei Besuche ab und wartete ansonsten darauf, bis die ihm unangenehme Unterstellung unter eine militärische Instanz ein Ende hatte. Daß mit der Eroberung Polens das OKH in ein „rein politisches Kräftespiel" geraten war, das einen Kampf „mit unsichtbaren Gewalten" 6 einschloß, war Wagner schnell aufgegangen. Für kurze Zeit glaubte er noch, sich durchgesetzt 4 5 6
Ebd., S. 60. Ebd., S. 59. Ebd., S. 85.
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zu haben. Drei Wochen später stellte er aber bereits die Bedingungen zusammen, unter denen ihm eine Weiterführung der militärischen Exekutive überhaupt noch sinnvoll erschien. Sie interessierten nicht. Hitler ließ durch Keitel ausrichten, daß die Wehrmacht froh sein solle, „wenn sie sich von den Verwaltungsfragen in Polen absetzen kann" 7 . An der Verwirklichung des vorgesehenen „Teufelswerks", wie sich Wagner notierte, war nichts zu ändern und der Heeresführung keine Vorstellungen beim Diktator wert. Proteste und Kritik einzelner Befehlshaber gegen das Vorgehen in Polen waren ebenso nutzlos wie empörte Meldungen aus der Truppe. In der Entwicklung bis Herbst 1939 waren fast schon alle entscheidenden Weichenstellungen erfolgt und alle Probleme angelegt, die für die Ausübung der Besatzungsherrschaft und für die Aufsplitterung der Verantwortung relevant waren oder werden sollten: 1) Die Ausübung der vollziehenden Gewalt und die Herrschaft über die besetzten Gebiete waren von so großer politischer Bedeutung, daß nur die Staatsführung darüber befinden konnte und wollte. 2) Hitler beließ der Heeresführung die vollziehende Gewalt, schränkte sie aber räumlich ein und sah in ihr eine wenig geschätzte Ausnahmeregelung, die er jederzeit auch wieder aufhob. 3) Die Heeresführung hatte sich um eine Ausdehnung oder wenigstens Festschreibung ihrer Exekutivbefugnisse nicht bemüht. Sie war vielmehr froh und erleichtert, wenn sie von einer lästigen Aufgabe und Verantwortung entbunden wurde. 4) D e m beschränkten Interesse von O b d H und O K H entsprach die geringe Aufmerksamkeit, mit der die Vorbereitungen für die Verwaltung besetzter Gebiete getroffen wurden. Die Bedeutung dieser Frage wurde nicht erkannt. Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit kennzeichneten, trotz wachsenden besseren Wissens, die Abstimmung mit der SS und Polizei über die Verwendung der Einsatzgruppen. „Wir kamen schnell überein", notierte sich Wagner von seinem Treffen mit Reinhard Heydrich am 29. August 1939 8 , und das wiederholte sich vor dem Rußlandfeldzug. Was sich hinter dem Ausdruck „Flurbereinigung" verbarg, war Brauchitsch und Wagner spätestens nach ihren Gesprächen mit Heydrich vom September 1939 bekannt. Der Heeresführung reichte es aus, daß sie das Mordprogramm nicht zu verantworten hatte. Die Absicht wurde offenbar akzeptiert. Die eigenen Wünsche beschränkten sich auf eine zeitliche Verschiebung der Maßnahmen bis zur Ablösung der Militärverwaltung. 5) Die CdZ-Organisation als Verwaltungsorgan für die besetzten Gebiete bewährte sich nicht. Die Vergabe der leitenden Posten an politisch potente Personen wie die Gauleiter hatte den Nachteil, daß sie von ihren militärischen Vorgesetzten nicht mehr zu kontrollieren waren und ihre eigene Politik verfolgten. Für Hitler bildeten sie das Reservoir, aus dem er vorzugsweise die Leiter der von ihm bevorzugten zivilen Verwaltungen rekrutierte. 6) Ein geringes Interesse an der Ausübung der vollziehenden Gewalt bestand auch bei manchen militärischen Führern, die darin eine Angelegenheit minde7 8
Ebd., S. l i e f . Ebd., S. 76.
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ren Ranges sahen. Aus der Sicht der hohen Kommandobehörden mußten im Hinterland der Front Ruhe und Ordnung herrschen, und diese waren, wie Rundstedt forderte, notfalls „mit den schärfsten Mitteln brutal" zu erzwingen 9 . Mehr als die Methoden interessierte das Ergebnis. Schon in Polen ließen die Sicherheits- und Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht mitunter die gebotene Verhältnismäßigkeit vermissen oder fielen bereits unter den Begriff der Ausschreitungen - Ausschreitungen auch gegen Juden. In Polen war offenkundig geworden, daß die CdZ-Organisation sich für den gedachten Zweck nicht eignete. Das OKH schuf für den Feldzug im Westen ein neues Instrument, die sogenannte „reine" Militärverwaltung, die mehr Einheitlichkeit und Geschlossenheit aufwies. An einem Grundzug der bisherigen Entwicklung änderte sich freilich nichts, wie das Beispiel der Niederlande und schließlich auch Belgiens zeigte, nämlich daß Hitler weiterhin eingriff und für ein ihm genehmes, stets ziviles Besatzungsregime sorgte. Die Resignation innerhalb der Heeresführung zeigte sich am deutlichsten bei Generalmajor Wagner, inzwischen Generalquartiermeister, der sich in Serbien im wesentlichen mit der militärischen Sicherung begnügen und im übrigen die „Gewalten der Polizei und des Vierjahresplans sich gegenseitig bekämpfen lassen" wollte 10 . Wenig später war er froh, beim Feldzug gegen die Sowjetunion „diesmal mit den ganzen politischen Dingen nichts zu tun zu haben" 11 . Einen eigenen Oberbefehlshaber des Heeres, der feste Zuständigkeiten besaß und insoweit nicht übergangen werden konnte, gab es bald nicht mehr, und von Keitel, der ihm in den Verwaltungsfunktionen nachfolgte, war eine feste Vertretung der militärischen Belange gegenüber dem Diktator nicht zu erwarten. „Die oberste Entscheidung, sofern sie eingeholt werden mußte, fiel niemals gegen die Parteilinie" 12 . Der Chef des Generalstabes war fast nur mit der Operationsführung beschäftigt, und der Generalquartiermeister, für den Fragen der vollziehenden Gewalt ebenfalls nur zu den nebensächlichen Problemen gehörten, war rangmäßig nicht hoch genug piaziert, um es mit den „unsichtbaren Gewalten" aufnehmen zu können. Heydrich war er nicht gewachsen, mit dem er am 26. März 1941 die Zulassung der Einsatzgruppen in die rückwärtigen Gebiete vereinbarte 13 . Wagners Vorgesetzte hatten keine Einwände. Brauchitsch gab am 28. April 1941 seine Unterschrift und machte das Heer zum Komplizen der SS in einer der größten Mordaktionen der deutschen Geschichte. Von Anfang an hatte das Heer immer mehr Einbrüche in seine ursprünglich alleinige Zuständigkeit hinnehmen, immer mehr Terrain aufgeben müssen. In Serbien verselbständigte sich die Wirtschaft, auf dem Gebiet der Sowjetunion nach der Wirtschaft auch die Polizei. Im Hinterland wartete ungeduldig die Zivilverwaltung Rosenbergs darauf, die Militärverwaltung ablösen zu können. Nur ein Teil der besetzten Gebiete blieb in der Verantwortung des Heeres - hier
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Ebd., S. 155. Umbreit, Strukturen, S. 245. Umbreit, Weg, S. 80. Die Entwicklung der Polizeigewalt in Belgien während der deutschen Besetzung 1940 bis 1944. Ein Beitrag zu dem Verhältnis der Wehrmacht zur SS, S. 9, BA, All. Proz. 4/29 b. Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 170 ff.
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in dem Sinne genommen, daß ein militärischer Befehlshaber die vollziehende Gewalt ausübte und sich dazu einer Militärverwaltung bediente. Das galt neben den Operationsgebieten an den Fronten (Sowjetunion, Italien) für Frankreich, Belgien bis Mitte Juli 1944, und für den Balkan, schon nicht mehr für die zuvor verbündeten Länder, w o nach dem Einmarsch deutscher Truppen Bevollmächtigte des Reiches an oberster Stelle standen.
Die Befehlshaber Als Okkupationsarmee blieb die Wehrmacht in allen besetzten Gebieten präsent. In den Zivilverwaltungen übten Wehrmachtbefehlshaber die territorialen Befugnisse aus, organisierten die Verteidigung ihres Bereichs und traten als Gerichtsherren auf, soweit Verstöße gegen die Verordnungen der Besatzungsmacht oder Angriffe auf Angehörige und Einrichtungen der Wehrmacht vorkamen und die Täter von Kriegsgerichten abgeurteilt wurden. Wehrmachtbefehlshaber gingen mit der Polizei zusammen gegen den bewaffneten Widerstand vor und hatten das Recht, im Ausnahmefall, wie etwa in Dänemark, die vollziehende Gewalt zu übernehmen, bis Ruhe und Ordnung im Sinne der Besatzungsmacht wiederhergestellt waren. Die Erfordernisse der Kriegführung hatten stets Vorrang, wobei über deren Umfang und den richtigen Zeitpunkt, wann sie zu berücksichtigen waren, zwischen zivilen und militärischen Instanzen immer weniger Einigkeit zu erzielen war. Den Wehrmachtbefehlshabern standen die Militärbefehlshaber gegenüber, welche als oberste Leiter der Militärverwaltungen die vollziehende Gewalt in ihren Bereichen ausübten, Recht auf dem Verordnungswege setzten und für die Verwaltung, die wirtschaftliche Ausnutzung und die Sicherheit in ihren Gebieten zu sorgen hatten. Die verliehenen Dienstbezeichnungen lassen aber nicht immer auf den tatsächlichen Umfang der inbegriffenen Befugnisse schließen. Nicht jeder Militärbefehlshaber besaß die vollziehende Gewalt, die dagegen an den Wehrmachtbefehlshaber Südost vergeben worden war. Man kann ihn mit dem Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe oder Armee an der Ostfront vergleichen, die ihre Exekutivbefugnisse ganz oder teilweise auf die Befehlshaber bzw. Kommandanten der rückwärtigen Heeres- und Armeegebiete übertrugen. In ihren Operationsgebieten waren diese militärischen Kommandobehörden relativ autonom. Ihre Maßnahmen auf dem zivilen Sektor wurden allerdings argwöhnisch vom Ostministerium beobachtet, das alles vermieden sehen wollte, was den für später beabsichtigten Regelungen widersprechen konnte. Des weiteren hatten sie Himmlers Höhere SS- und Polizeiführer gewähren zu lassen, deren Aktivitäten solange hingenommen werden mußten, wie sie nicht die Kriegführung der Wehrmacht behinderten. Die Militärverwaltungen in den Operationsgebieten galten in der Sicht der politischen Führung als Provisorien. Mit der Verlegung der Front nach Osten sollte die Ausdehnung der Zivilverwaltung und die Einrichtung weiterer Reichskommissariate verbunden sein. Daß schließlich der größere Teil der besetzten Ostgebiete unter Militärverwaltung verblieb, entsprach weder der Pia-
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nung noch den Interessen der militärischen Führung, sondern war das Ergebnis des programmwidrigen Kriegsverlaufs. Schwieriger als die Position der Befehlshaber von Großverbänden und der rückwärtigen Bereiche an der Ostfront war die Stellung der Militärbefehlshaber in Frankreich und Belgien. Mit Rücksicht auf die in Westeuropa noch zu erwartenden Kampfhandlungen waren sie nicht oder noch nicht von zivilen Besatzungsverwaltungen abgelöst worden. Ihre Militärverwaltungen hatten, entgegen den ursprünglichen Absichten, wegen der langen Dauer des Krieges inzwischen den Charakter von Provisorien weitgehend verloren. Die Militärbefehlshaber als oberste Repräsentanten der Besatzungsmacht trugen zwar offiziell die Verantwortung. Ihr N a m e stand unter den Verordnungen, in ihrem Namen ergingen Gerichtsurteile. Sie befahlen Hinrichtungen und ließen deportieren. N a c h außen hin, gegenüber der Regierung oder Verwaltung und Bevölkerung des besetzten Landes, hatten sie selbst noch einen Teil der Aktivitäten von Polizei, SS und Arbeitseinsatz zu verantworten, auf die sie in Wirklichkeit kaum Einfluß besaßen. Die große militärische und wirtschaftliche Bedeutung Frankreichs und Belgiens hatte zur Folge, daß diverse Reichsbehörden, Sonderbeauftragte und militärische Stellen mehr oder weniger selbständig in diesen Gebieten tätig wurden und die Verantwortlichkeit der Militärbefehlshaber immer mehr einschränkten. Ihnen galt ohnehin das unverhohlene Mißtrauen des Diktators. Alexander Freiherr von Falkenhausen in Brüssel konnte außer von seinem diplomatischen Geschick und von der geringeren Bedeutung seines Befehlsbereichs vor allem von dem Umstand profitieren, daß sein Verwaltungschef einen hohen Ehrenrang in der Allgemeinen SS besaß und über längere Zeit in der Gunst Himmlers stand. Otto und nach ihm Carl-Heinrich von Stülpnagel in Paris mußten sich gravierendere Eingriffe durch die vorgesetzten Stellen und auch durch Hitler selbst gefallen lassen. Wenn der Militärbefehlshaber in Frankreich nach dem Eindruck Ernst Jüngers eine „prokonsularische Stellung" einnahm, so war das lediglich der Anschein und entsprach so ganz und gar nicht der Realität. Carl-Heinrich von Stülpnagel, um den es sich hier handelt, war nach der Beschreibung Jüngers müde und sorgenvoll. Er wußte, nach einer anderen Quelle, um seine Verwicklung in ein Geschehen, für das „ w i r . . . nach dem Verlust des Krieges ... schrecklich büßen müssen, wie für alles Unrecht, das jetzt in deutschem Namen geschieht" 1 4 . Die Militärbefehlshaber waren also weit weniger autonom, als ihre Dienstbezeichnung vermuten ließ. Das bestimmte auch das Ausmaß ihrer Verantwortlichkeit. Sie waren eher noch mehr der vertikalen Aufsplitterung der Zuständigkeiten ausgesetzte, die alle deutschen Besatzungsverwaltungen im Zweiten Weltkrieg erfuhren. Ihre Unterstellung unter Keitel, der sich im wesentlichen als Sprachrohr Hitlers verstand, bedeutete keine energische Vertretung ihrer Belange an oberster Stelle. Politisch zu denken und danach zu handeln war ihnen untersagt. Sie standen zudem im Verdacht, die Interessen der Wehrmacht hinter die der Bevölkerung ihrer Befehlsbereiche zu stellen und nicht die nötige
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Müller, Lagen, S. 32.
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„Härte" aufzubringen. In Serbien monierte beispielsweise ein Armeeoberbefehlshaber, von den Besatzungstruppen werde noch „zu viel verhaftet und zu wenig erschossen" 1 5 . Eine Verantwortung der Wehrmacht war in allen besetzten Gebieten gegeben, und zwar in unterschiedlichem Umfang. Der größte Handlungsspielraum der militärischen Kommandobehörden bestand in jenen Gebieten, in denen die Wehrmacht die vollziehende Gewalt besaß. Alle Befehlshaber waren aber mit den ideologischen und politischen Absichten des NS-Regimes konfrontiert, und es hing von ihrer Persönlichkeit ab, wie weit sie mit diesen Zielen sympathisierten, sie unterstützten oder ihre Durchführung zu erschweren versuchten. Auf der Ebene der Befehlshaber zeigten sich alle möglichen Verhaltensweisen, je nach ethischer Einstellung oder Nähe zum Nationalsozialismus. Sie reichten von Demission und Widerstand über den Rückzug auf die bloße Ausübung des militärischen „Handwerks", Nichtwissenwollen und Wegschauen bis zur exzessiven Härte und Skrupellosigkeit, Unterstützung der Ziele des Vernichtungskrieges und Beteiligung an den Mordaktionen. In Frankreich und Belgien standen die Militärbefehlshaber, wobei die westeuropäischen Verhältnisse zweifellos eine Rolle spielten, in Opposition zu Hitler. O t t o von Stülpnagel ließ sich vom Posten des Militärbefehlshabers in Frankreich ablösen, weil er die befohlenen Massenerschießungen von Geiseln nicht verantworten wollte, und auch sein Nachfolger, Carl-Heinrich von Stülpnagel, dachte zeitweise an einen Rücktritt. Dieser stand ebenso wie Falkenhausen in Brüssel mit dem militärischen Widerstand gegen Hitler in Verbindung und beteiligte sich an den U m sturzplänen. Stülpnagel soll sogar die Möglichkeiten für einen Waffenstillstand im Westen sondiert haben. Das Schloß aber nicht aus, daß alle Amtsinhaber ihre erwartete Rolle zu spielen hatten und dadurch in die rechtswidrigen Praktiken deutscher Besatzungsherrschaft hineingezogen wurden. Andere Befehlshaber, vornehmlich in den Operationsgebieten auf sowjetischem Territorium, zeigten weniger Skrupel. Sie verließen sich ausschließlich auf die Terrormaßnahmen, mit denen die Einwohner niedergehalten werden sollten - „man kann nur durch Terror Erfolg haben" (Lothar Rendulic) 1 6 - , riefen zum weltanschaulichen Vernichtungskrieg auf, ordneten pauschale Sühnemaßnahmen an, denen unterschiedslos die gesamte Bevölkerung von Ortschaften zum Opfer fielen, nicht zuletzt auch jüdische Männer, Frauen und Kinder. „Die Anzahl der Juden, die durch Wehrmachtaktionen umkamen, war . . . keineswegs unbedeutend" 1 7 . Es gab die Zusammenarbeit mit den Sonderformationen von SS und Polizei, deren Mordaktionen unterstützt oder wenigstens geduldet, mitunter aber auch bestellt wurden. Die unmenschliche Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener hatte die Wehrmacht zu verantworten, die auch dazu beitrug, daß einem menschlichen Leben im deutschen Machtbereich nur noch wenig Wert zugemessen wurde. D e m standen aber für den Ostraum auch Überlegungen und
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Siehe K T B des Kommandierenden Generals und Befehlshabers in Serbien/Ia, 26. 7. 1942, B A - M A . R W 40/31. B r o u c e k (Hrsg.), Horstenau, 3, S. 272. Hilberg, Vernichtung, 2, S. 318.
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praktische Versuche gegenüber, wie sich eine destruktive Besatzungspolitik verändern ließ, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Unbestreitbar gab es insgesamt einen deutlichen Unterschied im Auftreten und Handeln zwischen der Wehrmacht und der Weltanschauungstruppe Himmlers. Aber auch von militärischer Seite ist vielfach gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen einer Okkupationsarmee verstoßen worden. Die Weichen für dieses unheilvolle Versäumnis und für die Verfehlungen sind von der obersten militärischen Führung gestellt worden, die sich - und das gilt vor allem für das O K W - ein Ubermaß an Eilfertigkeit, falschem „Verständnis" und Willfährigkeit zuschulden kommen ließ. Wenn bei einer Besprechung über die besetzten Ostgebiete, die General Georg Thomas Ende Juli 1941 mit seinen wichtigsten Mitarbeitern im Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt abhielt, lapidar festgestellt wird: „Die Intelligenz ist totgeschlagen, die Kommissare sind weg. Große Gebiete werden sich selbst überlassen bleiben (verhungern)" 18 , so ist das eine bestürzende Gleichgültigkeit gegenüber den einfachsten Pflichten einer kriegführenden Partei und einer Besatzungsmacht. Mit einer Besetzung waren nicht nur Beuterechte, sondern auch Fürsorgeaufgaben verbunden. Hitler hätte sich durch Gegenvorstellungen der Wehrmacht kaum von seinen Absichten abbringen lassen. Daß diese aber von denen, die dazu Gelegenheit hatten oder verpflichtet waren, erst gar nicht erhoben wurden, auch wenn sie für Keitel lediglich „Gefühlsduselei" 19 darstellten, ist eines der Versäumnisse, das der Wehrmacht als unentschuldbares Fehlverhalten attestiert werden muß. U m es abschließend an einem Beispiel auf der Ebene der Befehlshaber zu verdeutlichen: Als während des Warschauer Aufstandes der SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth die Hilfstruppen Mieczylaw Kaminskis und die „Brigade Dirlewanger" gegen die Zivilbevölkerung wüten ließ, wurde das Armeeoberkommando 9 als vorgesetzte Stelle unterrichtet, und es erfuhr auch die fünfstellige Zahl der Erschossenen 20 . Alles geschah schließlich in seinem Operationsgebiet, und der Oberbefehlshaber besaß die vollziehende Gewalt. Ein Protest erging von militärischer Seite aber erst nach Tagen, als die SS selbst schon die schlimmsten Auswüchse abgestellt hatte, und wurde kläglich damit begründet, daß „auch reichsdeutsche Frauen vergewaltigt und nachher erschossen" worden waren 21 . Die taktischen Überlegungen des Armeeoberkommandos sind leicht zu erraten, aber dennoch - hier hätten andere, entschiedenere Worte gefunden werden können und müssen, um der Verantwortlichkeit einer Okkupationsarmee gerecht zu werden.
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KTB WiRüAmt/Stab, 31. 7.1941, BA-MA, RW 19/165. Speidel, Zeit, S. 114; siehe auch Rondholz, Maßnahmen, S. 156. Krannhals, Aufstand, S. 312. Fernschreiben A O K 9/Ia N r . 3851/44 g., 8. 8. 1944, an SS-Obergruppenführer v. dem Bach, BA-MA, R H 20-9/215; KTB A O K 9/Ia, 8. 8. 1944, ebd., R H 20-9/205.
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Die Zusammenarbeit von Wehrmacht und Stapo bei der „Aussonderung" sowjetischer Kriegsgefangener im Reich
Mitte September 1941 trafen im Konzentrationslager Sachsenhausen mehrere Transporte sowjetischer Kriegsgefangener ein. Emil Büge, politischer Häftling dort seit 1939, notierte dazu unter Lebensgefahr in seinem Tagebuch 1 : „ A m 9. September kommen von Stalag 315:139 Kgf., von Stalag 321:30 und von Stalag X D - oder auch 315:223, zusammen also 392 Mann, einer davon ist tot, scheinbar verhungert. Alle sind sehr magere, verhungerte Soldaten, Kaukasier, Tartaren, Tscherkessen, sehr zerlumpt, gute Gebisse, exakte Kommandos und Disziplin. Auf einer mitgebr.[achten] Liste heißt es:,Liste IV der verdächtigen Kgf. im Stalag X D in Wietzendorf.' A m selben Abend werden noch etwa 30 von ihnen unter freiem Himmel erschossen, die Schüsse können wir alle hören. A m 10. rauchen die Blechschornsteine der Krematorien schon am Nachmittag, u m die am Abend vorher Erschossenen zu verbrennen . . . Die ersten 139 werden am 10. September getötet. Es gelingt mir endlich, von diesen drei Listen je den ersten und letzten Namen der Leute zu notieren ... Alle sind in wenigen Tagen erledigt. Die nächsten kommen am 19. September: 264 und 199, zusammen 463. Die ersten sind 250 vom Stalag 315,13 v. Stalag 330 und einer ist tot. Die 199 werden mir nicht bekannt". Büge beschreibt hier mit allen Anzeichen ratlosen Entsetzens ein Verbrechen, dem allein in Sachsenhausen vom Sommer 1941 bis zum Sommer 1942 wenigstens 12 000 sowjetische Soldaten zum Opfer fielen und das während dieser Zeit in fast allen reichsdeutschen Konzentrationslagern zum Alltag gehörte. Einsatzkommandos des Chefs der Sicherheitspolizei und des S D hatten in enger Zusammenarbeit mit der Wehrmacht in Kriegsgefangenenlagern, den sogenannten Stalags, nach bestimmten Kriterien „verdächtige" Rotarmisten herausgesucht und in Konzentrationslager gebracht, wo sie umgehend ermordet wurden, ein Vorgang, der seinerzeit bürokratisch-verharmlosend mit den Begriffen „Aussonderung" und „Sonderbehandlung" umschrieben wurde. 1
Als Quellenbasis wurden vor allem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Aussonderung sowjetischer Kriegsgefangener in den Kriegsgefangenenlagern des Reiches genutzt. Sie werden im Folgenden zitiert als „Verf. + Gegenstand + Fundort". Das nach dem Krieg anhand der Notizen erstellte Manuskript Büges umfaßt hinsichtlich der sowjetischen Kriegsgefangenen 19 Seiten und ist enthalten im Verf. betr. Stalag X I Β Fallingbostel, 311 Bergen-Belsen und 321 Bergen-Oerbke, D o k . Bd. III; die beiden folgenden Zitate Bl. 15 und Bl. 11, Hauptstaatsarchiv Hannover, N d s . 721 Lüneburg Acc. 63/87 N r . 1.1-1.11. Eine umfassende Darstellung und Einordnung der Aussonderungen im Reichsgebiet bei Otto, Wehrmacht.
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Hintergründe und Umstände des Mordens blieben freilich selbst aufmerksamen Zeitgenossen rätselhaft. So schreibt Büge, immerhin tätig in der politischen Abteilung des KZ: „Nach meinen Aufzeichnungen werden jetzt Tausende russischer Kriegsgefangener aus den Kgf.-Sammel-Stammlagern (,Stalag') herausgezogen (auf Verlangen der Gestapo), um sie zu vernichten. - Der Grund? Es ist schwer, dafür eine vernünftige Annahme zu finden. Es kursieren ζ. T. die mannigfachsten Vermutungen darüber; ich selbst neige der Ansicht zu, daß es ein Racheakt der SS sein soll gegenüber den Russen, die an der Front gefangene SS-Angehörige zumeist getötet haben sollen. Eine andere Erklärung habe ich nicht". Wie Büge registrierten seinerzeit viele Beobachter in den Stalags und Konzentrationslagern zwar den Sachverhalt, waren jedoch weder damals noch später in der Lage, ihn in einen größeren Zusammenhang stellen zu können. Diese Ratlosigkeit gegenüber einem in der deutschen Militärgeschichte beispiellosen Vorgang spiegelt sich in der historischen Forschung wieder. Bereits Eugen Kogon erwähnt in seinem Buch über den SS-Staat umfangreiche Liquidierungen im KZ Buchenwald, eine korrekte Einordnung dieser Vorgänge gelingt ihm jedoch ebensowenig wie anderen Autoren nach ihm 2 . Jüngere Veröffentlichungen zum Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion beschreiben zwar ausführlich das verbrecherische Handeln von Einsatzgruppen und Wehrmacht im Osten 3 ; die Aussonderungen im Reich selbst hingegen erscheinen in diesen Untersuchungen davon gleichsam losgelöst, und es ist wohl symptomatisch, daß, soweit man überhaupt darauf eingeht, überall dasselbe Beispiel verwendet wird 4 . Um diese Lücke zu schließen, soll daher im Folgenden dargestellt werden, in welcher Form, mit welcher Intensität und mit welcher erbarmungslosen Konsequenz Militär und SS gemeinsam selbst mitten im Deutschen Reich den Vernichtungskrieg gegen die „bolschewistische Weltanschauung" führten 5 . Pseudojuristische Grundlage der Aussonderungen waren die Einsatzbefehle Nr. 8 und 9 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, vom 17. bzw. 21. Juli 19416. Mit dem Einsatzbefehl Nr. 8 wies Heydrich die Stapostellen im Wehrkreis (WK) I Königsberg und im Generalgouvernement an, besondere Einsatzkommandos im Umfang von 4 bis 6 Mann unter der Leitung eines SS-Führers in die in ihrem Bereich befindlichen Kriegsgefangenenlager „abzustellen", um durch diese sämtliche sowjetischen Kriegsgefangenen in politischer Hinsicht überprüfen zu lassen. Der Schwerpunkt dieser Uberprüfung
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Kogon, SS-Staat; Datner, Crimes; Jacobsen, Kommissarbefehl. Die w o h l wichtigsten Veröffentlichungen dazu: Streit, Keine Kameraden; Streim, Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen; Friedrich, Gesetz; Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Es handelt sich um den „Fall Meinel" im W K VII München, dessen Unterlagen fast vollständig veröffentlicht sind. Vgl. IMT, X X X V I I I , Dok. 178-R, S. 4 1 9 - 4 9 8 . Näheres dazu unten. Einige Untersuchungen zu einzelnen Stalags gehen auf die Aussonderungen ein. Vgl. Hüser/Otto, Stammlager sowie darauf aufbauend Osterloh, Lager. N O 3 4 1 4 (Einsatzbefehl N r . 8) und N O 3 4 1 5 (Einsatzbefehl Nr. 9). Erste Richtlinien waren bereits am 28.6. entworfen worden, B A , R 58/272.
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lag vor allem auf der Aussonderung aller ehemaligen Funktionsträger in Partei und Verwaltung der Sowjetunion, der Kommissare der Roten Armee, der Intelligenzler, Juden sowie der sogenannten fanatischen Kommunisten, einer Gruppe also, die bei weiter Auslegung einen beträchtlichen Anteil unter den Kriegsgefangenen ausmachte. Weiterhin sollten jene Personen herausgesucht werden, die für den Wiederaufbau der besetzten Gebiete geeignet schienen. Bis auf ein veraltetes Fahndungsbuch, dessen Quellenwert jedoch selbst Heydrich gering einschätzte, besaßen die Kommandos allerdings keinerlei Hilfsmittel, um den genannten Personenkreis herausfinden zu können. Um aber trotzdem das einmal gesteckte Ziel zu erreichen, forderte Heydrich von seinen Leuten: - ein selbständiges Arbeiten gemäß den Richtlinien des Einsatzbefehls im Rahmen der Ordnung des Kriegsgefangenenlagers; - dabei engste Fühlungnahme mit den verantwortlichen Stalag-Offizieren, wobei sie sich deren Erfahrungen mit den Sowjets zunutze machen sollten; - und schließlich das Anwerben von V-Leuten, um die sog. Untragbaren unter den Gefangenen zu ermitteln. Die Kommandos waren somit weitgehend auf sich allein gestellt und bei ihrer Arbeit auf die Mithilfe des Stalag-Personals angewiesen. Die Leiter der Einsatzkommandos mußten über ihre Tätigkeit wöchentlich dem Reichssicherheitshauptamt Bericht erstatten, das seinerseits dann über das weitere Schicksal der ausgesonderten Kriegsgefangenen entschied. Bezüglich der als „untragbar" Ausgesonderten hieß es, sie sollten außerhalb des Lagers, jedoch nicht in seiner unmittelbaren Umgebung exekutiert werden. Uber diese „Sonderbehandlungen" hatte das Kommando eine Liste zu führen, die neben den persönlichen Daten der Gefangenen auch den Grund der Aussonderung angeben mußte. Ebenfalls am 17. Juli informierte das OKW in einem eigenen Befehl seine nachgeordneten Dienststellen bis hinunter zu den Lagerkommandanten von dem Vorhaben; ohne ihn hätten diese eine Tätigkeit der Einsatzkommandos in ihren Lagern auch gar nicht zulassen dürfen 7 . In einem ausführlichen Begleitschreiben, das Heydrich zur Information der Stapostellen dem Einsatzbefehl Nr. 8 als Anlage hinzufügte, erläuterte das OKW den Zweck des Befehls. Gleich zu Anfang heißt es dort: „Die Wehrmacht muß sich umgehend von all denjenigen Elementen unter den Kr. Gef. befreien, die als bolschewistische Triebkräfte anzusehen sind. Die besondere Lage des Ostfeldzuges verlangt daher besondere Maßnahmen, die frei von bürokratischen und verwaltungsmäßigen Einflüssen verantwortungsfreudig durchgeführt werden müssen. Während den bisherigen Vorschriften und Befehlen des Kriegsgefangenenwesens ausschließlich militärische Überlegungen zu Grunde lagen, muß nunmehr der politische Zweck erreicht werden, das deutsche Volk vor bolschewistischen Hetzern zu schützen und das besetzte Gebiet alsbald fest in die Hand zu nehmen". 7
Der Befehl selbst ist nicht erhalten. Streit, Kameraden, S. 90, hat die Herkunft der Richtlinien v o m O K W überzeugend nachgewiesen. Vgl. auch Otto, Wehrmacht, Kap. I.
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Aufgabe der Wehrmacht sei zunächst eine grobe Trennung der Gefangenen in 5 Kategorien. Besondere Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD sollten dann zwei der fünf Gruppen, die „politisch untragbare(n) Elemente" sowie besonders vertrauenswürdige und für den Wiederaufbau in den besetzten Gebieten geeignete Personen, übernehmen und aussondern. Dabei sollten die Lagerkommandanten und Abwehroffiziere ihre bereits gewonnenen Erkenntnissen den Kommandos zur Verfügung stellen und eng mit diesen zusammenarbeiten. Wie intensiv die Wehrmacht am Zustandekommen des Befehlskomplexes vom 17. Juli beteiligt war, verdeutlicht ein Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 26. September 1941. Unter diesem Datum übersandte Heydrich einen OKW-Befehl zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener vom 8. September an alle Stapostellen und merkte zuvor an 8 : „Sollten bei Durchführung der Säuberung der mit sowjetrussischen Kriegsgefangenen belegten Lager sowie der Arbeitskommandos Schwierigkeiten irgendwelcher Art auftauchen, empfehle ich, die zuständigen Wehrmachtsstellen auf die gemeinsam mit dem OKW ausgearbeiteten Richtlinien sowie auf den Befehl des OKW vom 8. 9. 1941 hinzuweisen, der lt. Verteiler allen Wehrkreiskommandos zugegangen ist". Noch eindeutiger kommt die Zusammenarbeit beider Seiten in einem Vortrag zum Ausdruck, in dem zwei Beamte der Stapostelle Weimar im Herbst 1941 vor einem ausgewählten, leider nicht näher zu bestimmenden Gremium über die Einsatzbefehle referierten. Entscheidende Voraussetzung für die Exekution der Ausgesonderten sei, daß die Kriegsgefangenen „vom OKW festgestellt und der Sicherheitspolizei übergeben" würden. Und weiter heißt es dann: „Nach den zwischen den in Frage kommenden Instanzen getroffenen Vereinbarungen ist diese Voraussetzung in jedem Fall gegeben" 9 . Der Einsatzbefehl Nr. 8 war aber schon bei seinem Erscheinen insofern ergänzungsbedürftig, als zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten sowjetischen Gefangenen im Reichsgebiet selbst eingetroffen waren. Heydrich reagierte sofort und befahl nur vier Tage später, am 21. Juli 1941, mit dem Einsatzbefehl Nr. 9 den Stapostellen Schneidemühl, Dresden, Münster, Breslau, Hamburg, Hannover und Posen, die in ihrem Zuständigkeitsbereich belegten „Russenlager" 10 nach „den zum Einsatzbefehl Nr. 8 gegebenen Richtlinien" zu überprüfen, und legte diesen deswegen mit beiden Anlagen bei. Nach einem ebenfalls beigefügten Lagerverzeichnis des OKW befanden sich Rotarmisten inzwischen auf den Truppenübungsplätzen Hammerstein (WK II), Zeithain (IV), Senne (VI), Neuhammer und Lamsdorf (VIII), Munsterlager (X) und Bergen (XI); Thorn (XX) sollte „lt. Mitteilung des OKW in den nächsten Tagen" belegt werden. 8
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N O 3417. O K W und R S H A gaben die eigenen Richtlinien der jeweils anderen Seite mit an die Hand, um von vornherein Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Kogon, SS-Staat, S. 238. Vgl. dazu auch unten das Beispiel des Einsatzkommandos Regensburg. Als „Russenlager" wurden die Stalags bezeichnet, die im Frühjahr 1941 speziell für die zu erwartenden sowjetischen Gefangenen auf Truppenübungsplätzen neu eingerichtet wurden. Nach den ursprünglichen Planungen sollten die bestehenden Stalags keine Sowjets aufnehmen.
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Für die Überprüfung der Russenlager im Reichsgebiet verkleinerte Heydrich die Einsatzkommandos auf drei bis vier Mann, legte aber im Unterschied zum Einsatzbefehl Nr. 8 ausdrücklich fest, daß es sich bei diesen um bewährte Polizeibeamte unter der Führung eines Kriminalkommissars handeln mußte. Exekutionen von in den genannten Stalags Ausgesonderten sollten jedoch nicht mehr, wie noch am 17. 7. für den WK I und das Generalgouvernement verfügt, im Lager oder dessen Nähe stattfinden, sondern „unauffällig im nächstgelegenen Konzentrationslager durchgeführt werden". Mit dem 31. Juli 1942 wurden die Einsatzkommandos zwar aus fast allen Kriegsgefangenenlagern abgezogen, doch blieben die Einsatzbefehle selbst bis Kriegsende in Kraft 11 . Ende Juli 1941 erreichte der Einsatzbefehl Nr. 9 die vorgesehenen Stapostellen 12 . Befehlsgemäß betraute deren jeweiliger Leiter einen im Dienst bewährten Kriminalkommissar, oft den Leiter des Referats „Kommunismus und Marxismus", mit der Aufgabe und übergab ihm die Einsatzbefehle einschließlich ihrer Anlagen 13 . Die übrigen Angehörigen des Einsatzkommandos entstammten in der Regel derselben Abteilung wie ihr zukünftiger Vorgesetzter; bei ihnen handelte es für gewöhnlich um drei oder vier Beamte des einfachen und mittleren Dienstes. Hinzu kam noch Hilfspersonal wie Fahrer und Dolmetscher. In einer Dienstbesprechung erfuhren sie, daß ein Sonderauftrag zu erfüllen sei, bei dem es um die Aussonderung sowjetischer Kriegsgefangener gehe, wobei sie vom Inhalt der Einsatzbefehle zumindest paraphrasiert Kenntnis erhielten. Am folgenden Tag fuhr die Gruppe dann zu dem zugewiesenen Kriegsgefangenenlager. Nach der Ankunft im Stalag begab sich der Führer des Einsatzkommandos zum Kommandanten, um sich dort vorzustellen und formell den Zugang zum militärischen Sicherheitsbereich zu erbitten. Den Auftrag näher zu erläutern, erwies sich als unnötig, denn der Kommandant seinerseits hatte bereits auf dem Dienstweg davon erfahren, daß die Aussonderungen im Einvernehmen mit dem Ο KW erfolgten, und seine Offiziere schon vor der Ankunft des Kommandos nicht nur entsprechend unterrichtet, sondern auch zur Unterstützung des Kommandos im Rahmen der geltenden Befehle aufgefordert. Gegenstand des für gewöhnlich zwar unpersönlich, aber doch sehr sachlich verlaufenden Gesprächs war die Aufgabenverteilung zwischen Wehrmacht und Stapo beim Aussonderungsvorgang. Während die eigentliche Überprüfung außerhalb des Kompetenzbereichs des Kommandanten lag und deswegen kaum
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BA, R D 19/3, Bl. 44. Da die Zeugenaussagen bezüglich des Ablaufs in den verschiedenen Verfahren übereinstimmen, wird auf Belegstellen weitgehend verzichtet. Zeitgenössische Quellen werden angegeben. Vgl. dazu auch Otto, Wehrmacht, Kap. II. A b Herbst 1941 zwang die Personalnot die Stapostellen dazu, auch Rangniedrigere zum Führer eines Einsatzkommandos zu berufen. Durch Erlaß des Reichsführers SS vom 16. 2. 1942 war es sogar möglich, vom Dienst suspendierte Beamte zu den Einsatzkommandos abzustellen, was aber „nicht zu einer Diskriminierung der wichtigen staatspolizeilichen Tätigkeit in den Gefangenenlagern führen" dürfe. Verf. betr. Stalag 326 Senne, Beiheft I Dokumente, Bl. 49 f., Staatsarchiv Münster, Staatsanwaltschaft Münster Nr. 4 9 4 - 5 0 6 .
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diskutiert wurde, war das Kommando vorher und nachher wegen der großen Anzahl der Gefangenen auf die Mitarbeit des Militärs angewiesen, ohne dessen Hilfe beispielsweise eine sichere Verwahrung der Ausgesonderten nicht möglich war. Von Ausnahmen abgesehen, stieß der Einsatzkommandoleiter mit seinem Anliegen auch auf keinerlei Schwierigkeiten. Im Anschluß an den Meinungsaustausch stellte der Stalag-Kommandant den Beamten für ihre Vernehmungstätigkeit eine Baracke im Vorlager zur Verfügung, zu der allen Wehrmachtangehörigen der Zugang verwehrt war. Demgegenüber konnten sich in der Regel die Beamten im gesamten Lagerbereich ungehindert bewegen. Ein erstes Aussortieren der Gefangenen begann, z.T. unter Anwendung von Gewalt, oft unmittelbar bei deren Ankunft durch Soldaten der Abwehrstelle des Stalag nach dem sogenannten „Augenschein" 14 . Sowjetische Soldaten, denen ein „jüdisches" Aussehen unterstellt wurde, mußten sich in einem entwürdigenden Akt auf eine etwaige Beschneidung hin untersuchen lassen, ein Vorgang, der sich auch bei den späteren Verhören immer wieder abspielte. Gleichzeitig erfolgte eine Einteilung der Neuankömmlinge nach Volkstumsgruppen sowie ein erstes Aussortieren von „politisch untragbaren" bzw. „besonders vertrauenswürdigen" unter den Gefangenen 15 . All das wäre freilich ohne die massive Hilfe des Militärs unmöglich gewesen, denn dafür war allein die Zahl der Ankommenden viel zu groß. So hielten sich im Stalag 304 Zeithain z.B. Mitte August 1941 bei der Ankunft des Einsatzkommandos knapp 32000, im Stalag 308 Neuhammer 30000 und im Stalag 310 Wietzendorf etwa 28000 Rotarmisten auf, von denen sich ein Teil sogar schon im Arbeitseinsatz befand 16 . Die „Vorsortierung" erfolgte zumeist auf Hinweise aus den Reihen der Gefangenen hin; eine genauere Uberprüfung war dann Sache des Einsatzkommandos, das als Grundlage für seine Arbeit von der Abwehrstelle des Stalags eine Liste mit Namen der Abgesonderten erhielt. Anfänglich standen die Beamten dieser Aufgabe allerdings nahezu hilflos gegenüber, denn es zeigte sich sehr schnell, daß die herkömmlichen polizeilichen Methoden nicht ausreichten, Gefangene herauszufinden, die nach den Vorgaben der Einsatzbefehle tatsächlich als „gefährlich" einzustufen waren. Mit der Hilfe von V-Leuten unter den Gefangenen gelang es dann aber recht schnell, die gemäß Einsatzbefehl Nr. 8 „auszuscheidenden Elemente Zug um Zug zu ermitteln". Immer wieder ist in den Quellen die Rede davon, sowjetische Soldaten hätten sich freiwillig als Informanten zur Verfügung gestellt, sei es, weil sie aus politischen Gründen das bolschewistische System ablehnten oder weil sie sich, wie etwa die Volksdeutschen oder die Ukrainer, wegen ihrer Nationalität im Vielvölkerstaat Sowjetunion verfolgt ge-
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Eine erste Aussonderung nahmen Wehrmachteinheiten schon in den Dulags hinter der Front ohne Mitwirkung von Einsatzkommandos vor. Nach einem Befehl des Generalquartiermeisters Wagner vom 24. 7. 1941 waren „politisch untragbare und verdächtige Elemente, Kommissare und Hetzer" zu erschießen, Juden sollten auf jeden Fall von Deutschland ferngehalten werden. Vgl. dazu Streit, Kameraden, S. 99 f. Die militärische A b w e h r stellte eigene Übersichten über sowjetische Offiziere und K o m missare zusammen. Bericht der Abwehrstelle W K IV vom September 1941 an das A m t Ausland/Abwehr, B A - M A , R W 4/v. 320, Bl. 269. W i e oft ein solcher Bericht an die Stapo ging, läßt sich nicht feststellen. Belegzahlen nach B A - M A , R W 6/v. 184.
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fühlt hatten 17 . Ein Bericht des Abwehroffiziers eines ostpreußischen Lagers von Ende August 1941 an die Abteilung Wehrmachtpropaganda im OKW vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr sich der jahrelang aufgestaute Druck in Haß und Verrat entladen konnte 18 : „Jetzt, wo die Gewalt gebrochen ist, wo die Kommissare und die GPU den Leuten nicht mehr auf den Hacken sitzen, bricht das ganze kommunistische Gebäude zusammen. - Die Sipo findet unter den Kr.Gef. viele freiwillige Helfer, jetzt ist endlich die Gelegenheit da, wo sie sich an ihren alten Peinigern rächen können". Die von den Denunzianten als verdächtig bezeichneten Soldaten forderte das Einsatzkommando bei der Kommandantur des Kriegsgefangenenlagers für den folgenden Tag zum Verhör an. Meist zu zweit, gelegentlich sogar allein, vernahmen die Beamten mit Hilfe der Dolmetscher die ihnen Vorgeführten 19 . Sie stellten einige Fragen zur Person und zum militärischen Werdegang, um anschließend eine Uberprüfung nach den Vorgaben des Einsatzbefehls Nr. 8 vorzunehmen. Diese begann mit der Frage danach, ob der Betreffende in der Sowjetunion im zivilen oder militärischen Bereich in irgendeiner Weise als Funktionär gewirkt habe; bestätigte er das, hatte er damit sein Schicksal schon unwissentlich besiegelt. Auch Angehörige anderer auszusondernder Gruppen suchten die Beamten zunächst durch einfaches Befragen herauszufinden, stießen dabei aber sehr schnell an ihre eigenen intellektuellen Grenzen! So konnten viele mit dem Begriff „Intelligenzler" überhaupt nichts anfangen und schufen sich deshalb eigene Kriterien, mit deren Hilfe sie meinten, derartige Leute erkennen zu können. Sie bestanden im wesentlichen in einer „Wertung" des Berufs bzw. der Vorbildung des Gefangenen. Wenn ein Befragter beispielsweise angab, „Arbeiter" gewesen zu sein, mochte ihm das das Leben retten, die Antwort „Postschaffner" reichte nach der Erinnerung eines Zeugen für die Uberstellung ins Konzentrationslager ebenso aus 20 wie an anderer Stelle der Besuch einer zehnklassigen Schule 21 . Ähnlich lief die Suche nach jüdischen Gefangenen ab. Ein „Jude" war nach Meinung des Einsatzkommandos durch seine Beschneidung eindeutig definiert, und so kam es immer wieder vor, daß ein sowjetischer Soldat während eines Verhörs den Befehl erhielt, die Hose herunterzulassen; der „bloße Augenschein" reichte dann aus, das Urteil über Leben und Tod zu fällen. Erst eine Ergänzung zu den Richtlinien des Einsatzbefehls Nr. 8 machte am 12.9.1941 die 17
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Volksdeutsche fanden vielfach Verwendung als Dolmetscher, Ukrainer als Lagerpolizisten. Vgl. auch Hüser/Otto, Stammlager, S. 127 ff. sowie Keller, Russenlager. Die Beamten machten sich allerdings die existenzielle N o t der Gefangenen zunutze, indem sie ihnen f ü r ihre Spitzeltätigkeit Sonderrationen an Tabak und Brot anboten. B A - M A , R W 4/v. 320, Bl. 200. In einigen Fällen waren auch Angehörige der Wehrmacht zugegen, so im Stalag 304 Zeithain. Verf. betr. Stalag 304 Zeithain, Bd. II, Bl. 332, Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Göttingen Acc. 103/87 Nr. 14. Verf. betr. Stalag II D Stargard/Pom., Bl. 74, Staatsanwaltschaft Augsburg Az. 51 Js 500/76. Vgl. ähnliche Willkürentscheidungen im Verf. betr. Stalag II Α Neubrandenburg, Bl. 17, Staatsanwaltschaft Hamburg A z . 2000 UJs 11/77. Verf. betr. W K VII, Bl. 271, Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft 20988.
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Einsatzkommandos darauf aufmerksam, „daß insbesondere die Turkvölker oftmals ein durchaus jüdisches Aussehen haben, und daß die Beschneidung allein noch nicht ohne weiteres den Beweis einer jüdischen Abstammung darstellt (ζ. B. Mohammedaner)" 22 . Dieser „Irrtum" kostete eine unbekannte Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener das Leben. Bestritt jedoch der Betreffende, Kommissar, Intelligenzler o.ä. zu sein, gab es zwei Möglichkeiten, ihn zu „überführen". Ein Mittel war die Folter. So gaben viele Soldaten bei ihren Aussagen zu Protokoll, gesehen zu haben, daß Gefangene blutend die Vernehmungsbaracke verließen. Einige seien sogar besinnungslos gewesen. Auch Schläge habe man häufig gehört. Die Gefolterten seien dann in der Regel mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden. Die andere Möglichkeit bestand in einer Gegenüberstellung mit dem oder den Belastungszeugen. Den Ablauf einer solchen Konfrontation im Stalag XIII Α SulzbachRosenberg hat Lydia Kriwoschkin, Dolmetscherin beim Einsatzkommando Regensburg, 1947 bei ihrer Befragung geschildert. Das Protokoll zeigt die ganze Fragwürdigkeit und Brutalität dieses Vorgehens 23 : „F(rage): Und was sollte bei diesen Vernehmungen herausgefunden werden? A(ntwort): Ich sollte erfahren, ob Kommissare darunter sind. Es war so, wir saßen an einem Tisch, ich und noch drei Dolmetscher, dann wurde gefragt, waren Sie Kommissar usw. Wenn er nein sagte, ging es weiter: wie können Sie das beweisen, daß Sie keiner sind? F.: Es war doch so organisiert, daß die Leute, die verdächtig waren, vorher von Vertrauensleuten angegeben wurden? Α.: Ja, das hörte ich. Der Russe sagte z.B., ich bin kein Kommissar, der Vertrauensmann sagte, er ist Kommissar, so stritten sich diese beiden zuerst, und dann kam es soweit, daß sie sich schlugen, und wir standen dabei". Bei diesem Streit, bei dem es, wie allen Anwesenden bewußt war, um Leben oder Tod ging, lag die eigentliche Entscheidung in der Hand der zumeist kriegsgefangenen Dolmetscher 24 . Sympathie oder - vielfach - Antipathie, Sprachkenntnis und politische Ausrichtung waren dann entscheidend für das Ergebnis eines Verhörs. Die Stapobeamten, die so gut wie nie russisch sprachen, saßen lediglich dabei und protokollierten in wenigen Stichworten das, was ihnen die Dolmetscher als Kern des Streites mitteilten, ein Vorgehen, daß die „Ermittlungen" zur Farce werden ließ, obwohl es nach außen hin einen formal korrekten Eindruck machte. Das RSHA hatte nämlich ein eigenes Formblatt entworfen, in das neben den wichtigsten Daten des Gefangenen, darunter die Erkennungsmarkennummer,
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N O 3416. Allein das Vorhandensein des Befehls weist auf die große Anzahl der O p f e r hin. M i : demselben Befehl versuchte Heydrich den Kommandos auch eine „Anleitung" zum Herausfinden der „Intelligenzler" an die Hand zu geben. Staatsarchiv Nürnberg, Interrogation Κ 166 Kriwoschkin, S. 5. Es ist unwahrscheinlich, daß insgesamt vier Dolmetscher zugegen waren; möglicherweise handelte es sich bei den drei anderen um die Stapobeamten. Soweit die Dolmetscher der Wehrmacht angehörten, besaßen sie die Dienststellung eines „Sonderführers". Vgl. Verf. betr. Stalag IX C Bad Sulza, Bd. I, Bl. 2 8 9 - 3 0 5 , Staatsanwaltschaft Kassel A z . 13 Js 137/74.
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die Ermittlungsergebnisse eingetragen werden mußten 25 . Ein Mitglied des Einsatzkommandos Hammelburg hatte 1950 die Formulierung eines solchen „Ergebnisses" noch folgendermaßen in Erinnerung 26 : „Es hieß z.B.: ,Ich war jüngerer Politruk, älterer Politruk, Kommissar.' Meist wurde sein politischer Werdegang in der ,Ich-Form', wie der Gefangene es eben angegeben hatte, dazugesetzt. Bei den von mir durchgeführten Vernehmungen ließ ich die Gefangenen nachher unterschreiben; wer nicht schreiben konnte, mußte 3 Kreuze machen. Die Ich-Form wurde nicht gewählt, wenn der Gefangene nicht geständig war, dann hieß es: Nach Angaben der Zeugen ... mit Namensnennung der Zeugen ... war der Gefangene dort und dort und dann und dann Kommissar. Die Zeugen brauchten nicht zu unterschreiben". In den meisten Fällen ließ sich jeder verhörende Beamte durchschnittlich pro Tag bis zu 50 Gefangene vorführen. Zur besseren Ubersicht fertigten sie Listen mit den wichtigsten Informationen über die Ausgesonderten an und übergaben sie zusammen mit den Personalbögen abends ihrem Vorgesetzten oder, bei dessen Abwesenheit, dem Dienstältesten. Der Kommandoleiter erstellte dann, in der Regel am Wochenende, den vorgeschriebenen Bericht für das Reichssicherheitshauptamt. Ansonsten war er nur selten persönlich anwesend. Seine Aufgabe war es, die Personalbögen zu prüfen, für einen reibungslosen Ablauf der Aktionen zu sorgen und den Schriftverkehr mit den beteiligten Wehrmachtund Stapostellen zu führen. Nachdem er den Kontakt zum Kommandanten hergestellt und den ersten Verhören beigewohnt hatte, fuhr er oftmals wieder zu seiner Dienststelle und regelte im Rahmen der übrigen Dienstgeschäfte auch die Angelegenheiten seines Einsatzkommandos. Die als „unbrauchbar" ausgesonderten Gefangenen kehrten nicht mehr zu ihren Kameraden zurück, sondern kamen in einen mit Stacheldraht abgetrennten Teil des Lagers, der nach Eingang der Befehle vom 17. Juli überstürzt von Wehrmachtangehörigen hatte eingerichtet werden müssen. Aus diesem als „Pferch", „Kral" oder „Sonderblock" bezeichneten Bereich 27 erfolgte nach Tagen oder sogar Wochen der Abtransport in ein Konzentrationslager. Unter welchen Verhältnissen freilich diese Männer in den meisten Fällen bis dahin noch „leben" mußten, ergibt sich aus einem Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 9. November 1941, der u.a. an alle Stapoleitstellen ging: „Die Kommandanten der Konzentrationslager führen Klage darüber, daß etwa 5 bis 15% der zur Exekution bestimmten Sowjetrussen tot oder halbtot in den Lagern ankommen. Es erweckt daher den Eindruck, als würden sich die Stalags auf diese Weise solcher Gefangener entledigen" 28 .
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IMT, X X X V I I I , Dok. 178-R, S. 419-498, hier S. 428. In vielen Ermittlungsverfahren werden derartige Formulare beschrieben. Verf. betr. W K XIII, Bl. 34, Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Nr. 2 8 2 - 2 8 4 . Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die Begriffe „Kommissar" und „Politruk" oft pauschal auf alle Ausgesonderten angewendet wurden. Bild eines Pferchs in Stalag 321 Bergen Oerbke bei Keller, Russenlager, S. 132. BA, R 58/272, Bl. 124. Im Stalag 308 (VIII E) Neuhammer erhielten die Ausgesonderten aus Tarngründen eine bevorzugte Behandlung hinsichtlich Unterkunft und Bekleidung,
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Immer dann, wenn eine bestimmte Anzahl an Ausgesonderten erreicht war, sandte der Führer des Einsatzkommandos gemäß den Richtlinien des Einsatzbefehls Nr. 8 per Fernschreiben eine Liste der Betreffenden an das R S H A , Amt IV, und bat um Anweisung, in welches K Z die Genannten zu überführen seien. Uber den Chef des Amtes IV, den zuständigen Gruppenleiter IV Α und das Referat IV A 1 gelangte der „Vorgang" schließlich auf den Schreibtisch des zuständigen Bearbeiters im Sachgebiet IV A 1 c. Dieser versah das Fernschreiben mit dem Namen eines bestimmten Konzentrationslagers, ließ es von einer Stenotypistin in einen Vordruck übertragen und gab es zusammen mit einem ebenfalls vorformulierten Befehl an den Kommandanten des K Z erneut auf den Dienstweg innerhalb des R S H A . Der Befehl lautete etwa folgendermaßen 29 : „Aus dem Stalag . . . werden folgende sowjetische Kriegsgefangene zur Exekution nach dem dortigen Lager überstellt: (Aufzählung der Namen, Vornamen, Geburtsdaten und Gefangenenummern): Die Kriegsgefangenen treffen gegen . . . U h r ein. Die Exekution ist umgehend durchzuführen. Vollzugsmeldung nach hier. gez. Müller". SS-Brigadeführer Müller als Chef des Amtes IV unterzeichnete das Schreiben. Gleichzeitig erhielt das O K W Kenntnis von der Absicht des R S H A , die Herausgabe der Gefangenen beim jeweiligen Stalagkommandanten zu beantragen. Das O K W leitete das Schreiben über den Kommandeur der Kriegsgefangenen weiter an das Stalag mit der Aufforderung, dem Wunsch des Einsatzkommandos nachzukommen und die betreffenden Soldaten zuvor aus der Kriegsgefangenenschaft zu entlassen 30 . Das Einsatzkommando schließlich bekam aus dem R S H A die Anweisung: „Unter Bezugnahme auf den Bericht vom . . . sind die ausgesonderten russ.[ischen] Kriegsgefangenen in das K Z . . . zu überstellen". Sein Leiter überreichte dem Kommandanten daraufhin ein namentliches Verzeichnis der Ausgesonderten und wiederholte unter Bezug auf den Einsatzbefehl Nr. 8 die Bitte um deren formale Entlassung aus dem Gewahrsam der Wehrmacht, ohne die ein Abtransport unmöglich gewesen wäre. Über den Kommandeur der Kriegsgefangenen teilte die Stalagleitung anschließend dem O K W mit, der Stapo eine bestimmte Anzahl gefangener Rotarmisten übergeben zu haben. Bis zu diesem Zeitpunkt waren etwa ein bis zwei Wochen vergangen. Dem Einsatzkommandoführer oblag die weitere Abwicklung eines Verfahrens, dessen starke Formalisierung sich am besten an einem Beispiel zeigen läßt 31 .
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da ihr Abtransport wegen fehlender Krematoriums-Kapazitäten in Groß-Rosen für längere Zeit ins Stocken kam und die Wehrmacht Unruhen befürchtete. Aussage Eugen Sch., Fernschreibstelle Buchenwald; zit. n. Streim, Behandlung, S. 103. Das ergibt sich aus einer umfangreichen Verfügung des Kommandanten des Stalag X I I I C Hammelburg betr. Uberstellung eines polnischen Kriegsgefangenen an die Stapo W ü r z burg vom 6. 8. 1941. E r bezog sich dabei auf Verfügungen des O K W vom 25. und des Kommandeurs der Kriegsgefangenen im W K X I I I Nürnberg vom 3 1 . 7 . Verf. betr. Of lag 62 ( X I I I D) Hammelburg, Bl. 254, Staatsanwaltschaft Schweinfurt Az. 1 a Js 2 7 5 / 7 0 Der gesamte Vorgang im Verf. betr. Stalag X X I C Wollstein, Bl. 6 1 3 - 6 1 5 und 621 ff., Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep. 118 N r . 1 1 3 8 - 1 1 4 6 . Teilweise abgedruckt bei Streim, Behandlung, S. 3 2 9 - 3 3 3 .
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Ein Einsatzkommando aus Frankfurt/Oder hatte im Stalag III Β Fürstenberg/ Oder im Laufe des März 1942 insgesamt 30 Rotarmisten ausgesondert. Am 28. März schickte sein Leiter eine Liste dieser Gefangenen an das KZ Groß-Rosen mit der Aufforderung, diese auf Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD zu exekutieren. Gleichzeitig bat er darum, über den Tag der Exekution informiert zu werden und sodann die Erkennungsmarken zugesandt zu bekommen. Ein weitgehend gleichlautendes Schreiben ging an den Kommandanten des Stalag III B. Bis zum 1. April waren allerdings von den 30 Gefangenen bereits fünf noch im Stalag verstorben 32 . Der Stalagkommandant seinerseits regelte nach Rücksprache mit der Deutschen Reichsbahn am 7. April den Abtransport. Da sich der Vorgang bereits häufiger wiederholt hatte, hatte die Kommandantur hierfür inzwischen aus Zweckmäßigkeitsgründen ein eigenes Formblatt entworfen, in das nur noch die jeweiligen, im Folgenden kursiv gedruckten Daten eingetragen werden mußten. Es ist nicht nur ein Beleg für die intensive Beteiligung der Wehrmacht an den Aussonderungen, sondern der aufgeführte Verteiler zeigt auch deutlich, wie weit die diesbezüglichen Informationen gingen: „Kommandantur M.-Stammlager III Β Erfassung (unleserlich)
Fürstenberg/Oder den 7.4.1942
Betr. Ubergabe sowjetischer Kgf. an den Chef des SD Bezug: Schreiben der Gestapo Staatspolizeistelle Einsatzkommando Tgb. Nr. 31/42 g. vom 28. 3.42 Gemäß obigem Schreiben sind 25 ausgesuchte sowjetische Kriegsgefangene lt. anliegender Liste dem Chef des SD zu übergeben und in das Konzentrationslager Gross-Rosen (Schlesien) zu überführen. Der Abtransport erfolgt unter der Nummer 0573423 am 9. 4. 42 um 13 Uhr 44 Min. Die Verladung muss um 13 Uhr beendet sein. Der Abtransport erfolgt in einem G.-Wagen. Als Transportführer wird der Uffz. Erich Eisenblätter von der Gruppe Lageroffizier bestimmt. Begleitpapiere von der Abwehr an den Lageroffizier. Befehl an das Batl. 313 Batl. entsendet als Begleitmannschaft für den vorgenannten Transport 3 Wam.3i Meldung um 12 Uhr beim Lageroffizier. Dienstreiseausweis, Wehrmachtfahrschein und Verpflegung regelt die Kommandantur. Der Transportführer und die Begleitmannschaften erhalten für 3 Tage Marschverpflegung.
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Ebd., S. 329. Das Einsatzkommando im Stalag III Β führte ein Tagebuch der Schrifteinund Ausgänge. Das oben genannte Schreiben vom 28. 3. 1942 besaß die Nr. 31/42, so daß man davon ausgehen kann, daß die Aussonderungen vom März 1942 nicht die ersten dieses Jahres waren. A b k ü r z u n g für „Wachmannschaften".
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Die Gefangenen erhalten für einen Tag Marschverpflegung.
Verteiler: Erfassung, Lageroffizier Kommandantur, IV a Küche Batl. 313 Kommandantur, Gef.-Küche"
gez. Steindamm Oberstleutnant und Kommandant
Durch ein weiteres Schreiben des Kommandanten erfuhr die Stapo Frankfurt/ Oder von den vorgesehenen Terminen. Am 8. April um 13.45 Uhr teilte das Einsatzkommando dem Kommandanten des Konzentrationslagers Groß-Rosen, SS-Obersturmbannführer Rödl, per Fernschreiben mit: „Betrifft: Exekutierung von 25 sowjetrussischen Kriegsgefangenen. Am 9. 4. 42 gegen 12 Uhr wird ein Transport sowjetrussischer Kriegsgefangener von Stalag III Β Fürstenberg/Oder nach dort zur Exekutierung in Marsch gesetzt. Der Transport trifft voraussichtlich mit Güterzug am 10.4. 42 gegen 10 Uhr vormittags dort ein". Um 16.55 Uhr richtete Rödl ebenfalls fernschriftlich die Bitte an die Stapo Frankfurt/Oder, dem Transportführer eine Liste der Gefangenen mitzugeben, sie solle Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Stalag- und Kriegsgefangenennummer enthalten. Der Zug traf am Morgen des 10.4. nach einem Fahrtweg von etwa 190 km früher als geplant in Groß-Rosen ein 34 . Unteroffizier Eisenblätter 35 als Transportführer übergab dem Schutzhaftlagerführer Thumann förmlich die Gefangenen: „Ubergabeverhandlung Ich habe heute den 10. April 1942 an den Schutzhaftlagerführer KL GroßRosen, SS-Untersturmführer Anton Thumann, 25 Sowjet-Russische Kriegsgefangene (in Worten fünfundzwanzig) richtig übergeben". Thumann bescheinigte nach Abgleichung der Liste die Übernahme der gefangenen Soldaten, die mit diesem Augenblick den Kriegsgefangenenstatus und damit den Schutz durch die Wehrmacht verloren. Unmittelbar darauf wurden die Gefangenen exekutiert und im Anschluß daran im Krematorium des Konzentrationslagers eingeäschert, ohne daß sie zuvor in irgendeiner Weise im Konzentrationslager registriert worden wären 36 . Den Sachverhalt übermittelte Rödl noch am selben Tag der Stapo Frankfurt/Oder und legte seinem Schrei-
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Die Reichsbahndirektion Oppeln stellte einmal wöchentlich einen Zug zum Stalag 318 (VIII F ) Lamsdorf ab. Verf. betr. Stalag 308 Neuhammer, Ordner Protokolldurchschriften, unpag., Staatsanwaltschaft Dortmund A z . 45 Js 4 3 / 6 5 . Bei kleineren Gruppen erfolgte der Transport auch mit Bus (ζ. B. von Limburg/Lahn nach Buchenwald) oder L K W (ζ. B. Stapo Regensburg nach Flossenbürg). In anderen Fällen begleiteten Beamte der Schutzpolizei oder Angehörige des Einsatzkommandos die Transporte. Siehe Streim, Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, S. 226. Die Erkennungsmarken der Opfer wurden allerdings nach übereinstimmenden Berichten aus mehreren K Z gesammelt.
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ben, wie gewünscht, die Erkennungsmarken bei. Gleichzeitig verständigte er SS-Gruppenführer Müller im RSHA Amt IV in der folgenden vorgeschriebenen Form 37 : „Die Kommandantur des Konzentrationslagers Groß-Rosen überreicht in der Anlage eine Liste von denjenigen russischen Kriegsgefangenen, welche am 10. 4. 1942 in der Zeit von 8-9 Uhr exekutiert und im Anschluß daran eingeäschert wurden. Eine Abschrift des Schreibens der Geheimen Staatspolizei - Staatspolizeistelle Frankfurt/Oder vom 28. 3. 42 liegt bei. Das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt - Amtsgruppe D - Oranienburg wurde von hier aus gesondert verständigt". Auch das Aussehen der Liste war mit Angabe der Namen, Vornamen, Geburtsdaten, Gefangenen- und Stalagnummern der „exekutierten und eingeäscherten sowjet-russischen Kriegsgefangenen" festgelegt. KZ-Kommandant und Lagerarzt unterschrieben diese Liste. Im RSHA reichte Müller das Schreiben an das Referat IV A 1 weiter und schloß damit endgültig den „Vorgang" ab. Das SSWirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) in Oranienburg 38 erhielt ein gleichlautendes Schreiben mit dem Hinweis, SS-Gruppenführer Müller sei gesondert verständigt worden. Spätestens jetzt wird deutlich, wie viele Stellen mit den Aussonderungen befaßt waren. Auf seiten der SS waren dies neben dem RSHA sowie den Stapostellen und ihren Einsatzkommandos noch die Konzentrationslager und der Inspekteur der Konzentrationslager bzw. später das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt. Bei der Wehrmacht liefen die entsprechenden Informationen vom OKW über die Dienststelle des Kommandeurs der Kriegsgefangenen bis zum Personal des jeweiligen Kriegsgefangenenlagers - und zwar bis hin zu den untersten Dienstgraden - und zurück. Daraus ergibt sich zunächst zweierlei. Ohne die aktive Mithilfe der Wehrmacht wären die Aussonderungen nicht möglich gewesen. Darüberhinaus widerlegt die bisherige Darstellung wohl eindeutig die Behauptung vieler ehemaliger Offiziere und Stapobeamter, von den Vernichtungsmaßnahmen gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen keinerlei Kenntnis besessen zu haben. Bedenken gegenüber den Aussonderungen wurden innerhalb der militärischer
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Vgl. sieben gleichlautende Mitteilungen aus Groß-Rosen betr. Exekutionen Sowjet. Kgf. aus Stalag 308 (VIII E) Neuhammer vom Oktober 1941; Verf. betr. Stalag 308 Neuhammer, Unterakten Bd. D, Staatsanwaltschaft Dortmund Az. 45 Js 43/65; desgl., ebenfalls Groß-Rosen betreffend, Exekution von zwei Kgf. aus dem Arb. Kdo Braunau/Sudetenland am 17. 3. 1942; Verf. betr. Stalag X X I C Wollstein, Bl. 613-615 und 621 ff., Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Dok. Bd., Bl. 79f. Ähnlich KZ Neuengamme am 23. 10. 1941, in: So ging es zu Ende, S. 16. Dazu auch Streim, Behandlung, S. 118 f. Das RSHA stellte über den Empfang des Schreibens eine Bestätigung aus. Verf. betr. Stalag 308 Neuhammer, Unterakten Bd. D, Staatsanwaltschaft Dortmund Az. 45 Js 43/65. Bis in den Spätherbst 1941 mußten die KZ-Kommandanten vor der Exekution nochmals mit Müller mündliche Rücksprache nehmen. Entsprechend war der Bezug in den Exekutionsmitteilungen formuliert. Vor der Einrichtung des W V H A der Inspekteur der Konzentrationslager in Oranienburg; Verf. . betr. Stalag 308 Neuhammer, Unterakten Bd. D, Bl. 9 u. a., Staatsanwaltschaft Dortmund Az. 45 Js 43/65.
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Führung kaum geäußert. In einer Besprechung von Vertretern des Oberkommandos der Wehrmacht und des Reichssicherheitshauptamtes am 16. Juli 1941, also dem Tag vor dem Erscheinen des Einsatzbefehls Nr. 8, kritisierte lediglich Oberst Erwin Lahousen vom Amt Ausland/Abwehr die „ganz eigenartigen und willkürlichen Gesichtspunkte", nach denen die Einsatzgruppen in der Sowjetunion bereits Aussonderungen in den Kriegsgefangenenlagern vorgenommen hätten. SS-Brigadeführer Heinrich Müller als Vertreter des RSHA habe das zurückgewiesen, so erinnerte sich Lahousen 1947, und statt dessen „die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der ergangenen Befehle und Richtlinien für die Behandlung der sowjetruss. Kriegsgefangenen aus Gründen der in Gang befindlichen weltanschaulichen Auseinandersetzung" unterstrichen. Diese Auffassung habe Generalleutnant Hermann Reinecke, der Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes (AWA), voll und ganz geteilt und „die Notwendigkeit rücksichtslosester Härte" gegenüber den Sowjets betont, die gerade in den Maßnahmen zum Ausdruck kommen müsse, „die in den Gefangenenlagern zu treffen seien". Reinecke äußerte nach Lahousens Darstellung sogar sein Bedauern darüber, daß die Wehrmacht und insbesondere das Offizierskorps noch nicht genüend Verständnis „für die .ideologische Ausrichtung' dieses Kampfes auf Leben und Tod gegen den Bolschewismus" aufbrächten 39 . Am 15. September 1941 nahm Admiral Wilhelm Canaris, als Chef des Amtes Ausland/Abwehr Vorgesetzter Lahousens, schriftlich zu den Aussonderungen, die seit Anfang August auch in den Reichsstalags angelaufen waren, Stellung. Mit unverhohlener Ablehnung kommentierte er einen entsprechenden Passus des bereits erwähnten OKW-Befehls über die „Behandlung sowjetischer Kr. Gef. in allen Kriegsgefangenenlagern" vom 8. September: „Die Aussonderung der Zivilpersonen und politisch unerwünschten Kriegsgefangenen sowie die Entscheidung über ihr Schicksal erfolgt durch Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD nach Richtlinien, die den Wehrmachtstellen unbekannt sind und deren Einhaltung sie nicht nachprüfen können". Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, dem die Stellungnahme zuging, kommentierte diese gar nicht einmal grundsätzlichen Vorbehalte in ihrer Gesamtheit jedoch nur lapidar mit den Worten: „Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung. Deshalb billige ich die Maßnahmen und decke sie". Im übrigen, so eine - durchaus zutreffende - Randnotiz Keitels, seien die Richtlinien den Wehrmachtstellen „keineswegs" unbekannt 40 . Canaris' Kritik richtete sich letztlich dagegen, daß die Einsatzkommandos im unmittelbaren Wehrmachtsbereich tätig wurden, ohne einer direkten Kontrolle zu unterliegen. Er hätte weitaus gewichtigere formale Einwände gegen die Aussonderungen vorbringen können, denn die geltende Rechtslage machte es eigentlich unmöglich, Kriegsgefangene aus dem militärischen Gewahrsam zu entlassen, um sie einer anderen Institution zu übergeben. Nach der Genfer Kon39 40
Zit. n. N O 2894 Affidavit Lahousen vom 17.4.1947; vgl. dazu auch Streit, Kameraden, S. 92, sowie Streim, Behandlung, S. 53 f. IMT, XXXVI, S. 317-327. Näheres dazu bei Streit, Kameraden, S. 231 f.
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vention von 1929, seit 1934 auch Reichsgesetz, unterstanden alle Kriegsgefangenen von der Gefangennahme bis zu ihrer Entlassung ausschließlich der Deutschen Wehrmacht, die damit zugleich mit der Verantwortung auch eine Schutzverpflichtung für sie übernahm 41 . Nach außen hin deutlich wurde das durch das Anlegen einer Karteikarte für jeden Gefangenen, der sog. Personalkarte I (PK I), die nach dem Ende der Kriegsgefangenschaft an den Heimatstaat abgegeben werden sollte. Die PK I begleitete ihn während der gesamten Zeit seiner Gefangenschaft auch bei Versetzungen; im Todesfall wurde sie an die WASt zurückgeschickt. Zugleich mit dieser karteimäßigen Erfassung erhielt jeder Neuankömmling eine Erkennungsmarke, auf der die Bezeichnung des registrierenden Lagers und eine fortlaufende Nummer eingestanzt waren. Jede Markenbezeichnung durfte nur einmal ausgegeben werden und identifizierte somit ihren Träger so eindeutig, daß sie für ihn von geradezu existenzieller Bedeutung war42. Im Gegensatz zur bisherigen Forschungsmeinung ist inzwischen eindeutig nachweisbar, daß diese Vorschriften mit nur unwesentlichen Einschränkungen auch für die sowjetischen Gefangenen galten 43 . Spätestens beim Eintreffen in den reichsdeutschen Stalags wurde für jeden Rotarmisten eine Karteikarte ausgefüllt, auf der die ihm zeitgleich zugewiesene Erkennungsmarkennummer vermerkt wurde 44 . Regelmäßig erhielt zudem die WASt eine Meldung über die Zuund Abgänge an Gefangenen, d. h., daß sie auch einen Überblick über sämtliche Todesfälle besaß. Für die beabsichtigten Aussonderungen freilich war eine vorhergehende Erfassung in höchstem Maße „hinderlich", denn letztere zwang zu einer so genauen Buchführung über jeden Gefangenen, daß zwar dessen unauffälliges körperliches, nicht aber mehr ein karteimäßiges Verschwinden möglich war. Als OKW und RSHA am 16. Juli die Aussonderungen beschlossen, einigten sie sich daher auf etwas, was den eigenen Vorschriften grundsätzlich widersprach und damit das Vorhaben in formaler Hinsicht eigentlich hätte unmöglich machen müssen. Der Sterbefall eines sowjetischen Gefangenen wäre zusammen mit der Grablage der WASt zu melden gewesen; im Falle der Ausgesonderten aber, die in den Konzentrationslagern ermordet und umgehend eingeäschert wurden, war ein solcher Nachweis nicht mehr möglich, durfte es aus der Sicht des OKW auch nicht sein, denn damit wäre das Verbrechen offenkundig ge-
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Die Genfer Konvention sollte laut Vorschrift immer wieder Gegenstand der Belehrung der Soldaten sein. Mit dem Moment der Ubergabe der Ausgesonderten an die Stapo und der damit verbundenen Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft mußte daher jeder Offizier wissen, daß er gegen geltendes Völkerrecht verstieß. Zum Vorgang der Registrierung vgl. die Heeresdruckvorschrift H. Dv. 38/5, S. 1 2 - 1 5 (IfZ Da 34.12) sowie verschiedene Befehle in der A k t e B A - M A , R W 48/v. 12. Im Archiv des Russischen Verteidigungsministeriums ( Z A M O ) liegt ζ. B. fast die komplette Personalkartei der im Reich verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen. Ausführlich dazu Otto, Wehrmacht, Kap. IV. Befehl des O K W vom 26. 6. 1941, BA/ZNS, Ordner 22, Bl. 35 f.; Befehl vom 2.7., BA-MA R W 48/v. 12, Bl. 142f.; Befehl vom 2. 8., B A - M A , R W 19/2109. Mit dem Ausfüllen der Karteikarte hatte die Wehrmacht völkerrechtlich verbindlich die Verantwortung für die Sowjets übernommen, ein Faktum, an dem auch die häufig vom O K W bemühte Tatsache, die Sowjetunion habe das Genfer A b k o m m e n nicht ratifiziert, nichts änderte. Vgl. dazu ausführlich Otto, Wehrmacht, Kap. IV.
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worden. Jede erhaltene Karteikarte aber hätte sofort die Frage nach dem Verbleib des betreffenden Mannes aufgeworfen, im Falle ihrer Vernichtung wäre freilich eine erklärungsbedürftige Lücke im Erkennungsmarkenverzeichnis geblieben 45 . Die Lagerkommandanten und ihre Registraturen standen somit vor dem letztlich unlösbaren Problem, wie sie die Ausgesonderten aus ihren Karteien verschwinden lassen sollten. Die Unrechtmäßigkeit dieses Vorgehens veranlaßte viele Wehrkreiskommandos und Stalag-Offiziere, vom O K W eine Auskunft darüber zu erbitten, ob man sich tatsächlich so verhalten könne oder müsse; was vor allem mache man in karteimäßiger Hinsicht mit bereits erfaßten Gefangenen, die man den Einsatzkommandos übergeben habe, zumal deren Erkennungsmarkennummer auf jeden Fall eindeutig belegt sei. Das O K W reagierte relativ spät, am 30. September 194 1 46 , mit einem Befehl, der wie kaum ein anderer das ganze Ausmaß der verbrecherischen Absichten entlarvt und dessen Ungeheuerlichkeit sich erst aus der genauen Kenntnis des Erfassungsvorgangs erschließt. Dort heißt es 47 : „1.) Es liegt Veranlassung v o r , . . . nochmals darauf hinzuweisen, daß die Erfassung der sowjetischen Kriegsgefangenen zunächst nur in den Kriegsgefangenenlagern im Reichsgebiet (einschl. W. Κ. I) erfolgt. Die Anforderung von Karteimitteln und Erkennungsmarken, insbesondere der für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehenen vierteiligen grünen Karteikarten 48 , von den Kriegsgefangenenlagern des Ostgebiets findet hierdurch ihre Erledigung. Die Erfassung der sowj. Kr. Gef. im Gen. Gouv. wird erst nach Abschluß der Operationen an der Ostfront befohlen werden. 2.) Von den Kriegsgefangenenlagern im Reichsgebiet sind nur diejenigen sowjetischen Kriegsgefangenen zu erfassen und an die WASt mittels der 4-teiligen grünen Karteikarten zu melden, die nach der Aussonderung49 gemäß Verfügung O K W . . . vom 8. 9.1941 endgültig im Lager verbleiben oder in Arbeit eingesetzt werden". Um dem Problem aus dem Weg zu gehen, mußte die Aussonderung der Erfassung vorangehen; die so dem Tode Uberantworteten hätten sich später durch diesen „methodischen Kunstgriff" ganz einfach als „vermißt" deklarieren lassen, ohne daß man in irgendeiner Weise in der Verantwortung gestanden hätte. In geradezu naiv-hilfloser Weise konstruierte das O K W hier allerdings einen Zustand, den die Realität längst überholt hatte, denn zu diesem Zeitpunkt war der überwiegende Teil der Kriegsgefangenen bereits erfaßt. Die Wehrmacht
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Die P K I wurde in den Lagerregistraturen nach der Erkennungsmarkennummer eingeordnet. Als erstes Einsatzkommando traf Anfang August das Kommando der Stapoleitstelle Breslau im Stalag 308 Neuhammer ein. B A - M A , R W 4 8 / v . 12, Bl. 169. Der Befehl ist auch insofern aufschlußreich, als er unter 1) eine Erfassung im Osten ganz offen ausschließt. Nicht registrierte Gefangene waren aber offiziell nicht vorhanden, so daß das O K W hier für diesen Raum gleichsam einen Freibrief für „weltanschaulich" bedingte Maßnahmen gegenüber sowjetischen Gefangenen ausstellte. B A - M A , R W 4 8 / v . 12, Bl. 142 f. Wegen der großen Gefangenenzahl und der Probleme mit der cyrillischen Schrift schuf das O K W diese Karten, die, nachdem die Gefangenen selbst sie ausgefüllt hatten, an die W A S t geschickt wurden. In der Vorlage doppelt unterstrichen.
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stellte den Einsatzkommandos somit von Anfang an fast ausschließlich Gefangene zur Verfügung, die weder vor noch - erst recht nicht - nach dem 30. September hätten ausgesondert werden dürfen. Selbst gegen den Befehl vom 30. September aber wurde in der Folgezeit geradezu routinemäßig verstoßen. Für das Stalag 308 Neuhammer/Niederschlesien sind beispielsweise für den Monat Oktober 1941 insgesamt sieben Listen mit den Namen von zusammen 140 Ausgesonderten erhalten, auf der jeder einzelne mit Namen, Vornamen und Erkennungsmarke angegeben ist 50 . Allein schon mit der Herausgabe des Befehls, der sämtlichen Wehrkreiskommandos und Kriegsgefangenenlagern zuging, gab das OKW zu, daß die Aussonderungen bis zu diesem Zeitpunkt in eklatantem Widerspruch zu geltendem Recht standen. Darüberhinaus aber erteilte es jetzt allen deutschen Soldaten, die mit der Registrierung der sowjetischen Kriegsgefangenen befaßt bzw. dafür verantwortlich waren, von höchster Stelle einen Dispens für ein Verhalten, dessen Völkerrechtswidrigkeit jedem einzelnen von Anfang an bewußt sein mußte. Es machte sie so wenigstens zu Mitwissern an einem bis dahin beispiellosen Verbrechen, denn zumindest den Offizieren war seit dem Eingang des Befehlskomplexes vom 17. Juli 1941 bekannt, was mit den Ausgesonderten geschehen würde. Das „Karteiproblem" blieb jedoch ungelöst. Die Personalkarten der Ausgesonderten blieben wenigstens vorläufig im Besitz des betreffenden Stalags, um irgendwann nach Berlin an die WASt abgegeben zu werden. Diese hatte schon vorher einen Bescheid über die Abgabe der betreffenden Gefangenen an die Stapo erhalten. Ein Angehöriger der Verwaltung des Stalag 304 Zeithain sagte dazu aus 51 : „Meine Aufgabe bestand nun hauptsächlich darin, daß ich die Namen und Kriegsgefangenennummern der Ausgesonderten an die WASt nach Berlin melden und mitteilen mußte, daß die aufgeführten Gefangenen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und der Gestapo überstellt seien. Die Listen der Ausgesonderten wurden mir jeweils durch meinen Vorgesetzten, den Hauptmann Z., übergeben". Nach wie vor war demnach ein Nachweis über den Verbleib eines jeden ausgesonderten Rotarmisten möglich. Vermerke auf den Karteikarten wie „An den Gerichtsoffizier abgegeben", „verlegt in ein anderes Lager", ohne dieses jedoch anzugeben, „überwiesen an Gestapo" 52 zeugen letztlich von der Hilflosigkeit, mit der die verantwortlichen Soldaten auf das Problem reagierten. Selbst die Tatsache, daß mit der Ubergabe der Gefangenen an die Gestapo ihre Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft erfolgte, entband die Wehrmacht nicht ihrer Verantwortung, denn die Karteikarte I hätte, wie oben bereits erwähnt, laut Vor50 51 52
Verf. betr. Stalag 308 . betr. Stalag 308 Neuhammer, Unterakten Bd. D, Staatsanwaltschaft Dortmund Az. 45 Js 43/65. Verf. betr. Stalag 304 Zeithain, Bd. III, Bl. 728, Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Göttingen Acc. 103/87 Nr. 14. Für 1942/43 sind im Archiv der Russischen Föderation (GARF) Moskau, Bestand 7 0 2 1 - 1 1 5 - 2 7 und 29 etliche grüne Karteikarten von Kgf. enthalten, die in die KZ GroßRosen und Auschwitz entlassen wurden. Bei einer Uberweisung zum Arbeitseinsatz wäre nicht der Begriff „entlassen" verwendet worden.
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schrift „nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft an den Heimatstaat des Kr. Gef. abgegeben" werden müssen 53 , sie mußte deshalb in ihrem Besitz verbleiben, wie es dann auch gehandhabt worden ist 54 . Einzig der unbedingte Glaube an den Endsieg kann die Wehrmachtführung dazu veranlaßt haben, sich an der Organisation eines Verbrechen zu beteiligen, von dem sie wissen mußte, daß sich seine Spuren nie würden beseitigen lassen. Wie reibungslos die Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Stapo trotz der genannten formalen Probleme ablief, wird am Beispiel des Stalag XIII A Sulzbach-Rosenberg deutlich 55 . Ursprünglich war der WK XIII Nürnberg nicht für die Aufnahme sowjetischer Gefangener vorgesehen, so daß das RSHA davon absah, den zuständigen Stapostellen Nürnberg - mit einer Außenstelle in Würzburg - , Regensburg und Karlsbad die Einsatzbefehle zukommen zu lassen. Auf Grund von Planungsänderungen wurde jedoch bereits Ende Juli 1941 auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg neben dem dort bestehenden Stalag XIII C das Oflag 62 (XIIID) als einziges Lager für sowjetische Offiziere eingerichtet, in das die Stapo Nürnberg schon Mitte August ein Einsatzkommando abstellte; dieses blieb dort bis Mai 1942 fest stationiert. Nur wenig später gelangten gefangene Rotarmisten im Zusammenhang mit der Verteilung der Sowjets über das gesamte Deutsche Reich auch in alle übrigen Gefangenenlager des WK XIII. Neben dem erwähnten Stalag XIIIC und einem großen Arbeitskommando in Nürnberg-Langwasser waren das die Stalags XIII Α Sulzbach-Rosenberg, XIII Β Weiden sowie das Stalag 359 Falkenau/Eger, von denen aus sie umgehend an verschiedenen Stellen zur Arbeit eingesetzt wurden. Um gerade deswegen diese Gefangenen möglichst schnell auf ihre „weltanschauliche Verträglichkeit" hin überprüfen zu lassen, sandte das RSHA Mitte August 56 nachträglich die Einsatzbefehle 8 und 9 an die zuständigen Stapostellen Regensburg (für Sulzbach-Rosenberg und Weiden) 57 bzw. Karlsbad (für Falkenau); Nürnberg hatte sie wegen des Oflag Hammelburg schon früher erhalten. Da hier jedoch auch Arbeitskommandos zu überprüfen waren, muß-
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Vgl. die Sammelmitteilungen Nr. 11 des O K W vom 11. 3. 1942, wonach die Personalkarten I und II von „an die Einsatzkommandos zu übergebenden Sowjet. Kriegsgef." an die W A S t zu gehen hätten, B A - M A , R W 6/v. 270, Bl. 70. In der im Z A M O erhaltenen Offizierskartei scheinen sämtliche Karteikarten von den O f fizieren enthalten zu sein, die das Einsatzkommando der Stapo Nürnberg im Oflag 62 (XIII D) Hammelburg aussonderte - immerhin wohl mehr als 1000 Karteikarten. Zu Hammelburg und Nürnberg vgl. Otto, Wehrmacht, Kap. III. Zum Folgenden ausführlich ebd. Auf einen Erlaß des R S H A von diesem Datum betr. Richtlinien für die Einsatzkommandos bezieht sich die Stapo Regensburg am 19. 1. 1942 in einem Schreiben nach Berlin, in: IMT, X X X V I I I , Dok. 178-R, S. 4 1 9 ^ 9 8 , hier S. 452. Demgegenüber hatten aufseilen der Wehrmacht sämtliche in Frage kommenden Stellen wenigstens Vorabinformationen über das Vorhaben. Vgl. etwa die allgemein gehaltene Uberschrift der Anlage 1 des Einsatzbefehls Nr. 8, nach der Aussonderungen in sämtlichen Reichsstalags, also nicht nur den „Russenlagern", möglich waren. Die Stapo Regensburg war f ü r den Regierungsbezirk Niederbayern-Oberpfalz zuständig. Dabei gehörte Niederbayern zum W K VII München, die Oberpfalz zum W K XIII Nürnberg.
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ten die Befehle aus formalen Gründen und in enger Abstimmung mit dem O K W entsprechend erweitert werden 5 8 . Die Durchleuchtung der Arbeitskommandos erwies sich jedoch aus mehreren Gründen als problematisch. Zum einen waren jetzt erstmals Belange des Arbeitseinsatzes betroffen, denn ein Großteil der Männer befand sich zum Zeitpunkt des Befehls bereits an den zugewiesenen Arbeitsplätzen, so daß durchaus Widerstand von Unternehmerseite - anfänglich zumeist der Wehrmacht - zu erwarten war. Zum anderen bedeutete die Verteilung der Gefangenen über das Land einen beträchtlichen Mehraufwand für die Einsatzkommandos, die jetzt, statt, wie in den „Russenlagern", die Sowjets zu erwarten, auf die Suche nach ihnen gehen mußten und dabei von den Informationen abhängig waren, die Wehrmachtdienststellen ihnen gaben. J e nach Größe des Zuständigkeitsbereiches einer Stapostelle konnte es sich schließlich sogar als zwingend erforderlich herausstellen, trotz personeller Engpässe zwei Kommandos aufzustellen. Nach Eingang des Befehls beauftragte der Chef der Stapostelle Regensburg, Polizeidirektor Fritz Popp, den Kriminalkommissar Luitpold Kuhn mit der Aufstellung und Führung des Kommandos. Kuhn nahm umgehend Kontakt mit dem Kommandanten des Stalag X I I I Α Sulzbach-Rosenberg, Oberstleutnant Hadrian Ried, auf, erfuhr jedoch von diesem, daß sich die Sowjets gar nicht mehr in seinem Stalag befänden, sondern bereits in verschiedenen Kommandos zur Arbeit eingesetzt worden seien, deren größtes sich auf dem gut 100 km von Regensburg entfernten Truppenübungsplatz Grafenwöhr befand. Ried hatte zuvor vom Kommandeur der Kriegsgefangenen im W K X I I I , Generalmajor Nikolaus Schemmel, den Befehl erhalten, den Stapo-Leuten den Zutritt zum Lager und die Uberprüfung der Gefangenen zu gestatten 59 . A m Montag, dem 25. August 194 1 6 0 , fuhr Kuhn mit einigen Leuten aus seiner Abteilung nach Grafenwöhr 6 1 . Nach einer Vorsortierung in „politisch Unzuverlässige" und nachrichtendienstlich Geeignete, also potentielle V-Leute, vernahmen die Beamten etwa 10 Minuten lang jeden Gefangenen und legten das Ergebnis in einem Formular schriftlich nieder. Bis zum Abend des 25. hatten sie von insgesamt 250 Rotarmisten 41 als „unbrauchbar" ausgesondert und in einem abgetrennten Teil des Lagers untergebracht. Der verantwortliche Offizier weigerte sich jedoch, die Ausgesonderten herauszugeben und nahm Rücksprache mit Ried, wie dieser sich in seiner Vernehmung am 20. Oktober 1947 in Nürnberg erinnerte: „Er widersetzte sich gegen die Forderung der Gestapo und meldete mir das auch. Er sagte, wir können die Leute nicht abstellen, sonst bleibt die Arbeit liegen. Das war der 1. Fall" 6 2 . Auf Anweisung Generalmajor
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Ende August sah sich das R S H A genötigt, wegen der Verteilung der sowjetischen Gefangenen auf sämtliche Wehrkreise den Befehl grundsätzlich zu formulieren und an nahezu sämtliche Stapostellen zu übersenden, N O 3448. Aussage Ried am 23. 7. 1947, Staatsarchiv Nürnberg, K V - P r o z e s s e Fall 12, N r . A 94-97, S. 8162. A u c h Affidavit Schemmel vom 13.10.1947, N O 5500. Ü b e r die Tätigkeit des Einsatzkommandos Regensburg stellte Kuhn im Januar 1942 eine Liste zusammen, I M T , X X X V I I I , D o k . 1 7 8 - R , D . 4 1 9 ^ 1 9 8 , hier S. 4 5 0 f . Staatsarchiv Nürnberg, Interrogation Κ 190 Kuhn vom 28. 10. 1947, S. 4; auch Affidavit Kuhn vom 30. 10. 1947, N O 5531. Staatsarchiv Nürnberg, Interrogation R 96 Ried vom 20. 10. 1947, S. 4. Näheres zu dem
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Schemmels, den Ried um eine Entscheidung bat, wurden die Ausgesonderten dann aber doch dem Einsatzkommando übergeben, am 3. September unter Wehrmachtbegleitung von Grafenwöhr aus zum KZ Flossenbürg transportiert und dort noch am selben Tag exekutiert. Vier Tage nach dem Einsatz in Grafenwöhr, am 29. August, suchte die Stapo das Arbeitskommando Weiden-Postkeller mit 150 Gefangenen auf, von denen sie 17 als „endgültig politisch verdächtig" aussonderte. Deren Uberstellung nach Flossenbürg erfolgte schon am 4. September, die Exekution noch am selben Tag. Wie im Falle von Grafenwöhr war auch hier eine vorherige Kontaktaufnahme mit der Kommandantur des zuständigen Stalags XIII Β Weiden erforderlich. Von der ersten Septemberwoche an war das Einsatzkommando dann bis Ende November fast ununterbrochen unterwegs, davon einen Großteil der Zeit im Zuständigkeitsbereich von Stalag XIII A. Gelegentlich fuhren die Beamten mehrere Arbeitskommandos an einem Tag an, so etwa am 24. September in Nasnitz, ca. 25 km nordwestlich von Sulzbach, und in Immenreuth östlich von Bayreuth, beide Orte zwar lediglich 25 km Luftlinie voneinander entfernt, doch nur auf großen Umwegen und über schlechte Straßen zu erreichen. Zu überprüfen waren 80 bzw. 49 Gefangene, von denen sich 6 bzw. 2 als „untragbar" erwiesen. Diese wurden am 9. Oktober nach Flossenbürg transportiert gemeinsam mit 11 anderen, die das Einsatzkommando am 22. September in Groschlattengrün nahe Marktredwitz unter 129 Rotarmisten ausgesondert hatte. Die Liquidierung sämtlicher 19 Soldaten erfolgte am 10. Oktober 1941. Am 15. Oktober standen drei kleinere Arbeitskommandos in Lengenfeld in der Nähe von Neumarkt, in Amberg und in Vilshofen/Oberpfalz westlich von Schwandorf auf der Liste. Es handelte sich dabei um kleine Gruppen von 16, 10 und 24 Gefangenen, von denen in Amberg kein einziger, in Lengenfeld dagegen die Hälfte und in Vilshofen ein Viertel aussortiert wurde. Ein LKW brachte die 14 Mann am 5. November nach Flossenbürg; sie wurden unmittelbar darauf ermordet. Weil bei einigen Arbeitskommandos zwischenzeitlich neue Gefangene eingetroffen waren, suchten die Stapo-Männer sie mehrfach auf, so in Ponholz, 25 km nördlich von Regensburg, am 3. und 16. September. Mit 32 Mann fiel beim ersten Mal fast ein Drittel der 98 sowjetischen Soldaten den Aussonderungsmaßnahmen des RSHA zum Opfer, beim zweiten Mal waren es immerhin noch 7 von 34 63 . Ab Mitte Oktober 1941 konzentrierte sich die Tätigkeit der Regensburger Stapo auch auf Arbeitskommandos im Bereich Niederbayern, dessen größter Teil zum WK VII München gehörte und für den das Stalag VII Α Moosburg an der Isar zuständig war 64 . Da aber währenddessen die Wehrmacht in der
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Fall bei Streim, Behandlung, S. 60. Danach hätte das Einsatzkommando ohne Wissen und Erlaubnis dieses Offiziers die Kgf. ausgesondert. Streim bezieht das zwar nicht auf Grafenwöhr, der Zusammenhang ist allerdings eindeutig. Bei den Verhören wandten die Regensburger Stapobeamten auch körperliche Gewalt an, Staatsarchiv Nürnberg, Interrogation Κ 166 Kriwoschkin vom 21. 10. 1947, S. 4. Das R S H A bestätigte das in einem Fernschreiben u. a. an die Stapo Regensburg vom 9. 2. 1942, IMT, X X X V I I I , Dok. 178-R, S. 4 1 9 - 4 9 8 , hier S. 480. V o n insgesamt 1254 sowjetischen Kriegsgefangenen sonderten die Stapobeamten hier 278
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Oberpfalz weitere Arbeitskommandos mit sowjetischen Gefangenen einrichtete, sah sich die Stapostelle gezwungen, jeweils dann, wenn sie von den Militärbehörden die neuen Standorte erfuhr, kurzfristig ein zweites Kommando aufzustellen. Am 14. Oktober etwa, zum selben Zeitpunkt, als ihre Kollegen in Ergolding in Niederbayern von 99 Männern 21 als „unbrauchbar" bestimmten, sonderte die Angehörigen dieses zweiten Kommandos im Heeresnebenzeugamt Regensburg von 105 Gefangenen 14 aus, die sie vier Wochen später nach Flossenbürg überführen ließen. Für beide Kommandos zusammen stellte die Stapostelle wenigstens sechs Beamte ab, deren Tätigkeit Kuhn koordinierte. Das Wehrmachtpersonal sowohl in den Arbeitskommandos als auch im Stalag X I I I Α unterstützte maßgeblich das Einsatzkommando bei seiner Tätigkeit. Eine Uberprüfung von 250 Mann wie in Grafenwöhr oder gar 499 Gefangenen im Heeresnebenzeugamt Regensburg wäre ohne eine Vorsortierung durch das Militär an einem Tag unmöglich gewesen. Beschwerden über die Zusammenarbeit sind von seiten der Stapobeamten nicht überliefert; im Gegenteil, Kuhn selbst hob, befragt nach seinem Verhältnis zur Wehrmacht, 1950 in einer Vernehmung hervor, für ihn habe nie die Notwendigkeit bestanden, mit dem Kommandeur der Kriegsgefangenen im W K X I I I Kontakt aufzunehmen, „denn die Herausgabe der Kr.Gef. bei den Stalags stieß nie auf Schwierigkeiten", da diese „offenbar genaue Befehle hatten" 6 5 . N o c h deutlicher hatte er das 1942 formuliert 66 : „Im Bereich des Wehrkreises X I I I besteht zwischen den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei in den russ. Kriegsgefangenenlagern und Wehrmachtsdienststellen bestes Einvernehmen. Die ausgesonderten russ. Kriegsgefangenen werden hier ohne Schwierigkeiten und innerhalb ganz kurzer Zeit auf Aufforderung in das K L . Floßenbürg eingeliefert". Im Gegensatz zu einer Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 12. September 1941 6 7 lag en im W K X I I I zwischen Aussonderung und Abtransport der Gefangenen aus organisatorischen Gründen zumeist mehrere Wochen. Vor allem bei den kleineren Arbeitskommandos „lohnte" es sich nicht, für die wenigen Ausgesonderten einen L K W bereitzustellen. Erst wenn eine bestimmte Anzahl zusammengekommen war, stellte die Wehrmacht einen Transport zusammen, so am 2. Oktober 1941, als insgesamt 48 sowjetische Soldaten von den Kommandos in Schönach, Taimering, Regensburg HermannGöring-Werk und Nockerkeller, Parsberg, Ponholz und Maxhütte nach Flossenbürg kamen und dort am darauf folgenden Tag liquidiert wurden.
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Mann (etwa 2 2 % ) aus. Im Gegensatz zur Oberpfalz, für die das R S H A das Konzentrationslager Flossenbürg als Vernichtungsort bestimmt hatte, kamen diese Rotarmisten nach Dachau. Auch dazu erstellte K u h n eine Liste, ebd., S. 45CM54. Näheres dazu weiter unten sowie bei O t t o , Wehrmacht, Kap. IV. Verf. betr. W K X I I I , Bl. 34, Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth N r . 2 8 2 - 2 8 4 , Bl. 91 f., auch Bl. 86. I M T , X X X V I I I , D o k . 178-R, S. 4 1 9 - 4 9 8 , hier S. 451. Danach sollten die Ausgesonderten nicht länger als unbedingt nötig in den Lagern verbleiben. N O 3416.
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Probleme im Umgang mit den Karteikarten der Ausgesonderten hatte man im Stalag Sulzbach-Rosenberg nicht, im Gegenteil, man umging sie auf denkbar einfache Art und Weise. A m 24. Oktober beispielsweise sandte die Abteilung Kartei ein „Verzeichnis der am 26. 9. 1941 vom Arb. Kdo 306 Regensburg der Gestapo Regensburg überstellten russischen Kriegsgefangenen" an die dortige Stapostelle. In einem Begleitschreiben hieß es nur kurz: „In der Anlage werden die auf beiliegendem Verzeichnis aufgeführten 51 Pers. Karten I der vom Arb. Kdo 306 Regensburg überstellten sowjetruss. Kriegsgefangenen übersandt" 6 8 . Der Verantwortung glaubte man damit allem Anschein nach ledig zu sein. Die Abgabe der P K I an eine andere Institution als die WASt war freilich, wie oben gezeigt, eine klare Verletzung geltenden Rechts, derer sich der Leiter der Abteilung, immerhin ein Offizier im Hauptmannsrang, völlig im Klaren sein mußte. Darüberhinaus ist anzunehmen, daß zu diesem Zeitpunkt der Befehl vom 30. September die Stalags erreicht hatte, so daß spätestens jetzt auch vor Ort bekannt gewesen sein dürfte, welch ein formales Risiko die Aussonderung von bereits Erfaßten in sich barg. Wenn man trotzdem die Personalkarten an die Gestapo abgab, dann konnte das nur in dem Bewußtsein geschehen, für dieses rechtswidrige Verhalten volle Rückendeckung höchster Stellen zu besitzen. Wie unsicher freilich diese selbst ihre Position einschätzten, mußte man in Sulzbach-Rosenberg wenige Wochen später feststellen. A m 3. November übersandte das Stalag X I I I Α einmal mehr der Stapo Regensburg in der üblichen Weise „ein namentliches Verzeichnis sowie Pers. Karten I der im Laufe des Monats Oktober überstellten 88 sowjetruss. Kr. Gefangenen aus verschiedenen Arbeitskommandos in Regensburg" 6 9 . Ende November sah sich die Abteilung Kartei jedoch gezwungen, erneut an die dortige Gestapo zu schreiben 70 : „M.-Stammlager X I I I Α übersandte mit Schr.(eiben) v. 3. 11. 41 namentliches Verzeichnis sowie 88 Pers. Karten I der im Laufe des Monats Oktbr. der Gestapo Regensburg überstellten sowjetruss. Kriegsgefangenen. D a nun seit neuester Vorschrift die Karteimittel bei solchen Uberstellungen direkt an das O K W Berlin einzusenden sind, wird um Retournierung dieser Pers. Karten I gebeten". Mit dieser „neuen" Vorschrift 71 kehrte das O K W jedoch lediglich zum rechtmäßigen Zustand zurück. N u r wegen der Ausgesonderten eigene Befehle in
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D i e Ü b e r s i c h t enthielt N a m e n , V o r n a m e n u n d E r k e n n u n g s m a r k e . E s h a n d e l t e sich u m die e r s t e U b e r p r ü f u n g d e s A r b e i t s k o m m a n d o s H e e r e s n e b e n z e u g a m t R e g e n s b u r g mit 4 9 9 M a n n . K u h n hatte i m ü b r i g e n in seiner e i g e n e n L i s t e ( I M T , X X X V I I I , D o k . 1 7 8 - R , D . 4 1 9 - 4 9 8 , hier S. 4 5 0 f.) 52 „ U n b r a u c h b a r e " a u f g e f ü h r t . D i e s e z w e i t e Ü b e r s i c h t a u s S t a l a g X I I I Α w i r f t e r h e b l i c h e Z u o r d n u n g s p r o b l e m e auf, d a sie m i t d e n A n g a b e n K u h n s f ü r O k t o b e r 1941 n u r s c h w e r in E i n k l a n g z u b r i n g e n ist. D i e W i d e r s p r ü c h e l a s s e n sich hier nicht klären. D i e g e n a n n t e n S c h r e i b e n s i n d z u s a m m e n mit d e n L i s t e n d u r c h einen Z u f a l l in der D e u t s c h e n D i e n s t s t e l l e B e r l i n erhalten, in d e r a n s o n s t e n z u d e n s o w j e t i s c h e n K r i e g s g e f a n g e n e n nur w e n i g v o r l i e g t . ( R e f . I I I A , O r d n e r D i v e r s e U n t e r l a g e n f r e m d l ä n d i s c h e r K r i e g s g e f a n g e n e r ; d o r t n u r 11 Seiten z u d e n S o w j e t - G e f a n g e n e n , a u s s c h l i e ß l i c h z u S t a l a g X I I I A ) . D i e g e n a n n t e V o r s c h r i f t ist b i s l a n g u n b e k a n n t . In d e n S a m m e l m i t t e i l u n g e n N r . 11 v o m 1 1 . 3 . 1942 w i e s d a s O K W d i e S t a l a g s d a r a u f hin, d a ß die P e r s o n a l k a r t e n I u n d I I v o n „an die E i n s a t z k o m m a n d o s z u ü b e r g e b e n d e n S o w j e t . K r i e g s g e f . " an d i e W A S t z u g e h e n hätten, B A - M A , R W 6 / v . 270, Bl. 70.
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Frage zu stellen bzw. zu umgehen, erschien offenbar doch zu riskant, als daß man dafür eine Erschütterung des gesamten Gefüges einer auf Befehl und Gehorsam beruhenden Armee hätte in Kauf nehmen wollen. In Sulzbach-Rosenberg hatte man offensichtlich keine Probleme, dem Schwenk zu folgen. Insgesamt überprüfte das Einsatzkommando, nach Kuhns eigenen Angaben, vom 25. August bis zum 29. November 1941 im Regensburger Bereich des WK XIII 2344 Gefangene in 25 Arbeitskommandos; 330 von ihnen, etwa 14%, galten danach als „unbrauchbar" und wurden mit dieser Begründung nach Flossenbürg überstellt. Nach der Ankunft wurden die Soldaten zumeist noch am selben Tag getötet. Der ehemalige Häftling H. erinnerte sich 1951 daran, daß im Herbst oder Winter 1941 LKWs mit russischen Kriegsgefangenen dort eintrafen. Diese kamen entweder in das Häftlingsbad oder den Arrestbunker. Dort mußten sie sich entkleiden und wurden dann, nur mit einem Mantel bekleidet, zum Schießstand geführt, neben dem das Krematorium lag, und anschließend von einem Erschießungskommando des Konzentrationslagers liquidiert. Die Leichen wurden sofort eingeäschert. Nach H . kamen auf diese Weise wenigstens 150 bis 200 Mann ums Leben 72 . Im April 1942 stellte die KZ-Kommandantur derartige Hinrichtungen ein, weil sich die Einwohner von Flossenbürg über das Schießen und das häufige Vorkommen von Blut in einem am Exekutionsort vorbeifließenden Bach beschwerten, aber auch deswegen, weil die Angehörigen des Exekutionskommandos die Nervenbelastung nicht mehr ertragen konnten. Von da an wurden die Ausgesonderten im Krematorium selbst vom Standortarzt oder von SS-Männern mit Karbolsäurespritzen direkt ins Herz ermordet. Das Krematoriumspersonal mußte währenddessen ins Freie und durfte erst nach der Aktion wiederkommen. Weitere Gefangene wurden im Krematorium oder auch dem Arrestgebäude durch Genickschüsse getötet. Wegen der vielen Leichen hielt die Politische Abteilung des Konzentrationslagers, der das Krematorium verwaltungsmäßig unterstand, schon Anfang Oktober 1941 die Aufstellung eines zweiten Ofens für „dringend erforderlich"; im Dezember erschien ihr sogar eine Reparatur der Einäscherungsanlage unumgänglich 73 . Erst die Umstände der Ermordung der Ausgesonderten aber machen wirklich offenkundig, wie systematisch O K W und RSHA die Ausrottung der weltanschaulich „untragbaren" Kriegsgefangenen betrieben 74 . Ursprünglich waren nur die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald für die Vernichtungsmaßnahmen vorgesehen. In Sachsenhausen wurde Anfang August 1941 eine Genickschußanlage eingerichtet und zu diesem Zweck eine Wohnbaracke auf dem Industriehof des Konzentrationslagers entsprechend umgebaut. Sie enthielt fünf Räume: die ersten beiden dienten später der „Registrierung" und der „körperlichen Untersuchung", in dem dritten, als Baderaum getarnten, wurden die Gefangenen so aufgestellt, daß sie von dem vierten aus durch einen
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Aussage H . vom 17. 1. 1951; Verf. betr. WK XIII, Bl. 34, Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Nr. 282-284, Bl. llOf. Darstellung nach Siegert, Konzentrationslager, S. 464^466. Zu den Exekutionen in Flossenbürg siehe auch Streim, Behandlung, S. 106-108. Vgl. dazu Otto, Wehrmacht, Kap. V.
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Spalt erschossen werden konnten. Vom letzten Raum aus schließlich fuhren Häftlinge die Leichen in das Krematorium des KZ; überdies standen wenigstens anfänglich vier von der Wehrmacht gestellten Feldkrematorien zur Verfügung. Vor Beginn der systematischen Liquidierung umfangreicher Gefangenentransporte am 31. August 1941 ließ der Kommandant SS-Oberführer Loritz zwei „Probeläufe" mit kleinen Gefangenengruppen durchführen. Schon der erste fiel offensichtlich so „zufriedenstellend" aus, daß sämtliche KZ-Kommandanten nach Sachsenhausen befohlen wurden, „um zu sehen, wie man am schnellsten die Politruks und russischen Kommissare liquidieren" könne 75 . Etwas später erhielt das KZ Buchenwald eine weitgehend identische Genickschußanlage. Als die ersten Gefangenen eintrafen, waren beide KZ daher in der Lage, ohne Verzögerung und von Anfang an in großem Stil - überliefert sind Transporte in einer Größenordnung von über 600 Mann - die Exekutionen durchzuführen. Von vornherein schätzte demnach die deutsche Führung die Zahl der Auszusondernden so hoch ein, daß sie nach einer „optimalen" Lösung suchte, sie schnell, effektiv und spurlos zu vernichten und dadurch den Sieg des Nationalsozialismus über die bolschewistische Weltanschauung zu ermöglichen. Verglichen mit der technisch „perfekten" Vernichtung in Buchenwald und Sachsenhausen erscheinen die Liquidierungen in Dachau, Flossenbürg, GroßRosen und Neuengamme gleichsam behelfsmäßig, und die Wahl auf sie dürfte erst im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Uberprüfung der Arbeitskommandos gefallen sein. Selbst die Methode in Auschwitz, wo man glaubte, daß „Problem" mit Gas lösen zu können, besaß noch einen ausgesprochenen „Versuchscharakter", doch stellte sich dabei sehr schnell heraus, daß sich hier völlig neue Dimensionen der Massenvernichtung potentieller Gegner des Nationalsozialismus eröffneten 76 . Auch die Zuweisung der Gefangenen zu den Konzentrationslagern folgte einem festen System. Sachsenhausen war für die Liquidierung von Männern zuständig, die die Stapo in den Wehrkreisen II Stettin, III Berlin, X Hamburg und XI Hannover ausgesondert hatte. Die Zahl der in diesem KZ bis zum 31. Juli 1942 insgesamt Umgebrachten dürfte sich auf mindestens 12000 Gefangene belaufen. Die Einsatzkommandos in den Wehrkreisen IV Dresden, VI Münster, IX Kassel und XII Wiesbaden brachten ihre Opfer nach Buchenwald, für das für den angegebenen Zeitraum wenigstens 7000 Ermordete anzunehmen sind. In Dachau wurden etwa 4000 Rotarmisten aus den WK V Stuttgart, VII München und aus Teilen des WK XIII Nürnberg erschossen, während die Stapostellen Regensburg und Karlsbad dem oberpfälzischen Konzentrationslager Flossenbürg wenigstens 1300 Mann aus anderen Bereichen des WK XIII übergaben. In Groß-Rosen und Auschwitz vernichtete die SS etwa 5000 Gefangene aus dem WK VIII und später einigen Stalags aus den WK III Berlin
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Darstellung nach N a u j o k s , Leben, S. 265-269; Kalendarium der Geschichte, S. 22 sowie Streim, Behandlung, S. 101, mit einem diesbezüglichen A u s z u g aus dem Urteil eines Sachsenhausen-Verfahrens. 7i ' A u c h in Sachsenhausen w u r d e n im H e r b s t 1941 mit abgedichteten Lastwagen „Probevergasungen" sowjetischer Kriegsgefangener d u r c h g e f ü h r t . N ä h e r e s dazu bei Kogon, N a t i o nalsozialistische Massentötungen, S. 83 f.
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und XXI Posen. Für Mauthausen schließlich, zuständig für die WK XVII Wien und WK XVIII Salzburg, ist es kaum möglich, die Zahl der Umgekommenen zu bestimmen, da das RSHA dorthin auch diejenigen „Kommissare" schickte, deren Exekution „zugunsten" eines Einsatzes in den dortigen Steinbrüchen aufgeschoben worden war 77 . Auch hier dürfte sich die Zahl auf mehrere Tausend belaufen 78 . Perverser Höhepunkt waren Aussonderungen in den Konzentrationslagern selbst, in die nach einem Befehl des OKW vom 4. Oktober 1941 etwa 25000 sowjetische Soldaten zum Arbeitseinsatz überstellt wurden 79 . Da es sich formal um Arbeitskommandos handelte, waren sie wie alle anderen von den zuständigen Stapostellen zu kontrollieren. Allein für Auschwitz, wohin 10000 Mann aus den schlesischen Stalags 308 Neuhammer und 318 Lamsdorf kamen, lassen sich etwa 1000 Gefangene nachweisen, die nach dem Uberprüfungsverfahren ausgeschieden und umgebracht wurden; für die übrigen Konzentrationslager muß man von weiteren 1000 Rotarmisten ausgehen 80 . Damit liegt die Zahl der allein bis zum 31. Juli 1942 aufgrund der Einsatzbefehle Nr. 8 und 9 innerhalb des Deutschen Reiches ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen bei wenigstens 38 000 Mann. Schon Anfang der fünfziger, vor allem aber in den sechziger und siebziger Jahren versuchten bundesdeutsche Staatsanwaltschaften, in mühevoller Kleinarbeit zu einer strafrechtlichen Würdigung dieses beispiellosen Verbrechens zu gelangen, und ermittelten dabei auch einen Teil der seinerzeit verantwortlichen Stalag-Offiziere. Befragt nach den Aussonderungen in „ihren" Lagern, gaben diese zumeist recht umfassend und ohne größeres Zögern Auskunft über das damalige Geschehen. Ihre Position läßt sich im wesentlichen in drei Punkten zusammenfassen: - Wohl am häufigsten wurde die eigene Situation mit den Worten „Wir haben von nichts gewußt" oder „Ich habe nicht gewußt, was mit den Ausgesonderten geschehen würde" umschrieben. Der Befehlskomplex vom 17. Juli 1941 ging allerdings sämtlichen Wehrkreisen und Stalagkommandanten zu, über diese dann deren Stellvertretern und Abwehroffizieren. Alle Offiziere erhielten die notwendigen Informationen in einer Dienstbesprechung, so daß sie von der Tätigkeit des Einsatzkommandos, das im übrigen volle Bewegungsfreiheit im eigentlich autonomen Stalag-Bereich genoß, wußten. Sie sahen den Pferch, in dem die Ausgesonderten untergebracht waren, erlebten deren Abtransport und kannten über die Einsatzbefehle sowohl das Ziel als auch das weitere Schicksal der Män77
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Seit dem 1 5 . 1 1 . 1 9 4 1 war es möglich, „zur Exekution überstellte" Kriegsgefangene vor ihrer Liquidierung in den K Z zu Steinbrucharbeiten zu verwenden, IMT, X X X V , 569-D, S. 163 f. Einen einmaligen Sonderfall bedeutet die Überstellung der etwa 70 „Kommissare" vom Truppenübungsplatz Baumholder im W K XII in das SS-Sonderlager Hinzert im Hunsrück. Die Uberstellung von 43 Offizieren bzw. „Kommissaren" aus dem W K XI nach Neuengamme stellt ebenfalls eine Ausnahme dar. Gesondert zu nennen ist schließlich noch das „Russenlager" Stalag 3 1 2 ( X X C) Thorn auf ehemals polnischem Gebiet. Dort wurden ca. 1200 Ausgesonderte in freiem Gelände von Angehörigen der Stapo Bromberg erschossen. B A - M A , R W 48/v. 12 Dazu ausführlich Otto, Wehrmacht, Kap. IV, 1 c.
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ner, das die Begleitmannschaften obendrein nach ihrer Rückkehr oft ausführlich beschrieben 81 . Sie erfuhren tagtäglich, daß sich der Gefangenenbestand in den Arbeitskommandos mit dem Eintreffen der Stapobeamten zum Teil dramatisch verringerte. Auf der formalen Ebene schließlich waren sie konfrontiert mit dem Karteiproblem, das in ihnen zwar Bedenken, jedoch keinen grundsätzlichen Widerspruch hervorrief. Jeder einzelne von ihnen wußte somit bis hinein in Details von dem Verbrechen. Das Selbstverständnis eines preußisch-deutschen Offizier hätte in dieser Situation jeden einzelnen von ihnen eigentlich dazu zwingen müssen, gegenüber den Vorgesetzten und auch gegenüber sich selbst Stellung zu diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts zu beziehen, zumal die Genfer Konvention Gegenstand regelmäßiger Belehrung auch der Offiziere war. - Auf diesbezügliche Vorhaltungen hin beriefen sich jedoch viele darauf, es hätten zweifelsfrei eindeutige Befehle vorlegen, die man als Soldat selbstverständlich habe befolgen müssen. Daher sei einem, wie es der Kommandeur der Kriegsgefangenen im WK XIII, Generalmajor Schemmel, 1950 formulierte, seinerzeit nicht einmal „der Gedanke an die Möglichkeit einer Ablehnung oder störenden Einstellung" gekommen, im Gegenteil, er selbst sei „besorgt" gewesen, „daß die Anordnungen des OKW und die Befehle des Kommandierenden Generals reibungslos vollzogen wurden. So zu handeln war meine Gehorsamspflicht" 82 . Mit dem Ausfüllen der Karteikarten bekannte sich die Wehrmacht jedoch trotz gegenteiliger Beteuerungen formal zur Genfer Konvention, und die Einsatzbefehle setzten, obwohl sie in eklatantem Widerspruch zur „Dienstvorschrift für den Kommandanten eines Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlagers" standen, diese nicht außer Kraft. Insofern wäre es ohne weiteres möglich gewesen, sich auf die völkerrechtlich vorgeschriebene Fürsorgepflicht gegenüber den Sowjets zu berufen und die Zusammenarbeit mit der Stapo zu verweigern. Daß dies keineswegs eine nur theoretische Möglichkeit war, zeigen Vorgänge im WK VII München, in dem Einsatzkommandos der Stapostellen München und Regensburg Gefangene aussonderten und zur Exekution in das KZ Dachau brachten 83 . Als die verantwortlichen Offiziere im Stalag VII Α Moosburg und beim Kommandeur der Kriegsgefangenen in München von den Morden erfuhren, lehnten sie die Auslieferung weiterer bereits zur Uberstellung nach Dachau vorgesehener Gefangener rundweg ab. Zur Begründung führten sie neben arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten und Kritik an der Hektik der Maßnah-
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Soldaten des Begleitkommandos konnten ohne Schwierigkeiten an den Hinrichtungen als Zuschauer teilnehmen, wurden in Dachau einige Male sogar regelrecht dazu eingeladen, obwohl der Einsatzbefehl Nr. 9 festgelegt hatte, daß die Exekutionen nicht öffentlich und unauffällig vollzogen werden sollten. Vgl. Verf. betr. W K VII, Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft 20988, Bl. 252 sowie Bl. 264-266. Verf. betr. W K XIII, Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Nr. 2 8 2 - 2 8 4 , Bl. 49-51. Der ganze Vorgang in: IMT, X X X V I I I , Dok. 178-R, S. 4 1 9 - 4 9 8 . Darstellung der Ereignisse bei Streit, Kameraden, S. 94-98; Streim, Behandlung, S. 60-69, Friedrich, Gesetz, S. 3 7 1 - 3 7 5 sowie umfassend Otto, Wehrmacht, Kap. IV, mit Hinweisen auf die einschlägigen Ermittlungsverfahren.
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men vor allem an, daß das Verfahren vom soldatischen Standpunkt aus nicht zu billigen sei, denn ein Gefangener könne eben nicht so einfach erschossen werden, d.h., beim Abwägen der einander widersprechenden Befehle entschieden sie sich für die „herkömmlichen" völkerrechtskonformen Vorschriften. O b wohl das R S H A die Exekution von wenigstens 188 (für München) bzw. 244 Mann (für Regensburg) 8 4 bereits angeordnet hatte, waren beide Stapostellen trotz massiver Unterstützung aus Berlin nicht in der Lage, die Herausgabe der Betreffenden zu erzwingen. In O K W und R S H A schätzte man die Sprengkraft der Situation richtig ein, vermied geflissentlich eine offizielle Stellungnahme und handelte einen Kompromiß aus: die Gefangenen wurden nochmals überprüft, die dabei Ausgesonderten kamen dann aber nicht nach Dachau, sondern nach Buchenwald, w o sie ein weiteres Mal überprüft wurden. 120 Gefangene blieben dadurch wenigstens vorläufig am Leben. Folgen hatte das für die beteiligten Offiziere nur insofern, als sie zwar eine Art mündlichen Verweis erhielten bzw. versetzt wurden; weiteren Beförderungen stand die Angelegenheit jedoch nicht im Wege. Wenn aber diese - analytisch ausgebildeten - Offiziere sich weigerten, die Einsatzbefehle umzusetzen, dann deshalb, weil sie klar erkannten, daß die widersprüchliche Befehlslage ihnen die Möglichkeit zu einem „befehlskonformen" Widerstand eröffnete, eine Erkenntnis, die auf Grund der Ausbildung jedem hätte kommen müssen. Die Berufung auf eine Art „Befehlsnotstand" geht also an der Sachlage vorbei, im Gegenteil, das Verhalten der Münchener Offiziere offenbarte dem O K W so augenscheinlich die Schwäche seiner Position, daß es in der ganzen Angelegenheit auf schriftliche Äußerungen weitgehend verzichtete, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. - Es stellt sich daher die Frage, warum ein solches Verhalten eher die Ausnahme als die Regel darstellte und sich Gegenkräfte so gut wie gar nicht artikulierten. Die Antwort ist so einfach wie erschreckend zugleich: D e r überwiegende Teil der Verantwortlichen bejahte die Aussonderungen ohne Vorbehalt als eine zwingend notwendige Maßnahme im Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion. Nach den traumatischen Erfahrungen der Revolution von 1918/19, durch die sie ihren eigenen Stand in Frage gestellt sahen, erblickten diese Offiziere im Nationalsozialismus den wohl wichtigsten Garanten ihrer Existenz. Schon ein Blick auf die Verhältnisse in der Sowjetunion, etwa auf die Säuberungen in der Roten Armee oder die Neueinführung des „politischen" Offiziers, eben des Kommissars, machte nur zu glaubhaft, welches Schicksal ihnen und dem gesamten deutschen Volk drohte, sollten sich die „Bolschewisten" durchsetzen. Das gesamte Gefüge der Armee und damit ihrer Welt mußte aus den Fugen geraten, und sich dem zu widersetzen, erachteten sie daher nicht nur als ihr Recht, sondern ihre Pflicht. Wenn dann die Führung dazu aufrief, den Kampf als militärischen und politischen Kreuzzug bis hin zur Vernichtung des ideologischen Todfeindes zu führen, traf das bei den zumeist älteren und in der Tradition von Kaiserreich und Reichswehr erzogenen Offizieren auf vorbehaltlose Zustimmung. Bedenken waren sogar unangebracht, denn bei den Ausgesonder-
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D i e Zahlen differieren in den Akten.
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ten handelte es sich ihrer Meinung nach um die Speerspitze des Bolschewismus, ohne die der gewöhnliche Rotarmist außerstande gewesen wäre, sich dem kulturell und rassisch „höher" stehenden deutschen Soldat zu widersetzen. Aus diesem Grund durfte man ihnen als den Trägern der feindlichen Ideologie den Soldatenstatus und damit den Schutz der Genfer Konvention auch gar nicht zugestehen, sondern mußte sie gleichsam als eine Art Bazillus aus der Masse der Gefangenen aussortieren und eliminieren. Auf geltende Vorschriften konnte man dabei wegen des grundsätzlichen Problems keine Rücksicht nehmen. Den augenfälligen „Beweis" für diese Logik, aber auch für ein in formaler Hinsicht korrektes Vorgehen lieferte das bei der Uberprüfung erstellte Formblatt. Der Beruhigung des Gewissens diente zusätzlich die Tatsache, daß der Krieg gegen die Sowjetunion in allererster Linie als politischer Kampf definiert wurde, mit dem die sich als unpolitisch verstehenden Offiziere ihrer Ansicht nach gar nichts zu tun hatten; sie glaubten den Einsatzkommandos lediglich „zuarbeiten" zu müssen. Der Chef der Abt. Kriegsgefangene im OKW, Oberstleutnant Breyer, formulierte das gegenüber Schemmel anläßlich einer Tagung ganz deutlich: „Seien Sie froh, daß wir das Ganze so geregelt haben. Wir wollen, daß die Wehrmachtorgane hieran in keiner Weise beteiligt sind; es ist eine politische Sache" 85 . Gerade durch das Heraushalten aber trafen die Kommandeure der Kriegsgefangenen, die Lagerkommandanten und deren Abwehroffiziere eine höchst politische Entscheidung, denn erst ihre „Passivität" ermöglichte den Einsatzkommandos die „Vernichtung der bolschewistischen Weltanschauung" in den deutschen Kriegsgefangenenlagern. Selbst nach dem Krieg noch sahen diese Offiziere ihr Verhalten als völlig rechtens an, als einen Akt vorbeugender Notwehr, um eine vermeintliche zukünftige Bedrohung von sich und dem deutschen Volk abzuwenden. Entsprechend verständnislos reagierte etwa General Schemmel 1950 auf diesbezügliche kritische Fragen der Ermittler, und General v. Westrem, Kommandeur der Kriegsgefangenen im W K XII Wiesbaden, sagte 194 8 86 : „... der Begriff Kommissar ist gleich geprägt worden, und das war für mich insofern wichtig, weil ich sagte, wenn die ausgesondert werden, die Kommissare sind ja keine Soldaten beim Russen, sondern politische Leute und sind somit auch keine Kriegsgefangenen. Es ist also absolut erklärlich, daß man diese Kommissare aus den Kriegsgefangenen aussonderte". Schemmel wie v. Westrem zeigten sich in ihren Befragungen zutiefst empört über die Behandlung, die den sowjetischen Soldaten vor allem 1941/42 widerfahren war, und ihre Bekundungen, seinerzeit beim OKW, wenn auch ohne Erfolg, auf eine Verbesserung der Situation der Rotarmisten gedrängt zu haben, dürften der Wahrheit nahekommen. Es widersprach einfach ihrem militärischen Selbstverständnis, Gefangene beispielsweise hungern zu lassen bzw. ihnen nur Hungerrationen zuzugestehen; die Verantwortung, die ihnen die Genfer Konvention auferlegte, war für sie allem Anschein nach keine hohle Phrase.
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Verf. betr. W K XIII, Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Nr. 2 8 2 - 2 8 4 , Bl. 49. Staatsarchiv Nürnberg, KV-Prozesse Fall 12 A 94-97, S. 8145. Der Begriff „Kommissar" w u r d e oft pauschal auf die gesamte G r u p p e der Ausgesonderten angewandt.
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Die Aussonderungen dagegen stießen auf ihre ungeteilte Zustimmung, da sie sich ihrer Meinung nach auf eine Gruppe bezogen, der man aus weltanschaulichen Gründen keinen Kombattantenstatus zugestehen durfte. Erkannte man ihr diesen aber ab, hatte sie das Recht auf die - relative - Sicherheit des Kriegsgefangenenlagers verloren. Dann war es auch nur folgerichtig, wenn die Betreffenden aus den Stalags entfernt wurden. Ihr weiteres Schicksal war für sie nicht mehr von Interesse.
Jörg Osterloh „Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung .. Die Wehrmacht und die Behandlung der sowjetischen Gefangenen in Deutschland „Erst in ruhigeren und spaeteren Jahren wird man trotz aller Maengel ermessen koennen, was auf dem Gebiete des Kriegsgefangenenwesens in Deutschland wirklich geleistet worden ist. Moege sich dies fuer alle Nationen in der Zukunft guenstig auswirken" 1 . Mit diesen Worten Schloß der ehemalige Inspekteur für das Kriegsgefangenenwesen im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Generalmajor a. D. Adolf Westhoff, seine eidesstattliche Erklärung für den Prozeß gegen Alfried Krupp vor dem Nürnberger Militärgerichtshof. Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Wehrmacht unterstellt. Die Richtlinien zur Behandlung Gefangener erließ das OKW. Grundlage hierfür waren wiederum die Bestimmungen des Genfer Abkommens, die 1939 in Form der Heeresdienstvorschrift (H.Dv.) 38/2 („Vorschriften für das Gefangenenwesen, Teil 2") Eingang in die Weisungen der Wehrmacht fanden 2 . Diese verpflichtete sich dadurch unter anderem, Gefangene menschlich und unterschiedslos zu behandeln (Art. 4) sowie keine Vergeltungsmaßnahmen an ihnen zu verüben (Art. 2). Kriegsgefangene durften zur Arbeit eingesetzt werden, mußten hierzu aber gesundheitlich und körperlich in der Lage sein (Art. 27ff.). Eine weitere zentrale Bestimmung verbot körperliche Strafen (Art. 46): Gefangene durften nur mit denselben Sanktionen belegt werden, wie Militärangehörige des Gewahrsamsstaates 3 . Im folgenden soll die Behandlung Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam genauer beleuchtet werden. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland gelegt.
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Dieser Beitrag sützt sich auf meine Studie „Ein ganz normales Lager". Eidesstattliche Erklärung von Adolf Westhoff, 1 1 . 5 . 1948, B A - M A , Msg. 1/2011. A b k o m m e n über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 2 7 . 7 . 1 9 2 9 , in: RGBl. 1934, Τ. II, S. 2 2 7 - 2 6 2 . Ausnahmen existierten nur für Angehörige feindlicher Luftwaffen sowie feindlicher Kriegs- und Handelsmarinen. Vgl. Streim, Behandlung, S. 5. Zur Genese der völkerrechtlichen Vereinbarungen vgl. ebd., S. 2 5 - 3 2 . Zur H.Dv. 38/2 gehörten mehrere weitere Dienstvorschriften, die ihrem Inhalt nach als Ausführungsbestimmungen des Genfer Abkommens zu betrachten sind: Hervorzuheben sind insbesondere H.Dv. 38/5, Vorschrift f ü r das Kriegsgefangenenwesen, T. 5. Dienstanweisung für den Kommandanten eines „Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlagers" (1939), IfZ-Archiv, Da 34.12, sowie H.Dv. 38/12, Vorschrift für das Kriegsgefangenenwesen, T. 12. Dienstanweisung für Raumbedarf, Bau und Einrichtung eines Kriegsgefangenenlagers vom 14. 3. 1939, B A - M A R H D 4 138/12. Beide Vorschriften sind in ihren wesentlichen Teilen zusammengefaßt in Otto, Wehrmacht, Kap. 1. Vgl. A b k o m m e n über die Behandlung der Kriegsgefangenen v o m 27. 7. 1929, in: RGBl. 1934, Τ. II, S. 233, 2 3 9 - 2 4 1 , 2 4 3 - 2 4 4 .
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In den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs fielen der Wehrmacht hunderttausende Gefangene in die Hände, vor allem Polen, Belgier und Franzosen, aber auch Holländer und Briten. Obgleich die Kriegsgefangenenabkommen von allen Kombattanten anerkannt waren, handelte die NS-Führung auch im Krieg nach einem bestimmten Prinzip, das ihrer Politik bereits in den Jahren zuvor zugrunde gelegen hatte: Der Einhaltung internationaler Verträge wurde keine große Bedeutung beigemessen; nur dort, wo kriegsvölkerrechtliche Vereinbarungen Vorteile erbrachten, beachtete man diese. Eine wichtige Folge davon war, daß die Behandlung der Gefangenen erheblich von den entsprechenden internationalen Kontrakten abwich. Die militärische Führung machte sich hier zum Helfer nationalsozialistischer Politik: Von Anfang an errichteten das Oberkommando der Wehrmacht und das Oberkommando des Heeres (OKH) eine Rangordnung unterschiedlicher Rechte und Rechtssicherheit unter den Gefangenen der verschiedenen Feindstaaten. Die Wehrmacht verstieß mit ihrem Vorgehen bewußt gegen die Bestimmungen des Genfer Abkommens 4 . Entscheidendes Kriterium für die Behandlung der Gefangenen war deren Stellung in der nationalsozialistischen Rassenhierarchie. Aber auch mögliche Repressalien gegen deutsche Soldaten in Feindeshand spielten eine gewichtige Rolle. Aus diesen Gründen wurden die britischen - später auch die amerikanischen 5 Kriegsgefangenen am ehesten entsprechend der Richtlinien des Genfer Abkommens behandelt. Zum einen deshalb, weil sich zahlreiche Deutsche in britischem Gewahrsam befanden (vor allem abgeschossene Kampfpiloten und Seeleute), was der britischen Regierung die Möglichkeit bot, gleiches mit gleichem zu vergelten. Zum anderen hoffte Hitler lange Zeit auf ein Einlenken des von ihm als natürlichen Verbündeten betrachteten Großbritannien. Geringere Rechte hatten die Gefangenen derjenigen westeuropäischen Staaten, die von der Wehrmacht besetzt waren (Niederlande, Belgien und Frankreich). Zwar waren Besuche von Kommissionen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) oder der Schutzmächte gestattet, doch entfiel das Druckmittel möglicher Repressalien gegen deutsche Kriegsgefangene. Unter den Belgiern waren die Flamen besser gestellt: Sie durften in Belgien bleiben und wurden teilweise früher entlassen. Die frankophonen Wallonen hingegen kamen in Deutschland zum Arbeitseinsatz. Franzosen durften nur eingeschränkt von internationalen Hilfsgesellschaften betreut werden 6 . Weitere Beschränkungen gab es für die südosteuropäischen Gefangenen. Serben kamen völkerrechtswidrig in der Rüstungsindustrie zum Einsatz; zudem erhielten sie ebenso wie die Griechen, Kroaten und Polen nur zwei Drittel der Arbeitslöhne westlicher Gefangener (die den Bestimmungen des Genfer Abkommens entsprachen). Auch verwehrte man ihnen die Vertretung durch ihre Schutzmacht.
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Vgl. Streit, Kameraden, S. 70. Zum Folgenden ebd., S. 69-72. Zu den amerikanischen Kriegsgefangenen vgl. allgemein Foy, For You the W a r is Over. Erinnerungen amerikanischer Gefangener in Deutschland sind zusammengestellt in: Carlson/Haase, Freiheit. Für die französischen Gefangenen weiterhin grundlegend Durand, Prisonniers.
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A m wenigsten wurden zunächst die Rechte der polnischen Gefangenen geachtet, da die Experten des Auswärtigen Amts den Fortbestand Polens als Völkerrechtssubjekt verneinten. Das O K W folgerte, daß somit für Polen jene Teile des Genfer Abkommens, die die Existenz eines Staates voraussetzten, keine Gültigkeit mehr besaßen. Das schwedische Schutzmachtmandat galt deshalb als beendet. Man entließ den überwiegenden Teil der Polen aus der Gefangenschaft und zwang sie in Arbeitsverhältnisse, die sie zu rechtlosen Sklavenarbeitern machten. Die Juden unter den polnischen Gefangenen fanden sich von Anfang an Diskriminierungen ausgesetzt: Unteroffiziere und Mannschaften entließ die Wehrmacht formell aus der Kriegsgefangenschaft, anschließend transportierte man sie in die polnischen Ghettos. Hier fielen sie bald der „Endlösung" zum Opfer. Offiziere wurden in speziellen Ghettoabteilungen innerhalb der Gefangenenlager untergebracht: Die Wehrmacht entließ von der Sicherheitspolizei angeforderte Personen aus der Kriegsgefangenschaft, die daraufhin von der Gestapo ermordet wurden. In der „Absonderung" (und Ubergabe an die Gestapo) polnischer aber auch französischer Juden in den Gefangenenlagern zeigte sich erstmals die Bereitschaft des Oberkommandos, sich auf die rassistische Vernichtungspolitik des NS-Regimes einzulassen. Verletzungen des Völkerrechts wurden mit dem Überfall auf die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa") massiver. Noch deutlicher als zuvor trat die Billigung und Unterstützung der nationalsozialistischen Rassenpolitik durch die Wehrmachtführung bei der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen ans Tageslicht. Deren Los ist mittlerweile vielfach dokumentiert 7 . Die Faktoren, die insbesondere im Winter 1941/42 zu einem nie zuvor dagewesenen Massensterben führten, bedürfen hier deshalb nur einer kurzen Erwähnung: die völlig unzureichende Unterbringung, chronische Unterernährung, katastrophale Transportbedingungen, Vernichtung durch Arbeit und Mord. Von den etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kamen so rund 3,3 Millionen, beinahe 60 Prozent von ihnen, in deutschem Gewahrsam ums Leben. Dieses Massensterben war ganz offensichtlich eine Folge der nationalsozialistischen Planungen, mehrere zehn Millionen Menschen im Osten umkommen zu lassen. Die Wehrmacht spielte mit der Behandlung der Sowjetgefangenen den NS-Planungen zumindest bereitwillig in die Hände 8 . Bereits im Zuge der Vorbereitung des „Unternehmens Barbarossa" zeigte sich in den Anordnungen, insbesondere den „verbrecherischen Befehlen" 9 , daß NSund Wehrmachtführung diesen Feldzug vor allem als einen rassenideologischen Krieg betrachteten. Das spiegelte sich schon in der Diktion der Befehle über die
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Vgl. insbesondere die maßgeblichen Standardwerke von Streit, Kameraden, und Streim, Behandlung. Zusammengefaßt ist der Forschungsstand in: Osterloh, Kriegsgefangene. Vgl. zu den Zahlen Streit, Kameraden, S. 10, 62-66, sowie zu den Gründen für das Massensterben ebd., S. 83-125, 137-183. Zu den „verbrecherischen Befehlen" zählten die folgenden Erlasse: der sogenannte „Kommissarbefehl", der „Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa" und die Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland, die alle vom O K W gezeichnet worden waren, sowie die Vereinbarungen des O K H mit dem Reichssicherheitshauptamt über die Tätigkeit der Einsatzkommandos im rückwärtigen Heeresgebiet. Vgl. Streit, Kameraden, S. 31-50; Krausnick, Kommissarbefehl.
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Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener wider. Wenige Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, am 16. Juni 1941, erließ das OKW die Bestimmungen zum „Kriegsgefangenenwesen im Fall Barbarossa" 10 . In diesem Erlaß verdeutlichte die Führung der Wehrmacht den ideologischen Charakter des Krieges und wies darauf hin, daß vom Gegner auch in der Gefangenschaft hartnäckiger Widerstand zu erwarten sei. Sie forderte die restlose Beseitigung jeglichen Widerstands: „Gegenüber den Kriegsgefangenen der Roten Armee ist daher äußerste Zurückhaltung und schärfste Wachsamkeit geboten. Mit heimtückischem Verhalten insbesondere der Kriegsgefangenen asiatischer Herkunft ist zu rechnen. Daher rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei dem geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit insbesondere gegenüber bolschewistischen Hetzern. Restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes! Jeden Verkehr der Kriegsgefangenen mit der Zivilbevölkerung oder den Wachmannschaften nachdrücklich verhindern." Diese Passage hatte das OKW fast wörtlich aus den „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland" entnommen, einem Befehl, der die Wehrmachtangehörigen unter anderem auf die „heimtückische Kampfweise" des Feindes vorbereiten sollte. Daß sich die Anordnungen für die Behandlung der Gefangenen auf einen Befehl stützen, der dem Komplex der „verbrecherischen Befehle" zuzuordnen ist, verdeutlicht den engen Zusammenhang 11 . Eine Verschärfung des genannten Erlasses, der nur für das „Generalgouvernement" sowie den Wehrkreis I Gültigkeit besaß, brachten die geheimgehaltenen „Anordnungen über die Behandlung sowjetischer Kr.Gef. in allen Kriegsgefangenenlagern", die das OKW gemeinsam mit dem in der Truppe zu veröffentlichenden „Merkblatt für die Bewachung Sowjet. Kriegsgefangener" am 8. September 1941 herausgab 12 . In dem Merkblatt für die Wachmannschaften in Kriegsgefangenenlagern hieß es: ..Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen Deutschland. Zum ersten Male in diesem Krieg steht dem deutschen Soldaten ein nicht nur soldatisch, sondern auch politisch geschulter Gegner gegenüber, der im Kommunismus sein Ideal, im Nationalsozialismus seinen ärgsten Feind sieht. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus ist ihm jedes Mittel recht: Heckenschützenkrieg, Bandentum, Sabotage, Brandstiftung, Zersetzungspropaganda, Mord. Auch der in Gefangenschaft geratene Sowjetsoldat, mag er auch äußerlich noch so harmlos erscheinen, wird jede Gelegenheit benutzen, um seinen Haß gegen alles Deutsche zu betätigen. Es ist damit zu rechnen, daß die Kr.Gef. entsprechende Anweisungen für ihre Betätigung in der Gefangenschaft erhalten haben. Ihnen gegenüber ist also äußerste Wachsamkeit, größte Vorsicht und schärfstes Mißtrauen dringendes Gebot." „Weich-
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O K W , Abt. Kriegsgef., 16. 6. 1941, B A - M A R W 4/v. 578. Auszugsweise a b g e d e c k t in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 1 9 8 - 2 0 0 , sowie Ueberschär/Wette (Hrsg.), Uberfall, S. 2 6 1 - 2 6 2 . Zit. ebd. Auszugsweise abgedruckt in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 1 8 7 - 1 8 8 . Zur Genese der „Richtlinien" vgl. Streit, Kameraden, S. 4 9 - 5 0 . Auch Streit weist auf den Zusammenhang mit den „verbrecherischen Befehlen" hin. Vgl. ebd., S. 73. Ο K W / Α W A , Abt. Kriegsgef., 8. 9 . 1 9 4 1 . Dok. 1 5 1 9 - P S in: IMT, X X V I I , S. 274-283. Veröffentlicht u. a. in: Rürup (Hrsg.), Krieg S. 1 1 0 - 1 1 1 , sowie Ueberschär/Wette (Hrsg.), Uberfall, S. 2 9 7 - 3 0 0 . Zit. ebd. Alle Hervorhebungen im Original.
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heit" gegenüber ungehorsamen Gefangenen sei nicht angebracht, da diese als Schwäche betrachtet würde. Deswegen befahl das OKW neben dem Hinweis, daß jegliche Willkür zu unterbleiben habe: „Rücksichtsloses Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit und Ungehorsam! Zur Brechung von Widerstand ist von der Waffe schonungslos Gebrauch zu machen. Auf fliehende Kr.Gef. ist sofort (ohne Anruf) zu schießen mit der festen Absicht zu treffen." Noch schärfer formulierte das Oberkommando diesen Befehl in den geheimen „Anordnungen", in denen es zugleich darauf hinwies, daß ein besonders großes Widerstandspotential bei den sowjetischen Offizieren zu erwarten sei. Sie wurden als „bolschewistische Triebkräfte" bezeichnet: „Bei den sowjetischen Kr. Gef. ist es schon aus disziplinarischen Gründen nötig, den Waffengebrauch sehr scharf zu handhaben. Wer zur Durchsetzung eines gegebenen Befehls nicht oder nicht energisch genug von der Waffe Gebrauch macht, macht sich strafbar. Auf flüchtige Kr. Gef. ist sofort ohne vorherigen Haltruf zu schießen. Schreckschüsse dürfen niemals abgegeben werden." Diese offensichtlich eklatante Mißachtung der völkerrechtlichen Abkommen veranlaßte den Chef des Amtes Ausland/Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, am 15. September 1941 beim Chef des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, zu intervenieren. Canaris konzedierte, daß das Genfer Kriegsgefangenenabkommen von 1929 nicht zwischen Deutschland und der Sowjetunion gelte, da diese nicht Signatar dieses Abkommens sei. Der Admiral verwies aber darauf, daß in einem solchen Fall das allgemeine Völkerrecht Grundlage für die Behandlung der Gefangenen sein müsse: „Das Genfer Kriegsgefangenenabkommen gilt zwischen Deutschland und der UdSSR nicht, daher gelten lediglich die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Diese haben sich seit dem 18. Jahrhundert dahin gefestigt, daß die Kriegsgefangenschaft weder Rache noch Strafe ist, sondern lediglich Sicherheitshaft, deren einziger Zweck es ist, die Kriegsgefangenen an der weiteren Teilnahme am Kampfe zu verhindern. Dieser Grundsatz hat sich im Zusammenhang mit der bei allen Heeren geltenden Anschauung entwickelt, daß es der militärischen Auffassung widerspreche, Wehrlose zu töten oder zu verletzen; er entspricht zugleich dem Interesse eines jeden Kriegführenden, seine eigenen Soldaten im Falle einer Gefangennahme vor Mißhandlungen geschützt zu wissen. Die [...] Anordnungen für die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener gehen [...] von einer grundsätzlich anderen Auffassung aus" 13 . Die Einwände von Canaris - es handelte sich hierbei im übrigen um den einzigen nennenswerten Protest innerhalb der oberen militärischen Führung - wurden nicht berücksichtigt. Er erhielt sein Schreiben mit einem kurzen Vermerk Keitels zurück: „Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen
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Dok. 338-EC, in: IMT, XXXVI, S. 317-327, Zit. S. 317-318. Diese Eingabe war u. a. vom Völkerrechtsexperten des Amtes Ausl./Abw., dem Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke, der dem Kreisauer Kreis angehörte und in die Staatsstreichplanungen des 20. Juli 1944 involviert war, vorbereitet worden. Vgl. Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 111.
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Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung, deshalb billige ich die Maßnahmen u. decke sie. 23. 9. K.[eitel]" 1 4 . Da es also weder einen Schutz durch die Genfer Konvention, noch durch das allgemeine Völkerrecht geben sollte, befanden sich die sowjetischen Kriegsgefangenen in einem rechtsfreien Raum. Sie konnten sich nicht an eine Schutzmacht wenden und durften auch nicht durch das I K R K betreut werden. Die „fortschreitende Durchdringung der Wehrmacht mit totalitärem nationalsozialistischen Geist" 1 5 läßt sich am eindringlichsten anhand der Behandlung der Sowjetgefangenen in den Lagern auf Reichsgebiet veranschaulichen 16 . Hier konnten die Verantwortlichen keinesfalls Mißstände, wie sie im frontnahen Gebiet durchaus herrschten, als Entschuldigungsgrund für die Lebensbedingungen der Gefangenen geltend machen (auch wenn gerade dies später der Verteidigungslinie der in Nürnberg angeklagten Generale entsprach) 17 . Das Oberkommando hatte am 26. März 1941 den Befehl an fast alle Wehrkreiskommandos im Reichsgebiet zur Aufstellung von insgesamt 60 Front-Stalags erlassen; bis spätestens Ende April mußte die Einsatzbereitschaft gemeldet werden 1 8 . Ein Teil der geplanten Lager sollte offenbar von Anfang an auf Reichsgebiet verbleiben. Hier waren nach einem O K W - B e f e h l vom 16. Juni 1941 Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager (Stalags) und Kriegsgefangenen-Offizierslager (Oflags) mit einer Belegstärke von 3 0 0 0 0 bis zu 5 0 0 0 0 Gefangenen vorgesehen. Die Gesamtkapazität der Lager des Reichsgebietes sollte 790 000 Mann betragen. Später pendelte sich die tatsächliche Gesamtbelegung der Lager im Reichsgebiet bei 2 0 0 0 0 - 3 0 0 0 0 Gefangenen ein 1 9 . Die Aufstellung der Lager auf Truppenübungsplätzen (im militärischen Sperrgebiet) wurde angeordnet, denn die Führung des „Dritten Reiches" befürchtete eine Infiltrierung der Bevölkerung mit „bolschewistischem Gedankengut". Außerdem konnte sie so die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen besser vor der deutschen Öffentlichkeit verborgen halten. In seinen Anordnungen räumte der Chef des Allgemeinen Wehrmachtamtes, Hermann Reinecke, ein, daß die Lager wegen des eng gesteckten Zeitrahmens nur in behelfsmäßiger F o r m errichtet werden konnten. Er soll deshalb angewiesen haben, die Kriegsgefangenen in Provisorien unter freiem Himmel unterzubringen, falls die ordnungsgemäßen Unterkünfte nicht mehr rechtzeitig fertigzustellen waren 2 0 . Mitte Juli 1941, als die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland eintrafen, bestanden die Lager zumeist lediglich aus einem mit Stacheldrahtver14 15 16
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D o k . 3 3 8 - E C , in: IMT, X X X V I , S. 317. Graml, Wehrmacht, S. 383. Zu den Lagern auf Reichsgebiet vgl. insbesondere Borgsen/Volland, Stalag X B; Hüser/ O t t o , Stammlager; Stopsack/Thomas (Hrsg.), Stalag VI A ; Osterloh, Lager. Vgl. Streit, Behandlung. Vgl. O t t o , Wehrmacht, Kap. 1, sowie H ü s e r / O t t o , Stammlager, S. 1 9 - 2 0 . Der entsprechende Befehl konnte noch nicht aufgefunden werden. Aus anderen Quellen läßt sich aber auf ihn schließen. Vgl. Osterloh, Lager, S. 23. Aussage Kurt von Österreich (Kdr.Kgf. W K X X ) , 28. 12. 1945, vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. U S S R - 1 5 1 ; Verfahren Zeithain, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, N d s 721 G ö Acc. 103/87, Nr. 14/3.
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hau umgebenen Gelände. Bis zum Herbst wurden die Gefangenen oftmals im Freien untergebracht, da in der Regel nicht eine einzige Unterkunftsbaracke auch nur im Rohbau fertig war. Die Gefangenen versuchten sich notdürftigen Schutz vor der Witterung zu schaffen, indem sie sich Erdlöcher gruben. Dort verbrachten sie ihre Tage und Nächte. Werkzeuge hatte man ihnen nicht zur Verfügung gestellt 21 . In den folgenden Wochen und Monaten mußten die Gefangenen die Lager selbst aufbauen. Die im Sommer 1941 errichteten Baracken dienten jedoch meist ausschließlich den Wachmannschaften bzw. als Kriegsgefangenenlazarett 22 . Selbst die Wasserversorgung für die Gefangenen war bis zum Spätsommer noch nicht überall sichergestellt; es herrschte extremer Wassermangel. Die Gefangenen litten die ersten Monate unter quälendem Durst, einige verdursteten gar 23 . Die Gebäude bestanden überwiegend aus Holz 24 . Es handelte sich in der Regel um Baracken des Reichsarbeitsdienstes (RAD-Baracken). In den ersten Monaten waren die wenigen Unterkünfte sehr eng belegt. In für 90 Personen geplanten Räumen wurden mehr als 200 Gefangene untergebracht; der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres hatte bereits am 17. Oktober 1941 angeordnet, die Kapazität der RAD-Baracken bei Bedarf durch Herausnehmen der Zwischenwände sowie der üblichen Bettstellen auf bis zu 300 Personen zu steigern 25 . Häufig wurden die Gebäude erst im Verlauf des Winters 1941/42 allmählich mit Schlafstätten - zweistöckigen Pritschen - ausgestattet. Beim Aufbau der „Russenlager" wurden die ursprünglichen Anordnungen des OKW für „Raumbedarf, Bau und Einrichtung eines Kriegsgefangenenlagers" vom März 1939 ohne Not in wesentlichen Punkten mißachtet. Demnach hätte jedes Lager 120 Tage nach seiner Aufstellung fertiggestellt sein müssen - die ersten „Russenlager" also im August 1941. Die meisten Lager für sowjetische Kriegsgefangene befanden sich im ersten Jahr ihres Bestehens aber dennoch in äußerst provisorischem Zustand. Im Winter 1941/42 fehlten Baracken weiterhin in ausreichender Zahl. Die unerträgliche und alle Vorschriften verletzende Uberbelegung ließ erst im Frühjahr 1942 nach 26 . Das lag freilich einzig und allein an der hohen Mortalitätsrate der Gefangenen im Winter 1941/42. Auch die hygienischen Verhältnisse entsprachen in den „Russenlagern" zu keiner Zeit den Erfordernissen von Kriegsgefangeneneinrichtungen, in denen tausende, mitunter gar zehntausende Menschen auf engstem Raum zusammenleben mußten. 21 22
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Vgl. beispielsweise Keller, Russenlager, S. 112, 114; Osterloh, Lager, S. 37. So beispielsweise im „Russenlager" Zeithain. Vgl. den Bericht des Lageringenieurs Reif. Chorun-Kommission, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, LRS Ministerium des Innern, Landesbehörde der Volkspolizei Sachsen, 042, Bl. 2 1 1 . Vgl. ebd., Bl. 179. Vgl. „Maßnahmen bei Baubeginn eines neu zu errichtenden Krgf.-Lagers für 1 0 0 0 0 Russen", Undatiert, B A - M A , R H 49/123, Bl. 1 0 - 1 8 , hier 11. Vgl. Chef d. Heeresrüstung u. BdE, 17. 10. 1941. Betr.: Unterbringung sowj. Kriegsgef. Abgedruckt in: Hüser/Otto, Stammlager, S. 2 2 4 - 2 2 5 . H.Dv. 38/12, Vorschrift für das Kriegsgefangenenwesen, T. 12. Dienstanweisung für Raumbedarf, Bau und Einrichtung eines Kriegsgefangenenlagers vom 1 4 . 3 . 1939, B A - M A , R H D 4 138/12.
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Selbst die berüchtigte, in den überfüllten Lagern unabdingbare Entlausung erwies sich in den ersten Monaten zumeist als nicht möglich, da die hierfür notwendigen Gebäude ebenfalls noch nicht fertiggestellt waren. Nur wo mobile Anlagen zum Einsatz kamen, konnte eine äußerst notdürftige Entlausung der Gefangenen stattfinden 27 . Doch auch später, nach Errichtung der Entlausungsanlagen, wurde die Waschzeit der Lagerinsassen häufig zu kurz bemessen, die nötige Temperatur in den Entlausungszellen nicht erreicht 28 . Daß die Entlausung hingegen auch unter primitivsten Bedingungen hätte vorgenommen werden können, belegt der Bericht eines Oberstabsarztes, Dr. König: „Die Erfahrung zeigt, dass es in kleineren Lagern öfters, wenn ein energischer, zielbewusster Lagerführer vorhanden ist, gelingt, auch ohne Entlausungsanstalt nur durch streng durchgeführte Säuberungsmassnahmen das Lager völlig läusefrei zu bekommen. Solche Massnahmen, die sich auch in grösseren Lagern durchführen lassen, sind: häufiger Wäschewechsel, Auskochen der Wäsche und Leinenkleider, häufige Reinigung des Quartiers und der Strohsäcke, regelmässiges Absuchen der Läuse, Anwendung von Russla-Puder" 29 . Doch ließen die Lagerleitungen solche Maßnahmen nur in den seltensten Fällen durchführen. Weder konnten die Gefangenen regelmäßig ihre Wäsche wechseln, noch standen ihnen ausreichend Waschgelegenheiten zur Verfügung. Neben der extremen Verlausung litten die Gefangenen in den Baracken unter allem möglichen weiteren Ungeziefer, hauptsächlich unter Wanzen und Flöhen 30 . Unmittelbar nach dem Eintreffen der ersten Gefangenen im Juli 1941 brach in den meisten Lagern eine Ruhrepidemie aus, die den ganzen Sommer über wütete. Die schlimmen Zustände begünstigten die Verbreitung der Ruhr natürlich: die Enge in den unvollendeten Lagern, das Zusammenleben kranker und gesunder Menschen auf engstem Raum, das Fehlen geeigneter Abortanlagen. Es gab zu wenige der primitiven Latrinen, die außerdem nicht desinfiziert wurden. Die Abfuhr und Beseitigung der Exkremente war zumeist nicht organisiert, die Aborte deswegen permanent überfüllt. Deshalb suchten viele die Aborte erst gar nicht auf: Die einen, weil sie wegen ihrer Erkrankung zu geschwächt waren, die anderen, weil sie nicht im Kot waten wollten. In einigen Lagern erkrankten in dieser Zeit nicht weniger als 20 Prozent der Insassen. Die genaue Zahl der an der Ruhr Gestorbenen läßt sich indes nicht genau ermitteln. Erst mit Einbruch der Kälte im November ging die Zahl der Ruhrerkrankungen zurück. Zur gleichen Zeit trat aber bereits das erste Fleckfieber auf. Es wird durch Kleiderläuse übertragen. Deshalb begünstigten die Verhältnisse in den Lagern auch die Verbreitung dieser Seuche. Noch Anfang Dezember 1941 hatte das OKW die Hoffnung gehegt, diese Epidemie in den Griff bekommen und den Arbeitsein-
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Vgl. Hüser/Otto, Stammlager, S. 82. Vgl. beispielsweise Osterloh, Lager, S. 54-55. Vgl. den Bericht „Praktische Erfahrungen in der Hygiene bei sowjetischen Kriegsgefangenen" von Oberstabsarzt Dr. König, Undatiert (vermutlich Herbst 1943), BA-MA, RH 12-23/v. 5, Bl. 16. Anschreiben und damit Adressat sind unbekannt. Vgl. etwa Osterloh, Lager, S. 55; zum folgenden ebd. Siehe auch Hüser/Otto, Stammlager 326, S. 80-81.
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satz wie geplant weiterlaufen lassen zu können 31 . Dennoch breitete sich die Fleckfieberepidemie rapide aus; sie betraf fast alle „Russenlager" in Deutschland. Viele von ihnen mußten im Verlauf des Dezember 1941 unter Quarantäne gestellt werden 32 . Am 10. Februar 1942 waren von insgesamt 61 mittlerweile mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegten Stalags im Reichsgebiet nur noch 13 fleckfieberfrei 33 . Eine der wenigen Ausnahmen bildete das Stalag 326 (VI K) Senne, in dem durch eine rechtzeitige und gründliche Entlausung die epidemische Verbreitung verhindert und die Krankheit auf wenige Fälle beschränkt werden konnte 34 . Erst im März/April 1942 wurde die Quarantäne wieder aufgehoben. Ein Großteil der Gefangenen war an der Seuche und ihren Folgen verstorben. So lebten beispielsweise im Stalag 304 (IV H) Zeithain, einem ganz normalen „Russenlager", von den Mitte Dezember 1941 bei Verhängung der Quarantäne dort befindlichen 10700 Gefangenen im März 1942 lediglich noch etwa 3 700. Mit anderen Worten: Uber einen Zeitraum von ungefähr 100 Tagen verstarben im Durchschnitt rund 70 Menschen täglich 35 . Auch bei der Ernährung der sowjetischen Kriegsgefangenen berief sich das OKW darauf, daß die Sowjetunion nicht Signatar des Genfer Kriegsgefangenenabkommens von 1929 sei: „Demzufolge besteht auch nicht die Verpflichtung, den sowjetischen Kriegsgefangenen eine diesem Abkommen hinsichtlich Menge und Güte entsprechende Verpflegung zu gewähren" 36 . Die sowjetischen Gefangenen sollten mit dem „geringstmöglichen Maß" an Nahrungsmitteln versorgt werden 37 . Im OKH-Bereich erhielten sie ungefähr 1000 Kalorien am Tag. Der Höchstsatz betrug 1300 Kalorien für Arbeitende und 2035 Kalorien während längerer Fußmärsche. Diese Werte lagen erheblich unter dem benötigten Existenzminimum. Auch in den Lagern auf deutschem Boden waren die Rationen zunächst nicht höher: In den ersten Wochen kamen täglich kaum mehr als 1000 Kalorien pro Person zur Verteilung. Ein Erlaß des Heeresverwaltungsamtes, das dem OKH/Chef der Heeresrüstung unterstellt war, regelte am 6. August 1941 die Versorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen erstmals für den gesamten OKW- und OKH-Bereich einheitlich: Es sollten 2040 Kalorien an jeden Gefangenen ausgegeben werden; für Personen im Arbeitseinsatz waren 2200 Kalorien am Tag vorgesehen. Selbst wenn diese Zuteilung in der Praxis erreicht wurde, mußte das zwangsläufig zu Unterernährung führen. Im September 1941 verwies der Beauftragte für den Vierjahresplan, Reichsmarschall Hermann Göring, auf die Prioritäten bei der Zuteilung von Lebensmit31
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O K W . Betr.: Ärztliche Maßnahmen bei Sowjet-Kr.Gef., 8. 12. 1941, Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 91 N/284. Vgl. beispielsweise zur Situation in den „Heidelagern" Keller, Russenlager, S. 1 1 6 - 1 1 7 . Zu Zeithain vgl. Osterloh, Lager, S. 6 9 - 7 2 . Der Beauftragte für den Vierjahresplan, Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz, 10. 2. 1942, BA, R 41/281, Bl. 270. Vgl. Hüser/Otto, Stammlager, S. 8 1 - 8 2 . Vgl. Osterloh, Lager, S. 178. O K W / C h H R ü u. BdE. Betr.: Verpflegung sowjetischer Kriegsgefangener, 6. 8. 1941, Dok. USSR-349, D - 2 2 5 , in: IMT, VII, S. 387. Daß dem kein Notstand zugrunde lag, wies Streit bereits 1978 nach. Zum Folgenden vgl. Streit, Kameraden, S. 1 3 7 - 1 4 5 . Zit. ebd., S. 1 4 3 - 1 4 4 .
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teln hin: „Zunächst kommt die kämpfende Truppe, dann die übrigen Truppen im Feindesland und dann die Heimattruppe. Die Sätze sind dementsprechend eingerichtet. Dann wird die deutsche nichtmilitärische Bevölkerung versorgt. Erst dann kommt die Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Grundsätzlich sollen in den besetzten Gebieten nur diejenigen in der entsprechenden Ernährung gesichert werden, die für uns arbeiten. [...] Bei der Verpflegung der bolschewistischen Gefangenen sind wir im Gegensatz zur Verpflegung anderer Gefangener an keine internationalen Verpflichtungen gebunden. Ihre Verpflegung kann sich daher nur nach den Arbeitsleistungen für uns richten." In noch deutlichere Worte faßte der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, diesen Grundsatz: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu verhungern" 3 8 . Zu einem allmählichen Umdenken kam es erst, als der Einsatz der sowjetischen Gefangenen in der Kriegswirtschaft immer dringlicher wurde. Schon im Juli 1941 hatte das O K W erste Richtlinien für den zu erwartenden „Russeneinsatz" erlassen. Offiziell befohlen wurde der Arbeitseinsatz aber erst durch einen Führerbefehl vom 31. O k t o b e r 1941, der als Voraussetzung eine angemessene Ernährung vorsah. Die Planung oblag wiederum dem Beauftragten für den Vierjahresplan. In dessen Richtlinien vom 7. November 1941 hieß es: „Der Russe ist genügsam, daher leicht und ohne schwerwiegenden Einbruch in unsere Ernährungsbilanz zu ernähren. Er soll nicht verwöhnt oder an deutsche Kost gewöhnt, muß aber gesättigt und in seiner dem Einsatz entsprechenden Leistungsfähigkeit erhalten werden" 3 9 . „Verpflegt" werden sollten die sowjetischen Gefangenen mit möglichst geringwertigen Lebensmitteln: Ein speziell hergestelltes „Russenbrot" bestand aus 50 Prozent Roggenschrot, je 20 Prozent Zuckerrübenschnitzel und Zellmehl sowie zehn Prozent Strohmehl oder Laub. Der Fleischbedarf sollte ausnahmslos aus Pferde- und Freibankfleisch gedeckt werden. Bedauernd wurde hinzugefügt, daß es keine minderwertigen Fette mehr gäbe und deswegen gute Speisefette an die sowjetischen Gefangenen ausgegeben werden müßten. Das O K W überdachte die Ernährungssituation der sowjetischen Kriegsgefangenen erst, als sich Ende 1941 durch das endgültige Scheitern der Blitzkriegsstrategie eine weitere Verschärfung des Arbeitskräftemangels abzuzeichnen begann. Diesen wollte die NS-Führung nunmehr durch den Masseneinsatz sowjetischer Kriegsgefangener ausgleichen. Die total entkräfteten, unterernährten Gefangenen konnten meist nicht sofort zur Arbeit eingesetzt werden. Deswegen erließ das O K W am 26. November und am 18. Dezember 1941 Befehle, die eine „Aufpäppelung" der Gefangenen anordneten: „Alle Maßnahmen der Kommandanten von Kriegsgefangenenlagern sind darauf zu richten, möglichst viele Kr.Gef. wieder gesund und arbeitseinsatzfähig zu machen oder zu erhalten. Dazu gehört: [...] Ausreichende Ernährung aller Lagerinsassen nach den gegebenen Vorschriften, auch solcher, deren derzeitiger körperlicher Zustand den sofortigen Einsatz nicht zuläßt. Diäternährung, ζ. B. Mehlsuppe anstelle
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Zit. n. ebd., S. 157. Zit. n. ebd., S. 145. Zum Folgenden ebd., S. 145 f.
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von Brot, wo gewöhnliche Kost nicht vertragen wird." Das Oberkommando betonte abschließend, fast entschuldigend: „Die vorstehenden Maßnahmen zur körperlichen Kräftigung von Sowjet. Kr.Gef. sind zweckbedingt und berühren nicht die geistige und politisch-weltanschauliche Einstellung zu den Sowjets an sich" 40 . Im Verlauf des Sommers 1942 wurde zunehmend deutlich, daß die sowjetischen Gefangenen bei so unzureichender Ernährung nicht in der Lage waren, die abverlangten Arbeitsleistungen auch nur annähernd zu erbringen. Im Herbst 1942 teilte in diesem Zusammenhang das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft den Ernährungsämtern mit, es könne „mit Rücksicht auf die Versorgungslage [...] den vielfach vorgebrachten Wünschen auf Erhöhung der Verpflegungssätze der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Ostarbeiter nur in beschränktem Umfang entsprochen werden" 41 . Aber auch neue, leicht angehobene Ernährungssätze konnten die so dringend benötigte Arbeitskraft nicht herbeizaubern. Bereits zwei Monate später, am 7. Dezember 1942, verfügte der Befehlshaber des Ersatzheeres deshalb, den sowjetischen Kriegsgefangenen Brot in der gleichen Zusammensetzung wie für die Zivilbevölkerung auszugeben 42 . Im Verlauf des Jahres 1943 kam es zu weiteren Anhebungen der Rationen. Doch noch immer waren die „Russen" erheblich schlechter verpflegt als die Angehörigen anderer Nationalitäten, die nicht nur mehr, sondern auch bessere Lebensmittel erhielten. Aber selbst die viel zu niedrigen Rationen kamen häufig nicht im vollen Umfang zur Verteilung. Immer wieder ergaben sich Lieferengpässe bei Lebensmitteln, die für die Stalags vorgesehen waren, denn die Versorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen stand in der Prioritätenliste an letzter Stelle. Häufig waren Lebensmittel bei der Ankunft in den Lagern bereits verschimmelt; da Ersatzlieferungen ausgeschlossen waren, wurden verdorbene Lebensmittel ausgegeben 43 . Diebstähle von Wachmannschaften reduzierten die an die Stalags gelieferte Verpflegung nicht selten noch 44 . Erst 1944 ordnete das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit Wirkung vom 21. August die Gleichstellung der sowjetischen Kriegsgefangenen mit den anderen an. Nicht humanitäre Gründe waren ausschlaggebend, es geschah vielmehr „im Interesse der Erhaltung und Steigerung der Arbeitsfähigkeit der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Ostarbeiter (Ostarbeiterinnen), die in der gewerblichen Wirtschaft, insbesondere in der Rüstungsindustrie
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Befehl O K W / A W A / K r i e g s g e f . ID, Betr.: Herstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Sowjet. Kr.Gef., 18. 12. 1941 (Abschrift), Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 80 Lbg. III Acc. V, Nr. 51. Zum Befehl vom 26. 11. 1941 vgl. Streit, Kameraden, S. 146. RMEL. Betr.: Verpflegungssätze der Kriegsgefangenen und Ostarbeiter (Ostarbeiterinnen), 6. 10. 1942, BA, R 43 11/614, Bl. 154. C h H R ü u. BdE, 7. 12. 1942. Betr.: Brot für sowjetische Kriegsgefangene im Heimatkriegsgebiet, BA, R 43 II/670a, Bl. 64. Ausdrücklich wurde darauf verwiesen, daß es sich hierbei um die Brotausgabe für sowjetische Kriegsgefangene im Reichsgebiet handele. In den besetzten Gebieten wurde anscheinend weiterhin „Russenbrot" ausgegeben. Vgl. beispielsweise Stopsack/Thomas (Hrsg.), Stalag VI A, S. 86. Vgl. beispielsweise Aussage K., 19. 1. 1967. Verfahren Zeithain, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 G ö Acc. 103/87, Nr. 14, Bl. 194.
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beschäftigt werden" 45 . Ergänzend wies das Ministerium - noch ehe die neue Regelung in Kraft trat - darauf hin, daß nun allgemein Pferde- und Freibankfleisch auszugeben sei 46 . Dies betraf weiterhin in erster Linie die sowjetischen Kriegsgefangenen, die ausschließlich auf die Lagerverpflegung angewiesen waren. Die Gefangenen der meisten anderen Nationalitäten erhielten häufig sogenannte Liebesgabenpakete aus der Heimat und konnten vom IKRK betreut und versorgt werden; diese Möglichkeit gab es für die Russen und die italienischen Militärinternierten nicht. Die späte Gleichstellung mit den anderen Nationalitäten hat sich kaum noch auf die Ernährungssituation der sowjetischen Gefangenen auswirken können, da sich die Versorgungslage in den letzten Kriegsmonaten allgemein verschlechterte. Für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter standen die festgelegten Rationen häufig nur auf dem Papier, zur Verteilung kamen sie nicht. Grundsätzlich gilt, daß das OKW seit 1942 nach dem Grundsatz verfuhr, den sowjetischen Kriegsgefangenen so wenig Verpflegung wie möglich, aber soviel wie unbedingt nötig zuzugestehen; dabei reichte die als notwendig erachtete Menge oftmals nicht oder nur knapp zum Uberleben aus: Hunger blieb bis zuletzt ein ständiger, furchtbarer Begleiter der Kriegsgefangenen. Doch starben sowjetische Kriegsgefangene nicht allein wegen der Lebensbedingungen in den Lagern. Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn kamen Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) überein, bestimmte Gefangenengruppen, die rassisch oder politisch „untragbar" erschienen, ermorden zu lassen . Insbesondere das RSHA befürchtete, die Polit-Offiziere der Roten Armee könnten in den Gefangenenlagern ihre „bolschewistische Propaganda" weiter betreiben. Also erließ es Mitte Juli 1941 in Zusammenarbeit mit dem OKW die Einsatzbefehle Nr. 8 und 9, die die „Säuberung" der sowjetischen Kriegsgefangenenlager im „Generalgouvernement" und auf Reichsgebiet anordneten. Aufgabe der aus Gestapobeamten bestehenden sogenannten Einsatzkommandos war „die politische Uberprüfung der Lagerinsassen und die Aussonderung und weitere Behandlung der in politischer, krimineller oder in sonstiger Hinsicht untragbaren Elemente unter diesen" 48 . Nach Definition des RSHA zählten hierzu unter anderem Funktionäre, Polit-Kommissare, „Intelligenzler", Juden unter den Kriegsgefangenen und alle „fanatischen Kommunisten". Auf der Hand liegt der Zusammenhang mit dem Genozid an den Juden, da hier erstmals die Absicht geäußert wurde, alle Juden zu ermorden. Im August 1941 nahmen die ersten Einsatzkommandos unter tatkräftiger Beteiligung der Abwehroffiziere der Wehrmacht in den Stalags ihre Tätigkeit auf. Dieser fielen in den folgenden Monaten zehntausende Gefangene zum Opfer. Erst als die Ausbeutung der Arbeitskraft der Gefange-
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RMEL, 26. 7. 1944. Betr.: Verpflegung der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Ostarbeiter (Ostarbeiterinnen), BA, R 43 11/614, Bl. 161. RMEL, 9. 8 . 1 9 4 4 , ebd., Bl. 162. Zu den „Aussonderungen" vgl. den Aufsatz v o n Reinhard O t t o in diesem Band. CSSD. Einsatzbefehl Nr. 8, 17. 7. 1941; B A , Berlin R 58/1027, Bl. 1 9 0 - 1 9 2 , und CSSD. Einsatzbefehl Nr. 9 , 2 1 . 7 . 1 9 4 1 , ebd., R 58/272, Bl. 3 3 - 3 6 . Abgedruckt sind beide Befehle in: Streim, Behandlung, S. 3 1 5 - 3 1 7 , 3 2 2 - 3 2 3 .
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nen in den Vordergrund trat, wurden die „Aussonderungen" in Deutschland im Mai 1942 eingestellt 49 . Zunächst erschien der NS-Führung der Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener aus Sicherheitsgründen „völlig undenkbar" 50 . Die Furcht vor einer möglichen Indoktrination der deutschen Bevölkerung war dabei bestimmend 51 . Wirtschaftliche Beweggründe führten allerdings bereits im Juni 1941 dazu, daß das beim OKW zuständige Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt und das Reichsarbeitsministerium den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener erwogen 52 . Es war ein reines Nutzenkalkül, das zu diesem pragmatisch erscheinenden Kurswechsel geführt hatte. Die Gefangenen und die Bürger der besetzten sowjetischen Gebiete waren das letzte nennenswerte ungenutzte Arbeitskräftepotential, das zur Verfügung stand (mit Ausnahme der italienischen Militärinternierten ab 1943/44)53. Daß die Wehrmacht den Feldzug im Osten nicht wie erwartet als „Blitzkrieg" führen und gewinnen konnte, zeitigte weitreichende Auswirkungen für die Wirtschaft. Die ständigen Aushebungen der Wehrmacht in den Betrieben hatten bereits im Sommer 1941 einen Fehlbestand von 2,6 Millionen Arbeitskräften zur Folge 54 . Die Voraussetzung für den Arbeitseinsatz hatte die Wehrmacht durch die Einrichtung der „Russenlager" und die penible Registrierung der Kriegsgefangenen geschaffen; den ideologischen Bedenken gegen den „Russeneinsatz" sollte durch die „Aussonderungen" Rechnung getragen werden. Bereits am 4. Juli 1941 erhielt dieses Vorgehen während einer Besprechung im Wehrwirtschaftsund Rüstungsamt, an der auch Vertreter der Abteilung für Kriegsgefangene im OKW, des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, der Dienststelle Rosenberg, des Beauftragten für den Vierjahresplan und des Reichsarbeitsministeriums teilnahmen, breite Zustimmung: „In der Besprechung wurde zunächst festgestellt, dass nach bisher von höchster Stelle erteilten Weisungen russische Kriegsgefangene überhaupt nicht in Arbeit eingesetzt werden sollen. Angesichts des dringenden Bedarfs der Wirtschaft und insbesondere der Landwirtschaft an Kriegsgefangenen sei jedoch das OKW bemüht, eine Freigabe von russischen Kriegsgefangenen für den Arbeitseinsatz zu erwirken." Der Sofortbedarf an Kriegsgefangenen für den Arbeitseinsatz wurde auf 500000 festgelegt 55 . Das Oberkommando bereitete den Arbeitseinsatz nun konsequent vor. Am 21. Juli 1941, dem selben Tag, an dem der Einsatzbefehl Nr. 9 an die Kommandanten der „Russenlager" ausgegeben wurde, erhielten die Rüstungsinspektio49 50
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Vgl. Osterloh, Lager, S. 47, 54. Reichsaußenminister Ribbentrop Schloß mit diesen Worten gegenüber einem Vertreter des türkischen Außenministeriums den Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen kategorisch aus. Vgl. ebd. Vgl. Streit, Kameraden, S. 193. Vgl. Otto, Wehrmacht. Vgl. Streit, Kameraden, S. 201. Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 137. Vgl. zur Genese der Entscheidung zum Arbeitseinsatz ausführlich Otto, Wehrmacht. Vgl. den Vermerk über die Besprechung im Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt: R A M . Betr.: Arbeitseinsatz von russischen Kriegsgefangenen, 5. 7. 1941, BA, R 41/168, Bl. 1 2 3 - 1 2 5 . Zit. Bl. 123.
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nen der einzelnen Wehrkreise die Richtlinien über den „Russeneinsatz" 56 . Diese legten ebenso wie mehrere in den folgenden Wochen herausgegebene Befehle die Grundsätze des Arbeitseinsatzes fest. Das OKW erhob den „kolonnenmäßigen Einsatz" zum Prinzip, um so die Bewachung an den Arbeitsstätten gewährleisten zu können: Die Gefangenen sollten nur in geschlossenen Gruppen von mindestens 20 Personen zum Einsatz kommen. Weiterhin ordnete es die strikte Isolierung der sowjetischen Kriegsgefangenen an den Arbeitsstätten und in den Unterkünften der Arbeitskommandos an; sie sollten sich nicht „hetzerisch" betätigen können. Auch mußte so beim Waffeneinsatz zur Verhinderung von Fluchtversuchen keine Rücksicht auf andere Gefangene oder gar deutsche Zivilisten genommen werden 57 . Nur drei Tage nach dem Rundschreiben über die Grundsätze des Arbeitseinsatzes erteilte das OKW am 24. Juli 1941 mehreren Wehrkreisen die „Ermächtigung", Franzosen, Serben und Polen im wehrmachteigenen Einsatz durch jeweils 2000 sowjetische Kriegsgefangene abzulösen. Das Oberkommando wies dabei nochmals auf den unbedingten Kolonneneinsatz hin. Mit dieser Weisung traf das OKW zwei wichtige Entscheidungen zum „Russeneinsatz": Zum einen ermöglichte es eine erste „Umsetzung" von Gefangenen in Arbeitsstellen, zum anderen stellte es erstmals den Grundsatz isolierter „Russenlager" in Frage. Anfang August entschied sich das OKW dann endgültig für den „Russeneinsatz", allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, daß er als „notwendiges Übel" auf das erforderliche Mindestmaß zu beschränken sei 58 . Hitler legte zu diesem Zeitpunkt die Höchstzahl der nach Deutschland zu überführenden sowjetischen Kriegsgefangenen auf 120000 fest 59 . Trotz dieser unmißverständlichen Begrenzung ließ sich der mittlerweile in Fluß geratene Zustrom in die Lager auf Reichsgebiet nicht mehr kanalisieren oder gar stoppen: Am 10. August befanden sich über 150000, am 1. Oktober 1941 mehr als 288000 sowjetische Gefangene in Deutschland. Ab Anfang August (mancherorts sogar früher) wurden sie systematisch zur Arbeit eingesetzt 60 . Alle Vorgaben zur Beschränkung des „Russeneinsatzes" waren somit hinfällig geworden: Am 15. Oktober wurde der bedingte, am 31. Oktober 1941 der umfassende Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen befohlen 61 . Zu diesem Zeitpunkt war allerdings ein erheblicher Teil von ihnen bereits verhungert, ermordet worden, litt an Seuchen oder war so entkräftet, daß an einen Arbeitseinsatz kaum zu denken war 62 . So vermerkte etwa das Rüstungskommando Dresden in seinem Wochenbericht für Anfang Dezember 1941: „Sowjetische Kriegsgefangene konnten bisher nur in geringer Zahl zugewiesen wer-
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Siehe Otto, Wehrmacht, S. 130. Die Richtlinien waren am 8. 7. 1941 herausgegeben worden. Zu den Anordnungen über den „Russeneinsatz", BA-MA, R W 19/2109. Vgl. u. a. O K W , AWA/Kriegsgef., 8. 9. 1941. Dok. 1519-PS, in: IMT, XXVII, S. 274-283. O K W , Kriegsgef. Betr.: Arbeitseinsatz der kriegsgefangenen Russen, 24.7. 1941, BA-MA, R W 19/836. Vgl. auch Otto, Wehrmacht. O K W , Kriegsgef. Betr.: Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener, 2.8. 1941, BA-MA, R W 19/836. Vgl. Otto, Wehrmacht. Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 139. Vgl. etwa Keller, Russenlager, S. 119.
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den. Die Zuweisung stockt z.Zt. völlig wegen Seuchengefahr" 63 . Auch nach Aufhebung der Quarantäne im Frühjahr 1942 änderte sich die Lage nicht. Wegen der miserablen Behandlung in den Vormonaten standen kaum noch Arbeitsfähige zur Verfügung. Der Arbeitseinsatz konnte erst im Sommer 1942 mit neuen Gefangenen in größerem Umfang realisiert werden. Der harte, zwölf bis vierzehn Stunden dauernde Arbeitstag der Gefangenen, die ohne ausreichende Ernährung häufig direkt am Arbeitsort in provisorischen Unterkünften untergebracht waren, forderte neue zahlreiche Opfer. Eine unbekannte Zahl verstarb infolge der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach kurzer Zeit an Entkräftung oder hungerbedingten Krankheiten 64 . Mit dem Einsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Industriebetrieben und der Landwirtschaft des Reichsgebiets wuchs freilich auch die Sorge der NS- und Wehrmachtführung um die Sicherheit im Land. Aus Furcht vor Flucht und Sabotage erhielten die Wachmannschaften der Arbeitskommandos vom OKW ähnliche Befehle wie die in den Stalags. Jegliche Widersetzlichkeit und Nachlässigkeit bei der Arbeit sollte sofort unterbunden werden 65 . Insbesondere zu Beginn des Arbeitseinsatzes im Herbst 1941 war das Vorgehen gegen die Gefangenen schonungslos. U m den katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern und an den Arbeitsplätzen zu entkommen, suchten zahlreiche Gefangene ihr Heil in der Flucht. Erschwert wurden die Fahndungen nach flüchtigen Russen dadurch, daß diese „bei Fluchten sich meist ihrer Erkennungsmarke entledigen und daher oft nicht mehr als Krs.Gef. [sie!], besonders nicht als Sowjet.-Kr.Gef. erkennbar sind" 66 . Um deren Identifizierung als sowjetische Kriegsgefangene zu erleichtern, ordnete das OKW die permanente Kennzeichnung aller gefangengenommenen Rotarmisten an. Diese Kennzeichnung sollte in Form eines mit Höllensteinstift aufgetragenen Kreuzes auf der Innenseite des linken Unterarmes vorgenommen werden. Für die ersten Tage nach Herausgabe dieses Erlasses sind einige Vollzugsmeldungen einzelner Stalags überliefert 67 . Das Oberkommando hob diesen Befehl allerdings kurze Zeit später wieder auf 68 . Statt dessen sollte den Sowjetgefangenen zumindest durch gründliches Abscheren der Kopf- und Barthaare das Fliehen erschwert werden, da sie dadurch leicht als solche zu erkennen waren 69 . Diese „Kennzeichnung" war naturgemäß nur zeitweilig wirksam und entsprach deshalb nicht der eigentlichen Intention, die sowjetischen Kriegsgefangenen dauerhaft kenntlich zu machen. Wenige Monate später, im Juli 1942, erließ das OKW deshalb erneut eine Anordnung, die Kriegsgefangenen mit einer Art „Brandzeichen" zu kennzeichnen:
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KTB RüKdo Dresden, 1 . 1 0 . - 31. 12. 1941, BA-MA, R W 21-15/9, Bl. 51. Vgl. Hüser/Otto, Stammlager, S. 113; Keller, Russenlager, S. 119. OKW/AWA/Kriegsgef. Allg. Betr.: Behandlung sowj. Kr.Gef., 24. 3. 1942, BA-MA, RW 6/v. 278. O K W , Kriegsgef. Allg. Betr.: Kennzeichnung der sowjetischen Kriegsgefangenen, 16. 1. 1942, Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 91/N 284. Abgedruckt ist dieser Befehl in: Hüser/Otto, Stammlager, S. 134. Z.B. Stalag XVII Β Krems-Gneixendorf. Betr.: Kennzeichnung der Sowjet. Kgf., 4. 2. 1942, BA-MA, RH 53-17/186. Vgl. Streit, Kameraden, S. 257. O K W , Chef Kriegsgef., Befehlssammlung Nr. 12, 8. 4.1942, BA-MA, R W 6/v.270, Bl. 74.
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„Das Merkmal besteht in einem nach unten geöffneten spitzen Winkel von etwa 45° und 1 cm Schenkellänge auf der linken Gesäßhälfte (Λ), etwa handbreit von der Afterspalte entfernt . Weiter hieß es in dem Befehl, daß das „Merkmal" den Gefangenen durch ein „oberflächliches Ritzen der gespannten Haut mit der mit chinesischer Tusche benetzten, vorher ausgeglühten Lanzette" beigebracht werden sollte. Der Hinweis, daß bei der Kennzeichnung der Gefangenen tiefe Wunden zu vermeiden seien, hatte keinen medizinisch-ethischen Hintergrund. Vielmehr wollte man vor einer Beeinträchtigung des Arbeitseinsatzes warnen. Dieser zweite Befehl zeigt, daß das Oberkommando den ersten Kennzeichnungsbefehl weder aus humanitären noch aus moralischen Erwägungen zurückgenommen hatte 71 . Vermutlich gaben technische oder medizinische Probleme den Ausschlag. Jedoch setzte das OKW auch die zweite Aktion kurze Zeit später aus und stellte sie letztlich endgültig ein 72 . Die Vermutung ist naheliegend, daß es an Personal und Material zur Durchführung mangelte. Es gab aber auch Proteste, beispielsweise seitens des Amtes Ausland/Abwehr, gegen diese „Brandmarkung" der Gefangenen 73 . Da alle Maßnahmen Fluchtversuche von Kriegsgefangenen nicht hatten verhindern können, diese im Gegenteil sogar noch zunahmen, gab das OKW am 22. September 1942 den sogenannten Fluchterlaß heraus 74 . Auf Basis einer Auswertung aller Fluchtfälle hatte es einen Maßnahmenkatalog zusammengestellt: Die Wachmannschaften sollten die Gefangenen regelmäßig auf den schonungslosen Gebrauch der Schußwaffen aufmerksam machen; die Unterkünfte waren möglichst häufig und in unregelmäßigen Zeitabständen zu durchsuchen, wobei kein Unterschied zwischen den Quartieren der Offiziere und Mannschaften gemacht werden durfte. Zur Kontrolle der Stimmungslage bei den Gefangenen forderte es eine Intensivierung der Postüberwachung 75 . Obwohl die Fluchtversuche dennoch zunahmen, waren sie - vielleicht mit Ausnahme der letzten Kriegsmonate - keine Massenerscheinung oder gar politische Demonstration 76 . Hauptmotiv der Flucht blieben vielmehr die Lebensumstände in den Lagern: die miserable Behandlung, die Furcht, den „Aussonderungen" zum Opfer zu fallen, der Arbeitseinsatz sowie der ständige Hunger 77 . 70
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O K W , Chef Kriegsgef./San/Allg. zur Kennzeichnung der sowjetischen Kriegsgefangenen, 20. 7. 1942, BA, R 58/400, Bl. 71. Abgedruckt bei: Hüser/Otto, Stammlager 326, S. 135. Zum folgenden ebd. Vgl. Streit, Kameraden, S. 257. Vgl. Fernschreiben OKW/AWA/Kriegsgef. Allg. an W K Kdo. XVII, 3. 8.1942. In diesem Fernschreiben wurde die vorläufige Aussetzung der Maßnahme angeordnet, da eine nochmalige Verfahrensänderung geplant sei. Dazu ist es - soweit bekannt - nicht gekommen, BA-MA, RH 53-17/183. Vgl. zur Beendigung der Aktion Hüser/Otto, Stammlager, S. 134, sowie Streit, Kameraden, S. 258. O K W Chef Kriegsgef/Allg. 22. 9. 1942, BA-MA, RH 49/112. Zum Folgenden ebd. Durch Auswertung der Kriegsgefangenenpost in den Zensurstellen sollte ein Stimmungsprofil der Gefangenen erarbeitet werden. Die Berichte der einzelnen Lager und Wehrkreise wertete die Auslandsbrief-Prüfstelle im Amt/Ausl. Abwehr in einer nach Nationalitäten geordneten Monatsübersicht aus. Vgl. Eichholtz, Geschichte, II, S. 291, Anm. 568. Über einen - zudem politisch motivierten - Massencharakter der Fluchten berichtete beispielsweise Seeber, Zwangsarbeiter, S. 222. Exemplarisch steht hierfür die Aussage des sowjetischen Kriegsgefangenen Ivan Kre-
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Mit dem Mut der Verzweiflung versuchten die sowjetischen Kriegsgefangenen ihrer hoffnungslosen Lage zu entrinnen. Die Aussicht, nach einer geglückten Flucht in die Heimat zu gelangen, bestand freilich kaum. Zumeist war eine Flucht schon nach wenigen Tagen beendet. In Artikel 50 des Genfer Abkommens heißt es zur Behandlung entflohener Gefangener, die gefaßt werden, unter anderem: „Entwichene Kriegsgefangene, die wieder ergriffen werden, bevor sie ihr Heer erreichen oder das von dem Heer, das sie gefangen genommen hat, besetzte Gebiet verlassen konnten, dürfen nur disziplinarisch bestraft werden." Artikel 56 ergänzt diese Bestimmung: „In keinem Fall dürfen Kriegsgefangene zur Verbüßung von Disziplinarstrafen in Strafanstalten (Gefängnisse, Kerker, Zuchthäuser usw.) verbracht werden. Die Räume, in denen Disziplinarstrafen verbüßt werden, müssen gesundheitlich einwandfrei sein" 78 . Auf die in deutschem Gewahrsam befindlichen sowjetischen Kriegsgefangenen fand diese Bestimmung keine Anwendung. Spätestens ab August 1941 wurden sie dem Sicherheitsdienst übergeben und von diesem exekutiert 79 . Am 22. November 1941 legte ein Erlaß des Ο KW die Behandlung Wiederergriffener genau fest: Diese waren aus der Kriegsgefangenschaft zu entlassen und der Gestapo zu übergeben, die die Einlieferung in ein Konzentrationslager anordnete. Dort wurden die Gefangenen ermordet 80 . Im März 1942 gab das Oberkommando aufgrund des Arbeitskräftebedarfs der Kriegswirtschaft neue Bestimmungen zur Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen heraus. Dabei regelte es auch die Behandlung Wiederergriffener neu: Die Gefangenen mußten dem nächstgelegenen Stalag überstellt werden. Der Lagerkommandant hatte die Fluchtgründe zu untersuchen. Wenn diese ausschließlich im Hunger oder Heimweh bestanden und keine Straftaten begangen worden waren, sollte der Gefangene nach einer disziplinarischen Bestrafung wieder seinem Arbeitskommando zugeführt werden. Selbst wenn er auf der Flucht Rechtsverletzungen begangen hatte, bedeutete dies jetzt nicht mehr zwingend seine Ubergabe an die Gestapo. Es stand den Kommandanten der Kriegsgefangenenlager frei zu entscheiden, ob eine lagerinterne Bestrafung ausreichend erschien. In solchen Fällen mußte die Gestapo nicht hinzugezogen werden. Wenn ein wiederergriffener Kriegsgefangener der Gestapo übergeben
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venko, der nach seiner Wiederergreifung im Verhör angab: „Mir gefiel die strenge Zucht in dem Lager nicht. A u c h sagte mir die Arbeit in der Fabrik nicht zu". Vernehmungsniederschrift, Nauendorf (Saalkr.), 23. 10. 1942, B A - M A , R H 49/104. Vgl. A b k o m m e n über die Behandlung der Kriegsgefangenen v o m 27. 7. 1929, in: RGBl. 1934, Τ. II, S. 2 2 7 - 2 6 2 , hier S. 246, 248. Vgl. Streit, Kameraden, S. 256. Streim, Behandlung, S. 213, gibt an, daß die wiederergriffenen Gefangenen im OKH-Bereich ermordet wurden. Im O K W - B e r e i c h seien sie in den ersten Monaten des Krieges gemäß dem Genfer Kriegsgefangenenabkommen disziplinarisch bestraft worden. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß ausgerechnet die Wiederergriffenen den völkerrechtlichen Bestimmungen gemäß behandelt wurden. Zum O K W - E r l a ß vom 22. 11. 1941 vgl. Streit, Kameraden, S. 108 und 346, A n m . 154. Einer Besprechung des Chefs der Werkspolizei des Krupp-Konzerns, v. Bülow, mit einem Vertreter des Kriegsgefangenenwesens kann entnommen werden, daß eine Uberstellung an die Gestapo Exekution bedeutete. Ebd., S. 4 1 1 , Anm. 158.
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wurde, so war er aus der Kriegsgefangenschaft zu entlassen; die Überstellung mußte das Stalag der Wehrmachtauskunftsstelle (WASt) in Berlin melden 81 . Bereits im Mai 1942 modifizierte das O K W diesen Erlaß erneut. Es wies auf die Erfahrung hin, daß Flüchtige fast zwangsläufig Diebstähle oder Uberfälle begehen mußten. Deshalb wurde angeordnet, daß wiederergriffene sowjetische Kriegsgefangene „der nächsten Polizeidienststelle zu übergeben [seien], die baldmöglichst feststellt, ob der Flüchtling Straftaten begangen hat. Ist dies nicht der Fall, so wird er dem Kriegsgefangenenlager zum Zwecke der Bestrafung für die Flucht und zu späterem erneuten Arbeitseinsatz wieder zur Verfügung gestellt" 8 2 . Wurden Straftaten ermittelt - was nach den Feststellungen des O K W die Regel gewesen sein dürfte - , war der Gefangene nun doch wieder der Gestapo zu übergeben. Heydrich sagte in einem Brief dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, zu, bei der Überprüfung von sowjetischen Kriegsgefangenen solle im Zweifelsfall für den Arbeitseinsatz entschieden werden. Gleichzeitig betonte er allerdings, daß der Gefangene bei politischen „Hetzereien" und bei Fluchtfällen mit Verbrechen weiterhin in ein Konzentrationslager einzuweisen sei 83 . Den Begriff „Straftat" faßte man dabei allerdings so weit, daß eine Flucht ohne „Verbrechen" fortan fast unmöglich war. Die von Heydrich bereits im Mai 1942 bekräftigte Regelung blieb bis Kriegsende in Kraft 8 4 . Eine Sonderregelung erließ das O K W Anfang 1944 für Offiziere und nicht im Arbeitseinsatz befindliche Unteroffiziere aller Nationalitäten. A m 4. März 1944 gab Gestapochef Müller den einzelnen Stapo(leit)stellen den diesbezüglichen Befehl bekannt, der offenbar in Absprache des O K W mit dem R S H A entstanden war. Mit Ausnahme britischer und amerikanischer Soldaten (über deren Schicksal das O K W unter Umständen von Fall zu Fall entschied), sollten Wiederergriffene unter dem Codewort „Stufe III" der Gestapo übergeben werden. D a dies nicht bekannt werden durfte, waren die Gefangenen sowohl der WASt als auch dem I K R K als noch nicht wiederergriffene Flüchtige zu melden. Die Gestapo lieferte die Wiederergriffenen unter dem Kennwort „Aktion Kugel" in das K Z Mauthausen ein, wo sie, der C o d e war durchaus programmatisch zu verstehen, erschossen, aber auch vergast, erhängt oder auf andere Weise ermordet wurden. Vielfach ließen die Wachmannschaften die Gefangenen einfach verhungern. Bei sowjetischen Unteroffizieren und Offizieren, die man bis zu einem bestimmten Alter zum Arbeitseinsatz verpflichtet hatte 85 , unterschieden
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O K W / A W A / K r i e g s g e f . Allg. Zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, 24.3. 1942, B A - M A , R W 6/v. 278. Diese U b e r p r ü f u n g der Flucht entsprach schon eher der Intention des Genfer Abkommens, jedoch sollten auf der Flucht begangene Verbrechen gerichtlich geahndet werden. Vgl. A b k o m m e n über die Behandlung der Kriegsgefangenen v o m 27. 7 , 1 9 2 9 , in: R G B l . 1934, Τ. II, S. 227-262, hier S. 245 (Art. 52). O K W , Α WA, Kriegsgef. Allg., 5. 5. 1942, B A , R D 19/3, Bl. 41-42. Vgl. auch die Darstellung bei Streim, Behandlung, S. 214. Mitteilung des C S S D an den G B A , 15. 5. 1942, B A , R 41/172, Bl. 5. Die letzte belegbare Überstellung in ein Konzentrationslager ist mit dem 21.11.1944 datiert. Vgl. Streit, Kameraden, S. 410, Anm. 146. Sowjetische Offiziere mußten ohne Rücksicht auf den Dienstrang bis z u m 45. Lebensjahr am Arbeitseinsatz teilnehmen. O K W , Chef Kriegsgef-, 4. 7. 1942. Hier nach Rü.In. Hannover, 8. 7. 1942, B A - M A , R W 20-11/15, Bl. 53.
Die Wehrmacht und die Behandlung der sowjetischen Gefangenen
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Wehrmacht und SD freilich nicht wie bei den übrigen Kriegsgefangenen zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden. Sie wurden generell nach der Wiederergreifung der Gestapo übergeben und nach Mauthausen überstellt. Folglich waren die meisten der etwa 5000 Opfer der „Aktion Kugel" sowjetische Kriegsgefangene 86 . Wie bereits bei den „Aussonderungen" zeigte sich auch hier, daß die Wehrmacht willens war, ihr unterstellte Gefangene bereits beim geringsten Verdacht der Widersetzlichkeit oder der „rassischen Untragbarkeit" „einer auf Mord spezialisierten Organisation auszuliefern]" 8 7 . Wieviele sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland insgesamt ums Leben kamen, läßt sich bislang auch nicht annähernd genau bestimmen. Nur für einzelne Lager liegen bislang verläßliche Zahlen vor: Im Stalag 304 (IV H) Zeithain etwa verstarben von den ungefähr 80 000 in der gesamten Zeit seines Bestehens in ihm befindlichen Sowjetgefangenen rund 30000 88 . Die Dimension des Massensterbens sowjetischer Kriegsgefangener in den Lagern auf Reichsgebiet läßt sich erst erahnen, wenn man die Zahl der Zeithainer Toten der Gesamtzahl der Opfer unter den anglo-amerikanischen Gefangenen gegenüberstellt: Von den 235473 Briten und Amerikanern in Deutschland verstarben 8348. Mit anderen Worten: Es kamen in einem einzigen „Russenlager" auf deutschem Boden etwa drei- bis viermal so viele sowjetische wie britische und amerikanische Gefangene insgesamt ums Leben 89 . Das OKW war sich der verbrecherischen Behandlung der Sowjetgefangenen durchaus bewußt. In den Befehlen trat das Schuldbewußtsein deutlich zutage: Nicht zuletzt, um die Behandlung der „Russen" zu verheimlichen, versuchte die Wehrmachtführung zunächst, diese sowohl von der deutschen Zivilbevölkerung als auch von den übrigen Gefangenen abzuschotten. Mit den „verbrecherischen Befehlen" und den Dienstanweisungen für die Soldaten der Wachkommandos in den Lagern gelang es der Wehrmachtführung, bei den Soldaten nahezu alle Hemmungsfaktoren bei der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen auszuschalten. Das Terrain hierfür war durch die fortwährende antibolschewistische Propaganda des NS-Regimes in den Jahren zuvor, aber auch durch die strengen Disziplinierungsmaßnahmen in der deutschen Armee bereitet worden 90 . Daß es sich indes nicht um eine Verrohung des Wachpersonals gegenüber Kriegsgefangenen generell handelte, läßt sich insbe-
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Genauere Angaben liegen zur Zahl der Ermordeten nicht vor. Zur „Aktion Kugel" vgl. v o r allem Datner, Crimes, S. 2 6 7 - 2 7 0 . Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 323. Vgl. Osterloh, Lager, S. 1 7 5 - 1 8 4 . Die Zahl der O p f e r basiert auf den Angaben einer sowjetischen Untersuchungskommission, die 1946 Exhumierungen durchführte und dabei ca. 33 000 Leichen feststellte. Zudem gab ein ehemaliger Lagerarzt an, bis Ende 1944 seien bereits ungefähr 2 4 5 0 0 „Russen" verstorben. Dennoch verbreitete die Kommission, in Zeithain seien 8 0 0 0 0 - 1 4 0 0 0 0 sowjetische Gefangene ums Leben gekommen. Ebd. Die Existenz weiterer Massengräber ist mittlerweile aber auszuschließen. Die Feststellung der Zahl der O p f e r ist fast überall problematisch und politisch brisant. Vgl. etwa auch Hüser/ Otto, Stammlager, S. 1 8 3 - 1 9 0 ; Borgsen/Volland, Stalag X B, S. 2 4 0 - 2 5 3 . Die Zahlen nach Streit, Behandlung (1991), S. 160, der den Vergleich zwischen der Mortalität unter den Sowjetgefangenen in Lagern im Osten und den britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen zog. Vgl. u. a. Bartov, Wehrmacht.
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sondere anhand der Lager auf Reichsgebiet verdeutlichen: In den meisten Stalags befanden sich Gefangene aus mehreren Ländern. Das ausgeklügelte System unterschiedlicher Rechte und Privilegien funktionierte hier bis zuletzt fast reibungslos: Die Sowjetgefangenen fristeten ihr Dasein unter den beschriebenen Lebensbedingungen, während Gefangenen „rassisch höherwertiger" Völker die meiste Zeit weitgehend alle Rechte der internationalen Vereinbarungen zugestanden wurden. Die Einhaltung völkerrechtlicher Abkommen war von der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt. Deutliches Zeugnis legt hierfür die Ablehnung aller sowjetischen Vorstöße zur gegenseitigen Bindung an die Haager Landkriegsordnung ab 9 1 . Eine noch klarere Sprache spricht die Mißachtung des Genfer Verwundetenabkommens. Dieses war sowohl von Deutschland als auch von der Sowjetunion unterzeichnet und ratifiziert worden. Es hatte somit für beide Staaten verbindliche Gültigkeit. Dennoch schenkte ihm die Wehrmacht keinerlei Beachtung 9 2 . Insbesondere aus zwei Gründen ließ sich die militärische Führung auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Osten ein. Der extreme und im Offizierskorps der Wehrmacht weit verbreitete Antibolschewismus zeigte sich deutlich bei der Ausarbeitung der „verbrecherischen Befehle" und bei der Zusammenarbeit der Wehrmacht mit den Einsatzgruppen im Osten sowie der Gestapo in Deutschland. Daneben ist zu berücksichtigen, daß die Wehrmachtspitze den Ostfeldzug als Blitzkrieg geplant hatte. Im Sommer 1941 betrachtete die militärische Führung die kurzzeitige Einbeziehung der Wehrmacht in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik deshalb als durchaus vertretbar. Zum einen sollte so die von den Militärs befürwortete deutsche Ostexpansion und zum anderen die Vorrangstellung der Wehrmacht vor Gliederungen der N S D A P (insbesondere der SS) abgesichert werden 93 . Deshalb ignorierte die Wehrmachtführung bewußt sämtliche internationalen Vereinbarungen und menschenrechtlichen Grundsätze 9 4 . Das Ergebnis war das hunderttausendund millionenfache Sterben sowjetischer Kriegsgefangener in den besetzten Gebieten und in Deutschland.
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Vgl. Streit, Kameraden, S. 224-237. A b k o m m e n , betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges (Haager Landkriegsordnung) vom 18. 10. 1907, in: R G B l . 1910, S. 107-151. Vgl. Streit, Behandlung (1995), S. 78-91. Vgl. Streit, Behandlung (1991), S. 180-182. Vgl. Keller, Russenlager, S. 113.
Gerhard
Schreiber
Die italienischen Militärinternierten politische, humane und rassenideologische Gesichtspunkte einer besonderen Kriegsgefangenschaft1
Das Thema provoziert geradezu zwangsläufig die Frage, weshalb die nach dem Kriegsaustritt Italiens am 8. September 1943 entwaffneten und in die Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht verbrachten Exverbündeten als Militärinternierte bezeichnet wurden. Denn diesen Begriff, den die Genfer Konvention vom 27. Juli 1929 nicht berücksichtigt, den man jedoch im völkerrechtlichen Sprachgebrauch auf Militärangehörige einer kriegführenden Macht anwendet, die sich in einem neutralen Land interniert sehen, konnten - in der konkreten Situation des Jahres 1943 - Deutsche gegenüber Italienern prinzipiell nicht in Anspruch nehmen. Es handelt sich somit um eine irreführende Etikettierung, wobei in aller Regel davon ausgegangen wird, daß das nationalsozialistische Regime damit von Anfang an beabsichtigte, den italienischen Kriegsgefangenen den Schutz der Genfer Konvention zu verwehren, jene Männer also gezielt willkürlichem Verhalten auslieferte. Auf den ersten Blick erscheint das durchaus überzeugend, berichteten doch selbst faschistische Funktionäre, die sich bei der in Berlin eingerichteten Botschaft der Republik von Salo um die Militärinternierten kümmerten, daß ihre gefangenen Landsleute, obwohl für den U m gang mit diesen vielversprechende Richtlinien existierten, ihren Aufsehern und Bewachern so gut wie schutzlos preisgegeben waren. Bei genauerem Hinsehen stellt sich freilich heraus, daß die Mutmaßung, man habe die Italiener zu Militärinternierten erklärt, um sie a priori dem Schutz der Genfer Konvention zu entziehen, unzutreffend ist. Bei chronologischer Betrachtungsweise erhellt nämlich, daß für die zu entwaffnenden Soldaten im Juli 1943 zwar ausdrücklich die Internierung - nicht die Kriegsgefangenschaft - vorgesehen war 2 , woran sich auch bis zum 7. September nichts änderte: Hieß es doch in den damals herausgegebenen Einzelbestimmungen für den Umgang mit italienischen Militärangehörigen, die nicht auf deutscher Seite weiterkämpfen wollten, daß sie „bis zur Entscheidung über die Entlassung zu internieren" seien 3 ; aber zwei Tage danach erging eine Weisung, in der die Italiener erstmals als „Kriegsgefangene" auftraten 4 . Das Oberkommando der Wehrmacht übernahm die neue Terminologie in den „Grundsätzlichen Richtlinien über die Behandlung der Soldaten der ital. Wehrmacht und Miliz" vom 15. September. Doch nur fünf Tage später befahl Hitler, daß die
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Nachdruck aus: Bischof/Overmans (Hrsg.), Kriegsgefangenschaft. Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 64. O K W / W F S t / Q u . N r . 6 6 2 2 4 2 / 4 3 g.Kdos. Chefs., F . H . Q u . , 8. 9 . 1 9 4 3 , Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München (AlfZG), M A 240, 5 5 1 8 7 3 5 - 7 3 7 . O K W / W F S t / Q u 2 (S), N r . 0 0 5 1 1 7 / 4 3 g.Kdos., 9. 9. 1943, B A - M A , R W 4/v. 902.
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„italienischen Kriegsgefangenen ab sofort nicht [mehr] als Kriegsgefangene, sondern [ w i e d e r u m ] als .italienische Militärinternierte' zu bezeichnen" seien. Mussolini ließ er seine - in den erhaltenen Aufzeichnungen nicht näher begründete - Entscheidung „in geeigneter Form" mitteilen 5 . Uberprüft man in einem zweiten Schritt die inhaltliche Bewertung, die deutsche Militärs und Politiker der Bezeichnung Militärinternierter ursprünglich zuerkannten, so ist festzustellen, daß der Begriff mitnichten von Anfang an negativ besetzt gewesen ist. Bezeichnenderweise stufte die Wehrmacht nach dem 20. September italienische Soldaten, die sich weigerten, mit den Deutschen in irgendeiner Form zusammenzuarbeiten, aber widerstandslos ihre Waffen niederlegten, als Militärinternierte ein, während diejenigen, die Widerstand leisteten, soweit sie nicht aufgrund der verbrecherischen Befehle standrechtlich erschossen wurden, als Kriegsgefangene galten. Die nach einem Fluchtversuch wiederergriffenen Militärinternierten hat man strafweise zu Kriegsgefangenen erklärt und z u m Arbeitseinsatz ins Operationsgebiet des Heeres im Osten verbracht, w o sie - gemäß dem offiziellen Sprachgebrauch - paradoxerweise erneut als Militärinternierte geführt wurden 6 . Auch die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes betonte gegenüber Repräsentanten der Republik von Salo wiederholt, daß die Militärinternierten besser behandelt werden müßten als Kriegsgefangene anderer Nationalität 7 . Umgekehrt zögerten Beamten des Auswärtigen Amtes nicht, die Tatsache, daß der Status des Militärinternierten juristisch nicht klar definiert war, im Zweifelsfall gegen die italienischen Gefangenen einzusetzen. Als z u m Beispiel ein faschistischer Funktionär monierte, daß Unteroffiziere zu körperlichen Arbeiten herangezogen würden, hieß es, der Protest sei ungerechtfertigt, weil die Genfer Konvention, die einen derartigen Einsatz untersage, nur für Kriegsgefangene gelte. Als jedoch das Verbot des U m g a n g s mit deutschen Frauen und Mädchen auf die internierten Italiener ausgedehnt werden sollte, behauptete der Reichsminister der Justiz, dies sei zulässig, weil die Militärinternierten wie „Kriegsgefangene behandelt" würden 8 . All das macht deutlich, daß man deutscherseits den Undefinierten Terminus ebenso pragmatisch w i e willkürlich z u m eigenen Vor- und zum Nachteil der Italiener einsetzte. Ansonsten ist in bezug auf Hitlers Entschluß vom 20. September 1943 wohl davon auszugehen, daß die Rücksichtnahme auf die innere Situation in der verbündeten Republik von Salo eine wichtige Rolle spielte. Der ungebräuchliche und verschwommene Begriff konnte - vorübergehend - das Schicksal der de-
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Oberkommando der Wehrmacht Nr. 005282/43 g.Kdos./WFSt/Qu 2(S) II. Ang., F.H.Qu., 20. 9. 1943, Betr.: Grundsätzliche Richtlinien über die Behandlung der Soldaten der ital. Wehrmacht und Miliz, B A - M A , R W 4/v. 508a; und: 1.10. 1943, Sonderzug, Nr. 1564, B R A M 420/R/43, gez. Hilger, AA, Büro Staatssekretär, Akten betr. Italien, Bd. 17. Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 169-173, S. 317 ff. Ebd., S. 521. Reichsminister der Justiz 9250/l-IVa-460, Berlin, 11. 4. 1944, an die Herren Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten, Betrifft: Umgang mit italienischen Militärinternierten, A l f Z G Fa 195/11.
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portierten Soldaten zu Hause in milderem Licht erscheinen lassen. Das wäre nicht nur für Mussolini, der sich damals um die Konsolidierung seiner Herrschaft bemühte, sondern auch für Hitler von Vorteil gewesen. Schließlich lag die Festigung der faschistischen Macht im deutschen Interesse, da sie die Besetzung und Kontrolle des Landes erleichterte. Hingegen ist es eher unwahrscheinlich, daß die Namensänderung erfolgte, um die in der Tat besonders harte Behandlung der italienischen Gefangenen prinzipiell zu ermöglichen. Man hat in solchem Zusammenhang zu Recht betont, daß die Nationalsozialisten für den selbstherrlichen Umgang mit Kriegsgefangenen weder terminologische noch formaljuristische Feigenblätter benötigten 9 . Außerdem ist grundsätzlich festzustellen, daß es die Klassifizierung der Italiener als Militärinternierte den Deutschen zwar erleichterte, diese in verächtlicher, haßerfüllter und nicht selten menschenverachtender Weise zu traktieren, aber nicht der Terminus als solcher war ursächlich dafür, daß die Militärinternierten im allgemeinen auf der vorletzten Stufe der Gefangenenhierarchie des „Dritten Reiches" standen und zuweilen noch schlechter lebten als die russischen Kriegsgefangenen 10 . Ihren unmittelbaren Anfang nahm die Geschichte der Militärinternierung beim Kriegsaustritt Italiens, auf den sich die deutsche Führung seit dem Verlust von Nordafrika im Mai 1943 vorbereitet hatte. Als die, nach dem erzwungenen Rücktritt Mussolinis im Juli 1943 eingesetzte, Regierung unter Marschall Badoglio am 8. September den fünf Tage vorher mit den Alliierten abgeschlossenen Waffenstillstand offiziell bekanntgab, machten sich in Südfrankreich, Italien und auf dem Balkan mehr als 600000 Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS daran, rund 3 700 000 italienische Militärangehörige zu entwaffnen und die bis dahin von diesen gehaltenen Gebiete zu besetzen 11 .
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Rochat, Memorialistica, S. 34 f., 61, Anm. 39. Ich danke Herrn Dr. Pawel Polian, der mir freundlicherweise russisches Material zur Verfügung stellte, das diese - auch in deutschen Quellen belegte - Tatsache erhärtet. Von besonderem Interesse ist das Tagebuch des Exgefangenen Vassilij Baranov. Es fehlen zwar präzise Zahlen für die Stärke der italienischen Streitkräfte am 8. 9. 1943, aber die numerische Situation im Sommer 1943 ist ziemlich genau zu definieren: Die Marine zählte am 1.8.1943 = 14953 Offiziere und 244129 Unteroffiziere sowie Mannschaften, das heißt insgesamt 259082 Mann, siehe Fioravanzo, L'organizzazione, S. 347f., 361, 366. Aus den Unterlagen der Luftwaffe („Ministero Aeronautica, Direzione Generale Personale Militare") ergibt sich, wie dem Autor vom Ufficio Storico dello Stato Maggiore dell'Aeronautica freundlicherweise mitgeteilt wurde, daß diese am 30. 6. 1943 = 8 057 Offiziere, 1 400 Offizieranwärter und 169316 Unteroffiziere sowie Mannschaften umfaßte, also insgesamt 178773 Soldaten. In der „Guardia" (Zoll und Grenzschutz) dienten vor dem Kriegsaustritt rund 40000 Mann, siehe Oliva, La Guardia, S. IX. Für die Heeresstärke liegen für den 31.5.1943 folgende statistische Angaben vor: 143 804 Offiziere, 187119 Unteroffiziere und 2668101 Mannschaften. Zu jenen 2999024 Militärs müssen noch 10484 Militärs hinzugezählt werden, die sich gerade auf dem Weg ins balkanische Einsatzgebiet befanden. Somit belief sich die Gesamtstärke des Heeres auf 3 009 508 Personen. Das Gros - 105 149 Offiziere, 135314 Unteroffiziere und 1 868671 M a n n s c h a f t e n w a r im Mutterland stationiert: Stato Maggiore Regio Esercito, Ufficio Mobilitazione, 6 a Sezione, allegato al fg. n. 21/229082/6 del 29-8-1943, Ripartizione territoriale della forza effettiva alle armi alia data del 31-5-1943, Archivio Storico dell'Ufficio Storico dell'Esercito Roma, cartella 1509 B. Demnach könnte im Sommer 1943 von einer Gesamtstärke der italienischen Streitkräfte von mindestens 3487373 Mann ausgegangen werden.
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Realpolitisch gesehen beschrieben die für den Kriegsaustritt eingeplanten Gegenmaßnahmen sachlich begründbare Aktionen. Eine außergewöhnliche Entwicklung trat jedoch ein, als sich Hitler und die Wehrmachtführung nicht mehr auf völkerrechtlich zulässige Aktionen beschränkten. Am 10. September erging, augenscheinlich um den sich versteifenden Widerstand zu brechen, der erste verbrecherische Befehl. Die Militärs sprachen von politischen - „außerhalb der gerichtlichen Zuständigkeit der Wehrmachtjustiz" liegenden - Maßnahmen. Das heißt, man war sich der Ungesetzlichkeit des eigenen Vorgehens voll und ganz bewußt 12 . Trotzdem weigerte sich nur eine Handvoll von Offizieren, die Straftaten ausführen zu lassen. Bei Beschränkung auf die reinen Mordbefehle wären unter letzteren zu nennen: Das standrechtliche Erschießen von Truppenkommandeuren, deren Untergebene - nach Ablauf eines kurz befristeten Ultimatums - nicht die Waffen streckten; die Exekution von Offizieren, falls ihre Soldaten Waffen oder Munition in die Hände von „Aufständischen" fallen ließen beziehungsweise mit letzteren zusammenarbeiteten (Unteroffiziere und Mannschaften verbrachte man - ebenfalls gegen das Kriegsvölkerrecht - zum Arbeitseinsatz ins Operationsgebiet des Heeres im Osten, eine Zwangsmaßnahme, die 5393 italienischen Exsoldaten das Leben gekostet haben dürfte) 13 ; die in Griechenland befohlene, „ohne alle Formalitäten" durchzuführende „Erschießung aller in Zivil angetroffener ital. Soldaten" 14 ; Hitlers Befehl, auf der Insel Kefallenia unter den Widerstand leistenden Soldaten der Division „Acqui" keine Gefangenen zu machen15. Insgesamt starben aufgrund der verbrecherischen Befehl zwischen 12000 und 13 000 der annähernd 1007000 nach dem 8. September 1943 entwaffneten italienischen Militärangehörigen 16 . Die Zahl der effektiv in deutschen Kriegsgefangenenlagern verbliebenen Italiener läßt sich erst ab Anfang Februar 1944 zuverlässig angeben 17 . Maximal 615 812 von ihnen befanden sich zu jenem Zeitpunkt in Lagern im Reich, in den besetzten Gebieten und im Operationsgebiet des Heeres im Osten. Insgesamt 503 773 waren - im allgemeinen zwangsweise - zur Arbeit eingesetzt. Bis Ende
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Allerdings ist anzumerken, daß nach offiziellen Angaben am 1. 4. 1943 allein das italienische Heer 3 7 0 4 0 0 0 Soldaten umfaßte, siehe Montanari, La campagna, S. 906. Das bedeutet, daß sich damals circa 4 1 8 0 000 Mann bei Heer, Luftwaffe, Marine und Zoll befanden. Angesichts der Verluste in Nordafrika und Sizilien, die weniger als 700 000 Mann betrugen, dürften im September 1943 ungefähr 3 7 0 0 0 0 0 Italiener unter Waffen gestanden haben. Siehe hierzu auch Rochat, L'esercito, S. 2 6 2 - 3 0 4 . Oberkommando des Heeres (Chef HRüst u. BdE), Nr. 257/43 g.Kdos HR (III), Gera, 8. 10. 1943, Betr.: Behandlung italienischer Offiziere, B A - M A , R H 2/v. 637. Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 3 1 7 - 3 1 9 . Ders., Militärinternierte, S. 1 0 0 - 1 0 3 . Grundlegend dazu ist der Sammelband Rochat/Venturi (Hrsg.), La divisione. Diese Summe umfaßt rund 6300 bei der Entwaffnung erschossene Soldaten, die circa 5400 im Operationsgebiet im Osten umgekommenen Italiener und etwa 600 Opfer beim Zusammenbruch des „Dritten Reiches". Dazu Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 5 4 3 - 5 7 2 . Zur Behandlung der italienischen Kriegsgefangenen bemerkt ein Bearbeiter des Kriegstagesbuches des Oberkommandos der Wehrmacht, daß es sich hierbei „um eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des deutschen Heeres" handelte, Der Krieg in Italien, S. 69, Anm. 67. Detailliert zum statistischen Befund - einschließlich Entwaffnung und Deportation Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 1 0 9 - 3 3 8 .
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Juli 1944, das ist der Stichtag, für den die letzte vollständige Bestandsmeldung vor der im August befohlenen Uberführung in das zivile Arbeitsverhältnis vorliegt, verringerte sich die Gesamtzahl auf 586479. Diese unerhebliche Abnahme, in der auch die 5365 Toten und Vermißten im Operationsgebiet des Heeres im Osten enthalten sind, dokumentiert unter anderem die geringe Kollaborationsbereitschaft der Militärinternierten nach dem Jahreswechsel 1943/44. Es handelte sich hierbei - wie sowohl die offiziellen Dokumentation als auch die Memoirenliteratur zeigt - um einen passiven, überwiegend politisch motivierten Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus 18 . Im Hinblick auf den Umgang mit den Militärinternierten erscheint es signifikant, daß man sie bereits während der Transporte außerordentlich brutal behandelte. Die tatsächlichen Verhältnisse sprachen allen Richtlinien Hohn. Im allgemeinen sahen sich die Militärinternierten in hoffnungslos überfüllten Viehwaggons zusammengepfercht. Es fehlte ihnen an Nahrung, Wasser und der Möglichkeit, den primitivsten körperlichen Bedürfnissen zu genügen, da die Waggons oft tagelang nicht göffnet wurden 19 . Unter besonders extremen Bedingungen erfolgten die Seetransporte von den Inseln zum griechischen Festland. Denn nach der persönlichen Intervention Hitlers vernachlässigte die Kriegsmarine bei der Beförderung italienischer Kriegsgefangener alle an sich vorgeschriebenen Sicherheitsbestimmungen. Nun gab es gewiß Sachzwänge, die eine möglichst schnelle Räumung der Inselstützpunkte notwendig machten. Auch der Mangel an Schiffsraum und die See/Luftüberlegenheit der Alliierten wirkten sich aus. Doch all das erklärt nicht, warum von rund 76600 überführten Italienern 13300, das sind 17 Prozent, den Tod auf See fanden, während im September und Oktober 1944, als die Heeresgruppe F ihre eigenen Truppen von den Inseln des östlichen Mittelmeeres abtransportierte, von rund 37200 eingeschifften Wehrmachtangehörigen lediglich 380 Mann oder ein Prozent starben, obwohl sich See/Luftlage aus deutscher Sicht verschlechtert hatte 20 . Mit dem Eintreffen in den Lagern mußten die Militärinternierten alle Pflichten der Kriegsgefangenen übernehmen, doch die Respektierung der Rechte, die jene besaßen, hing ganz vom Wohlwollen der deutschen Seite ab. Einzigartig war auch, daß Mussolinis Republik als Schutzmacht fungierte. Die Repräsentanten dieses Marionettenstaates von Hitlers Gnaden konnten zwar etwas erbitten, vorschlagen, beantragen oder sogar fordern, aber sie vermochten nichts gegen deutschen Willen durchzusetzen, da es keine vertraglichen Regelungen gab. Nicht einmal nach der Einrichtung der Betreuungsdienststelle für Militärund Zivilinternierte bei der faschistischen Botschaft in Berlin, im Februar 1944, änderte sich daran etwas 21 . Umgekehrt ist es eine Binsenweisheit, daß 600000 Militärinternierte zugleich
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Siehe hierzu insbesondere - außer den bereits zitierten Titeln - Schreiber, Gli internati militari. Ders., Die italienischen Militärinternierten, S. 2 4 4 - 2 4 8 . Ebd., S. 2 5 5 - 2 8 7 . Ebd., S. 508-542, zur Betreuung insgesamt.
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600 000 Einzelschicksale verkörperten. U n d völlig unbestritten stellten sich die jeweiligen Existenzbedingungen in den zahlreichen Offizierlagern, Mannschaftsstammlagern oder Arbeitslagern nie gleich dar. Das heißt, die internierten Italiener sammelten mit ihrem Ambiente, mit den Aufsehern beim Arbeitseinsatz, mit dem Bewachungspersonal in den Lagern oder mit anderen Deutschen, zu welchen sie Kontakt besaßen, unterschiedliche Erfahrungen. Ein zentrales Problem aller Untersuchungen über die Internierungszeit bildet somit die Verallgemeinerungsfähigkeit der - gemessen an der Gesamtzahl der Kriegsgefangenen - relativ wenigen Angaben, die in Briefen, Tagebüchern oder Memoiren überliefert sind. Denn die zur Verfügung stehenden persönlichen Zeugnisse sind im Grunde nicht mehr als eine eher zufällige und im Hinblick auf die Zusammensetzung der Autoren höchst unausgewogene Dokumentation. Sie vermögen nicht einmal annähernd den Anforderungen zu genügen, welche die heutige Meinungsforschung an Repräsentativerhebungen stellt. Allerdings werden die Selbstzeugnisse - glücklicherweise - durch offizielle Unterlagen trefflich ergänzt, so daß die insgesamt zur Verfügung stehenden Quellen, unbeschadet aller zu verzeichnenden Unzulänglichkeiten, in ihrer Zusammenschau eine Beschreibung des Alltags der Militärinternierung ermöglichen, die sowohl das Allgemeine als auch das Besondere historisch zutreffend wiedergibt. In nahezu allen Erinnerungen an beziehungsweise in Berichten über die Kriegsgefangenschaft dominieren das Trauma des als unerträglich empfundenen Hungers und der furchtbaren Kälte, der man sich wegen unzureichender Bekleidung schutzlos ausgeliefert sah; Angaben über eine extrem hohe gesundheitliche Gefährdung, weil sich die Gefangenen gegen die lebensbedrohlichen Krankheiten und Seuchen, als Folge der defizitären - tatsächlich skandalös zu nennenden medizinischen Versorgung nicht schützen konnten; Beschreibungen der Überforderung im Arbeitseinsatz bei unzureichender Ernährung, was nicht selten zum körperlichen Ruin führte; die Erinnerung an die willkürliche, oft brutale Behandlung und Beraubung durch das deutsche und ausländische Bewachungspersonal sowie durch Angehörige der Wehrmacht, der SS oder der Gestapo; Bemerkungen über den fehlenden Rechtsschutz, insbesondere bei Verwicklungen in Strafverfahren, und über körperliche Züchtigungen, Kollektivstrafen oder Bestrafungen anderer Art; Schilderungen von demütigenden Diskriminierungen; Klagen über die unzureichende materielle Unterstützung durch die Republik von Salö und internationale Organisationen; die Schrecken der - insbesondere im Winter - miserablen Lebensbedingungen in den Barackenunterkünften 22 . Der Leiter der Betreuungsdienststelle berichtete noch im Juli 1944 von Meuten italienischer Männer, die in den Kriegsgefangenenlagern dahinvegetierten, gezeichnet von Entbehrungen aller Art. Er schilderte Lazarette, die nur noch menschliche Gespenster beherbergten. Die Rede war von zu Skeletten abgemagerten italienischen Bauern, die 14 Stunden pro Tag als Arbeitstiere in den Fabriken der deutschen Rüstungsindustrie schufteten, und von Männern, die zwischen den Abfällen der Deutschen nach Kartoffelschalen suchten, um etwas
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Eßbares zwischen den Zähnen zu haben. In den Lagern litten die vom Hungerödem Gekennzeichneten, die sich fast nackt und mit monströsen Schwellungen dahinschleppten. Selbst unter den jungen Militärinternierten wütete die Tuberkulose 23 . Wobei es mit fortschreitender Zeit eine Entwicklung zum Schlechteren gab. Wie schon angedeutet, traten die faschistischen Funktionäre - Repräsentanten eines Regimes, das seine Macht von Hitler geborgt hatte - gegenüber deutschen Politikern und Militärs meist nur als Bittsteller auf. Andererseits Schloß das nicht aus, daß Mussolini eigene Planungen zu realisieren versuchte. Und hierbei wuchs den Militärinternierten eine besondere Funktion zu. U m zumindest eine gewisse formale Souveränität demonstrieren zu können, drang Salo auf faschistisch-republikanische Streitkräfte. Und letzten Endes stimmte die deutsche Seite der Aufstellung solcher - als symbolisch angesehenen -Truppen, bei begrenzter Heranziehung der Internierten, auch zu. Was jedoch nichts daran änderte, daß der Einsatz der gefangenen Verbündeten in der Rüstungsindustrie als die ihnen angemessenste und für die eigene Kriegführung vorteilhafteste Verwendung galt. Hierin manifestierte sich sowohl das - seit dem Winter 1940/41 - im Offizierkorps vorherrschende negative Urteil über den italienischen Soldaten 24 als auch Hitlers Mißtrauen gegenüber den Militärinternierten. Und im übrigen entsprach diese Einstellung zugleich der profunden Abneigung der Wehrmachtführung gegen die „Heranziehung fremdländischer Kämpfer" 2 5 . Deshalb überrascht es nicht, daß Feldmarschall Keitel die schnellstmögliche Eingliederung der internierten Italiener in den Arbeitsprozeß forderte, um auf diese Weise zuverlässige „deutsche Kämpfer für die Front" frei zu machen 26 . Nun kamen die Militärs zwar seit 1941 nicht mehr ohne fremde Helfer aus, doch sie mochten diese nicht, bedachten sie - was gerade für die Italiener zutrifft - oft mit Hohn und Spott. Letztere eigneten sich aus solcher Sicht vor allem zum Arbeitseinsatz. Nicht zufällig erklärte der Vertreter des Wehrmachtführungsamtes im Dezember 1943 in einer interministeriellen Ressortbesprechung, man habe „im allgemeinen kein Interesse an der Einstellung . . . Freiwilliger aus Kreisen der Militärinternierten" und werde „in der Regel auf freiwillige Meldungen . . . nicht eingehen" 27 . Das Zugeständnis Berlins hinsichtlich der Aufstellung faschistischer Streitkräfte änderte jedenfalls nichts an der Geringschätzung des italienischen Menschen schlechthin.
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Diario S.A.I., S. 126, 27. 7. 1944, Privatarchiv Professor R e n z o De Felicc, Rom. Schreiber, „Due popoli, una vittoria"?. K T B O K W , 4 , S . 1558. Adjutant des Chefs des Generalstabes des Heeres N r . 3440/43 g.Kdos., H . Q u . G e n S t d H , 2 6 . 9 . 1943, Abschrift von: O K W / W F S t / O r g . (II) N r . 2982/43 g.Kdos, gez. Keitel, B A - M A , R H 2/v. 637. Ressortbesprechung über Grundsätze hinsichtlich des Einsatzes italienischer Staatsangehöriger am 8. 12. 1943, Pol IVI. M.A. 5638 g., gez. Frohwein, A A , Büro Staatssekretär, Akten betr. Italien, Bd. 18.
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G e r h a r d Schreiber
Bei dem bereits erwähnten Statuswechsel im Sommer 1944, den letzten Endes lediglich ein Drittel der Betroffenen freiwillig mitmachte 28 , versuchte Mussolini ein zweites Mal, sich mittels der Militärinternierten als autonome politische Kraft zu profilieren. Innen- und bündnispolitische Motive standen hierbei im Vordergrund. Denn zum einen beeinträchtigte die Tatsache, daß 600 000 Italiener in deutschen Lagern ein erbärmliches Dasein fristeten, die Stabilisierung des faschistischen Regimes, und zum anderen machte jener Umstand die formal beibehaltene deutsch-italienische Allianz unglaubwürdig. Den ersten diesbezüglichen Vorstoß unternahm die italienische Seite bereits im November 1943. Ab Ende März 1944 wollte man dann zunächst probeweise mit der Statusänderung von Gefangenen in drei oder vier Mannschaftslagern beginnen, was Berlin offenbar zusagte. Aber bis zum Treffen der beiden Diktatoren am 20. Juli 1944 kam es dann doch zu keiner Einigung über die Verwirklichung der Statusänderung. Im Verlaufe der damaligen Unterredungen im Führerhauptquartier thematisierte Mussolini sofort das „Problem der Kriegsinternierten" und bat Hitler diesbezüglich um ein „Geschenk". U n d dieser ging weit über das hinaus, was man italienischerseits zu fordern gewagt hatte. Statt des von Mussolini erbetenen experimentellen Ubergangs einer begrenzten Zahl von Internierten in das zivile Arbeitsverhältnis ordnete Hitler den fast uniimitierten Statuswechsel an. Einschränkungen machte man im wesentlichen nur bei den Offizieren. Was vordergründig wie ein Kurswechsel Berlins in der Interniertenfrage aussehen oder gar als veränderte Grundhaltung gegenüber den Italienern als solchen interpretiert werden könnte, stellt sich bei genauer Analyse als pragmatisch kalkuliertes Ergebnis kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitserwägungen heraus. Das heißt, wegen der immer kürzer werdenden Personaldecke der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie sah sich die Reichsregierung gezwungen, die Produktionsleistung der einsetzbaren Arbeitskräfte zu optimieren. Genau dazu sollte die Statusänderung dienen. Nachdem die einer Kollektivstrafe gleichkommende Ernährung nach Leistung - Hitler ließ sie seit Februar 1944 gegenüber den Italienern praktizieren, obwohl letztere seiner Meinung nach ohnehin nur die Hälfte der ihnen zustehenden Nahrung erhielten 29 - nichts gefruchtet hatte, hoffte man, mit dem vermeintlichen Entgegenkommen die Produktiviät der als arbeitsunwillig geltenden Militärinternierten steigern zu können. Da jene Deutschland nicht verlassen durften und weiterhin von den Reichsbehörden kontrolliert wurden, handelte es sich um ein absolut risikoloses Experiment 30 . Abschließend soll nun versucht werden, die menschenverachtende Behandlung der italienischen Kriegsgefangenen historisch einzuordnen, also Ursachen be-
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Partito Fascista Repubblicano, Segreteria Generale Fasci Estero ed Oltremare, Prot. 006410/RIS., Posiz. 3/CIS/RIS., P. da C. 704,18.11.1944, Appunto per il Duce, Archivio Storico Ministero degli Affari Esteri, busta 31, posizione Germania 1/2. Ausz. aus der Niederschrift des Reichsleiters Bormann über die Besprechung beim Führer im Berghof, 25. 4. 1944, BA, R 43 11/651, Bl. 48-52; Protokoll dieser Besprechung, ebd., Bl. 55-58. Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 409^143.
Die italienischen Militärinternierten
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ziehungsweise Erklärungen für das Vorgehen der deutschen Seite zu definieren. Dabei wird von zwei Prämissen ausgegangen. Die erste besagt, daß eine Motivanalyse, mit der man mehr als situationsbezogene Faktoren bestimmen will, nicht allein den Umgang mit den Militärinternierten, sondern - im Kontext einer vergleichenden Betrachtung - auch die Verhaltensweise gegenüber Fremdarbeitern, Zwangsarbeitern, Deportierten, der Zivilbevölkerung und den bündnistreuen Militärangehörigen untersuchen muß. Es geht somit um die Wertung des italienischen Menschen an sich. Die zweite Prämisse betrifft die Position Italiens im machtpolitischen Kalkül der Reichsführung seit 1933 und konstatiert, daß - sofern die Auswirkungen des September 1943 im Kontext einer evolutionären Entwicklung seit dem Kriegseintritt Mussolinis im Juni 1940 interpretiert werden - Roms Ausscheiden aus dem Kriege weder einen Wendepunkt noch eine Zäsur in der nationalsozialistischen Italienpolitik und im Italienbild von Angehörigen der deutschen Führungseliten darstellte. Anders gewendet, das nach dem Kriegsaustritt gegebene Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern beruhte nicht eigentlich auf einem abrupten Bruch mit der Vergangenheit, sondern war das Ergebnis eines mehrjährigen machtpolitischen Veränderungsprozesses. Bei einer derartigen Annäherung an das Problem lassen sich folgende Thesen aufstellen: In strategischer Perspektive zeigt sich, daß die Reichsführung - seit dem Dezember 1940 - den sich abzeichnenden Machtverlust Italiens in bezug auf die Neuordnung Europas in der Nachkriegszeit als vorteilhaft bewertete 31 . Die Entmachtung Mussolinis und der italienische Kriegsaustritt belebten in Berlin die Diskussion über Fernziele im südeuropäischen Raum. Im Mittelpunkt standen hierbei die Errichtung einer uneingeschränkten deutschen Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum 32 und die - von Hitler 1943 gebilligte Eingliederung der ehemaligen italienischen Besitzungen Österreichs ins Reichsgebiet 33 . Bemerkenswerterweise ging Mussolini schon Anfang Juli 1941 von derartigen Absichten seines Verbündeten aus 34 . Und Berichte, die Botschafter Dino Alfieri im April 1942 nach Rom sandte, bestätigten diese Befürchtungen 35 . Zwar zog man auf italienischer Seite keine eindeutigen Konsequenzen, aber im Achsenbündnis herrschte mißtrauische Rivalität. Für Rom kam es - sofern man retten wollte, was noch zu retten war - auf eine überzeugende Selbstprofilierung an. Deshalb überrascht es kaum, daß vor allem antideutsche Motive die Entscheidung für die Teilnahme am Krieg gegen die Sowjetunion erheblich beeinflußten. Die deutsch-italienische Allianz, die ja nie besonders überzeugte, hatte sich lange vor dem Sommer 1943 auseinandergelebt 36 .
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Schreiber, „Due popoli, una vittoria?", S. 9 5 - 1 2 4 . Ders., Revisionismus. Ders., Die italienischen Militärinternierten, S. 35 f. Ciano, Diario, S. 531, 6. 7. 1941. I documenti diplomatici italiani, nona serie: 1 9 3 9 - 1 9 4 3 , vol. VIII ( 1 2 . 1 2 . 1 9 4 1 - 2 0 . 7 . 1 9 4 2 ) , Ministero degfi Affari Esteri Commissione per la pubblicazione dei documenti diplomatici, Roma 1988, S. 505, doc. 461, 17. 4. 1942; und S. 535-537, doc.487, 28. 4. 1942. Schreiber, Italiens Teilnahme, S. 257.
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Was nun den Zusammenhang zwischen den veränderten politischen Rahmenbedingungen und der sich wandelnden Einstellung zum italienischen Menschen anbelangt, so ist festzuhalten, daß Hitler und seine Umgebung vom offenkundigen und vor 1939 von ihnen nicht erwarteten Niedergang der verbündeten Großmacht auf eine rassische Dekadenz der Italiener schlossen 37 . In dieser Unterstellung liegt vermutlich der Schlüssel zum Verständnis der Skrupellosigkeit, mit der sich die Befehle der deutschen Führung nach dem Kriegsaustritt über italienisches Leben hinwegsetzten. In der Tat trat die rassenideologisch geprägte Einstellung zum italienischen Menschen nach dem 8. September mannigfaltig und offen zutage. Zu nennen wäre etwa ein Befehl, der die Eheschließung deutscher Frauen mit Italienern selbst dann untersagte, wenn jene an der Seite der Wehrmacht kämpften 3 8 . Diese Weisung besaß im übrigen eine gedankliche Tradition. War doch der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der N S D A P , Professor Walter Gross, in Absprache mit Martin Bormann, dem Leiter der Parteikanzlei, und Alfred Rosenberg, dem Chefideologen der N S D A P , bereits Ende Juli 1941 in der Mischehenfrage an Botschafter Alfieri herangetreten. Man wollte die italienische Regierung damals für ein generelles Verbot von Heiraten zwischen Deutschen und Italienern gewinnen 39 . Was die Nationalsozialisten hierzu motivierte, hat Gross nicht verschwiegen, sondern lediglich noch ein wenig umständlich umschrieben. Erst im Sommer 1944 benannte Bormann dann mit aller Deutlichkeit den wahren Grund für die Zurückhaltung gegenüber deutsch-italienischen Ehen. Das heißt, das nationalsozialistische Regime bewertete die aus diesen oder unehelichen Verbindungen hervorgehenden Kinder als „Verunreinigung deutschen Blutes". An sich hätte der Leiter der Parteikanzlei - angesichts des Statuswechsels der Militärinternierten - gerne ein Gesetz erlassen, das alle intimen Beziehungen zwischen Deutschen und Italienern untersagte. Aber da man formal noch mit der faschistischen Republik verbündet war, ließ sich seine Absicht nicht verwirklichen. Deshalb wies er die Gauleiter an, derartige Kontakte durch eine massive Einschüchterung der Frauen zu verhindem 4 0 . Rassenpolitische Maximen drückten sich auch in der Absicht aus, den Italienern - nach dem deutschen Sieg - die Rolle eines unbewaffneten Arbeitervolks aufzuerlegen. Anfang 1944 äußerten sich Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht darüber ganz offen im Gespräch mit Offizieren der Republik von Salo. Es handelte sich um Vorstellungen, von welchen Mussolini schon sehr früh etwas geahnt zu haben scheint, und auf die Hitler gegen Ende August 1942
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Ders., „ D u e popoli, una vittoria?", S. 95-104. O b e r k o m m a n d o der Wehrmacht Az. 13h N S F W/4(J) Ia N r . 16091/44, O U , 24. 10. 1944, B A - M A , R H 19X/58. I documenti diplomatici italiani, nona serie: 1939-1943, vol. VII (24.4.-11.12.1941), Ministem degli Affari Esteri Commissione per la pubblicazione dei documenti diplomatici, R o m a 1987, S. 400-402, doc. 426, 25. 7. 1941. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Der Leiter der Partei-Kanzlei, Führerhauptquartier, den 11. 10. 1944, Bekanntgabe 320/44 g. Betrifft: Reinerhaltung des deutschen Blutes - Überführung der italienischen Militärintermerten in das zivile Arbeitsverhältnis, gez. M. Bormann, A l f Z G M A 460, 2567114 f.
Die italienischen Militärinternierten
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ebenfalls anspielt hat 4 1 .1944 wurde Mussolinis von seinen Diplomaten darüber informiert, daß die Deutschen ihre italienischen Verbündeten - also nicht nur die Militärinternierten - als „minderwertige Wesen" ansähen und entsprechend behandelten 42 . Eine derartige Bewertung des Italieners findet schon 1943 Bestätigung in den „Meldungen aus dem Reich", in denen unter anderem berichtet wird, daß es das italienische Volk verdiene, mit „den Juden", also dem „Auswurf der Menschheit", gemeinsam „genannt zu werden" 4 3 . Dazu paßt, daß der Leiter der Rechtspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt Ende Oktober 1944 zu Protokoll gab, es sei unmöglich, bei der Bevölkerung und den inneren Reichsbehörden die Behandlung der Italiener als Angehörige einer verbündeten Nation durchzusetzen 4 4 . Und selbst der Ministerrat in Salö forderte noch Anfang 1945, die Deutschen sollten endlich aufhören, das „Territorium der Republik, deren Bürger und Güter" als ihre „Kriegsbeute" anzusehen 45 .
Zusammenfassung Die Behandlung der Militärinternierten und die geringe Wertschätzung des italienischen Menschen waren Erscheinungen, die zweifellos auch in rassenideologischen Ressentiments gründeten, welche bei den nationalsozialistischen Spitzfunktionären, die für die verbrecherischen Befehle verantwortlich zeichneten, ebenso existierten wie unter der einfachen Bevölkerung. Signifikant dürfte in solchem Kontext der Ausspruch eines jungen und angeblich vorbildlichen deutschen Oberleutnants sein. Mit der Bemerkung, das „sind doch nur Italiener", machte er die Ermordung von 59 kranken und absolut unschuldigen Offizieren, die er zwar auf Befehl, aber ohne wirkliche Notwendigkeit in Albanien persönlich erschoß, zur Bagatellsache 46 . Doch soll mit der Bezugnahme auf einen weitverbreiteten Rassismus auf keinen Fall suggeriert werden, daß dieser das einzige Verhaltensmotiv darstellte und sich mit ihm alles erhellen ließe, was geschah. Gleichzeitig ist umgekehrt nachdrücklich zu betonen, daß es nicht genügt, den seit dem September 1943 praktizierten Umgang mit italienischen Gefangenen und Zivilpersonen lediglich mit 41
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2. 4. 1944. XXII: Relazione pervenuta dall'Addetto Aeronautico a Berlino, Archivio Centrale dello Stato Roma (künftig: ACS), Segreteria particolare del Duce, busta 16, fascicolo 91, sottofascicolo 2; vgl. direkt dazu auch die Äußerung Mussolinis vom 7. 6. 1941, als er feststellte, die Deutschen betrachteten sich selbst als „Herrenvolk" und die Italiener als „Sklavenvolk", zit. n. Bottai, Diario, S. 271; Jochmann (Hrsg.), Adolf Hitler, S. 3 6 5 , 2 6 . 8. 1942. Relazione N. 5, Belgrado, Ii 24 settembre 1944 XXII°, Al Sig. Generale Morera Umberto Addetto Militare e Capo M.M.I.G., f.to II Colonnello del Nucleo Biscuola, A C S , Segreteria particolare del Duce, busta 22, fascicolo 153, sottofascicolo 4. Boberach (Hrsg.), Meldungen, 15, S. 6 1 7 9 - 6 1 8 6 , 20. 12. 1943; zur Auswertung insgesamt Schreiber, Die italienischen Militärinternierten, S. 3 3 9 - 3 4 1 . Ref.: G . K . Dr. v. Druffel, zu R. 19873, Berlin, 28. 10. 1944, A n Pol. IVa, A A , Völkerrecht Az. 26 Nr. 13b Italien, Band 1. Protokoll über die Lagebesprechung des Ministerrates der Repubblica Sociale Italiana, 19 genn. 1945 = XXII, A C S , busta 16, fascicolo 91, sottofascicolo 3. Gustav Strübel, ... es sind ja nur Italiener. Tagebuchreport einer Massenerschießung, in: Die Zeit, 2 . 3 . 1990, S. 4 9 f .
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subjektiven Empfindungen, mit den Auswirkungen der Verratsthese oder mit einer allgemeinen Verbitterung über den Kriegsaustritt zu erklären. Vielmehr ist resümierend festzuhalten, daß in der konkreten Situation viele Faktoren historischer, politischer, ideologischer, propagandistischer und psychologischer Provenienz - zur Wirkung gelangten. Unter ihnen, so scheint es, muß dem alltäglichen Rassismus eine Schlüsselfunktion zuerkannt werden. Er ist demjenigen des Genozids an den europäischen Juden gewiß nicht vergleichbar. Denn im Hinblick auf die Italiener handelte es sich um einen Rassismus, der nicht auf massenhafte Vernichtung, sondern auf nationale Deklassierung zielte. Trotzdem ließ er die Hemmschwelle zum Mord - das beweisen die zitierten Befehle für die Entwaffnung der italienischen Soldaten ebenso wie die Massaker im Reichsgebiet am Vorabend des Kriegsendes oder die grausamen Exzesse während der deutschen Besatzungszeit in Italien - erschreckend niedrig werden und kostete tausendfach Menschenleben. Hierbei beziffern sich die Toten unter den Militärinternierten auf rund 46000. Zählt man jedoch alle italienischen Opfer zwischen dem 8. September 1943 und dem 2. Mai 1945, als die Kapitulation der deutschen Truppen in Italien in Kraft trat, so ergibt sich, daß im genannten Zeitraum, ohne Berücksichtigung der gefallenen Partisanen und regulären Soldaten, täglich 165 Italiener - Kinder, Frauen und Männer jeden Alters - auf direkte oder indirekte Weise durch deutsche Hand starben 47 .
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Schreiber, Kriegsverbrechen, S. 217.
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Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941-1944
I. Die Deutungen des „Partisanenkriegs" Es gibt kaum ein Thema, das so stark von Mythen und Legendenbildungen durchzogen ist, wie das der europäischen Partisanenbewegungen und ihrer nationalsozialistischen Bekämpfung. Zur Kennzeichnung der Partisanenbewegung greifen ehemalige Wehrmachtangehörige in der Öffentlichkeit nicht selten auf alte Stereotypen, einstmals erlernte Feindbilder und für den nationalsozialistischen Krieg typische Rechtfertigungsmuster zurück - Erbe von Propagandaparolen, die tief in die Mentalitäten eingeflossen sind. Partisanen sind in dieser Lesart zumeist „kommunistische Etappenbanditen", feige Attentäter, heimtückische Heckenschützen und ähnliches mehr 1 . Die patriotischen Motive ihres Verhaltens im Zuge der Partisanenbekämpfung, die sich zahlreiche ehemalige Wehrmachtsoldaten auch nach über 50 Jahren selbst zurechnen, werden mit gleicher Hartnäckigkeit denen abgesprochen, die ihr Land von einer zerstörerischen Okkupationsmacht befreien wollten 2 . Keinesfalls kann der Kampf der Wehrmacht an der Front aus dem größeren Kontext der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft herausgelöst werden, die die Massenvernichtung zum Programm erhoben hatte 3 . In allen nationalsozialistisch besetzten Staaten Europas haben daher im Laufe des Zweiten Weltkriegs Teile der Bevölkerung den Entschluß gefaßt, sich der Besatzungsmacht zu widersetzen - sei es mittels politischer oder propagandistischer Aktion, Obstruktion, Sabotage oder Verweigerung der Zusammenarbeit. Ein Teil wiederum hat im Untergrund zu den Waffen gegriffen oder sich in Partisanengruppen organisiert. So heterogenen Motiven und Zwangslagen sie im einzelnen auch verpflichtet waren, dürften im Jahre 1944 mehr als 1,5 Millionen Menschen militärisch mobilisiert gewesen sein. Den Formen dieses anti-natio-
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Die Leserbriefspalten deutscher Tageszeitungen der letzten beiden Jahre haben hier erstaunliche Kontinuitäten zu Tage gebracht. A m verbreitetsten ist das Argument der „legitimen N o t w e h r " . Als Gegenbeispiel zu einer solchen Haltung sei hier nur auf den autobiographisch geprägten Essay - eine Suche nach dem Menschen im ehemaligen Kriegsgegner - Revelli, Vermißte, verwiesen. V o m angeblich völkerrechtswidrigen Kampf der Partisanen, die die Haager Landkriegsordnung nicht beachtet hätten, zu sprechen, ist jedoch eine Verdrehung von Ursache und Folge: Die Landkriegsordnung verlangte insbesondere einen korrekten U m g a n g der Besatzungsmacht mit der Zivilbevölkerung, den der nationalsozialistische Staat sowohl intentional wie real von Beginn an nicht eingehalten hat. Erst die völkerrechtswidrige Form der Besatzungsherrschaft hat zu einem Widerstand geführt, den als „völkerrechtswidrig" zu bezeichnen die unglaubliche Zumutung bedeutet, noch nachträglich von der Bevölkerung der NS-besetzten Gebiete zu verlangen, daß sie sich hätte wehrlos abschlachten lassen müssen.
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Lutz Klinkhammer
nalsozialistischen Widerstands ist in der bundesrepublikanischen Historiographie nur geringe Aufmerksamkeit zuteil geworden. Die Legendenbildung, die auf Seite der Widerstandsbewegungen in der Nachkriegszeit stattfand - auf die später noch näher einzugehen ist - hat dieses Ausblenden erleichtert. Man sollte jedoch nicht unterschätzen, daß eine Debatte, die sich fast ausschließlich um die deutsche Seite - und kaum um deren Widerpart - dreht, auch eine Einseitigkeit der historischen Perspektive bedeutet und die damalige Mißachtung des Feindes in veränderter Form in den historiographischen Diskurs überführt. In der Diskussion um eine massenhafte Verstrickung von WehrmachtAngehörigen in die Verbrechen des NS-Regimes sollte die Beurteilung des Partisanenkriegs einen besonderen Stellenwert einnehmen. Allerdings erscheint es schon schwierig, das Thema genauer zu fassen. So wurde in letzter Zeit der nationalsozialistische „Partisanenkrieg" als eine Art von Synonym für den Massenmord an der Zivilbevölkerung der besetzten Länder und insbesondere für den Mord an den Juden gedeutet: Nach Hannes Heer und Klaus Naumann ist der Partisanenkrieg unter den Vernichtungskrieg zu subsumieren und wie dieser werde er „nicht nur von keiner militärischen Logik bestimmt, sondern [er] folgt den Impulsen einer Politik, die triebgesteuert ist.... Der Angehörige der bewaffneten Macht darf alle die Kriege führen, die er schon immer führen wollte gegen die Frauen, gegen die Juden, gegen Kinder und Greise, gegen die eigene Angst und das eigene Gewissen"4. Da dieser Vollzug des Vernichtungskriegs von Wehrmachtsoldaten und SS-Verbänden gleichermaßen vorgenommen worden sein soll, wird auch eine mentale Homogenität festgestellt: „Die Mannschaftsgrade der Wehrmacht unterschieden sich zu diesem Zeitpunkt [seil, der Judenvernichtung im Jahre 1941] schon nicht mehr von der Mentalität der Himmlertruppe"5. Auch einige der Autoren aus dem Umkreis der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" haben sich zum Ziel gesetzt, die massenhafte Beteiligung von Einheiten der Wehrmacht am Mord an den Juden aufzuzeigen. Die für das europäische Rechtsverständnis nicht unerheblichen Unterschiede zwischen Mitwisserschaft (wie massenhaft und unmittelbar auch immer), verschiedenen Formen der Beihilfe und direkter Täterschaft scheinen dabei in der vagen Kategorie einer „Komplizenschaft" aufgehoben6. Letztere ist als historische Kategorie nur bedingt brauchbar, da sie die Komplexität des 4
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Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 31; wesentlich vorsichtiger hingegen die Einschätzung bei Bonwetsch, Partisanenbekämpfung, S. 110: „Man gewinnt bisweilen den Eindruck, daß der Kampf gegen Partisanen tatsächlich, gemäß Hitlers Äußerung vom 16. Juli 1941, zu einem V o r w a n d f ü r Ausrottungspolitik wurde". Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 30. Die Autoren gehen von einer „weitgeh e n d e ^ ) Einbeziehung der Wehrmacht" in den Genozid aus. So z.B. Safrian, Komplizen, S. 102: Der Beitrag thematisiert Plünderungen durch W e h r machtangehörige, Leichenfledderei an sowjetischen Soldaten, Requirierungen und Vergewaltigungen, die freiwillige Meldung von Soldaten bei Absperrungen von Ghettos, das Zuschauen und Photographieren bei Exekutionen. Die Mordaktionen von Luck und Tarnopol sieht Safrian als Beleg dafür, daß die SS-Sonderkommandos versuchten, die Wehrmachtsoldaten „in die Durchführung der Morde miteinzubeziehen".
Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941-1944
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grausigen Geschehens reduziert und das Thema der „bystanders" weitgehend ausblendet. Auffällig ist außerdem, daß bislang fast ausschließlich die Geschehnisse des ersten Kriegsjahres im Osten in den Blick genommen worden sind. Die These vom Partisanenkrieg als Chiffre für den Mord an der Zivilbevölkerung scheint hingegen vor allem für die „Partisanen-Aktionen", die in den Befehlsbereichen der „Höheren SS- und Polizeiführer" überwiegend durch 55und Polizeitruppen durchgeführt wurden, zuzutreffen, wie dies Ruth B. Bim an dem Vorgehen der SS-Kavallerie-Brigade im Raum Pinsk und den Massenmordaktionen des „Höheren SS- und Polizeiführers" in Weißruthenien, v. Gottberg, dargelegt hat7. Was General v. Schenckendorff als „Partisanenbekämpfung" bezeichnete, bedeutete in den Pripjet-Sümpfen einen Massenmord vor allem an der jüdischen Bevölkerung. Auch im Rahmen weiterer „Partisanenbekämpfungsaktionen" wurde die jüdische Einwohnerschaft ganzer Dörfer ermordet oder die Gelegenheit benutzt, bestehende Ghettos zu „liquidieren". In ihrer Berichterstattung haben die Täter allerdings weiterhin zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung unterschieden. Auch die Einsatzgruppenkommandeure gaben getrennte „Erfolgszahlen" für ermordete Juden und Partisanen an8. Der „Partisanenkampf" der SS- und Polizeiverbände scheint mithin kein reiner Tarnbegriff für den Judenmord gewesen zu sein, sondern eher ein Rahmen9, innerhalb dessen der Mord an den Juden begonnen (wie im Fall der PripjetSümpfe, wo ein Sonderbefehl Himmlers vorausgegangen war) oder fortgesetzt werden konnte (wie im Fall der berüchtigten Unternehmen „Hornung" oder „Sumpffieber" 1943) 10 . In der Forschung wird der Partisanenkrieg noch in einen anderen Kontext gestellt, ζ. B. bei Walter Manoschek bei der Deutung der Geschehnisse in Serbien 1941: Dort soll der „Partisanenkrieg" der Wehrmacht vor allem aus der Exekution von sogenannten „Geiseln" bestanden haben, die mit der Pseudorechtfertigung von „Sühnemaßnahmen" begründet wurden11. Die Opfer der „Geiselerschießungen" waren vor allem Juden und Kommunisten 12 . Manoschek sieht
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B i m , Wirklichkeit. Siehe z . B . Wilhelm, Rassenpolitik, S. 2 6 f. Jägers Einsatzkommando 3 gab an, bis Ende Januar 1942 in Litauen 1 3 8 2 7 2 Menschen getötet zu haben. Davon waren 136421 Juden, 1064 angebliche Kommunisten und 56 Partisanen. Stahleckers Einsatzgruppe Α gab 2 4 0 4 1 0 „Exekutierte" an, davon 1044 „Partisanen" und 8359 „Kommunisten". Auch Förster, Unternehmen, S. 159, urteilt: „Bei der .Befriedung der Prypec-Sümpfe', die die Waffen-SS in zwei Phasen durchführte, ging es eben nicht nur um die Niederwerfung regulärer sowjetischer Einheiten und Bekämpfung von Partisanengruppen, sondern auch um die Ermordung der jüdischen Bevölkerung". Auf die Problematik des - nicht selten feindseligen - Verhaltens, das vor allem nationalistische Partisanenbewegungen einzelnen Widerstand leistenden Juden, die in Widerstandsgruppen aufgenommen werden wollten, entgegenbrachten, kann hier nicht eingegangen werden. Im späteren Verlauf des Krieges befand sich aber eine Reihe von sowjetischen oder polnischen Juden im Widerstand, so daß die Verfolgung von Partisanengruppen in diesem Fall mit der Verfolgung der Juden einherging. D o c h auch innerhalb dieser Gruppen unterschieden die SiPo- und SD-Dienststellen weiterhin zwischen jüdischen und nichtjüdischen „Banden"; siehe dazu Kwiet, Juden. Manoschek, „Serbien ist judenfrei"; sowie der Aufsatz Manoscheks mit dem bezeichnenden Titel Partisanenkrieg und Genozid. So schon Browning, Wehrmacht.
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darin die bewußte Vorwegnahme der „Endlösung" 13 , wobei den Erschießungen jüdische Männer zum Opfer fielen, während die Ermordung von Frauen und Kindern einige Monate später das Werk der SiPo- und SD-Organisation war. Waren die als „Sühnemaßnahmen" bezeichneten Massenerschießungen in Serbien 1941/42 aber bereits die gesamte Realität dieses „Partisanenkriegs"? Manoschek spricht auch von der „Aufnahme des Angriffskampfes" gegen die Partisanen und meint damit die Aufstellung von sogenannten „Jagdkommandos", die aus je 30-50 Soldaten unter Führung eines Offiziers bestanden, denen Angehörige von Polizei, SD, landeseigener Gendarmerie und Dolmetscher zugeteilt werden sollten14. Die Aktivitäten dieser Jagdkommandos, die nicht nur in Serbien bestanden, sondern ein Charakteristikum aller militärverwalteten Gebiete, sind bisher noch nicht detaillierter untersucht worden. Lenkt man den Blick über die Attentate und Sabotageakte in Serbien 1941/42 hinaus auf das übrige besetzte Jugoslawien, so läßt sich feststellen, daß vor allem auf dem Territorium des Ustascha-Staats noch ein ganz anderer Partisanenkrieg stattfand, der umfangreiche deutsche Kräfte militärisch band, wobei in Einzelfällen bis zu fünf deutsche Divisionen gegen die Partisanen eingesetzt wurden15. Dieser Kampf gegen die Partisanen bestand von seiner Genese her in einer Reaktion auf eine militärische Herausforderung, die von deutscher Seite als Bedrohung erfahren wurde. Das deutsche Vorgehen gegen diese Bedrohung richtete sich allerdings potentiell gegen die gesamte Zivilbevölkerung in solchen Gebieten, in denen sich militärische Widerstandsgruppen aufhielten und Angriffe auf die Besatzungsmacht und ihre Helfer unternahmen. Wie sah dieser Partisanenkrieg der Wehrmacht (und der Waffen-SS) im einzelnen aus? Gingen die Wehrmachtverbände analog zu den Einheiten der SS- und Polizeiführer vor, wie dies bei Hannes Heer und Klaus Naumann angeklungen war? Oder gab es Unterschiede in Selbstverständnis und Vorgehensweise der Truppen? Machte es einen Unterschied, ob die „Partisanenjagd" im rückwärtigen Heeresgebiet, im rückwärtigen Armeegebiet, im Operationsgebiet oder in der Hauptkampflinie stattfand, ob sie in die Zuständigkeit von Militärkommandanturstäben, von Korücks oder von Armeeoberkommandos fiel? Welche Bedeutung hatte die Zusammensetzung der Verbände zur Partisanenbekämpfung? War es unerheblich, ob diese aus Fronttruppen, aus Sicherungsdivisionen, aus Sicherungsverbänden der Militärkommandanturen, aus „Jagdkommandos" bestand? Was bedeutete es, wenn die Partisanenbekämpfung von „gemischten" Verbänden, also neben Wehrmachteinheiten auch durch Gendarmerie, Ordnungspolizei, Sicherheitspolizei, landeseigene oder kollaborierende Hilfstruppen oder deutsche Strafbataillone erfolgte? Spielte es eine Rolle, unter welchem Oberbefehl (Wehrmacht oder SS) sie bei „gemischten" Operationen stand?
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Manoschek, Serbien, S. 169ff., bes. S. 1 7 8 f . u . S . 194 f. mit sehr weitgehenden Schlußfolgerungen. Ders., Partisanenkrieg, S. 150. F ü r eine aus der Partisanenperspektive verfaßte, in deutscher Sprache vorliegende Darstellung siehe Strugar, Volksbefreiungskrieg. Ü b e r die italienische Besatzungspolitik in Jugoslawien - und die Partisanenkämpfe der italienischen Armee - fehlt es nahezu vollständig an wissenschaftlichen Studien.
Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1 9 4 1 - 1 9 4 4
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Dieser Partisanenkrieg der Wehrmacht, der als bewaffnete Reaktion auf eine militärisch interpretierte Bedrohung in Gang gesetzt wurde, ist im wesentlichen ein „phantom war" geblieben 16 . Über ihn wurde kaum etwas Präzises bekannt, außer der Tatsache, daß es in diesem Rahmen zu zahlreichen Massakern an Zivilisten kam: unklar ist die Zahl der Partisanen, die sich auf gegnerischer Seite formierten; unklar die Zahl der deutschen Truppen, die gegen diesen Feind zum Einsatz kamen; unklar sind die Verluste, die der Kampf (?) bei den Partisanen bzw. bei den deutschen Truppen verursacht hat; unsicher die Angaben über die Zahl der hingemordeten Zivilisten, über den Verlauf der Aktionen, sowie über die beteiligten Einheiten, das Verhalten einzelner Verbände und ihrer Kommandeure. Dabei wird im folgenden Teil (II.) zu zeigen sein, daß neben den Deformationen, die durch propagandistische und psychologische Kriegführung entstanden sind, insbesondere die Feststellung von Opferzahlen auf beiden Seiten auf so erhebliche Quellenprobleme stößt, daß es schwierig ist, zu einer genaueren Aussage zu gelangen. Dennoch lassen sich bestimmte Muster der Kriegführung erkennen, die Uberlegungen zur Realität des Partisanenkriegs ermöglichen (III.). Dabei zeigt sich, daß die Wehrmacht militärisch an diesem Partisanenkrieg gescheitert ist (IV.), und daß die Formen der Kampfführung gegenüber den Partisanen von bestimmten kulturellen Mustern geprägt waren (V.).
II. „Phantom war" Besonders auffällig sind die Stereotypen, mit denen die jeweils andere Seite im Partisanenkrieg charakterisiert wurde und wird. Von deutscher Seite wurden die „barbarischen Kampfmethoden" des Gegners angeprangert: Verstümmelungen, Quälereien, Heimtücke. Als Pendant dazu wirft die Partisanenliteratur den Deutschen unglaubliche Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung vor: schwangeren Frauen den Leib aufgeschlitzt zu haben, Babies in die Luft geworfen und wie Tontauben abgeschossen, Pfählungen an Kindern vorgenommen zu haben usw. Jede Partei nimmt für sich wiederum in Anspruch, selbst keine Grausamkeiten begangen zu haben. Schaut man auf das von Alfred De Zayas gesammelte Material, so ist bei Aussagen über vermeintliche Verstümmelungen an deutschen Soldaten von einer hohen Irrtumswahrscheinlichkeit bei gerichtsmedizinisch ungeschulten Beobachtern, und darunter zählen selbst Sanitäter, auszugehen 17 . Auch die Gegenseite hat zur Vorsicht gemahnt: zum Beispiel hat ein italienischer Autor nach der Detailanalyse des deutschen Massakers von Marzabotto, wo das größte und wohl auch brutalste Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung stattfand, die Ansicht vertreten, daß die der Waffen-SS zugeschriebenen Bestialitäten - wie das Aufschlitzen des Unterleibs von
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Der Begriff „phantom war" stammt von Cooper, War. Ich verwende ihn in einer etwas anderen Bedeutung. De Zayas, Wehrmachtuntersuchungsstelle, S. 133 ff. Ein Beispiel für die Erfindung einer angeblichen russischen Greueltat durch deutsche Militärs wird detailliert geschildert bei Safrian, Komplizen, S. 95-97.
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schwangeren Frauen - zumindest in diesem Fall nicht vorgekommen seien18. Damit soll nicht gesagt sein, daß es nicht zu extremen Grausamkeiten gekommen ist, aber die fast stereotyp zu nennende Häufigkeit, mit der auf solche Geschehnisse verwiesen wird, scheint mir eher auf psychologische Kriegführung zu verweisen: Die Dämonisierung des Feindes wurde durch die Propaganda ebenso intensiviert wie durch die, für Kriegszeiten typischen, Angst- und Verleumdungsgerüchte. Die Enthumanisierung des Gegners war gleichzeitig eine der Voraussetzungen für die Barbarisierung der Kämpfer. Die Frage nach realen oder fiktiven Greueltaten harrt einer genaueren Untersuchung. Dabei ist davon auszugehen, daß es vor den gemeldeten Greueln bereits die Greuelpropaganda gab. Die Legende vom grausamen „asiatischen Kämpfer" wurde vor dem deutschen Uberfall auf die Sowjetunion geschaffen: „Gegenüber allen Angehörigen der Roten Armee - auch den Gefangenen ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Achtsamkeit geboten, da mit heimtückischer Kampfesweise zu rechnen ist. Besonders die asiatischen Soldaten der Roten Armee sind undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos" 19 . Aus den Aufrufen der Kommunistischen Parteiführung, die Okkupanten „mit allem zu töten, was man zur Hand" habe und dabei „beliebige Mittel" anzuwenden20, ist - abgesehen davon, daß die Bevölkerung dem keineswegs bereitwillig Folge leistete - wohl keine Aufforderung zur Verstümmelung und Folterung gefangener deutscher Soldaten herauszulesen21. Daß die Partisanen kaum Gefangene machten, steht außer Frage22; aber die von den deutschen Soldaten internalisierten Vorstellungen sowjetischer Greuel erscheinen eher als Feindbildstereotypen oder gar als propagandistische Ausflucht vor den realen Greueltaten der eigenen Seite. Die siegreichen Partisanenbewegungen schufen ihrerseits schon bald nach Kriegsende die Legende von der überwältigenden militärischen Kraft und politischen Geschlossenheit des „Volkskriegs". In den Ostblockländern wurde dabei die Kommunistische Bewegung zum alleinigen Befreier hochstilisiert, dem „proletarischen Internationalismus" des Befreiungskampfs gehuldigt, nationalistische Widerstandsgruppen als Verräter gebrandmarkt oder gar politisch verfolgt. Überall jedoch wurde den Partisanen ein erheblicher Anteil an der Niederlage der deutschen Truppen beigemessen. Belegt wurde die Sieges-
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Zanini, Marzabotto. Besondere Anordnungen N r . 1 zur Weisung N r . 21 (Fall Barbarossa) des O K W / A b t e i lung Landesverteidigung/Anlage 3: Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland, 19. 5. 1941, B A - M A , R W 4, Bd. 524, zit. n. Longerich, Vernichtung, S. 136. Zit. n. Hoffmann, Kriegführung, S. 756. Die einzige diesbezügliche Angabe, die Hoffmann anführt, ist die angebliche Aussage eines von der G F P - G r u p p e 726 verhörten (wie?) sowjetischen Partisan, die im Bericht der G F P - G r u p p e wiedergegeben wird: Deutsche Soldaten oder Verwundete seien „vor der Erschießung durch Verstümmelung zu quälen", Hoffmann, Kriegführung, S. 756. Hier sei nur angemerkt, daß in Italien relativ häufig deutsche Soldaten, die von den Partisanen gefangengenommen worden waren, wieder entfliehen konnten und hinterher die eigenen Truppen gegen die Verstecke der Partisanen führten. Außerdem wurden als Uberläufer getarnte Soldaten eingesetzt, um die Stellungen der Partisanen auszuspionieren und sich im geeigneten Moment wieder abzusetzen.
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rhetorik mit völlig übertriebenen Angaben über den Umfang und die Geschlossenheit der Partisanenbewegung einerseits und über die deutschen Verluste andererseits. So sollen laut sowjetischen Angaben 1,5 Millionen Deutsche und Kollaborateure im Partisanenkrieg getötet oder kampfunfähig gemacht worden sein 23 . Demgegenüber hat Alfred Jodl in Nürnberg daran gezweifelt, daß die Zahl der deutschen Verluste im Partisanenkrieg 50000 überstiegen habe 24 . Ähnlich übersteigert wurden auch die Zahlen für die Partisanenarmeen selbst. O f t wurden dabei Zahlen als Minimum zugrunde gelegt, die erst bei Kriegsende erreicht worden waren und nicht selten wurden auch diese noch um ein Mehrfaches erhöht 25 . Matthew Cooper kam angesichts der Diskrepanzen bezüglich der Verlustzahlen zu dem Ergebnis, daß der Partisanenkrieg als „phantom war" zu bezeichnen sei: „appearing to possess immense form but, in reality, having little substance" 2 6 . Haben also die Autoren recht, die meinen, beim Partisanenkrieg habe es sich ausschließlich um Massaker von Zivilisten gehandelt? U m eine Art von Einübung der Soldaten in das gefahrlose Töten des Gegners 2 7 ? Es ist durchaus problematisch, vorschnell auf eine „little substance" dieses Krieges zu schließen. Erst eine genaue Verlaufsschilderung kann dies erweisen. Schließlich lassen auch übertriebene Zahlenangaben auf reale Vorgänge schließen, und eine geringere Opferzahl sagt noch nichts über die Brutalität dieses „Krieges" aus. Auch sind die Verlustzahlen in Relation zu den sonstigen Kriegsverlusten in den jeweiligen Ländern zu stellen und danach zu bewerten. U n d schließlich sollte auch nach dem symbolischen und politischen Stellenwert der Ereignisse gefragt werden. Wenn von „phantom war" gesprochen wird, so ist damit nicht gemeint, daß es diesen Krieg nicht gegeben hätte. Es ist jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig, darüber genauere Aussagen zu treffen. U m über den Charakter etwaiger Kampfhandlungen im Partisanenkrieg etwas aussagen zu können, sollte man als Minimalerfordernis die beiderseitigen Verluste ermitteln können. Schon dies erweist sich als schwierig. Denn es gibt nur grobe Schätzungen, die zum Teil erheblich voneinander abweichen.
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Bonwetsch, Partisanen, S. 111. Laut C o o p e r will die sowjetische Seite eine Million deutscher Soldaten im Partisanenkrieg getötet haben, Cooper, War, S. VIII f. Ebd. Zu Legende und Wirklichkeit des Umfangs der sowjetischen Partisanenbewegung siehe Bonwetsch, Partisanen, S. 98 ff.- Was Italien angeht, so wird in Kühnrichs Gesamtdarstellung des Partisanenkriegs in Europa die Zahl der italienischen Partisanen mit 462 000 angegeben, Kühnrich, Partisanenkrieg, S. 537. Diese Zahl ist das Doppelte der Maximalzahlen, die bei Kriegsende, im April 1945, erreicht worden sein mag. Bis zum Juni 1944 betrug die Zahl der Partisanen deutlich weniger als 100000 Mann. Cooper, War, S. IX. Allerdings trägt C o o p e r in seinem Buch kaum zur Aufhellung der „substance" bei, da er bei den Detailrekonstruktionen der beiden letzten Kapitel im wesentlichen die Studie von Armstrong zusammenfaßt. So H e e r / N a u m a n n (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 31: „Die Verfolgungsjagden und Massaker des Partisanenkrieges folgten einer Schlachtordnung, bei der ... der Sieger von vornherein feststand. ... Daher wurde diese F o r m des Tötens, ohne getötet zu werden, sehr bald zum feststehenden Bestandteil der Rekrutenausbildung. Bevor die jungen Soldaten an die Front geschickt wurden, durften sie dem T o d in seiner triumphierenden Gestalt begegnen". - O b die im Partisanenkrieg eingesetzten Einheiten aus jüngeren oder älteren Soldaten bestanden, müßte erst noch untersucht werden.
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Betrachtet man die Zahl der getöteten Partisanen (im Sinne von Kämpfern), so liegt diese nach Mulligan für Weißrußland bei etwa 25 000 28 . Die deutschen Verluste im Partisanenkrieg in der Sowjetunion wurden von amerikanischen Autoren auf 35 000 Tote geschätzt, von denen die Hälfte Hilfsverbänden zuzurechnen seien. Danach kann man von etwa 18000 toten deutschen Soldaten im Partisanenkrieg ausgehen, von denen der größere Teil Eisenbahnüberfällen, Minen, Entgleisungen von Zügen usw. zum Opfer gefallen sein dürfte29. Für den westlichen Kriegsschauplatz sieht es kaum besser aus. Uber die Zahl der in Italien von Partisanen getöteten deutschen Soldaten hat Kesselring in seinen Memoiren eine entsprechend überhöhte Angabe gemacht, mit der er seine eigene brutale Politik zu entlasten versuchte. Bei getöteten italienischen Partisanen kann bislang kaum festgestellt werden, ob sie Opfer deutscher Repression wurden, durch den inneritalienischen Bürgerkrieg oder durch sonstige Kriegseinwirkungen ums Leben kamen30. Wieviel Zivilisten im Rahmen von Partisanenbekämpfungen umgekommen sind, ist nach Meinung von T. Schulte und B. Bonwetsch für die Sowjetunion völlig unklar31. Für den östlichen Kriegsschauplatz ist man daher im Grunde auf den Vergleich zwischen den Volkszählungen der Vorkriegs- und Nachkriegszeit angewiesen, um die Kriegsverluste über die Differenz zu bestimmen. Auch hier kommt das Problem hinzu, daß die Todesfälle nicht allein auf die deutsche Besatzungsherrschaft zurückgehen, sondern der Bürgerkrieg in vielen Staaten zu weiterem Blutvergießen führte: Im Falle Jugoslawiens ist auch der Völkermord der kroatischen Ustascha an den Serben zu berücksichtigen. In Griechenland fanden nicht nur 21000 Bürger durch deutsche „Vergeltungsmaßnahmen" den Tod, 9000 sollen durch italienische Racheakte und 40000 durch Repressalien der Bulgaren ums Leben gekommen sein32 - ohne von den deutschen Deportationen und den Opfern der Hungersnot zu sprechen, die durch die italienische Besatzungsmacht mitverursacht wurde. In Italien dürften - außer den Partisanen - vermutlich 10000 Zivilisten (überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen) durch Einheiten der Besatzungsstreitkräfte ums Leben gekommen sein. Die meisten der durch die Besatzungsmacht getöteten französischen Zivilisten (die Zahl der Deportierten wird auf 139000 beziffert) waren das Opfer von „Geiselerschießungen". In einer französischen Aufzeichnung vom Dezember 1945 wird von etwa 30000 Opfern ausgegangen33.
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So Schulte, Army, S. 119, der sich wiederum beruft auf Mulligan, Cost. Schulte, Army, S. 119, unter Bezug auf die Studie von Armstrong. - Es würde einen beträchtlichen Aufwand bedeuten, aber es wäre immerhin möglich, diese Zahlen über die Verlustlisten bei der Deutschen Dienststelle in Berlin genau festzustellen. Immerhin liegt für die Provinz Cuneo eine bislang ungedruckte Aufstellung über die Todesursachen der in der Provinz getöteten Partisanen vor, die eine wichtige Basis für weitere Forschungen darstellt. Schulte, Army, S. 119; Bonwetsch, Partisanenbekämpfung, S. 110 (Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung auch nicht annähernd zu ermitteln) u. S. 112 (zu den Opfern der deutschen Partisanenbekämpfung liegen keine Zahlen vor, die Verluste unter der Zivilbevölkerung seien jedoch vermutlich höher gewesen als unter den Partisanen). Bailey, Partisanenkrieg, S. 165. Beweisstück R F - 2 6 6 bei den Nürnberger Prozessen, IMT, 37, Dok. 4 2 0 - F , S. 211 f.
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Damit stellt sich das Problem der Ermittlung von Detailzahlen. Viele der bisher genannten Angaben sind Schätzungen, die sich aus einer Reihe von Einzelangaben zusammensetzen, die ihrerseits wieder überprüft werden müßten. Um die Frage beantworten zu können, wie die „Bekämpfung" der Partisanen ablief und um auf eine genauere Grundlage über die Opfer der deutschen Partisanenbekämpfung zu gelangen, muß man sich daher auf die Ebene der Einzelaktionen begeben. Als Minimalerfordernis stellt sich auch hier die Aufgabe, Zahl und Identität der getöteten Partisanen wie Zivilisten festzustellen, ferner die deutschen Einheiten, die für Tötungshandlungen verantwortlich waren sowie Zahl und Identität der im Partisanenkampf oder bei Attentaten umgekommenen deutschen Soldaten. Dabei stellen sich erhebliche Quellenprobleme, für die im Folgenden einige Beispiele genannt werden, die jedoch nur die Spitze des Eisbergs darstellen: In der Nähe von Bologna war im Mai 1944 eine Partisanengruppe aktiv, die die Aufmerksamkeit der Militärkommandantur und deutscher Jagdkommandos auf sich zog. In einer neueren deutschen Darstellung wird eine deutsche Auskämmungsaktion wie folgt geschildert: „Einen Partisanenüberfall auf eine Kaserne der Carabinieri in Marzabotto beantworten deutsche Einheiten und italienische Miliz mit einer großangelegten Razzia im Gebiet von Grizzana und Marzabotto. Es kommt zum Kampf, der sich über 15 Stunden hinzieht, am Ende haben die Deutschen angeblich 554 Gefallene und 630 Verwundete zu beklagen, die Partisanen hingegen nur zwei Tote und drei Verletzte. Die Vergeltungsmaßnahme der Deutschen dauert länger. Drei Tage lang wüten sie in den Bergen, 52 Gehöfte und Ansiedlungen werden niedergebrannt, zehn Zivilisten getötet"34. Hier wird das vorhandene italienische Schrifttum zu einem völlig entstellten Bild verbunden. Daß die deutschen Truppen die hohe Zahl von 554 Gefallenen und 630 Verwundeten zu beklagen gehabt haben sollen, die Partisanen nur zwei Tote und drei Verletzte, ist dem Verfasser keine Überlegung zur Zuverlässigkeit seiner Quelle wert: In letzterer steht außerdem, daß die Organisation Todt drei Tage damit beschäftigt gewesen sein soll, Tote und Verletzte abzutransportieren. Zudem werden verschiedene Geschehnisse, die Monate später und an anderen Orten stattfanden, in der Darstellung so mit dem Vorhergehenden verbunden, daß man den Eindruck erhalten muß, es habe sich um eine langgezogene deutsche Racheaktion auf eine vernichtende Niederlage gehandelt. Der Verfasser ist der Legende aufgesessen, die die italienische Partisanenbewegung noch 1944 geschaffen hat. Die stundenlange Schlacht und die angeblichen deutschen Verluste wurden noch im Herbst 1944 vom Partisanenoberkommando für die Provinz Emilia-Romagna publiziert - nicht zuletzt handelte es sich dabei um Meldungen, mit denen psychologische Kriegführung betrieben und die Anhänger zum Kämpfen und Durchhalten stimuliert werden sollten. In Wirklichkeit hatte die deutsche Seite bei der „Auskämmungsaktion" einen Toten und zwei Verwundete zu beklagen. Repressaltötungen fanden nicht statt. Auch der Grund für das Aktivwerden der deutschen Truppen war ein anderer:
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Die beiden großangelegten Auskämmungsaktionen, bei denen zuerst 400, dann 700 Mann zum Einsatz kamen, waren durchgeführt worden, weil fünf Soldaten beim Milchholen von Partisanen gefangengenommen worden waren. Die Truppe war anschließend bemüht, die Partisanen zu fassen - was nicht gelang und die Zivilbevölkerung, die keineswegs mit den Partisanen gleichgesetzt wurde, möglichst zu schonen - was ebenfalls nicht ganz gelang35. Daß Angaben, die die Partisanen über die Kämpfe und über die Verluste bei den deutschen Truppen gemacht haben, generell problematisch sind, zeigt sich auch an einem französischen Beispiel, den Kämpfen von Mont-Mouchet im Juni 1944: Nach der klassischen Histoire de la Resistance von Henri Michel verloren die deutschen Truppen in zweitägigem Kampf 1000 Soldaten. Und bei jeder weiteren Gedenkfeier stieg die Zahl der ausgeschalteten deutschen Soldaten beträchtlich an 36 . Schon Eberhard Jäckel hat seinerzeit die französischen Zahlen in Frage gestellt und auf das entsprechende deutsche Kriegstagebuch verwiesen: Dort wird für die eigene Seite eine Zahl von 20 Toten und 60 Verwundeten genannt 37 . Auch alliierte Akten stellen hier nicht unbedingt eine zuverlässigere Quelle dar, da sie vor übertriebenen Angaben ebensowenig gefeit waren: Alliierte Verbindungsoffiziere haben Zahlenangaben, die ihnen von Partisanenkommandos berichtet wurden, als glaubhaft weitergemeldet38. Es handelt sich bei solchen Falschangaben um ein generelles Problem: Die Zahlen der getöteten Feinde wurden häufig noch während der Kriegshandlungen in Umlauf gebracht und als psychologisches Kampfmittel benutzt. Später hat man die Feindzahlen massiv erhöht, um der Partisanenbewegung in der Nachkriegspolitik ein stärkeres Ansehen zu verschaffen. So war es weitgehend üblich, daß die Zahl der deutschen Truppen, die an Partisanenbekämpfungsunternehmen beteiligt waren, von der Partisanenliteratur (und von Autoren, die diese Angaben ungeprüft übernommen haben) um das Zehn- bis Zwanzigfache aufgestockt wurden. Oft läßt sich dies nur in mühsamer Detailarbeit über die deutschen Quellen feststellen. Die am Partisanenkampf beteiligten deutschen Verbände, die deutschen Verluste sowie die Verluste der kollaborierenden Hilfsverbände können nur aus NS-Quellen (oder aus Akten der Kollaborationsregime) rekonstruiert werden. Die Widerstandsliteratur ist für diese Frage weitgehend unbrauchbar. Diese Feststellung gilt aber auch im umgekehrten Fall: Geht es darum, die Verluste der Partisanen bzw. die der einheimischen Zivilbevölkerung zu beziffern, so sind die NS-Quellen häufig ebenso fragwürdig. Drei Hauptfehlerquellen sind dabei auszumachen: nach Augenschein gemeldete „body counts", Ubermittlungsfehler und bewußte Ubertreibungen. Auch hierfür nur wenige Beispiele, die sich beliebig erweitern ließen: Im Fall von Mont-Mouchet ζ. B. gibt 35
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Das Vorgehen der deutschen Truppen wird näher geschildert bei Klinkhammer, Stragi, S. 109 ff. Zur Problematik dieser Partisanengeschichtsschreibung sehr kritisch Nogueres/Degliame-Fouche, Histoire, 5, S. 140 f. Jäckel, Frankreich. In Griechenland sollen statt der von den Partisanen gemeldeten 5000 deutschen Soldaten 1944 „höchstens ein paar Dutzend" gefangengenommen oder verwundet worden sein, Woodhouse, Geschichte, S. 139.
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das deutsche Kriegstagebuch die summarische Zahl von 300 Toten und ebensovielen Verwundeten auf Seiten der Partisanen an. Neuere französische Forschungen haben die Partisanenverluste jedoch auf 160 Tote und 80 Verwundete eingeschränkt 39 . An der ligurischen Küste ging die Festungsbrigade 135 Anfang August 1944 gegen eine Gruppe von angeblich 3000 Partisanen vor, die sich im Hinterland von La Spezia aufhielt. Dabei sollen laut deutscher Meldung 630 Menschen getötet worden sein. Oberbefehlshaber Kesselring sprach der Festungsbrigade für diesen „schönen Erfolg" seine „besondere Anerkennung" aus 40 . Abgesehen davon, daß schon einen Monat später der Raum erneut als „Bandengebiet" klassifiziert wurde, der militärische Erfolg also gering war, ist in der italienischen Literatur von einer so großen Zahl von Opfern nichts bekannt. Die deutschen Zahlen, die an die militärische Führung gemeldet wurden, beruhten wohl auf einem Irrtum. Womöglich wurden 36 Feindtote auf dem telefonischen Ubermittlungswege als 630 Feindtote mißverstanden. Nachdem Kesselring die Festungsbrigade zu dem „schönen Erfolg" beglückwünscht hatte, dürfte niemand es mehr für opportun erachtet haben, die Zahlen zu korrigieren. Daneben gab es in der deutschen Berichterstattung aber auch Fälle bewußter Fälschung oder grob übertriebener Schätzungen bei den Angaben über die Feindtoten. Die Aufklärungsabteilung der Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring", die sich eine Reihe von Massakern an Zivilisten hat zuschulden kommen lassen, hat in einem Fall die dreifache Zahl von Feindtoten gemeldet. Ein Irrtum kann hier kaum vorgelegen haben. Selbst summarische Angaben hätten nicht zu einer solchen Abweichung geführt. Hier dürfte es sich um bewußte Ubertreibung gehandelt haben - mit dem leicht durchschaubaren Ziel einer Belobigung oder Beförderung 41 . Die Verfälschung und Verzerrung von Zahlenangaben war aber nicht nur ein Problem des italienischen Kriegsschauplatzes. Auch Truman Anderson verweist für das „Heeresgebiet Süd" darauf, daß eine endgültige Antwort über den Umfang der deutschen Repressalien einer Sichtung russischer wie ukrainischer Quellen bedarf 42 . Eine Überprüfung der Zivilstandsregister dürfte für den osteuropäischen Raum aber noch schwieriger sein als es für den westeuropäischen ohnehin schon ist. Für das von Partisanenangriffen besonders stark betroffene „Heeresgebiet Mitte" wird vielfach auf eine Meldung verwiesen, die besagt, daß in den ersten 11 Kriegsmonaten bis Mai 1942 etwa 80000 „Partisanen" getötet worden seien 43 . Bernd Wegner hat zurecht darauf hingewiesen, daß diese Zahl in krassem Gegensatz zu den eigenen Verlusten stand und die Zahl der kampf-
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Nogueres/Degliame-Fouche, Histoire, S. 144 f., unter Bezug auf Levy/Cordet. Kesselring FS 5 7 1 2 , 1 2 . 8. 1944, an A O K 10, B A - M A , R H 2 0 - 1 0 , Bd. 147, Anl. 272. Dazu Klinkhammer, Stragi, S. 81 ff. Anderson, 62. Infanterie-Division, S. 3 1 1 . Anderson hält die Angaben über die Repressalien des Jahres 1941 im Operationsbereich der 62. Infanterie-Division („Heeresgebiet Süd") schon deshalb für zuverlässig, weil die Truppe ermutigt worden sei, Repressalien an Zivilisten zu melden. Dies spricht allerdings noch nicht für eine besondere Genauigkeit der Meldungen. Wegner, Partisanenkrieg, S. 9 1 7 (unter Verweis auf Mulligan); siehe auch Schulte, Wehrmacht, S.172 (unter Verweis auf J. Förster).
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bereiten Partisanen in diesem Raum bei weitem überstieg 44 . Am 6. Februar 1943 meldete das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte dem O K H , daß „erstmalig die Zahl von 100000 erledigten Banditen überschritten worden sei" 4 5 . Auch diese Angabe bezieht sich auf die Zeit seit Kriegsbeginn. Das hieße, daß zwischen Mai 1942 und Januar 1943 20000 „Partisanen" getötet worden wären - also eine Reduktion im Vergleich zum ersten Berichtszeitraum, obwohl in der zweiten Jahreshälfte 1942 eine Reihe von deutschen Großaktionen gegen die Partisanen durchgeführt wurden, die jedesmal den Tod von Tausenden von Menschen verursacht haben sollen. Es ist offensichtlich, daß mindestens eine der beiden Gesamtangaben nicht stimmen kann. Bei einer Rekonstruktion von Aktionen gegen Partisanengruppen können daher auch die deutschen Quellen - sofern es solche gibt - nur bedingt als zuverlässig angesehen werden. Dies zeigt sich auch im Fall der sogenannten „Bandenlagekarten": Die Informationen über die Partisanengefahr, die die Armeeoberkommandos und Armeekorps erhielten, beruhten - in Italien wiederum, das aber kein Ausnahmefall gewesen sein dürfte - oft auf Mitteilungen der Polizeibehörden der faschistischen Kollaborationsregierung. Diese wiederum gaben regelmäßig übertriebene Angaben über die in ihrem Raum operierenden Partisanen weiter, die um das Zehnfache über der tatsächlichen Stärke der Partisanen lagen. Damit sollte die eigene Ohnmacht und Unfähigkeit, diesem Widerstand Herr zu werden, bemäntelt werden. Diese Meldungen hatten die zusätzliche Wirkung, daß sich bei den Soldaten das Gefühl einstellen mußte, es mit einem zahlenmäßig enorm starken Gegner zu tun zu haben. Es gibt daher noch eine weitere Bedeutungsebene, auf der man von „phantom war" sprechen könnte: die psychologische. Auch ohne reale Präsenz stellten die Partisanen für die deutschen Truppen eine omnipräsente Bedrohung dar. Zwischen der subjektiven Wahrnehmung von Seiten der Wehrmachtsoldaten und der objektiven Stärke bzw. Schwäche der Partisanenbewegung klafften Welten. Anders wäre die Dauerhaftigkeit bestimmter, bis heute wirkender Stereotypen auch kaum zu erklären.
III. Überlegungen zur Realität des Partisanenkriegs Die präzise Ermittlung von Opferzahlen ist aber nicht nur eine Frage des Details. Denn auf der Basis der falschen Zahlenangaben wurden von den Zeitgenossen auf allen Seiten die Kämpfe so dargestellt, wie sie der Selbststilisierung des eigenen Handelns am zweckdienlichsten waren. Nicht selten wurden Kämpfe geschildert, die nie stattgefunden hatten: in der Regel, um einerseits vom eigenen Fehlhandeln (nämlich Massakern an Zivilisten) oder auf der anderen Seite vom eigenen Nichthandeln (Flucht der Partisanen unter Zurücklassung der Zivilbevölkerung 46 ) abzulenken.
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Wegner, Partisanenkrieg, S. 917. Ebd., S. 917f. Sehr kritisch gegenüber der Selbststilisierung der Partisanen und der von diesen erfunde-
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Oft läßt sich erst nach einer Überprüfung von kirchlichen Sterberegistern oder Daten von Einwohnermeldeämtern eine genaue Rekonstruktion der Tötungshandlungen vornehmen. In Einzelfällen ist eine solche sicher mühsame Uberprüfung aber durchaus denkbar. So wurde vor einigen Jahren ein Verzeichnis der Zivilisten publiziert, die 1944 auf dem Gebiet der Gemeinde von Marzabotto ermordet worden waren - das größte Massaker an Zivilisten, das von deutschen Verbänden (in diesem Fall überwiegend Verbände der Waffen-SS) in West- bzw. Südeuropa verübt wurde. Mit dem Verzeichnis der Opfer wurde zum einen die jahrzehntelang in der italienischen Öffentlichkeit tradierte Angabe hinfällig, es habe 1836 Opfer gegeben. Zum anderen läßt sich damit auch die Leugnung des Massakers, die in der deutschen Öffentlichkeit immer noch sporadisch anzutreffen ist, als Erbe postnationalsozialistischer Legendenbildung enttarnen. Die Liste der über 770 Opfer enthält die Namen und Geburtsangaben von 213 Kindern unter 13 Jahren 47 . Erwachsene Männer im wehrfähigen Alter fehlen fast völlig in der Liste der Toten. Die Kämpfe, die in Werken der deutschen Erinnerungs- bzw. Verteidigungsliteratur im Detail geschildert werden, haben ebensowenig stattgefunden wie die von den Partisanen in der Nachkriegszeit geschilderten Kampfhandlungen 48 . Die namentliche Liste der Opfer, in der Männer im waffenfähigen Alter weitgehend fehlen, zeigt außerdem, daß die Frauen und Kinder von den Partisanen nicht als „Schutzschild" benutzt worden sein konnten, wie eines der Verteidigungsargumente von Wehrmachtseite meist lautete. Der „Partisanenkrieg" mündete in diesem Fall in einen Massenmord an der Zivilbevölkerung, die sich in den Partisanengebieten aufhielt, während die bewaffneten Partisanen sich den ungleichen Kämpfen wie so oft durch Absetzbewegungen entzogen, um dem Gegner Verluste auch weiterhin aus dem Hinterhalt beizubringen - eine militärisch gesehen durchaus vernünftige Vorgehensweise, die bei den deutschen Soldaten das Gefühl der Ohnmacht und der Bedrohung noch verstärkt haben dürfte. Dennoch kann man nicht sagen, daß der „Partisanenkrieg" als militärische Aktion inexistent gewesen wäre. Zum einen befanden sich die beteiligten Soldaten auch ohne direkte Feindberührung in ständiger Alarmbereitschaft. Es ist auch nicht zu übersehen, daß die „Auskämmungsaktionen" gegen Partisanen als militärische Operation angelegt waren. Die Einsatzbefehle, die Kommandeursbesprechungen, die Einnahme vorgegebener Ausgangsstellungen, der Aufmarsch flankierender Artillerieeinheiten, die Einkesselung des Zielgebiets und das „Zusammenschnüren" des Kessels waren militärische Aktionen, die die Soldaten als solche erfuhren. Ihr Umschlagen in eine Mordaktion war keine Zwangsläufigkeit. Dies ist aber nur dann festzustellen, wenn man eine Vielzahl von „Auskämmungsoperationen" untersucht und herauszufinden versucht, welche davon (und aus welchen
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nen Kämpfe jetzt Pezzino, Anatomia; sowie das Kapitel Pezzinos über das Massaker von Niccioleta, in: Battini/Pezzino, Guerra, S. 31 ff. Marzabotto. Quanti, chi e dove. Zu den angeblichen deutschen Kämpfen im Raum Marzabotto siehe Klinkhammer, Stragi, S. 118 ff. Zur Partisanenversion der Kämpfe bei Marzabotto siehe Lippi, Stella.
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Gründen) in Massaker an Zivilisten mündeten und in welchen Fällen Massaker möglicherweise sogar verhindert werden konnten 49 . Von dieser alltäglichen Realität des Partisanenkriegs ist bislang kaum etwas bekannt. Denn dieser Partisanenkrieg gegen einen häufig unsichtbaren oder verborgenen Feind bestand aus Tausenden von sogenannten „Auskämmungsaktionen" und „Bandenunternehmen", die auch nicht annähernd erforscht sind. Eine systematische Zusammenstellung solcher Operationen und deren detaillierte Schilderung unter Heranziehung von Quellen unterschiedlicher nationaler Provenienz, steht noch aus. Carlo Gentile hat Informationen über 750 solcher „Auskämmungsaktionen" allein für Norditalien gesammelt. Es ist anzunehmen, daß die Antiguerrillaoperationen im sowjetischen und jugoslawischen Raum noch weit zahlreicher waren 50 . In der Forschung wurde meist auf die normative Ebene51 oder auf spektakuläre deutsche Großaktionen verwiesen 52 . Dabei hat man sich vielfach auf den Spuren einer grundlegenden Studie bewegt, die Anfang der sechziger Jahre von der amerikanischen Luftwaffe gefördert worden war 53 . So hat Matthew Cooper in seiner Darstellung deren Ergebnisse über den Raum Bryansk und die Ebene von Polotsk lediglich resümiert. Theo Schuhes Analyse der Korückbereiche der Heeresgruppe Mitte zeigt, daß aus dem gleichen deutschen Aktenbestand auch eine Reihe weiterer kleinerer Operationen gegen die Partisanen herauszulesen sind. Einige der immer wieder zitierten Großaktionen, wie das berüchtigte „Unternehmen Cottbus", haben auch deshalb mehr Spuren in den deutschen Akten hinterlassen, weil sie schon innerhalb der NS-Zivilverwaltung auf Kritik stießen 54 . Es ist jedoch sehr die Frage, ob die Großoperationen - wie das „Unternehmen Schwarz", das im Mai/Juni 1943 in Montenegro stattfand und bei dem mehrere deutsche und italienische Divisionen zum Einsatz kamen, oder das „Unternehmen Hannover" im Raum Yelnya Dorogobuzh, bei dem auf deutscher Seite neun Divisionen und ein Polizeiregiment mit insgesamt 40 000 Mann
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Nach Anderson „gibt [es] viele Beispiele, w o Repressalien unternommen werden konnten, aber unterlassen wurden, ohne daß der verantwortliche Kommandeur von seinen Vorgesetzten kritisiert oder bestraft wurde", Anderson, 62. Infanterie-Division, S. 311. Hannes Heer geht davon aus, daß allein im Juli und August 1942 im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte 30 „Unternehmen" gegen Partisanen durchgeführt worden seien, Heer, Logik, S. 121. Hesse, Partisanenkrieg. Eine Liste solcher Operationen findet sich ζ. B. bei Müller, Okkupationspolitik, S. 79 f. Die Unternehmen im Raum Bryansk und Polotsk sind an verschiedenen Stellen aufgelistet worden. Armstrong (Hrsg.), Partisans. In diesem Band finden sich verschiedene Regionalstudien, in denen Aktionen gegen die Partisanen recht detailliert analysiert werden, wobei die zentrale Quellenbasis - neben sowjetischer Literatur - die Akten der Wehrmacht-Verbände darstellen. Siehe Dokument 135-R der Nürnberger Prozeßakten, IMT, 38, S. 370-375. Dort heißt es unter anderem: „Besonders das Bataillon Dirlewanger ist dafür bekannt, daß es zahlreiche Menschenleben vernichtet. Unter den 5000 Bandenverdächtigen, die erschossen wurden, befinden sich zahlreiche Frauen und Kinder." Zum „Unternehmen Cottbus" siehe auch Auerbach, Einheit, S. 261; Birn, Wirklichkeit, S. 286 (unklar bleibt allerdings, welche Wehrmachtverbände v.Gottberg unterstellt waren) sowie Bonwetsch, Partisanenbekämpfung, S. 112.
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aufgeboten wurden - den Normalfall der Partisanenbekämpfung oder eher die Ausnahme dargestellt haben. Während Norbert Müller davon ausgeht, daß es sich bei den großangelegten Säuberungsunternehmen durchweg um Vernichtungsaktionen gehandelt habe, ist Theo Schulte der Ansicht, daß gerade die Kleinunternehmen in Kompaniestärke (zumindest für den von ihm untersuchten Korück-Bereich) am blutigsten durchgeführt wurden 5 5 . Auch hier stellt sich wiederum die Frage nach der Zuverlässigkeit der Zahlenangaben. So wird im Abschlußbericht der „Operation Schwarz" erwähnt, es habe „mindestens 11-12000 Tote auf Seiten der Partisanen gegeben", davon „ca. 10000 blutige Verluste". Dies sind offensichtlich summarische Angaben. Erst die Informationen über die Verluste auf deutscher Seite zeigen, daß ein militärischer Großkampf stattgefunden hat: 465 Tote, 1554 Verwundete und 281 Vermißte 56 . Daß den Operationen gegen die Partisanen ein erhebliches militärisches Gewicht beigemessen wurde, ist spätestens seit 1942 unübersehbar. Der Krieg gegen die Partisanen wurde zum operativen Novum der Kriegsjahre 1942/43 und zur zentralen Aufgabe der Ic-Offiziere; es kam zur Festlegung von „Bandengebieten", der generalstabsmäßigen Planung von Einsätzen gegen größere Partisanengruppen; der Partisanenkampf wurde Bestandteil der Ausbildung ζ. B. von Gebirgsjägerbataillonen; Muster, Belehrungen und Beispiele operativen Vorgehens gegen die Partisanen wurden an die Truppe weitergegeben. Die Kampfanweisung des Ο KW vom 1. April 1944 (Merkblatt 69/2) publizierte eine Reihe von operativen Beispielen - mit Schemazeichnungen - , wie die militärischen Operationen gegen größere Partisanengruppen zu führen seien. Die Entstehung von sogenannten „Auskämmungsaktionen", ihre theoretische und praktische Vorbereitung, dies sind Belege für eine Veränderung in der Wahrnehmung, die sich als Militarisierung der Partisanenproblematik in der Wehrmacht bezeichnen läßt. Daß der Kampf gegen die Partisanen ideologisiert und auf Vernichtung des Gegners angelegt war, schließt ja nicht aus, daß dieser mit professionellen militärischen Mitteln realisiert wurde. Im übrigen ist auch bei fast allen Partisanenbewegungen im Laufe der Kriegsjahre eine Zunahme von militärischer Professionalität im Kampf festzustellen. Allerdings darf man deren mangelnde Homogenität nicht aus den Augen verlieren, die sie in ihrer Effizienz beträchtlich behinderten. Auch in der Sprache der Wehrmachtführung läßt sich ein gewisser Wandel ablesen. Rechnete man vor dem Uberfall auf die Sowjetunion mit dem Auftreten von „Freischärlern" (also im wesentlichen versprengten Soldaten der Roten Armee), so wurde ab 1942 der Ausdruck „Banden" benutzt 57 , der trotz seiner negativen Diktion eine größere bewaffnete irreguläre Gruppierung meinte, die den rückwärtigen Raum militärisch gefährdete. Die Wehrmachtführung sah sich seit 1942, vor allem aber in den Jahren 1943/44, vor einer militärisch zu planenden, am traditionellen Landkrieg orientierten Bekämpfung von bewaffneten, unter generalstabsähnlichen Kommandos stehenden Partisanengruppen. Dieser Landkrieg war auf deutscher Seite jedoch von einem inadäquaten Kon55 56 57
Müller, Okkupationspolitik, S. 78; Schulte, A r m y , S. 136 f. Zahlen n. Messerschmidt, Motivation, S. 330. So hieß es offiziell seit dem 13. 8. 1942, Bonwetsch, Partisanenbekämpfung, S. 110.
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zept der Beherrschung des Territoriums geprägt. Fast immer gingen die Planer in den Stäben davon aus, daß die Partisanengruppen eingekreist und in einer Art von „Kesselschlacht" vernichtet werden sollten. Da der Feind kaum „stillhielt" und der Einkesselung zu entkommen suchte, schloß diese Konzeption ihr militärisches Scheitern in sich ein. Statt zu einer Kesselschlacht, der die Partisanen aufgrund mangelnder Ausrüstung ohnehin nicht gewachsen gewesen wären 58 , kam es zu „Auskämmungsaktionen", die militärisch für die Verfolger relativ ungefährlich waren - was sich an den meist geringen Verlustzahlen auf deutscher Seite ablesen läßt (es dürfte nicht ganz abwegig sein, daß verschiedentlich auch „friendly fire" die Ursache für Verletzungen war) - und in deren Verlauf es häufig zu brutalsten Massakern an der Zivilbevölkerung kam, die sich im eingekesselten Gebiet aufhielt, wobei das Verhalten der eingesetzten Truppen in den einzelnen Teilabschnitten nicht immer homogen gewesen zu sein scheint 59 . Zu Schlachten mit den Partisanen kam es vor allem dann, wenn deren Zahl groß und die Ausrüstung besonders gut oder wenn die Einkreisung so weiträumig angelegt war, daß eine Fluchtmöglichkeit nicht bestand - wenn also mehrere deutsche Divisionen gegen die Partisanen zum Einsatz kamen. Der mühsame Erkenntnisprozeß, daß es sich bei den Partisanen um einen militärisch ernstzunehmenden Gegner handelte, trat im Spätsommer 1944 in eine neue Phase ein: Fast gleichzeitig wurde für den Balkan wie für Italien folgendes konstatiert: „Die Klassifizierung des Feindes als .Bandengegner' und der mit ihm zu führenden Kämpfe als Bandenkrieg ist endgültig als falsch zu bezeichnen. Es handelt sich, mit Ausnahme der Neuaufstellungen, um operativ und taktisch gut geführte, mit schweren Waffen beneidenswert ausgerüstete und von einer nicht zu unterschätzenden Dynamik getragene Kräftegruppen von ständig wachsender Zahl" 60 . Wenn auch zögerlich, so wurden die „Banden" doch immer mehr in die Nähe von Kombattanten gerückt, vor allem als man feststellen mußte, daß sich deren Ausrüstung durch Beutewaffen und britisch-amerikanische Versorgung verbessert hatte. Schon 1943 gab es auch im Status gefangengenommer Partisanen gewisse Änderungen 61 . Ab April 1944 wurde ihre Behandlung als Kriegsgefangene angeordnet - was aber auf regionaler Ebene - wie wir noch sehen werden unterlaufen werden konnte.
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Die Partisanen waren gar nicht in der Lage, den ausgerüsteten deutschen Truppen ein militärisches Potential entgegenzustellen. Sabotage, Attentate, isolierte Aktionen, kleinere Scharmützel und - wenn das Gros der deutschen Truppen im Anmarsch war - die Flucht in abgelegene Gegenden, das war der Krieg der Partisanen. Einen anderen hätten sie auch gar nicht führen können. Auf deutscher Seite wurde das als Hinterhältigkeit, Feigheit usw. bezeichnet, womit die eigene Ohnmacht verschleiert wurde. Für verschiedene Beispiele siehe Klinkhammer, Stragi. OB Südost, Lagebeurteilung vom 21. 9.1944, KTB Ο K W , III/2, S. 686. Weitgehend übereinstimmend damit der Bericht zur „Bandenlage" vom 30. 9. 1944, verfaßt vom Abwehroffizier der 10. Armee, Major von Köckritz, Anlage Nr.335a zum KTB la: A O K 10, Abt.Ic/AO (Abw) Nr. 0366/44 geh. vom 8. 10. 1944, BA-MA, RH 20-10/176. Nach einer OKW-Anweisung vom 18. 8. 1943 sollten gefangene Partisanen nicht mehr erschossen, sondern zur Zwangsarbeit in Deutschland eingesetzt werden, Hesse, Partisanenkrieg, S. 181.
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IV. Der militärische Mißerfolg und das Scheitern zögerlicher Versuche der Deeskalation D e r Erkenntnisprozeß der Generalstäbe war das Ergebnis des eigenen militärischen Scheiterns. D e n n trotz eines immer massiveren Einsatzes eigener Machtmittel hatte man feststellen müssen, daß der H y d r a der Partisanenbewegung durch Auskämmungsoperationen nicht beizukommen war. Dieses militärische Scheitern wurde fast einmütig eingestanden. Schon die entsprechenden Einträge im Kriegstagebuch des O K W sind signifikant. Schaut man sich die K o m mentare über Bosnien an, so stellt man z u m einen fest, daß fast täglich über die Bandenlage berichtet wurde, z u m anderen wird trotz der oft euphemistischen Formulierungen deutlich, daß keine nennenswerten militärischen Erfolge zu verzeichnen waren. Die großangelegten Operationen Weiß I, II und III, die Ende 1942 und Anfang 1943 stattfanden, erbrachten „keinen vollen E r f o l g " . Bei der Operation „ K u g e l b l i t z " im östlichen Bosnien, die über Monate hinweg vorbereitet worden war, mußte man sich schließlich eingestehen: „ D e r eigene Kräfteeinsatz stellte die bisher größte im K a m p f gegen die A u f ständischen unternommene Kraftanstrengung dar. D e r Erfolg entsprach jedoch wieder nicht voll den Erwartungen, da es Teilen der Tito-Kräfte dank ihrer besseren Geländekenntnis gelang, sich der Einkesselung zu entziehen" 6 2 . Ein dauerhafter militärischer E r f o l g war den deutschen Truppen weder in B o s nien, noch in Griechenland, Italien oder auf dem Boden der Sowjetunion gelungen. Im Gegenteil: Die Partisanenbewegungen gewannen überall an Stärke und militärischem Potential. Ihre Flexibilität, das Ausweichen in unwegsames Gelände, die Verlagerung in andere Räume, all dies konnte nur punktuelle und zeitweise Entlastungen für die Wehrmacht bedeuten. D i e systematischen Sabotageakte auf die Transportverbindungen stellte gerade in den gebirgigen Regionen Griechenlands, Bosniens und Mittelitaliens, w o wenige wichtige Rückzugslinien vorhanden waren, eine nicht unbeträchtliche Gefährdung dar 6 3 . Mit dem Erlaß des Merkblatts 69/2 im Frühjahr 1944 trug das O K W in gewisser Weise diesem Wandel in der eigenen Einschätzung Rechnung. N u n m e h r sollte der K a m p f gegen die Partisanen in traditionellere militärische Bahnen zurückgelenkt werden. Auch die Repressalienquoten wurden im Vergleich zu 1941 herabgesetzt. D o c h gewinnt man den Eindruck, daß diese zentralen Entscheidungen auf regionaler Ebene entweder antizipiert oder sogar unterlaufen werden konnten. In Frankreich wurde der Automatismus von Attentaten und Geiselerschießungen schon 1942 durch die A n k u n f t des „ H ö h e r e n SS- und Polizeiführers"
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K T B O K W , III/2, S. 634-636. Zu „Kugelblitz" siehe ebd., S. 1266,1281,1351-1355,1364. Wegner spricht für den Bryansker R a u m von deutschen „Pyrrhussiegen", Wegner, Partisanenkrieg, S. 917. Daß der sogenannte Schienenkrieg der sowjetischen Partisanen seit dem Winter 1942/1943 eine militärische Bedeutung hatte, wird von allen Seiten zugegeben; siehe dazu Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, 3, S. 547 ff.; sowie Kreidler, Eisenbahnen, S. 213 ff.
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Oberg durchbrochen 64 . Und in Italien weigerte sich Oberbefehlshaber Kesselring bis zum Sommer 1944, die neuen Bestimmungen des O K W anzuwenden 65 . In Italien (aber offenbar auch in Griechenland) schlug der Versuch der Deeskalation von oben daher überwiegend fehl, daß Kesselring und einige seiner Generale Befehle erließen, die dem Merkblatt 69/2 explizit zuwiderliefen. Statt dessen verbreiteten sie Bestimmungen, die wortwörtlich Passagen aus der „Bandenbekämpfungsanweisung" für den Osten übernahmen und diese damit auf Italien übertrugen. In seiner Massierung und Repetitivität entsprach dieses Vorgehen im Kern einer Anstiftung zum Mord. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die unterstellten Truppen: Die Massaker, die in der Toskana und in der Emilia im Sommer 1944 verübt wurden - in Civitella (Fallschirm-PanzerDivision „Hermann Göring"), in Guardistallo (19. Luftwaffen-Felddivision), im Padule di Fucecchio (26.Panzer-Division), um nur einige Beispiele zu nennen 66 - waren direkte Folge der auf Enthemmung der Truppe abgestellten Befehle. Die bislang verfügbaren Angaben, vor allem über die Großoperationen, zeigen jedoch, daß der Partisanenkrieg, der in Osteuropa geführt wurde, so viel blutiger und totaler war, daß er mit den Antiguerrillaunternehmen in Westeuropa nicht verglichen werden kann. Der Partisanenkrieg in Osteuropa scheint den täglichen Massenmord an der Zivilbevölkerung beinhaltet zu haben. Kam es in Griechenland, Frankreich oder Italien auch zu Massakern an der Zivilbevölkerung, so kann für diese Länder nicht von einer so systematischen Ausrottungspolitik gesprochen werden, wie dies in den „Bandengebieten" im Ostkrieg wohl der Fall war. Auch in der „Bandenbekämpfung" zeigte sich daher eine fundamentale Zweiteilung des besetzten Europas 6 7 in einen geographisch nur vage definierten „Westen" und „Osten". Daß allein bei dem „Unternehmen Bamberg" unter Generalmajor von Bechtolsheim, bei dem 18000 deutsche Soldaten zum Einsatz kamen, 1693 Menschen in zivilen Gebäuden verbrannt sind 68 , daß bei fast jeder größeren „Bandenbekämpfungsaktion" im Osten Tausende von Zivilisten getötet wurden, dies stellt eine Vergleichbarkeit des Partisanenkriegs in Ost und West - über die Problematik der genauen Zahlen hinaus - in Frage. Wie geringfügig der Anlaß für ein Massaker an russischen Zivilisten sein konnte, zeigt sich in folgendem Tagebucheintrag eines deutschen Soldaten: „Eine Frau holt ihren Mann von einem Gefangenentransport ab. Der Russe wird dabei überrascht, wie er sich eine deutsche Tube Schmierkäse öffnet.
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Kasten, Franzosen, S. 27; Herbert, Militärverwaltung. Gentile, Krieg. Gesamtüberblick bei Schreiber, Kriegsverbrechen. Zur Eskalation in den Partisanenbekämpfungsbefehlen siehe Klinkhammer, Bündnis, insbes. Kap. 8. Ders., Grundlinien. So Heer, Logik, hier S. 120f. Allerdings würde man gerne die genaue Zusammensetzung dieser 18000 Mann kennen. Daß alle zur 707. Infanterie-Division gehört haben, dürfte kaum möglich sein. - Die Beispiele, die Heer anführt, betreffen überwiegend das Jahr 1941. Das Unterkapitel über das Jahr 1943 (S. 130f.) geht wiederum auf das „Unternehmen Cottbus" und die Mordaktionen des Bataillons Dirlewanger ein.
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Die Frau hat sie ihm mitgebracht. Es stellt sich heraus, daß die Käsetuben vom Dorfschulzen verteilt worden sind. Das D o r f hat eine deutsche Verpflegungskolonne überfallen. Die ganze Bevölkerung wird niedergemacht" 69 .
V. Die männliche Matrix des Krieges Auf sowjetischem Boden erprobte Kampfmuster wurden auf andere Kriegsschauplätze übertragen - ζ. B. auf Italien und Frankreich, wo der Partisanenkrieg zeitlich deutlich später einsetzte 70 . Ganz bewußt war die gesamte Zivilbevölkerung, auch Kinder, als Helfer der Partisanen verdächtigt, über die entgrenzenden Termini der „Bandenverdächtigen" und „Bandenhelfer" potentiell die gesamte Zivilbevölkerung mit den Partisanen identifiziert und kriminalisiert worden 7 1 . Im Gegensatz zum Mord an den Juden stellte die Einbeziehung der unbewaffneten Zivilbevölkerung in die Ausrottungspolitik gegenüber den Partisanen jedoch zumeist eine Option für die beteiligten Truppen dar. Die Kategorie der Helfer und „Sympathisanten" konnte am konkreten Verhalten, also am Einzelfall, oder an „Indizien" (Waffenbesitz etc.) überprüft werden. Die auch durch die „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten" nicht völlig aufgehobene Grenze zwischen Partisanen, „Verdächtigen" und Unbeteiligten konnte durchbrochen werden, mußte aber nicht. Hier lag ein erhebliches Entscheidungspotential für das untere und mittlere Offizierkorps. Dabei dürfte es eine nicht unbeträchtliche Bedeutung gehabt haben, ob das jeweilige besetzte Land eine „befreundete" Regierung besaß oder nicht. Doch auch auf der individuellen Ebene scheint eine imaginäre Grenze bestanden zu haben, die - anders als beim Mord an den Juden - für das Verhalten der Wehrmachttruppen im Partisanenkrieg eine gewisse Rolle spielte: Auch wenn die Zivilbevölkerung bewußt miteinbezogen wurde in die Repression gegenüber den Partisanen, kam es nicht überall zur Durchbrechung traditioneller Muster des Kampfes als einer Auseinandersetzung zwischen Männern. O b diese Matrix des männlichen Krieges durchbrochen wurde oder nicht, hing vom Grad der Nazifizierung bzw. Ideologisierung der beteiligten Einheiten ab. Selbst im Ostkrieg wurde diese männliche Matrix des Krieges zum Teil aufrechterhalten, wie das Beispiel der „Auskämmungsaktion" in dem O r t Faschina im Bereich des Korück 532 zeigt: Ein Informant der Deutschen hatte die Partisanen unter den Bauern von Faschina ausspioniert. Beim deutschen Angriff auf das D o r f waren die meisten Männer jedoch schon geflohen. Die zurückgebliebenen Männer wurden erschossen, die an Faschina angrenzenden Weiler nie-
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Lange, Tagebücher, 9. 11. 1941, S. 87f. Dabei ist vor allem zu fragen, in welchem Maße die Befehlslage für den Osten in den westund südeuropäischen Ländern appliziert wurde - schließlich galt die vom „Kriegsgerichtsbarkeitserlaß Barbarossa" präjudizierte und im „Führerbefehl" vom 16. 12. 1942 wiederholte Straflosigkeit bei Tötungsdelikten an Zivilisten nicht automatisch für andere Kriegsschauplätze. Dazu Schreiber, Kriegsverbrechen. „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten vom 11. November 1942, Anhang 2 zur H . D v . la, S. 69, Lfd. N r . 1 - Merkblatt 69/1 - N u r für den Dienstgebrauch!", in: Krannhals (Hrsg.), Aufstand, S. 3 4 0 - 3 4 4 .
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dergebrannt, die dort aufgegriffene männliche Bevölkerung ebenfalls als „bandenverdächtig" erschossen. Die Frauen und Kinder waren in der Dorfkirche eingeschlossen worden und blieben unversehrt 72 . Die Vorgehensweise dieser Korückgruppe war offenbar unabhängig vom Kriegsschauplatz: Derartige Massaker ereigneten sich in West- wie Osteuropa auf nahezu gleiche Weise. Daß die Soldaten bei Auskämmungsaktionen in sogenannten „Bandengebieten" gewissen kulturellen Mustern folgten, zeigt sich in ihrer Handlungsweise: Fast stets wurden die waffenfähigen Männer von den übrigen Bewohnern separiert, meist auf dem Marktplatz zusammengetrieben, während man Frauen, Kinder und Alte entweder zwang, das Dorf zu verlassen oder in dem Gebäude mit den dicksten Mauern, in der Regel der Kirche oder der Schule, einsperrte. Daß dieses Muster aber auch durchbrochen werden konnte, zeigte sich im August 1944 in Oradour, wo man Frauen und Kinder ebenfalls zuerst in die Kirche trieb, dann jedoch dort durch die Zündung eines Brandsatzes auf grausamste Weise ermordete und zum Teil lebendig verbrannte. Dieser Mord verlief nach Plan: Schon am Vorabend vor dem sogenannten „Angriff" auf das Dorf war bei einer Kompaniechef-Besprechung (innerhalb des Pz.Gren.Rgts 4 der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich") entschieden worden, alle Einwohner von Oradour umzubringen. Die männliche Matrix des Krieges wurde von Einheiten der Waffen-SS weit massiver und brutaler durchbrochen als von Einheiten der Wehrmacht: So war der 16. SS-Pz. Grenadier-Division „Reichsführer-SS" vor Beginn der „Auskämmungsaktion" am Monte Sole vom Oberkommando der 14. Armee ausdrücklich befohlen worden, es zu keinen Ubergriffen kommen zu lassen. Doch das Gegenteil geschah. Nach kleineren Gefechten mit den Partisanen wurden anschließend - und mit zeitlichem Abstand zu den eigentlichen Kampfhandlungen - fast ausschließlich unbewaffnete Kinder, Frauen und Alte ermordet. Tragischerweise hatten auch die Partisanen (und die Männer unter den Zivilisten, die nicht zu den Partisanen gehörten, sich aber gefährdet wußten) an die männliche Matrix des Krieges geglaubt, hatten sich im Wald versteckt und Frauen, Kinder und Alte in den Häusern zurückgelassen. Die griechische Bevölkerung ging ebenfalls davon aus, daß die deutschen Truppen Frauen und Kinder verschonen würden: „Gewöhnlich verließ die männliche Bevölkerung die Dörfer, durch die die Deutschen kamen, und ließ Frauen, Kinder und ältere Menschen zurück - offenbar in der Annahme, daß diese Bevölkerungsgruppen sicher wären" 73 . Ihre Vorstellung des Krieges konnte Soldaten der Wehrmacht offenbar auch darin bestärken, besonders rücksichtslos gegenüber Frauen vorzugehen, die dieses kulturelle Muster durchbrachen. Die Auffassung vom Krieg als Kampf zwischen Männern, innerhalb dessen den Frauen zu kämpfen verboten war, wurde als Rechtfertigung benutzt, um „entarteten Weibern" (so die Diktion im Reichenau-Befehl vom 10. 10. 1941), die mit der Waffe in der Hand kämpften, jede „Schonung" zu versagen. Wenn Frauen in den besetzten Staaten gegen
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Schulte, Army, S. 138. Mazower, Gewalt, S. 178.
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deutsche Soldaten kämpften, wurden sie zu „Flintenweibern" erklärt, deren Tötung deutschen Soldaten kaum Probleme bereitet zu haben scheint. Es wäre jedoch zu einfach, allein die Waffen-SS für Massaker an Frauen und Kindern verantwortlich zu machen. Im griechischen Kommeno, im süditalienischen Pietransieri, im norditalienischen Padule di Fucecchio waren es Verbände der Wehrmacht, die Frauen und Kinder ermordeten. Allerdings scheint es sich dabei in Frankreich, Italien und Griechenland eher um Ausnahmen gehandelt zu haben, wobei den Tätern die Durchbrechung der männlichen Matrix des Krieges durchaus bewußt gewesen zu sein scheint 74 . In all diesen Fällen hätte ebenso die Möglichkeit bestanden, die Zivilbevölkerung zu verschonen. Insofern besaßen mittlere Offiziersgrade, vor allem Kompaniechefs und Bataillonskommandeure, einen erheblichen Entscheidungsspielraum zur Realisierung des Vernichtungskriegs gegenüber der Zivilbevölkerung. Gegenüber den männlichen Einwohnern sogenannter „Bandengebiete" kam es jedoch auch auf Seiten der Wehrmacht häufig zu Massakern, wobei die männliche Matrix des Krieges hier offenbar gleichzeitig der eigenen Rechtfertigung dienen konnte und dazu beitrug, daß sich bei den meisten Tätern bis heute kein Unrechtsbewußtsein einstellte. Die Tötungsexzesse liefen bei bestimmten Einheiten der Wehrmacht nicht grundsätzlich anders ab als bei solchen der Waffen-SS. Dennoch erreichten sie bei der Waffen-SS Ausmaße, die über graduelle Unterschiede hinausgehen. Die Frage nach den mentalen Dispositionen der einfachen Soldaten läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum beantworten 75 . Auf welchem Weg die Forschung sich diesen Fragen nähern kann, haben die Studien von Mark Mazower und Michael Geyer gezeigt 76 . Doch selbst im Fall von Civitella dürfte die präzise Feststellung der Einheit, die für das Massaker verantwortlich war, zu einer Modifizierung der bisherigen Deutung führen: O b der Offizier, der am 29. Juni 1944 die Männer von Civitella erschießen ließ, vorher im Vernichtungskrieg im Osten aktiv gewesen war oder den NS-Krieg erst an der Italienfront kennengelernt hatte, dürfte einen gewissen Unterschied bezüglich der Tätermotivation ausmachen 77 . Insbesondere sollte sich die Forschung darum bemühen, neben dem qualitativen auch den quantitativen Anteil der Wehrmachtsoldaten zu bestimmen, die an Massakern von Zivilisten beteiligt waren. Für den italienischen Kriegsschauplatz kann man davon ausgehen, daß 95 von 100 Soldaten der Italienarmee an der Ermordung von italienischen Zivilisten weder direkt noch indirekt beteiligt waren. Wahrscheinlich war diese Quote noch geringer, da sich bei bestimmten
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Bezüglich der Massaker an Frauen und Kindern stellt Mazower für Griechenland fest, daß „es während der Besetzung nur selten zu solchen Greueltaten wie in K o m m e n o " gekommen sei. Der Autor zitiert außerdem die Nachkriegsaussage eines der Täter: „Wir waren uns alle darüber im klaren, daß man bei Frauen und Kindern nicht von .Feinden' sprechen kann", Mazower, Gewalt, S. 178. Siehe dazu die Bemerkungen von Schulte, Korück 582, S. 323 f. Mazower, Gewalt, S. 1 5 7 - 1 9 0 ; Geyer, Maßnahmen. Erst Carlo Gentile ist es jüngst gelungen, die Einheit präzise zu bestimmen, die für das Massaker von Civitella verantwortlich war. Eine Veröffentlichung darüber befindet sich in Vorbereitung.
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Einheiten Exzeßtaten häuften. Dies sagt nichts über die Zahl der Mitwisser aus, die weit größer gewesen sein kann. Die Zahl derer, die in die Tötung von Partisanen involviert waren, läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum näher bestimmen, dürfte aber in jedem Fall deutlich höher gewesen sein. Trotz der hochgradigen Ideologisierung und Legendenbildung und angesichts der gravierenden Forschungslücken sei hier abschließend die These geäußert, daß der Partisanenkrieg der Wehrmacht weder ein Mythos noch eine Chiffre für den Massenmord war, aber auch keine ausschließlich militärische Angelegenheit: Er dürfte vielmehr eine militärisch oft vergebliche Unternehmung gewesen sein, die angesichts der verbrecherischen Befehlslage sowie einer Enthemmung und Verrohung der Soldaten im Krieg die Option zum Massenmord in sich trug. Insofern stellt sich der Partisanenkrieg der Wehrmacht als eine Mischform zwischen Kampfhandlungen und Mordaktionen an der Zivilbevölkerung dar. Wie diese Mischform konkret aussah, konnte stark variieren und war abhängig von verschiedenen Faktoren, ζ. B. von der politischen Einordnung des besetzten Gebiets durch die NS-Führung, vom Zeitpunkt der Okkupation, von der jeweiligen Befehlslage und den Vorstellungen und Wünschen der Heeresgruppen- oder Armeeführung, aber auch von der individuellen Haltung der kommandierenden Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten78. Hier öffnet sich noch ein weites Untersuchungsfeld. Doch allein eine Detailanalyse von Einzelfällen wird eine genauere Kenntnis bringen. Das zutiefst beunruhigende Faktum, daß den Tätern das Unrechtsbewußtsein zu fehlen scheint - und zwar vor allem dann, wenn das Töten von Zivilisten im Rahmen der männlichen Matrix des Krieges oder unter Einhaltung eines Exekutionsrituals stattfand macht weitere Forschungen zu einem Anliegen, das über die Fachwissenschaft hinausgeht.
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V o n der K ö l n e r Studie C a r l o Gentiles zum Partisanenkrieg der Wehrmacht in Italien sind grundlegende Erkenntnisse zu diesem Fragenkomplex zu erwarten.
Timm C. Richter Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten der Sowjetunion
Am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag des deutschen Angriffes, startete die Rote Armee eine Großoffensive im Bereich der Heersgruppe Mitte. Ende Juli war diese vernichtend geschlagen; sie hörte faktisch auf zu existieren - die größte Niederlage einzelner deutscher Verbände im Zweiten Weltkrieg. Der Offensive war in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni die größte Sabotageaktion des Zweiten Weltkrieges vorausgegangen: Sowjetische Partisanen zündeten mindestens 10500 Sprengsätze an Eisenbahnen, Brücken und Nachrichtenverbindungen im Gebiet zwischen dem Dnepr und der Gegend westlich von Minsk 1 . Infolgedessen waren die Nachschublinien der Heeresgruppe Mitte tagelang unterbrochen. Der katastrophale Zusammenbruch stellte zugleich Kulminations- und Endpunkt der Partisanenbewegung dar, weil die deutsche Herrschaft auf sowjetischem Territorium nunmehr, von einigen Gebieten im Baltikum abgesehen, zu Ende ging. Dabei hatten die Vorbereitungen der Wehrmacht zum Unternehmen „Barbarossa", bedingt durch den zuvor im Westen errungenen schnellen Sieg, mit großer Zuversicht begonnen. In einem überschäumenden Uberlegenheitsgefühl wurden Fesseln herkömmlicher Kriegführung leichtfertig abgestreift, schienen Rücksichten gegenüber der feindlichen Bevölkerung und die strikte Beachtung des Kriegsvölkerrechts notfalls entbehrlich zu sein. Für Hitler war die Sowjetunion nur ein „tönerner Koloß ohne Kopf" 2 , der unter militärischem Druck schnell zusammenbrechen würde. Die Erwartung des Oberbefehlshabers des Heeres (ObdH), Brauchitsch, daß nach heftigen Grenzschlachten die sowjetische Gegenwehr zusammenbrechen und danach nur noch geringer Widerstand zu erwarten sein würde 3 , wurde allgemein von der militärischen Führung geteilt. Nur über den Zeitpunkt des sowjetischen Zusammenbruches bestanden unterschiedliche Vorstellungen. Uber den potentiellen Widerstand in den zu besetzenden Gebieten hatte man nur ungenaue, zumeist aber gar keine Vorstellungen. Mit heftiger Gegenwehr durch die Bevölkerung während des Krieges oder gar mit einem zentral gelenkten Partisanenkrieg wurde überhaupt nicht gerechnet. Der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im OKW, General Thomas, hielt zumindest das Auftreten von Sabotageeinheiten für wahrscheinlich 4 . Ungewöhnlich skeptisch
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Siehe Teske, Partisanen, S. 475. Teske hält diese Zahl angesichts der Auswirkungen für zu gering. Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 1, 9. 1. 1941, S. 258. Abt. L IV/Qu, Besprechung bei Chef L am 30. 4. 1941, 1. 5. 1941, IMT, 26, 873-PS, S. 399—401, hier S. 400. „Die zur Vernichtung der M.T.S. [Maschinentraktorstationen], Getreidespeicher usw. mit
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war der Staatssekretär im Auswärtigem Amt, Weizsäcker, der zumindest passiven Widerstand prognostizierte 5 . Typisch für die Wehrmacht waren wohl eher die Erwartungen des Oberbefehlshabers der 18. Armee Küchler 6 , der nach den ersten Frontdurchbrüchen seiner Truppen weder mit einem systematischen Widerstand hinter den eigenen Linien rechnete noch eine Beteiligung der Bevölkerung am Kampf annahm. Es gibt keine Hinweise dafür, daß die sowjetische Führung schon vor dem deutschen Angriff über konkrete Pläne zur Führung eines Partisanenkrieges verfügte. Nach 1936 spielten ältere Überlegungen keine Rolle mehr, weil seitdem von der sowjetischen Militärführung ein Offensivkonzept verfolgt wurde, welches vorsah, im Falle eines Krieges den Kampf so bald als möglich in das Territorium des Aggressors zu verlegen 7 . Vor allem sprechen die Entwicklung der Partisanenbewegung bis 1942 und der Machtkampf zwischen der Partei, dem Naradnyj Kommissariat Vnutrennych Del (NKVD: Volkskommissariat des Inneren) und der Roten Armee um die führende Position im erst 1942 gegründeten Zentralen Stab für den Partisanenkampf (CSPD), welcher sich in den wechselseitigen Ablösungen von Ponomarenko und Vorosilov als dessen Leiter zeigte 8 , gegen die These von einer langfristigen systematischen Vorbereitung. Auf deutscher Seite hatte man sich erst im Februar 1941 in der Abteilung Kriegsverwaltung im Oberkommando des Heeres (OKH) Gedanken über möglichen Widerstand gemacht 9 . Dort wurde gefordert, daß „alle berechtigten Ursachen zur Unruhe in der Zivilbevölkerung - Hungersnot, Arbeitslosigkeit möglichst rasch behoben werden" 10 müßten. Kollaborateuren sollten gewisse „Freiheiten und materielle Vorteile" 11 zugestanden werden. Jedoch sollten „alle Widerstandsbewegungen aus der Zivilbevölkerung - Freischärlerei, Sabotage usw. - schnell und energisch unterdrückt werden". Die Empfehlung, „rücksichtsloses Auftreten" als „Vorbeugungsmittel" zu nutzen, stellte eine erste bedenkliche Abweichung vom Kriegsrecht dar, der innerhalb des Ο KW Wilhelm Canaris als Chef der Abwehr und Helmuth James Graf Moltke als Völkerrechtsexperte entgegenzuwirken versuchten. Ihre Bemühungen wurden aber
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Sicherheit vorbereiteten Organisationen", Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt Nr. 10/41 g. Kdos./Chefsache, Die wehrwirtschaftlichen Auswirkungen einer Operation im Osten, 13. 2. 1941, gez. Thomas, abgedr. in: Thomas, Geschichte, S. 5 1 5 - 5 3 2 , hier S. 517. „Ich bezweifele aber durchaus, daß wir das Gewonnene gegen die bekannte passive Resistenz der Slawen ausnutzen können." Fernschreiben des Staatssekretärs Weizsäcker, 28. 4. 1941, an Ribbentrop, A D A P , D, 12/2, Dok. 419, S. 550 f., hier S. 551. Notizen des Ob. d. 18. A r m e e Generaloberst v.Küchler/AOK 18/Ia Nr. 406 g. Kdos, Chefs., 25. 4. 1941, auszugsweise abgedr. in: Wilhelm, Rassenpolitik, S. 1 3 3 - 1 4 0 . Zum Hintergrund siehe Förster, Rußlandbild. Vgl. Schulz, Irregulären, S. 20; Hoffmann, Sowjetunion, S. 81. Vgl. Bonwetsch, Partisanen, S. 1 1 4 f.; Howell, Partisan, S. 82; Wilenchik, Partisanenbewegung, S. 265. Zum Folgenden siehe ausführlich die Darstellung in: Förster, Unternehmen, S. 4 1 3 ff. Vortragsnotiz f ü r den Generalquartiermeister, 10. 2. 1941, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Kriegsrecht, S. 1 4 2 - 1 4 5 , Zit. S. 143. Entwurf von Anordnungen des Generalquartiermeisters des Heeres über militärische Hoheitsrechte, Sicherung und Verwaltung im rückwärtigen Gebiet und Kriegsgefangenenwesen. Anlage 15 zu 1/050/41 g.K., o. D. (Februar 1941), B A - M A , R H 3/v. 132.
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schon vom Generalquartiermeister im OKH, Eduard Wagner, abgeblockt 12 . Es zeigte sich, daß Wagner und der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, an völkerrechtlichen Fragen wenig Interesse hatten 13 . Die militärischen und wirtschaftlichen Planungen besaßen eindeutig Vorrang. Die rückwärtige Sicherung wurde am 3. April 1941 in den „Besonderen Anordnungen für die Versorgung, Teil C" festgelegt 14 . Nachschubstraßen und Querverbindungen sollten gegen versprengte Feindteile und Partisanen durch Eingreiftruppen und Truppenstreifen („Jagdkommandos") geschützt werden. Ansonsten galt: „Aktiver oder passiver Widerstand der Zivilbevölkerung ist mit scharfen Strafmaßnahmen im Keime zu ersticken. Selbstbewußtes und rücksichtsloses Auftreten gegenüber den deutschfeindlichen Elementen wird ein wirksames Vorbeugungsmittel sein" 15 . Zu diesem Zeitpunkt war bereits der prägende Einfluß Hitlers auch auf diesen Bereich deutlich spürbar. Am 3. März hatte der Chef des Wehrmachtführungsstabes (WFSt), Alfred Jodl, erklärt, Hitler habe folgende Richtlinie ausgegeben: „Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen.... Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger Unterdrücker des Volkes, muß beseitigt werden" 16 . In diesem Kampf sei die „Anwendung brutalster Gewalt notwendig" 17 . Vörden Spitzen der Wehrmacht erläuterte Hitler am 30. März 1941 dann selbst ausführlich seine Vorstellungen: „Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrükken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf" 18 . In der Wehrmacht- und Heeresführung regte sich kein Protest. Brauchitsch erklärte: „Die Truppe muß sich darüber klar sein, daß der Kampf von Rasse zu Rasse geführt wird, und mit nötiger Schärfe vorgehen" 19 . Die Rechtsabteilungen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), WFSt und OKH setzten Hitlers Anordnungen entsprechend um. Versuche, die ideologischen und barbarischen Weisungen des Diktators abzumildern, sind nicht bekannt 20 . Es entstanden die „Verbrecherischen Befehle". Der für den späteren Partisanenkrieg bedeutendste Befehl war der Erlaß über die Ausübung der
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Vgl. Müller (Hrsg.), Kriegsrecht, S. 1 3 2 - 1 3 4 . „Daß das Interesse des Generalstabes an den geplanten kriegsrechtlichen Arbeiten nicht besonders stark sei." Oberst Ziehlberg nach Aktennotiz von Regierungsrat Dr. Berthold Widmann über eine Besprechung zwischen dem Reichskommissar beim Oberprisenhof und dem Chef der Zentralabteilung des Heeres, 3. 4. 1941, zit. n. ebd., S. 146 f. OKH/GenSt.d.H./GenQu Nr. 11/0315/41 g. Kdos., Besondere Anordnung für die Versorgung, Teil C, gez. I.A. Halder, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 35-42. Ebd., S. 38. Schramm (Hrsg.), K T B O K W , S. 341, 3. 3. 1941. Halder, KTB, 2, S. 319, 17. 3. 1941. Ebd., S. 336 f., 30. 3. 1941. Aufzeichnung des Ersten Generalstabsoffizier der 18. Armee vom 27. 3. 1941, zit. n. Förster, Rußlandbild, S. 146. Vgl. Krausnick, Kommissarbefehl; Streit, Kameraden, S. 55.
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Kriegsgerichtsbarkeit 21 . Er sah u.a. vor, daß Freischärler „schonungslos zu erledigen" seien. Konnte ein Täter nicht ermittelt werden, sollten kollektive Gewaltmaßnahmen durchgeführt werden. Entsprach das noch weitgehend dem zeitgenössischen Kriegsbrauch, wich die Aufhebung des Verfolgungszwanges bei kriminellen Handlungen von Wehrmachtangehörigen gegen Zivilpersonen, auch wenn die Soldaten Kriegsverbrechen begingen, von den Regeln einer „ritterlichen Kriegführung" 1 eindeutig ab. Eine Zusatzerklärung Brauchitschs hatte lediglich die Erhaltung der Disziplin der Truppe zum Ziel 22 . Die Militärgerichtsbarkeit diente keineswegs mehr auch dem Schutz der Zivilbevölkerung. Der „Zweck des Kriegsrechts, Individuum und Gesellschaft eines besetzten Landes vor Willkür zu schützen, [wurde] unter tatkräftiger Mithilfe von Juristen in eine Hilfsfunktion der politischen und militärischen Absichten umgedeutet" 2 3 . In welchem Sinne dieser Erlaß auszulegen sei, erläuterte der für Rechtsfragen im O K H zuständige Generalleutnant z. b. V. Müller gegenüber den für Feindaufklärung und Abwehr zuständigen Generalstabsoffizieren (I c) und Heeresrichtern bei einer Besprechung am 11. Juni 1941 in Warschau: „Unter dem Begriff .Freischärler' fällt auch der, der als Zivilist die deutsche Wehrmacht behindert oder zu Behinderung auffordert (ζ. B. Hetzer, Flugblattverteiler, nicht befolgen deutscher Anordnungen, Brandstifter, zerstören von Wegweisern, Verräter usw.). . . . In Zweifelsfällen über die Täterschaft wird häufig Verdacht genügen müssen" 2 4 . Der designierte Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Fedor von Bock, erkannte, daß damit jeder Soldat das Recht erhielt, „auf jeden Russen, den er für einen Freischärler hält - oder zu halten vorgibt - von vorne oder von hinten zu schießen" 25 . Der Gerichtsbarkeitserlaß sollte die erste Basis für das deutsche Vorgehen gegen die Partisanen bilden. Ebenfalls am 3. März 1941 hatte Hitler seinen Entschluß mitgeteilt, die besetzten Gebiete unmittelbar nach Abschluß der Kämpfe einer Zivilverwaltung zu übergeben und die Befriedung und Sicherung dieser Gebiete in der Hauptsache den Truppen des Reichsführers SS (RFSS) zu überlassen 26 . Dieses wurde in den „Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr. 21 " 2 7 festgelegt. Der RFSS erhielt bereits im Operationsgebiet „zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben". Wenn das Operationsgebiet eine bestimmte Tiefe erreicht hatte, sollte die politische Verwaltung auf Reichskommissare übergehen, denen 21
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Führererlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa" und über besondere Massnahmen der Truppe, 13. 5. 1941, gez. I.A. Keitel, IMT, 34, 050-C, S. 2 5 2 - 2 5 5 . Oberbefehlshaber des Heeres, Behandlung feindlicher Zivilpersonen und Straftaten Wehrmachtsangehöriger gegen feindliche Zivilpersonen, 24. 5. 1941, gez. von Brauchitsch, abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 307 f. Förster, Unternehmen, S. 5 1 6 f. Panzergruppe 3 - Abt. I c, Tätigkeitsbericht Januar-Juli 1941, Bl. 29, auszugsweise abgedr. in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S.163-279, Zit. S. 229. Tagebucheintragung vom 4. 6. 1941, zit. n. Uhlig, Befehl, S. 319. Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 1, S. 41, 3. 3. 1941. O K W (WFSt/Abt. L (IV/QU) 44125/41 g.K.Chefs., Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr. 21 (Fall Barbarossa), 13. 3. 1941, gez. Keitel, IMT, 26, 447-PS, S. 53-58.
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Polizeikräfte unterstellt waren. Die Durchführung militärischer Aufgaben oblag den künftigen Wehrmachtbefehlshabern, die dem Chef Ο KW unterstanden. Auffällig ist, daß bei der Aufzählung der Aufgaben der Wehrmachtbefehlshaber die militärische Sicherung des Gebietes tatsächlich erst an vierter Stelle auftauchte. Zur Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der SS und dem O K H fand am 16. April 1941 in Graz eine Besprechung statt, an der für das OKH der Generalquartiermeister, Eduard Wagner, sowie Himmler, der Chef des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich, der Chef des Hauptamtes Ordnungspolizei, Daluege, der Chef des SS-Führungsamtes, Jüttner, und Himmlers Verbindungsmann zu Hitler, Wolff, für die SS teilnahmen 28 . Dem Treffen lag ein gemeinsamer Befehlsentwurf, das sogenannte Wagner-Heydrich-Abkommea,"zugrunde 29 . Auf der Basis dieses Abkommens erließ Brauchitsch einen Befehl, der das Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS offiziell regelte. Demnach würden die Sonderkommandos bzw. Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes der SS (SD) ihre Aufgaben in eigener Verantwortung erfüllen, und nur hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung den jeweiligen Armeen unterstellt sein. Auf eine enge und ständige Zusammenarbeit legte man ausdrücklich Wert. Zu den Aufgaben der Einsatzgruppen im rückwärtigen Heeresgebiet zählte u.a. die „Erforschung und Bekämpfung der staats- und reichsfeindlichen Bestrebungen" 30 . Sowohl im rückwärtigen Armeegebiet als auch im rückwärtigen Heeresgebiet waren die Kommandos von SiPo und SD „berechtigt, im Rahmen ihres Auftrages in eigener Verantwortung Exekutivmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung zu treffen". Die Bedeutung dessen mußte seit dem Polenfeldzug allen Beteiligten klar gewesen sein. A m 21. Mai folgte Himmler mit einem ähnlichen Befehl, der zusätzlich die Abstellung jeweils eines Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) zu einer Heeresgruppe vorsah 31 . Diese HSSPF sollten sich zu einem Schlüsselinstrument der deutschen Besatzungsherrschaft entwickeln 3 2 . Himmler sicherte die Position der HSSPF geschickt ab. Er erreichte gegenüber dem OKH, daß die HSSPF den Heeresgruppen nur logistisch unterstellt waren, in allen anderen Fragen aber ihm 33 . Den HSSPF unterstanden sämtliche Mannschaften von SS und Polizei 34 , wodurch sie über eine beachtliche Macht verfügten. 28 29
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Siehe Angrick u. a., Tagebuch, S. 327. Oberkommando des Heeres, Gen. St. d. H./Gen. Qu., Geheim, 26. 3. 1941, abgedr. in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 202 f. OKH/Gen. St. d. H./Gen. Qu./ A z . Abt. Kriegsverwaltung Nr. 11/2101/41 geh., Regelung des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD im Verband des Heeres, 28. 4. 1941, gez. von Brauchitsch, abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 303 f., hier S. 304. Reichsführer SS, Sonderauftrag des Führers, Tgb. Nr. 114/41 g.Kdos., 3 1 . 5 . 1941, N O K W - 2 0 7 9 , abgedr. in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 2 1 9 f . Siehe hierzu Bim, Polizeiführer; Wilhelm, Polizei, S. 108. RFSS, Tgb. Nr. 114/41 g. Kdos., Sonderauftrag des Führers, 21. 5. 1941, gez. Himmler, abgedr. in: Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 2 1 9 f., hier S. 219. Siehe Buchheim, SS, S. 87.
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Die endgültige Regelung der Besatzung erfolgte durch zwei Führererlasse am 17. Juli 194 135. In diesen wurde noch einmal festgelegt, daß nach Abschluß der Kampfhandlungen das besetzte Gebiet einer Zivilverwaltung zu übergeben war, und daß dort der Reichsführer SS und Chef der Polizei für die polizeiliche Sicherung verantwortlich zeichnete. Die militärischen Hoheitsrechte und territorialen Befehlsbefugnisse oblagen einem Wehrmachtbefehlshaber, der dem Chef des OKW unterstellt war 36 . Für die Sicherung der besetzten Gebiete waren demnach drei Instanzen zuständig: das OKH für das rückwärtige Armeeund Heeresgebiet 37 , die SS und das OKW durch die Wehrmachtbefehlshaber für das Gebiet der Zivilverwaltung. Die „Verbrecherischen Befehle" und die enge Kooperation mit der SS stellen ein Menetekel des Krieges dar. Noch vor Beginn des Rußlandfeldzuges wurden so die Weichen des Vernichtungskrieges gestellt. Die Gründe, weshalb sich die Wehrmacht auf so enge Weise in Hitlers „Lebensraum"-Programm hat einbinden lassen, sind vielschichtig. Ein Konglomerat aus Chauvinismus, Sozialdarwinismus, Antislawismus, einem militanten Antibolschewismus, latentem Rassismus und Antisemitismus, verbunden mit längerfristigen Ambitionen, großdeutschem Imperialismus, traumatischen Erfahrungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, des Zusammenbruches und der Freikorpskämpfe, sowie der Hybris nach dem Sieg über Frankreich und „Führervertrauen" hatten die Hemmschwelle offenbar gefährlich tief sinken lassen 38 . Hinzu kamen die Profilierungskämpfe der einzelnen Ressorts um die Gunst des „Führers", ein Effekt, den Hans Mommsen treffend als „kumulative Radikalisierungstendenzen" 39 beschrieben hat. Für die Politik der militärischen Sicherung der besetzten Gebiete war noch ein weiterer Aspekt bestimmend. Man erkannte durchaus, daß zur Sicherung der eroberten Gebiete viel zu wenig Kräfte zu Verfügung standen, ferner fehlten spezielle Einheiten zur Bekämpfung von Aufständen. Die für die Niederschlagung von Aufständen und zum Aufspüren von Saboteuren und Terroristen zuständigen SiPo- und SD-Kommandos wurden bei ihrer Ausbildung auf den eigentlichen Partisanenkrieg nicht vorbereitet 40 , ihre Hauptaufgabe war eine andere. Allein durch massive und präventive Gewaltanwendung sollte möglicher Widerstand gebrochen werden. Der bewußte Einsatz von Terror gegen eine als feindlich betrachtete Zivilbevölkerung war bereits in den dreißiger Jahren nicht nur in das Kalkül deutscher 35
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Erlaß des Führers über die Verwaltung der neubesetzten Ostgebiete vom 17. 7. 1941, in: Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 1, S. 1027 f.; Erlaß des Führers über die polizeiliche Sicherung der neubesetzten Ostgebiete vom 17. 7. 1941, ebd., S. 1028 f. Erlaß des Führers über die Hoheitsrechte von Wehrmachtbefehlshabern in den besetzten Gebieten, 25. 6. 1941, abgedr. in: Michaelis/Schaeper (Hrsg.), Ursachen, 17, S. 2 8 9 f . Im Armeegebiet war hierfür der Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes (Korück), im Heeresgebiet der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes (Befh. rückw. H. Geb) zuständig, dem drei Sicherungsdivisionen (Sich. Div.) unterstanden, zu denen jeweils auch ein Polizei-Bataillon gehörte. Streit, Kameraden, S. 50-59; Becker, Wege, 2; Förster, Unternehmen; Wilhelm, Motivation; Volkmann (Hrsg.), Rußlandbild; Dmitrow, Obraz. Mommsen, Stellung, S. 56. Siehe auch Streit, Kameraden, S. 5 0 - 5 9 , bes. S. 55. Siehe Krausnick, Einsatzgruppen, S. 127.
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Militärs gerückt. Fuller, neben Liddell Hart der bedeutendste zeitgenössische Militärtheoretiker und zeitweiliger Berater des britischen Faschistenführers Mosley und der deutschen Abwehr 41 , hatte vor dem Polenfeldzug geraten, exemplarisch einige Juden zu erschießen 42 . Terror sollte die Moral der Zivilbevölkerung untergraben. Bei der Sicherung des rückwärtigen Gebietes galt es, das ungünstige Verhältnis von Raum und den dafür zur Verfügung stehenden Kräften durch Abschrekkung zu überbrücken. Hitler erklärte: „Selbstverständlich wird der Polizei da die Pistole locker sitzen" 43 . Es sollte jeder erschossen werden, „der nur schief schaue" 44 . Der Chef des Ο KW, Keitel, pflichtete seinem „Führer" bei, daß jeder „erschossen würde, der nicht funktioniere". In dieser Hinsicht ist ein Schreiben Keitels an den Chef Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Fromm, vom 5. Juli 1941 bezeichnend: „Wenn dieses Mal ja auch sehr brutal durchgegriffen wird, so sieht der Führer in der unermeßlichen Tiefe des gewaltigen besetzten Gebietes mit seinen riesigen Waldungen schwere Gefahren im Hinterland infolge der total verhetzten bolschewistischen Bevölkerung. ... Mit infanteristischen Kampfmitteln allein zu führende Befriedungsaktionen sind verlustreich und zeitraubend und entbehren der abschreckenden Wirkung" 45 . Der erste Grundstein dafür war bereits mit der Einschränkung der Kriegsgerichtsbarkeit gelegt worden. In diesem Sinne ordnete dann Hitler am 23. Juli 1941 an: „Die zur Sicherung der eroberten Ostgebiete zur Verfügung stehenden Truppen reichen bei der Weite dieser Räume nur dann aus, wenn alle Widerstände nicht durch die juristische Bestrafung der Schuldigen geahndet werden, sondern wenn die Besatzungsmacht denjenigen Schrecken verbreitet, der allein geeignet ist, der Bevölkerung jede Lust zur Widersetzlichkeit zu nehmen. ... Nicht in der Anforderung weiterer Sicherungskräfte, sondern in der Anwendung entsprechender drakonischer Maßnahmen müssen die Befehlshaber das Mittel finden, um ihre Sicherungsräume in Ordnung zu halten" 46 . Im September ergänzte Keitel, von der rassistischen Prämisse ausgehend, daß „ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt", daß „abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann" 47 . Deshalb sollten für einen getöteten deutschen Soldaten 50 bis 100 „Kommunisten" hingerichtet werden, wobei die abschreckende Wirkung noch 41 42 43 44 45
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Siehe Wilhelm, Einsatzgruppe, S. 506. Siehe ebd.; Friedrich, Gesetz, S. 435. Picker, Tischgespräche, S. 137. Aktenvermerk, 16. 7. 1941, IMT, 3 8 , 2 2 1 - L , S. 86-94, hier S. 92. OKW/WFSt/Abt.l Nr.441148/41 g. Kdos. Chefs., an Chef Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, 5. 7. 1941, gez. Keitel, auszugsweise abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 104 f., hier S.104. Ergänzung zur Weisung Nr. 33 vom 23. 7. 1941, abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen. Chef des Oberkommandos der Wehrmacht WFSt/Abt. L. (IV./Qu) Nr. 002060/41 g.Kdos., Kommunistische Aufstandsbewegung in den besetzten Gebieten, 16. 9. 1941, gez. Keitel, IMT, 25, 389-PS, S. 530-533, hier S. 531.
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durch die Art der Hinrichtung erhöht werden sollte. Auch das OKH ließ durch den General z. b. V. Müller vor „Nachsicht und Weichheit" 48 warnen. Bei generellen Sühnemaßnahmen sollte man sich vor allem an jene Landeseinwohner halten, die „hinsichtlich Gesinnung und Haltung gefährlich erschei« nen . Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Strategie des Terrors und der Ausrufung des Partisanenkrieges ist nicht erkennbar. Vielmehr wurde dieses Vorgehen bereits im Vorfeld des Unternehmens „Barbarossa" festgelegt, als man mit einem massiven Widerstand noch nicht rechnete. Die deutsche Politik im rückwärtigen Gebiet war also keine Reaktion auf das Auftreten der Partisanen, sondern eine vorab bewußt gewählte Option. Angesichts dieser Dispositionen ist es nicht erstaunlich, daß der Begriff der Sabotage sehr weit gefaßt wurde 49 . Es ergingen Anweisungen, nach denen es besser sei, „bei vorliegendem Verdacht ein Dorf mehr abzubrennen, als die Vernichtung eines Dorfes zu versäumen, in dem Partisanen geduldet wurden und Unterschlupf fanden" 50 . Schon kleinere Verstöße gegen deutsche Bestimmungen konnten zu massiver Vergeltung seitens der Besatzungsbehörden führen 51 . Die Erschießungen wurden nur selten durch das Völkerrecht gedeckt, welches zu diesem Zeitpunkt allerdings noch die Praxis der Geiselerschießungen in angemessenem Umfang duldete. Das OKH hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, „daß eine vorherige Festnahme von Geiseln zur Haftung für zukünftiges Unrecht nicht erforderlich ist" 52 . Als ein schweres Sicherheitsproblem erachtete man in den ersten Monaten des Feldzuges die versprengten Rotarmisten und entflohenen Kriegsgefangenen, sowie die Wanderungs- und Flüchtlingsströme. Weil die deutschen Kräfte nicht annähernd ausreichten, um das Hinterland von versprengten Rotarmisten und entlaufenen Kriegsgefangenen zu säubern, wurden diese per Maueranschlag aufgefordert, sich zu melden. Nach Ablauf einer gesetzten Frist, die verschiedentlich verlängert wurde, waren alle Rotarmisten hinter der deutschen Front als Partisanen anzusehen und zu erschießen 53 . Mit allen Mitteln wollten die deutsche Stellen die kriegsbedingten Bevölkerungsbewegungen, wahlweise als „Herumtreiberei" oder „Vagabundenunwe48
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OKH/Gen. z.b.V. beim Ob.d.H., A z . 453/Gr. Rwes Nr. 13332/41 geh., 25. 7. 1941, gez. I.A. Müller, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 1 0 6 - 1 0 9 , hier S. 107. Für das X X X V I . Armeekorps war bereits durch „grobes Verunreinigen der Wege" der Tatbestand eines Angriffs auf die Wehrmacht erfüllt. Gen. Kdo. X X X V I . A.K., Abt. Ia/U (Ic, III) Br. 21/41, Behandlung schädlicher und verdächtiger Teile der Zivilbevölkerung, 26. 12. 1941, gez. v. Reuß, abgedr. in: ebd., S. 8 1 - 8 7 , hier S. 82. A O K 16. Armee an den Kommandanten des rückwärtigen Gebietes der Armee, 27. 11. 1941, gez. Gerlach, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 231 f., hier S. 232. Wegen der Beschädigung einer Nachrichtenanlage, deren Täter nicht ermittelt werden konnten, ließ der Stadtkommandeur von Kiev, Eberhard, 400 Männer erschießen. Stadtkommandantur Kiew, Bekanntmachung, 29. 11. 1941, gez. Eberhard, IMT, 39, 2 9 1 - U S S R , S. 472. OKH/Gen. z.b.V. beim Ob.d.H., A z . 453/Gr. Rwes Nr. 13332/41 geh., 25. 7. 1941, gez. I.A. Müller, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 1 0 6 - 1 0 9 , hier S. 107. Ebd.; 12. Infanterie-Division/Abt. Ic/Ia Nr. 607/41 geh., Sicherung der Truppe gegen Partisanen und Sabotage, 17. 11. 1941, IMT, 35, 4 1 1 - D , S. 82-84, hier S. 83 f.
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sen" bezeichnet, unterbinden 54 . Ausgangssperren, das Anlegen von Einwohnerlisten und strenge Ausweiskontrollen 5 5 erwiesen sich jedoch als wenig wirkungsvoll. Solche Maßnahmen wurden nämlich durch das Niederbrennen von Dörfern als kollektive Strafmaßnahme, die Schaffung eines Niemandslandes bzw. sogenannter Todeszonen in der Nähe von deutschen Verkehrslinien oder des Operationsgebietes 56 , sowie die mehr oder weniger gezielte Hungerpolitik gegenüber den Großstädten, die „Hamsterfahrten" der notleidenden Bevölkerung 5 7 unvermeidlich machten, konterkariert. Es wurde lediglich bewirkt, daß sich das „Vagabundenunwesen" in die Wälder verlagerte, wo man die dort aufgegriffenen „Wanderer" zu Partisanen erklärte und entsprechend behandelte 58 . Es ist nicht zu bestreiten, daß die Forderung, Schrecken zu verbreiten, weitgehend befolgt worden ist. Das Entstehen und Anwachsen einer Partisanenbewegung konnte aber nicht verhindert werden. Mit der Strategie des Terrors allein läßt sich aber die besondere Qualität des sowjetischen Partisanenkrieges nicht erklären. Auch die Guerillakriege in Indochina und Algerien waren „schmutzige Kriege". Allerdings kam beim deutschsowjetischen Krieg eine rassenideologische Zielsetzung hinzu, die Teile des Holocaust unter dem Deckmantel des Partisanenkrieges stattfinden ließ. In der Ausrufung des Partisanenkrieges durch Stalin sah Hitler eine Chance: „er gibt uns die Möglichkeit auszurotten, was sich gegen uns stellt" 59 . Hatte zunächst Heydrich die HSSPF angewiesen, kommunistische Funktionäre, Juden in Partei- und Staatsstellung und „sonstige radikale Elemente" 60 zu erschießen, konnte nun jeder unter dem Vorwand subversiver Betätigung ermordet werden. Nach entsprechenden Weisungen sollten von nun an Judenerschießungen mit dem Partisanenkrieg in Verbindung gebracht werden 61 . Am 18. 12. 1941 notierte Himmler nach einer Besprechung mit Hitler in seinem Terminkalender: „Judenfrage./ als Partisanen auszurotten" 6 2 .
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Für eine deutsche Analyse dieser Ströme siehe Wehrmacht-Propagandaabteilung U an Abteilung Wehrmachtpropaganda im O K W , Ol. 11. 1942, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 344-349, hier S. 347. Siehe ζ. B. 12. Infanterie-Division/Abt. Ic/Ia Nr. 607/41 geh., Sicherung der Truppe gegen Partisanen und Sabotage, 17. 11. 1941, IMT, 35, 4 1 1 - D , S. 82-84, hier S. 83f. Siehe z . B . A O K 11. Armee, 5 . 9 . 1941, gez. Woehler, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 196 f. Vgl. auch Bartov, Front, S. 122. Siehe Schulte, A r m y , S. 106. Siehe Müller, Wehrmacht, S. 314. Aktenvermerk, 16. 7. 1941, IMT, 38, 2 2 1 - L , S. 86-94, hier S. 88. Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Β Nr. IV-1180/41 gRs, 2. 7. 1941, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 103 f., hier S. 104. Siehe Büchler, Kommandostab, S. 15. Besprechungszettel „Führerbesprechung Wolfschanze 18.XII. 41 16h. Führer", Terminkalender Himmler, zit. n. Gerlach, Wannsee-Konferenz, S. 7—44, S. 22. Für Gerlach liegt der Sinn dieser Formulierung darin, daß die Juden nach dem Kriegseintritt der U S A von Hitler und Himmler als potentielle Unruhestifter gesehen wurden, ebd., S. 27. Es erscheint aber wahrscheinlicher, daß hier auf die Praxis in den besetzten Gebieten angespielt wurde, in der A r t wie sie Hitler am 16. 7. 1941 angeregt hatte, Aktenvermerk, 16. 7. 1941, IMT, 38, 2 2 1 - L , S. 86-94, hier S. 88.
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Die Berichte der Einsatzgruppen und Sonderkommandos zeigen, daß diese Weisung konsequent umgesetzt wurde. In dem Maße, in dem das zu kontrollierende Gebiet anwuchs, legten die zuständigen Sicherungsdivisionen Wert auf eine gute Zusammenarbeit 63 mit dem Sicherheitsdienst. Schon ab Juli 1941 häuften sich beim SD Anforderungen seitens der Wehrmacht bezüglich Säuberungsunternehmen 64 . Bereits in dieser frühen Phase des Krieges zeichnete sich eine enge Kooperation zwischen SS/SD und der Wehrmacht ab, die bald über die eigentlichen Absprachen hinausging. Im März 1942, als die eigenen Kräfte nicht mehr ausreichten, wurden die Einsatzgruppen für den Befehlshaber des Heeresgebietes Mitte, Schenckendorff, „unentbehrlich" 65 ; Halder kam zu dem Urteil: „Diese Leute sind für uns Goldes wert" 66 . Der Befehlshaber im rückwärtigen Heeresgebiet Süd, General Karl v. Roques, ordnete in seinen Richtlinien für die Partisanenbekämpfung an: „Bei der Sichtung der Gefangenen ist der SD zu beteiligen, um gegebenenfalls entsprechende Elemente auszusondern" 67 . Exemplarisch für die Zusammenarbeit von Wehrmacht und SS ist ein von Schenckendorff initiierter gemeinsamer Lehrgang zur Partisanenbekämpfung, der vom 24. bis zum 26. September 1941 in Mogilev stattfand. Auf dieser Veranstaltung referierte der HSSPF Mitte, SSGruppenführer von dem Bach-Zelewski, über das „Erfassen von Kommissaren und Partisanen" und der Chef der Einsatzgruppe B, Nebe, über „Die Judenfrage mit besonderer Berücksichtigung der Partisanenbewegung". Als Quintessenz der Tagung, die mit einer gemeinsamen „Übung" 68 zu Ende ging, wurde festgehalten: „Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan" 69. Die Wehrmacht unterstützte die Einsatzgruppen weitestgehend. Hilfeleistungen reichten von der Registrierung von Juden 70 über „Zuführung" 71 von Juden
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Ereignismeldung UdSSR Nr. 27, 19. 7. 1941, auszugsweise abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 369. Siehe ζ. B. Ereignismeldung UdSSR Nr. 32, 24. 7. 1941, auszugsweise abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 104; A O K 11, Abt. Ic/AO (Abw. III) Nr. [?]/41 geh., 7. 8. 1941, gedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 109; Ereignismeldung UdSSR Nr. 94, 25. 9. 1941, T W C , N O - 3 1 4 6 , Vol. X, S 1 2 2 0 - 1 2 2 4 , hier S. 1221; Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD. Einsatzgruppe A , Erfahrungsbericht über die Bekämpfung der Partisanen, 29. 9. 1941, IMT, 37, 180-L, S. 7 0 3 - 7 1 1 , hier S. 704; Einsatzgruppe A , Gesamtbericht bis zum 15. 10. 41, gez. Stahlecker, IMT, 37, 180-L, S. 6 7 0 - 7 0 1 , hier S. 674. Ereignismeldung UdSSR Nr. 1 8 6 , 2 7 . 3 . 1 9 4 2 , auszugsweise abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 376. Zit. n. Höhne, Orden, S. 338 f. Befh. des rückw. H. Geb. Süd, Abt. Ia/Ic Nr. 1337/41 g, Richtlinien f ü r die Partisanenbekämpfung, 24. 8. 1941, zit. n. Krausnick, Einsatzgruppen, S. 213. „Die Aktion, erst als Lehrübung eingesetzt [sie!], wurde im O r t ernstfallsmäßig angesetzt. Ortsfremde Personen, insbesondere Partisanen konnten nicht festgestellt werden. Dagegen ergab die Überprüfung der Bevölkerung das Vorhandensein von 13 Juden, 2 7 Judenfrauen und 11 Judenkindern. V o n diesen wurden 13 Juden und 19 Jüdinnen mit dem SD exekutiert", KTB, 322 Polizeibatl., 25. 9. 1941, zit. n. Förster, Gesicht, S. 160. Siehe Krausnick, Einsatzgruppen, S. 2 1 7 f . Siehe ζ. B. Ereignismeldung UdSSR Nr. 32, 24. 7. 1941, auszugsweise gedr. in: Rürup (Hrsg.). Krieg, S. 104; 454. Sich.Div. Abt. Ia, Anlage 2 zum Div. Befehl Nr. 5 9 , 2 0 . 8 . 1 9 4 1 , gedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 5 7 - 6 2 , hier S. 60. Siehe z.B. 281. Sich.Div.Abt. VII/Ia, Tgb.-Nr. 457/43, geh. 24. 3. 1943, gedr. ebd., S. 101.
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und Sinti bis zu Absperrdiensten bei Erschießungen 72 . Dienststellen der Wehrmacht hatten sich dabei der Kritik am SD zu enthalten. Angesicht einer derart engen Kooperation konnte den beteiligten Wehrmachtstellen das Ausmaß der Tätigkeit der Einsatzgruppen nicht verborgen bleiben 73 . Die Wehrmacht hat sich auch selbst direkt an Vernichtungsaktionen beteiligt. Neben der freiwilligen Mitwirkung an Erschießungen durch die Einsatzgruppen 74 wurde auch gezielt gegen Juden vorgegangen 75 . Besonders im Gebiet von Weißrußland nahmen diese Aktionen einen erheblichen Umfang an. Die Einsatzgruppe Α schätzte, daß von der Heeresgruppe Mitte bis Dezember 1941 „ungefähr 19000 Partisanen und Verbrecher, d.h. also in der Mehrzahl Juden erschossen worden" 76 sind. Der für Weißruthenien zuständige Wehrmachtkommandant Bechtholsheim führte in seinem Monatsbericht für den Zeitraum vom 11. Oktober bis zum 10. November 1941 aus: „Da sie [die Juden] nach wie vor mit den Kommunisten und Partisanen gemeinsame Sache machen, wird die restlose Ausmerzung dieses volksfremden Elements durchgeführt" 77 . Weiter heißt es im selben Bericht unter der Rubrik Gefangene: „10940, davon 10431 erschossen" 78 . Bechtolsheim wußte sich im Einklang mit seinem Vorgesetzten, dem Wehrmachtbefehlshaber Ostland, Generalleutnant Braemer. Dieser hatte im September 1941 gefordert, daß „alle die Ruhe und Ordnung gefährdenden Faktoren", worunter auch „Juden und judenfreundliche Kreise" fielen, durch „rasches Handeln und rücksichtsloses, brutales Vorgehen" 79 ausgeschaltet werden sollten. Gegenüber dem Reichskommissar Ostland, Lohse, begründete Braemer die Gefährlichkeit der Juden damit, daß die „jüdische Bevölkerung
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Siehe z.B. Befehlsh. d. rückw. H. Geb. Süd, Abt. Ic Nr. 5889/42 geh. 20. 3. 1942, gez. v. Roques, gedr. in: ebd. S. 91. Siehe ζ. B. O K Simferopol an Korück 553, 11. 11. 1941, T W C , Vol. X, S. 1258 £. In dieser Meldung ist von der Erschießung von 11 000 Juden durch den SD die Rede. Siehe auch Birn, Wirklichkeit, S. 275. „Sie [die Erschießung von Juden] erfolgt durchaus öffentlich unter Hinzuziehung ukrainischer Miliz, vielfach leider auch unter freiwilliger Beteiligung von Wehrmachtsangehörigen". Rü In Ukraine Inspecteur an Chef des W i Rü Amtes im O K W Thomas, 2. 12. 1941, IMT, 32, 3257-PS, S. 72-75, hier S. 73 f. „Zum Schutz gegen Partisanenumtriebe und zur Sicherung der hier hegenden Einheiten erwies es sich ferner als unumgänglich nötig, die 14 ortsansässigen Juden und Jüdinnen unschädlich zu machen". O K Armjansk an Korück 553, 30. 11. 1941, zit. n. Streit, Kameraden, S. 118. Wilhelm, Einsatzgruppe; Geheime Reichssache, o.D., IMT, 30, 2273-PS, S. 72-80, hier S. 79. Wehrmacht-Kommandant Weißruthenien, Monatsbericht für die Zeit vom 1 1 . 1 0 . - 1 0 . 1 1 . 1941, auszugsweise abgedr. in: Lenhard (Hrsg.), Lebensraum, S. 219. Ebd., hier S. 220. Weitere Beispiele bei Wilhelm, Einsatzgruppe, S. 317, Anm. 27; siehe auch Bartov, Front, S. 120 f. Auch gegen „Asiaten" wurde vorgegangen, 75 ID/Ic an alle Einheiten, 6. 1 . 1 9 4 2 , zit. n. Boll/Safrian, Weg, S. 263; und gegen Sinti, Kommand. Gen. d. Sich. Tr. u. Kommandeur Rückw. H. Gebiet Nord, 7 . 6 . 1942, T W C , N O K W - 2 1 1 1 , Vol. X, S. 1192. W . B. Ostland/Ia Nr. 705/41 g., Richtlinien für die militärische Sicherung und für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in Ostland, 25. 9. 1941, zit. n. Wilhelm, Motivation, S. 172.
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Weißrutheniens . . . bolschewistisch und zu jeder deutsch-feindlichen Haltung fähig" 8 0 sei. Die oben genannten Beispiele lassen sich nicht allein mit einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis erklären. Die Verknüpfung von militärischen Problemen und einer rassenideologischen Zielsetzung dokumentiert sieh eindrucksvoll in den Befehlen des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Reichenau 8 1 , und seiner Nachahmer Manstein 82 und Hoth 8 3 . Ausgehend von der zunehmend unsicherer werdenden Lage im Hinterland, verbunden mit Warnungen vor ,,heimtückische[n], grausame[n] Partisanen und entartete[n] Weiberfn]" sowie „missverstandene]/] Menschlichkeit" - die es also gegeben haben muß, wurden „drakonische Massnahmen" befohlen. Die Truppe müsse Verständnis „für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum" haben, welches der „Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Wehrmacht und der Roten Führung" sei. Für Hoth war deshalb die Ausrottung der Juden „ein Gebot der Selbsterhaltung". Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, daß die Wehrmacht als monolithischer Block in den Osten zog und dort jeder Wehrmachtangehörige automatisch zu einem Verbrecher wurde. Der Major im Generalstab von Gersdorff berichtete beispielsweise nach einer Frontinspektion: „Bei allen längeren Gesprächen mit Offizieren werde ich, ohne darauf hingedeutet zu haben, nach den Judenerschießungen gefragt. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Erschießungen der Juden, der Gefangenen und auch der Kommissare fast allgemein im Offizierskorps abgelehnt w i r d , . . ..Es ist hierzu festzustellen, daß die vorhandenen Tatsachen im vollem Umfang bekannt geworden sind und daß im Offizierskorps der Front weit mehr darüber gesprochen wird, als anzunehmen war" 8 4 . Solche Proteste sind ein Indiz dafür, daß das Ausmaß der Verbrechen bekannt und Einspruch dagegen möglich war. An der Tatsache, daß die Gleichung „Jude gleich Partisan" nicht nur von der SS vertreten wurde, ändert dies aber nichts. Nach der Niederlage vor Moskau rächte es sich, daß weder ein Scheitern des Blitzkrieges, noch das Entstehen einer Widerstandsbewegung im Hinterland
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Wehrmachtbefehlshaber Ostland Generalleutnant Braemer an Lohse, 20. 11. 1941, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 225 f. Armeeoberkommando 6/Abt. I a-Az. 7, Verhalten der Truppe im Ostraum, 10. 10. 1941, gez. v. Reichenau, IMT, 35, 4 1 1 - D , S. 84-86. In einem weiteren Befehl an seine Armee forderte Reichenau seine Soldaten auf, „Mittel zur Vernichtung dieser Mörder anzuwenden, die weder unserer A r t entsprechen, noch jemals von deutschen Soldaten gegen eine feindliche Bevölkerung angewendet worden sind". Oberbefehlshaber der 6. Armee, Armeebefehl, 9. 11. 1941, gez. v. Reichenau, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 129 f. Armeeoberkommando 11/ Abt. Ic/AO Nr.2379/41 geh., 20. 11. 1941, gez. v. Manstein, IMT, 34, 4059-PS, S. 1 2 9 - 1 3 2 . Armee-Oberkommando 17, I a Nr. 0973/41 geh., Verhalten der deutschen Soldaten im Ostraum, 17. 11. 1941, gez. Hoth, abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 3 4 1 - 3 4 3 . Bericht des Majors i. G. von Gersdorff über eine Frontreise vom 05.12.-08. 12. 1941, A n lage zu KTB, Oberkommando H.Gr. Mitte, 09. 12. 1941, abgedr. in: ebd., S. 397 f., hier S. 398.
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konzeptionell bedacht worden waren. An die Bildung einer Besatzungsarmee von 40 Divisionen zur Beherrschung des eroberten Landes war nun nicht mehr zu denken. Während langsam eine zentral von Moskau gelenkte Partisanenbewegung entstand, litten die deutschen Bemühungen zur Befriedung der eroberten Gebiete an einem Kompetenzenwirrwarr und zunehmend unter dem Mangel an Truppen. Schon zu Beginn des Ostkrieges hatten zur rückwärtigen Sicherung viel zu geringe Kräfte zur Verfügung gestanden 85 . Dieses Problem besaß auch eine qualitative Komponente 86 . Es handelte sich meist um überalterte, z.T. reaktivierte Offiziere 8 7 und für den aktiven Frontdienst ungeeignete Soldaten, die zusehends mit der schwierigen Befriedung des Hinterlandes überfordert waren. Dies zeigte sich bereits im Juli 1941, als die deutschen Panzerspitzen tief in die Sowjetunion hineinstießen und Hunderttausende versprengter Rotarmisten hinter sich ließen. Halder notierte in seinem Kriegstagebuch: „Ernste Sorge macht die Befriedung des rückwärtigen Gebietes. Die Eigenart unserer Kampfesweise hat weitgehende Unsicherheit des rückwärtigen Gebietes durch abgesprengte Feindteile zur Folge. Die Sicherungsdivisionen allein genügen nicht für die großen Räume. Wir müssen von der fechtenden Truppe einzelne Div. dafür ausgeben" 88 . Die Situation verschärfte sich weiter nach den großen Sommerschlachten. Da diese Kessel nur unzureichend ausgekämmt werden konnten, bildeten sie den Nukleus von Partisanengebieten, wie z.B. im Raum von Vjaz'ma und Brjansk. Mit der Niederlage vor Moskau hatte die Wehrmacht nicht mehr zu ersetzende Verluste an Menschen und Material hinnehmen müssen; die Personalsituation an der Front erwies sich als permanent kritischer 89 . Deshalb wurden Sicherungsdivisionen, SS- und Polizeieinheiten aus den rückwärtigen Gebieten an die Front verlegt 90 . Die betroffenen Stellen im Hinterland versuchten nun ihrerseits, alle irgendwie verfügbaren Truppen in die Partisanenbekämpfung einzuspannen. Beispielsweise wurden Reserveregimenter, Ausbildungseinheiten und Offiziers- und Unteroffizierslehrgänge in die Partisanengebiete verlegt, wo man diese Einheiten im Zuge ihrer Ausbildung zur Strecken- und Objektsicherung heranzog 91 . Zwar bewährten sich diese Einheiten beim Objektschutz
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Beispielsweise standen der 9. Armee f ü r Streifendienste auf 1 0 0 0 0 km 2 nur 300 Mann zur Verfügung; Hesse, Partisanenkrieg, S. 78 f. Siehe umfassend Förster, Sicherung, S. 1030 ff. Siehe Schulte, A r m y , S. 79-82. Schenckendorff war selbst Jahrgang 1875 und bereits 1930 aus dem aktiven Militärdienst ausgeschieden, vgl. Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 82. Halder, KTB, 3, S. 32, 1. 7. 1941. „An allen Fronten stellt das Schwinden der Menschenzahl eine von Tag zu Tag stärker auswirkende Gefahr dar", Mehner (Hrsg.), Tagesberichte, 6, S. 213, 17. 3. 1943. Stenographischer Bericht über die Besprechung des Reichsmarschalls Göring mit den Reichskommissaren f ü r die besetzten Gebiete und den Militärbefehlshabern über die Ernährungslage am 6. 8. 1942, IMT, 39, 170-USSR, S. 385^107, hier S. 399 u. 403; Schramm (Hrsg.), K T B O K W 3, S. 138, 18. 2. 1943; siehe Hesse, Partisanenkrieg, S. 175. Schramm (Hrsg.), K T B O K W 3, S. 44, 16. 1. 1943; S. 49, 18. 1. 1943; S. 932, 11. 8. 1943; S. 997, 24. 8. 1943.
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durchaus 92 , eine gezielte und aktive Bekämpfung der Partisanengruppen konnte aber von ihnen nicht erwartet werden. Je länger der Krieg dauerte, und je stärker die Partisanenbewegung anwuchs, desto mehr wurde nach Hitlers Maßgabe gehandelt, daß es „im bandengefährdeten Gebiet keinen Deutschen geben [darf], der nicht aktiv oder passiv in die Bandenbekämpfung eingespannt ist" 93 . Um auch offensiv vorgehen zu können, wurden, falls es die Lage an der Front erlaubte, „alle irgendwie freizumachende Kräfte" 94 zu Großunternehmen zusammengezogen, die aber selten das gewünschte Ergebnis zeitigten 95 . Unter diesen Umständen erschien es plausibel, obwohl von Hitler abgelehnt, seitens der deutschen Dienststellen die Rekrutierung und Bewaffnung von Einheimischen ins Kalkül zu ziehen. Die Führungsspitze des OKW stand ihrem Einsatz aber skeptisch gegenüber, vor allem weil ja im Zuge der Aktionen von ihnen auch ein rücksichtsloses Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung verlangt werden mußte 96 . Die Feld- und Ortskommandanturen sahen dies aber teilweise anders. Unter dem Eindruck des besonders im Baltikum und in der Ukraine freundlich aufgenommenen deutschen Einmarsches waren schon früh aus Freiwilligen und Kriegsgefangenen Ordnungsdienst (OD), Selbstschutzeinheiten und Schutzmannschaften gebildet worden 97 . Am 6. Oktober 1941 ermächtigte Wagner die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete offiziell, im Einvernehmen mit den HSSPF aus Kriegsgefangenen Kosakenhundertschaften aufzustellen 98 . Da es keine einheitlichen Richtlinien gab, entwickelte sich der Einsatz der „Landeseigenen Verbände" zeitlich und räumlich unterschiedlich. Während bei einigen Dienststellen die Einheimischen höchstens als Küchenpersonal zugelassen wurden, wurden diesen bei anderen schon massiv Sicherungsaufgaben anvertraut. Je nach der Einstellung der lokalen militärischen Dienststellen wurden sogar größere Experimente unter russischer Führung gewagt, wie z.B. die Kaminski-Brigade 99 , die Brigade Graukopf 100 und Rodionovs Druzhina-Einheit 101 .
Siehe Kreidel, Partisanenkampf, S. 382 f; Wegner, Krieg, S. 919. Der Führer, O K W / W F S t / O p . Nr. 002821/42 g. Kdos., Weisung Nr. 46, Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten, 18. 8. 1942, gez. Adolf Hitler, abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 2 0 1 - 2 0 5 , hier S. 205. 94 Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 3, S. 38, 13. 1. 1943. 9 5 Siehe ζ. B. Kommand. Gen. d. Sich.Tr. u. Befehlsh. Heeresgeb. Mitte, Ia Br.B. Nr. 676/42 g. Kdos., 7. 11. 1942, gez. v. Schenckendorff, auszugsweise abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S, 247 f . , hier S. 248. Umfassend Umbreit, Problem. 9 6 „Landeseigene Kräfte werden im allgemeinen zur Durchsetzung solcher Gewaltmaßnahmen versagen". Chef OKW/WFSt./Abt. L (IV/Qu) Nr. 002060/41 g.Kdos, Kommunistische Aufstandsbewegungen in den besetzten Gebieten, 16. 9. 1941, IMT, 25, 389-PS, S. 5 3 0 - 5 3 3 , hier S. 532. 9 7 Siehe ζ. B. 454; Sich.Div., Abt. Ia, Anlage 2 zum Div. Befehl Nr. 5 9 , 2 0 . 8 . 1 9 4 1 , abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 5 7 - 6 2 , hier S. 59; 285. Sich.Div., Richtlinien, 6. 12. 1941, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 235 f. 98 Hoffmann, Ostlegionen, S. 21. " S i e h e Buchardt, Behandlung, S. 1 0 0 - 1 1 2 ; Cooper, War, S. 112; Schulte, A r m y , S. 172-179. 1 0 0 Siehe Kreidel, Partisanenkampf, S. 383;. Cooper, War, S. 121. 101 Siehe Buchardt, Behandlung, S. 1 1 4 - 1 1 6 ; Dallin u.a., Case Study; Cooper, War, S. 123. 92
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Nach dem Scheitern des deutschen Angriffes vor Moskau und dem Beginn der organisierten Entwicklung der Partisanenbewegung blieb den betroffenen deutschen Stellen nichts anderes übrig, als verstärkt auf schon bestehende „Landeseigene Verbände" zum Strecken- und Objektschutz zurückzugreifen. O b wohl rasch deutlich wurde, daß sich auch mit diesen vorhandenen Einheiten der rückwärtige Raum nicht ausreichend sichern ließ, verbot Hitler zunächst sogar weitere Aufstellungen 102 aus zumeist rassenideologischen Erwägungen. Erst Ende Mai 1942 deutete er Goebbels gegenüber seine vorsichtige Zustimmung an, zusätzliche Einheiten zum Partisanenkampf aus „bolschewistischen Gefangenen" 1 0 3 zu bilden. In seiner Weisung Nr. 46 erlaubte er schließlich: „Die in der Bandenbekämpfung besonders bewährten landeseigenen Verbände können, soweit unbedingt zuverlässige und einsatzfreudige Mannschaften zur Verfügung stehen, weiter aufrechterhalten und ausgebaut werden" 1 0 4 . Allerdings verbot der Diktator im Juni 1943 erneut eine weitere Verstärkung 105 . Die „Landeseigenen Verbände" entwickelten sich trotzdem zum Hauptkontingent von SS/Polizei und Wehrmacht im Partisanenkrieg. Für die Wehrmacht war es aber weitaus schwieriger, gegen die ablehnende Haltung Hitlers voranzukommen, als für die SS und die Ordnungspolizei, die auf diese Weise zusätzliche 300 000 Mann rekrutierten 1 0 6 . O f t war die Entlastung aber nur kurzfristig, weil schon ab Sommer 1942 bewährte Verbände, besonders die Schutzmannschaften der Ordnungspolizei, auch an der Front eingesetzt wurden 107 . A b 1943 sank die Moral bei den „Landeseigenen Verbände", da die politische und wirtschaftliche Situation in den Besatzungsgebieten immer schlechter wurde, und weil sich der Sieg der Roten Armee immer klarer abzeichnete. Zerfallserscheinungen und ein Uberlaufen zu den Partisanen und der Roten Armee waren die Folge. Zu Beginn des Jahres 1942 gab es noch immer keine zentrale Stelle für die militärische Sicherung der eroberten Gebiete. Im Kampfgebiet fiel das natürlich in die Zuständigkeit des O K H . In der Regel war damit der Generalquartiermeister befaßt, der dann dem Generalstab Bericht erstattete 108 . In den Gebieten unter Zivilverwaltung waren der RFSS, bzw. die H S S P F zuständig, unterstützt von den dortigen Wehrmachtbefehlshabern. Innerhalb der Armeen war die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Partisanen nur unzureichend geregelt. Meist wurde diese den eigenen Gruppen der Geheimen Feldpolizei ( G F P ) oder gar dem S D überlassen. Manchmal fiel diese Aufgabe auch dem Quartiermeister oder bereits dem zuständigen Generalstabsoffizier für Feindaufklärung und 102 103 104
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Siehe Hoffmann, Ostlegionen, S. 24. Fröhlich (Hrsg.), Goebbels-Tagebücher, II, 5, 30. 5. 1942, S. 401. Der Führer, O K W / W F S t / O p . Nr. 002821/42 g. Kdos., Weisung Nr. 46, Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten, 18. 8. 1942, gez. Adolf Hitler, abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 204. O K W / W F S t . / O p . Nr. 002739/43 gk., 23. 6. 1943, gez. I.A. Warlimont, abgedr. in: ebd., S. 206. Chef der Ordnungspolizei, Bericht, 1. 2. 1943, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 102. Stenographischer Bericht über die Besprechung des Reichsmarschalls Göring mit den Reichskommissaren für die besetzten Gebiete und den Militärbefehlshabern über die Ernährungslage am 6. 8. 1942, IMT, 39, 170-USSR, S. 3 8 5 ^ 0 7 , hier S. 398. Siehe ζ. B. Halder, K T B , 3, S. 262, 1. 10. 1941.
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Abwehr (Ic) zu. Als eine Führungsaufgabe, die in der Zuständigkeit des ersten Generalstabsoffiziers (Ia) gelegen hätte, wurde die Partisanenbekämpfung anfangs nicht betrachtet 109 . Dieses geschah erstmals durch die Befehlshaber Manstein und Hoth im Herbst 1941 n 0 . Mit der stetigen Zentralisierung und Intensivierung des Partisanenkrieges durch die Sowjetunion forderte der stellvertretende Chef des WFSt, Warlimont, den „Bandenkampf" zu einer Aufgabe geordneter Führung zu machen" und damit der Sphäre des Heckenschützenkrieges zu entziehen 111 . In diesem Sinne erklärte Hitler in seiner Weisung Nr. 46 die Partisanenbekämpfung zu einer Führungsangelegenheit 112 . Eine Zusammenfassung der Zuständigkeit fand aber nicht statt. Obwohl Hitler den RFSS zur zentralen Stelle für diese Aufgabe deklarierte, blieb im Operationsgebiet weiterhin das OKH allein verantwortlich, das mittlerweile die Operationsabteilung unter General Heusinger damit beauftragt hatte 113 . Nach Himmlers Weisung stimmte zunächst sein Chef des Kommandostabes RFSS, Knoblauch, die Bekämpfung der Partisanen mit dem OKH und OKW ab 114 . Im Oktober 1942 richtete Himmler weitergehend die Stelle des „Bevollmächtigen des Reichsführer-SS für die Bandenbekämpfung" ein, die er mit dem HSSPF Rußland-Mitte, von dem Bach, besetzte. Dieser war letztlich aber nur ein Koordinator zwischen den einzelnen Stellen. Auch die Ernennung zum „Chef der Bandenkampfverbände" am 21. Juni 1943 erweiterte seine Kompetenzen kaum, zumal solche Verbände überhaupt nicht existierten. Selbst die Kampfeinheiten der SS blieben weiterhin dem Kommandostab-RFSS unterstellt, der nunmehr vom Generalmajor der Waffen-SS und Polizei Rode geleitet wurde 115 . Auch bei Säuberungsunternehmen erhielt von dem Bach nicht automatisch das Oberkommando, vielmehr sah es in der Praxis so aus, daß der Befehlshaber des stärksten Kontingents auch die Leitung eines Unternehmens erhielt 116 . Wie eingeschränkt von dem Bachs Handlungsspielraum war, zeigt auch die Tatsache, daß er nur in den Gebieten operieren durfte, die zuvor vom RFSS zu Kampfgebieten erklärt worden waren 117 . Eine einheitliche Führung kam auf diese Weise nicht zustande. Während die sowjetischen Partisanen zentral ge109 no
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Siehe Kreidel, Partisanenkampf, S. 381; Teske, Kampfführung, S. 665. A O K 11, Armeebefehl für Organisation und Durchführung der Partisanenbekämpfung, 29. 11. 1941, gez. Manstein, abgedr. in: Dixon/Heilbrunn, Partisanen, S. 1 1 4 - 1 1 6 . Siehe Förster, Sicherung, S. 1249. Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 2, S. 558 f., 14. 8. 1942. Der Führer, O K W / W F S t / O p . Nr. 002821/42 g. Kdos., Weisung Nr. 46, Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten, 18. 8. 1942, gez. Adolf Hitler, abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 2 0 1 - 2 0 5 , hier S. 202; Oberkommando der Heeresgruppe Mitte/Ia Nr. 6241/42 g. Kdos., Partisanenbekämpfung, 10. 8. 1942, gez. Wöhler, abgedr. in: Kühnrich, Partisanenkrieg, S. 514. Halder, KTB, 3, S. 500, 6. 8. 1942. Siehe Hesse, Partisanenkrieg, S. 178; Cooper, War, S. 86 f. Siehe ebd., S. 95. V o n dem Bach unterstanden lediglich 2 Polizeiregimenter, Schutzmannschaften, die 1. SS-Infanterie-Brigade (mot.) und das Freikorps „Danmark", siehe Umbreit, Problem, S. 135. In dieser Hinsicht äußerten sich Heusinger und Rode beim Nürnberger Prozeß, IMT, 32, 3715-PS, S. 481 f. u. 3717-PS, S. 4 8 3 - 4 8 5 . Siehe Tessin, Stäbe, S. 17.
Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg
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lenkt wurden, führten SS, O K H und O K W ihren Partisanenkampf weitgehend nebeneinander. Ab 1942 häuften sich in deutschen Führungskreisen Warnungen vor den politischen Folgen der brutalen deutschen Maßnahmen und die Empfehlungen für einen rücksichtsvolleren Kurs 118 . Solche Äußerungen kamen auch von Stellen, die bis dahin selbst drakonisches Vorgehen gefordert hatten. Ausgerechnet Reichenau stellte in einer Denkschrift fest: „Die Tatsache, daß mit einer baldigen Entscheidung im Osten, wie überhaupt des ganzen Krieges, nicht mehr gerechnet werden kann, zwingt zu einer Nachprüfung unserer bisherigen Haltung" 1 1 9 . Schenckendorff, der nach eigenen Worten im eigenen Bereich „nicht mehr Herr der Lage" 1 2 0 war, kam zu dem Ergebnis: „Terrormaßnahmen, wie Niederbrennen von Ortschaften und Erschießen von Einwohnern, insbesondere von Frauen und Kindern, wirken im entgegengesetzten Sinne" 121 . Dagegen stand die Meinung anderer, derzufolge sich das harte Vorgehen gegen die Partisanen durchaus bewährt hatte, wofür echte und vermeintliche Erfolge angeführt wurden 1 2 2 . Daß überhaupt nicht daran gedacht war, im Kampf gegen die Partisanen selbst „schonender" vorzugehen, belegt auch Halders Vorschlag, sogar notfalls Giftgas einzusetzen 123 . Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord wünschte, daß jede Person als Partisan erschossen werden sollte, die sich nicht ausweisen könne 124 . Der Wehrmachtbefehlshaber Ukraine gab den Grundsatz aus, „daß bei einem Zweifel hinsichtlich der Wahl der zu treffenden Maßnahmen das härtere Verfahren das richtige ist" 125 , was jenseits jeder gültigen Rechtsordnung lag. U m so erstaunlicher erscheint daher auf den ersten Blick, daß ausgerechnet Hitler in seiner Weisung Nr. 46 eine „strenge aber gerechte Behandlung der Bevölkerung" und die „Sicherstellung des Existenzminimums" 1 2 6 forderte. Aller-
1 1 8 Siehe Daliin, Herrschaft, S. 531; Schulte, A r m y , S. 332. ' " G e h e i m e Denkschrift des Generalfeldmarschalls v. Reichenau zur Ukrainefrage, Januar 1942, zit. n. Müller, Ostkrieg, S. 44. 1 2 0 Zit. n. Förster, Sicherung, S. 1257. 121 Der Kommandierende General der Sicherungstruppen und Befehlshaber im Heeresgebiet Mitte, Ia, 3. 8. 1942, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 1 3 2 - 1 3 4 , hier S. 132 f. 1 2 2 „Im Armeegebiet ist das Partisanenwesen so gut wie beseitigt. Die Armee schreibt dies den rigorosen Maßnahmen zu, die angewandt wurden ... Im Zuge dieser Aktion sind im Armeebereich mehrere Tausend öffentlich gehängt oder erschossen worden. Der Tod durch den Strang wirkt erfahrungsgemäß besonders abschreckend ... Als Erfahrung ist festzustellen: N u r solche Maßnahmen führen zum Ziel, vor denen die Bevölkerung noch mehr Furcht hat, als v o r dem Terror der Partisanen". Armee-Oberkommando 6/Abt. Ia A z . 1, an Heeresgruppe Süd, 7. 12. 1941, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 130; zu dem gleichem Ergebnis kam die 11. Armee, Memorandum, 15. 12. 1941, auszugsweise abgedr. in: C o o p e r , War, S. 1 8 1 - 1 8 4 . 1 2 3 Schramm (Hrsg.), K T B O K W 2, S. 353, 13. 5. 1942. 1 2 4 Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets Nord, Ia Tgb.-Nr. 587/42 geh., 29. 03. 1942, gez. v. Roques, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 119; 207. Sich. Div., Ia A z . 30 Nr. 381/42 geh., 31. 03. 1942, abgedr. in: ebd., S. 120. 125 Wehrmachtbefehlshaber Ukraine, Abt. Ia Nr. 4921 (3073)/42 geh., 26. 06. 1942, gez. Kitzinger, auszugsweise abgedr. in: ebd., S. 1 2 2 - 1 2 8 , hier S. 127. 1 2 6 Der Führer, OKW/WFSt/Op. Nr. 002821/42 g. Kdos., Weisung Nr. 46, Richtlinien für
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dings fehlten auch nicht die Hinweise auf die Notwendigkeit von „Sühnemaßnahmen" bei aktivem Widerstand. Hitlers Weisung konnte somit sowohl von den Befürwortern einer neuen pragmatischen Linie als auch von den „Hardlinern" zu ihren Gunsten interpretiert werden. Ahnlich fiel auch ein Merkblatt des OKW zum Partisanenkrieg aus. Einerseits sollte nach wie vor durch Härte abgeschreckt werden 127 , andererseits wollte man das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Ein gerechtes und korrektes Verhalten wurde ausdrücklich empfohlen. Die Bevölkerung sollte die Zuversicht gewinnen, „unter deutscher Herrschaft besseren Zeiten als bisher entgegenzugehen" 128 . Für Hitler stand allerdings als Ziel die Vernichtung der Partisanen im Vordergrund: „Grundsätzlich ist bei der Bandenbekämpfung - das muß man jedem einhämmern - das richtig, was zum Erfolg führt. ... Das Ziel muß sein, daß die Banden vernichtet werden und die Ruhe hergestellt wird Daher wird letzten Endes alles das als recht angesehen, was zur Vernichtung der Banden beigetragen hat, und umgekehrt wird alles unrecht gewertet, was der Bandenvernichtung nicht dient" 129 . Er bestätigte damit seine Weisung vom 18. Oktober 1942, die unmißverständlich klarstellte: „Nur da, wo der Kampf gegen das Partisanenunwesen mit rücksichtsloser Brutalität begonnen und durchgeführt wurde, sind die Erfolge nicht ausgeblieben, die dann der kämpfenden Front vorne ihre Lage erleichterten. Im gesamten Ostgebiet ist daher der Krieg gegen die Partisanen ein Kampf der restlosen Ausrottung des einen oder des anderen Teiles" 130 . Einen Monat, nachdem noch eine gerechte und korrekte Behandlung der Zivilbevölkerung empfohlen worden war, wurde die Hemmschwelle für Willkürakte weiter gesenkt. Der Chef des OKW Keitel verfügte: „Kein in der Bandenbekämpfung eingesetzter Deutscher darf wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihrer Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden" 131 . Damit war aus der Möglichkeit zur Aufhebung der Kriegsgerichtsbarkeit eine unbedingte Verpflichtung geworden. Zudem ermächtigte und verpflichtete Keitel die Truppe, „in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt".
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die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten, 18. 8. 1942, gez. Adolf Hitler, abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 2 0 1 - 2 0 5 , hier S. 202. O K W / W F S t / O p . Nr. 1216/42, Kampfanweisung f ü r die Bandenbekämpfung im Osten, 11. 11. 1942, gez. I. A. Jodl, auszugsweise abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 1 3 6 - 1 3 9 , hier S. 136. Ebd., S. 138. Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, 1. 12. 1942, S. 6 5 - 6 7 . Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, Geheime Kommandosache, Chefsache, Ergänzung zur Weisung Nr. 46, 1 8 . 1 0 . 1 9 4 2 , abgedr. in: Hubatsch (Hrsg.), Weisungen, S. 2 0 7 - 2 0 9 , hier S. 208. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht/ Nr. 004870/42 g. Kdos. WFSt./Op (N), Bandenbekämpfung, 16. 12. 1942, gez. Keitel, IMT, 39, 0 6 6 - U K , S. 128f., hier S. 129.
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Eine grundsätzliche Änderung der Praxis im Partisanenkrieg, der mittlerweile in der deutschen Terminologie zum „Bandenkrieg" geworden war 132 , hat es trotz eines größeren Spielraumes der Kommandeure nicht gegeben. Im Juli 1943 mußte der WFSt eine weitere Verschlechterung der Stimmung in den besetzten Gebieten aufgrund der Ernährungslage und der Zwangserfassung zum Arbeitseinsatz nach Deutschland anerkennen. Daraus folgerte er: „Da diese Gründe wenigstens zum größten Teil kriegsbedingt sind und mit einer wesentlichen weiteren Verstärkung der Bandenbekämpfungskräfte nicht mehr zu rechnen ist, wir aber andererseits bei dem von uns eingeschlagenen Weg der Behandlung des Ostmenschen uns nur auf unsere Machtmittel stützen können, muß man sich darüber im Klaren sein, daß eine Befriedung des Ostraumes von unseren weiteren Maßnahmen nicht zu erwarten ist« 133 . Diese knappe und zutreffende Analyse war nicht mehr und nicht weniger als das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Es wurde der Schluß gezogen, daß „lediglich die Durchführung der für unsere Kriegführung lebenswichtigen Maßnahmen sicherzustellen" sei. Diese Maßnahmen bestanden aus der rücksichtslosen Ausnutzung der wirtschaftlichen Ressourcen und der Zwangsverpflichtung von Arbeitskräften. Göring hatte bereits Ende 1942 befohlen, bei Säuberungen „sämtliche dort vorhandenen Viehbestände in gesicherte Gebiete abzutreiben", sowie „sämtliche männliche und weibliche Arbeitskräfte, die irgendwie für einen Arbeitseinsatz in Frage kommen ... zwangsmäßig zu erfassen" 134 . Zwar regten sich dagegen noch einzelne Proteste aus der Zivil- und Militärverwaltung 135 , allgemein wurden Görings Intentionen jedoch umgesetzt. In seinen „Richtlinien für die Maßnahmen für die Bandenbekämpfung" stellte von dem Bach fest, daß „jede Tonne Getreide, jede Kuh, jedes Pferd ... mehr Wert als ein erschossener Bandit" 136 sei. Von immer dringenderer Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft erwies sich die Frage der „Gewinnung" von Arbeitskräften. Langsam setzte sich die Uberzeugung durch, daß es ein Widerspruch sei, einerseits mit wenig Zuckerbrot und noch mehr Peitsche mühsam Arbeitskräfte zu rekrutieren, während andererseits Tausende als Partisanen oder Partisanenverdächtige erschossen wurden. Es lag daher nahe, Partisanenbekämpfung und Zwangsarbeit zu verbinden. Der Generalquartiermeister des Heeres und der militärische Wirtschaftsstab Ost schlugen vor, Partisanen und Partisanenverdächtige zur „Arbeitserziehung im eigenen Bezirk" 137 zusammenzufassen. Dagegen wandte sich 132
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Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Sonderbefehl, 3 1 . 7 . 1942, gez. H. Himmler, abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 132. Bereits im Februar 1942 hatte Goebbels auf einer seiner Konferenzen angeordnet, daß der Begriff „Partisan", „um nicht den Schein des Heldentums" zu erwecken, durch „Bandit" oder „Heckenschütze" zu ersetzen sei, Boelcke (Hrsg.), Krieg, 27. 2. 1942, S. 219. Schramm (Hrsg.), K T B O K W 3, S. 7 7 5 , 1 3 . 7. 1943. Der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches/V.P. 18727/6/3, 26. 10. 1942, gez. Göring, IMT, 28, 1742-PS, S. 1 f., hier S. 2. Siehe Umbreit, Problem, S. 140. Bevollmächtigter des RFSS für die Bandenbekämpfung, Richtlinien für die Maßnahmen für die Bandenbekämpfung, 26. 2. 1943, zit. n. Hesse, Partisanenkrieg, S. 202. WFSt., KTB, 14. 3. 1943, IMT, 38, 1786-PS, S. 3 9 1 - 3 9 3 , hier S. 392.
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zunächst der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz (GBA), Gauleiter Fritz Sauckel, weil er in der Gleichstellung von Freiwilligen und Gefangenen aus dem Partisanenkrieg Nachteile für die ohnehin schwierige Werbung von Arbeitskräften sah. Der WFSt stimmte Sauckel zu, allerdings weil der WFSt in dieser Maßnahme die „erforderliche Härte" 138 vermißte. Himmler dagegen hatte bereits Ende 1942 den Befehl erlassen, Verdächtige und Unterstützer der Partisanen nicht mehr generell zu erschießen, sondern in die KZ des Generalgouvernements zu überführen 139 . Im Januar 1943 wandte er sich zusammen mit dem Chef der SiPo und des SD an den WFSt und bat, daß auch die Wehrmacht entsprechend verfahren und die Gefangenen der SS überstellen solle 140 . Sowohl der WFSt als auch der Chef des OKW gaben der Bitte statt. Das konnte in der Praxis bedeuten, daß aufgrund eines Armeebefehls nun die Bewohner ganzer Landstriche in KZ deportiert wurden 141 . Sauckel erkannte aber recht schnell die Chance, die ihm die Partisanenbekämpfung bei der Rekrutierung von Zwangsarbeitern bot. Nach Gesprächen mit Rosenberg und Himmler erreichte er, daß die SS die Partisanenbekämpfung nicht nur zur Durchführung ihrer rassenideologischen Vernichtungspolitik nutzte, sondern auch in den Dienst des GBA stellte 142 . Auch die Wehrmacht verfuhr schließlich entsprechend. Nachdem das OKH verfügt hatte, daß Partisanen nur noch in Ausnahmefällen zu erschießen seien 143 , befahl Keitel, alle männlichen Gefangenen zwischen 16 und 55 Jahren zum Arbeitseinsatz zu bringen 144 . Aber nicht nur vermeintliche Partisanen, sondern die gesamte Bevölkerung in den „Bandenkampfgebieten" rückte nun in den Blickpunkt der Arbeitskräftebeschaffung. Bereits im Februar 1943 hatte Himmler gegenüber von dem Bach angeregt, „nicht bandenverdächtige Männer dem Gauleiter [Sauckel] dadurch zuzuführen, daß am besten ganze Gebiete Weiß-Rutheniens geräumt werden" 145 . Im Sommer 1943 befahl er dann auf Weisung Hitlers die Räumung der „bandenverseuchten" Gebiete der Nordukraine und Rußlands 146 .
Ebd., S. 392f.; OKW/WFSt/Op. (H) Nr. 01212/43 geh., Ergänzender Befehl zur Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten, 14. 03. 1943, gez. I. A. Jodl, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 145 f. 1 3 9 WFSt., KTB, 14. 3. 1943, IMT, 38, 1786-PS, S. 391-393, hier S. 391; RFSS, SS-Befehl, 6. 1. 1943, gez. H. Himmler, abgedr. in: Heiber (Hrsg.), Reichsführer, S. 179 f. Siehe Friedrich, Gesetz, S. 538-543. 140 WFSt., KTB, 14. 3. 1943, IMT, 38, 1786-PS, S. 391-393, hierS. 392. 141 Siehe z.B. Pz. A O K 3, Ο Qu/Qu 2 Nr. 5986/43 geh., 12. 8. 1943, gez. I. V. v. Hagner, abgedr. in: Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 155. 142 „Bei der Überholung von Dörfern, bzw. notwendig werdenden Niederbrennung eines Dorfes wird die gesamte Bevölkerung dem Beauftragten [für die Beschaffung von Arbeitskräften] zwangsweise zur Verfügung gestellt". Sonderkommando 4a, an alle Kommandoführer der SD-Außenkommandos, persönlich, geheim, 19. 3. 1943, gez. Christensen, IMT, 31, 3012-PS, S. 493-495, hier S. 494. 143 Oberkommando des Heeres, Grundlegender Befehl Nr. 13a über die Behandlung von Partisanen, 1. 7. 1943, abgedr. in: Buchbender, Erz, S. 328 f. 144 Chef OKW/WFSt./Org (II) Nr. 02958/43 geh., Kräfte für Kohlenbergbau, 8. 7. 1943, gez. Keitel, IMT, 744-PS, S. 284 f., hier S. 285. 145 RFSS an von dem Bach, 9. 2. 1943, abgedr. in: Heiber (Hrsg.), Reichsführer, S. 189. 146 RFSS, Weisung, 10. 7. 1943, abgedr. in: Schumann/Nestler (Hrsg.), Europa, 7, S. 447. 138
Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg
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Die im Frühjahr 1943 begonnene Wende von der Politik der Massenliquidierung zu einer Politik der Massendeportation fand im Herbst 1943 ihren Abschluß. In einer Anweisung an die HSSPF legte von dem Bach fest, daß die „Bandenbekämpfung mehr als bisher der Gewinnung von Arbeitskräften für das Reich dienstbar gemacht werden" 147 müsse. Deshalb mußte ab sofort „besonderer Wert darauf gelegt werden, möglichst viele Gefangene einzubringen". Noch im Juli 1944, als der Partisanenkrieg durch den Rückzug der Wehrmacht praktisch beendet war, wies Warlimont noch einmal auf diese zusätzliche Aufgabe hin 148 . Vor diesem Hintergrund waren Absichten, die „Bandenbewegung durch politische Maßnahmen [zu] unterhöhlen" 149 angesichts der Wirklichkeit reine Makulatur, kurzzeitig allenfalls lokal möglich bzw. Absichtserklärungen für den erhofften Fall eines neuen Vormarsches nach Osten. Insgesamt zeigt sich, daß die Wehrmacht „williger" Motor für eine hemmungslose, ja mörderische Sicherungspolitik im Hinterland gewesen ist, bei der die Ideologisierung des Krieges, Hitlers klare Anweisungen und die teilweise gezielt provokative Brutalisierung des Kampfes von Seiten der Partisanen die Wehrmacht ermutigten, sich über alle sinnvollen militärischen Regeln hinwegzusetzen und sich stärker auch am rassenideologischen Massenmord zu beteiligen, als das ursprünglich im Abkommen zwischen Wagner und Heydrich beabsichtigt gewesen ist. Die schrittweise Preisgabe des Prinzips der Arbeitsteilung machte die Wehrmachtführung mitverantwortlich für den Genozid und ließ vielfachen Anregungen militärischer und ziviler Stellen im Besatzungsgebiet zu einer stärker politischen Kriegführung auch gegenüber den Partisanen, zu einem ernsthaften Werben um die Bevölkerung, die größtenteils zwischen den Fronten stand, keine Chance. Die anfangs gewählte Strategie der rücksichtslosen Härte und des präventiven Terrors gegen die Zivilbevölkerung wurde niemals aufgegeben, obwohl sie weder das Entstehen noch das Anwachsen der Partisanenbewegung verhindern konnte. Im Gegenteil, große Teile der ländlichen Bevölkerung wurden praktisch ungewollt in die Arme der Partisanen getrieben. Für das deutsche Scheitern waren auch Defekte während der Planung verantwortlich: das unkoordinierte Nebeneinander von Militär- und Zivilverwaltung, chronischer Truppenmangel, endlose und niemals geklärte Zuständigkeitsfragen, und vor allem, daß das deutsche Handeln vollständig unter der Generalkondition eines Sieges stand, und daher erodieren mußte, als dieser sich nicht einstellte. Vor diesem Hintergrund entstand eine Partisanenbewegung, die nicht beherrscht werden konnte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sowohl ein offensives Vorgehen gegen die Partisanen als auch eine defensive Partisanenbekämpfung immer schwieriger wurden und letztlich scheiterten, wie der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 eindrucksvoll beweist.
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Chef der Bandenkampfverbände, an HSSPF, 1. 9. 1943, ebd., S. 4 7 0 - 4 7 2 , hier S. 470. R K 5 8 1 5 C, Chefbesprechung am 11. 7. 1944, betrifft: Verstärkte Heranziehung ausländischer Arbeitskräfte, 12. 7. 1944, IMT, 33, 3819-PS, S. 1 8 6 - 1 9 5 , hier S. 188. Kommandeur des Kavallerieregimentes Mitte Major v. Boeselager, Über die Kampftaktik der Partisanen und die Möglichkeiten unsererseits, die Bandengefahr zu beschränken, 23. 6. 1943, zit. n. Klink, Gesetz, S. 136, A n m . 176.
Knut Stang Hilfspolizisten und Soldaten: Das 2./12. litauische Schutzmannschaftsbataillon in Kaunas und Weißrußland
Die Antagonismen des NS-Staats lösten sich nicht auf, als dieser Staat sein Regime über die Reichsgrenzen zu exportieren begann, im Gegenteil: Die Auflösung zahlreicher Strukturelemente im Zuge der Expansion, vor allem der Expansion nach Osten, erlaubte erst recht das freie Spiel der konkurrierenden Kräfte von Partei und Wirtschaftsverwaltungen, von Wehrmacht, Polizei und Zivilverwaltungen. Die engen Verquickungen etwa im Bereich der Wirtschaftsverwaltungen - Göring war Oberbefehlshaber der Luftwaffe, aber auch Beauftragter für den Vierjahresplan - änderten hieran wenig. Diese Parallelität und entsprechende Konkurrenz schlug sich auch in der Durchführung der Sicherungsaufgaben nieder, wie sie in den gerade besetzten Gebieten von Kräften des Heeres einerseits, von Einheiten der Sicherheits- und Ordnungspolizei andererseits betrieben wurde: Das Militär traf auf die Polizei, vertreten zunächst durch die der Front folgenden Einsatzkommandos. Quer dazu trat das Ideologische in diesen Kontext. Zwar fanden sich in der Sicherheitspolizei, auch in der später nachfolgenden Ordnungspolizei mehr und besonders radikale Vertreter der NS-Ideologie. Aber eine klare Verortung des Ideologischen allein als Charakterisierung der polizeilichen Seite ist angesichts der zunehmenden ideologischen Durchdringung der Wehrmacht, insbesondere im Zuge des „weltanschaulichen Krieges" gegen die UdSSR, nicht möglich. Ziel dieses Beitrags ist es erstens zu zeigen, wie sich der - strategisch und ideologisch begründbare - Antagonismus von Militärischem und Polizeilichem zunächst in einem Vorrang des Polizeilichen auflöste, indem die neugeschaffene Hilfspolizei aller militärischen Funktionen, wenn auch nicht aller militärischen Formen des Alltagslebens, entkleidet wurde. Zweitens wird dann vorgeführt werden, wie unter dem Druck des Faktischen, nämlich der Uberdehnung der deutschen Kräfte und mithin des Mangels an allem Nötigen, der Antagonismus sich abschliff, so daß die polizeilichen Kräfte sich Schritt für Schritt wieder dem Militärischen annäherten. Bereits in der ersten Planungsphase des Angriffs auf die UdSSR war klar gewesen, daß die Kräfte des Heeres nicht ausreichen würden, die eroberten Gebiete auch nach innen zu sichern, sollte der Vormarsch wie geplant verlaufen. Die sogenannte Befriedung des Eroberten sollte statt dessen unter Führung der Einsatzgruppen auch mit sicherheits-, dann auch mit ordnungspolizeilichen Methoden durchgeführt werden. Aber selbst unter diesen Bedingungen schien die deutsche Personaldecke zu dünn, um eine befriedigende Beruhigung des eroberten Gebiets zu gewährleisten. Daher entwickelten vor allem das Amt Ausland/Abwehr unter Admiral Wilhelm Canaris und das Reichssicherheits-
Hilfspolizisten und Soldaten: Litauisches Schutzmannschaftsbataillon
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hauptamt ( R S H A ) unter SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich Pläne, in die Sicherungsaufgaben zusätzlich einheimische Kollaborateure einzubinden. Hinsichtlich Litauens ließen sich dafür zwei Hauptgruppen ausmachen, die zu Führern einer solchen Kollaboration werden konnten. Sie waren bereits im Untergrund tätig, seit am 15. August 1940 Litauen als 13. Republik Mitglied der U d S S R geworden war. Die unverhohlene Gegnerschaft zwischen beiden Gruppierungen verlängerte den Riß, welcher sich bereits vor 1940 durch die litauischen Nationalisten zog und sie gespalten hatte in die im wesentlichen autoritär-totalitären Anhänger des langjährigen Präsidenten von Litauen, Antanas Smetona, und die protofaschistischen Anhänger des Gelizinis Vilkas, einer antisemitischen Gruppe um Augustin Voldemaras 1 . Das Amt Ausland/Ab wehr der Wehrmacht kooperierte im wesentlichen mit den Smetona-Anhängern, als es sich bemühte, bereits vor dem Juni 1941 Kollaborationsstrukturen zu präformieren. Hingegen setzte das R S H A Himmlers auf die radikaleren, vor allem in ihrem Antisemitismus weiter als die SmetonaAnhänger gehenden Sympathisanten und Mitglieder des Gelezinis Vilkas. Smetona- und Voldemaras-Anhänger repräsentierten freilich nur eine Minderheit innerhalb der litauischen Bevölkerung. Die letzten freien Wahlen hatten 1926 die Sozialdemokraten gewonnen, die Christdemokraten waren damals zweitstärkste, die Liberalen drittstärkste Partei geworden. Doch verfügten die Nationalisten, und unter diesen insbesondere der schon seit 1929 im Untergrund operierende Gelezinis Vilkas, über eine Struktur, die es erlaubte, bereits vor dem Juni 1941 konspirative Kontakte mit dem Deutschen Reich zu knüpfen. Die Smetona-Anhänger hingegen konnten auf die Strukturen der Sauliu Sajunga zurückgreifen, dem bis 1939 zunehmend protofaschistisch werdenden litauischen Reservistenverband. Den wichtigste Gegensatz zwischen dem Amt Ausland/Abwehr und dem R S H A bei der Vorbereitung einer litauischen Kollaboration bildeten Umfang und politischer Stellenwert dieser Kollaboration. Entweder man beschränkte sie auf die Sicherung der alltäglichen Lebensverhältnisse unter deutscher Kontrolle; in diesem Fall war aber jede militärische Rolle ausgeschlossen. Oder man billigte der Kollaboration auch eine militärische Funktion zu; dann war ein wichtiger Schritt zu ihrer Emanzipation getan, mit allen daraus resultierenden Folgen. Das Amt Ausland/Abwehr favorisierte diese Lösung. Es hielt enge Kontakte zur litauischen Exilregierung, vertreten durch den ehemaligen Gesandten in Berlin, Kazys Skirpa, und weckte in diesem und in dessen Kontaktleuten in Litauen die Erwartung, daß im Fall eines deutschen Angriffs auf die U d S S R Litauen als eigenständiger Staat wieder erstehen würde. Ein solcher Staat, selbständig, aber mit Deutschland verbündet und wohl insgesamt ein Satellit des Reichs, hätte Optionen zur Kollaboration in allen Bereichen gehabt - polizeilich, militärisch, wirtschaftlich usw., ähnlich der slowakischen oder kroatischen Kooperation mit Deutschland.
Zur faktischen Annektion Litauens durch die UdSSR siehe Stang, Kollaboration, S. 2 3 - 2 5 . Voldemaras war bis 1929 Ministerpräsident gewesen, bevor der damals schon im wesentlichen mit Unterstützung des Militärs regierende Smetona ihn entmachtete und den Gelezinis Vilkas verbot. Detailliert hierzu: ebd., S. 1 9 - 2 1 .
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Knut Stang
Das RSHA stand für das Gegenkonzept einer auf das Polizeiliche beschränkten bewaffneten und ansonsten zivilen Zusammenarbeit unter deutscher Führung. Es war diese Konzeption, welche sich in den ersten Kriegstagen durchsetzte, denn der rasche Vorstoß der deutschen Truppen schien eine militärische Zusammenarbeit überflüssig zu machen. Entscheidend aber waren Hitlers politische Richtlinien und die Entwürfe von Alfred Rosenberg als dem designierten Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, in denen Litauen als künftiges Siedlungsgebiet vorgesehen war. Jede Vertretung eigenständiger Interessen würde da nur stören. Das OKW informierte im Laufe des 23. Juni 1941 die Frontstäbe, daß lokale Autonomiebewegungen nicht toleriert werden sollten. Ein entsprechender Führerbefehl erging am 24. Juni 19412. Mit dem weiteren Vorrücken der Front wurde am 29. Juni 1941 Litauen zum Teil des Rückwärtigen Heeresgebiets Nord unter dem Kommando von General der Infanterie Franz von Roques 3 . Mit den Sicherungsaufgaben in diesem Bereich waren die Sicherungsdivisionen 207,281 und 285 betraut, die allerdings nur schrittweise die Funktionen der 18. Armee übernahmen 4 . Daher konnte v. Roques die Struktur des Rückwärtigen Heeresgebiets erst am 1. Juli 1941 befehlsmäßig darstellen 5 . Kaunas, die Hauptstadt Litauens, war am 24. Juni 1941 vom II. A.K. genommen worden 6 . Die unter dem Kommando von Generaloberst Ernst Busch stehende 16. Armee setzte in Verlängerung der Vorgaben aus dem Amt Ausland/ Abwehr bei der Sicherung von Kaunas bereits auf die Kooperation mit einheimischen Hilfskräften, vorwiegend aus den Smetona-nahen Kreisen. Zugleich wurde aber die Entscheidung bis zur Einrichtung einer endgültigen, zivilen Besatzungsstruktur aufgeschoben, wie mit der in Kaunas ausgerufenen, von den Christdemokraten dominierten litauischen Nationalregierung und der zweiten Nationalregierung, die in Vilnius proklamiert worden war, verfahren werden sollte. Diese Vorgaben der 16. Armee setzte die ab dem 2. Juli 1941 für Kaunas zuständige Sicherungsdivision 281 unter Generalleutnant Friedrich Bayer fort, wobei sich allerdings infolge der Weisungen aus Berlin zwischenzeitlich etwas mehr Klarheit darüber ergeben hatte, welcher Stellenwert der Kollaboration, insbesondere der bewaffneten, zukommen sollte. Das RSHA hatte seine Vorstellung einer Beschränkung auf das Polizeiliche durchgesetzt. Damit war auch unstrittig, daß alle bewaffneten einheimischen Hilfskräfte unter polizeilicher, nicht 2
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K T B der Operationsabteilung des Generalstabs des Heeres, Eintrag zum 24. 6. 1941, in: Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 1, S. 418. Entsprechend hatte bereits am Vortag das Oberkommando der Heeresgruppe Nord eine Mitteilung aus dem O K W umgesetzt; KTB Heeresgruppe Nord, S. 18 (Eintrag zum 23. 6. 1941), B A - M A , R H 19 III/767. K T B Heeresgruppe Nord, S. 74, Eintrag 29. 6. 1941, B A - M A , R H 19 III/767. Aufstellungsverfügung, 15. 3. 1941, ebd., R H 22/1/2. Schreiben Befehlshaber Rückwärtiges Heeresgebiet Nord, v. Roques, 24. 8. 1941, übermittelt geh. Weisung O K H vom 2 1 . 8 . 1941, ebd., R H 22/271. Weisung Befehlshaber Rückwärtiges Heeresgebiet Nord, v. Roques, Nr. 197/41 gKdos., 1. 7. 1941, ebd. K T B Heeresgruppe Nord, S. 26, Eintrag 24. 6. 1941, ebd., R H 19 III/767; KTB Op.Abt. Gen.Stab des Heeres, Eintrag zum 24. 6 . 1 9 4 1 , in: Schramm (Hrsg.), K T B O K W , 1, S. 418; Kriegstagebuch Nr. 1, Gen.Kdo. II. A.K., S. 11, Eintrag 24. 6 . 1 9 4 1 , B A - M A , R H 24-2/80.
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unter militärischer Führung stehen würden, was einerseits für die Polizei einen erheblichen Machtzuwachs bedeutete, andererseits ihr half, ihre sehr begrenzten Personalressourcen zu unterfüttern. Die einzelnen Armeeführungen setzten dieser Festlegung der bewaffneten Kollaboration kaum Widerstand entgegen. Hierfür gab es zwei Gründe. Zum einen sahen auch sie in der Euphorie der anfangs sehr erfolgreichen Offensive keinen Bedarf für zusätzliche militärische Kräfte aus den Reihen Einheimischer, zumal auch gar keine Transportkapazitäten verfügbar waren, um eine litauische Armee der Front folgen zu lassen. Zweitens aber bestand in den verschiedenen Armeeführungen die fast einhellige Ansicht, daß die bewaffnete Kollaboration unerläßlich sei, um die Sicherheitsprobleme vor Ort zu lösen, was eine polizeiliche, nicht militärische bewaffnete Kollaboration notwendig erscheinen ließ. Diese Ansicht hatte das R S H A von den ersten Besatzungstagen an durchzusetzen versucht. In Weißrußland war das Sicherheitsproblem im Rückwärtigen Heeresgebiet und später im zivilverwalteten Teil des Gebiets angesichts der rasch wachsenden Partisanenbewegung offenkundig, der polizeiliche Bedarf daher offensichtlich. Aber hinsichtlich Litauens ist auf den ersten Blick die Bereitwilligkeit überraschend, mit der das Kommando der 16. Armee, später auch v. Roques, der Ansicht der Sicherheitspolizei beipflichtete, bewaffnete polizeiliche Kollaboration sei dringend geboten. Die tatsächliche Sicherheitslage rechtfertigte diese Auffassung kaum. Es gab in Litauen keine antideutsche Partisanenbewegung, statt dessen eine breite Zustimmung zur deutschen Okkupation, zumal auch die katholische Kirche diese nachdrücklich begrüßt hatte 7 . Selbst die allgemeine Kriminalitätsrate wuchs nicht dramatisch über das Vorkriegsniveau hinaus. Die Beunruhigung der Besatzungsszene mußte daher von der Sicherheitspolizei tatsächlich erst erzeugt werden, damit die Heeresstellen die Sichtweise des R S H A zu ihrer eigenen machten. Die angestrebte Beunruhigung erfolgte vor allem auf zwei Wegen. Erstens wurden die ideologisch präformierten Denkmuster jenseits der Realität, in denen Sipo und Ordnungspolizei befangen waren, den entsprechenden Wehrmachtstellen nahegebracht. Es galt zu verdeutlichen, daß vor allem von der jüdischen Bevölkerung ein besonderes Sicherheitsrisiko ausging, und daß im Land eine sowjetkommunistische Geheimbewegung agierte. Hinzu kam etwa die anti-internationalistische Grundüberzeugung, wonach die lokale Freimaurerbewegung die Quelle zusätzlicher Gefahren bildete. Selbst wo die Militärführung diese stereotypen ideologischen Versatzstücke nicht glaubte und daher faktisch den Bedarf bewaffneten polizeilichen Vorgehens nicht sah, akzeptierte sie doch, daß die Klischeebilder staatlicherseits anerkannt waren und ihnen sicherheitspolitisch Rechnung zu tragen waren. Zweitens jedoch bemühte sich die Sicherheitspolizei auch, neben dem bloß mythisch begründeten Bedarf an Macht zur Durchführung ihres letztlich rassenideologisch begründeten Auftrags, eine reale, offensichtliche und unabweisbare Beunruhigung der Lage zu inszenieren. Vom ersten Tag der Besatzung an lief die Strategie der Sicherheitspolizei darauf hinaus, antisemitische und antikommunistische Aus7
Zur Unterstützung der deutschen Besatzungsherrschaft und der antisemitischen Maßnahmen durch die katholische Kirche siehe Stang, Kollaboration, S. 67-68.
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schreitungen der einheimischen Bevölkerung in Gang zu setzen, ohne daß eine deutsche Beteiligung erkennbar war. Dies hatte natürlich auch propagandistische Effekte. Im Reich und weltweit sollte der Eindruck entstehen, die Deutschen würden als Befreier begrüßt, ihre Ideologie von der lokalen Bevölkerung soweit geteilt, daß diese auch ohne deutschen Anschub im Sinne dieser Ideologie initiativ würde, sobald sich die Reglementierungen der sowjetischen Herrschaft außer Kraft befanden. Darüber hinaus sollte so die jüdische Bevölkerung dazu gebracht werden, sich widerstandslos in Ghettos sperren zu lassen in der Hoffnung, daß diese wenigstens Schutz vor weiteren Pogromen böten. Adressat dieser Strategie waren jedoch auch die verschiedenen Kreise der Wehrmacht. Man wollte sie vom realen Bedarf polizeilicher Ordnungsmaßnahmen unter deutscher Ägide überzeugen, da die Alternative ungeregelte Ausschreitungen der Bevölkerung sein würden. Man setzte dabei darauf, daß die Wehrmacht gegen wie auch immer geartete Maßnahmen der Polizeidienststellen einschließlich Massenverfolgungen und -morden solange nicht protestieren würde, wie diese in geordnetem, unauffälligem Rahmen verliefen. Nach den Erfahrungen des Polenfeldzugs war diese Hoffnung nicht unberechtigt. Bereits der Leiter der Einsatzgruppe A, SS-Brigadeführer Walter Stahlecker, lancierte in Kaunas erste gegen Juden gerichtete Pogrome, als er in Kaunas eintraf 8 . Dazu stachelte er die Gruppen des Gelezinis Vilkas an, welche zunächst einigermaßen zurückhaltend reagierten, maßen sie doch der Verfolgung von Kommunisten und Aktivisten der KPdSU den höheren Stellenwert bei. Dennoch kam es rasch zu ersten Ausschreitungen, die in ihrer Scheußlichkeit den erhofften Eindruck auf die Wehrmacht nicht verfehlten. Dies dokumentiert sich besonders im Fall des Ia des Stabes der 16. Armee, Oberst v. Bischoffshausen. Dieser wurde am 27. Juni 1941 auf einem Gang durch Kaunas Zeuge eines öffentlichen Massenmords. In der Gediminias-Straße stieß er vor einer Tankstelle auf einen Pulk von Menschen, die applaudierten und lachten. Neugierig geworden trat er näher. In der Mitte der Menschenmenge sah er einen jungen Mann, blond, von mittlerer Größe. Dieser schwang eine Latte, die ihm fast bis zur Brust reichte; mit der schlug er Menschen, in denen v. Bischoffshausen Juden vermutete, den Schädel ein. In einiger Entfernung, so v. Bischoffshausen weiter, standen die nächsten Opfer, von bewaffneten Litauern umgeben. Die Umstehenden applaudierten bei jedem Schlag; Mütter hoben ihre Kinder hoch, damit sie besser sehen konnten. Als das letzte Opfer ermordet war, bestieg der Mörder den aus den Leichen gebildeten Hügel, um dann auf einer Ziehharmonika die litauische Nationalhymne zu spielen. Die Umstehenden stimmten bald ein und empfanden dies offenbar als einen erhebenden Moment 9 . Freilich waren diese 8
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Stahlecker selbst behauptete in seinem Bericht an Heydrich, er sei mit den deutschen Frontspitzen, also am 24. 6. 1941 in Kaunas eingerückt; sog. Erster Stahlecker-Bericht, 15. 1 0 . 1 9 4 1 , S. 3 nach interner Paginierung, in: IMT, 3 7 , 1 8 0 - L , S. 6 7 0 - 7 1 7 . Dagegen sprechen jedoch Aussagen seiner Mitarbeiter in verschiedenen Ermittlungsverfahren nach 1945: Aussage Horst Eichler, 15. 9. 1959, Ludwigsburg ZSt, 5 A R - Z 14/1958 (Jäger), Bd. 8, Bl. 3 8 8 9 - 3 9 0 3 ; Aussage Richard Waldemar Schweizer, 20./21. 4. 1960, ebd., 207 A R - Z 14/1958 (Schmitz), Bd. 10, Bl. 6 2 1 0 - 6 2 2 8 . Bischoffshausen schilderte diesen Vorfall nach 1945 mehrfach, so u.a.: Schriftliche Dar-
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Schaulustigen nicht notwendig repräsentativ für die litauische Bevölkerung oder auch nur die Bevölkerung von Kaunas. Wer diesen Gewaltexzessen ablehnend oder gleichgültig gegenüberstand, entfernte sich nach kurzem Eindruck von dem, was vor der Garage vor sich ging. Protestiert wurde jedenfalls nicht. Wer stehenblieb, war selbst antisemitisch eingestellt oder zählte zu denen, die ein blutiges Schauspiel immer für ein aufregendes Spektakel hielten. Die Litauer, welche die Opfer vor der Ermordung bewacht hatten, gehörten zu den inzwischen von Stahlecker für die Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei verpflichteten Einheiten. Das wußte v. Bischoffshausen natürlich nicht. Er sah nur ein Massaker, das er als typisch „ostisch" empfand. Die Verpflichtung der deutschen Kultur gegenüber, zu welcher sich zu bekennen wichtig war für die soziale Binnenintegration des Offizierskorps, nötigte v. Bischoffshausen, sich von dem Pogrom zu distanzieren. Mehr noch, sie verlangte von ihm, entschlossen solchem Tun entgegenzutreten. Im übrigen sah v. Bischoffshausen in der Herstellung von Ruhe und Ordnung, in der Rekonstruktion der Normalität die Aufgabe jeder sinnvollen Besatzungspolitik. Pogrome, Gewaltexzesse usw. widersprachen dem deutschen Gewaltmonopol, dessen Behauptung nach v. Bischoffshausens Ansicht zentrales Element der Etablierung einer deutschen Besatzungsherrschaft in Litauen sein mußte. In ähnlicher Weise distanzierten sich vermutlich auch die meisten anderen deutschen Offiziere und Soldaten, welche Zeugen der von der Sicherheitspolizei inszenierten Pogrome wurden, von solchen Exzessen. Doch v. Bischoffshausen ließ es bei einer inneren Distanzierung nicht bewenden. Er trug seine Ablehnung der inzwischen allenthalben in Kaunas stattfindenden Pogrome seinem Vorgesetzten, Generaloberst Busch vor. Dieser berief sich auf Weisungen des OKH, sich in diese „rein litauischen Angelegenheiten" nicht einzumischen. Offensichtlich erlag also auch das OKH der von der Sicherheitspolizei lancierten Fehleinschätzung der Urheberschaft der Pogrome oder machte sich jedenfalls zum Vertreter dieser Ansicht. Es bestände Weisung aus Berlin, so Busch, die Regelung solcher Vorkommnisse der Sicherheitspolizei zu überlassen. Allerdings hinderte er v. Bischoffshausen nicht, auch beim Oberkommando der Heeresgruppe Nord eine Eingabe zu machen. Der Oberbefehlshaber, Wilhelm Ritter v. Leeb, scheint sich in der Tat an höchste Stellen gewandt zu haben, um eine Abstellung dieser Maßnahmen zu erreichen. In einer Konferenz am 3. Juli 1941 mit Hitlers Chefadjutant Rudolf Schmundt, der sich vor Ort über den Verlauf der Angriffoperation informierte, wurde das Thema zur Sprache gebracht. Später am Tag erhielt v. Leeb jedoch einen Telefonanruf von Schmundt, der ihm nahelegte, sich um diese vorgeblich innerlitauischen Angelegenheiten nicht zu kümmern 10 . Es ist anzunehmen, daß Schmundts Telefonat eine ent-
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stellung Oberst a.D. v. Bischoffshausen, 1 9 . 4 . 1959, in: Ludwigsburg ZSt, 5 A R - Z 14/1958 (Jäger), S. 2 9 7 - 3 0 3 , auch zum Folgenden. Denselben Vorfall schildert mit wenigen Abweichungen auch der Photograph Wilhelm Gunsilius; Aussage Wilhelm Gunsilius, 11. 11. 1958, in: ebd., 5 A R - Z 14/1958 (Jäger), S. 1 3 3 - 1 3 9 . K T B Heeresgruppe Nord, S. 100 (Eintrag zum 3. 7. 1941), B A - M A , R H 19 III/767. Vgl. dazu Meyer (Hrsg.), Generalfeldmarschall, S. 63f.; Leebs Tagebuchaufz. v. 3 . 7 . 1941, S. 286, erwähnt den Besuch von Schmundt, geht aber nicht auf die hier in Rede stehende Problematik ein.
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sprechende Rücksprache bei Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes, möglicherweise auch bei Hitler selbst vorausgegangen war. Ritter v. Leeb gab sich jedenfalls mit Schmundts Auskunft zufrieden, zumal die vor Ort getroffenen Regelungen inzwischen bereits dahingehend Wirkung gezeigt hatten, daß die Massenmorde nicht mehr auf offener Straße stattfanden. Bis dahin aber waren allein in Kaunas wenigstens 3800 Juden in Pogromen massakriert worden 11 . Die Motive v. Leebs dürften sich im wesentlichen mit denen v. Bischoffshausens gedeckt haben. Seine Ablehnung setzte er ebenfalls nicht in weitergehende Aktionen um. Alle vier Beteiligten - v. Bischoffshausen, Busch, v. Leeb und Schmundt - spielten damit der Sicherheitspolizei in die Hand. Sie akzeptierten einen massiven Bedarf an polizeilicher Präsenz; ein Bedarf, den die Sicherheitspolizei erst über ihre litauischen Handlanger erzeugt hatte. In den folgenden Wochen entstand mit der Etablierung von Sicherheits- und Ordnungspolizei in der Tat die Art von geregelter Besatzungsherrschaft, wie sie v. Bischoffshausen und v. Leeb vorgeschwebt haben mag. Das deutsche Gewaltmonopol wurde durch diese Institutionen weitgehend durchgesetzt: Die vielen tausend von Litauern 1941 durchgeführten Morde - an der jüdischen Bevölkerung, an Kommunisten und Aktivisten oder wen man dafür hielt - fanden unter deutschem Kommando statt 12 ; alle bewaffneten litauischen Einheiten unterstanden deutschem Kommando. Die jetzt erheblich an Umfang zunehmenden Massenmorde waren dem unmittelbaren Anblick entzogen, indem sie im wesentlichen nur noch im Zentralgefängnis in der Mickevicius-Straße und auf den frühneuzeitlichen Forts, welche Kaunas umgeben, stattfanden, hier insbesondere in Fort VII und Fort IX 13 . Die wichtigste Einheit der bewaffneten litauischen Kollaboration war das TDA-Bataillon Kaunas, dem zuletzt mehr als 1700 Kollaborateure in sieben Kompanien angehörten 14 . Die Unterstützung der Massenmorde ebenso wie die Wachdienste vor sicherheitsrelevanten Objekten gehörten zum polizeilichen Aufgabenkatalog des Bataillons. Bereits Ende Juli 1941 erließ Himmler die erste Weisung 15 , um dem TDA-Bataillon eine Struktur zu verleihen, wie sie dann 11
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Sog. Erster Stahlecker-Bericht, 15. 10. 1941, S. 30, in: IMT, 37, 180-L, S. 30. Insgesamt spricht er hier von ca. 5000 Juden, die in Litauen durch Pogrome ermordet wurden. An anderer Stelle nannte er hingegen lediglich 4 0 6 0 Juden, die im gesamten Gebiet des EK 3 Pogromen zum O p f e r gefallen sein sollten; Gesamtaufstellung, BdS Ostland, 10. 9. 1941, C S S A Moskau, R-500/1/25/104—107. Diese Zahl gibt auch Jäger in seinem Bericht an; Jäger-Bericht, S. 6, 1. 12. 1941, als Anlage zu Schreiben Jägers an Stapo Tilsit, 10. 12. 1941, ebd., R-500/1/25/109-117. Beide Ziffern beruhen aber wohl weitgehend auf Spekulationen. Es ist anzunehmen, daß die tatsächliche Zahl der O p f e r erheblich höher lag, da in diesen ersten Tagen w o h l nur die Pogrome in den größeren Städten von den Deutschen oder den örtlichen litauischen Behörden erfaßt wurden. Siehe hierzu Stane, Kollaboration, bes. S. 1 4 3 - 1 4 4 , 1 6 3 - 1 7 0 . Bericht Erich Ehrlingers, des Leiters des Sonderkommandos l b , das als erstes Einsatzkommando in Kaunas eintraf, 1. 7 . 1 9 4 1 , C S S A Moskau, R-500/1/756, S. 2 - 6 ; Ereignismeldung Nr. 14, 06. 07. 1 9 4 1 , National Archives Washington, R G 242/T-l75/233/2721428-35. Detailliert zur Geschichte des T D Α-Bataillons, zu seinen Aufgaben und zur Verwicklung in den Holocaust in Litauen: Stang, Kollaboration, bes. S. 1 1 3 - 1 8 1 . Weisung Himmler, 25. 7. 1941, mit Denkschrift f ü r Prützmann, C S S A Moskau, R-1323/1/50, S. 10. Weisung Himmler (durch Daluege), „Schutzformationen" in den neu
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allen osteuropäischen Hilfsverbänden gemein sein sollte. Diese erfuhr ihre wichtigste Ergänzung durch Daluege am 6. November 194116. Entsprechend diesen Anordnungen waren alle Vertreter der polizeilichen Kollaboration in den neu besetzten Ostgebieten als Angehörige von „Schutzmannschaften" (Schuma) zu betrachten. Das TDA-Bataillon sollte gemäß dem allgemeinen Muster für Schutzmannschaften in geschlossenen Verbänden mit Bataillonsstärke reorganisiert werden. Diese Schutzmannschafts-Bataillone (SchumaBtl.e) erhielten eine fortlaufende Nummerierung, wobei den zwei Bataillonen, welche aus dem TDA-Bataillon hervorgingen, die Nummern 1 und 2 zugewiesen wurden. Die 1., 2., und 6. Kompanie löste man aus dem Bataillon heraus und erklärte sie zum 2. Schutzmannschafts-Bataillon; der verbliebene Rumpf des TDA-Btl.s wurde zum 1. Schutzmannschafts-Bataillon umdeklariert 17 . Kommandeur des 1. Schuma-Bataillons wurde der bisherige Kommandeur des TDA-Bataillons und einflußreichste Führer des Gelezinis Vilkas in Kaunas, Kazys Simkus; zum Kommandeur des 2.Bataillons ernannte man Antanas Impulevicius, der zeitweilig Simkus' Stellvertreter als Bataillonskommandeur gewesen war. In der Folgezeit rekrutierten sich die Kompanien für das 3. Schuma-Bataillon aus Freiwilligen 18 , die im Februar 1942 für insgesamt 15 litauische Einheiten ausreichten 19 . Das machte eine Reorganisation der Bataillons-Nummern notwendig, da es z.T. bei nachrekrutierten Einheiten zu Doppelbelegungen mit Nummern bereits bestehender Einheiten gekommen war. Wichtigste Änderung war der Namenswechsel des 1. zum 13. und des 2. zum 12. SchutzmannschaftsBataillon. Als gänzlich unzureichend erwies sich zunächst die Versorgung der SchumaBataillone mit Proviant, Waffen und Uniformen. Grundsätzlich erhielten alle Angehörigen ihre Uniform und Bewaffnung durch die deutsche Verwaltung, ebenso regelmäßige Verpflegung und Rauchwaren 20 . Doch befanden sich die Uniformen, meist ausgemusterte Exemplare aus deutschen Polizei- oder SS-Beständen, von denen man die Abzeichen entfernt hatte, häufig in sehr schlechtem Zustand 21 . Gelegentlich gab es sogar Engpässe in der Versorgung mit Nah-
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besetzten Ostgebieten, 31. 7. 1 9 4 1 , ebd., R-1323/1/50, S. 11. Als Reaktion auf Himmlers erste Weisung Schnellbrief Heydrichs, betr. beabsichtigte Organisation der Polizei in den besetzten Ostgebieten, 30. 7 . 1 9 4 1 , Z S Α K i e w , 3676/4/116, S. 60 f. In Reaktion auf Himmlers erste Weisung: Schnellbrief, Heydrich, "Betrifft: Beabsichtigte Organisation der Polizei in den besetzten Ostgebieten", 30. 07. 1941, Z S A Kiew, 3676/4/6, S. 60 f. Weisung Daluege, 6. 11. 1941, S A L Vilnius, R-689/1/274, S. 2 2 - 3 0 b . Befehl Nr. 61, Simkus, an T D A - B t l . Kaunas, 25. 8 . 1 9 4 1 , ebd., R-1444/2/1A/1, S. 87a-90b. Schreiben Lechthaler an Kviecinskas,7. 8. 1941, ebd., R-1444/1/5/179. Lechthaler bezieht sich auf Rekrutierungen f ü r das 3. Schutzmannschafts-Bataillon, mit denen Kviecinskas bereits befaßt sei. Anscheinend traten aber auch Angehörige des jetzt 1. Schutzmannschafts-Bataillons, vorwiegend aus der ehemals 7., jetzt 3. Kompanie, in das 3. Schutzmannschafts-Bataillon über. Weisung B d O Ostland, Jedicke, 15. 2. 1942, ebd., R-689/1/274, S. 3 1 - 3 2 . „Anlage zu den Besonderen Verordnungen f ü r die Versorgung Nr. 21", 2 7 . 7 . 1943, National Archives Washington, R G 242/T-354/651/61. Schreiben HSSPF Ostland, Jeckeln, an Chef O r p o , Daluege, 21. 11. 1942, BA, R 19/120, S. 1 3 1 - 1 3 2 .
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rungsmitteln 22 . Himmlers Vorschlag, die Versorgungslücken durch Improvisation, etwa durch das Selbstbasteln von Rucksäcken zu lösen, dokumentiert im wesentlichen seine geringe Kenntnis der Lage vor Ort 23 . Die wachsende Bedeutung der litauischen Hilfspolizisten bei der Sicherung der deutschen Besatzungsherrschaft zwang die Ordnungspolizei, der sie leztlich unterstanden, ihren Status anzuheben. Ab Juni 1942 hatten Offiziere der litauischen Schuma-Bataillone ihre bisherigen einheimischen Rangbezeichnungen aufzugeben und deutsche zu übernehmen 24 . Das näherte ihren Status dem ihrer deutschen Kollegen an, deren Polizeiränge vom Leutnant an aufwärts ebenfalls militärische Bezeichnungen trugen. Zugleich war diese Anpassung ein weiterer Schritt, den bewaffneten litauischen Einheiten jeden nationalen Charakter zu nehmen. Das Entstehen einer Nationalarmee blieb weiterhin unerwünscht. Alle Schutzmannschaften unterstanden in kriegsrechtlicher Hinsicht nicht den Militärgerichten, sondern als Polizei-Einheiten den deutschen SS- und Polizeigerichten 25 . Allerdings konnte der SSPF und im Notfall auch jeder andere SSoder Polizei-Offizier, der ein Schuma-Bataillon befehligte, ein Standgericht einberufen, wenn Zeit oder Umstände den Rückgriff auf ein SS- und Polizeigericht nicht erlaubten. Todesurteile gegen Schutzmannschafts-Angehörige mußten jedoch durch den HSSPF gegengezeichnet werden 26 . In dienstrechtlicher Hinsicht unterstanden die litauischen Schuma-Bataillone grundsätzlich dem Kommandeur der Ordnungspolizei (KdO) im Generalkommissariat Litauen, Major Engel 27 . Das 1., das 2. und das 3. SchutzmannschaftsBataillon wurde jedoch zeitweilig dem 11. Reserve-Polizei-Bataillon unter Major Lechthaler unterstellt 28 . Diese Einheit wurde Anfang Oktober 1941 nach Minsk verlegt; das 2. Schuma-Bataillon folgte ihm. Die Verlegung war einerseits ein deutliches Zeichen dafür, daß Litauen faktisch als befriedet galt. In Weißrußland hingegen gestaltete sich die Situation erheb22 23
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Bericht Simkus, 1. 12. 1941, S A L Vilnius, R-1444/1/5, S. 101. Weisung Himmler, 9 . 1 0 . 1942, National Archives Washington, R G 242/T-l 75/127/ 2654649-50. Weisung Daluege, 30. 5. 1942, in: Freivald (Hrsg.), Latviesu Karavirs, Anhang, mit detaillierter Beschreibung der Abzeichen; Tessin, Stäbe, S. 57. Vgl. auch „Anlage zu den Besonderen Verordnungen f ü r die Versorgung Nr. 21", 27. 7. 1943, National Archives Washington, R G 242/T-354/651, S. 61, mit Vergleich der Polizeiränge in Deutschland, Polen und dem Reichskommissariat Ostland. Weisung Daluege, wiedergegeben in Befehl Nr. 60, Junkevicius und Kraunaitis an alle litauischen Schutzmannschafts-Bataillone, 13. 4 . 1 9 4 2 , S A L Vilnius, R-660/2/246, S. 1 0 - 1 Ob. Weisung Himmler, 5. 10. 1942, B A Koblenz, R 20/24, S. 1 1 3 - 1 1 4 . Zum Status v o n Höherem SS- und Polizeiführer (HSSPF) mit Sitz in Riga und SS- und Polizeiführer (SSPF): Stang, Kollaboration, S. 56-64. Zum Verhältnis zwischen HSSPF und Reichskommissar Lohse als Chef der Zivilverwaltung: Erlaß des Führers über die Verwaltung der neu besetzten Ostgebiete, 17. 7. 1941, Anhang zur Braunen Mappe, S. 41^4-2, B A Koblenz, R 43 II/685A/77-108; außerdem Weisung Himmler und Rosenberg, betr.: Zuständigkeit der Polizeidienststellen in den neu besetzten Ostgebieten, 19. 11. 1941, B A Koblenz, R 19/333/15; Weisung Himmler, 9. 8. 1941, B A Koblenz, R-19/333/9-9b. Siehe Birn, Polizeiführer, S. 2 2 1 - 2 2 2 . Weisung Engel, Organisation und Dienstbetrieb der Polizei in Litauen, 15. 9. 1941, SAL Vilnius, R-1444/1/5, S. 1 9 0 - 1 9 1 b . Weisung Lechthaler, 5. 1 0 . 1 9 4 1 , ebd., R-1444/1/5/187. Weisung Engel, 16. 12. 1941, ebd., R-689/1/274, S. 3 3 - 3 3 b u. 6 0 - 6 0 b .
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lieh schwieriger. Bis Dezember 1941 hatte die Einsatzgruppe Α unter Stahlecker die sicherheitspolizeiliche Verantwortung für Weißrußland von der Einsatzgruppe Β unter SS-Brigadeführer Artur Nebe übernommen. Die sicherheitsund ordnungspolizeilichen Probleme, wie sie sich in Weißrußland darstellten, waren in Litauen gelöst oder hatten sich - jedenfalls bisher - gar nicht gestellt. Dies war erstens die rasch anwachsende Partisanenbewegung, die vor allem den ohnehin mit größten Schwierigkeiten kämpfenden deutschen Frontnachschub behinderte; zweitens die nicht nur logistisch, sondern auch sicherheitspolizeilich unbewältigte Problematik der vielen hunderttausend Kriegsgefangenen, die man in den ersten Kriegsmonaten gemacht hatte, und die bisher weder hinreichend verhört, noch im Sinne der NS-Vernichtungspläne systematisch auf Kommissare und auf Juden selektiert worden waren. Drittens war die Ausrottung der jüdischen Zivilisten bei weitem nicht so weit vorangetrieben wie in Litauen, wo die bisherige jüdische Bevölkerung großteils ermordet, ansonsten in wenige Ghettos gepfercht war. Insgesamt zwang die militärische Situation in Weißrußland von vornherein zu einer engen Kooperation von Zivil- und Polizeiverwaltungen einerseits, Heeresverwaltungen andererseits. Das östliche Weißrußland gehörte weiterhin zum Bereich des Rückwärtigen Heeresgebiets der Heeresgruppe Mitte. Kommandeur war General der Infanterie Max v. Schenckendorff. Hingegen wurde das westliche Weißrußland als „Generalkommissariat Weißruthenien" zivilverwaltet und unterstand wie das Generalkommissariat Litauen dem Reichskommissar Ostland, Hinrich Lohse, dem als Wehrmachtbefehlshaber Generalleutnant Walter Brähmer zur Seite stand. Unter diesem amtierten als Generalkommissar für Weißruthenien zu diesem Zeitpunkt Gauleiter Wilhelm Kube (der am 22. September 1943 von einer Partisanin getötet wurde) und Oberst Bechtolsheim (ab 1. August 1941 Generalmajor) als „Kommandant in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland". Bechtolsheim unterstanden die gesamten Militärkräfte im Generalkommissariat Weißruthenien. Angesichts des im Vergleich zum Generalkommissariat Litauen stärkeren militärischen Charakters der Besatzungsherrschaft war sein Einfluß auf die Einsatzkoordination ungleich größer als etwa der des Kommandanten in Litauen, Oberst Emil Just. Die Organisation der Besatzungsstruktur in Weißrußland war zunächst eine Interimslösung, die überwunden werden sollte, sobald der Frontbereich auf ganzer Länge ostwärts von Weißrußland verlaufen würde. Dazu kam es jedoch nie, so daß sich die stark improvisiert wirkende Besatzungsstruktur verfestigte. Militärische, zivile und polizeiliche Verwaltungsorgane existierten nebeneinander und stritten häufig genug um Kompetenzen; Auseinandersetzungen, die nur von Fall zu Fall beilegt werden konnten, weil es für viele Fragen keine Lösung auf Basis vorhandener Verwaltungsweisungen gab. Entsprechend kompliziert gestalteten sich zu diesem Zeitpunkt auch die Unterstellungsverhältnisse des 11. Reserve-Polizei-Bataillons und des ihm angegliederten 2. Schutzmannschafts-Bataillons im Zuge der Verlegung von Kaunas nach Minsk auf Anforderung des dortigen SSPF Karl Zenner29 am 6. Oktober
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Eine entsprechende Anfrage vom 3. 10. 1941 ist erwähnt in: Lagebericht Ostland, durch
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1941. Mit dieser verließ das Schutzmannschafts-Bataillon die Zuständigkeit des KdO Kaunas, Major Engel. Aufgrund seiner fortdauernden Unterstellung unter das 11. Reserve-Polizei-Bataillon trat es mit diesem einsatzmäßig unter das Kommando der Wehrmacht, unterstellt der Sicherungsdivision 707 und damit der Feldkommandantur Minsk 30 . Über dieses wiederum unterstand das Bataillon einsatzmäßig dem bereits erwähnten „Kommandanten in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland", Generalmajor Bechtolsheim. Organisatorisch blieben beide Bataillone aber in der Zuständigkeit des SSPF Minsk und über ihn in der des HSSPF Ostland, SS-Gruppenführer Hans-Adolf Prützmann bzw. ab dem 1. November 1941 SS- Obergruppenführer Friedrich Jeckeln. Verkompliziert wurde diese Situation zudem dadurch, daß für das Rückwärtige Heeresgebiet der Heeresgruppe Mitte und damit auch für das östliche Weißrußland ein eigener HSSPF, SS-Obergruppenführer Erich v. d. Bach-Zelewski, eingesetzt worden war. Am 3. Oktober 1942 wurde dieser zusätzlich „Sonderbeauftragter der SS für den Bandenkampf im Osten". Schon als HSSPF Mitte, vor allem aber als Sonderbeauftragter konnte v. d. Bach-Zelewski weitgehend in die Kompetenzen des SSPF Minsk und der Feldkommandantur eingreifen. Diese unklare Situation bereinigte erst die am 1. April 1943 erfolgte Unterstellung auch der zivilverwalteten Teile Weißrußlands unter v. d. Bach-Zelewski, der dadurch zum „Höheren SS- und Polizeiführer Rußland Mitte und Weißruthenien" (HSSPF RuMi/WR) avancierte 31 . Die Wehrmacht war und blieb mithin in das Zuständigkeitswirrwarr und damit auch in die Verantwortlichkeit für die Taten und Untaten der beiden genannten Bataillone eingebunden - eine bedeutsame Tatsache. Im Juni 1943 wurde v. d. Bach-Zelewski schließlich zusätzlich als „Chef der Bandenkampfverbände" Koordinator und Kommandeur aller Operationen zur Bekämpfung der Partisanenbewegung. Er kooperierte dabei eng mit dem KdS in Minsk 32 . Es war wahrscheinlich vor allem v. d. BachZelewski, der dafür sorgte, daß im September 1943 Erich Ehrlinger aus Kiew wieder nach Minsk wechselte, wo er den bisherigen KdS Eduard Strauch ablöste. Zugleich löste man den KdS Minsk aus der Zuständigkeit des BdS Ostland in Riga und des SSPF in Minsk und ordnete ihn v. d. Bach-Zelewski als BdS zu, so daß Ehrlinger jetzt faktisch die Funktionen von KdS und BdS auf sich vereinigte, ein wichtiger Schritt in v. d. Bach-Zelewskis Bemühen, die Polizeiverwaltungen in den besetzten Ostgebieten zu entrümpeln und im Sinne der Partisanenkriegführung straffer und effizienter zu gestalten 33 .
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B d O Ostland, Jedicke, an Reichskommissar Lohse, 17. 10. 1941, Z S A Minsk, R-389/1/3, S. 1 0 4 - 1 1 7 . Lagebericht Reserve-Polizei-Bataillon 11, 2 1 . 1 0 . 1941, Z S A Minsk, R-389/1/3, S. 2 1 8 - 2 2 1 ; Schreiben Kube an Lohse, 1. 11. 1 9 4 1 , in: IMT, 27, 1104-PS, S. 1 - 2 . Tessin, Stäbe, S. 62. Dem Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) unterstanden organisationsmäßig die Kräfte der Sicherheitspolizei auf der Ebene der Generalgouvernements. Ihm entsprach der Kommandeur der Ordnungspolizei ( K d O ) sowie als Beigeordneter zum HSSPF der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) und der Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO). Krausnick/Wilhelm, Truppe, S. 285.
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Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Zenner die Unterstützung aus Kaunas vor allem deshalb angefordert, weil er selbst über keine gut eingespielte Einheit von Henkern verfügte, um die Ermordung von Juden und Kommunisten, aber auch von Kriegsgefangenen, die weder versorgt noch angesichts der Transportkrise abtransportiert werden konnten, durchzuführen. Bechtolsheims Wochen- und Monatsberichte listen penibel die Exekutionen auf, die vom 11. Reserve-Polizei-Bataillon und dem 2. Schuma-Bataillon durchgeführt wurden. Am 10. Oktober setzte er bereits den Wehrmachtbefehlshaber Ostland darüber in Kenntnis, daß zwei Kompanien des 2. Schuma-Bataillons zusammen mit Einheiten des 11. Reserve-Polizei-Bataillons und der Geheimen Feldpolizei (GFP) am 8. Oktober 1941 einen Politruk, neun Partisanen, einen Kriegsgefangenen und 630 andere „verdächtige Elemente ohne Ausweis, Kommunisten und Juden" erschossen hatten 34 . Erst einen Tag zuvor war das 2. Schuma-Bataillon - die erste litauische Einheit in Weißrußland - in Minsk angekommen. Am 16. Oktober 1941 berichtete er Brähmer, daß kombinierte Einheiten aus Wehrmacht - 707. Pionier-Kompanie, GFP - und des 11. Reserve-Polizei- sowie des 2. Schuma-Bataillons nahe Rudensk 800 Partisanen, Juden und Kommunisten erschossen hatten 35 . Danach wurden beide Bataillone vor allem im Raum Sluzk eingesetzt. Hier nahm das 2. Schuma-Bataillon an der Ghetto-Aktion vom 27. Oktober 1941 teil, wo nicht nur die litauischen, sondern auch die deutschen Beteiligten - Mitglieder des 11. Reserve-Polizei-Bataillons - nach dem protestierenden Bericht des gewiß nicht zimperlichen Gebietskommissars von Sluzk, Carl, mit „Sadismus" und „mit einer unbeschreiblichen Brutalität" ein Massaker veranstaltete, dem nahezu alle Juden zum Opfer fielen36. Allerdings führte dies nicht zu einer Reduzierung von Ausschreitungen während der antijüdischen Aktionen, und es führte natürlich erst recht nicht zu einer Reduzierung der Massenmorde. Insgesamt fielen im Raum Sluzk ca. 5900 Personen, fast ausschließlich Juden, dem 11. Reserve-Polizei-Bataillon und dem 2. Schutzmannschafts-Bataillon zum Opfer 37 . Das Bemerkenswerte ist nicht, daß diese Verbände auch weiterhin zu Mordaktionen gegen Juden und Kommunisten - oder wen man dafür hielt - eingesetzt wurden, sondern daß sich allmählich der Dienst vom Polizeilichen weg zum Militärischen entwickelte. In den Bereich polizeilicher Tätigkeiten gehörte die Teilnahme an Massenexekutionen und an Ghetto-Aktionen sowie Wachdienste, wie sie in ähnlicher Weise schon den Bataillonsalltag in Kaunas bestimmt hatten 38 . 34
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Bericht Kommandant in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland, Minsk, 10. 10. 1941, ZSA Minsk, R-378/1/698, S. 4 - 5 . Bericht Kommandant in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland, Minsk, 18. 10. 1941, ebd., R-378/1/698, S. 1 1 - 1 2 . Bericht Carl, 30. 10. 1941, an Lohse, in: IMT, 27, 1104-PS, Anl. 3, S. 4 - 8 . Dazu auch Carls spätere Aussage im Schmitz-Verfahren; Aussage Carl, 28. 6. 1941, Ludwigsburg ZSt, 207 A R - Z 14/1958 (Schmitz), Bd. 13, Bl. 5 5 0 6 - 5 5 1 0 . Monatsbericht Kommandant in Weißruthenien des Wehrmachtbefehlshabers Ostland, 11. 10.-10. 11. 1941, 10. 11. 1941, B A - M A , R H 26, 707/2, S. 1 - 3 . Hierin berichtete Bechtolsheim auch von der Erschießung weiterer 1341 Juden am 13. und 14. 1 0 . 1 9 4 1 im Gebiet von Kliniki und Smilovicze. Insbesondere der Wachdienst v o r Lagern, Ghettos und Fabriken im Raum Minsk entsprach der entsprechenden Tätigkeit in Kaunas; Befehl Nr. 57, Impulevicius, Minsk,
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Den Übergang markierten die Patrouillendienste auf Überlandstraßen. Auch hierbei kam es immer wieder zu Erschießungen. So vermerkte Lechthaler in seinem wöchentlichen Bericht, daß seine deutschen und litauischen Einheiten am 18. Oktober 1941 bei Kontrollen auf der Straße von Minsk nach Sluzk drei Juden und einen Russen erschossen hätten 39 . Unmittelbarer Anlaß der Erschießung der Juden war, daß diese den gelben Stern, den sie deutlich sichtbar tragen mußten, in der einen oder anderen Weise verdeckt hatten. Angesichts der schweren Regenfälle, über die Lechthaler selbst für diese Zeit berichtet, ist anzunehmen, daß die Opfer einen Übermantel oder eine Jacke trugen, als sie in die Straßenkontrolle gerieten, und lediglich dadurch der Stern verdeckt wurde. Zwar nimmt sich dieser Vorgang bescheiden aus, verglichen mit der Erschießung von insgesamt über 4000 Juden und Kommunisten im Zuge der Ermordung der Insassen verschiedener Gefangenenlager, die ja der Wehrmacht unterstanden, worüber Lechthaler ebenfalls berichtet. Aber die Erschießung bei Straßenkontrollen rückte das Bataillon dichter an die militärische Partisanenbekämpfung. Freilich resultierte aus der antisemitischen NS-Ideologie, daß auch die Erschießung jüdischer Zivilisten als Maßnahme zur Reduzierung der Partisanengefahr angesehen wurde, da man grundsätzlich alle Juden für „partisanenverdächtig", für Sympathisanten und aktive Helfer der Partisanenbewegung hielt 40 . Deshalb bildete das Erschießen von Juden, wo man sie außerhalb der Ghettos antraf, auch weiterhin einen nicht als separat angesehenen Bestandteil der Partisanenbekämpfung, in welche das 11. Reserve-Polizei-Bataillon ebenso wie das 2. Schuma-Bataillon immer mehr verwickelt wurden. Ahnliches galt für die Erschießung von Sinti und Roma, die als Nichtseßhafte ungeprüft als partisanenverdächtig galten und daher grundsätzlich erschossen wurden. Bereits am 15. und 16. Oktober 1941 nahmen Teile des 2. Schuma-Bataillons an Durchsuchungen von Waldgebieten und Dörfern im Gebiet von Lohojsk teil. Im Rahmen dieser Aktion wurden sechs Partisanen und ein Kommunist erschossen, weitere 52 Juden und zwei Partisanen in Plessczenice, ein Mann in Sucha-Gora sowie ein Mann in Wolcza 41 . Diese vergleichsweise kleinen Zahlen zeigen, wie gering die Erfolge der deutschen Methoden im Kampf gegen die Partisanen zunächst waren. Freilich befanden sich die Partisanengruppen in Weißrußland im Oktober 1941 noch im Aufbau. In der Ukraine und im besetzten Teil Rußlands hatten die hastigen Organisationsweisungen des ZK der KPdSU vom August und September 1941 noch einigermaßen umgesetzt werden können. Aber Weißrußland war in weiten Teilen zu rasch in deutsche Hände gefallen, als daß ein zentralisierter Aufbau von Partisanengruppen noch
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24. 11. 1941, S A L Vilnius, R-1444/1/3, S. 332. Zu den Wachaufgaben in Kaunas: Stang, Kollaboration, S. 1 3 4 - 1 4 0 . Lagebericht Reserve-Polizei-Bataillon 11, 21. 10. 1941, Z S A Minsk, R-490/35, S. 2 1 - 2 3 . So formulierte v. d. Bach-Zelewski bereits im September 1941: „ W o der Partisan ist, ist der Jude, und w o der Jude ist, ist der Partisan."; zit. n. Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 127. Lechthaler fügt hinzu, daß die Erschießung der jüdischen Bevölkerung im Raum Lohojsk außer in Plessczenice bereits v o n Kräften der Sicherheitspolizei aus Borrisow durchgeführt w o r d e n war. Dies belegt, daß die Erschießung der lokalen jüdischen Bevölkerung Teil jeder Operation gegen lokale Partisanengruppen und die diese unterstützende Bevölkerung war.
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hätte eingeleitet werden können 42 . Daher entstanden zunächst schlecht organisierte Gruppen, die sich vorwiegend aus in die Wälder geflohenen Parteifunktionären und versprengten Soldaten der Roten Armee zusammensetzten. Erst sehr langsam wurde auch in Weißrußland der Partisanenkampf effizienter gestaltet und auf die Vorgaben der sowjetischen Führung ausgerichtet. Gegen Ende des Jahres 1941 operierten im Rücken der Heeresgruppe Mitte immerhin schon ca. 40 000 Partisanen in knapp 900 Gruppen. Vice versa waren aber auch die deutschen Methoden zur Partisanenbekämpfung primitiv und unreflektiert und erschöpften sich nicht selten in Durchsuchungen von Dörfern und kleineren Waldgebieten. Dörfer, in denen Partisanen Unterstützung gewährt worden war, wurden nach Ermordung der Bevölkerung niedergebrannt. Einen entsprechenden Befehl an die 6. Armee hatte Generalfeldmarschall v. Reichenau im November 1941 erlassen. Zudem sollten die „Mitschuldigen" und weitere Geiseln erschossen werden, wobei v. Reichenau offen ließ, wieviele das sein oder nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden sollten. Partisanen, auch solche in Uniform, waren sofort öffentlich zu erhängen. Wer sich nicht ausweisen konnte und nicht ortsansässig war, sollte erschossen werden. Aber die Brutalität der Partisanenbekämpfung in diesen ersten Monaten trieb nur immer mehr Einheimische in die Arme der Partisanen oder veranlaßte sie jedenfalls, diese nach Möglichkeit zu unterstützen. Diese Brutalität war kein Spezifikum des deutschen Polizei-Einsatzes und verlängerte auch nicht einfach die Brutalität der NS-Bewegung und -Herrschaftsstruktur in die Besatzungsherrschaft hinein. Sondern die Partisanenbewegung wurde von Anfang an allein als militärisches Problem angesehen, für das militärische Lösungen gefunden werden mußten. Es war die Wehrmacht, welche keine wirksamen Konzepte für diese Art der Kriegführung parat hatte und daher zu planloser Brutalität Zuflucht nahm oder jedenfalls bereitwillig die Unterstützung der Polizeikräfte annahm, als diese sich andienten, diese Brutalität zu exekutieren 43 . Damit können die deutschen Methoden zur Bekämpfung der Partisanen in dieser frühen Zeit unterschieden werden in einen polizeilichen und einen militärischen Einsatz. In den polizeilichen Bereich fielen vor allem Durchsuchungen, Paßkontrollen, Straßensperren, Spitzelaktivität und sofortige Erschießung verdächtiger Personen. Dies verband sich in höchst unheilvoller Weise mit dem militärischen Vorgehen gegen Partisanen, das sich seit dem Spanischen Aufstand gegen die französischen Besatzungstruppen 1808-1814 auf die Erschießung von Geiseln konzentrierte, unbeschadet der Frage, ob diese selbst in die Partisanenaktivität verwickelt waren oder nicht. Die deutsche wie auch die österreichische Armee hatten dies im Ersten Weltkrieg bereits - vor allem in Serbien - ebenso exzessiv wie erfolglos praktiziert. Jetzt wurden die Geiselerschießungen ausgeweitet; sie gewannen eine zusätzliche, polizeiliche Legitimation durch Anwendung dieser Einschüchterungsmaßnahmen auf die Teile der Bevölkerung, welche im Verdacht standen, die Partisanen zu unterstützen. Dieser Mischung aus 42
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Dies bestritt auch die sowjetische Geschichtsschreibung nach 1945 nicht; grundlegend für diese Sicht die Darstellung bei A n d r o n i k o w u.a., Geschichte, 4, S. 158. Befehl v. Reichenaus, 9. 11. 1941, B A - M A , R H 20-6/141.
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Einschüchterungs- und Ausrottungspolitik fielen allein im Bereich der Heeresgruppe Mitte bis zum Ende des Jahres 1941 wenigstens 80000 angebliche Partisanen zum Opfer. Der Erfolg der Partisanen lag nicht primär in der Schädigung des deutschen Nachschubs, dem zunächst die meisten größeren Uberfälle galten. Das Risiko von Partisanenüberfällen zwang vielmehr die deutschen Besatzer zu umfangreicher Diversifikation der ohnehin knappen Truppen. Die fehlenden Erfolge des offensiven Vorgehens gegen die Partisanengefahr mußten durch Verstärkung der Defensive ausgeglichen werden. Knapp 300000 Mann befanden sich Ende 1941 im Partisaneneinsatz, welche natürlich an der Front fehlten. Allerdings hatten die instinktlosen Maßnahmen zur Partisanenbekämpfung und der Besatzungspolitik insgesamt zu einem großen Teil erst das Problem geschaffen, das man jetzt mit immer größerem Truppeneinsatz zu lösen versuchte. Diese Truppen waren aber noch kaum verfügbar. Angesichts des Scheiterns der Operation „Taifun", des Angriffs auf Moskau, und der beginnenden Gegenoffensive der Roten Armee wurden an der Front immer mehr Truppen gebraucht. Im Winter 1941 verlegte man auch das 11. Reserve-Polizei-Bataillon dorthin. Das 2. SchumaBataillon folgte ihm jedoch nicht. Direkt dem KdO in Minsk unterstellt, stand es aber weiterhin auch für Operationen des Kommandanten des Wehrmachtbefehlshabers zur Verfügung. Jetzt erfolgte zudem die schon seit längerem geplante Reorganisation der Nummern der litauischen Schuma-Bataillone. Aus dem „2. Litauischen Schutzmannschafts-Bataillon" wurde damit das 12. Dieses blieb weiterhin in zahlreiche Massenmorde verwickelt. Insbesondere nahm das Bataillon teil an der Vernichtung aller im Raum Minsk ansässigen Juden; bis Ende Juli 1942 wurden auf diese Art von diversen deutschen, litauischen, lettischen und ukrainischen Einheiten ca. 55000 Juden ermordet. Kube, der Generalkommissar von Weißruthenien, berichtete Lohse über diese Aktionen 44 . Aber die Morde einerseits und die zunehmend dringender werdenden Maßnahmen gegen die Partisanenaktivitäten andererseits konnten die deutschen Stellen in Weißrußland mit den vorhandenen Kräften kaum noch durchführen. Zudem plante das RSHA, Minsk zum Zentrum der Vernichtung der europäischen Juden zu machen. Am 28. und 29. Juli 1942 waren nicht nur 6500 russische und weißrussische Juden in Minsk erschossen worden, sondern auch ca. 3500 Juden aus Brünn, Wien, Bremen und Berlin. Kube verlangte von Lohse, sich dafür einzusetzen, daß die Verbringung von Juden nach Minsk unterbleibe, bis das Partisanenproblem gelöst sei. Lohse wurde zwar in keiner Weise aktiv, doch erfüllte sich Kubes Wunsch in gewisser Weise, als Auschwitz die Rolle übernahm, die man ursprünglich Minsk zugedacht hatte. Zugleich änderten sich allmählich, vorwiegend unter dem Einfluß v. d. Bach-Zelewskis, die deutschen Methoden im Krieg gegen die Partisanen. Von den traditionellen polizeilichen Durchsuchungs- und militärischen Einschüchterungsmethoden versuchte v. d. Bach-Zelewski abzurücken, da sie sich als wenig effizient erwiesen hatten. Insbesondere ließen sich auf diese Weise die schnellen, extrem mobilen Partisanenverbände nicht stellen, wenn diese aus den Wäldern
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Partisanenbekämpfung und Judenaktion im Generalbezirk Weißruthenien, Bericht des Generalkommissars Kube, Minsk, 31. 07. 1942, Y I V O , Occ. E3/41.
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heraus operierten und an Straßen, in Dörfern und entlang von Eisenbahnlinien nur zum unmittelbaren Angriff auftauchten. Zudem war die deutsche Kriegswirtschaft zunehmend nicht nur auf die Kooperation der Bevölkerung vor Ort angewiesen, sondern auch auf Zwangsarbeiter. Gerade im Blick hierauf hatte Hitler Weisung gegeben, Bevölkerungsteile, die verdächtigt wurden, die Partisanenbewegung zu unterstützen, nicht zu erschießen, sondern als Zwangsarbeiter in Weißrußland einzusetzen 45 . Zugleich unterstrich v. d. Bach-Zelewski, daß sich die bäuerliche Bevölkerung bisher häufig unter deutschem Terror einerseits und dem der Partisanen andererseits zwischen Scylla und Charybdis bewegte. Wenn es gelang, die Partisanen als gemeinsamen Feind der einheimischen Bevölkerung und der deutschen Besatzungsmacht erscheinen zu lassen, gab es Hoffnung, einen Solidarisierungseffekt zu erzielen oder wenigstens die Unterstützung der Partisanen durch die Bevölkerung auf das Maß zu reduzieren, was diese durch Erpressung der Bauern erreichen konnten. Dem entsprach der Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebiets Mitte, General der Infanterie Max v. Schenckendorff, der die Einschüchterungsmaßnahmen Anfang August 1942 stark einschränkte und sogar die bloße Mitgliedschaft in der KPdSU als hinreichenden Grund für eine Erschießung ausschloß 46 . Allerdings wies v. Schenckendorff wenig später auch nachdrücklich darauf hin, daß dies keine Einschränkung der eigenverantwortlichen Erschießungsberechtigung der Kräfte der Sicherheitspolizei bedeutete, er also nur die Terrormaßnahmen der Wehrmachtverbände zu reduzieren suchte 47 . Doch konnten dies ohnehin nur flankierende Maßnahmen sein. Der entscheidende Wandel in der Partisanenbekämpfung, den v. d. Bach-Zelewski ab Sommer 1942 zu erreichen trachtete, war eine neue Taktik des Aufspürens und Bekämpfens von Partisanen. Die großangelegten Suchaktionen, deren Aufmarsch bereits Tage vorher beobachtet werden konnte, hatten sich als unbrauchbar erwiesen, ebenso die polizeilichen Mittel von Straßensperre und Durchsuchung von Ortschaften. Die neue Taktik sah eine Adaption der Kampfesweise der Partisanen vor. Ziel war, eigene kleine Einheiten zu bilden, welche rasch und unauffällig operieren konnten, um den Feind aufzuspüren und diesen bei eigener Überlegenheit zu vernichten. Ursprünglich sollte dabei die Stoßtrupp-Taktik verwendet werden, wie sie, fußend auf Lehren des Ersten Weltkriegs, vor allem SS-Gruppenführer Felix Steiner vertrat, der aus ihr die eigentliche Taktik der Infanterie-Einheiten der Waffen-SS machen wollte. Die Stoßtrupp-Taktik sollte durch Weisung Himmlers vom 25. August 1942 die eigentliche Taktik des Kampfes gegen Partisanenverbände werden 48 . Das beweist einerseits, daß v. d. Bach-Zelewskis Pläne aus Berlin vollständig gedeckt wurden; es zeigt aber auch erneut, wie wenig Himmler von den militärischen, vor allem den logistischen Gegebenheiten vor O r t verstand. Die Stoßtrupp-Taktik im hier angedachten
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Weisung Himmlers, mit Bezug auf entsprechenden Führerbefehl, 10. 7. 1943, National Archives Washington, RG 242/T-175/140/2667657. Befehl v. Schenckendorffs, 3. 8. 1942, BA-MA, R H 20/1. Befehl v. Schenckendorffs, 14. 8. 1942, ebd. Weisung Himmler, 25.8. 1942, National Archives Washington, RG 242/T-175/140/ 2667576-9.
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Übergang zur Kommando-Taktik erforderte kleine Trupps exzellenter Soldaten von hoher Motivation und umfassender Ausbildung in allen taktischen Bereichen, vor allem hinsichtlich Nahkampf, Waffenkunde, Sprengmittellehre und Uberleben im Gelände. Zudem erforderte eine solche Einheit die Verfügbarkeit eines breitgefächerten Arsenals hochwertiger Waffen, um jeweils angemessen operieren zu können. Schließlich verlangte die eigentliche Stoßtrupp-Taktik auch den Einsatz von Artillerie-Einheiten, welche den eigentlichen Stoß vorbereiteten. All dies stand in Weißrußland nicht zur Verfügung. In der Realität waren die Schuma-Bataillone schlecht eingekleidet und bewaffnet. Sie operierten meist nur mit einem Sammelsurium von Gewehren und leichten Maschinenwaffen, in der Mehrheit Beutewaffen, sowie mit einer von Einheit zu Einheit variierenden Zahl schwerer Maschinengewehre, Handgranaten und Granatwerfer. Dies war kaum ausreichend für einen normalen Infanterieangriff, wenn der Gegner auch nur einigermaßen ausgerüstet und kampfbereit war; eine Stoßtrupp-Taktik ließ sich damit keinesfalls realisieren. Ohnehin war diese eigentlich gegen stark verteidigte feindliche Stellungen und Bunker entwickelt worden. Als fragwürdig erwies sich die besagte Taktik auch deshalb, weil die Partisanenkriegführung ja immer auch gegen Juden gerichtet war, welche im Wald versteckt lebten. Diese flohen natürlich sofort, wenn deutsche Verbände bemerkt wurden oder in eines ihrer Lager vorstießen. Aber auch die Partisanenverbände lebten selten in schwer befestigten Lagern oder verfügten über genügend Feuerkraft, um sich auf ein größeres Gefecht einlassen zu können. Statt dessen zogen sie sich meist rasch zurück, wobei sie ihre größere Flexibilität und Geländekenntnis ausnutzten. Oft rückte zudem der Verband in mehrere Richtungen ab und wurde erst später wieder zusammengeführt, was die Verfolgung zusätzlich erschwerte. Daher reduzierte v. d. Bach-Zelewski die Taktik auf die Einführung von Jagdkommandos. Diese sollten zunächst feindliche Verbände aufspüren, dann jedoch einen Schuma-Verband heranführen. Dieser sollte die Partisaneneinheit großräumig umschließen, um ein Ausbrechen zu verhindern. Erst dann war durch das Jagdkommando der Feind anzugreifen, um die Partisanen zu vernichten oder in den dann enger zusammenrückenden Ring der Schutzmannschaft zu treiben 49 . Leichte Maschinengewehre stellten die Hauptwaffe dieser Jagdkommandos dar. Ungeeignet für die Bekämpfung schwer befestigter Lager, bewährte sich diese Taktik vor allem, um schwächer bewaffnete Partisanentrupps und im Wald versteckte Juden aufzustöbern. Obwohl sich das 12. Schuma-Bataillon nicht wie andere Polizeiformationen zu einer Fronteinheit entwickelte, erreichte das Militärische im Zuge der Einführung der Jagdkommandos und der Intensivierung der Kriegführung gegen die Partisanen einen zunehmenden Stellenwert, bis es gegen Ende 1942 dominierend wurde. Entsprechendes galt auch für die militärischen Restelemente, welche das Bataillon aus der Anfangszeit als Teil des TDA-Bataillons noch hatte
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Mit der Einkreisungsoption knüpfte v. d. Bach-Zelewski wieder an ältere Konzepte an, die v. Brauchitsch bereits 1941 zur allgemeinen Taktik hatte machen wollen, die aber bis dahin kaum umgesetzt worden waren; Richtlinien f ü r die Partisanenbekämpfung, v. Brauchitsch, National Archives Washington, R G 242/T-175/11/2513575-91.
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retten können, etwa das parallele Führen deutscher Polizei- und litauischer Militärrangbezeichnungen. Das Bataillon operierte jetzt in militärischen Kommandostrukturen und nach militärischen Vorgaben im gemeinsamen Ansatz nicht nur mit anderen Polizei-, sondern auch mit Militärverbänden. In gewisser Weise entsprach dies zwar dem alten Wunsch der Mitglieder des Bataillons, die ja in ihrer großen Mehrheit bereits im Juni 1941 rekrutiert worden waren, als sie noch hofften, zur ersten Generation Freiwilliger einer neu zu gründenden litauischen Nationalarmee zu gehören. Doch hatten sich die Ideale des Sommers 1941 im Laufe des Dienstes abgeschliffen. Antisemitismus und Nationalismus waren zur Gehorsamsroutine geronnen; auch die Mordaktionen, an denen das Bataillon weiterhin teilnahm, wurden jetzt nicht mehr mit dem aggressiven Antisemitismus des Gelezinis Vilkas, sondern mit achselzuckender Gewöhnung an die Alltäglichkeit des Tötens ausgeführt. Mithin bedeutete die Rückgewinnung wichtiger militärischer Formen im sonst weiterhin polizeilichen Kontext für die Angehörigen des Bataillons keine nennenswerte Änderung. Als exemplarisch für die Partisanenaktionen, die bald den Alltag bestimmten, kann die Operation „Erntefest" gelten. Bei dieser handelte es sich um eine Offensive gegen die Partisanen im Raum Rodkovo und Kolodino, die unter Leitung des 13. SS-Polizei-Regiments durchgeführt wurde. Im Rahmen dieser Operation zeigte sich, wie wenig die Versuche v. d. Bach-Zelewskis und v. Schenckendorffs, die Terrorisierung der Zivilbevölkerung und die Ausrottungsunternehmen zu reduzieren, sich auf die Tätigkeit der Verbände unter dem Kommando der Sicherheitspolizei ausgewirkt hatten. Aufgabe des 12. Schuma-Bataillons im Rahmen des Unternehmens war die Abriegelung einer Insel in einem Sumpfgebiet nahe Kolodino, auf der ein größeres Partisanenlager vermutet wurde. Der Angriff begann am 22. Januar 1943, wobei die litauischen Verbände zunächst nur Ausbruchsversuche verhindern sollten, während das 13. SS-Polizei-Regiment den Hauptstoß in das Innere der Insel trug 50 . Freilich erwies sich hinsichtlich der Partisanenbekämpfung die Operation als Fehlschlag. Zwar wurden zahlreiche Bauern erschossen; aber es fehlte jeder Beweis, daß es sich dabei wirklich um Partisanen handelte. Die „Meldung aus den Besetzten Ostgebieten, Nr. 41" führt 805 während der Kampfhandlungen getötete Personen - vorwiegend wohl fliehende Dorfbewohner - und 1165 weitere getötete Personen auf, bei denen es sich fast ausschließlich um Juden handelte, die im Wald aufgespürt worden waren 51 . Der dem SS-Polizei-Regiment für die Dauer der Operation beigeordnete Vertreter der Sicherheitspolizei in Minsk, SSHauptsturmführer Wilke, dokumentierte die Operation in seinem Tagebuch52. Danach versuchten die Bewohner eines Dorfes nahe Russakovichi zu fliehen, als sich die deutschen und litauischen Einheiten gegen Morgen näherten. Sie wurden sofort unter Feuer genommen. Der Kommandeur des Regiments ver-
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Bataillons-Einsatzbefehl Nr. 2,1./Pol.Rgt.l3,21.1.1943, CSSA Moskau, R-500/1/769/98. Meldung aus den Besetzten Ostgebieten, Nr. 4 1 , 1 2 . 2. 1943, National Archives Washington, R-242/T-175/236/2725524-5. Tagebuch Wilke, S. 9 1 - 1 2 0 (17.1.-13.3.1943), Ludwigsburg ZSt, Sammlung UdSSR, Bd. 49.
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buchte die Getöteten als fliehende Partisanen, was zweifellos den Einsatzbericht und letztlich die Statistik schönte. Denn Wilke war sich gegen Abend, als er ein erstes Resümee zog, sicher, daß sich kaum ein Partisan unter den Getöteten befand. Im Folgenden beschreibt er dann den Einsatz des 12. SchumaBataillon in Volosach53. Dort erschoß die Einheit 15 Männer, 41 Frauen und 50 Kinder, wobei nur von sieben Männern angenommen wurde, daß sie am 2. Februar 1943 an einem Angriff auf Sasserje teilgenommen hatten, also Partisanen waren. In den folgenden Monaten wurde das Bataillon mehrfach verlegt, blieb aber eine der wichtigsten Einheiten im Kampf gegen Partisanen in Weißrußland. Dann, als sich die deutsche Situation Anfang 1944 zunehmend als aussichtslos erwies, verschmolz man das Bataillon zunächst mit mehreren anderen Einheiten, anscheinend, um es doch noch zum Fronteinsatz zu bringen. Da die deutsche Seite angesichts der hohen Zahl von Desertionen, welche die litauischen Bataillone jetzt verzeichneten, einen Fronteinsatz für zu riskant hielt, wurde das Bataillon dann aber nach Taurage in Litauen verlegt. Anscheinend sollte es in der litauischen Nationalarmee aufgehen, welche unter dem Kommando von General Plechavicius 54 nach langen Auseinandersetzungen doch noch - analog zur Vlassov-Armee - gegründet worden war. Seit 1941 hatten die litauischen Nationalisten immer wieder die Gründung einer solchen Armee gefordert, nachdem die ersten Ansätze im Keim erstickt worden waren. Die deutsche Seite setzte sie sofort gegen die Partisanen ein, welche inzwischen auch in Litauen Fuß gefaßt hatten. Doch verzeichneten die Einheiten kaum Erfolge; auch deshalb wollte man wahrscheinlich das im Partisanenkampf erfahrene 12. SchumaBataillon in die litauische Armee einbinden. Zunächst aber terrorisierte die Armee im wesentlichen nur den polnischen Bevölkerungsteil Litauens 55 . Nachdem die Einheiten sich weigerten, den Eid auf Hitler zu leisten und sich der SS unterstellen zu lassen, Plechavicius zudem Forderungen hinsichtlich eines weiteren Ausbaus der litauischen Autonomie stellte, folgte am 14. und 15. Mai 1944 die Auflösung der Armee 56 . Dabei kam es z.T. zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Litauern, woraufhin Plechavicius in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Teile der Armee liefen zu den Partisanen über, eine größere Zahl litauischer Soldaten ging als Luftwaffenhelfer nach Deutsch-
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Er verwechselt mehrfach das 12. mit dem 13. Schutzmannschafts-Bataillon, das zu dieser Zeit im Gebiet des Ilmen-Sees im Einsatz war. Diese Verwechslung war aber naheliegend, da das 12. und das 13. Schutzmannschafts-Bataillon aus dem TDA-Bataillon hervorgegangen waren und es sich um die ersten beiden jemals geschaffenen SchutzmannschaftsBataillone handelte. Plechavicius erschien den Deutschen als geeignete Integrationsfigur. Er und General Zukauskas hatten nach 1 9 1 8 die litauische Armee aufgebaut; er war es auch gewesen, der zusammen mit Smetona den Putsch von 1926 durchgeführt hatte; Hellmann, Nationalbewegung, S. 102. Dadurch war Plechavicius Generalstabschef geworden, war aber durch diese Aufgabe offensichtlich überfordert, so daß er, auch wegen eines Lungenleidens, durch General Rastikis ersetzt worden war; Schreiben Gesandter Kaunas an das Auswärtige Amt, 9. 6. 1928, A A , Büro Staatssekr., R 84932 (Litauen, Militär). Schreiben Vertreter des Auswärtigen Amts beim R K Ostland an das Auswärtige Amt, 30. 6. 1944, A A , Inland Hg, 343 (Litauen). Myllyniemi, Neuordnung, S. 279; Ivinskis, Lithuania, S. 84.
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land. Letzteres galt auch für die meisten Angehörigen des 12. Schuma-Bataillon, auch wenn etliche versuchten, in Litauen unterzutauchen. Insgesamt läßt sich die Geschichte des 2. bzw. 12. Schutzmannschafts-Bataillons verstehen als allmähliches Scheitern des deutschen Plans, die bewaffnete Kollaboration in Litauen - und ähnlich in Lettland und in der Ukraine - auf das Polizeiliche zu beschränken. Was in der Euphorie der ersten Wochen des Unternehmens „Barbarossa" möglich erschien, scheiterte angesichts der weiteren Entwicklung des Kriegs an der Ostfront und in den Rückwärtigen Heeresgebieten. Doch war damit nicht etwa auch ein Machtverlust der Polizeiführung verbunden, nachdem diese erst einmal die Kontrolle über die bewaffnete Kollaboration gewonnen hatte. Im Gegenteil: Die Kriegführung der Wehrmacht zeigte sich hier wie in vielen anderen Bereichen zunehmend angewiesen auf die Unterstützung durch die Einheiten von Polizei, SS und Waffen-SS. Die Polizei gab die Kontrolle über die Schutzmannschafts-Bataillone ja nicht etwa auf. Die Vorgehensweise etwa des 12. Schutzmannschafts-Bataillons während der Operation „Erntefest" zeigt, daß auch die Methode von der fortwährenden Ausrichtung der Polizei auf Terror, weniger von den Reformversuchen v. d. Bach-Zelewskis - selber Angehöriger der Polizei- und SS-Hierarchie - und v. Schenckendorffs geprägt wurde. So blieb das Bataillon im Polizeilichen wie auch nach der Rückkehr in das Militärische, wozu es sich schon als Teil des TDA-Bataillons in Kaunas entwickelt hatte: Ein Instrument von Terror, von Unterdrückung und von Völkermord. Die Versuche der Wehrmacht, sich der polizeilichen Terrormethode in der Partisanenbekämpfung zu entziehen, rührten nicht aus einer grundsätzlichen Wendung gegen den Terror. Ihr Hauptmotiv war nicht moralisch oder humanistisch, erst recht nicht Resultat eines inneren Widerstands gegen die NS-Politik: Funktionalistische Erwägungen einer Verbesserung der Partisanenbekämpfung, allenfalls überbrämt von Argumenten, was „deutsche" Kriegführung sei, bestimmten diese Abkehr vom reinen Terror. Die entsprechenden Überlegungen ließen sich natürlich auch Angehörige des NS-Polizeiapparates eingehen, sofern sie nicht völlig bestimmt waren von den paranoiden Mythen der NSIdeologie. Erich von dem Bach-Zelewski war ja nicht nur Anhänger, sondern der wichtigste Vorkämpfer der neuen Methode der Partisanenbekämpfung. Er hatte sich in der Vernichtung der SA-Spitze 1934 als brutal und skrupellos profiliert. Ihm ging es jetzt nicht darum, sich als Humanist zu beweisen, sondern seine ohnehin steile Karriere durch eine spektakuläre Reduzierung des Partisanenproblems weiter voranzutreiben. Das innere Unbehagen verschiedener Wehrmachtoffiziere und -Soldaten in der Verfolgung der NS-Terrorpolitik, wie er sich etwa in der gelegentlichen stillschweigenden Verweigerung des Kommissarbefehls ausdrückte, wurde hingegen nie zur Maxime der Wehrmacht insgesamt, da dieses Unbehagen offensichtlich im Sinne der Ziele der Wehrmachtführung kontraproduktiv war - gleichgültig, wie selbstverständlich solches Unbehagen gemäß dem traditionellen Ethos einem Offizier eigentlich zu sein hatte. Insgesamt zeigt die Geschichte des 2. bzw. 12. Schutzmannschafts-Bataillons in Weißrußland, daß eine Konkurrenz bestand zwischen Resten humanistischer und moralischer Vorbehalte, antisemitischer und antikommunistischer Ideolo-
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gie und funktionalistischen oder zweckrationalistischen Erwägungen. Von diesen dreien erwiesen sich der Einfluß ersterer rasch als gering. Dadurch konzentrierte die Konkurrenz sich auf Zweckrationalismus und Ideologie. Aber dieser Konflikt wurde - wie so oft im NS-System - nicht ausgetragen. Statt dessen versuchte man, ihn durch Parallelisierung zu entschärfen. Die Wehrmachtführung war gerne bereit, die Einflußbereiche der NS-Ideologie mit ihrem Niederschlag in blindem Terror unberührt zu lassen - ganz im Sinne der Parallelexistenz von Partei und Wehrmacht - und sich zu konzentrieren auf die auch geographisch ihr zugewiesenen Wirkungsbereiche. Hier praktizierte man die neue Taktik, dort behielt der Terror sein altes Gesicht; die Offiziere der Wehrmacht rebellierten dagegen selten und waren zufrieden, in ihren Bereichen nach eigenen Vorstellungen wirken zu können.
Bernhard Chiari Die Büchse der Pandora. Ein Dorf in Weißrußland 1939 bis 1944
In historischen Darstellungen zum Zweiten Weltkrieg entsteht meist der Eindruck, in den durch die Wehrmacht besetzten und durch unterschiedliche deutsche Behörden beherrschten Gebieten der Sowjetunion sei das „normale" Leben der Menschen zum Erliegen gekommen oder spiele für die „Aufarbeitung" der Kriegszeit keine Rolle. Sowjetische Autoren konzentrierten sich neben der Darstellung des „Volkskrieges" gegen die deutschen Besatzer auf die Opferzahlen 1 . Diese Ziffern, die eine demographische Katastrophe ersten Ranges widerspiegeln, scheinen zunächst tatsächlich jede Vorstellung vom Alltag in den besetzten Gebieten unmöglich zu machen. Die Weißrussische Sowjetrepublik (BSSR) verlor im Krieg ein Drittel ihrer Einwohner. Den Bevölkerungsstand von 1941 erreichte sie erst wieder in den siebziger Jahren. Von mehr als 800000 weißrussischen Juden überlebten nicht einmal 150000 den Krieg, im Westteil starben sogar 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Der Holocaust traf eine Region, deren Städte teils überwiegend von Juden bewohnt waren 2 . Sowjetische Historiker lasteten dem nationalsozialistischen Regime auch solche Verluste an, die zwischen 1939 und 1941 als Folge der Sowjetisierung Ostpolens die Gesellschaft der von ihrer Größe und Bevölkerung etwa verdoppelten Sowjetrepublik verändert hatten. Sie subsumierten unter die Kriegsopfer nicht nur weißrussische Soldaten in der Roten Armee und in den Partisanenverbänden, sondern auch Angehörige der polnischen Armia Krajowa (Heimatarmee), die vor allem in den westlichen Gebieten der BSSR kämpfte, sowie weißrussische und polnische Polizisten. Hinzu kamen Einheimische, die in nationalen weißrussischen Verbänden dienten, Zwangsarbeiter, Opfer deutscher, sowjetischer oder polnischer „Vergeltungsaktionen", mit der deutschen Wehrmacht geflüchtete Kollaborateure, aber auch einheimische Funktionsträger innerhalb des Besatzungsregimes, die die Rote Armee seit 1944 verhaftete. Auch Polen, die in den späten vierziger Jahren vom NKVD als „Nationalisten" und „antisowjetischen Elemente" verhaftet wurden, zählte man zu den Kriegsopfern und natürlich die Toten des Holocaust, die freilich lange Zeit lediglich als sowjetische Staatsbürger, aber nicht als Juden in die kollektive Erinnerung eingingen. In diesem Beitrag soll am Beispiel der BSSR dargestellt werden, wie kleine Kollektive unter der Besatzung litten und welche zerstörerischen Kräfte (vergleichbar den Übeln, die aus der Büchse der Pandora über die Welt kamen) die
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Njamecka-fasyscki genacyd [Deutsch-faschistischer Genozid]; Ponomarenko, Vsenarodnaja bor'ba ν tylu [Der Volkskampf im Hinterland]; Vsenarodnaja bor'ba [Der Volkskampf]. Pohl, Judenmord; Iwanow, Jahrhundert.
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Machthaber in jenem ethnischen Mischgebiet freisetzten, das die Wehrmacht im Sommer 1941 besetzte. Es geht insbesondere um die Frage, wie sich in einer Region, in der Land- und Forstwirtschaft praktisch die einzigen funktionierenden Wirtschaftszweige waren, die Dörfer zu behaupten suchten. Diese wurden seit 1942 zu einem Sicherheitsrisiko, waren aber gleichzeitig das wichtigste Reservoir für landwirtschaftliche Produkte und Arbeitskräfte für die Wehrmacht und das Deutsche Reich 3 . Zur Erfüllung der deutschen Auflagen installierte man ein Kontrollsystem, das im landwirtschaftlichen Bereich neben deutschem Verwaltungspersonal auch eine einheimische Selbstverwaltung vorsah. Den deutschen Verwaltungsführern vor Ort war es im Grunde ziemlich egal, in welcher Weise einheimische Bürgermeister, die die Lasten auf die Dörfer zu verteilen hatten, aber auch die weißrussische Polizei sich ihrer Aufgaben entledigten. Drakonische Strafen bei Nichterfüllung der Ablieferungsverpflichtungen, bei der Stellung von Zwangsarbeitern und der Rekrutierung einheimischer Polizisten auf dem Land öffneten Bereicherung und Willkür Tür und Tor. Die deutschen Zivilverwalter, schlecht für ihre Aufgaben qualifiziert und im deutschen „Ämterkampf" in den besetzten Ostgebieten stets die Verlierer, waren häufig nicht einmal über Straf- und Vernichtungsaktionen im Rahmen des „Partisanenkampfes" informiert, die ganze Landstriche verwüsteten. Abhängig von einheimischen Dolmetschern blieben die nominellen Herren Weißrußlands erst recht ohne klare Vorstellung davon, welche Konflikte sich innerhalb von Dörfern und Städten, zwischen Polen und Weißrussen, aber auch als Ergebnis der Ermordung der weißrussischen Juden abspielten. Diese Konflikte erreichten vor allem in den westlichen Gebieten der BSSR, wo sich nach dem deutschen Einmarsch Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Sowjetisierung entluden, die Intensität eines Bürgerkriegs. Vor allem im westlichen Weißrußland fanden die deutschen Behörden ein gehöriges Maß an Antisemitismus vor. Viele Einwohner sahen in den Juden jene Bevölkerungsgruppe, die nicht nur überproportional im sowjetischen Behördenapparat repräsentiert, sondern auch die Hauptnutznießerin der Sowjetisierung nach 1939 4
war . Das allgemeine Elend und der Mangel der Kriegszeit, Terror und Gegenterror verengten den Wahrnehmungsbereich aller Kriegsteilnehmer. Deutsche Wehrmachtsoldaten, meist kaum in der Lage, die weißrussische, russische und polnische Sprache, geschweige denn die auf dem Land vorherrschenden Mischdialekte voneinander zu unterscheiden, bewegten sich entlang gesicherter Linien und nahmen die Dörfer immer mehr als eine fremde, bedrohliche und vor allem unverständliche Wildnis wahr, in der Tag und Nacht die Gefahr brutaler Partisanenangriffe drohte. Die Zivilverwaltung registrierte die Zunahme bewaffneter Uberfälle im Rücken der deutschen Front und flüchtete vor der Kriegsrealität in sinnlosen Verwaltungsaktivismus. Einheimische Bauern, Agronomen und Dorfälteste konnten Terror und Vernichtung immer weniger vorausberechnen, geschweige denn beeinflussen. Sie gerieten vielmehr zwischen alle Fronten 3 4
Dlugoborski, Landwirtschaft; ders., Policy; ders./Madajczyk, Ausbeutungssysteme. Davies/Polonsky (Hrsg.), Jews; Gutman u. a. (Hrsg.), Jews; Beyrau, Antisemitismus.
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und wurden Opfer der deutschen Polizei, der Wehrmacht, der „Bandenkampf'-Kräfte der SS oder sowjetischer und polnischer Partisanenbrigaden. Ein unkalkulierbares Risiko bildeten auch die weißrussischen und litauischen Polizeibataillone und -posten, die man zur „Befriedung" Weißrußlands einsetzte. Gefahr ging von marodierenden Gruppen versprengter Rotarmisten, entlaufenen Kriegsgefangenen oder entkommenen Ghettobewohnern aus, die versuchten in Waldverstecken zu überleben und sich Nahrung auch mit Waffengewalt beschafften. In den Kämpfen zwischen diesen Fraktionen triumphierte nicht immer der Held über den Schurken oder der „Volkswille" gegen das Böse, sondern meist der Stärkere und besser Organisierte über den Schwachen. Die sowjetische Partisanenbewegung ging, als Teil der Roten Armee, aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervor. Mehr und mehr inkorporierte sie alle in ihrem Einflußgebiet vorhandenen Uberlebensgemeinschaften und organisierten Gruppen oder vernichtete sie. Unter solchen Umständen funktionierte „Gesellschaft" nicht mehr, verloren politische Grenzen ihre Bedeutung und geographische Regionen ihren Zusammenhalt. Die Front löste sich auf in eine Vielzahl kleiner Kriegsschauplätze, an denen in einer von Angst, Nervosität und Gerüchten dominierten Atmosphäre der Kampf um das bloße Uberleben, die Beschaffung von Nahrung und die Behauptung von Einflußsphären tobte 5 . Der Zugang zu diesen Geschehnissen ist nicht leicht, denn selten fand das Schicksal der Dörfer anders Eingang in die sowjetischen wie deutschen Quellen als in der Form von Berichten über deutsche „Straf- und Vernichtungsaktionen". Die sowjetischen Geschichtswerke und Memoiren stellten idealisierten sowjetischen Helden faschistische Verbrecher oder ebenso grob gezeichnete, gewissenlose Einheimische gegenüber, die durch den Dienst für die Eroberer Verrat an ihrem Volk übten. Die westliche Geschichtsschreibung beschäftigte sich mit der strukturellen Analyse des Besatzungssystems, dem rein militärischen Geschehen, der Alltagsgeschichte deutscher Soldaten, der Struktur der sowjetischen Partisanenbewegung und den ökonomischen Ergebnissen der Ausbeutung oder, in jüngster Zeit, mit der Verstrickung der Wehrmacht in die nationalsozialistischen Verbrechen 6 . In den letzten Jahren öffneten sich teilweise ehemals sowjetische Archive. Dies brachte eine Vielzahl von Dokumenten ans Licht, die die Funktionsweise der einheimischen Selbstverwaltung ebenso widerspiegeln wie die Arbeit der weißrussischen und polnischen Polizei oder der weißrussischen Marionettenregierung der deutschen Besatzer. In Polen und der Republik Belarus beschäftigten sich Historiker und Publizisten mit der Rolle der polnischen Armia Krajowa, die als Gegenspielerin der sowjetischen Partisanenbewegung erkannt wurde 7 .
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B e n z u. a. ( H r s g . ) , A n p a s s u n g ; S c h u m a n n u. a. ( H r s g . ) , E u r o p a , 7. Chiari, M y t h o s und Alltag; Pohl, R ü c k b l i c k ; M i c h a l k a ( H r s g . ) , D e r Zweite Weltkrieg; Ueberschär/Wette (Hrsg.), D e r deutsche Uberfall. E r m o l o v i c / 2 u m a r , O g n e m [Mit Feuer]; Michal G n a t o u s k i , A b stane dasledavannja gistoryi dzejnasci A r m i i K r a e v a j u Z a c h o d n j a j Belarusi, in: B e l a r u s k i G i s t a r y c n y C a s o p i s 1 (9), 1995, S. 5 1 - 5 6 ; S o l o v ' e v , B e l o r u s s k a j a C e n t r a ' n a j a R a d a [Weißruthenischer Zentralrat].
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Einen einzigartigen Zugang zum Kriegsgeschehen auf lokaler Ebene bieten sowjetische Prozeßakten. Bereits unmittelbar nach der Besetzung Weißrußlands durch die Rote Armee begann der NKVD mit der Verhaftung von Kollaborateuren. Viele dieser „Verräter der Heimat" waren Männer, die während des Krieges mehrfach die Fronten gewechselt und sich zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten. Polen beispielsweise dienten zunächst als Dorfälteste, um später in die weißrussische Polizei einzutreten. Hier dienten sie oft über einen längeren Zeitraum, legten aber gleichzeitig als Mitglieder der Armia Krajowa einen geheimen Eid auf die polnische Exilregierung in London ab. Gegen Ende des Krieges schlossen sie sich Brigaden der polnischen Heimatarmee an, flohen vor deren Zerschlagung in sowjetische Partisaneneinheiten und beendeten den Krieg häufig als Soldaten der Roten Armee 8 . Prozeßprotokolle als historische Quelle bedürfen einer behutsamen Auswertung. Ihre Bedeutung gewinnen sie hauptsächlich durch den Umstand, daß während der Verfahren nicht nur die Täter, sondern auch überlebende Opfer, Familienangehörige oder Nachbarn Ermordeter zu Wort kamen. Ihre Aussagen ergänzen sich und bringen nicht nur die verhandelten Verbrechen, sondern auch ein vielfältiges System von Abhängigkeiten, Feindschaften und persönlichen Konflikten in kleinen Dörfern und Städten, aber auch Motive wie Eitelkeit, politischen Fanatismus, Antisemitismus, Gewinnstreben, die Suche nach Rache für früher erlittenes Unrecht, Vorbehalte gegenüber Angehörigen anderer Ethnien oder Charakterlosigkeit und Sadismus ans Licht. Um die Kriegsereignisse, wie sie sich in vielen Tausend weißrussischen Dörfern abspielten, möglichst anschaulich beschreiben zu können, soll ein unkonventioneller Weg beschritten werden. Die Grundlage für diesen Beitrag ist ein mehrjähriges Forschungsprojekt zur weißrussischen Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs. Die Dokumentenbasis bilden sowjetische, weißrussische und deutsche Bestände aus Minsk, Brest und Moskau, verschiedenen Abteilungen des Bundesarchivs sowie die oben vorgestellten sowjetischen Prozeßakten 9 .
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Prokuratura [Staatsanwaltschaft] Respubliki Belarus' in Minsk und Brest. Prozeßakten des K G B BSSR wurden 1996 und 1997 f ü r die London Metropolitan Police, W a r Crimes Unit, eingesehen. Zitierte Dokumente werden durch die Initialen der Hauptangeklagten sowie durch die Aktennummer (delo) wiedergegeben. Komitet po Archivam i Deloproizvodstvu pri Sovete Ministrov Respubliki Belarus' [Komitee für Archive und Sachbearbeitung beim Ministerrat der Republik Belarus'], Minsk; Belaruski Dzjarzauny muzej gistoryi Vjalikaj Ajcynnaj Vajny [Museum des Großen Vaterländischen Krieges], Minsk; Nacional'nyj Archiv Respubliki Belarus' [Nationalarchiv der Republik Belarus'], Minsk (NARB); Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Belarus' [Staatsarchiv der Republik Belarus'], Minsk ( G A R B , früher Central'nyj Gosudarstvennyj Archiv Oktjabr'skoj revoljucii i socialisticeskogo stroitel'stva [Staatliches Zentralarchiv der Oktoberrevolution und des sozialistischen Aufbaus]); Gosudarstvennyj Archiv Minskoj Oblasti [Staatsarchiv der Oblast' Minsk], Minsk ( G A M O ) ; Gosudarstvennyj Archiv Brestskoj oblasti [Staatsarchiv der Oblast' Brest], Brest ( G A B O ) ; Rossiskij centr chranenija i izucenija dokumentov novejsoj istorii [Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte], Moskau ( R C C h l D N I ) ; Centr istoriko-dokumental'nych kollekcij [Zentrum für historische Dokumentensammlungen], ehem. „Osobyj archiv" [Sonderarchiv], Moskau (CIDK); unterschiedliche Abteilungen des Bundesarchivs (BA); Bundesarchiv-Militärchiv Freiburg ( B A - M A ) ; Bundesbeauftragter f ü r die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen D D R , Berlin (BStU).
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Immer wieder sind in diesen Dokumenten die gleichen Kräfte sichtbar geworden, die die Menschen im Krieg zum Handeln trieben und dabei Dörfer und sogar Familien zerstörten. Die Vorgänge an der gesellschaftlichen Basis werden hier nun idealtypisch beschrieben und auf einen imaginären Punkt fokussiert. Das Dorf Smakovici, dessen Geschichte auf den folgenden Seiten anhand von Episoden aus allen Teilen der BSSR erzählt wird, hat niemals existiert. Smakovici ist ein fiktives Dorf. Sein Schicksal vollzog sich jedoch, in vielen unterschiedlichen Variationen, überall in Weißrußland. Smakovici stellen wir uns im Zentrum der heutigen Republik Belarus vor, 20 Kilometer nördlich der Magistrale Brest-Baranavicy-Minsk 1 0 . Das Dorf befand sich am südlichen Ufer des Neman, der 15 Kilometer weiter südostwärtig flußaufwärts die kleine Stadt Stoübcy passierte. Smakovici war umgeben von sumpfigem Gelände. Die Dreifelderwirtschaft sowie die ständige Verkleinerung von Grundbesitz durch Erbteilung machten den Anbau von Winterroggen, Hafer, Gerste, Hirse und Buchweizen nur wenig ertragreich. Das verwendete Ackerbaugerät war so primitiv, daß schwere Böden kaum bearbeitet werden konnten. Auch die Kartoffeln, die etwa ein Fünftel der Anbaufläche einnahmen, waren klein und unansehnlich. In den von Staketenzäunen eingefaßten Gärten wuchsen Rüben, Weißkohl, Kürbisse, Gurken und Flachs. Den Haupterwerbszweig stellte die Viehzucht dar, beinahe alle Wirtschaften verfügten neben Kleinvieh auch über Kühe, Schweine oder Schafe. In Smakovici waren die Böden so schlecht, daß viele Bauern sogar Brotgetreide gegen Vieh einhandeln mußten 11 . Nördlich des Neman beginnt der Urwald von Naliboki (Nalibockaja pusca), ein kaum besiedeltes Waldgebiet mit einer Ausdehnung von 40 Kilometern, begrenzt durch die Dörfer und Städte Nalibaki, Ivjanec, Valozin, lue und Ljubca. Nicht der eher lichte Baumbestand von Birken und Eschen oder der leichte Sandboden machten den Naliboki-Wald so unzugänglich, sondern das Wasser. Entlang der Bäche Volka, Sivicanka, Izleb', Usa, Kamenka und Lebjazova, die das Gebiet von Ost nach West durchströmten und eine Vielzahl kleinerer Wasserläufe und Rinnsale speisten, entstanden und verschwanden ständig neue Tümpel und Sumpfflächen. Der Forst war ein idealer Aufenthaltsort für Mükken, aber kaum für Menschen. Bis 1939 hatte Smakovici ein kaum beachtetes Dasein an der äußersten Ostgrenze Polens geführt. Nur einige Kilometer weiter östlich endeten die Kresy Wschodnie und begann das Staatsgebiet der BSSR. Smakovici war umgeben von drei kleinen Orten. Zehn Kilometer im Süden, erreichbar über einen kaum ausgebauten Feldweg, lag das Städtchen Mir. Hier befand sich während des Krieges ein deutscher sowie ein weißrussischer Polizeiposten. In gleicher Entfernung im Südwesten lag Turec, nur wenig größer als Smakovici, aber ebenfalls mit einer kleinen Polizeistation belegt. Im Westen erreichte man Jaremicy nur durch
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Aus Gründen der Einheitlichkeit wird im Beitrag die weißrussische Form der Orts- und Familiennamen verwendet. Trotz antisemitischer Passagen immer noch brauchbar zu den Siedlungs- und Wirtschaftsverhältnissen der südlichen Gebiete der polnischen Wojewodschaft Nowogrodek unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Martin Bürgener, Pripet-Polessie. Das Bild einer polnischen Ostraum-Landschaft, Gotha 1939, S. 4 6 - 6 0 .
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unzugängliche Waldstücke und Sümpfe. Auch der Fußmarsch in das nächste größere Städtchen Karelicy, 25 Kilometer im Westen, oder nach Baranavicy, wo (in 40 Kilometer Entfernung) der deutsche Gebietskommissar residierte, stellte angesichts des schwierigen Geländes eine große Beschwernis dar. Die Menschen in Smakovici waren auch das Reisen nicht gewohnt. Der Dienst im polnischen Militär oder, bei den älteren Männern, in der zarischen Armee hatten für viele die einzige Möglichkeit geboten, etwas von der Welt kennenzulernen. Die Holzhäuser des Ortes waren entlang der Dorfstraße und einiger kleinerer Wege angeordnet, die rechtwinkelig von dieser abzweigten. Die typische „izba" bestand aus einem einzigen Raum, dessen Zentrum ein großer Ofen mit Schlafplatz, Kochnische und Backhöhle bildete. Eine Schlafbank und ein Tisch waren oft die einzigen Möbelstücke. Die eng zusammenstehenden Häuser verfügten über Bohlen- oder Schilfrohrgiebel, manchmal auch über einen integrierten Vorratsraum oder einen separaten Getreidespeicher. Wasser holten die Frauen vom Ziehbrunnen vor dem Haus 12 . Elektrizität gab es nicht, von Straßenbeleuchtung und Telefonen lasen die Menschen in den polnischen Zeitungen, die ab und zu das Dorf erreichten. In der kleinen Dorfschule wurden die Kinder im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtet. Viele Menschen in Smakovici waren Analphabeten und kaum fähig, ein leserliches Namenszeichen zu malen. Die meisten der 250 Einwohner waren weißrussische Bauern, 40 von ihnen Polen. Hätte man sie allerdings gefragt, worin sie sich voneinander unterschieden, hätten wohl die meisten keine Nationalität, sondern eine Religionszugehörigkeit genannt, wobei „rechtgläubig" und „katholisch" nicht gleichbedeutend mit „weißrussisch" und „polnisch" war 13 . Kriege hatten alle älteren Dorfbewohner kennengelernt. Viele erinnerten sich noch an den Ersten Weltkrieg, den Bürgerkrieg und den sowjetisch-polnischen Krieg, als die Region von Evakuierungen, Ausschreitungen unterschiedlicher militärischer Verbände und Seuchen heimgesucht worden war. Zwischen 1921 und 1926 siedelte der polnische Staat einige Militärsiedler (osadnicy wojskowi) aus Zentralpolen im Ort an. Dies hatte bei vielen Verbitterung hervorgerufen, doch hatte man sich mit den Veränderungen abgefunden, ebenso wie mit Steuern oder dem Militärdienst 14 . Auch mit dreißig jüdischen Einwohnern des Ortes gab es kaum Schwierigkeiten. In Smakovici waren sechs jüdische Familien ansässig, unter anderem der Hufschmied des Dorfes, ein Schuster und der Besitzer der kleinen Mühle. Mit Juden kam man ständig in Berührung. Im Städtchen Mir, wohin die Bauern an Markttagen Vieh und landwirtschaftliche Produkte brachten, lebten etwa 4000 Menschen. 2000 von ihnen waren Juden. In Mir gab es eine katholische und eine orthodoxe Kirche sowie eine Synagoge, zwei christliche Schulen und eine jüdische Jeschiwa, einen Polizeiposten, ein Gefängnis und sogar eine kleine Feuerwehr. An Markttagen quoll der Ort über von jüdischen Händlern und Hand-
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Ebenfalls aus den späten dreißiger Jahren stammt die detailreiche Studie von Engelhardt, Weißruthenien; vgl auch Stoliaroff (Hrsg.), U n village russe, S. 4 9 - 5 2 . Brock, Identity. Werner Benecke, Die Quäker in den Kresy Wschodnie der Zweiten Polnischen Republik, in: J f G O 42 (1994) 4, S. 5 1 0 - 5 2 0 .
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werkern, die überall ihre Waren und ihre Dienste feilboten. Schneider, Schuster und Zimmerleute waren meist Juden, und mit ihnen hatten die Bauern aus Smakovici zu schaffen. Von den Vetretern der polnischen Obrigkeit hielt man sich eher fern. Kaum jemand, der beispielsweise beim Viehhandel übers Ohr gehauen wurde, wäre auf die Idee gekommen, deshalb die polnische Polizei oder ein polnisches Gericht anzurufen 15 . Der Herbst 1939 brachte Verwirrung und Unruhe. Einige Männer des Dorfes wurden hastig einberufen und aufgefordert, sich bei Einheiten des polnischen Grenzverteidigungskorps (KOP) in Baranavicy zu melden. Als am 17. September die Rote Armee die polnische Grenze überschritt, kam es in der Gegend von Mir zu Kampfhandlungen und Plünderungen. Männer aus Smakovici trafen im Verlauf kleinerer und größerer Gefechte nicht nur auf Abteilungen der Roten Armee, die, oft noch nicht vollständig ausgerüstet und mangelhaft geführt, nach Westen vorstießen, sondern auch auf lokale Bürgerwehren und auf Gruppen von Plünderern, die die unübersichtliche Situation zu ihren Gunsten nutzen 16 . Die Sowjetisierung und der Austausch der Eliten, der sich nach dem „Beitritt" der annektierten Gebiete Ostpolens zur Weißrussischen bzw. Ukrainischen Sowjetrepublik dort seit September 1939 vollzog, betraf Smakovici in unterschiedlicher Weise 17 . Während man in Mir innerhalb kürzester Zeit die fast durchwegs mit Polen besetzte Kreisverwaltung, aber auch die Polizei, die Post, die Schulen und sogar die Feuerwehr mit Männern aus der „alten" BSSR oder anderen Teilen der Sowjetunion besetzte, reichten dafür die Möglichkeiten schon in der Gemeindeverwaltung von Turec nicht aus, ganz zu schweigen vom kleinen Dorf Smakovici. Hier wurde aber zumindest der Bürgermeister ausgetauscht und durch einen älteren Mann ersetzt, der auf sowjetischer Seite im Bürgerkrieg gekämpft hatte. Für die Polen von Smakovici brachte die Sowjetisierung zunächst kaum eine Veränderung. Erst als im Februar 1940 im ganzen Land eine erste Deportationswelle anrollte, wurden auch in Smakovici zwei polnische Militärsiedler und drei Angehörige der polnischen Forstverwaltung verhaftet und mitsamt ihren Familien deportiert. Im April nahm der NKVD den jüdischen Besitzer des einzigen kleinen Ladens fest, der sich bekanntermaßen seit Jahren für die zionistische Organisation eingesetzt hatte. Gemeinsam mit ihm ging ein Bauer ins Gefängnis, der sich für eine der nationalen weißrussischen Gruppierungen in Polen engagiert hatte. Woher bezog der NKVD seine Informationen? Die Verhaftungen, aber auch ständige Verhöre von Dorfbewohnern nährten den Verdacht, daß sich manche Nachbarn als Informanten dem neuen Regime angedient hatten. Man begann damit, mißtrauisch nach „Verrätern" Ausschau zu halten 18 .
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Nikolai Iwanow, Die jüdische Welt, erscheint in: Dietrich Beyrau u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte Weißrußlands, Göttingen 1998. Eberhardt, Polska granica wschodnia [Die polnische Ostgrenze]. Balcerak (Hrsg.), Polska - Biaiorus; Gizejewska/Strzembosz (Hrsg.), Spoieczenstwo Bialoruskie, Litewskie i Polskie na Ziemiach Poinocno-Wschodnich II Rzeczypospolitej [Weißrussen, Litauer und Polen in den Nordostgebieten der 2. Republik]. Ciesielski u.a., Masowe Deportacje Radzieckie [Die sowjetischen Massendeportationen], S. 3 1 - 3 3 ; Gross, Revolution; ders., Sowjetisierung; ders., Und wehe, du hoffst; Sword (Hrsg.), Takeover; ders. (Hrsg.), Deportation.
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Die Hoffnungen einiger junger weißrussischer Männer darauf, die neue Macht würde ihnen verbesserte Aufstiegschancen eröffnen, erfüllten sich nicht. In Mir machten sie die Erfahrung, daß die Sowjets ihnen mit Mißtrauen begegneten und eher minderqualifizierten, ortsunkundigen Kandidaten aus dem Osten den Vorzug gegenüber „bourgeoisen" Polen, aber auch den Angehörigen der lokalen weißrussischen Bevölkerungsgruppe gaben. Die Enttäuschten waren sich einig in der Einschätzung, daß die Juden am meisten von den Veränderungen profitierten. Ihnen standen Stellen in der Verwaltung offen, die man Polen grundsätzlich und Weißrussen oft aufgrund mangelnder Qualifikation vorenthielt. Die Bauern von Smakovici übersahen, daß gerade die jüdischen Händler und Gewerbetreibenden in Mir mit am stärksten von der Einführung planwirtschaftlicher Strukturen betroffen waren 19 . Im Dorf selbst veränderte sich allerdings wenig, denn die Kollektivierung der Landwirtschaft ging schleppend vonstatten und erreichte die Region um Turec erst zu Beginn des Jahres 1941. Die sowjetischen Maßnahmen richteten sich zunächst darauf, die Einzelhöfe (chutora) aufzulösen, die es auch in der Gegend um Smakovici gab, und sie andernorts wieder anzusiedeln und in Staatsbetriebe einzubinden 20 . Das Dorf Smakovici blieb hingegen bestehen und wurde erst kurz vor dem deutschen Einmarsch nominell Teil einer größeren Kolchose. Der Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Juni 1941 erfolgte entlang der Straße Ivacevicy-Baranavicy in Richtung Minsk und ließ das unwegsame Gelände um Smakovici zunächst unberührt. Auch vom chaotischen Rückzug der Roten Armee und der Evakuierung einiger sowjetischer Funktionäre aus Mir auf eilig requirierten Lastwagen bemerkte man im Dorf nichts. Der erste Kontakt mit deutschen Soldaten fand drei Tage nach dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa" statt, als eine deutsche Aufklärungsabteilung von Mir kommend den Neman erreichte. Kinder beäugten zwei deutsche Radpanzer und die Soldaten erhielten Wasser aus einem Ziehbrunnen. Ein junger Offizier versuchte sich einem Bauern gegenüber radebrechend verständlich zu machen. Wann, wo und wieviele sowjetische Soldaten hier durchgekommen seien, wollte er wissen. Die Abteilung verließ Smakovici nach kurzem wieder in nordwestliche Richtung, um einen Ubergang über den Neman zu sichern, der sich dicht hinter dem Nachbarort Jaremicy befand. Es dauerte zwei Wochen, bis die ersten deutschen Polizisten in Smakovici auftauchten. Sie kamen aus Mir und hängten Plakate in russischer und deutscher Sprache auf, die von Ruhe und Ordnung sprachen und zunächst die Ablieferung von sowjetischen oder polnischen Waffen forderten. Unterzeichnet vom deutschen Militärbefehlshaber des Gebiets drohte die Verlautbarung jedem mit der Erschießung, der sowjetische Soldaten oder flüchtige Zivilisten beherbergen würde. Zu diesem Zeitpunkt machten in Smakovici zum ersten Mal Ge-
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Ben-Cion Pinchuk, Sovietization of the Shtetl of Eastern Poland, 1939-1941, in: John W. Strong (Hrsg.), Essays on Revolutionary Culture and Stalinism, Columbus/Ohio 1990, S. 71-79. Diana Siebert, Vereinige und herrsche: Aufstieg und Niedergang des Chutorwesens im östlichen Weißrußland (1922-1940), in: J f G O 43 (1993) 1, S. 58-77.
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rüchte über Hinrichtungen in Mir und Turec die Runde. Dort, so hieß es, hätten „die Deutschen" sowjetische Funktionäre, Rotarmisten und einige Juden aus beiden Orten erschossen21. In Smakovici kümmerte man sich wenig um diese Vorgänge. Die Menschen blieben während der angeordneten Ausgangssperre in den Häusern und lebten ansonsten, wie sie vor dem deutschen Einmarsch auch gelebt hatten. Im Juli wurden die Bauern Evdokij Fedorovic Ljal'ko und Boris Vlasovic Mel'nikov zum Polizeiposten nach Mir gerufen. Ljal'ko, Jahrgang 1896, bewirtschaftete einen kleinen Hof am ostwärtigen Ortseingang von Smakovici. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er drei Jahre lang die russische Volksschule besucht und hier mehr schlecht als recht Lesen und Schreiben gelernt. Fünf Jahre lang war Ljal'ko Soldat gewesen, hatte während des polnisch-sowjetischen Krieges gekämpft und war erst 1921 in sein Dorf zurückgekehrt. Einigen Jahren auf dem elterlichen Hof folgte eine dreijährige Anstellung als Briefträger in Mir. Nach dem Tod des Vaters hatte Ljal'ko dessen Landwirtschaft in Smakovici übernommen. Mel'nikov war erst während der Ersten Weltkriegs geboren worden, hatte vier Jahre Volksschule absolviert und war 1939 als Soldat der polnischen Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und im Frühjahr 1940 heimgekehrt. Mel'nikov hatte hier von den Behörden das Haus eines Waldarbeiters übernommen, den man mit seiner Familie im Rahmen der zweiten Welle von Deportationen polnischer Siedler, Angehöriger der staatlichen Bürokratie und der „Bourgeoisie" irgendwohin in den Osten der UdSSR verschickt hatte. Auch Mel'nikov hatte in Smakovici eine kleine Landwirtschaft betrieben 22 . Im Juli 1941 saßen Ljal'ko und Mel'nikov in der Schule von Mir dem Kommandanten des deutschen Gendarmeriepostens gegenüber. In dessen Dienstzimmer, einem freigemachten Klassenraum, wo noch die Tafel in einer Ecke lehnte und sich überall die Schulmöbel stapelten, befanden sich außerdem der Kommandant des einheimischen Polizeipostens des Ortes, Aleksandr Michailovic Reznik, und der Vorsteher der Gemeinde Turec, zu der Smakovici gehörte, Guzovskij. Das Gespräch dauerte nicht einmal eine Stunde. Man erklärte Ljal'ko und Mel'nikov, daß sich die deutsche Wehrmacht überall auf dem Vormarsch befände, daß die Sowjets für immer vertrieben seien und in „Weißruthenien" nun eine neue Zeit anbräche. Am Ende des Gesprächst unterschrieb Ljal'ko eine Verpflichtungserklärung als Dorfältester oder „starost" von Smakovici. Mel'nikov übernahm das Amt des „Agronomen", der für die Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion im Ort zuständig war 23 . Ljal'ko und Mel'nikov gingen die gleichen Verpflichtungen ein, wie Tausende Bauern überall in Weißrußland. Ihre Order erhielten sie von der weißrussischen Kreisverwaltung in Mir und von der Gemeindevertretung in Turec, vom Chef der weißrussischen Polizei in Mir oder dem deutschen Kommandanten. Oberstes Gebot, so hatte man beiden erklärt, sei die Aufrechterhaltung der Ordnung
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N A R B 7 5 0 - 1 - 1 1 2 , Bl. 1 - 6 , 1 2 0 - 1 2 1 ; N A R B 4 6 8 3 - 3 - 1 0 4 7 , Bl. 8 - 9 ; Romanovskij, Nemecko-fasistskaja okkupacionnaja politika [Deutsch-faschistische Okkupationspolitik]. N A R B 4-33a-524, Bl. 168; K G B RB, delo 2362, A.F.Ch, Bl. 2 - 3 , 1 4 - 1 5 , K G B RB, delo 23552, K.-N. M.B., Bl. 1 6 - 2 0 . K G B RB, delo 34585, A . K . A . , Bl. 1 4 - 1 5 .
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in Smakovici und damit die Gewährleistung aller landwirtschaftlichen Arbeiten. Die Wehrmacht werde die Arbeitsleistungen der Einwohner für die Instandsetzung von Straßen und Gebäuden in Anspruch nehmen, hieß es weiter. Alle seien aufzuspüren und dingfest zu machen, die die neue Ordnung, die auch den Menschen in Smakovici Ruhe und Stabilität bringen würde, gefährden könnten. Kommunisten, versprengte Rotarmisten und Juden seien die gefährlichsten Feinde für den Frieden 24 . Den Familienvätern Ljal'ko und Mel'nikov ließ man kaum eine Wahl, ihre Amter abzulehnen. Beide waren aber im Grunde auch nicht abgeneigt, in den Dienst einer neuen Macht zu treten. Denn was würde sich in Smakovici wirklich verändern? Ljal'ko und Mel'nikov waren Bauern ohne Schulbildung. Für sie war die sowjetische Administration eine abstrakte Größe gewesen, mit der man sich arrangierte, so gut es ging. Auch mit den Deutschen würde man zurechtkommen, und schon der Weg vom Sitz der Gemeindeverwaltung in Turec nach Smakoviii war so weit, daß ständige Besuche im Dorf ebensowenig zu erwarten waren wie zu polnischer oder sowjetischer Zeit. Ljal'ko und Mel'nikov waren einfache Menschen, und der Vormarsch der deutschen Wehrmacht, über den man im Dorf sprach, hatte Eindruck bei ihnen hinterlassen. Die Sowjetmacht war scheinbar spurlos von der Bildfläche verschwunden, in Smakovici gab es im Spätsommer zwar fast noch keine deutschen Propagandaschriften, dafür aber viele Gerüchte, die besagten, die deutsche Armee stehe bereits in Moskau und Leningrad. Kriege hatte es in der Region genug gegeben, und warum sollten diesmal die Sieger nicht aus Deutschland kommen? Die Rote Armee, so lautete die einhellige Meinung im Dorf, würde sie jedenfalls nicht vertreiben. In Smakovici dachten die Bauern an die Ernte, und genau dies taten auch Ljal'ko und Mel'nikov. Sie kehrten in ihre Häuser zurück, und vor Ljal'kos izba brachte man ein Schild an, auf dem in deutscher und russischer Sprache (1941 erschienen beinahe sämtliche deutschen Verordnungen ausschließlich auf Russisch und nicht auf Weißrussisch) das Wort „Bürgermeister" stand. Ihre Aufgaben nahmen Ljal'ko und Mel'nikov aus den Wohnräumen wahr, in denen sie mit ihren Familien lebten 25 . Der Herbst 1941 war gekennzeichnet durch drei Entwicklungen. Die deutsche Militärverwaltung wurde seit August abgelöst durch die Zivilverwaltung. In Baranavicy traf ein „Gebietskommissar" an, der acht Kreise zu verwalten hatte. Einer davon war Mir, wo die deutsche Administration durch einen „Kreislandwirt" vertreten war. Dieser, der 40 Jahre alte Heinrich Risselwitz, war auch für die Gemeinde Turec in allen landwirtschaftlichen Fragen zuständig. Bei der Durchsetzung der deutschen Abgabeverpflichtungen konnte er auf die einheimische Kreisverwaltung in Mir, die Gemeindevertretung in Turec und die zum größten Teil neu ernannten Dorfältesten zurückgreifen 26 . 24
25 26
NARB 3500-2-1356, Bl. 27; G A R B 3 9 3 - 1 - 1 6 1 , Bl. 5; NARB 750-1-324, Bl. 19, 39, 58, 80, 98; K G B RB, delo 225, I.S.S., Bl. 12-13, 20-21, KGB RB, delo 23552, K.-N.M.B., Bl. 16-20, 37-38; K G B RB, delo, 3540,1.I.G., Bl. 39-40. G A R B 393—4-12, Bl. 47; K G B RB, delo 462, M.M.G., Bl. 12,17; K G B RB, delo 42, S.D.S., Bl. 32-33. Daliin, Herrschaft; Chiari, Zivilverwaltung; Turonak, Belarus' pad njameckaj akupacyjaj [Weißrußland unter deutscher Okkupation]; Vakar, Belorussia; Mulligan, Politics.
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Die zweite Entwicklung war der langsame Aufbau der einheimischen Polizei 27 . In Turec richtete man einen Posten ein, der im Dezember bereits dreißig Schutzmänner umfaßte. Im November erhielt der starost von Smakovici den Auftrag, sechs junge Männer aus dem Dorf nach Turec zu schicken. Zwei Männer von 21 und 22 Jahren zogen den Dienst in Turec der mühsamen Arbeit in der elterlichen Landwirtschaft vor. Die vier weiteren zukünftigen Polizisten mußte Ljal'ko selbst bestimmen. Er wählte zwei Polen aus, die erst seit einigen Jahren in Smakovici lebten und im Dorf als Außenseiter galten. Um das Kontingent voll zu machen, fand er zwei Weißrussen, die ihm für das Leben im Dorf entbehrlich schienen. Einer von ihnen war ein alleinstehender Trinker, der sich schon in polnischer Zeit mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten hatte. Auch der zweite galt seinen Nachbarn als arbeitsscheu und bösartig. Ljal'ko machte in dieser Situation die Erfahrung, daß er nun im Dorf Entscheidungen zu treffen hatte, die ihm große Macht verliehen. Freilich befand auch er sich in einer Zwangssituation. Die Befehle, die er in schriftlicher oder mündlicher Form erhielt, waren unbedingt umzusetzen und ließen keinen Zweifel daran, was mit dem Dorfältesten geschehen würde, wenn er sich den Anweisungen 2ß entzöge . Die dritte Veränderung in Smakovici war das Verschwinden der Juden. Schon im Juli hatte Ljal'ko der Gemeindeverwaltung eine Liste aushändigen müssen, die alle Einwohner des Dorfes enthielt und genaue Angaben über deren Nationalität, ihren Beruf und darüber machte, wie lange jemand bereits in Smakovici lebte. In einer eigenen Rubrik waren Flüchtlinge und Rotarmisten zu nennen, von denen es im Dorf einige gab. Im August hatte ein Zug deutscher Polizei Smakovici durchkämmt und vier ehemalige sowjetische Soldaten verhaftet. Die Festnahmen hatten große Unruhe und Verbitterung im Dorf erzeugt. Bei zwei Rotarmisten hatte es sich um Verwandte ortsansässiger Bauern gehandelt, deren Familien nun Ljal'ko die Schuld am Verschwinden der Männer gaben. Die vier Männer tauchten nicht wieder auf. Wie sich später herausstellte, wurden sie an einem Waldrand unweit von Smakovici erschossen. Ebenfalls im August hatte man die sechs jüdischen Familien des Dorfes abgeholt und nach Mir gebracht, wo sie in einem abgesperrten Ghetto leben und arbeiten sollten. Davon berichteten weißrussische Polizisten aus Turec, die dort die Ghettoumzäunung bewachten und ab und zu Verwandte in Smakovici besuchten. Ljal'ko hatte nichts gegen Juden in seinem Dorf. Bis auf eine Familie hatten sie schon immer hier gelebt, und außer den üblichen Frotzeleien und Streitigkeiten war das^ Zusammenleben ohne größere Konflikte verlaufen. Als man die Juden von Smakovici abgeholt hatte, waren einige Bauern bei Ljal'ko erschienen und hatten gefordert, er solle sich für den Hufschmied, Fejvel Smul'evic Gerson, und den jüdischen Besitzer der kleinen Mühle, Jakov Matveevic Livsic, einsetzen. Beide seien in Smakovici unersetzlich. Man gab Ljal'ko eine Petition, in der darauf hingewiesen wurde, Gerson und Livsic hätten immer schon im Dorf gelebt. Der Dorfälteste überlegte einen Tag lang, wie 27 28
Für die Ukraine Dean, Gendarmerie; Breitman, Police. K G Β RB, delo 34585, A.K.A., Bl. 10-11; K G B RB, delo 1747, A.P.V., Bl. 10-13; KGB RB, delo 1836, A.M.L., Bl. 10-12; K G B RB, delo 20346, V.V.K., Bl. 14-18.
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er sich verhalten sollte. Schließlich entschloß er sich, die Petition nicht weiterzugeben. Er tat dies, weil ihm die Vorstellung Unbehagen bereitete, er könne bei der deutschen Polizei unangenehm auffallen. Juden suchte und verhaftete man schließlich überall in der Gegend, Gerüchte von Erschießungen machten die Runde, und immer wieder flohen Juden und versteckte Rotarmisten in die Wälder 29 . Unersetzlich war in Smakovici niemand, wie sich alsbald herausstellte. Schon am Tage, als Livsic und Gerson von deutschen und weißrussischen Polizisten aus Mir aus ihren Häusern geholt wurden, erschien bei Ljal'ko ein Pole, der darum bat, die Mühle von Smakovici weiterführen zu dürfen. Auch für den Hufschmied fand sich rasch Ersatz. Ein weißrussischer Bauer, der dieses Handwerk erlernt hatte, erhielt die kleine Werkstatt mitsamt dem Inventar, von dem bereits das eine oder andere Werkzeug fehlte. Die an der Durchkämmung des Ortes beteiligten Polizisten hatten zahlreiche Gegenstände aus dem bescheidenen Privatbesitz der verhafteten Juden mitgenommen. Die Türen der durchsuchten Häuser, zu denen Ljal'ko selbst die Streife führen mußte, waren nach den Festnahmen offen geblieben. In der nächsten Zeit tauchten mancherorts in Smakovici Gegenstände auf, die unbemerkt den Besitzer gewechselt hatten30. In Smakovici waren die Folgen der Verhaftungen erheblich. Die Reaktionen auf die „Isolierung" der Juden reichten von Empörung, Mitleid und Solidarität über völlige Gleichgültigkeit bis hin zur Aussage einiger Nachbarn, die Juden (man gebrauchte das pejorative Wort „zid" statt des Ausdruckes „jaürej") hätten nur bekommen, was sie verdienten. Schließlich hätten sie 1939 das Übel der Sowjetisierung über das Land gebracht und sich immer schon bereichert, ohne zu arbeiten. Besonders unter den Polen des Dorfes, aber auch unter weißrussischen Bauern fand man solche Vorurteile. Die, die sich am jüdischen Besitz bereicherten, betrachtete man mit Verachtung. Gleichzeitig brachten die Menschen angesichts des Mangels im Dorf jedoch nur schwer die Größe auf, auf dringend für ihre Familien benötigte Gegenstände nur deshalb zu verzichten, weil sie aus jüdischem Besitz stammten. Gleiches galt für den Handel mit den Ghettos in Mir und Turec, deren Umfriedungen durchlässig für jede Art ökonomischer Unternehmung blieben. Bewacht von weißrussischen und polnischen Schutzleuten (einige stammten aus Smakovici), ließen sich hier, gegen ein entsprechendes Entgelt an das Wachpersonal, im Ghetto dringend benötigte Lebensmittel gegen Geld und Wertgegenstände erhandeln. Ghettobewohner passierten nachts, unbemerkt oder mit dem Wissen bestochener Posten, die Absperrungen und kamen nach Smakovici, um Nahrung einzutauschen 31 .
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NARB 750-1-320, Bl. 5, 22, 33, 35-36; NARB 750-1-329; Romanovskij, Nacistskaja politika [NS-Politik]; Neizvestnaja Cernaja kniga [Das unbekannte Schwarzbuch]; Unictozenie evreev SSSR [Vernichtung sowjetischer Juden]; Ainsztein, Jüdischer Widerstand; K G B RB, delo 2362, A.F.Ch., Bl. 17; K G B RB, delo 14792, A.S.K., Bl. 14-16, 17-18, 51-54. K G B RB, delo 42, S.D.S., Bl. 22-24. NARB 7 5 0 - 1 - 1 1 2 , Bl. 1-6, 94; G A R B 393-1-466, Bl. 83; CIDK 1323-2-250, Bl. 19-20, 26; Drozdowski, Attitude; Engel, Shadow; Armia Krajowa ν dokumentach, S. 8, 159.
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Wer sich in Smakovici Illusionen über das Schicksal der Juden gemacht hatte oder wer die Vorgänge verdrängen wollte, dem wurden bereits am 9. November 1941 die Augen geöffnet 32 . In Mir fielen an diesem Tag etwa 1200 jüdische Einwohner einem Gemetzel auf den Straßen und in den Häusern zum Opfer. Die Erschießungen, begangen von deutscher, weißrussischer und litauischer Polizei, verwandelten das Städtchen in ein Schlachthaus. Im Verlauf der Suche nach versteckten Juden brannten zahlreiche Häuser auch außerhalb des Ghettos nieder. Einwohner von Mir verbargen und retteten einige Opfer, aber andere führten Polizisten zu den Verstecken ihrer jüdischen Nachbarn, beschimpften diese und sahen zu, wie Männer, Frauen und Kinder erschossen wurden. Die weißrussische Polizei von Mir, hauptsächlich dazu eingesetzt, das Ghetto abzusperren und Fluchtversuche zu verhindern, tötete zahlreiche Juden, die versuchten, den Bewachungsring zu durchbrechen. Noch Tage nach dem Massaker, dem nur eine Gruppe von Facharbeitern und anderen dringend benötigten Spezialisten entging, durchsuchten einheimische Polizisten den Ort nach versteckten Juden, um diese entweder sofort zu erschießen oder bei der deutschen Polizei abzuliefern 33 . Auch in Mir „fiel jüdisches Vermögen an" (so drückte es der deutsche Gebietskomissar aus), das nur zu einem kleinen Teil von den Behörden konfisziert werden konnte. Zahlreiche Gegenstände verschwanden bereits während der Erschießungen, vor allem mit Kleidung und Hausrat begann ein schwungvoller Handel. Einige Bauern aus Smakovici nahmen die Gelegenheit wahr und erwarben solche Dinge bei einem weißrussischen Polizisten in Mir, der sie in seiner Wohnung feilbot. Auf ungleich drastischere Weise kompromittierte sich ein Pole, bei dem eine junge, fast nackte Frau anklopfte, die den Erschießungen entkommen und sich tagelang ohne Nahrung in einem Haus am Rande von Mir versteckt gehalten hatte. Ihr gelang die Flucht nach Smakovici, wo sie um Kleidung und Essen bat. Der Bauer Wladimierz Popko hielt sie fest und brachte sie zu Mel'nikov. Zwei Einwohner von Smakovici führten sie nach Mir zurück, wo man die Frau sofort erschoß 34 . Mehr als die geschilderten Ereignisse beunruhigten Ljal'ko und seinen Agronomen Mel'nikov jedoch andere Vorkommnisse. Schon seit dem Spätherbst kamen immer wieder bewaffnete Uberfälle auf solche Häuser vor, die sich am Ortsrand von Smakovici oder etwas außerhalb des Dorfes befanden. In den Wald von Naliboki, in den bislang kein deutscher Soldat seinen Fuß gesetzt hatte, waren viele der in den großen Kesselschlachten Versprengten entkommen, aber auch Juden aus den Dörfern, kommunistische Funktionäre, die nicht mehr evakuiert worden waren, und Strafgefangene, die aus zerstörten Gefängnissen entkamen und keinen Grund hatten, sich bei den deutschen Behörden registrieren zu lassen. Verletzte Rotarmisten, die versuchten, ihre Heimatorte 32 33
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Matthäus, Reibungslos. KGB RB, delo 2362, A.F.Ch. Bl. 17-21, 31-33, 34-35; KGB RB, delo 1747, A.P.V., Bl. 10-13; KGB RB, delo 2905, N.K.L., Bl. 60-61; KGB RB, delo 1616, A.I.T., Bl. 20-23, 41—43, 45-48, Nechama Tec, In the Lion's Den. The Life of Oswald Rufeisen, New York, Oxford 1990. KGB RB, delo 34430 N.S.R., Bl. 19-22, 36-38, 39-43; KGB RB, delo 42, S.D.S., Bl. 1-9, 17-18, 28-31; KGB RB, delo 14792, A.S.K., Bl. 68-69.
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zu erreichen, kamen alleine oder in kleinen Gruppen durch das Dorf. Meist tauchten sie in der Dämmerung auf und baten um Nahrung und Kleidung, da sie nicht nur durch ihren Haarschnitt, sondern auch durch die zerschlissenen Uniformteile für jede Polizeistreife auf weite Entfernung zu identifizieren waren. Zunächst half man meist diesen Männern, und Ljal'ko erfuhr von einem Fall, in dem Dorfbewohner einen Verwundeten eine Woche lang versteckt gehalten hatten. Auch Bewaffnete klopften an die Türen der Häuser. Sie nahmen Kleinvieh, Nahrungsmittel oder Kleidungsstücke mit, anfangs nur in unbeobachteten Momenten, später auch unter Androhung von Gewalt. Im Dezember erhielt ein Bauer zum dritten Mal Besuch von einer Gruppe auf Nahrungssuche. Als man ihn mit einem Knüppel bedrohte, ging er mit einer Forke auf die Angreifer los, tötete einen und verwundete den zweiten schwer. Die Polizei von Turec schickte am folgenden Tag einen Korporal mit zwei Schutzleuten, die den Vorfall aufnahmen und den Toten untersuchten. Obwohl es der erste schwere Zwischenfall in Smakovici war, suchte Ljal'ko in Turec und Mir um Polizeischutz für sein Dorf an. Der weißrussische Polizeikommandant Reznik beschwichtigte ihn und versprach, eine Streife werde ab und zu in Smakovici nach dem Rechten sehen. Die Deutschen, so seine Aussage, hätten keine Kräfte zur Verfügung. Ohne Kraftfahrzeuge brauchten aber auch seine Schutzleute aus Turec zwei bis drei Stunden bis in das Dorf 35 . Als in den langen Winternächten die Zahl der ungebetenen Gäste in Smakovici nicht nachließ, nahm Ljal'ko das Schicksal seines Dorfes selbst in die Hand. Er organisierte eine Miliz, die die Häuser bewachen sollte, und brachte besonders Verwandte und Freunde dazu, nachts in Smakovici Streife zu laufen. Er verteilte Armbinden an die Männer, deren einzige Bewaffnung aus Knüppeln bestand. Einen Antrag, in dem er um die Zuteilung einiger Gewehre bat und den er an die deutschen Behörden richtete, leitete der Gemeindevorsteher von Turec nach Mir weiter, wo er über die weißrussische Kreisverwaltung schließlich die Behörde des deutschen Gebietskommissars in Baranavicy erreichte. Als die ablehnende Antwort nach drei Monaten schließlich in Smakovici eintraf, war der Winter beinahe vorbei 36 . Im Dorf begann man unterschiedliche bewaffnete Gruppen zu unterscheiden. Den besten Ruf genossen die „roten", sowjetischen Partisanen. Wenn man auch um die schlechten Seiten der Sowjetmacht wußte, so galten diese Männer und Frauen doch als Kämpfer, die die Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht nicht scheuten und im Hinterland der deutschen Wehrmacht Anschläge verübten. Bis zum Sommer 1942 traten sowjetische Partisanen aber im Gebiet Baranavicy nur selten in Erscheinung. Erst nach einem Jahr deutscher Herrschaft begann der Aufbau tragfähiger militärischer Strukturen durch die Rote Armee, die den deutschen Angriff auf Moskau abgewehrt hatte 37 . Selbst bei jenen Bauern, die im Prinzip die Entstehung sowjetischen Widerstandes begrüßten, machte sich Angst davor breit, was sie von der Sowjetmacht zu erwarten hätten.
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CIDK 1447-1-47, Bl. 72; K G B RB, delo 146, N.P.K., Bl. 19-21, 22-23. KGB RB, delo 2362, A.F.Ch., Bl. 16-18, 26-28; KGB RB, delo 34430, N.S.R., Bl. 14-18, 48-51. NARB 4-33a-524, Bl. 129-133; Armstrong (Hrsg.), Partisans; Cooper, War.
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Man sprach davon, daß in der Nähe der Stadt Njasviz nicht nur der Dorfälteste von Kvaci, sondern auch seine gesamte Familie von Partisanen hingerichtet worden waren 3 8 . „Weiße" Partisanen nannten die Bauern von Smakovici solche Gruppen, die nicht im Auftrag der Roten Armee handelten, sondern sich aus der lokalen Bevölkerung rekrutierten. Ihnen sagte man nach, daß sie das einträgliche Geschäft der Plünderung dem risikoreichen Kampf gegen Polizei und Wehrmacht vorzogen. Man wußte, daß jüdische Männer, Frauen und Kinder ebenfalls im Naliboki-Wald Unterschlupf gefunden hatten und dort in unmittelbarer Nachbarschaft zu polnischen Formationen in Erdverstecken und primitiven Unterständen hausten 39 . Für die Bauern von Smakovici waren freilich die Unterschiede zwischen einzelnen Fraktionen schwer zu erkennen. In der Tat glichen die Partisanen während des ersten Jahres der deutschen Herrschaft oft eher zerlumpten, verhungerten Bettlern als strahlenden Kriegern. Auf allen Seiten kamen Raub, Plünderung und Vergewaltigung vor. Und im Winter 1942/43 begann man darüber zu sprechen, daß zwischen den Gruppen im Wald von Naliboki die Spannungen immer mehr zunähmen 4 0 . Die Stellung des Bürgermeisters Ljal'ko und seines Agronomen Mel'nikov wurde durch den Umstand erschwert, daß die deutschen Behörden die Frage des Grundbesitzes nicht klärten. 1941 war das einzige Ziel der deutschen Administration die Aufrechterhaltung der landwirtschaftlichen Produktion gewesen. Zu diesem Zweck hatte man meist die (in „Gemeindehöfe" umbenannten) Kolchosen beibehalten oder sogar von den Sowjets enteignete Grundbesitzer damit beauftragt, bis zur Zerschlagung der Sowjetunion ihre ehemaligen Besitzungen wieder zu verwalten. Smakovici behielt seinen offiziellen Status als „Staatsbetrieb". Für die Bewohner blieb ihr Gartenland, das individuell bewirtschaftet wurde, der einzige lukrative Bereich. Daran änderte auch die „Neue Agrarordnung" nichts, die theoretisch die Auflösung der „Gemeindehöfe" und die Privatisierung des Bodens vorsah. Das Fehlen der administrativen Strukturen für ihre Durchsetzung, aber auch eines allgemein akzeptierten Gerichtswesens führte dazu, daß die deutsche Zivilverwaltung und die Wehrmacht im Generalkommissariat bzw. dem Rückwärtigen Heeresgebiet die Frage jeweils nach den Vorstellungen der lokalen Repräsentanten lösten. Die Bauern von Smakovici bekamen den Eindruck, daß weder ihr Dorfvorsteher noch jemand sonst dazu in der Lage war, Boden zu verteilen, und sie gingen dazu über, nach eigenem Gutdünken die Parzellen zu nutzen 41 . Im Sommer 1942 ging ein Teil bereits zum Abtransport bereitgestellter Nahrungsmittel, die zu einem deutschen Sammelpunkt in Turec gebracht werden sollten, durch einen Uberfall verloren, in dessen Verlauf ein Bewohner von Smakovici getötet wurde. Ljal'ko meldete den Zwischenfall an die Gemeindeverwaltung in Turec und bat darum, die Abgabeverpflichtungen seines Dorfes
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K G B RB, delo 225,1.S.S., Bl. 1 2 - 1 3 , 1 5 - 2 0 ; K G B RB, delo 34430, N.S.R., Bl. 29-32. Eckman/Lazar, Resistance; Gutman, Fighters. Tec, Defiance. Faktorovic, Krach agrarnoj politiki [Das Scheitern der Agrarpolitik]; Zagorul'ko/Judenkov, Krach ekonomiceskich planov [Das Scheitern der wirtschaftlichen Pläne].
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herabzusetzen. Ljal'ko und Mel'nikov erhielten die Anweisung, die Quoten seien in jedem Fall zu erfüllen. Gleichzeitig forderte man sie auf, in Smakovici 200 Reichsmark als Anteil jener Strafe aufzutreiben, die der Gemeinde Turec für die Nichterfüllung ihrer Ablieferungsverpflichtungen auferlegt worden war. Von seiten der Kreisverwaltung drohte man sogar damit, bis zur Erreichung des Solls Geiseln in Smakovici zu nehmen. Ljal'ko und Mel'nikov blieb keine andere Wahl, als sich den Anordnungen zu fügen. Im September nahmen sie erstmals die Hilfe der weißrussischen Polizei aus Turec in Anspruch, um in einigen Häusern nach versteckten Nahrungsmitteln zu suchen. Ljal'ko nahm sich dabei besonders jene Familien vor, die bislang von unerwünschten Besuchen bewaffneter Gruppen verschont geblieben waren. Bei anderen Dorfbewohnern, die immer wieder Diebstähle bei ihm angezeigt hatten, argwöhnte er, daß sie die als gestohlen gemeldeten Nahrungsmittel versteckt hatten, anstatt sie abzuliefern 42 . Nicht nur aus Nordosten, aus dem Wald von Naliboki, brach sich die Gewalt Bahn nach Smakovici, sondern auch aus dem Westen. Zwei junge Männer, das wußte jeder im Dorf, hatten den Neman überquert und sich einem der Partisanenverbände angeschlossen. Nur noch selten waren sie in Smakovici gesehen worden. Ljal'ko hatte diese Vorfälle nach Turec weitergemeldet. Im Oktober 1942 erschien eine Gruppe von zehn einheimischen Polizisten im Dorf und durchsuchte die verdächtigen Häuser, zu denen der Agronom Mel'nikov sie führte. Während der Durchsuchung betranken sich einige der Schutzmänner, die bereits bei ihrem Eintreffen in Smakovici nicht mehr ganz nüchtern gewesen waren, und stellten die Wohnräume auf den Kopf. In einem kleinen Getreidespeicher fand man neben versteckten Nahrungsmitteln ein polnisches Gewehr und Munition. Der Bauer Nikolaj Pavlovic Slik, den man zur Abwesenheit seines Sohnes befragte, konnte auch zur Herkunft der Waffe keine Angaben machen. Mel'nikov hörte dem Wortwechsel zwischen Slik und dem Polizeikorporal Kopatko zu, der immer mehr in Gebrüll und Beschimpfungen ausartete. Der Pole Kopatko, den die Sowjets unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee 1939 enteignet hatten und dessen Bruder mitsamt seiner Familie in die Sowjetunion deportiert worden war, diente schon seit September 1941 in der Polizei von Turec und war dort als willkürlicher und brutaler Mensch bekannt. Er titulierte Slik mit immer gröberen Schimpfwörtern, nannte ihn „Partisanenfresse" und „Abschaum", richtete schließlich einen alten russischen Karabiner auf sein Opfer und schoß. Plötzlich brannte der Getreidespeicher. Die gefundenen Lebensmittel, die Waffe und die Frau Sliks nahm die Polizei mit nach Turec. Mel'nikov und Ljal'ko verteilten den Besitz der Familie an die Nachbarn und brachten die Kinder der Familie Slik bei Verwandten unter 43 . Nach diesem Zwischenfall nahm die Zahl derer zu, die mit der Okkupationsmacht nichts mehr zu tun haben wollten und nur widerwillig den Verpflichtungen nachkamen. Wie schon im Winter zuvor machten sich beide Feinde
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CIDK 1447-1—41, Bl. 15, NARB 3500-2-1358, NARB 750-1-120, Bl. 158; KGB RB, delo 20346, V.V.K., Bl. 10, 14-18. KGB RB, delo 34889, N.S.K., Bl. 11-13, 16, 21-31, 35-39, 58-60, 71-73; KGB RB, delo 14515, F.I.Z., Bl. 21-22; KGB RB, delo 23719, P.A.G., Bl. 14-17.
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durch die Sammlung von warmer Kleidung in den Familien von Smakovici, die für die deutsche Wehrmacht benötigt wurde. Die Bauern haßten Ljal'ko dafür, daß er ihren armseligen Besitz weiter verkleinerte, und man munkelte, seine Frau sei in einem Mantel gesehen worden, den Ljal'ko aus der Sammlung gestohlen habe. Von der Gemeindeverwaltung in Turec trafen immer seltener Anweisungen ein. Die Ablieferungsquoten waren bald der einzige Inhalt der Kommunikation, und bei dieser Aufgabe trat die Polizei mehr und mehr in den Vordergrund. Im Sommer 1943 erfuhren die Einwohner von Smakovici, daß die Gemeindeverwaltung von Turec angewiesen worden war, sämtliche wichtige Unterlagen nach Mir zu bringen, das bislang von Partisanenüberfällen verschont geblieben war 44 . Seit dem Frühjahr 1942 gingen Wehrmacht und Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten verstärkt dazu über, für die Wirtschaft des Deutschen Reiches und die Zwecke der Wehrmacht Arbeitskräfte nicht nur anzuwerben, sondern zwangsweise zu rekrutieren 45 . Die Menschen, die kaum jemals in ihrem Leben ihr Dorf verlassen hatten, kamen nicht auf die Idee, das gewohnte Leben gegen eines in der unbekannten Fremde einzutauschen. Nur zwei Einwohner von Smakovici hatten sich zu Beginn des ersten Kriegswinters unter deutscher Besatzung freiwillig gemeldet. Im Laufe der Monate waren Skepsis und Desinteresse panischer Angst gewichen. Die Vorgänge in den deutschen Kriegsgefangenenlagern, die Ermordung der Juden, Requirierungen und Polizeiaktionen ließen, gemeinsam mit Berichten über die Zustände in deutschen Fabriken, die Verschickung nach Deutschland beinahe als das schlimmste mögliche Schicksal erscheinen. Als man von Seiten der deutschen Zivilverwaltung diese Entwicklung erkannte und mit der Verteilung kleiner Heftchen begann, die glückliche Menschen bei der Arbeit in Deutschland zeigten, stießen diese nur noch auf Unglauben. Dabei verschärfte sich der Arbeitskräftemangel auf deutscher Seite immer mehr, und wie viele andere erhielt auch Ljal'ko den Auftrag, Listen mit solchen Dorfbewohnern zu erstellen, die für die Verschickung in Frage kämen. Durch diese neue Aufgabe kompromittierte sich der Dorfälteste vollends in den Augen seiner Nachbarn. Verwandte und Freunde versuchten, ihn durch Bitten dazu zu bewegen, ihre Kinder bei der Auswahl unberücksichtigt zu lassen. Andere machten ihm Geschenke, um das gleiche Ergebnis zu erzielen. Die Aussicht, als Arbeiter rekrutiert zu werden, brachte einige junge Männer und Frauen dazu, aus Smakovici zu fliehen und damit die eigenen Familien zu bedrohen 46 . Ljal'ko versuchte, Smakovici und sich selbst möglichst unauffällig zwischen unterschiedlichen Gefahrenquellen hindurchzubugsieren. Aber gerade die Rekrutierung von Zwangsarbeitern führte ihm besonders brutal die eigene Ohnmacht vor Augen und zeigte ihm, daß das Leben unter deutscher Herrschaft mehr und mehr seine Berechenbarkeit verlor. Im März 1943 hatte er mit dem
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NARB 3500-2-32, Bl. 277; NARB 4683-3-1047, Bl. 69-70; K G B RB, delo 36378, P.I.2., Bl. 16-27, 96-104. Müller, Menschenjagd. NARB 4-33a-524, Bl. 193; K G B RB, delo 225, I.S.S., Bl. 61-63; K G B RB, delo 2905, N.K.L., Bl. 29f.
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Gemeindevorsteher von Turec und der Polizei in Mir vereinbart, aus Smakovici ein Kontingent von zehn Frauen und Männern für den „Arbeitseinsatz" zu bestimmen, trotz aller Schwierigkeiten, und damit gegen das Dorf keine Zwangsmaßnahmen angewendet würden. Gemeinsam mit Mel'nikov erstellte Ljal'ko eine weitere Liste und übergab sie der Polizei, die zehn Arbeitskräfte nach Baranavicy eskortieren sollte. Zwei Tage vor der geplanten Aktion (die Namen wurden stets erst nach dem Eintreffen der Polizei bekanntgegeben, die bei ihrem Eintreffen das Dorf abriegelte, um Fluchtversuche zu verhindern), tauchte völlig überraschend eine SS-Einheit in Smakovici auf. Anlaß war offenbar eine Dorfversammlung, auf der Ljal'ko neue Ablieferungsbestimmungen an die Bauern weitergab und zu der mehr als sechzig Menschen erschienen waren. Die SS, unterstützt von einer lettischen Polizeikompanie, riegelte den Ort ab und umstellte die Scheune, in der das Treffen stattfand. Die Teilnehmer mußten einzeln das Gebäude verlassen. Als Ergebnis dieser Menschenjagd forderte man 15 Dorfbewohner auf, in ihren Häusern das Notwendigste zusammenzupacken, während überall Wachposten Stellung bezogen. Zwei Frauen und einem Mann gelang es, sich vom untersuchenden Arzt in Baranavici ihre Arbeitsunfähigkeit bescheinigen zu lassen. Sie kehrten zwei Tage nach der Verhaftung nach Smakovici zurück. Ein junger Mann floh während des Fußmarsches nach Mir, wohin die Gruppe zunächst gebracht wurde. Die übrigen elf Frauen und Männer transportierte man nach Deutschland oder in Betriebe der Wehrmacht im Rückwärtigen Heeresgebiet. Oft erst nach Monaten erfuhren die Familien die neuen Aufenthaltsorte. Diesen Uberfall, bei dem auch Kühe und Lebensmittel requiriert wurden, schob man Ljal'ko in die Schuhe, der jedoch über die Pläne der SS-Einheit ebensowenig informiert gewesen war wie die einheimische Gemeinde- oder Kreisverwaltung und selbst die Polizei von Turec und Mir 47 . Im April kam eine Gruppe von rund 20 Partisanen nach Smakovici. Sie kannten sich gut im Dorf aus und fanden zielsicher ihren Weg zum Haus des Bürgermeisters. Im Morgengrauen weckten Bewaffnete Ljal'ko und seine Familie. Den Dorfältesten erschoß man neben seinem Haus, nachdem man ihm „Verrat an der sowjetischen Heimat" vorgeworfen hatte. Die Gruppe, die sich bald darauf nach Nordosten zurückzog, nahm das letzte Vieh der Familie mit 48 . In Smakovici begann das dritte und letzte Jahr der deutschen Herrschaft. Der Agronom Mel'nikov verließ das Dorf mitsamt seiner Familie und trat der Polizei in Mir bei. Die Frau Ljal'kos zog mit ihren Kindern zu Verwandten nach Turec. In den folgenden Wochen blieb Smakovici von der einheimischen und deutschen Verwaltung weitgehend unbehelligt. Mehr und mehr ging die Verbindung zwischen den bescheidenen Verwaltungszentren und den Gemeinden und Dörfern verloren, und immer gefährlicher wurden Besuche ohne bewaffneten Begleitschutz. Im Juni schließlich fand der weißrussische Polizeikommandant von Turec zwei Männer aus Smakovici, die die verwaisten Ämter übernahmen. Nikolaj Adamovic Gulyj hatte in Mir als Polizist in einem „mo47 48
KGB RB, delo 23719, P.A.G., Bl. 18-19; KGB RB, delo 146, N.P.K., Bl. 24-25; KGB RB, delo 6360,1.L.A., Bl. 15-20, 3 7 ^ 6 , 60-63. GARB 393-1-307, Bl. 80-83; GARB 3 9 3 - 1 - 1 6 1 , Bl. 27, 30; NARB 3500-2-32, Bl. 4,277.
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bilen Jagdzug" gedient und war in dieser Einheit, die von den deutschen Sicherungskräften im „Bandenkampf" eingesetzt wurde, in einem mehrstündigen Gefecht gegen eine Brigade der Armia Krajowa verwundet worden. Er erhielt das verwaiste Haus Ljal'kos und fungierte bis zum Rückzug der deutschen Armee im Sommer 1944 als Dorfältester. Ihm zur Seite stand Michajl Sergeevic Supikov, der durch einen Uberfall im Frühjahr seinen Sohn verloren hatte. Auch er hatte nach der Entlassung aus deutscher Kriegsgefangenschaft 1941 für kurze Zeit in der Polizei gedient . Gulyj und Supikov waren mit einer Eskalation der Gewalt in bislang unbekanntem Ausmaß konfrontiert. Im Wald von Naliboki mündeten die Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Partisanen, polnischen Gruppen und einer jüdischen Brigade unter Tuvia Bielski in von Moskau aus koordinierte Militäroperationen. In deren Verlauf wurden seit dem Spätherbst 1943 polnische Einheiten zerschlagen und ihre Angehörigen erschossen oder zwangsweise für die Rote Armee rekrutiert. Versprengte Angehörige der Armia Krajowa flohen in die umliegenden Dörfer. Zum Jahresende, so hörte man in Smakovici, begann die Armia Krajowa mancherorts damit, Soldaten für die eskalierenden Kämpfe auszuheben 50 . Im Grenzgebiet zu Litauen verhandelten die Deutschen mit den Polen, um angesichts ihrer eigenen Schwäche Verbündete gegen die Rote Armee zu finden51. Den jüdischen Bielski-Partisanen widerfuhr ein ähnliches Schicksal. Auch dieser Verband wurde zunächst unter sowjetische Kontrolle gebracht und im Sommer 1944 durch die Rote Armee und den N K V D aufgelöst 5 2 . In Smakovici traten sowjetische Gruppen in Erscheinung, deren Anzahl sich vergrößerte und die immer besser mit Waffen und Gerät ausgestattet waren. Aber auch die deutsche Seite verstärkte seit 1943 ihre Versuche, mit allen Mitteln die Gegend zu „befrieden". Gulyj und Supikov bestellte man nach Mir, wo beim Kreisältesten ein Treffen stattfand, an dem neben den Gemeindevorständen auch zahlreiche Bürgermeister teilnahmen. Ein Vertreter der Wehrmacht und ein SS-Offizier erklärten den Bauern, daß ab sofort alle Anstrengungen unternommen würden, um die Ruhe im Kreis Mir wiederherzustellen. Man verwies auf die Erfolge der deutschen „Bandenkampf"-Verbände, die größere Feindgruppen zerschlagen hätten, sowie auf die Tätigkeit der mobilen Jagdzüge. Noch wichtiger als bisher sei jedoch die sofortige Information der Behörden über antideutsche Tätigkeit auf den Dörfern. Obwohl die deutsche Seite über Vertrauensleute und andere Informanten vor Ort verfüge, sei es die unabdingbare Pflicht der Bürgermeister, verdächtige Personen sofort anzuzeigen und auf diese Weise das Übel an der Wurzel zu bekämpfen 5 3 .
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N A R B 7 5 0 - 1 - 1 1 2 , Bl. 146; N A R B 7 5 0 - 1 - 1 1 0 , Bl. 24, 25. Gnatowski, Grupy i oddzialy [Gruppen und Abteilungen]; ders., Dokumenty. Litvin, Belye pjatna [Weiße Flecken]; ders., Armija Krajeva na Belarusi: da prablemy vyvucennja, in: Belaruski Gistarycny Casopis 4 (8), 1994, S. 6 5 - 6 9 ; Siemaszko, Wilenska A K a niemcy [Die Armia Krajowa im Gebiet um Wilna und die Deutschen]. Nechama Tec, In the Lion's Den. The Life of Oswald Rufeisen, N e w York, Oxford 1990; dies., Defiance. K G B R B , delo 388, L . A . D . , Bl. 1 2 - 1 5 ; K G B R B , delo 35324, V.I.K., Bl. 1 2 - 1 3 ; K G B RB,
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Gulyj und Supikov sahen, daß die deutschen Behörden nicht mehr dazu in der Lage waren, Land zu verteilen. Schon im Sommer 1943 hatten die wenigen Bauern, die sich Boden überschreiben lassen wollten, um strengste Vertraulichkeit gebeten, da sie Repressalien fürchteten. Auch die Belohnungen für Ernteerzeugnisse in Form von Stoffen, Nahrungsmitteln oder Zigaretten waren so verschwindend gering, daß sie in Smakovici manchmal für Heiterkeit, meist aber für Verbitterung gesorgt hatten. Was mögliche Repressalien angeht, so nahmen Gulyj und Supikov deren Androhung sehr ernst. Das Nachbardorf Jaremicy war nach einem Partisanenüberfall auf einen von der Polizei eskortierten Viehtransport Ziel einer deutschen „Befriedungsaktion" geworden. Von Jaremicy waren nach dem Einsatz einer SS-Kompanie, einer Kompanie lettischer Polizei und zahlreicher weißrussischer Polizisten nur noch rauchende Ruinen übriggeblieben. Mehr als 200 Menschen hatten den Tod gefunden, viele von ihnen waren in eine Scheune getrieben worden und mit dieser verbrannt. Jaremicy wurde bis zum Ende der Besatzung nicht mehr von deutschen Kräften betreten. In den Ruinen fanden umherziehende Flüchtlinge und Plünderer Unterschlupf. Mehr und mehr wurde die Gegend zum Niemandsland 54 . Supikov und Gulyj bemühten sich darum, an Informationen über solche Dorfbewohner zu gelangen, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellten. Drei „sowjetische Aktivisten" machten Supikov und Gulyj den Behörden namhaft, und dreimal schlug die Polizei zu. In einem Fall entkam der Gesuchte in die Wälder, die beiden anderen Männer wurden nach Turec gebracht und nach einem kurzen Verhör erschossen. Alle drei Familien deportierte man nach Deutschland. In Smakovici nahmen Furcht und Mißtrauen immer mehr überhand. Anfang 1944 war den meisten klar, daß die Tage der Besatzungsmacht gezählt waren. Der letzte Kredit, den die „Ordnungsmacht" bei manchen genießen mochte, ging durch eine „Strafaktion" im Februar verloren. Eine Polizeistreife geriet auf dem Weg von Turec nach Smakovici in einen Hinterhalt. Am nächsten Tage wurde das Dorf von „Bandenkampf"-Kräften umstellt. Gulyj verhandelte mit dem deutschen Kommandanten mit Hilfe eines Dolmetschers. Dieser machte ihm klar, daß die Einheit nicht abziehen würde, ohne die „Schuldigen" für den Uberfall gefunden und bestraft zu haben. Die Alternative zu einer Kollektivstrafe für Smakovici sei die Erschießung einzelner Dorfbewohner als „Sühne". Das „milde" Vorgehen des Strafkommandos, das in Jaremicy sofort mit dem Niederbrennen des Ortes begonnen hatte, sei nur damit zu erklären, daß Smakovici bislang immer eines der Dörfer gewesen sei, aus dem die Ablieferungen halbwegs pünktlich und vollständig eingetroffen seien. Gulyj kannte die Urheber des Hinterhalts nicht. Er hätte keinen Eid geschworen, daß sie nicht aus seinem Dorf stammten. Aber er befand sich in einer Zwangslage. So nannte er dem Übersetzer drei „Partisanenfamilien", die durch Verwandte mit dem sowjeti-
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delo 36378, P.I.2., Bl. 4-6, 16-27, 83-87, 96-104; K G B RB, delo 3540, I.I.G., Bl. 22, 26, 27-28; K G B RB, delo 20346, V.V.K., Bl. 4 7 ^ 8 . N A R B 7 5 0 - 1 - 1 1 0 , Bl. 19, 20; K G B RB, delo 1374, P.K.R., Bl. 1 2 , 1 3 - 1 4 .
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sehen Untergrund in Verbindung standen. Um ein Exempel zu statuieren, erschoß man alle drei Familien mitten in Smakovici 55 . Smakovici blieb bis zum Kriegsende von weiteren „Aktionen" verschont. Im Februar rekrutierte man einige Männer für die Polizei und die „Weißruthenische Heimatwehr" (Belaruskaja krajevaja abarona), den Nukleus nationaler weißrussischer Streitkräfte, deren Aufstellung bereits das nahende Ende der deutschen Herrschaft ankündigte 56 . Der Rückzug der deutschen Wehrmacht im Juni 1944, der sich seit Monaten vorbereitete, streifte das Dorf nicht. Von den ursprünglich 250 Einwohnern lebten im Sommer 1944 nur noch knapp 100 in Smakovici. Kein einziger Jude hatte den Krieg überlebt. Die übrigen Opfer hatten Verhaftungen, Kämpfe mit bewaffneten Gruppen, deutsche und sowjetische Vergeltungsaktionen und die Deportation der Zwangsarbeiter gefordert. Einige junge Männer und Frauen waren in den Untergrund gegangen und kehrten, wenn sie den Krieg überlebten, erst viel später mit der Roten Armee in ihre Heimat zurück. Supikov und Gulyj mit ihren Familien sowie zwei Polizisten verließen von Mir aus mit der Wehrmacht die Gegend in Richtung Westen. Dies taten in den letzten Monaten der Besatzung auch einige Polen, die die Rückkehr der Roten Armee fürchteten. Als diese Smakovici besetzte, fand sie eine unwirkliche Trümmerlandschaft vor. Mehr als die Hälfte der Häuser war ganz oder teilweise zerstört, in kaum einem Hof war Vieh vorhanden. Die Bauern von Smakovici, die mißtrauisch die vorrückenden Rotarmisten beäugten, boten ein Bild vollkommenen Elends. Für sie begann nun eine weitere Folge von Zerstörungen. Die sowjetischen Behörden begannen damit, in Smakovici nach „Verrätern" zu suchen. Im Verlauf der nächsten Jahre sollte die gesamte BSSR in bislang unvorstellbarem Ausmaß umgestaltet und in eine russifizierte, sowjetische Vorzeigerepublik verwandelt werden 57 . Die für das Dorf Smakovici geschilderten Ereignisse spielten sich in den besetzten Gebieten der gesamten Sowjetunion ab. Die Mechanismen der Zerstörung, der Abhängigkeiten und der Kompromittierung von Individuen machten nicht vor Dörfern halt und spalteten selbst Familien in unterschiedliche Lager. Der Ort Smakovici, der niemals existiert hat, diente als imaginärer Brennpunkt für typische Entwicklungen an der Basis einer Besatzungsgesellschaft. Diese zerfiel in Weißrußland, entgegen dem sowjetischen Bild vom „Volkskrieg" gegen den Faschismus, in immer kleinere Einheiten, die die Verbindung untereinander verloren. Die deutsche Herrschaft, aber auch das bereits 1941 als Folge der Sowjetisierung vorhandene Spannungspotential, zerstörten ihre Widerstandsfähigkeit. In der Diskussion um „Mythos und Realität" der Wehrmacht ist die Seite der Beherrschten bislang weitgehend vernachlässigt worden. Die Bedeutung der hier geschilderten Ereignisse ergibt sich gerade daraus, daß sie sich weitgehend ohne Kenntnis der deutschen militärischen Führung (die sich zu-
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K G B RB, delo 42, S.D.S., Bl. 44^t5; K G B RB, delo 23552, Κ.-N.M.B., Bl. 2 7 - 3 1 ; K G B RB, delo 146, N.P.K., Bl. 3 2 - 3 6 ; K G B RB, delo 2575, A.A.L., Bl. 31, 35, 4 4 - 4 5 . Litvin, Belorusskaja Kraevaja O b o r o n a [Weißrussische Heimatwehr]. Marszaiek (Hrsg.), Polozenie ludnosci polskiej [Die Lage der polnischen Bevölkerung]; Kersten, Establishment; Czerniakiewicz, Repatriacja ludnosci polskiej [Die Repatriierung der polnischen Bevölkerung].
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nächst auch nicht dafür interessierte, was in einer Gesellschaft von Slawen vor sich ginge, solange diese die geforderten Hilfsdienste leistete), aber auch der einfachen Soldaten vollzogen. Besonders für letztere blieben die weißrussischen Dörfer eine undurchschaubare, Angst einflößende und unbegreifliche Wildnis, in die man besser nicht seinen Fuß setzte. Die Wehrmacht war als Okkupationsarmee direkt verantwortlich für die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, sie setzte dem Holocaust keinen Widerstand entgegen, sondern war vielfach an seiner Umsetzung beteiligt. Der Partisanenkrieg und die „Befriedung" des besetzten Gebietes trugen Terror und Gegenterror bis in die Dörfer. Die Partizipation der Wehrmacht an der Zertrümmerung aller bestehenden sozialen Strukturen im besetzten Gebiet bestand aber in erster Linie darin, daß die Armee, ebenso wie die Sicherheitskräfte, die Zivilverwaltung und andere Einrichtungen, ein unheilvolles Wechselspiel zerstörerischer Kräfte in Gang brachte, das bereits nach kurzem kaum mehr zu beeinflussen war. Das Fehlen von Herrschaft mündete in den Randzonen vieler kleiner Machtbereiche nicht in einen Volkskrieg, sondern in einen Bürgerkrieg. In diesem Beitrag sollten die Triebkräfte und Voraussetzungen der Zerstörung gezeigt werden, die von vielen Seiten befördert wurde, nicht zuletzt durch die sowjetischen und polnischen Widerstandsgruppen. Die deutsche Wehrmacht war allerdings jene Hand, die in Weißrußland die Büchse der Pandora öffnete. Und selbst wenn dies in totaler Unkenntnis der Verhältnisse vor Ort geschah, waren doch die Folgen auf diese Tat zurückzuführen.
Klaus
Schmider
Auf Umwegen zum Vernichtungskrieg? Der Partisanenkrieg in Jugoslawien, 1941-1944.
Am 21. September 1941 richtete der Chef der deutschen Militärverwaltung in Serbien, SS-Obergruppenführer und Staatsrat Harald Turner, ein Schreiben an den Bevollmächtigten Kommandierenden General in Serbien 1 , in dem er sich zu möglichen Vorgehensweisen äußerte, die nach seiner Ansicht geeignet sein konnten, die großflächige Aufstandsbewegung im Westen des Landes in den Griff zu bekommen. In Anbetracht der zahlreichen Rückschläge, die sowohl deutsche Wehrmacht als auch kollaborierende serbische Gendarmerieeinheiten während der letzten Wochen hatten hinnehmen müssen, vertrat Turner die Meinung, „daß schon aus Prestigegründen . . . zum mindesten an irgend einer bestimmten Stelle mit völliger Rücksichtslosigkeit durchgegriffen werden muss, um ein abschreckendes Beispiel für die anderen Teile Serbiens zu geben" 2 . Auf den Tag genau einen Monat später war seine Forderung in die Tat umgesetzt worden: Soldaten des Infanterieregiments 749 (717. Infanteriedivision) erschossen als Vergeltung für einen Hinterhalt, in den am 12. Oktober eine deutschen Kompanie geraten war, 2300 Bürger der Stadt Kragujevac. Beinahe zeitgleich fielen 1700 Einwohner des benachbarten Kraljevo einer ähnlichen „Sühneaktion" zum Opfer. Obwohl die beteiligten Wehrmachtseinheiten nach dem seit dem 10. Oktober offiziell vorgesehenen Schlüssel für einen getöteten bzw. verwundeten Deutschen vorgegangen waren, fiel die Maßlosigkeit - und somit auch die Kontraproduktivität - solcher Massenhinrichtungen auch deutschen Offizieren auf. So hatte der Kreiskommandant von Kragujevac, Major von Bischoffshausen, auf die erwiesene Unschuld der meisten Stadtbewohner hingewiesen und vergeblich versucht, durch eine persönliche Intervention in Belgrad
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Bis zur Einsetzung des Generals der Infanterie Franz Boehme als „Bevollmächtigter Kommandierender General" am 19. 9. 1941 hatte in Serbien ein wenig zweckmäßiger Dualismus zwischen dem Höheren Kommando z. b. V. L X V . (General der Artillerie Paul Bader) und dem Befehlshaber Serbien (drei Luftwaffengeneräle in Folge) bestanden. Der mit der Niederschlagung des serbischen Aufstandes beaufragte Boehme setzte Anfang Oktober die Ablösung des letzten „Befehlshabers Serbien", General der Flieger Heinrich Danckelmann, durch; eine Neubesetzung fand nicht mehr statt und wurde durch die am 3 . 3 . 1 9 4 2 erfolgte Verschmelzung der Posten des Befehlshaber Serbien, Bevollmächtigter Kommandierender General in Serbien und Höheres Kommando L X V . zum Stab K o m mandierender General und Befehlshaber in Serbien hinfällig. Das Kriegsgeschehen in Kroatien fiel bis zum 16. 1 1 . 1 9 4 2 ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich des Kommandierenden Generals. A n diesem Datum erfolgte die Einsetzung eines „Befehlshabers der deutschen Truppen in Kroatien" (Generalleutnant Rudolf Lüters), der am 2 5 . 8 . 1 9 4 3 wiederum dem Stab der 2. Panzerarmee (General der Infanterie Lothar Rendulic) weichen mußte. Ihre Weisungen erhielten sämtliche der hier aufgezählten Dienststellen vom Wehrmachtbefehlshaber Südost in Saloniki.
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die Durchführung des Vorhabens noch in letzter Minute zu vereiteln 3 . Ohne das Grundprinzip der Geiselerschießungen in Frage zu stellen, erließ der Bevollmächtigte Kommandierende General am 25. Oktober einen Befehl an alle deutsche Wehrmachtdienststellen in Serbien, in dem er ihnen im Hinblick auf „nicht wieder gutzumachende Fehlgriffe" zu denen es in Kragujevac gekommen sei, nahelegte, in Zukunft bei ähnlichen Fällen die Entscheidung einer vorgesetzten Dienststelle einzuholen 4 . Die nicht nur aus heutiger Sicht geradezu phantastisch anmutende Quote von 1:100 wurde, nachdem die Aufstandsbewegung bis Mitte Dezember 1941 weitgehend zusammengebrochen war, auf 1:50 halbiert. Von einigen punktuellen Ausnahmen abgesehen, sollte sie in Serbien für die nächsten zwei Jahre Gültigkeit behalten 5 . Sowohl der Umfang der im Rahmen der Niederschlagung des serbischen Aufstandes erfolgten Geiselerschießungen (vom 1. September 1941 bis zum 12. Februar 1942 mindestens 20149) 6 als auch die Tatsache, daß sie als Vorwand für die weitgehende Vernichtung des serbischen Judentums herhalten mußte, haben diesen Zeitabschnitt zum vermutlich best erforschten des Zweiten Weltkriegs in Jugoslawien gemacht 7 . Ziel dieses Beitrages soll es sein, der Frage nachzugehen, in welches Gesamtbild sich die Ereignisse vom Herbst 1941 in Serbien fügen. Liegt hier eine durch besondere Umstände hervorgerufene einmalige Uberreaktion vor, oder nahm die deutsche Wehrmachtführung den zumindest mittelfristig erzielten „Erfolg" zum Anlaß, im übrigen Jugoslawien mit ähnlicher Brachialgewalt zu verfahren ? Historische Erfahrung, kulturelle Konditionierung und militärpolitische Prioritäten hatten der Militärelite des Kaiserreiches und der Weimarer Republik denkbar wenig Veranlassung gegeben, im Freischärler, der sich durch seine Handlungen über die Kapitulation bzw. Flucht der Streitkräfte seines Landes einfach hinwegsetzt, etwas anderes zu sehen als einen Vogelfreien. Die nach dem Wortlaut der Haager Landkriegsordnung weder ausdrücklich verbotene noch erlaubte Erschießung von Geiseln aus den Reihen der Zivilbevölkerung 8 war ein Mittel, das in einem solchen Fall - jedenfalls nach dem Interpretations-
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Schreiben Major von Bischofshausens, 20. 10. 1941, an die Feldkommandantur 610 und den Befehlshaber Serbien, B A - M A , R W 40/12. B A - M A , R H 26-342/14. Die in Kragujevac und Kraljevo angewandten „Quoten" gingen auf den Befehl Keitels vom 16.9. zurück, in: Schramm (Hrsg.), K T B O K W , I, S. 1068. Befehl des Kommandierenden Generals an die 714. ID, 22. 12. 1941, B A - M A , R H 26-114/3. Im Oktober 1943 wurde im Hinblick auf eine Annäherung zwischen Besatzungsmacht und Cetniks die „Sühnequote" f ü r letztere auf 1:10 herabgesetzt. Vgl. Glisic, Terror, S. 272. Inwiefern 1942/43 nicht nur bei Anschlägen, sondern auch bei eigenen Operationen eingetretene Verluste durch Geiselerschießungen „gesühnt" wurden, läßt sich aus den vorliegenden Quellen nur schwer rekonstruieren. Die Tatsache, daß der Kommandierende General in Serbien in einem Befehl vom 28. 2. 1943 dies ausdrücklich untersagte, kann freilich als Indiz f ü r eine solche Praxis gesehen werden, B A - M A , R W 40/38. Schreiben des Bevollmächtigten Kommandierenden Generals in Serbien, 1 3 . 2 . 1942, an den Wehrmachtbefehlshaber Südost, B A - M A , R W 40/26. Manoschek, Serbien; Shelach, Murder; Messerschmidt, Motivationen; Browning, Wehrmacht. Ausführlicher zu dieser rechtlichen Kontroverse Fattig, Reprisal, S. 1 - 2 5 .
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modell deutscher Militärjuristen und weltweit geübter Praxis - durchaus angemessen schien. Die Situation, vor der sich die deutsche Besatzungsmacht 1941 im aufgeteilten Jugoslawien sah, schien diese Maßnahme noch eher zu rechtfertigen als z.B. im besetzten Frankreich: So war der serbische Reststaat nur von dreien (704., 714., 717. ID), das nördliche Kroatien gar nur von einer einzigen schwachen Besatzungsdivision (718. ID) gesichert. Darüber hinaus hatten es die unter großem Zeitdruck operierenden deutschen Invasionsarmeen während des Balkanfeldzugs versäumt, die gegnerischen Verbände ohne Ausnahme zu entwaffnen und (sofern es sich um Serben handelte) in die Gefangenschaft zu überführen 9 . Daß die Aufstandsbewegung in Serbien sich außerdem zu einem Zeitpunkt (August/ September 1941) zur flächendeckenden Rebellion auswuchs 10 , an dem die Entwicklung an der Ostfront eine dauerhafte Verstärkung der Besatzungsmacht auf dem Balkan bereits ausgeschlossen erscheinen ließ, war ein weiterer Faktor, der sowohl im Führerhauptquartier als auch beim Befehlshaber Serbien den Vorsatz reifen ließ, dieser unerwarteten Bedrohung mit jeder Maßnahme, und sei sie von noch so präzedenzloser Härte zu begegnen. Der Befehl vom 16. September 1941, der den „Sühnetod" von 50 bis 100 Serben für jeden getöteten Deutschen vorsah, gab dann der Aufstandsbekämpfung in Serbien in den nächsten Wochen ihr schreckliches Gepräge 11 . Neben der Höhe der „Geiselquote" war in der Folgezeit vor allem die Bereitschaft, Gefangene zu machen, der wichtigste Gradmesser für die Bereitschaft der deutschen Wehrmacht, den Kampf gegen die verschiedenen jugoslawischen Freischärlerbewegungen eskalieren zu lassen oder nicht. Der bereits zitierte Bericht vom 13. Februar 1942 zeichnet in diesem Punkt ein Bild von kompromißloser Härte: Gefangene seien in den vergangenen Monaten grundsätzlich nicht gemacht worden, und selbst festgenommene „Verdächtige" hatten sich in der mißlichen Lage gesehen, ihre Unschuld beweisen zu müssen. Personen, bei denen „eine einwandfreie Klärung der Schuldfrage nicht möglich" gewesen sei, wurden nämlich festgesetzt und mußten damit rechnen, bei späteren Geiselerschießungen zu den Opfern zu zählen 12 . In der Tat spricht viel dafür, daß die kämpfende Truppe diese Weisungen zumindest in den ersten Monaten auch buchstabengetreu in die Tat umsetzte. So erhielt die 342. ID am 27. September 1941 einen Befehl des Kommandierenden Generals, Aufständische zwecks Verhör wenigstens „teilweise" festzunehmen 13 . Am 1. Oktober sahen sich der Ia und Ic der Division genötigt, in einem Funkspruch an alle Regimenter noch einmal darauf hinzuweisen, das Gefan-
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Nach deutschen Schätzungen handelte es sich dabei allein auf serbischem Gebiet um 3 0 0 0 0 0 Personen, B A - M A , R H 19 XI/81 (Die Bekämpfung der Aufstandsbewegung im Südostraum, I. Teil), S. 6,19. In einem Fernschreiben vom 3. 8. 1941 an O K H , O K W und Wehrmachtbefehlshaber Südost hatte der Befehlshaber Serbien die Notwendigkeit einer Verstärkung noch ausdrücklich verneint, B A - M A , R H 24-65/4. B A - M A , R H 24-18/87. B A - M A , R W 40/26. B A - M A , R H 26-342/8.
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gene nicht immer „sofort" zu erschiessen seien 14 . Im undatierten Manuskript einer Divisionsgeschichte der 113. ID findet sich schließlich der (nachträglich durchgestrichene) Vermerk über das Vorgehen der Division Anfang Dezember bei der Verfolgung der geschlagenen Partisanen im südlichen Serbien: „Auf den Streif- und Strafzügen der Division wurden zahlreiche Gefangene und Verhaftete eingebracht. Wen Augenschein oder Untersuchung als Teilnehmer am Aufstand erwiesen, wurde erschossen" 15 . Im Spätherbst 1941 begann sich bei einigen deutschen Dienststellen jedoch allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß unter bestimmten Bedingungen die angewandte Vorgehensweise sich auch kontraproduktiv auswirken konnte. Anlaß hierzu dürfte unter anderem die Erkenntnis gewesen sein, daß die nationalserbischen Freischärler (Cetniks) um den Generalstabsobristen Draza Mihailovic sich nur in Einzelfällen am Kampf gegen die deutschen Truppen beteiligt hatten und sich obendrein seit dem 2. November in einem erbitterten Bürgerkrieg mit den eigentlichen Trägern der Rebellion, den Kommunisten, befanden. So notierte Generalmajor Hoffmann, der Befehlshaber der 342. ID, am 11. Dezember 1941 in sein Kriegstagebuch, daß mit Mihailovic-Ausweisen versehene Bauern nicht als Aufrührer zu behandeln seien, denn sie „hätten gar keine andere Wahl gehabt, wenn sie nicht zu den Kommunisten übergehen wollten" 16 . Als sehr viel bemerkenswerter muß jedoch ein Befehl der 342. ID vom 24. November angesehen werden. Dieser erlaubte im Hinblick auf die bevorstehende Großoffensive gegen den Kern des kommunistischen Herrschaftsgebietes in Westserbien den Truppenführern ausdrücklich auch die Gefangennahme von kommunistischen Partisanen 17 . Auch in der Frage der Behandlung von Überläufern kündigte sich langsam ein Kurswechsel an. Am 2. November hatte der Kommandierende General noch darauf hingewiesen, daß diese höchstens dann zu schonen seien, wenn sie sich „deutlich vor Kampfhandlungen" stellen würden 18 . Die Erkenntnis, daß eine solche Politik der gegnerischen Führung direkt in die Hände spielte, ließ freilich nicht lange auf sich warten. Bereits am 21. Januar befahl der Nachfolger Boehmes auf dem Posten des Bevollmächtigten Kommandierenden Generals, General der Artillerie Paul Bader, der in Ostbosnien operierenden 342. ID, einen waffentragenden Gegner, der Bereitschaft zeige, sich zu ergeben, als Kriegsgefangenen zu behandeln 19 . Ob diese Anweisung auch an andere Einheiten erging, geht aus dem Kriegstagebuch des Kommandierenden Generals nicht klar hervor. Die 714. ID meldete jedenfalls in ihrem 10-Tagesbericht vom 10. März 1942, daß nach Gefangenenaussagen die Kohäsion der
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B A - M A , R H 26-342/12. B A - M A , RH 26-113/54. B A - M A , R W 40/14. O b w o h l der ursprüngliche Einsatzbefehl vom 1 8 . 1 1 . die Möglichkeit der Gefangennahme nur f ü r die Mihailovic-Cetniks vorsah, wurde diese am 2 4 . 1 1 . auch auf die Partisanen ausgedehnt, B A - M A , R H 26-342/16, siehe auch ebd., R H 26-342/17. B A - M A , RL 21/218. B A - M A , R W 40/48. Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, daß die in diesem Raum operierenden Cetniks eine besonders große Bereitschaft zur kampflosen Ubergabe signalisiert hatten.
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„Banden" durch die nach wie vor gegebene praktische Unmöglichkeit überzulaufen, zu einem kritischen Zeitpunkt (Winterwetter) eine ganz entscheidende Stärkung erfahren habe 20 . Mittlerweile war nicht mehr zu übersehen, daß die in zum Teil eklatantem Widerspruch zueinander stehenden Befehle der letzten Monate sowie der Graben der sich langsam zwischen Theorie und Praxis auftat, nach einem klärenden Wort verlangten. Einen solchen Versuch unternahm Bader, als er am 18. März einen Befehl erließ, durch den die Gefangennahme sowohl von Uberläufern als auch von im Kampf gemachten Gefangenen ermöglicht werden sollte 21 . Daß der Wehrmachtbefehlshaber Südost nun seinerseits am folgenden Tag einen Grundsatzbefehl erließ, in dem er genau diese Möglichkeiten ausdrücklich ausschloß 22 , kann als Sinnbild für die völlige Ziel- und Planlosigkeit dienen, die in diesen Wochen die deutschen Planungen für eine wirksame Aufstandsbekämpfung beherrschten. Am 23. März einigten Bader und sein Vorgesetzter sich schließlich auf einen Kompromiß, durch den zumindest Überläufern das Leben garantiert werden sollte 23 . Die Verlagerung der Kämpfe auf das Gebiet des NDH-Staates (Nezavisna Drzava Hrvatska = Unabhängiger Staat Kroatien) 24 machte weitere Einschränkungen nötig. Bereits am 16. Oktober 1941 hatte der Deutsche General in Agram (Zagreb) den Kommandierenden General in Belgrad darauf hingewiesen, daß die Inhaftierung bzw. Erschießung von Geiseln erst nach Absprache mit den kroatischen Behörden und auch dann nur im Verhältnis 1:10 erfolgen dürfe 25 . Zu diesen Überlegungen grundsätzlicher Natur gesellten sich im Januar 1942 auch noch taktische Erwägungen. Die Cetnikverbände, die sich aus den serbischen Siedlungsgebieten des NDH-Staates gebildet hatten , hatten dies in erster Linie aus Gründen des Selbstschutzes getan. Unter ihnen stach besonders die Gruppe des ehemaligen Gendarmerieoffiziers Dangic hervor, dessen Kampf in 20 21 22
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B A - M A , R L 21/218. B A - M A , R W 40/27. Der Kernsatz dieser Weisung besagte: „Gefangene Aufständische sind grundsätzlich zu erhängen oder zu erschießen; werden sie zu Aufklärungszwecken verwendet, so bedeutet dies nur einen kurzen Aufschub ihres Todes", B A - M A , R H 20-12/218. Die auf diese Weise eingebrachten Gefangenen wurden zum Arbeitseinsatz nach N o r w e gen deportiert, B A - M A , R H 2 0 - 1 2 / 1 3 9 . Dieses faschistische „Großkroatien" umfaßte bis auf Teile der dalmatinischen Küste sämtliche kroatischen Siedlungsgebiete, ganz Bosnien-Herzegowina sowie die Provinz Syrmien und reichte so bis v o r die Tore Belgrads. Die Grenzziehung zwischen Serbien und Kroatien folgte im wesentlichen dem Flußlauf der Drina; da auch die italienischen Protektorate Albanien und Montenegro auf Kosten des serbischen Reststaates vergrößert worden waren, war dieser im wesentlichen auf das Territorium von vor 1912 reduziert worden. Rein rechnerisch war fast jeder dritte Bürger des neuen kroatischen Staates (1, 95 Mio.) Serbe. Der wenige Wochen nach der Staatsgründung einsetzende Versuch einer landesweiten „ethnischen Säuberung" im kroatischen Sinne zog daher bald mörderische Volkstumskämpfe zwischen Serben, Kroaten und Moslems nach sich. Diese und die wenig praktische Teilung des Landes in deutsche und italienische Einflußzonen gewährte den kommunistischen Partisanen viel größere Entfaltungsmöglichkeiten als es im deutsch beherrschten Serbien der Fall gewesen war. Die beste Darstellung der ersten Monate der Rebellion auf kroatischem Territorium findet sich bei Karchmar, Mihailovic, 1, S. 4 3 5 - 5 2 4 . B A - M A , R H 24-18/87.
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Ostbosnien in erster Linie dem Ustascha-Regime sowie den Kommunisten Titos galt. Die deutsche Intervention in seinem Gebiet weniger als Bedrohung denn als Chance auffassend, untersagte er seinen Leuten, den Kampf gegen die deutschen Besatzer aufzunehmen und begab sich nach Belgrad, um dort am 31. Januar 1942 Offizieren aus dem Stab des Kommandierenden Generals ein umfangreiches Kollaborationsangebot zu unterbreiten 26 . Obwohl diese Verhandlungen schließlich am energischen Einspruch des Pavelic-Regimes in Zagreb scheitern sollten, ebneten sie zumindest den Weg für eine weitere Flexibilisierung der „rules of engagement", unter denen die deutschen Besatzer operierten; bei den ostbosnischen Operationen der „Kampfgruppe Bader" im Frühjahr konnte, wie auch schon bei den Unternehmen „Südostkroatien" und „Ozren" im Winter (16. Januar bis 4.Februar 1942) eine Konfrontation zwischen Deutschen und Cetniks weitgehend vermieden werden, und selbst für den Fall einer (widerstandslosen) Entwaffnung war letzteren der Status von Kriegsgefangenen zugesichert 27 . Während der nun folgenden Frühlings- und Sommermonate sind auf Korpsund Divisionsebene gleich mehrere Versuche von deutscher Seite nachweisbar, zumindest eine Teildeeskalation im Partisanenkrieg zu bewirken. So verfügte die in Kroatien dislozierte 718. ID am 29. Mai, daß beim anstehenden Unternehmen „Zenica" (3. bis 22. Juni 1942) das Abbrennen von Behausungen als Vergeltungsmaßnahme zu unterbleiben habe und gegnerische Uberläufer, die sich mit Waffe stellten, zu entwaffnen und in die Freiheit zu entlassen seien 28 . Bemerkenswert ist, daß der Wortlaut der Anordnung keine Unterschiede zwischen kommunistischen und nationalserbischen Freischärlern macht. In Serbien sah sich der Kommandierende General am 21. Juni veranlaßt, in einem Grundsatzbefehl auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Auswahl von Geiseln nur bei wirklich schwerwiegenden Anlässen und dann nicht „wahllos" vorzunehmen. Insbesondere sei darauf zu achten, daß zwischen den gestellten Personen und dem abzuschreckenden Täterkreis auch eine „nahe Verbundenheit" bestehe 29 . In einem Befehl der 718. ID an untergeordnete Kampfgruppen vom 1. Juli wurde noch einmal das Verbot, Behausungen in Brand zu stecken, bekräftigt 30 . Dies sei höchstens dann zulässig, wenn der Kampf „unmittelbar" dazu zwingen würde. In diesen Zeitabschnitt fiel auch der erste Gefangenenaustausch zwischen Wehrmacht und kommunistischen Partisanen (ab November 1942: Volksbefreiungsarmee), nachdem der erste Versuch einer Kontaktaufnahme im März gescheitert war. 8 Reichsdeutsche, die bei der Eroberung des westbosnischen Livno durch die Partisanen (7. August 1942) in Gefangenschaft geraten waren, und 14 Partisanen entgingen so dem sicheren Tod 31 . Bis Jahresende scheint die 26
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A A , Büro StS Jugoslawien, Bd 4, 672 (Schreiben des Bevollmächtigten des Auswärtigen Amts beim Militärbefehlshaber Serbien, Gesandter Benzler, an Staatssekretär Weizsäkker). Kampfanweisung zur Belehrung der Truppe, 14. 4. 1942, BA-MA, R W 40/50. B A - M A , RH 26-118/27. BA-MA, R W 40/30. B A - M A , RH 26-118/28. Milovan Djilas, der bei der Einnahme Livnos zugegen war, bemerkte in seinen Memoiren,
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Durchführung solcher Austauschaktionen dann schon so routiniert erfolgt zu sein, daß sich bei deutschen Dienststellen der feste Begriff „Austauschpartisanen" eingebürgert hatte 32 . Die hier angeführten Beispiele sollen freilich nicht zu der Vorstellung verleiten, der Partisanenkrieg in Jugoslawien sei 1942 auf dem besten Weg gewesen, von beiden Seiten völkerrechtlich anerkannte Formen anzunehmen. Einer solchen Entwicklung standen nicht zuletzt die Vorstellungen der deutschen Führung zur Partisanenbekämpfung und ganz besonders die Natur des Ustascha-Regimes in Zagreb im Weg. Daß letzteres die deutschen Bemühungen, der Aufstandsbewegung Herr zu werden, selbst auf rein operativer Ebene in Frage stellte, zeigte die Operation, die im nachhinein betrachtet den deutschen Waffen noch den größten Erfolg dieses Jahres bescherte. Beim Unternehmen „Kozara" gegen das gleichnamige Gebirgsmassiv in Westbosnien (5. bis 18. Juli 1942) wurde erstmalig der Versuch unternommen, eine als dauerhaftes Partisanenversteck bekannte Region durch Massendeportationen weitflächig zu entvölkern und so „den Sumpf trockenzulegen". Die auf diese Weise erfaßten „Bandenverdächtigen" wurden in Konzentrationslager eingewiesen, der Rest der entwurzelten Einwohnerschaft woanders angesiedelt. Obwohl „Kozara" den kommunistischen Partisanen laut Aussage des Tito-Vertrauten Milovan Djilas einen schweren Schlag versetzte 33 , sollte die hier angewandte Vorgehensweise keine Schule machen. Inwiefern für diese Entscheidung auch humanitäre Erwägungen eine Rolle spielten, ist nicht aktenkundig geworden. Ausschlaggebend dürfte in erster Linie die Erkenntnis gewesen sein, daß eine Wiederansiedlung der so vertriebenen auf dem Territorium des in zusehender Auflösung begriffenen NDH-Staates eine praktische Unmöglichkeit war 34 . Darüber hinaus fiel gerade in jenen Tagen dem in diesen Fragen sicherlich nicht überempfindlichen Sicherheitsdienst (SD) der SS auf, daß die Behörden in Zagreb eine bedenkliche Neigung an den Tag legten, Verschleppungsaktionen dieser Art dazu zu benutzen, sich Personen vom Hals zu schaffen, die zwar frei von jedem Verdacht waren, aber durch ihre Bedürftigkeit (Waisen, Witwen, chronisch Kranke) dem Staat zur Last fielen35. Diese Erkenntnis war freilich nur die letzte in einer ständig wachsenden Serie, die das Regime des Ante Pavelic im allgemeinen sowie die Staatsbewegung Ustascha im besonderen als die Hauptursache für den Bürgerkrieg und die Volkstumskämpfe ausmachten, die den neugeschaffenen Staat schon vor seinem ersten Jahrestag in einen Zustand völliger Unregierbarkeit versetzt hatten. Aus der Sicht des Führerhauptquartiers war solchen Zuständen natürlich nicht mit einem Regimewechsel, sondern nur mit weiteren Gewaltmaßnahmen beizukommen. Bereits am 25. Juni vermerkte das KTB des OKW eine Aufforderung Hitlers an seine Generale, im Partisanenkampf „brutal" durchzugreifen
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daß die Erschießung der Deutschen eigentlich als selbstverständlich angenommen worden war. Djilas, Wartime, S. 198. Aktenvermerk Glaise-Horstenaus f ü r eine Besprechung bei Pavelic, 12. 12. 1942, B A - M A , R H 31 III/9. Djilas, Wartime, S. 206. Feindlagebericht der „Kampfgruppe Westbosnien", 14. 8. 1942, B A - M A , R H 24-15/4. A A , Inland II g 99, 1955 (16. 7. 1942).
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und doch endlich „alle europäischen Hemmungen" abzustreifen 36 . Obwohl dieser Ausspruch nicht die Gestalt eines entsprechenden Führerbefehls annahm, blieb eine Partisanenbekämpfung bar jeder Kompromißmöglichkeit ein besonderes Anliegen des deutschen „Führers". So ließ er sich beim Besuch Ante Pavelic' in Vinniza (Ukraine) am 23. September 1942 im Beisein des Wehrmachtbefehlshabers Südost, Generaloberst Alexander Lohr, und des deutschen Gesandten in Zagreb, SA-Obergruppenführer Siegfried Kasche, so vehement über die angeblich fehlende Schärfe bei der Aufstandsbekämpfung aus, daß selbst der für seine Nachsichtigkeit gegenüber der Ustascha notorische Kasche befürchtete, Pavelic könne auf diese „Ermunterung" hin eine erneute Eskalation seiner Serbenpolitik einleiten, durch die die Situation in Kroatien dann völlig außer Kontrolle geraten würde 37 . In militärischer Hinsicht zeitigten die Hitlerschen Ausführungen jedenfalls konkrete Folgen: der (wenn überhaupt) wohl weniger an die Adresse des kroatischen Staatsführers als an die von Generaloberst Lohr gerichtete Wink, veranlaßte diesen, den einen Monat später erlassenen „Kommandobefehl" für seinen Befehlsbereich mit einem Zusatzbefehl zu versehen, der die in den letzten Monate erzielten Fortschritte auf einen Schlag zunichte machte. Nach längeren Ausführungen über die völkerrechtlich nicht abgedeckte Kampfesweise des Freischärlers gipfelten Lohrs Ausführungen in der Anweisung, gefangenen Partisanen auch den letzten Schutz, den sie bis dato im Falle einer Gefangennahme genossen hatten, zu nehmen: Der Aufständische müsse wissen, daß er in „keinem Falle" mit dem Leben davon kommen werde; am Status seiner völligen Rechtlosigkeit dürfe auch „freiwilliges Ergeben" nichts ändern. Der nach den bisherigen Erfahrungen an sich naheliegende Gedanke, daß solche Befehle wohl nur im Kampf mit den kommunistischen Partisanen Anwendung finden würden, trat Lohr dadurch entgegen, daß er Mihailovic' Namen besonders hervorhob 38 . Diesen Rückfall in die schlimmsten Zeiten des Vorjahres zu erklären, fällt schon daher besonders schwer, als er von einem Offizier verantwortet wurde, der sich in solchen Fragen in der Vergangenheit durch besondere Besonnenheit hervorgetan hatte 39 . Auch ein seinem österreichischen Landsmann Lohr durchaus wohlgesonnener Offizierskamerad vermochte sich diesen Widerspruch nur ansatzweise zu erklären. Generalleutnant (ab dem 1. September 1943 General der Infanterie) Edmund von Glaise-Horstenau, von 1941 bis 1944 „Deutscher General in Agram", vertraute im Mai 1943 seinem Tagebuch folgende Passage an:
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K T B Ο K W , II, 1, S. 449 (25. 6. 1942). Kasche an Staatssekretär v o n Weizsäcker, 12. 10. 1942, A A , Gesandschaftsakten Zagreb R 29857. „Zusätze W.Bfh. Südost", 28. 10. 1942, B A - M A , R H 19 XI/7. Diese Einstellung Lohrs scheint aber höchstens teilweise von seinen in Vinniza gewonnenen Eindrücken herzurühren; vgl. „Aktennotiz über Reise O B nach Belgrad und Agram vom 2 8 . 8 . - 1 . 9 . 1 9 4 2 " , B A - M A , R H 20-12/149. So ζ. B. bei der Ausführung des Befehls zur Bombardierung Belgrads am 6 . 4 . 1 9 4 1 ; ausführlicher hierzu Boog, Bombenkrieglegenden, S. 25.
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„Bei Foertsch 40 kommt noch dazu, daß er - als ehemaliger enger Mitarbeiter Schleichers - „politisch nicht gut liegt" und er daher - obgleich einer von den besseren und höher kultivierten - alles tut, was man oben von ihm verlangt. Es gibt keinen noch so bösartigen Blutbefehl, den er nicht noch erheblich verschärft weiterleitete. Daß solche Befehle über die Notwendigkeit auch Weiber und Kinder umzubringen, und das Verbot, Ausschreitungen, die im Zuge von Partisanenkämpfen begangen wurden, kriegsgerichtlich zu befolgen, nicht leicht gesteigert werden können, versteht sich. Aber Foertsch kann es, und der gute Lohr, den ich oft nicht verstehe, setzt seine Unterschrift darunter" 41 . Daß die ausdrückliche Miteinbeziehung der DM-Organisation keine leere Drohung darstellte, zeigte sich in der Folge in Serbien. So löste der Kommandierende General bis Jahresende nicht nur die meisten legalen Cetnik-Abteilungen auf 42 , sondern nahm auch die Herausforderung, die in Mihailovic' Aufruf zum zivilen Ungehorsam (8. November 1942) lag, dadurch an, daß er fortan auch Beamte des serbischen Staates unter den Schutz deutscher Vergeltungsmaßnahmen stellte 43 . Die anschließende Konfrontation zwischen Besatzungsmacht und nationalserbischem Widerstand forderte dem letzteren einen Blutzoll ab, der durchaus mit dem der Kommunisten vergleichbar war. Durch energische Fahndungsmaßnahmen von SD und Geheimer Feldpolizei wurden unter anderem mehrere wichtige Nachrichten- und Verbindungsstäbe der DM-Organisation ausgehoben, die verhafteten Mitglieder zumeist nach kurzem Verhör erschossen 44 . Zuzüglich zu den sich gleichzeitig steigernden „Sühneerschießungen" erlitt der nationalserbische Widerstand so in den Monaten November und Dezember einen Aderlass, der auch in der Historiographie des kommunistischen Nachkriegsjugoslawiens nicht verschwiegen worden ist 45 . Gegen Jahresende führten die Niederlage von El Alamein, die anglo-amerikanische Landung in Nordafrika sowie die sich immer deutlicher abzeichnende Katastrophe von Stalingrad im Führerhauptquartier zu einigen grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich der Notwendigkeit, das deutsch beherrschte Europa gegen die schon seit Monaten angedrohte „Zweite Front" der Westalliierten 46 in
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Generalmajor (ab 1 . 1 0 . 1943 Generalleutnant) Hermann Foertsch, Lohrs Stabschef vom 2. 7. 1942 bis zum 26. 8. 1943. Broucek (Hrsg.), Horstenau, 3, S. 240. Im 7. Nürnberger Nachfolgeprozeß („Geiselprozeß") war es u.a. Ziel der Anklage, den von Mai 1941 bis März 1944 ununterbrochen im Südostraum dienenden Foertsch als „the evil spirit" hinter der Repressalienpolitik seiner Vorgesetzten (List, Lohr, Weichs) darzustellen. Vgl. hierzu Trials, XI, 2 , S. 899. Dieser Schritt war bereits im Juni beschlossen, seine Ausführung jedoch mehrmals verschoben worden. Siehe ζ. B. Schreiben des Gesandten in Belgrad, 24. 7. 1942, an den Staatssekretär in Berlin, A A , Büro StS, Jugoslawien, Bd 4, 673. Zum Schutz serbischer Beamter: Schreiben Benzlers, 23. 11. 1942, an Weizsäcker, A A , Büro StS Jugoslawien Bd 4, 674. K T B O K W , II, 2, S. 1 1 2 5 (12. 1 2 . 1 9 4 2 ) ; Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 114 f. General Jodl zur Lage in Serbien, 12. 12. 1942: „ In Belgrad werden dauernd Leute verhaftet. Man kann sagen, daß rund jeden Tag zwischen 15 und 30 Mihailovic-Anhänger erschossen werden". Glisic, Terror, S. 1 7 7 - 1 8 2 . Dieses Schlagwort der Feindpropaganda war bald zum festen Bestandteil des deutschen Militärwortschatzes geworden, erste belegte Verwendung durch Hitler selbst am 29. 6. 1942, KTB O K W , II, 1, S. 458.
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Verteidigungszustand zu versetzen. Der Umstand, daß weite Gebiete Jugoslawiens und Griechenlands von Aufständischen beherrscht waren und einem anlandenden Gegner ideale Einfallspforten boten, ließ es geraten erscheinen, der Partisanenbekämpfung in diesen Gebieten endlich eine angemessene Priorität einzuräumen. Vor diesem strategischen Hintergrund erging ein von Keitel unterzeichneter, in seiner Urheberschaft aber eindeutig auf Hitler zurückgehender Befehl, der einem Freibrief für die im „Bandenkampf" eingesetzten Einheiten gleichkam. Wie auch schon der berüchtigte Kriegsgerichtsbarkeiterlaß im Vorfeld von „Barbarossa" handelte es sich um einen vorwegnehmenden Gnadenerlaß, der die Straffreiheit für sämtliche im Rahmen des Partisanenkampfes begangenen strafbaren Handlungen seitens deutscher Wehrmachtangehöriger vorsah 4 7 . Dadurch, daß eine seiner Kernaussagen („auch gegen Frauen und Kinder") vor einigen Jahren als Buchtitel Verwendung fand, hat dieser Befehl einen ungewöhnlich hohen Bekanntheitsgrad erlangt 48 . Einer der wenigen, der innerhalb seiner Möglichkeiten darum bemüht gewesen zu sein scheint, den offenbar unaufhaltsamen Zyklus von Gewalt und Gegengewalt wenigstens zu verlangsamen, war der deutsche Militärbeauftragte in Zagreb, Generalleutnant Edmund von Glaise-Horstenau. So gelang es ihm zur Jahreswende 1942/43, die Befehle für den Operationszyklus „Weiß" zur Rückeroberung des Tito-Staates in Westbosnien in dem Punkt abzuschwächen, der in seiner ursprünglichen Fassung unter anderem die Deportation der gesamten im Operationsgebiet angetroffenen männlichen Bevölkerung im waffenfähigen Alter vorsah 4 9 . Wie auch schon Generalmajor Hoffmann im November 1941 wies auch er seinen Vorgesetzten Lohr in einem privaten Brief auf die ausweglose Situation vieler entwurzelter und bedürftiger Menschen hin, die gar keine andere Wahl gehabt hätten, als den Schutz der gerade siegreichen Bürgerkriegspartei zu beanspruchen, um so wenigstens das nackte Leben zu retten 5 0 . Trotz der auf diese Weise erwirkten Abschwächung der Weisung für „Weiß" war auch bei dieser ersten deutschen Großoperation auf jugoslawischem Boden die Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende. Drei Fälle, auf die hier kurz eingegangen werden soll, sind insofern von Interesse, als sie alle eine deutsche Division betreffen, die in den folgenden zweieinhalb Jahren wie keine andere das Geschichtsbild vom Krieg der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS in Jugoslawien prägen sollte: die (7.) Freiwillige SSGebirgsdivision „Prinz Eugen". Dieser vor Ort (im nordserbischen Banat) aus Volksdeutschen aufgestellte Großverband war schon bei seinen ersten Einsätzen im Herbst 1942 dadurch aufgefallen, daß er, obwohl in einem relativ ruhigen Gebiet (Südserbien) operierend, eine beängstigende Bereitschaft an den Tag
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Führerhauptquartier, 16. 12. 1942, B A - M A , R H 2 0 - 1 2 / 2 1 8 . Zur Entstehungsgeschichte des Befehls, Heiber (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 6 4 - 6 9 (Mitschrift der Abendlage vom 1. 12. 1942). Andrae, Frauen. Im Anlagenband des K T B des Wehrmachtbefehlshabers Südost findet sich nur ein knapper Vermerk über die Entfernung des fraglichen Schriftstücks. Sein ungefährer Inhalt läßt sich nur aus anderen Quellen rekonstruieren, so etwa Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 175-178, sowie Reisebericht Gesandschaftsrat Kühn, A A , Nachlaß Kasche 6.2. (Dienstreisen). Schreiben v o m 4. 1. 1943, B A - M A , R H 31 111/12.
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legte, die ansässige Zivilbevölkerung schon aus den geringsten Anlässen zu unverhältnismäßigen „Sühnemaßnahmen" heranzuziehen 51 . Diese in Führerbefehlen so häufig angemahnte „Härte" mußte westlich der Drina, wo in der Tat damit zu rechnen war, daß der Großteil der Bewohner mit den Partisanen im Bunde stand, natürlich noch viel stärker zum Tragen kommen. So ließ es sich beispielsweise der Divisionskommandeur, SS-Obergruppenführer Artur Phleps, nicht nehmen, zwei serbische Jugendlichen, die beim Vormarsch auf Bihac (29. Januar 1943) bei einem zweifellos geringfügigen Vergehen gestellt worden waren, trotz der Einwände eines anwesenden deutschen Botschaftsangehörigen sofort erschiessen zu lassen 52 . Ein weiterer Vorfall betraf eine Begegnung, zu der es beim anschließenden Unternehmen „Weiß 2" im Raum von Petrovac zwischen Spitzen der Division und einer 60 Köpfe zählenden Flüchtlingsgruppe kam. Die Zivilisten unterließen es, die SS-Männer vor einer in unmittelbarer Nähe in Stellung liegenden Partisanengruppe zu warnen; nachdem diese das Feuer eröffnet hatte, wurden die Flüchtlinge erneut gestellt und ohne Ausnahme erschossen, obwohl die näheren Umstände sowie das Ergebnis einer Leibesvisitation den Schluß nahelegten, daß lediglich drei von ihnen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu den Partisanen zu rechnen waren 53 . Bei der selben Operation kam es nach den Aufzeichnungen Glaise-Horstenaus in einem Fall sogar zur Erschießung von über 100 zwangsausgehobenen kroatischen Schneearbeitern, als für diese gerade keine Verwendung zu finden war 5 4 . Nachdem es dem Gros von Titos Truppen Mitte März 1943 gelungen war, sich über die Neretva in Richtung Nordmontenegro zu flüchten, wurde diese Region zum Schauplatz der bis dahin umfassendsten Großoperation zur Partisanenbekämpfung auf dem Gebiet des besetzten Jugoslawien. Von „Weiß 1" und „2" unterschied sich dieses Unternehmen („Schwarz", 15. Mai bis 16. Juni 1943) vor allem darin, daß es in gleicher Weise den Partisanen wie den Cetniks des Draza Mihailovic galt. Im Operationsbefehl, den der „Befehlshaber der deutschen Truppen in Kroatien", Lüters, für „Schwarz" erließ, sind die Mitglieder der beiden Aufständischengruppen zum ersten Mal seit dem Sommer 1941 beinahe wieder gleichgestellt. So war für Partisanen und Cetniks gleichermaßen die Möglichkeit der Gefangennahme („sofern sie nicht im Kampf vernichtet werden") vorgesehen; der privilegierte Status des Kriegsgefangenen blieb freilich Cetniks vorbehalten, „die einwandfrei nicht gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft haben" 55 . Über die Bereitschaft der Truppe, in den folgenden Wochen von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, im Kampf gemachte Gefangene auch abzuführen,
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Siehe hierzu Rüge des Kommandierenden Generals an die „Prinz Eugen", 23. 9. 1942, B A - M A , R W 40/33. A m 11.12. erneute Ermahnung und Anweisung, gegenüber unbewaffneter Zivilbevölkerung „vermeidbare Härten" wie „Erschiessungen von Frauen und Kindern, Abbrennen von Dörfern und Häusern" künftig zu unterlassen, B A - M A , R W 40/36. Reisebericht des Gesandschaftsrats Kühn, A A , Nachlaß Kasche 6.2. (Dienstreisen). Erfahrungsbericht über Unternehmen „Weiss II" und Mostar, 26. 3. 1943, B A - M A , RH 24-15/2. Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 396 u. 438. Operationsbefehl für den Fall „Schwarz", 6. 5. 1943, B A - M A , R W 40/53.
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kann nur schwer eine allgemeingültige Aussage gemacht werden. Die Tatsache, daß die 1. Gebirgsdivision von ihren 498 Gefangenen 411 erschoß, muß nicht zwangsläufig repräsentativ sein, da dieser Verband gerade erst von der Ostfront eingetroffen und hinsichtlich der gerade gültigen Verhaltensregeln auf diesem Kriegsschauplatz möglicherweise nicht auf dem neuesten Stand war 5 6 . Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang allerdings auch, daß der in der Schlußphase von „Schwarz" (10. Juni) von Lüters erlassene Befehl, kein Mann im waffenfähigen Alter dürfe den Einschließungsring lebend verlassen, die Bereitschaft, Gefangene einzubringen, nicht gerade gefördert haben dürfte 57 . Ein in dieser Hinsicht recht deprimierendes Fazit zog der Regimentskommandeur des 4. Regiment „Brandenburg" in einem Schreiben vom 6. Juli an den OB Südost. Im Rahmen eines Plädoyers für einen künftigen Handstreich gegen Titos Obersten Stab kam er auf die Notwendigkeit zu sprechen, für einen solchen Einsatz auch ehemalige Partisanen zu gewinnen. Da seine Einheit auch bei „Schwarz" beteiligt war, kommt den folgenden Ausführungen eine umso größere Bedeutung zu: „Die seitherige Methode, alle Partisanen unterschiedlos zu erschiessen, konnte niemals zum Erfolg führen. Viele Partisanen sind es erst durch ein Zusammenwirken verschiedener Umstände geworden: Ustascha-, Muselmanen-, oder Cetnik-Greuel, Not und Hunger, Terror und Zwang durch andere Partisanen. Sie bleiben Partisanen, weil der Weg zurück durch die deutschen Befehle verbaut ist. Sie haben Heimat und Familie verloren, so kämpfen sie bis zum Tode« 58 . Das Verdienst, diesen Teufelskreis zumindest in weiten Teilen endlich durchbrochen zu haben, wird in der Regel der mit viel Beharrlichkeit und gegen erhebliche Widerstände durchgesetzten „Neuen Politik" des Sondergesandten Hermann Neubacher zugesprochen. In der Tat ist nicht zu leugnen, daß die von ihm durchgesetzte Drosselung der Geiselerschießungen und auch seine sonstigen Bemühungen um ein Einvernehmen mit den antikommunistischen Kräften in Serbien eine detente mit weiten Teilen der DM-Bewegung möglich machte. Dies sollte unter anderem zur Folge haben, daß Titos erster Einbruchsversuch in Serbien (April/Mai 1944) mit weitgehend serbischen Kräften zurückgeschlagen werden konnte 59 . Bisher unbeachtet geblieben ist jedoch der bemerkenswerte Umstand, daß eine spürbare Trendwende schon Wochen vor Neubachers Ankunft eingesetzt hatte. So erließ der Kommandierende General in Serbien am 6. August den Befehl, daß gefangene Aufständische nur noch zu erschießen seien, wenn „besondere 56
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„Bericht der 1. Gebirgsdivision über den Einsatz in Montenegro", 10. 7. 1943, B A - M A , RH 2/682. Nach den Aufzeichnungen Glaise-Horstenaus fielen diesem Befehl auch einige Italiener und Kroaten zum Opfer, denen es gelungen war, im Verlauf der Schlacht aus der Gefangenschaft bei den Partisanen zu entfliehen; Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 3 0 9 - 3 1 0 . B A - M A , R H 24-15/3. Bevor die aus Ungarn angeforderten deutschen Kräfte eingetroffen waren, hatte sich die Offensive Titos schon festgelaufen. Nach Abschluß der Operation („Kammerjäger") wurden von deutscher Seite die Leistungen des Bulgarischen Okkupationskorps außerordentlich kritisch, die der serbischen Verbände (neben DM-Cetniks vor allem das Serbische Freiwilligen-Korps) umso positiver bewertet. Ausführlicher hierzu KTB O K W , IV, Die Entwicklung im Südosten ( 1 . 4 . - 3 1 . 1 2 . 1 9 4 4 ) , S. 6 4 8 - 6 5 3 .
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Umstände" dies erforderten 60 . Auf derselben Linie lag ein grundsätzlicher Befehl des O K W vom 18. August 1943, in dem in aller Form mit einer über zweijährigen Tradition gebrochen wurde; „im Kampf ergriffene oder sich ergebende Bandenangehörige" waren von nun an als Kriegsgefangene zu behandeln 61 . Die Uberlieferung der Umsetzung dieser revolutionären Anordnung an der Front bietet erwartungsgemäß kein einheitliches Bild. Von beinahe unvermeidlichen Schwierigkeiten wußte der „Deutsche General in Agram" zu berichten. So hatte gerade zu dieser Zeit der Kommandeur der in Kroatien operierenden 2. Panzerarmee, General der Infanterie Lothar Rendulic (Glaise: „ein besonderer Bekenner zum Zeitgeist") ohne vorherige Absprache mit den kroatischen Behörden einen Befehl herausgegeben, „nach welchem bei Sabotageakten und dergleichen für jeden deutschen Soldaten 50 Geiseln erschossen werden sollten. Andererseits hat der Führer selbst kürzlich wider Erwarten den Partisanenkrieg völkerrechtlich auf den Kopf gestellt, indem er befahl, daß gefangene Partisanen nicht mehr, wie es bisher ausnahmslos zu geschehen hatte, erschossen, sondern - man höre und staune - als .Kriegsgefangene' zu behandeln seien. Wie sich damit die Weisung des dummen Rendulic verträgt, weiß der liebe Gott!" 6 2 In dieses Bild fügt sich auch das Verhör am 30. November eines Überläufers von den Partisanen; seine Aussage ergab, daß es immer noch die Furcht vor dem fast sicheren Tod im Falle einer Gefangennahme sei, die viele seiner Kameraden in Titos Reihen hielte 63 . Zwischenfälle, die sich ungefähr zeitgleich im nordkroatischen Slawonien ereigneten, waren in der Tat wenig geeignet, solche Bedenken zu zerstreuen: in einem Befehlsschreiben vom 19. Dezember 1943 an seine Divisionen beklagte der Kommandeur des LXIX. Reserve-Korps, General der Infanterie Ernst Dehner, daß in letzter Zeit Uberläufer im Besitz deutscher Passierscheine und selbst V-Leute, die sich vom Einsatz zurückmeldeten, von der Truppe kurzerhand erschossen worden seien 64 . Daß die beste Überläuferpropaganda durch solche Ereignisse ad absurdum geführt werden mußte, lag auf der Hand. Nichtdestotrotz waren zur Jahreswende die ersten Anzeichen einer Trendwende unverkennbar: im Monat Dezember schoß die Zahl der Überläufer hoch auf nahezu 1000 (gegenüber 102 im Vormonat) 65 , und eine Vergeltungsmaßnahme, die am 30. Dezember verfügt wurde, um den Tod des Eichenlaubträgers der Luftwaffe Joachim Kirschner zu rächen, ist in diesem Zusammenhang in gleich zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einmal, weil aus dem Eintrag im Kriegstagebuch des O K W zumindest indirekt hervorgeht, daß ohne Kirschners Tod die für die „Sühnemaßnahme" vorgesehe-
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B A - M A , R W 40/44. Im Original nicht auffindbar, im Schriftverkehr der folgenden Monate aber mehrmals erwähnt, so ζ. B. B A - M A , R W 4 /714 b. A m 1. 3. 1944 auch von Hitler im Gespräch mit dem kroatischen Außenminister bestätigt; Hillgruber (Hrsg.), Staatsmänner, S. 369. Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 287; Schreiben Glaises, 1 3 . 1 0 . 1943, an Kasche, B A - M A , RH 31 III/7. Ic- Lagebericht des X V . GebirgsAK, 1. 12. 1943 bis 10. 1. 1944, B A - M A , R H 24-15/68. Trials, S. 1299. Vgl. Ic- Lagebericht des X V . GebirgsAK, 1. 12. 1943 bis 10. 1. 1944, B A - M A , RH 24-15/68.
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nen Gefangenen wie normale Kriegsgefangene behandelt worden wären, und außerdem, weil der OB Südost (Generalfeldmarschall Freiherr von Weichs) sich diese Repressalie von Hitler persönlich bewilligen ließ, anstatt sie auf eigene Verantwortung zu veranlassen 66 . Im März 1944 bot sich schließlich in Slowenien einem Besucher vom O K W das bizarre Schauspiel, daß ein General der Gebirgstruppe sich gegen den Vorwurf eines Gauleiters der NSDAP, er habe im Rahmen der „Bandenbekämpfung" Häuserverbrennungen und Erschießungen von Uberläufern angeordnet, energisch verwahrte 6 7 . Ein besseres Beispiel für die Zweifelhaftigkeit der bis dato praktizierten Politik der „Härte" ist wahrlich kaum denkbar. Vorläufiger Höhepunkt dieser schrittweisen „Deeskalationskampagne" war ein erneuter Erlaß des OB Südost vom 22. Dezember 1943 zum Thema der Geiselerschießungen. Dieser Befehl, der als das geistige Kind des neuen Sondergesandten gelten kann, hob sich von seinen Vorgängern eigentlich nur in einem einzigen, wenn auch entscheidenden Punkt ab: Eine feste „Sühnequote", welcher Höhe auch immer, fiel weg und wurde statt dessen durch die Formulierung „ist in jedem Einzelfall vorher festzulegen" ersetzt. Anstatt nach einem starren, unflexiblen Muster vorzugehen, das eine nicht selten völlig unverhältnismäßige Vergeltung zwingend vorschrieb, war dem zuständigen Kommandeur nun ein Ermessensspielraum gegeben, der vor allem in Serbien zu einer spürbaren Entspannung der Lage führen sollte 68 . Der an sich naheliegende Gedanke, diese Politik auch auf Kroatien zu übertragen, mußte jedoch schon im Ansatz scheitern. Von der entscheidenden Tatsache einmal abgesehen, daß Neubachers Wirkungsbereich den NDH-Staat nur auf dem Papier miteinschloß, waren hier Rahmenbedingungen gegeben, die eine tiefgreifende Deeskalationspolitik erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen mußten. Anders als in Serbien, wo die DM-Organisation aufgrund ihrer politischen Zielsetzung bereit war, eine solche Politik in weiten Teilen mitzutragen, war die in Kroatien dominierende Partisanenbewegung für Initiativen dieser Art weit weniger empfänglich 69 ; ein noch größeres Hindernis stellte freilich die noch 66
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K T B O K W , III, 2, S. 1393 (30. 12. 1943). Kirschner war am 17.12. in der Nähe von Mostar abgeschossen und anschließend von Partisanen gefangengenommen worden. Seine verstümmelte Leiche wurde Tage später von einem deutschen Suchtrupp geborgen. Dienstreisebericht Dr. Cartillieri (Adriatisches Küstenland), B A - M A , R W 4/508 b. Die fragliche Kontroverse war zwischen dem Gauleiter des „Adriatischen Küstenlandes", Dr. Rainer, und dem General der Gebirgstruppe Kübler entbrannt. B A - M A , R W 40/89. Bei den Gesprächen, die sich seit August 1942 auf dem Umweg des Gefangenenaustauschs zwischen deutscher Besatzungsmacht und Volksbefreiungsarmee ergeben hatten, trat offen zutage, daß es Tito vor allem darum ging, als kriegführende Macht anerkannt zu werden. Darüber hinaus bot er im März 1943 auch einen befristeten Waffenstillstand an, der von deutscher Seite jedoch abgelehnt wurde. Gegen die Annahme eines solchen Angebots sprach auf jeden Fall die Befehlsstruktur der Volksbefreiungsarmee, die es Tito jederzeit erlaubt hätte, die Kampfhandlungen zu einem für ihn vorteilhaften Zeitpunkt schlagartig wieder aufzunehmen. Die Cetniks des Draza Mihailovic hingegen wiesen in ihrem Aufbau so viele regional bedingte Unterschiede auf, daß von einer einheitlichen Befehlsführung so gut wie nie die Rede sein konnte. Für die Deutschen waren vorübergehende Bündnisse mit einigen der zahlreichen Cetnik-Formationen daher mit sehr viel weniger
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immer unangetastete Souveränität des Pavelic-Regimes dar 70 . In den Massenmorden und Exzesse aller Art, die von seiner Ustascha-Bewegung ausgingen, lag aus der Sicht der deutschen Truppe ganz klar der Beunruhigungsfaktor, der die militärischen Erfolge im Kampf gegen die Partisanen zwangsläufig ad absurdum führen mußte. Aber auch die Form, die die deutsche Repressalienpraxis angenommen hatte, machte eine zentrale Steuerung immer schwieriger. Ein besonderes Charakteristikum der während der zweiten Kriegshälfte in Kroatien durchgeführten Geiselerschießungen war, daß sie sich seit 1941 schrittweise auf eine andere Entscheidungsebene verlagert hatten. Unter Umgehung deutscher und kroatischer Stellen in Zagreb wurden „Sühnemaßnahmen" jetzt immer häufiger auf Korps- oder Divisionsebene beschlossen oder spontan von der Truppe im Feld durchgeführt, wobei sie im letzteren Fall von gewöhnlichen Raub- und Brandschatzungsaktionen oft gar nicht mehr zu unterscheiden waren. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielschichtiger Art. Neben den Verrohungserscheinungen, mit deren Auftreten nach zwei Jahren ununterbrochener Partisanenbekämpfung in jedem Fall zu rechnen gewesen wäre, kommt hier vor allem eine zunehmende Bereitschaft zum Ausdruck, die kroatische Regierung, deren Wirken im günstigsten Fall als ineffektiv, in der Regel jedoch als höchst kontraproduktiv angesehen wurde, einfach zu übergehen 71 . Selbst die deutschen Dienststellen, die der Regierung in Zagreb zur Seite standen (der Gesandte Kasche und Generalleutnant Glaise von Horstenau) wurden von dieser Praxis nicht ausgenommen. Die größten Selbstständigkeitsbestrebungen in dieser Hinsicht, gingen - wenig überraschend - von der Waffen-SS aus, die zudem von September 1943 an, nicht nur auf Divisionsebene, sondern auch in Gestalt von drei Generalkommandos auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz präsent war 7 2 . Zu berücksichtigen ist ferner noch, daß der schwindende Einfluß Kasches vor dem Hintergrund der Dauerfehde, die er schon seit Jahren mit der SS austrug, nicht gerade geeignet war, auf diese einen mäßigenden Einfluß auszuüben 73 .
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Risiken verbunden als es bei Titos Volksbefreiungsarmee der Fall gewesen wäre. Zu den Verhandlungen im März 1943 u.a. Djilas, Wartime, S. 2 3 2 - 2 4 5 . Ic-Lagebericht des X V . Geb. Ak, 30. 11. 1943: „Das Ausbleiben eines politischen Kurswechsels in Kroatien belastet in unerhörter Weise die Bemühungen der Truppe zur dauerhaften Befriedung des Landes", B A - M A , R H 24-15/67. Die Vorgehensweise, Geiselerschießungen auf dem Gebiet des NDH-Staates nur nach Absprache mit dessen Behörden durchzuführen, scheint, soweit ersichtlich, bis Anfang 1943 weitgehend eingehalten worden zu sein. So notierte sich Glaise-Horstenau für eine Besprechung mit Pavelic am 3. 3. 1943, daß der Befehlshaber der deutschen Truppen in Kroatien beanstandet habe, daß seit zwei Monaten keine der beantragten „Sühnemaßnahmen" mehr durchgeführt worden sei, B A - M A , R H 31 III/9. Siehe auch Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 439. Es handelte sich dabei um das III. (germ.) SS-Panzerkorps (September bis November 1943), das V. SS Gebirgskorps (November 1943 bis Januar 1945) sowie das IX. Waffen-SS Geb. Armeekorps (Juli bis November 1944). Zu den Schwierigkeiten Glaises, in diesem Zusammenhang bei der SS Gehör zu finden, siehe ebd., S. 292, 300-303. Bei den Auseinandersetzungen des Gesandten mit der SS ging es vordergründig meistens um die Frage, inwiefern kroatische Bürger (vor allem, aber nicht ausschließlich, Volksdeutsche) zum Dienst in der Waffen-SS gezogen werden durften; bei diesem Streit ergriff
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Zu den Faktoren, die einem fortschreitenden Radikalisierungsprozeß zuträglich waren, zählte schließlich noch die zunehmende Beteiligung auch des kroatischen und moslemischen Bevölkerungteils des NDH-Staates an der Tito-Bewegung; die sich hieraus für die Truppe ergebenden Schwierigkeiten, Freund und Feind auseinanderzuhalten, förderten die ohnehin schon gegebene Neigung, im Zweifelsfalle alle Zivilisten als Feinde anzusehen 74 . Der Gerechtigkeit halber muß an dieser Stelle allerdings nochmals hervorgehoben werden, daß die deutschen Soldaten auf diesem Kriegsschauplatz Eindrücken ausgesetzt waren, die es auf die Dauer fast unmöglich erscheinen ließen, herkömmliche Hemmschwellen aufrechtzuerhalten. A n erster Stelle ist natürlich die immer wieder gemachte Erfahrung zu nennen, daß die Partisanen Gefangene häufig entweder gleich erschossen oder sogar quallvoll zu Tode marterten 75 . Hinzu kam, daß auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz der willkürliche Massenmord an Zivilisten allseits nicht nur geduldet, sondern sogar fester Bestandteil der örtlichen Kriegführung war. Frühe Versuche von deutscher Seite, insbesondere den Ausschreitungen der verbündeten Ustascha-Verbände einen Riegel vorzuschieben, waren nicht nur vom Gesandten Kasche hintertrieben worden. Als beispielsweise am 7. Juni 1942 eine Ustascha-Kompanie in Ostbosnien wegen an serbischen Zivilisten begangenen Verbrechen von deutscher Feldgendarmerie entwaffnet und festgesetzt worden war 7 6 , wurde diese Maßnahme von keinem geringeren als Hitler selbst mißbilligt und wieder rückgängig gemacht. Der fortschreitende Erosionsprozeß humanitärer Werte, der durch solche Zwischenfälle bei der deutschen Truppe zwangsläufig einsetzte, dürfte 1944 weitgehend abgeschlossen gewesen sein.
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Kasche ausnahmslos die Partei der Kroaten, die eigene Ansprüche geltend machten. Hierbei gilt es freilich zu berücksichtigen, daß es beim SA-Veteranen Kasche, der den 30. 6. 1934 nur mit knapper Not überlebt hatte, nicht zuletzt sehr persönliche Gründe gewesen sein dürften, die einer reibungslosen Zusammenarbeit mit der „Schutzstaffel" im Wege standen. In diesem Sinne ζ. B. Schreiben des SS-Obergruppenführers Gottlob Berger, 13. 7. 1943, an Heinrich Himmler, BA, NS 19/2117. Hierzu Glaise-Horstenau in seinem Tagebuch (Oktober 1943): „Bis zu einem gewissen Grade ist es zu verstehen, daß die Truppe gegenüber der riesigen Aufstandsbewegung nervös geworden ist. Kaum ein Dorf, kaum ein Waldstück, kaum eine Fahrt auf der Bahn, ohne daß sie nicht in größerem oder geringerem Ausmaß das Opfer eines heimtückischen Anschlags wird. Unter solchen Verhältnissen schießt sie lieber selbst zuerst - auch als Präventivmaßnahme auf Unschuldige - statt sich erschießen zu lassen", Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 292. Wie einige der von Franz Boehme und Alexander Lohr ausgegebenen Befehle zeigen, kann freilich auch die deutsche Seite nicht von einer erheblichen Mitschuld in dieser Frage freigesprochen werden. Eine jugoslawische Perspektive zu diesem Problem findet sich bei Djilas, Wartime, S. 113. In Ausführung eines Befehls des Kommandierenden Generals vom 10. 4. 1942, der im Hinblick auf den bevorstehenden Operationszyklus in Ostbosnien, die Ahndung von „Greueltaten verbündeter Truppen mit den schärfsten Mitteln" angeordnet hatte: Richtlinien für die Operationen in Bosnien, B A - M A , R W 40/50. Bei der fraglichen Einheit handelte es sich um die zweite Kompanie des Ustaschenregiments „Francetic" unter dem Kommando des gleichnamigen Oberstleutnants Jure Francetic, Tagesmeldung vom 7.6. 1942, B A - M A , R W 40/30. Auf Hitlers Einwendungen hin, KTB O K W II, 1, S. 418 (12. 6. 1942) wurde die Kompanie am 15.6. den kroatischen Behörden übergeben: Mitteilung Glaise-Horstenaus, 16. 6. 1942, an O K W , B A - M A , R H 31 III/ 2.
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Alle diese Bedingungen hatten bis 1943/44 ein Umfeld geschaffen, in dem Ausschreitungen von Seiten der Truppe von der obersten Führung nur dann noch besonders zur Kenntnis genommen wurden, wenn eine neue politische Initiative kompromittiert wurde 7 7 oder aber das Ausmaß einer bestimmten Tat es völlig unmöglich machte, sie zu ignorieren. Letzterer Fall trat ein, als am 28. März 1944 Teile der SS-Division „Prinz Eugen" die Einwohnerschaft mehrerer Dörfer im Raum Knin (Dalmatien) massakrierte. Die Zahl der Opfer (vermutlich weit über 500) sowie die Tatsache, daß es sich fast ausschließlich um Kroaten handelte 78 , führten dazu, daß die Angelegenheit zu einem Politikum wurde, die nach einem scharfen Notenwechsel zwischen Agram und Berlin schließlich mit der Entlassung des kroatischen Außenministers Peric endete 79 . Exzesse dieser Art waren freilich die Ausnahme; viel häufiger gab es Zwischenfälle, die, wenn auch weniger schwerwiegend, dennoch deutlich zum Ausdruck brachten, daß auch reichsdeutsche Heeresverbände ihr Verhalten immer stärker dem Umstand anzupassen schienen, daß ihr Operationsgebiet faktisch einen rechtsfreien Raum darstellte. Auch Verbände, die nur vorübergehend auf diesem Kriegsschauplatz eingesetzt waren, nahmen recht bald entsprechende Verhaltensformen an. So konnte sich auch die paradoxe Situation ergeben, daß das Einvernehmen, zu dem eine ortsansässige Division mit der Zivilbevölkerung ihres Bereichs gekommen war, durch das Auftreten einer „balkanfremden" Einheit aus dem Gleichgewicht geriet. A m 3. März 1944 war es ein Regiment der 373. (kroat.) ID, das Anlaß zu einer solchen Klage hatte: „Nach dem Durchmarsch der 1. Geb. Division ist nun diese Entwicklung nicht nur gestört, sondern das bisher ungetrübte Vertrauen zur deutschen Wehrmacht ist auch bei den in von uns besetzten Gebieten lebenden Bevölkerung gesunken. Diese Truppe hat den denkbar schlechtesten Eindruck bei der Zivilbevölkerung, den landeseigenen Verbänden und den kroat. Soldaten des Rgts. hinterlassen. Die Bevölkerung wurde rücksichtslos misshandelt und ausgeplündert, unsere kroatischen Soldaten bestohlen und als Banditen bezeichnet. Das Ansehen der deutschen Wehrmacht ist schwer geschädigt, das Vertrauen der kroatischen Soldaten zur deutschen Führung stark erschüttert. Nur mit vieler Mühe und dank des fast grenzenlosen Vertrauens zu ihrem Führer war es überhaupt möglich, dass die Cetniks weiter in gewohnter Weise sich zur Verfügung stellten" 80 . Im letzten Jahr deutscher Besatzung in Jugoslawien ergab sich somit folgendes gegensätzliches Bild: während in Serbien die Politik Neubachers sowie die Not-
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So ζ. B. im Zusammenhang mit der Aufstellung einer SS-Division bosnischer Moslems im Jahre 1943, die Himmler dazu nötigte, am 6. 8. 1943 die Führung der „Prinz Eugen" wegen Ubergriffen gegenüber der moslemischen Bevölkerung im Raum Sarajevo zu rügen, BA, NS 19/ 1434. Die erste vorläufige Zählung spricht von 486 Opfern, eine Schätzung, die vom Gesandten Kasche in einem Schreiben vom 16. 4. 1944 an Berlin als „bei weitem zu niedrig gegriffen" bezeichnet wurde, A A , Inland II g 4 0 1 , 2 8 2 4 . In der Anklageschrift des Nürnberger „Geiselprozeßes" ist von 2 0 1 4 Toten die Rede, Trials, S. 768. Zur Entlassung Peric' siehe Schreiben Ribbentrops, 23. 4. 1944, an Kasche, A A , Inland II g 401, 2824, sowie Broucek (Hrsg.), Horstenau, S. 3 9 8 - 3 9 9 . Β A - M A , R H 24-15/49.
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wendigkeit, die kommende kommunistische Invasion abzuschlagen, eine spürbare Entspannung der Lage ermöglichten, hatte in Kroatien die Repressalienpolitik eher zu- als ab- und immer unkontrolliertere Formen angenommen. Die Gründe für diese Entwicklung waren recht verschieden: Brutalisierung nach jahrelanger Kriegführung gegen einen meist unsichtbaren Gegner, Befehle, die ein kriminelles Vorgehen geradewegs zur Pflicht machten, die abstumpfenden Eindrücke von den mörderischen Volkstumskämpfen auf kroatischem Boden und nicht zuletzt auch Wut über das kontinuierliche Versagen des kroatischen Verbündeten. Ein Brief des bereits erwähnten SS-Obergruppenführer Phleps vom 10. Juli 1944 an den Reichsführer SS mag das oben vermittelte Stimmungsbild verdeutlichen: Zu diesem Zeitpunkt war Phleps bereits Kommandeur des im herzegowinischen Raum dislozierten V. SS-Gebirgskorps. In der festen Uberzeugung, daß im Umgang mit hohen kroatischen Stellen nicht nur Unfähigkeit, sondern auch hochverräterische Absichten einer reibungslosen Zusammenarbeit im Wege standen, richtete er ein 19-seitiges Memorandum an Himmler, in dem er seine Kritik mit zahlreichen Fallbeispielen belegte. Bei der Aufzählung der wahrlich endlosen Mängelliste des NDH-Staates wird schließlich der Punkt erreicht, an dem Phleps die bis dahin durchaus sachliche Diktion nicht mehr aufrechtzuerhalten vermag. Auf Seite 9 bricht es förmlich aus ihm heraus: „Konzentrationslager, Arbeitskolonnen und die Todessstrafe müssen Hand in Hand die Übeltäter fassen, weil der Balkanmensch die milde Hand nicht verträgt. Er muß die Peitsche fühlen" 81 . Auch wenn diesen Äußerungen zweifellos etwas SS-Typisches anhaftet, so kann doch nicht geleugnet werden, daß sie in dieser oder ähnlicher Form für diesen Zeitraum auch von hochrangigen Heeresoffizieren überliefert sind 82 . Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen stellt sich natürlich die Frage, ob die Aufstandsbekämpfung in Jugoslawien, sei es durch einen Anpassungsprozeß an „balkanische Kriegssitten", sei es durch gezielte Politik, irgendwann die Form eines Vernichtungskrieges angenommen hatte. Wenn man als Ziel eines solchen - analog zum Rußlandfeldzug - die Erweiterung deutschen „Lebensraumes" annimmt, hätten Vertreibung und/oder Genozid der ortsansässigen Bevölkerung eine Neubesiedelung bestimmter Landstriche zu ermöglichen gehabt. Eine solche Politik läßt sich beispielsweise für den Genozid des Pavelic-Staates an seinen serbischen Bürgern zweifellos bejahen; auch einige Facetten der von den italienischen Behörden im dalmatinischen Küstenbereich betriebenen Politik der Italianisierung lassen, wenn auch mehr auf Ausplünderung und Förderung der kroatisch-serbischen Volkstumsgegensätze als direkte Ermordung gerichtet, diese Einordnung zu 83 . Eine solche langfristige Absicht ist von deutscher Seite nur für den als „Unterkrain" in das Reich einverleibten Teil Slowe81 82 83
BA, N S 19/2154. So ζ. B. v o n Lothar Rendulic; vgl. Broucek (Hsg.), Horstenau, S.291. Paragraph 220a des deutschen S t G B sieht Völkermord schon als gegeben an, wenn der Täter „die G r u p p e unter Lebenbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Zur italienischen Volkstumspolitik in Dalmatien u.a. ein Bericht des Polizeiattaches in Zagreb, 2 . 1 0 . 1 9 4 2 , an den Reichsführer SS, A A , Inland Hg 99, 1956.
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niens nachweisbar 84 . Die in Serbien sowie auf dem Gebiet des NDH-Staates angesiedelten Volksdeutschen waren nicht etwa als ethnischer Brückenkopf, sondern vielmehr für eine Umsiedlung nach Deutschland bzw. in den eroberten Osten vorgesehen 85 . Behauptungen, die in der Nachkriegszeit von jugoslawischer Seite aufgestellt worden sind und die in der deutschen Repressalienpolitik eine Art Vorspiel für einen zukünftigen „Generalplan Südost" sehen, sind bis auf den heutigen Tag den dokumentarischen Beweis für diese These schuldig geblieben 86 . Ebenso unstrittig ist freilich die Tatsache, daß das Ausmaß der deutschen „Sühnemaßnahmen" in Serbien und Kroatien, das in den meisten anderen besetzten Gebieten in einer Weise übertraf, die in der Tat eine Verbindung zur Kriegführung im Osten nahelegt 87 . Hier gilt es freilich zu berücksichtigen, daß das in diesem Zusammenhang nicht selten bemühte Argument des Rassissmus 88 insofern zu kurz greift, als sich in den oft als Vergleich herangezogenen west- und nordeuropäischen Ländern während des fraglichen Zeitraums nicht ganze Provinzen in der Gewalt einer großflächigen Aufstandsbewegung befanden 89 . In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage, inwiefern die von deutscher Seite eingesetzte Brachialgewalt - unter Ausklammerung ethischmoralischer Aspekte - eine wirksame Abschreckung der Aufständischen bewirkte. Hierbei gilt es zunächst die Unterschiedlichkeit der politischen Bedingungen in Kroatien und Serbien zu berücksichtigen. Im letzteren Fall erleichterten der hohe Grad an ethnischer Homogenität, die uneingeschränkte Befehlsgewalt der deutschen Militärverwaltung sowie die Tatsache, daß die DMOrganisation vor allem daran interessiert war, den politischen und sozialen status quo Vorkriegsjugoslawiens über das Kriegsende hinweg zu bewahren, die Kontrolle des Landes. Obwohl die Massaker von Kragujevac und Kraljevo nicht nur aus heutiger Sicht einen völlig unverhältnismäßigen Akt krimineller Willkür darstellen, haben sie nach jugoslawischen Untersuchungen durchaus mit dazu beigetragen, den serbischen Aufstand von 1941 zu ersticken 90 . Auch während der folgenden Jahre hat in Serbien der Abschreckungseffekt angedrohter Vergeltungsmaßnahmen für die Soldaten der Besatzungsmacht einen nicht zu leugnenden Schutz dargestellt 91 ; mittel- bis langfristig hätte die beste 84 85
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Vgl. hierzu Ferenc (Bearb.), Quellen. A D AP, D, XIII, 1, Aufzeichnungen des Leiters der Abteilung Deutschland vom 24.7., S. 178 und 7. 8. 1941, S. 244. So ζ. B. Glisic, Terror, S. 3 2 9 - 3 3 0 . Die Urteilsbegründung im 7. Nürnberger Nachfolgeprozeß gegen die „Südostgeneräle" stützte sich auch nicht auf den Tatbestand der Geiselerschießung an sich, sondern vielmehr auf die Prädominanz des reinen Vergeltungs- gegenüber dem eigentlich vorgesehenen Abschreckungsgedanken sowie die UnVerhältnismäßigkeit von „Sühnequoten" in der Höhe v o n 1:100 oder 1:50, Trials, S. 1 2 6 8 - 1 2 7 0 . Messerschmidt, Motivationen, S. 3 1 7 - 3 4 1 . Ein klarer Beleg hierfür ist in den Repressalienpraxis der letzten Besatzungsmonate in Frankreich zu finden. In diesen Zeitraum fiel der Übergang der Resistance zur teilweise offenen Kriegführung; dieser Schritt wurde von deutscher Seite mit einer Vergeltungspolitik beantwortet, die in ihren Folgen (u. a. Massaker von Thüle und Oradour) durchaus mit den Ereignissen in Jugoslawien vergleichbar ist. Vgl. hierzu Hastings, Reich. So z . B . Glisic, Terror, S. 9 9 - 1 0 0 , 3 1 3 - 3 2 3 . Deutsche und bulgarische Soldaten, die bei Überfällen von Mihailovic-Leuten ver-
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Sicherung freilich weniger in der Drohung mit Massenerschießungen als in der großzügigen Unterstützung der kollaborationswilligen Kräfte des Landes gelegen 92 . Die vom Sondergesandten Neubacher auf diesem Gebiet noch ab Ende 1943 erzielten Erfolge sind ein eindrucksvoller Beleg für die Möglichkeiten, die hier ungenutzt blieben. In Bezug auf Kollaborationswilligkeit hätte sich die Lage im verbündeten NDH-Staat um einiges entspannter zeigen müssen als im benachbarten Serbien. Tatsächlich war es so, daß hier verschiedene Umstände zusammenkamen, die eine dauerhafte Befriedung des Aufstandes, der sich ab Ende Juni 1941 entwikkelte, unmöglich machen sollten. An erster Stelle muß hier die „wurzellose Emigrantenclique" (Glaise) genannt werden, die mit Ante Pavelic an der Spitze im April 1941 von Hitlers Gnaden die Führung des neugeschaffenen Staates übernommen hatte. Nachdem sich das Regime durch die Abtretung weiter dalmatinischer Gebiete an Italien (18. Mai 1941) in den Augen seiner Bürger schon erheblich diskrediert hatte, brachte der anschließende Genozidversuch an der serbischen Minderheit (1,95 Mio.) das Regime bald in eine Lage, in der seine weitere Existenz nur noch von der deutschen Besatzungsmacht gewährleistet wurde. Den Spielraum, der dieser dann freilich für die Bekämpfung des Aufstandes eingeräumt wurde, war ein denkbar enger 93 . So galt es nicht nur, die kroatische Souveränität und italienische Prärogativen zu achten, man war in militärischer Hinsicht schon allein zahlenmäßig auf die Kooperation mit den kroatischen und italienischen Streitkräften angewiesen, wobei diese den in sie gesetzten Erwartungen in der Regel nicht gerecht wurden. Ein immer offensichtlicher werdender Unwillen der italienischen Armeeführung, sich an größeren Operationen unter deutscher Führung zu beteiligen, sowie ein schrittweiser Rückzug von der Demarkationslinie in Richtung Küste94 taten ein übriges, um Partisanen ebenso wie Cetniks auf dem Boden des NDHStaates alle nur denkbaren Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Für das hier behandelte Thema ist diese Entwicklung deshalb von erheblicher Relevanz, weil
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schleppt w o r d e n waren, w u r d e n im Hinblick auf angedrohte Repressalien oft nach kurzer Gefangenschaft wieder unversehrt entlassen. Zu solchen Fällen Bericht des Kommandierenden Generals, 19. 8. 1943, an den O B Südost, B A - M A , R H 2 1 - 2 / 6 0 9 sowie Rootham, Miss Fire, S. 196. Neben der Regierung Nedic sei in diesem Zusammenhang v o r allem an die faschistoide „Zbor"-Bewegung des Dimitre Ljotic sowie an die bewaffnete Formation, die aus ihr hervorgegangen war (das Serbische Freiwilligenkorps) erinnert. Die Vernachlässigung dieser verläßlichsten aller paramilitärischen Einheiten des serbischen Staates durch die deutsche Besatzungsmacht wird durch einen ihrer Führer in einer undatierten Denkschrift (verm. Mitte 1942) in beredten W o r t e n beklagt, A A , Inland Hg 401, 2819. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang natürlich auch, daß die deutsche Militärpräsenz auf dem Gebiet des NDH-Staates bis Mitte Juli 1942 auf eine einzige (zweigliedrige) Division sowie einige Landesschützenbataillone beschränkt war. Nachdem die 2. italienische A r m e e am 9. 10. 1941 wieder bis zur Demarkationslinie aufgeschlossen hatte, zog sie sich ab Mitte 1942 in Etappen (Juni 1942, November/Dezember 1942, April 1943) wieder aus Bosnien-Herzegowina und auch Teilen Kroatiens zurück. Die innenpolitische Entlastung, die diese Verlagerung f ü r das Pavelic-Regime brachte, w u r d e durch das im Herzen Bosniens entstehende Machtvakuum mehr als aufgewogen. Zu diesem Dilemma Schreiben Kasches, 1. 12. 1942, an Weizsäcker, A A , Büro StS Kroatien Bd.4, 690.
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in einem Umfeld zunehmender Anarchie, mit Kämpfen aller gegen alle, Seuchen, Hunger und enormen Flüchtlingsströmen eine Repressalienpolitik, wie sie in Serbien praktiziert wurde, überhaupt nicht greifen konnte. Die einzige Partei, die von diesem Chaos zu profitieren vermochte, waren die kommunistischen Partisanen, die für Repressalien inzwischen selbst auf serbischem Gebiet weitgehend „unempfindlich" geworden waren 95 . Die einzig mögliche Lösung des Problems hätte in der Absetzung des Pavelic-Regimes und der Einsetzung eines Militärbefehlshabers bestanden, eine Lösung, die Hitler mehrmals unterbreitet worden war, aber für ihn aus verschiedenen Gründen inakzeptabel blieb 96 . Wie bereits dargelegt, gerieten aber auch die deutschen Truppen in diesem Strudel aus Gewalt und Gegengewalt und trugen zum Teil sogar noch zu seiner Beschleunigung bei, so daß am Ende die Wehrmacht nicht mehr weit davon entfernt war, zu einer von mehreren Bürgerkriegsparteien zu werden. Beim Versuch, das Wesen der deutschen Repressalienpolitik auf dem Kriegsschauplatzjugoslawien zu charakterisieren, drängt sich dem Betrachter das Bild einer wellenartigen Bewegung auf. Nachdem im Herbst 1941 in Serbien ein vorläufiger Höhepunkt erreicht worden war, stehen Frühling und Sommer 1942 im Zeichen zaghafter Versuche, den Krieg, der auf kroatischem Boden mit völlig unzulänglichen Kräften geführt werden mußte, nicht noch unnötig zu radikalisieren. Die Verschärfung, die dann ab Herbst 1942 eintrat, war nicht zuletzt auf die erhöhte Aufmerksamkeit, die man im Führerhauptquartier diesem Nebenkriegsschauplatz widmete, zurückzuführen. Der OKW-Befehl vom 18. August 1943 und die Entsendung des Sondergesandten Neubacher, um wenigsten in Serbien zu retten, was noch zu retten war, kommen vor diesem Hintergrund dem Eingeständnis einer Niederlage gleich. Die Wende, die der Sonderbeauftragte bewirken sollte, blieb freilich Stückwerk: ein wirklich grundlegend neuer Befehl zur Geiselpolitik erging erst Ende des Jahres, und das unheilvolle Wirken des slawophoben Höheren SS-und Polizeiführes August Meyszner setzte sich sogar noch bis zum März des folgenden Jahres fort 97 . O b eine Ausweitung von Neubachers Kompetenzen auf Kroatien auch dort zu einer Beruhigung geführt hätte, darf aufgrund der besonderen Bedingungen, die auf diesem Kriegsschauplatz inzwischen vorherrschten, freilich bezweifelt werden. N u r sehr schwer zu beantworten ist schließlich die Frage, bis wann die vielen Weisungen zur Verschärfung bzw. Entspannung des Partisanenkrieges auf Kompanie- und Batallionsebene überhaupt noch eine entsprechende Verhaltensänderung bewirkten. Ein zunehmender Verselbständigungsprozeß läßt sich zumindest, wie bereits angesprochen, für die Korps- und Divisionsebene klar
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10-Tagesmeldung des Kommandierenden Generals, 1. 3.1943, an den OB Südost: „Diejenigen Banden, die jetzt noch ihr Unwesen treiben, sind wahrscheinlich durch noch so scharfe Sühnemaßnahmen nicht zu beeindrucken", BA-MA, RW 40/39. Der Verfasser bereitet gegenwärtig eine umfangreichere Arbeit zum Kriegsschauplatz Jugoslawien vor, in der auch diese Frage eine ausführliche Untersuchung erfahren wird. Zum Wirken Meyszners im serbischen Raum vermerkte im August 1943 ein Besucher vom O K H in seinem Reisebericht: „Der Leitsatz des Höheren SS- und Polizeiführers: ,Είη toter Serbe ist mir lieber als ein lebendiger', scheint allgemein bekannt zu sein", BA-MA, R H 2/682. Auf Betreiben Neubachers wurde Meyszner schließlich am 15.3. 1944 abberufen.
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belegen. Inwiefern es sich hierbei um den Schluß- oder den Ausgangspunkt einer Entwicklung handelt, ist schwer zu beurteilen und wäre sicherlich noch eine ausführlichere Untersuchung wert.
Peter Klein Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord Das Schicksal der Berliner Juden und die Rolle der Einsatzgruppen bei dem Versuch, Juden als Partisanen „auszurotten"
Die Ergebnisse der Kompetenzabsprachen zwischen Sicherheitspolizei und Heer sowie die sogenannten verbrecherischen Befehle der Wehrmacht gehören seit langer Zeit zu den fundierten Erkenntnissen in der Historiographie. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Darstellung der Einbindung der Einsatzgruppen und Polizeieinheiten in die militärischen Kriegsvorbereitungen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt. Es soll gezeigt werden, daß der Massenmord an den Juden in der Sowjetunion bereits im Frühjahr 1941 Bestandteil der Planungen war und zunächst nicht für diejenigen Juden aus dem deutschen Machtbereich galt, die zwischen November 1941 und Januar 1942 in diese Gebiete deportiert wurden. Ferner soll die Tätigkeit der Einsatzgruppen beim Kampf gegen Partisanen definiert werden. Während zu Beginn der Planungen sowohl bei der Wehrmacht als auch bei den Einsatzgruppen Juden als politisch-ideologische Gegner galten, entwickelte sich im Verlauf des Krieges die Vorstellung von Juden als Partisanen oder mindestens „Bandenunterstützer". In der Konsequenz wurden sie während der sogenannten Bandenkampfunternehmen seit 1942 mit ermordet. Daß mit dieser Erweiterung des Feindbegriffs „vom Juden als Partisan" eine weitere vorgebliche Begründung zur rücksichtslosen militärischen und polizeilichen „Befriedung" der neu gewonnenen Territorien geliefert wurde, liegt auf der Hand. Inwieweit der Massenmord an den sowjetischen Juden die Wehrmacht nur noch tiefer in diese Verbrechen involvierte, kann dabei lediglich angedeutet werden. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die beim Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 aus ihren Bereitstellungsräumen heraus hinter der Wehrmacht auf das zu erobernde Territorium vordrangen, gehören zu den bekanntesten Einheiten, die den ideologischen und rassistischen Vernichtungskrieg gegen „den Bolschewismus" auszuführen hatten. Seit dem Nürnberger Internationalen Militärtribunal und dem nachfolgenden Prozeß der Amerikaner gegen einige Mitglieder der Einsatzgruppen ließen sich Verfolgung und Massenmord an den Juden in den Jahren zwischen 1941 und 1945 unmißverständlich herausarbeiten: Etwa 3000 Personen, aufgeteilt in vier Gruppen, hatten während einer intensiven Vorbereitung in der sächsischen Grenzpolizeischule in Pretzsch den Befehl erhalten, im Rücken der Wehrmacht durch Massenerschießungsaktionen die Juden zu ermorden. Die Angeklagten gestanden die Massaker, der Kreis der Mörder schien überschaubar. Dazu kam, daß ein eindeutiger Mordbefehl bezeugt wurde, der vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD vor dem Angriff an die Leiter der Ein-
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satzgruppen weitergegeben worden war. Letztlich war eine Fülle von zeitgenössischen Dokumenten überliefert, die aus der Befehlszentrale, dem Reichssicherheitshauptamt, stammten. In ihnen wurde ohne jede Tarnsprache der augenblickliche Stand des Massenmordes in der jeweiligen Region referiert. Doch diese augenscheinliche Eindeutigkeit des Befehls, die kleine Zahl der Mörder sowie die schriftlich überlieferten „Leistungen" hielten einer geschichtswissenschaftlichen Uberprüfung nicht lange stand'. Wie schon im Falle der Besetzung Österreichs, der Annektierung der Tschechoslowakei und dem Uberfall auf Polen basierte die Verwendung von sicherheitspolizeilichen Einsatzgruppen auf dem Prinzip, möglichst während des Vormarsches bewaffneter Truppen Exekutivmaßnahmen gegen potentielle Feinde durchführen zu können und nachrichtendienstlich relevantes Material unzerstört in Besitz zu bekommen. Die Vorgehensweise der Einsatzgruppen in Polen hatte jedoch zu ernsthaften Reibungen mit den Armeeoberkommandos geführt. Der Krieg gegen Polen wurde von Hitler und Himmler nicht nur im Sinne einer Revision von „Versailles" geführt. Vielmehr sollte der polnische Staat endgültig zerschlagen werden, wobei die eingegliederten westpolnischen Gebiete zum Aufnahmegebiet der „heim ins Reich" zu verbringenden „Volksdeutschen" aus dem Osten und Südosten Europas werden sollten. Die fünf Einsatzgruppen, die im Laufe des Krieges noch durch weitere SS- und Polizeiformationen ergänzt wurden, hatten daher einen klassischen sicherheitspolizeilichen Auftrag - den Kampf gegen nationalkonservativ eingestellte Patrioten und einen rassenideologischen, nämlich die Konzentrierung der polnischen Juden zur späteren Abschiebung in ein projektiertes „Reservat". Aus der Perspektive der militärischen Befehlshaber, die über diesen Sachverhalt nur mangelhaft unterrichtet waren, mußten die Erschießungen von unbewaffneten polnischen Intellektuellen und Juden als Willkürakte erscheinen, deren summarische Durchführung zudem die hoheitlichen Befugnisse des Oberbefehlshabers des Heeres verletzten. Doch die Sicherheitspolizei und der SD handelten hier ganz im Sinne Hitlers 2 . Beim geplanten „Unternehmen Barbarossa", dem Angriff auf die Sowjetunion, sollten solche schwerwiegenden Differenzen zwischen Wehrmacht und Einsatzgruppen über das Ziel des Krieges von allen Seiten vermieden werden. Es gehört zu den Desiderata der Geschichtswissenschaft, daß eine genaue Rekonstruktion des Einsatzziels von Sicherheitspolizei und SD aus der zeitgenössischen Überlieferung nahezu unmöglich ist. Umgekehrt lassen sich über die Planungsphase zum Angriff auf die Sowjetunion innerhalb der Wehrmachtführung sehr detaillierte Erkenntnisse gewinnen. Während man im Hinblick auf das Militär ganz allgemein in der Lage ist, die Sicherungsmaßnahmen vor Ort auf eine strategische Planung zurückzuführen, so ist man im Falle der Einsatzgruppen darauf angewiesen, von den Einsätzen vor Ort auf einen ursprünglichen Auftrag zu schließen. Immerhin läßt sich aus der Überlieferung zur mili-
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Zum derzeitigen Forschungsstand siehe die Zusammenfassungen bei Ueberschär, Mord; Matthäus, Perspektiven; Streit, Kameraden (Neuausgabe 1997), S. 18-26. Krausnick, Hitler; Müller, Vorgeschichte.
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tärischen Planung entnehmen, wie das Verhältnis von Polizei zum Heer geregelt wurde. Ende Januar, Anfang Februar 1941 waren die ersten Absprachen zwischen Brauchitsch und Heydrich über den Einsatz von Polizeiverbänden beim Angriff auf die Sowjetunion erfolgt. Das „Sonderkommando Künsberg" des Auswärtigen Amts sollte in die Einsatzgruppen integriert werden, und Heydrich erklärte während der diesbezüglichen Verhandlungen, seine Unterredungen mit dem Oberbefehlshaber des Heeres liefen erfolgreich. Polizeiverbände würden in Verbindung mit dem Heer Sonderaufgaben übernehmen und eine förmliche Vereinbarung stünde kurz vor dem Abschluß 3 . Nachdem General Alfred Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), am 3. März Hitlers inhaltliche Vorstellungen für die „Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung 21 (Fall Barbarossa)" an die Abteilung Landesverteidigung im O K W weitergegeben hatte, legte diese am 13. März einen ausformulierten Entwurf Keitel zur Unterzeichnung vor. Dieser Entwurf begrenzte nun die vollziehende Gewalt des O b d H im Operationsgebiet in vierfacher Hinsicht: Das Operationsgebiet sollte in seiner Tiefe soweit als möglich beschränkt sein. Sobald eine ausreichende Tiefe in das Feindesland hinein erreicht war, sollte das Operationsgebiet rückwärts begrenzt und analog der „volkstumsmäßigen" Grundlagen und in Anlehnung an die Grenzen der Heeresgruppen zunächst in Nord (Baltikum), Mitte (Weißrußland) und Süd (Ukraine) unterteilt werden. Hier wurden später die Reichskommisare Hinrich Lohse für das „Ostland" (Baltikum, Weißrußland) und der Gauleiter Ostpreußens sowie Chef der Zivilverwaltung im Bezirk Bialystok, Erich Koch (Reichskommissariat Ukraine), eingesetzt. Die zweite Einschränkung der vollziehenden Gewalt des O b d H bedeutete eine Erweiterung der Befugnisse Himmlers: „Im Operationsgebiet des Heeres erhält der Reichsführer SS zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben im Auftrage des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme ergeben. Im Rahmen dieser Aufgaben handelt der Reichsführer SS selbständig und in eigener Verantwortung . . . Näheres regelt das O K H mit dem Reichsführer SS unmittelbar" 4 . Die dritte Begrenzung erfolgte hinsichtlich der Leitung der Wirtschaftsverwaltung im Operationsgebiet und in den späteren Reichskommissariaten. Auf Wunsch Hitlers wurde hier Hermann Göring mit der einheitlichen Leitung beauftragt, der diese Aufgaben dem Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes übertragen hatte 5 . Abschließend sollten das Verhalten der Truppe gegenüber der Bevölkerung und die Aufgaben der Wehrmachtgerichte noch gesondert befohlen werden, was wenig später in den Erlaß Hitlers über „die Ausübung der Kriegsgerichtsbar-
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Breitman, Architekt, S. 1 9 5 - 1 9 6 . Richtlinienentwurf zit. n. Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 1 6 6 - 1 6 9 . Kurzbiographien Lohses und Kochs in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S. 86. Jacobsen, Kommissarbefehl, S.168.
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keit im Gebiet .Barbarossa' und über besondere Maßnahmen der Truppen" mündete 6 . Auf der Grundlage dieses Entwurfs führten Heydrich und der Generalquartiermeister des Heeres am 25. März die abschließenden Detailverhandlungen, die einen Tag später schriftlich niedergelegt wurden. Nun wurde das Operationsgebiet rückwärts der Front in mehrere rückwärtige Armeegebiete unterteilt. Daran schlossen sich analog zu den vormarschierenden drei großen Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd drei rückwärtige Heeresgebiete an. Die Einsatzgruppen (EG) wurden in sogenannte Sonderkommandos (Sk) und Einsatzkomandos (Ek) aufgeteilt. Während die Sonderkommandos in den rückwärtigen Armeegebieten eingesetzt werden sollten, wurden die Einsatzkommandos in den drei rückwärtigen Heeresgebieten tätig. Im Auftrage Heydrichs sollten jetzt die Führer der Sk den Oberbefehlshabern der jeweiligen Armee, die Einsatzgruppenführer den Befehlshabern in den rückwärtigen Heeresgebieten berichtspflichtig sein. Es blieb jedoch klar festgelegt, daß alle Polizeiformationen von Sipo/SD in eigener Verantwortlichkeit handelten und ihre fachliche, disziplinarische und gerichtliche Unterstellung unter Heydrich uneingeschränkt fortbestand. Eine eindeutige Unterstellung der Ek- und Sk-Formationen unter militärische Kommandogewalt bestand lediglich hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung. Einschränkende Anordnungen konnten von den Armeen jedoch dann erlassen werden, wenn sie zur Vermeidung von Störungen während militärischer Operationen notwendig waren. Im Falle der der Front näher liegenden Sk-Formationen konnte der Armeeoberbefehlshaber bestimmte Gebiete ausschließen, in denen ein Auftreten der Sk Störungen der Kämpfe hervorzurufen geeignet erschienen. Die jeweiligen Ansprechpartner der Ek- und Sk-Führer waren die Ic-Offiziere der Kommandeure der rückwärtigen Armeegebiete (Korück) bzw. der Befehlshaber des jeweiligen rückwärtigen Heeresgebietes (Berück). Diesen kam eine bestimmte Harmonisierungsaufgabe zu, wenn sie die Aufträge Heydrichs an die Sipo/SD-Führer mit operativen militärischen Notwendigkeiten und den abwehrpolizeilichen Befugnissen der eingesetzten Geheimen Feldpolizei koordinieren sollten. Ek- und Sk-Formationen waren berechtigt, im Rahmen ihres Auftrages in eigener Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung Exekutivmaßnahmen zu treffen. Ansonsten waren ihre Aufgaben getrennt angegeben: ,,a) Im rückwärtigen Armeegebiet: Sicherstellung vor Beginn von Operationen festgelegter Objekte (Material, 6
Sog. „Kriegsgerichtsbarkeitserlaß" Hitlers vom 14. 5 . 1 9 4 1 . In ihm wurde die Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen geregelt, indem diese der üblichen Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte entzogen wurden und angreifende Zivilpersonen, Freischärler oder auch nur Tatverdächtige (nach Entscheidung eines Offiziers) von der Truppe getötet werden sollten. Bei Vergehen oder Verbrechen von deutschen Truppenangehörigen gegen Zivilpersonen bestand hingegen kein Verfolgungszwang, da die „spätere Leidenszeit des deutschen Volkes [nach 1918] und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern der Bewegung entscheidend auf bolschewistischen Einfluß zurückzuführen war und kein Deutscher dies vergessen hat". Lediglich zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder zur Sicherung der Truppe sollte eine Verfahrenseinleitung durch den Gerichtsherrn dienen, zit. n. Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 1 8 1 - 1 8 4 .
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Archive, Karteien von reichs- oder staatsfeindlichen Organisationen, Verbänden, Gruppen usw.) sowie besonders wichtigen Einzelpersonen (führende Emigranten, Saboteure, Terroristen u s w . ) . . . b) im rückwärtigen Heeresgebiet: Erforschung und Bekämpfung der staats- und reichsfeindlichen Bestrebungen, soweit sie nicht der feindlichen Wehrmacht eingegliedert sind, sowie allgemeine Unterrichtung der Befehlshaber der rückwärtigen Heresgebiete über die politische Lage" 7 . An diesem Tag der schriftlichen Fixierung des von Heydrich und Wagner ausgehandelten Entwurfs hatte Heydrich einen Vortragstermin bei Hermann Goring, der vom Antrittsbesuch des japanischen Botschafters Oshima beim Reichsmarschall kurzzeitig unterbrochen wurde 8 . Heydrichs zusammenfassender Aktenvermerk vom 26. März 1941 über diesen Vortrag wurde jüngst in einem Moskauer Archiv gefunden 9 . Von 15 Besprechungspunkten sind drei dem Angriff auf die Sowjetunion gewidmet, wobei Heydrich nicht nur als Chef der Sicherheitspolizei und des SD vortrug, sondern auch in seiner Eigenschaft als von Göring eingesetzter Beauftragter für die „Lösung der Judenfrage" 1 0 . Heydrich legte hier einen Entwurf „bezüglich der Lösung der Judenfrage" vor, dem Göring grundsätzlich zustimmte, aber eine Änderung bezüglich der Zuständigkeit Rosenbergs forderte und anschließend Wiedervorlage befahl. Anschließend wandte sich Göring an Heydrich mit dem Vorschlag, „daß bei einem Einsatz in Rußland wir eine ganz kurze, 3—4seitige Unterrichtung vorbereiten sollten, die die Truppe mitbekommen könne, über die Gefährlichkeit der GPU-Organisation, der Polit-Kommissare, Juden usw., damit sie wisse, wen sie praktisch an die Wand zu stellen habe" 11 . Letztlich betonte Göring, daß die Wehrmacht keinesfalls bei einem Angriff auf die Sowjetunion die vollziehende Gewalt im Sinne einer Militärverwaltung hätte. Er selbst hätte durch einen bereits von Hitler gezeichneten Erlaß die volle Gesamtverfügung hinter den vorrückenden Truppen, „insbesondere wegen der Sicherstellung der notwendigen Industrien . . . Selbstverständlich werde er hier den Reichsführer-SS weitgehend selbständig zur Geltung kommen lassen" 12 . Diese Äußerung Görings stand im Zusammenhang mit dem von Hitler an ihn gegebenen Auftrag, die zu besetzenden Gebiete der Sowjetunion unter Beteiligung des Generals Thomas wirtschaftlich auszubeuten 13 . Nachdem Göring 7 8 9
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Zit. n. ebd., S. 1 7 0 - 1 7 3 . Terminkalender Görings, Eintrag 26. 3. 1941, 11 Uhr 45 bis 13 Uhr 15, IfZ, ED 180/5. Zentrcij Chranenija Istoriko-Dokumental'nych Kollekcij (Sonderarchiv Moskau), 5 0 0 - 3 - 7 9 5 , Bl. 1 4 0 - 1 4 5 . Die drei Besprechungspunkte Heydrichs sind abgedr. in: Klein (Hrsg.), Einsatzgruppen, S. 367-368. Ebd., S. 367. Ebd., S. 368. Der Auftrag von Hitler an Göring war anläßlich eines Vortrages des Reichsmarschalls am 19. 2. 1941 auf dem Obersalzberg ergangen. A m Parteigriindungstag kam es zu keinem Treffen zwischen Göring und Hitler, Terminkalender Görings, Einträge 19. 2. 1941, 14 U h r bis 17 Uhr und 24. 2. 1941 in Berlin, IfZ, ED 180/5.
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diese Weisung Hitlers an den Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes (WiRü-Amt) weitergegeben hatte, entwickelte Thomas die konzeptionellen Grundlagen für eine zentralistisch aufgebaute Wirtschaftsorganisation Ost. Sie sollte unter der Schirmherrschaft des Reichsmarschalls die weitgehende Autonomie der drei Wehrmachtteile in Rüstungsfragen sowie die Kompetenzen des Reichswirtschaftsministeriums in solchen Fragen beschneiden. Dem „Wirtschaftsstab Ost" wurde ein „Wirtschaftsführungsstab" vorangestellt, dessen Leitung in Vertretung Görings von dessen Staatssekretär Körner geführt wurde. Dieses Organisationsschema zur umfassenden Ausbeutung der besetzten Sowjetunion, an dessen federführende Spitze Thomas sich selbst setzte, wurde von Göring am 19. März 1941 genehmigt. Der vorliegende Vermerk Heydrichs zeigt jedoch deutlich, daß der Beauftragte für den Vierjahresplan die „volle Gesamtverfügung" über die Wirtschaftsführung sich selbst vorbehielt. Göring beschnitt in der Folge die von Thomas angestrebte Führungskompetenz, indem er ihn lediglich als ein Mitglied im „Wirtschaftsführungsstab Ost" bezeichnete und den Chef des WiRü-Amtes in diesem Gremium mit den Spitzen der Vierjahresplan-Administration einrahmte 14 . Ohne diesen Aktenvermerk als Schlüsseldokument zu betrachten, ergeben sich für den März 1941 ebenfalls eindeutige Hinweise auf Heydrichs Konzeption zur „Lösung der Judenfrage" im europäischen Machtbereich. Heydrich hatte nicht zum ersten Mal einen solchen Entwurf vorgelegt. Am 21. Januar 1941 hatte der Fachreferent für Judenfragen bei der Sicherheitspolizei in Paris, Theodor Dannecker, dem deutschen Botschafter eine Aufzeichnung über die Schaffung eines Zentralen Judenamtes in der französischen Hauptstadt überreicht: „Gemäß dem Willen des Führers soll nach dem Kriege die Judenfrage innerhalb der von Deutschland beherrschten oder kontrollierten Teile Europas einer endgültigen Lösung zugeführt werden. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD hat bereits vom Führer über den Reichsführer-SS, bezw. durch den Reichsmarschall Auftrag zur Vorlage eines Endlösungsprojektes erhalten. Auf Grund der bei den Dienststellen des CdS und des SD vorhandenen umfangreichen Erfahrungen in der Judenbehandlung und dank der seit längerer Zeit geleisteten Vorarbeiten wurde dann das Projekt in seinen wesentlichsten Zügen ausgearbeitet. Es liegt dem Führer und dem Reichsmarschall vor" 15 . Wohin die Juden im deutschen Machtbereich zwangsweise ausgesiedelt werden sollten, wußte man auf Seiten der Sicherheitspolizei anscheinend auch noch nicht. Dannecker selbst erwähnte in der Aufzeichnung ein noch zu bestimmendes Territorium, wohingegen Heydrich und der Amtschef I des RSHA, Bruno Streckenbach, in zwei Schreiben an den Leiter der Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt nur vage ein zukünftiges Bestimmungsland erwähnten 16 . Anläßlich einer Unterredung mit Staatssekretär Gutterer im Propagandaministerium bemerkte Eichmann am 20. März, daß
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Die Initiativen des Generals Thomas beim A u f b a u einer Wirtschaftsorganisation Ost sind detailliert wiedergegeben bei Müller, Wirtschaftsallianz, S. 1 2 9 - 1 3 5 . Klarsfeld, Vichy, S. 3 6 1 - 3 6 3 . Schreiben Heydrichs, 5 . 2 . 1941, an Martin Luther u. Schreiben Streckenbachs, 14.2. 1941, an Martin Luther, A A , Inland II A/B 80/41 Sdh III.
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„Heydrich, der vom Führer mit der endgültigen Judenevakuierung beauftragt sei, dem Führer vor 8-10 Wochen einen Vorschlag vorgelegt habe, der nur deshalb nicht zur Ausführung gelangt sei, weil das Generalgouvernement z. Zt. nicht in der Lage sei, einen Juden oder einen Polen aus dem Altreich aufzunehmen" 1 7 . Bei Eichmanns Worten bleibt unklar, ob er selbst den gescheiterten 3. Nahplan zur Deportation von über 800 000 Menschen aus den eingegliederten Ostgebieten mit einer strategisch angelegten Territorialkonzeption Heydrichs verbunden hatte, oder ob das Generalgouvernement tatsächlich alle Juden im deutschen Machtbereich hätte aufnehmen sollen. Da Hitler am 17. März 1941 dem Generalgouverneur Frank zugesichert hatte, daß auch sein Gebiet „judenfrei" gemacht werde, muß in diesen Tagen eine Entscheidung von Heydrich hinsichtlich eines künftigen Aufnahmegebiets getroffen worden sein. Da Göring in Bezug auf die Kompetenzen des designierten Reichsministers für die besetzten Ostgebiete bestimmte Änderungen wünschte, liegt es nahe, daß Heydrich die zu besetzenden sowjetischen Gebiete als Aufnahmeterritorium für die Juden im deutschen Machtbereich vorgeschlagen hatte. Göring als unmittelbarer Vorgesetzter Heydrichs in diesen Fragen stimmte am 26. März 1941 einem Deportationsprojekt zu, das fortan zeitlich und territorial an die Niederlage der Sowjetunion gebunden schien. Das Schicksal der Juden in der Sowjetunion bildete einen eigenen Besprechungspunkt, der von Göring angeschnitten wurde. Nach seinen Vorstellungen sollte die Sicherheitspolizei eine schriftliche Ausarbeitung für die einzusetzenden Wehrmachteinheiten entwerfen, in der der politisch-ideologische Gegner fixiert wurde. In der Aufzählung werden die Juden ohne jegliche Spezifizierung nach Geschlecht, Alter oder Funktion genannt, die wie „Politkommissare" oder Mitglieder der GPU erschossen werden sollten. Ohne eine Initiative Heydrichs zur Abfassung eines solchen Papiers nachweisen zu können, erinnert diese Anregung Görings an die aus dem Juni 1941 stammenden „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland". In ihnen heißt es: „I. 1. Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägern gilt unser Kampf. 2. Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven oder passiven Widerstandes" 1 8 . Der Vorschlag Görings fügt sich nahtlos ein in eine Vielzahl an Dokumenten, anhand derer der Krieg gegen die Sowjetunion von allen Historikern, die sich damit beschäftigten, mit Ausnahme der wenigen aus dem ultrarechten Lager, als rassenideologisch motivierter Vernichtungskrieg charakterisiert wird 1 9 . Bei der Diskussion um die Weitergabe eines auch jüdische Frauen und Kinder in der Sowjetunion umfassenden Mordbefehls an die Mitglieder der Einsatzgruppen
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Adler, Mensch, S.152. Zit. n. Jacobsen, Kommissarbefehl, S. 187. Vgl. z.B. Jacobsen, Kommissarbefehl; Krausnick, Kommissarbefehl; ders./Wilhelm, Truppe; Streit, Kameraden, S. 2 8 - 6 1 .
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sollte stets bedacht werden, daß sich Göring und Heydrich im März 1941 hinsichtlich der Opfer schon einig waren 2 0 . Auch ist Heydrichs Anweisung an die vier Einsatzgruppenchefs vom 29. Juni 1941, wonach ihre Einheiten „Selbstreinigungsbestrebungen" von antikommunistischen und antisemitischen Kreisen auslösen und intensivieren sollten, nur als Anstachelung zu wilden Pogromen zu verstehen, bei denen keinerlei Rücksichten mehr genommen werden sollten 21 . Aus dieser Perspektive scheint es, daß Heydrichs nachträgliche Einweisung der vier Höheren SS- und Polizeiführer in die Aufgaben der Sicherheitspolizei und des SD im Osten, wonach u.a. „Juden in Partei- und Staatsstellungen" zu exekutieren seien, nur als vordergründige Eingrenzung zu werten ist 22 . Bereits am 27. Juni hatte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD die vier Führer der Einsatzgruppen angewiesen, mit den für ihren Bereich zuständigen HSSPF Verbindung aufzunehmen und ihnen persönlich die grundsätzlichen Weisungen für den Einsatz der Einsatzgruppen mündlich mitzuteilen 23 . Die Debatte um die Weitergabe eines Befehls zum unterschiedslosen Mord an allen Juden in der Sowjetunion wurde in erster Linie anhand von Zeugenaussagen oder von Vernehmungen geführt. Blickt man nun auf den Verteiler von Heydrichs Aktenvermerk, so tauchen dort neben Müller, Eichmann, Schellenberg und Jost auch Otto Ohlendorf und Alfred Filbert auf. Ist es ein Zufall, daß gerade die beiden Letzteren als Angeklagte in ihren Strafverfahren aussagten, sie würden sich an einen allgemeinen Judenvernichtungsbefehl bereits vor dem Angriff auf die Sowjetunion erinnern 24 ? Man müßte ihren Wissensstand wohl ganz anders bewerten als etwa die Kenntnisse eines Mannschaftsdienstgrades in einem Einsatzkommando, der zum Zeitpunkt der Abfassung des Aktenvermerkes noch Angehöriger eines Polizeireservebataillons war. Ohnehin wird man sich die Weitergabe eines solchen Befehls nicht so vorstellen dürfen, daß Heydrich oder Streckenbach vor den angetretenen Mitgliedern der vier Einsatzgruppen einen förmlichen Massenmordauftrag verkündeten. Es ist eher davon auszugehen, daß die Führer der Einsatzgruppen wußten, daß sie zur Sicherung der rückwärtigen Gebiete ein präventives, uneingeschränktes und völkerrechtswidriges Massenmordgebot erhalten hatten, welches die Erschießung von jüdischen Frauen und Kindern nicht untersagte. Aus den Worten Heydrichs oder Streckenbachs in Pretzsch oder Berlin konnten sie viel direktere Schlüsse ziehen. Da aus der Recherche, wann welche Formationen der Einsatzgruppen erstmals Frauen und Kinder erschossen, keine lineare Chronologie gezogen werden kann, ist vielmehr davon auszugehen, daß diese Maßnahmen situativ
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Fleming, Hitler, S. 55; Wilhelm, Einsatzgruppen; Krausnick, Hitler; Streim, Eröffnung; Headland, Einsatzgruppen; Streit, Ostkrieg; Longerich, Massenmord; Cesarani (Hrsg.), Final Solution; Breitman, Architekt, S. 2 2 2 - 3 0 1 ; Ogorreck, Einsatzgruppen. Fernschreiben Heydrichs, 29. 6. 1941, abgedr. in: Klein (Hrsg.), Einsatzgruppen, S. 3 1 8 - 3 1 9 . Ebd., S. 3 2 3 - 3 2 8 ; Longerich, Massenmord, S.258-259. Klein (Hrsg.), Einsatzgruppen, S. 318. Otto Ohlendorf war Chef der Einsatzgruppe D bis Juli 1942, Filbert Chef des Ek 9 der Einsatzgruppe Β bis Oktober 1941. Zu ihren Aussagen siehe Ogorreck, Einsatzgruppen, S. 4 7 - 5 6 , 74-76.
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bedingt entschieden wurden 2 5 . Es gab in den ersten sechs bis acht Wochen des Vormarsches für die Einsatzgruppen ja nicht nur den Auftrag zum Judenmord. Es galt Kriegs- und Zivilgefangenenlager sowie Gefängnisse zu „durchkämmen", Hinweisen auf Kommunisten nachzugehen, Kollaborateure auf Zuverlässigkeit zu überprüfen und einzuweisen, ständigen Kontakt zu den Armeeführern zu halten sowie Aktenbestände zu sichern und auszuwerten. Darüber hinaus hatten die einzelnen Kommandos jederzeit eine Zugriffsmöglichkeit auf die Juden, da jene äußerlich gekennzeichnet und in Ghettos eingesperrt waren. Es gibt bei der historischen Rekonstruktion der Massenmorde nur ganz wenige Fälle, bei denen das Töten von Juden nicht „geboten" war und es deswegen zu Konflikten zwischen den Besatzungsorganisationen kam. In der Regel protestierten hier mit mehr oder weniger Erfolg die Zivilverwaltung und die Wehrmacht vor Ort 2 6 . Der folgende Vorfall war jedoch von grundsätzlicherer Bedeutung. A m 27. November 1941 verließ der 7. Deportationstransport mit rund 1030 Berliner Juden die Reichshauptstadt. Nachdem es bei der Organisation der ersten Transporte aus Deutschland in das Ghetto von Lodz schon seit September erhebliche Probleme mit den dortigen Kommunalbehörden gegeben hatte, mußte Heydrich reagieren. Am 10. Oktober 1941 äußerte er sich während einer Sitzung „über die Lösung von Judenfragen" in Prag sowohl in seiner Eigenschaft als Chef der Sicherheitspolizei und des SD als auch als Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Mit dem Hinweis, daß vorläufig auf die „Litzmannstädter" Behörden noch viel Rücksicht genommen werden müsse, erwähnte er unter anderem, daß die Städte Minsk und Riga 50 000 Juden aufnehmen müßten. Weiterhin zeigen die Notizen, daß Heydrich aus den Schwierigkeiten gelernt hatte, die der Versuch einer Verschleppung von zunächst 60000 Menschen in das überfüllte Ghetto von „Litzmannstadt" erzeugt hatte. Wenn Deportationen an den Zielorten die Interessen der etablierten Zivilverwaltung und der Wehrmacht störten, so sollten „seine" tschechischen
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Detaillierte zeitgenössische Dokumente, wie etwa der sogenannte „Jäger-Bericht" (benannt nach dem Verfasser, der der Leiter des Ek 3 der EG A/KdS Litauen in Kaunas war) sind nicht mehr überliefert. Der erste Bericht Jägers, 10. 9. 1941, an den Leiter der Einsatzgruppe A, Walther Stahlecker, listet unter dem 15. u. 16. 8. 1941 in Rokiskis „3200 Juden (Frauen und Kinder), 5 lit. Kommunisten, 1 Partisane, 1 Pole" als erschossen auf, Sonderarchiv Moskau 5 0 0 - 1 - 2 5 , Bl. 105. Eine Gesamtaufstellung Jägers über die Zahl der Ermordeten vom 1. 12. 1941 ist abgedr. in: Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse, Anhang. Bei den Kommandos der EG Β ist eine auf den Tag genaue Datierung nicht möglich, vgl. hierzu Gerlach, Einsatzgruppe, S. 58-59. Das Sk 4a der EG C erschoß wahrscheinlich Ende Juli jüdische Frauen und Kinder im Raum Berdiscev, vgl. hierzu Pohl, Einsatzgruppe, S. 74. Das Sk 1 l b der EG D erschoß sehr wahrscheinlich am 6. 8. 1941 in Tighina erstmals auch Frauen und Kinder, vgl. hierzu Angrick, Einsatzgruppe, S. 94-95. Diese Daten geben weiterhin nicht die in Lettland, Litauen, in der Ukraine und im rumänisch-russischen Grenzgebiet stattgefundenen Pogrome wieder, so daß der Aspekt einer Duldung von Gewalttaten gegen jüdische Frauen und Kinder seitens der E G nicht berücksichtigt ist.
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Vgl. dazu etwa die Äußerungen des Leiters des Ek 3 in der Gesamtaufstellung vom 1. 12. 1941 über die Schwierigkeiten des „Rollkommandos Hamann" mit der Wehrmacht und Zivilverwaltung beim Massenmord an den Juden in Litauen, in: Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse, Anhang. Eine kritische Würdigung solcher Proteste aus der Zivilverwaltung bietet mit weiteren Beispielen aus Lettland und Weißrußland Danker, Versuch.
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Juden zunächst in einem oder zwei Ghettos innerhalb des Protektorats konzentriert werden, welche ausschließlich unter der Kontrolle von Sicherheitspolizei und SD standen, und zwar solange, bis ein endgültiges Ziel gefunden war. Es war kein Zufall, daß das bei der Besprechung am 10. Oktober in Prag Gestalt annehmende Ghetto Theresienstadt unter der Leitung der Prager Zentralstelle für jüdische Auswanderung stand 27 . Am folgenden Tag erschien der Chef der Einsatzgruppe Α und Befehlshaber der Sicherheitspolizei im Ostland beim Generalkommissar in Riga und teilte mit, „daß dem Wunsch des Führers entsprechend im Raum Riga, Mitau, Tukkum ein großes Konzentrationslager für aus dem Protektorat und dem Reich ausgewiesene Juden errichtet werden sollte" 28 . Dieses Lager sollte aus Holzbaracken in der Nähe von Salaspils gebaut werden, jedoch sorgte der Mangel an Arbeitskräften und Materialien dafür, daß die Errichtung sich bis in das Frühjahr 1942 hinzog. Am 8. November 1941 informierte der Leiter des Ek 2 und spätere KdS Lettland, Dr. Rudolf Lange, den Reichskommissar für das Ostland über die geplante Ankunft der Juden aus dem Reichsgebiet und dem Protektorat. Für Riga und Minsk waren je 25000 Menschen vorgesehen. In zwei zeitlich nahezu parallel verlaufenden Wellen sollten sie von Mitte November bis Mitte Dezember 1941 und noch einmal zwischen dem 10. und 29. Januar 1942 verschleppt werden. Weiterhin wurde die Möglichkeit angesprochen, die ersten fünf vorgesehenen Transporte nach Riga „in das Ghetto in Kauen einzuweisen". Letztlich sollten, so Lange, wegen der Verzögerungen beim Aufbau des Lagers Salaspils „die ehemaligen Truppenbarakken im Jungfernhof (rechts der Straße Riga-Dünaburg, zwischen Riga und Salaspils) Unterbringungsmöglichkeiten" für die ersten Transporte bieten 29 . Am 28. Oktober waren knapp 10000 Juden des Ghettos in Kaunas und am 7. November mehrere tausend Insassen des Minsker Ghettos erschossen worden, um auf diese Weise Platz für die deutschen Juden zu schaffen. Im Laufe des November erreichten nun über 7000 Juden Minsk und über 5000 Juden Kaunas. Während die deutschen Juden im Minsker Ghetto ein abgegrenztes Areal zugewiesen bekamen, wurden die nach Kaunas deportierten Juden am 25. und am 29. November im Festungsgraben des Forts IX erschossen 30 . Der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der seit dem 31. Oktober 1941 als Himmlers regionaler Stellvertreter tätig war, plante für den 30. November eine ähnliche Aktion mit dem Ziel, das Ghetto in der Moskauer Vor-
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Zu der Deportationsentscheidung Hitlers siehe Witte, Entscheidungen. Zu den Kontroversen über weitere „Einsiedlungen" in das Ghetto siehe BA, N S 19, 2655. Die Notizen über die Besprechung in Prag am 10. 10. 1941 sind abgedr. in: Karny/Milotova (Hrsg.), Politika, S. 1 2 8 - 1 3 2 . Aktennotiz des Generalkommissars in Riga, Dr. Drechsler, 11. 10. 1941, über ein Gespräch mit SS-Brigadeführer Stahlecker u. Anschreiben, 20. 10. 1941, an den Reichskommissar f ü r das Ostland, Y I V O , Occ Ε 3 - 2 9 . Schreiben Langes i. A. des BdS-Einsatzgruppe A , 8. 11. 1941, an den Reichskommissar für das Ostland, Y I V O , Occ Ε 3 - 3 1 . Zum Schicksal der Juden in Minsk und Kaunas und den dorthin deportierten deutschen Juden siehe Gerlach, Wannsee-Konferenz.
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Stadt Rigas bis auf die notwendigen jüdischen Facharbeiter zu liquidieren. Dieser Massenmord lag ganz auf der Linie der bisherigen Vernichtungsaktionen, jedoch entschied Jeckeln vor Ort, die an diesem Tag Riga erreichenden Berliner Juden seien in die Erschießungsaktionen mit einzubeziehen. In der Tat wurden die Berliner dann unmittelbar nach ihrer Ankunft am frühen Morgen des 30. November 1941 zusammen mit den Juden des Rigaer Ghettos ermordet. Dieser Mord war wenige Stunden später Gegenstand eines Telefonats zwischen Himmler im Führerhauptquartier und Heydrich in Prag. In Himmlers Telefonnotizen befindet sich die Anmerkung: „Judentransport aus Berlin keine Liquidierung" 3 1 . Diese Telefonnotiz Himmlers stimmte mit den Fakten nicht mehr überein, denn die Berliner Juden waren bereits seit Stunden tot. In der Historiographie konnte dieser Sachverhalt noch nicht geklärt werden; im folgenden soll ein Erklärungsangebot geliefert werden. Dabei geht der Autor von folgender Annahme aus: Der Massenmord vom 30. November 1941 im Rumbula-Wald in der Nähe Rigas war eine vom HSSPF organisierte und geleitete Aktion. Dies bestätigen eine Fülle von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg 3 2 . Zwei zeitgenössische Dokumente stützen diese Aussagen, wenn in einem Lagebericht des Ek 2 aus dem Januar 1942 und im sogenannten zweiten Stahlecker-Bericht diese Aktion deutlich abgesetzt als vom HSSPF Ostland geleitet und durchgeführt bezeichnet wird 3 3 . Nur in der "Ereignismeldung UdSSR 151" vom 5. Januar 1942 wird festgestellt, daß die Sicherheitspolizei einen Sondertrupp gestellt hatte 34 . Vor diesem Hintergrund seien nun zwei Zeugenaussagen von Emil Albert Heinrich Finnberg zitiert: „Im März 1942 hatte der damalige Oberführer Jeckeln in seiner Eigenschaft als Höherer SS- und Polizeiführer in Riga die Auflösung des Ghettos und die Beseitigung der Juden angeordnet. Dr. Lange, der damals Kommandeur der Sicherheitspolizei in Riga war, hat diesen Befehl abgelehnt. Daraufhin hat Oberführer Jeckeln Judenerschießungen durch die ihm unterstellten Polizeikräfte durchführen lassen. Ich weiß von dieser Angelegenheit, weil Dr. Lange eine entsprechende Unterstützung durch den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Heydrich haben wollte und über die Funkstation des BdS in Riga mit Berlin verkehrte. Da das Fernschreibnetz dem Höheren SS-und Polizeiführer unterstand, konnte Dr. Lange ohne dessen Kenntnis keine Nachrichten nach
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BA, NS 19/1438. StA/LG Hamburg, 141 Js 534/60. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg (ZStL), Ordner Verschiedenes Nr.18: „So wurden ... Anfang Dezember 1941 durch eine vom Höheren SS- und Polizeiführer angeordnete und geleitete Großaktion in Riga 2 7 8 0 0 ... Juden exekutiert". Im Stahlecker-Bericht vom 16. 10. 1 9 4 1 - 3 1 . 1. 1942 heißt es: „So wurden ... Anfang Dezember 1941 durch eine vom Höheren SS- und Polizeiführer angeordnete und durchgeführte Aktion in Riga 2 7 8 0 0 ... Juden exekutiert", Sonderarchiv Moskau, 500^1-91, Bl. 59 des Berichts. BA, R 58/214, Blatt 4 der Meldung.
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Berlin durchgeben. Dr. Stahlecker war in diesem Zeitpunkt schon gefallen und ein Nachfolger noch nicht eingesetzt" 35 . „Zur Person Langes möchte ich noch nachtragen, daß ich einmal erlebt habe, wie er sich Jeckeln widersetzte. Stahlecker muß wohl gerade gefallen gewesen sein. Lange lehnte es ab, die von Jeckeln befohlene Liquidation des Ghettos durchzuführen. Ich habe davon erfahren, weil er nämlich zu unserer Funkstelle kam, um unter Umgehung von Jeckeln den Entscheid von Heydrich und Himmler herbeizuführen. Diese untersagten die Exekutionen, Jeckeln ließ sie trotzdem durch seine Kräfte durchführen. Danach war das Verhältnis zwischen Lange und Jeckeln äußerst gespannt, worunter die gesamte Sicherheitspolizei litt" 36 . Diese Aussagen erwähnen einen prinzipiellen Streit zwischen dem nur Himmler verantwortlichen HSSPF und dem Leiter der KdS-Dienststelle in Riga, der seine Anweisungen auf dem Regelbefehlsweg nur von Stahlecker und Heydrich oder Jeckeln als regionalem Stellvertreter Himmlers bekommen konnte. Neben dem Fehler, daß Friedrich Jeckeln längst SS-Gruppenführer und nicht SSOberführer war, liegt das Problem dieser Aussage in der zeitlichen Datierung des Zwistes. Im März 1942 konnte es nämlich eine derartige Gesamtauflösung des Ghettos nicht gegeben haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Einsatz der deportierten Juden zur Zwangsarbeit zugunsten von Stadtverwaltung, Privatwirtschaft, Wehrmacht und Waffen-SS bereits etabliert. Im Frühjahr 1942 gab es im Raum Riga lediglich die sogenannte „Aktion Dünamünde", in der die arbeitsunfähigen deutschen Juden des Ghettos und des Jungfernhofs ermordet wurden. Diese kann jedoch von Finnberg nicht gemeint gewesen sein, da sie als von Lange in seiner Eigenschaft als KdS-Lettland organisiert rekonstruiert werden kann und keine Ghettoliquidierung bedeutete. Vor allem die zweite Aussage legt nahe, daß Finnberg den Tod Stahleckers am 23. März 1942 erwähnte, da es eigentlich dessen Aufgabe gewesen wäre, in dem erwähnten Zwist Stellung zu beziehen. Die zeitliche Verschiebung auf den März 1942 diente wohl der Selbstversicherung Finnbergs, daß Lange und nicht Stahlecker der Gegenspieler von Jeckeln war. Die einzige Ghettovernichtungsaktion, die Finnberg gemeint haben kann und die auch wirklich durchgeführt wurde, war die von Jeckeln befohlene und mit Hilfe von deutschen Ordnungspolizisten und lettischen Selbstschutzverbänden durchgeführte Massenerschießung am 30. November 1941. Aus der Perspektive Langes war der Massenmord an den lettischen Juden des Ghettos eine zweckvolle Tat. Die Ankunft der verschleppten deutschen Juden stand bevor, das Barackenlager bei Salaspils war noch nicht errichtet und der Jungfernhof nicht einmal umzäunt, so daß die meisten Deportierten nur in das Ghetto von Riga eingewiesen werden konnten. Da 25000 Menschen erwartet wurden,
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Finnberg war als promovierter Jurist v o r dem 22. 6. 1941 Fachreferent im RSHA/Amt II. Zum Zeitpunkt des hier beschriebenen Ereignisses war er Gerichtsoffizier in der Dienststelle des BdS Ostland in Riga. Zitat: Seine Aussage vom 13. 1. 1960, StA/LG Hamburg, 141 Js 534/60 ./. Maywald, Bd. 8, Bl. 5 0 4 - 5 0 5 . Aussage Finnbergs vom 26. 9. 1961, StA/LG Hamburg, 141 Js 534/60 ./. Arajs, Sbd. 4, Bl. 873-874.
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mußte diese Art der „Platzschaffung" nahezu alle lettischen Juden des Ghettos betreffen. Als Lange jedoch erfahren mußte, daß Jeckeln die am Tag der Exekution eintreffenden Berliner Juden gleich mit in die Aktion einbeziehen wollte, bedeutete dies für ihn eine nicht befehlsgemäße Ausweitung des Mordes auf deutsche Juden. Im weiteren erklärt Finnberg nun die von Lange unternommenen Schritte, um eine Klärung bei Heydrich und Himmler herbeizuführen. Da ihm unter Umgehung Jeckelns scheinbar nur der Funkweg nach Berlin offenstand und das R S H A diese Nachricht an Heydrich erst nach Prag weitergeben mußte, könnte hier die entscheidende Ursache für die zeitliche Verzögerung liegen, die über eintausend Berliner Juden das Leben kosten sollte. Das Telefonat zwischen Himmler und Heydrich über das Schicksal des Berliner Transports wird dann so aufzulösen sein, daß der Chef der Sicherheitspolizei und des SD um 13 Uhr 30 beim Reichsführer-SS anrief, um den Tod der Berliner Juden verhindern zu lassen. Als Fazit des Gesprächs notierte Himmler dann, daß die Deportierten nicht umgebracht werden sollten. Gestützt wird diese Erklärung durch einen Fernspruch am folgenden Tag, den Himmler an Jeckeln abschicken ließ und in dem er seinen HSSPF mit folgenden Worten zurechtwies: „Die in das Gebiet Ostland ausgesiedelten Juden sind nur nach den von mir bezw., vom Reichssicherheitshauptamt in meinem Auftrag gegebenen Richtlinien zu behandeln. Eigenmächtigkeiten, Zuwiederhandlungen werde ich bestrafen, gez. H. Himmler" 3 7 . Ob Himmler unmittelbar nach dem Telefonat Hitler verständigte, ist nicht beweisbar, aber er hatte die Möglichkeit dazu. A m Nachmittag und Abend des 30. November war Himmler noch mehrere Stunden bei Hitler 38 . Diese Massenerschießung sowie eine zweite Aktion gegen die lettischen Juden des Rigaer Ghettos am 8. Dezember 1941 sind als die letzten beiden größeren Liquidierungen zu betrachten, bevor der Winter 1941/42 den Massakern ein vorläufiges Ende setzte. Bis zum April 1942 sollten insgesamt mehr als eine halbe Million sowjetische Juden den Morden zum Opfer fallen 39 . Diese Rekonstruktion des Schicksals der Deportierten aus Berlin weist nicht nur darauf hin, daß deutsche Juden nach anderen Richtlinien zu behandeln waren als einheimische, sondern man erkennt anhand dieses Falles auch, daß die Einheiten der Sicherheitspolizei und des SD nicht als die alleinigen Haupttäter
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Abgehörtes Funktelegramm Nr. 25, Himmler an Jeckeln, 1. 1 2 . 1 9 4 1 , List 2 Traffic, Public Record Office London, H W 16/32. Für den Hinweis auf das Dokument danke ich Christoph Dieckmann. Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Eintragung vom Sonntag, den 30. 11. 1941, 14 Uhr 30 bis 16 Uhr u. 21 U h r bis 23 Uhr. A m Donnerstag, 4. 12. 1941, hatte Jeckeln einen Vortragstermin bei Himmler im „Sonderzug Heinrich", in dem es um die Themen „Judenfrage / SS Brigade / Wirtschaftsbetriebe" ging. Eine kommentierte Edition des Kalenders unter Verwendung der Telefonnotizen ist in Vorbereitung. Dienstkalender Heinrich Himmlers, Sonderarchiv Moskau, 1 3 7 2 - 5 - 2 3 . Siehe dazu Röbel, Sowjetunion, der auf die Problematik der Zuweisung von Massenmorden auf die einzelnen EGs anhand der sogenannten Ereignismeldungen besonders hinweist. Für die Einsatzgruppe Β „nach eigenen Angaben" bis zum 3 1 . 3 . 1943 siehe Gerlach, Einsatzgruppe, S. 62.
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bei den Massenmorden anzusehen sind 40 . Im Gefüge der polizeilichen Sicherung der Reichskommissariate Ostland und Ukraine und in den rückwärtigen Gebieten unter militärischer Hoheit waren die 3000 Mann der Einsatzgruppen ohnehin die kleinste Einheit mit exekutiven Befugnissen. Auch wenn das Teilkommando Hamann des Ek3, das Ek 8 unter Otto Bradfisch oder Paul Blobels Ek 4a mehrere Tausend Juden ermordeten, so war dies nur mit Hilfe von einheimischen Schutzmannschaften, deutschen Polizeibataillonen und den Einheiten des Kommandostabes Reichsführer-SS möglich 41 . Erst das Zusammenwirken aller dieser Einheiten im Verbund mit den unter Wehrmachtbefehl stehenden Sicherungsdivisionen machte eine präventive und verbrecherische Pazifizierung des riesigen neugewonnenen Territoriums realistisch, in die der Mord an den Juden quasi eingebettet war. Bereits während der Angriffsplanungen war man sich im OKH darüber im Klaren, daß das Konzept eines schnellen Bewegungs- und Umfassungskrieges nicht alle versprengten Feindtruppenteile hinter der Front sogleich ausschalten konnte. Sie stellten militärisch gesehen die unmittelbarste Gefahr für die Logistik und die Sicherheit im Rücken der Truppe dar. In den „Richtlinien für die Ausbildung der Sicherungs-Divisionen und der dem Befehlshaber des rückwärtigen Heeres-Gebiets unterstehenden Kräfte" wurde dieser potentiellen Gefahr Rechnung getragen, wenn die Sicherungsaufgaben gleichsam offensiv erledigt werden sollten: „Alle Führer von Sicherungskräften müssen danach streben, ihre Aufgabe durch Vernichtung des die Versorgungseinrichtungen gefährdenden Gegners im Angriff zu lösen. Beschränkung auf reine Verteidigung läßt dem Gegner Handlungsfreiheit. Die zu reinen Bewachungsaufgaben einzusetzenden Kräfte müssen möglichst gering bemessen und kampfkräftige Teile für den Angriff zur Vernichtung des Gegners bereitgehalten werden. Unermüdliche lückenlose Aufklärung schützt vor Überraschungen durch den Feind und schafft rechtzeitig Unterlagen für den Ansatz des eigenen Angriffs. Der laufende Austausch der Aufklärungsergebnisse zwischen benachbarten Verbänden und schnelle Weitergabe wichtiger Beobachtungen gewinnen bei dem weiträumigen Einsatz
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Die in den folgenden W o c h e n eintreffenden Deportierten wurden, soweit sie den Weg v o m Bahnhof in das Ghetto zurücklegen konnten, nicht sofort umgebracht, sondern in die Zwangsarbeitskolonnen eingegliedert. Die arbeitsunfähigen Juden des Ghettos und des Jungfernhofs wurden am 15. 3. 1942 erschossen. Himmlers Richtlinien schienen also nicht nur f ü r den 7. Berliner Transport gegolten zu haben. Nach dem Jahresbericht des Chefs der Ordnungspolizei Daluege standen den drei HSSPF bei den Befehlshabern der rückwärtigen Heeresgebiete 430 Offiziere und 1 1 6 4 0 Männer der Ordnungspolizei zur Verfügung. Im Reichskommissariat Ostland waren hiervon 3439 Männer eingesetzt, im Reichskommissariat Ukraine 3880. Ergänzt wurden sie durch einheimische Schutzmannschaften in Höhe von 31 652 Mann (Ostland) und 1 4 4 5 2 Mann (Ukraine). Angaben nach dem Jahresbericht Dalueges an Reichsinnenminister Frick, BA, R 19/466, Bl. 23, 2 9 - 3 3 . Nach den Angaben Büchlers betrug die Stärke der beim K o m mandostab RFSS eingesetzten Brigaden der W a f f e n - S S insgesamt 2 5 0 0 0 Mann, siehe Büchler, Kommandostab, S . l l .
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erhöhte Bedeutung ... Das zu schützende Gebiet ist erst dann gesichert, wenn es vollständig vom Feinde gesäubert ist" 42 . Auf diese Weise sollten vor allem die Versorgungsstützpunkte, aber auch die Nachschubstraßen (Rollbahnen), Nachschubtransporte und Flughäfen geschützt werden. Der Abschub von Kriegsgefangenen und die Bewachung von Beutelagern gehörte ebenfalls zum Aufgabenbereich dieser Einheiten. Bereits bei der kämpfenden Truppe waren sogenannte Abwehr-Trupps eingesetzt, die das Beutematerial feindlicher militärischer Abwehrstellen zu erfassen und auszuwerten hatten. In diesen Richtlinien waren die Berührungspunkte mit den Ek und Sk bereits intendiert, hier lagen die Harmonisierungsaufgaben der jeweiligen Ic-Offiziere, wenn militärische Aufklärungsergebnisse mit politischem Inhalt an Sk weitergegeben wurden oder wenn ein Ek neue Informationen über die Bewegung von Partisaneneinheiten erhielt. Diese Kooperation fand auch auf der Ebene der übergeordneten Befehlsstellen statt. So informierte der Chef der EG B, Arthur Nebe, die Heeresgruppe Mitte am 10. September in einem umfangreichen Schreiben über die sicherheitspolizeilichen „Erfahrungen über die Arbeitsweise der Partisanen und ihre Bekämpfung", und zwei Wochen später fand ein Kursus zur Partisanenbekämpfung, durchgeführt beim Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte, statt 43 . Das Zusammenspiel von Wehrmacht und Sicherheitspolizei gab also kaum zu Beschwerden Anlaß 44 . In Stahleckers Bericht wurde die Kooperation als „fast herzlich" charakterisiert, und der Oberbefehlshaber der 18. Armee wandte sich im November 1942 an den damaligen BdS Ostland, mit der Bitte, angesichts der reibungslosen Zusammenarbeit hinsichtlich Aufklärung, Propagandatätigkeit und Waffenhilfe im Partisanenkampf das Sk 1 b nicht zu verringern 45 . Allerdings konnte zu keinem Zeitpunkt der deutschen Besatzungsherrschaft in Rußland die Partisanenbewegung von den polizeilichen
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O K H / GenStdH/Ausb.Abt.(Ia), Nr.788/41g, 31. 3 . 1 9 4 1 , an Panzergruppe 1 , 2 , 3 , u. 4 mit den Richtlinien als Anlage, B A - M A , R H 2 1 - 2 / V. 100. Der Beauftragte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD beim Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte, Tgb. Nr. 141/41 geh., 10. 9. 1941, an die Heeresgruppe Mitte, Staatsarchiv Minsk, 6 5 5 - 1 - 1 , Bl. 1 9 8 - 2 0 6 . Nebe empfahl hier neben dem Einsatz von V-Männern und Flugblättern auch den Einsatz v o n Fieseler-Storch Flugzeugen und von Spürhunden. Siehe auch die Übernahme der „Erfahrungen" in die Ereignismeldung U d S S R Nr. 97, 28. 9. 1941, BA, R 58/217. Diese Methode zur Aufklärung und Bekämpfung avancierte anscheinend zum Standard der deutschen Polizei. Nachdem am 12. 12. 1941 das Partisanenbataillon „Ivan Cankar" bei einem Uberfall auf das Polizeireservebataillon 181 in Rovte/Gorenjsko 50 deutsche Polizisten getötet hatte, empfahl Himmler dem Chef der Ordnungspolizei den Einsatz v o n „Storch" und „Hetzhunden". Die schriftliche Beschwerde des Ek 8 bezüglich der Äußerungen des Kommandanten des Dulag 185, wonach jener kein Verständnis f ü r die „Behandlung der Juden- und Partisanenfrage" zeigte, dürfte ein Einzelfall und nicht die Regel gewesen sein. Das Schreiben ist abgedr. in: Rürup (Hrsg.), Krieg, S.131. Schreiben Lindemanns, 19. 11. 1942, an Pifrader, Sonderarchiv Moskau, 5 0 4 - 1 - 8 . Lediglich O t t o Ohlendorf hatte zunächst Probleme bei der Durchsetzung seiner Befugnisse als „Partner" des Oberkommandos der 11. Armee, da dessen Chef des Generalstabes die Einheiten der E G D als weitere quasi militärische Sicherungskräfte verwenden wollte. Zu Ohlendorfs Problemen mit Oberst O t t o W o e h l e r siehe Angrick, Einsatzgruppe, S. 9 1 - 9 2 . Die Einsatzgruppe D in der Sowjetunion ist das Thema von Angricks Dissertation, deren Publikation in Vorbereitung ist.
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und militärischen Einheiten kontrolliert werden. Auf deutscher Seite wußte man zwar sehr früh, daß die sich zurückziehende Rote Armee keine umfassenden Maßnahmen zum Partisanenkampf einleiten konnte 4 6 . Auch waren die gefürchteten Fallschirmspringereinheiten hinter der deutschen Front anfangs nur ganz vereinzelt aufgetreten, jedoch vermochten es die Angreifer nicht, aus diesem Vorteil Kapital zu schlagen 47 . Die Partisanenbewegung im Rücken der deutschen Wehrmacht wurde erst während der Besatzungszeit aufgebaut. Es gehörte mit zu den wichtigsten Aufgaben der stationär gewordenen sicherheitspolizeilichen Einheiten, durch Erkundungen, den Aufbau eines V-Männer-Netzes und mittels Vernehmungen von Verdächtigen möglichst präventiv gegen die Partisanen vorzugehen. Bis zum Frühjahr 1942 kämpften E k - und Sk-Verbände aktiv gegen Partisanen, als deren verstärktes Auftreten nun anfing, zu viel Personal der KdSDienststellen für solche Einsätze zu binden. Darüber hinaus hatte es ein erstes prominentes Opfer gegeben. Der Chef der Einsatzgruppe Α und BdS Ostland, Walther Stahlecker, war bei einem Partisaneneinsatz am 19. März 1942 bei Ssaniki, südwestlich des Ilmensees, verwundet worden. Durch einen Querschläger hatte Stahlecker einen Streifschuß am Gesäß erhalten. Auch war ihm der rechte Zeigefinger weggeschossen worden. Die Rettungsaktion im tiefen Schnee hatte darüber hinaus zu Unterkühlungen des Verwundeten geführt. Insgesamt, so das Urteil des Gruppenarztes der E G A, waren die Verletzungen jedoch nicht lebensgefährlich gewesen. Dennoch verstarb Stahlecker am 23. März während des Transportes nach Pleskau an Herzversagen 4 8 . Dieser Verlust und die Tatsache, daß der Einsatz gegen Partisanen zu viele Kräfte vom Regelbetrieb in den KdS-Dienststellen abzog, veranlaßte das R S H A zur Ausgabe des Einsatzbefehls Nr. 16 an den Nachfolger Stahleckers: „Die Einsatzgruppen haben bei der Bekämpfung der Partisanen mit eigenen sicherheitspolizeilichen Kräften große Erfolge aufzuweisen gehabt. Der fühlbare Personalmangel wurde durch diese Tätigkeit noch erhöht, so daß bei der Durchführung der eigentlichen sicherheitspolizeilichen und sicherheitsdienstlichen Arbeit vielfach Schwierigkeiten entstanden. Aus diesem Grunde haben sich die Sicherheitspolizei und der SD in Zukunft bei der Bekämpfung der Partisanen lediglich die Führung vorzubehalten. Darunter fällt in erster Linie die nachrichtliche Erforschung der Partisaneneinheiten, die Beratung der Führung der zur Bekämpfung dieser Partisaneneinheiten eingesetzten Verbände und die Heranführung an den Gegner" 4 9 .
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So informierte das A O K 9 die ihm unterstehenden Einheiten am 2. 9. 1941, betr. Partisanenbekämpfung, daß „die Partisanen-Abteilungen erst im Aufbau begriffen sind und daß ihr planmäßiger Einsatz noch nicht begonnen" hatte. Schreiben A O K 9, Abt. I c / A . O . / O . Q u . , N r . 2 3 8 / 4 1 geh., Staatsarchiv Minsk, 6 5 5 - 1 - 1 , Bl. 142. Die erste vergebliche Suchaktion nach Fallschirmspringern hinter den deutschen Linien wurde am 1 . 7 . 1941 von der 9. Kompanie des dem Kdo.Stab RFSS unterstehenden SSInf.Rgt. 4 durchgeführt, siehe Ehre, S. 25. Zum Hergang des Gefechts siehe Funkspruch Tschierschkys, 19. 3. 1942, an das R S H A und Weiterleitung als FS an SS-H'stuf. Kluckhohn zur Vorlage bei Heydrich in Prag, Archiv des tschechischen Innenministeriums, 1 1 4 - 9 - 9 5 . Zum Gesundheitszustand und Tod Stahleckers siehe den Bericht und Vortrag des Gruppenarztes der E G A, 25. u. 26. 3. 1942, an Heydrich in Prag, ebd. FS Berlin N U E 7 1 2 1 7 , 1 4 2 0 = B R , 27. 4. 1942, an den Chef der Einsatzgruppe A, SS-Brif.
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Alle folgenden Großeinsätze zur Vernichtung von Partisaneneinheiten sollten für die Einsatzkommandos nach diesem vom R S H A vorgegebenen Muster ablaufen. Dokumentarisch nachweisbar oder zumindest durch das Tarnwort bekannt sind derzeit ca. 50 große sogenannte Bandenkampfunternehmen, wobei ihre dokumentarische Überlieferung für das „Generalkommissariat Weißruthenien" am dichtesten ist. Sie fanden mehrheitlich zwischen Herbst 1942 und Ende 1943 statt und waren insgesamt vergeblich. Nachfolgend können nur einige dieser Räumungsaktionen dargestellt werden, wobei der Tatbeitrag der Ek sowie die Wahrnehmung von den Juden als Partisanenhelfer im Mittelpunkt stehen sollen. Am 10. November 1942 erließ der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des S D in Weißruthenien einen Einsatzbefehl zur Erkundung des Gebiets Pleszezenice-Glebokie-Dolhinow nach Partisanen. „Zweck der Erkundung ist die Feststellung der genauen Lage der Bande, der Stärke, ihrer Sicherungen, ihrer Bewaffnung sowie die Erkundung des von der Bande kontrollierten Vorgeländes hinsichtlich der Einstellung der Bevölkerung und die Erkundung des Geländes unter besonderer Berücksichtigung der zu dem Lager führenden Anmarschwege, deren Beschaffenheit und der auf ihnen vorhandenen Brücken . . . Bei der Erkundung ist von den Angaben der Landesbewohner, Ordnungsdienstmänner und gegebenenfalls zu werbenden V-Männer weitgehendst Gebrauch zu machen . . . Bei der Ermittlungstätigkeit sind Andeutungen über eine bevorstehende Aktion in keinem Falle zu machen" 5 0 . Der H S S P F Rußland-Mitte benötigte diese Ergebnisse, um das Unternehmen „Nürnberg" zum Kampf gegen die Partisaneneinheiten zu führen. Zu diesem Zweck wurde die sogenannte Kampfgruppe von Gottberg gegründet. Benannt war sie nach dem seit kurzer Zeit in Minsk eingesetzten SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Curt ν. Gottberg, der als Nachfolger des SS-Brigadeführers Zenner hier SS-und Polizeiführer war 5 1 . Im Verlauf des Unternehmens, das durch die 1. SS-Inf.Brigade, das SS-Pol. Rgt. 14 und mit Hilfe zweier Schutzmannschaftsbataillone durchgeführt wurde, erwartete der Einsatzleiter bis zum 20. November von allen Trupps in den jeweiligen Gefechtsstreifen eine Meldung über „bandenhörige Dörfer. Dörfer, die noch stark im Ablieferungsrückstand [landwirtschaftlicher Erzeugnisse] sind, also beim Vormarsch in die Bereitstellungsräume zum Angriff mit durchgekämmt werden müssen". Letztlich „Dörfer und Personen, die beim Vormarsch in den jeweiligen Gefechtsstreifen vernichtet werden sollen" 5 2 . Im ersten Angriffsbefehl der 1. SS-Inf.Brigade wurde jeder Bandit, Jude, Zigeuner und Bandenverdächtige als Feind definiert, und in einem späteren Gesamtbericht dieser Einheit wurde gemeldet, daß
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Joost [!] durch C D S IV A l b - B N R . 25 6 4 / B / 4 2 g , gez. Unterschrift, Sonderarchiv Moskau 504-1—4, Bl. 2 0 - 2 1 . Einsatzbefehl des KdS Weißruthenien, IV A 1 , 1 0 . 1 1 . 1 9 4 2 , i. A. Feder, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 107, Bl. 1 4 3 - 1 4 4 . Seit 4. 11. 1942 SS-und Polizeiführer Weißruthenien in Minsk, seit 16. 11. 1942 Kampfgruppenführer, BA, Bestand B D C , SSO-Curt v. Gottberg. Sonderbefehl der Kampfgruppe v. Gottberg, 19. 11. 1942, Sonderarchiv Moskau 5 0 0 - 1 - 7 6 9 , Bl. 16.
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drei große Lager einer Bande von 3 - 5 0 0 Männern bekämpft wurden, „unter deren Schutz sich eine größere Anzahl von geflohenen Juden und Zigeunern sammelte" 5 3 . In einem vorläufigen Abschlußbericht des BdS Ostland an den Reichskommissar Hinrich Lohse über das Unternehmen „Nürnberg" hieß es dann zusammenfassend: „Das Durchkämmen der Wälder durch die Kampfgruppe Gottberg wurde bis 26. 11.42 mittags beendet. Pol.Regt. 14 vernichtete am 26. 11.42 zwei bisher nicht bekannte, gut ausgerüstete Winterlager. Kleine versprengte Trupps wurden vernichtet. 1. SS-Inf.-Brigade hatte in der Nacht vom 25./26. 11. 42 mehrfach Feuergefechte mit Banditen. Ein fünf Wochen in Partisanengefangenschaft befindlicher Wehrmachtangehöriger wurde befreit. Gesamtverluste des Feindes bis zum 26. 11. 4 2 , 1 2 Uhr: 789 Banditen, 353 Bandenverdächtige, 1826 Juden, 7 Zigeuner. Eigene Verluste: 2 Tote, 10 Verwundete. Die in den Häusern und Bunkern verbrannten Juden oder Banditen usw. konnten zahlenmäßig nicht erfaßt werden und sind deshalb nicht berücksichtigt. Im Südosten und Osten des Kampfraumes vereinzelte Banditen durchgesickert. Das Unternehmen .Nürnberg' wird mit dem 27. 11. 42 mittags abgeschlossen" 5 4 . In seiner Meldung an Hitler einen Tag später zog Himmler die ermordeten Juden und Zigeuner zusammen und notierte sie als 1833 „Bandenhelfer" 5 5 . Beim Unternehmen „Hamburg" Mitte Dezember 1942 im Gebiet Novogrodek, Volkovysk, Baranovici galt es, insgesamt acht vom S D ausgekundschaftete Partisanenlager anzugreifen und die „Banden" zu vernichten. Laut Erkundungsergebnis befanden sich in vier Lagern jüdische Partisanen, wobei in allen Unterkünften auch Frauen und Kinder waren. Allen Kampfeinheiten waren S D - K o m mandos der örtlichen KdS-Dienststelle Baranovici beigegeben, die laut Einsatzbefehl der Kampfgruppe v. Gottberg folgenden Auftrag hatten: „Die Aufgabe der mir unterstellten Verbände ist, die Banditen anzugreifen und zu vernichten. Als Feind ist anzusehen jeder Bandit, Jude, Zigeuner und Bandenverdächtige. Soweit Gefangene gemacht werden, sind sie zunächst zwecks Vernehmung durch den S D sicher zu stellen" 5 6 . In den „Meldungen aus den besetzten Ostgebieten Nr. 38" vom 22. Januar 1943 findet sich nun eine Abschlußmeldung, welche die Aktion als eines der erfolgreichsten Unternehmen im weißrussischen Raum charakterisiert. Die Erkundungsergebnisse der Sicherheitspolizei und des S D waren so genau, daß jedes
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1. SS-Infanterie-Brigade (mot.), Ia / Nr. 655/42 geh., Angriffsbefehl Nr. 1, 20. 11. 1942, 22 Uhr, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 108, Bl. 445-448. Der „Bericht über das Unternehmen .Nürnberg' vom 22.-26. 11. 1942" ist abgedr. in: Bade u.a. (Hrsg.), Ehre, S. 185-191. Abschrift. Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei u. d. SD Ostland. At. III Tgb. Nr. 5181/42, AZ III A 1-SA 6. Betr. Ereignismeldungen aus Weißruthenien, gez. Unterschrift, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 25, Bl. 262. Meldungen an den Führer über Bandenbekämpfung. Meldung Nr. 46, 1. 12. 1942, Unterschrift Himmler und Marginalie Grothmanns: „Der Führer hat Ktn. 6 . X I I " , BA, NS 19/2566. Einsatzbefehl der Kampfgruppe v. Gottberg Tgb. Nr. 2/42, 7. 12.1942, gültig für den Einsatz vom 10.-16. 12. 1942, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 108, Bl. 615-619.
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Lager aufgefunden und 1676 „Banditen" getötet wurden. Ferner wurden 1510 bandenverdächtige Personen erschossen. Letztlich wurden in den Gemeinden, die im Aktionsbereich lagen, noch 2658 Juden und 30 Zigeuner „gestellt" 57 . Himmlers Bericht an Hitler über diese Aktion differiert hier ebenfalls in einem interessanten Punkt. In seiner Meldung Nr. 48 über die Bandenbekämpfung wurden die Juden und Zigeuner, noch dazu fehlerhaft, als „Feindverluste" angegeben. Der Reichsführer-SS zählte sie als „2988 Bandenanhänger". In Himmlers Perspektive wurden hier also wieder Juden als Partisanen „ausgerottet" 58 . Die Verbindung von Juden als „Bandenhelfer" oder „Bandenmitglieder" wurde auch im Vorlauf des Unternehmens „Hornung" gezogen, als das Ghetto in Sluek am 8. und 9. Februar 1943 von einzelnen Kommandos der KdS-Dienststelle Minsk geräumt wurde. Von Sluek aus wurden die den Kampfgruppen zugeteilten Führer anschließend an die Bereitstellungsräume abgegeben. Die Aktion lief zwischen dem 8. und 26. Februar; es wurden 2219 Tote, 7378 „Sonderbehandelte", 65 Gefangene und 3300 Juden als Feindverluste angegeben 59 . Das Bandenkampfunternehmen „Hermann" zwischen dem 15. Juni und dem 11. August 1943 lief ebenso unter führender Beteiligung der KdS-Dienststelle in Weißrußland ab. Kurz vor dem Beginn der Aktion wurde ein erster SD-Aufklärungstrupp eingesetzt, der im Verbund mit acht Gendarmeriezügen, drei Schutzmannschaftsbataillonen und Einheiten der Oberfeldkommandantur 392 die Partisanen in ein vorbestimmtes Gebiet treiben sollten 60 . Im Gruppenstab v. Gottbergs bestand die Ic-Abteilung ebenfalls aus Mitgliedern der Sicherheitspolizei unter der Leitung des SS-Hauptsturmführers Wilke. Weiterhin wurden während der Aktion drei SD-Kommandos gebildet und auf verschiedene Einheiten verteilt. Nach Strauchs Einsatzbefehl für die Großaktion bestand die Aufgabe in der Führung von „Vernehmungen von Ortseinwohnern, Gefangenen und Uberläufern", um so weitere Informationen für die Kampfführung zu erhalten. „Uber die Notwendigkeit von Strafmaßnahmen gegen die Bevölkerung entscheidet der SD-Kommandoführer im Einvernehmen mit dem Batl.Kommandeur" 6 1 . Im Zuge des Unternehmens wurden laut Führerbefehl vom 1. August 1943 alle Dörfer im Raum Jeremicze, Starzyna, Karzeczecty, Rudnia, Pierszaje, Czartowicze, Potansznia, Delatycze und Kupisk evakuiert.
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Meldungen aus den besetzten Ostgebieten Nr. 38, BA, R 58/223. Hier wurden insgesamt vier Aktionen („München", „Nürnberg", „Hamburg", „Altona") kurz vorgestellt und bewertet. Vierzehn Kommandos von Sipo/SD waren hier teilweise der kämpfenden Truppe zugeteilt oder waren als Erkundungskommandos eingesetzt. Die Gesamtzahl der eingesetzten Kräfte betrug zeitweilig bis zu 450 Mann. Meldung an den Führer über Bandenbekämpfung Nr. 48, 23. 12. 1942, BA, NS 19/2566. Zur Räumung des Ghettos siehe Kommandobefehl des KdS Weißruthenien am 5. 2 . 1 9 4 3 , gez. Strauch, Sonderarchiv Moskau, 5 0 0 - 1 - 7 6 9 , Bl. 6 - 9 . Fragment eines Befehls des Einsatzstabes Minsk, ebd., Bl. 5 5 1 - 5 5 4 . Zur Zahl der O p f e r siehe Meldungen aus den besetzten Ostgebieten Nr. 46, 19. 3. 1943, BA, R 58/224. Ebenfalls zu dieser Frage siehe Urteil des L G Koblenz, 9 Ks 2/62 vom 21. 5. 1963 ./. Heuser u.a., abgedr. in: Justiz, X I X , Lfd. Nr. 552. Einsatzbefehl der Kampfgruppe v. Gottberg Ia Tgb. Nr. 398/43g, 7. 7 . 1 9 4 3 , für das „Vorunternehmen Hermann", ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 108, Bl. 1 1 - 1 3 . Einsatzbefehl des SS-O'stubaf. Strauch, 1 3 . 7 . 1943, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 107, Bl. 2 2 - 2 3 .
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Die Arbeitsfähigen wurden zum Arbeitseinsatz nach Deutschland und die Arbeitsunfähigen zur weiteren Behandlung durch die Gebietskommissare abgegeben. Anschließend wurden das Vieh und alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse sowie Maschinen und Hausrat weggeführt und alle Dörfer verbrannt. Während des Einsatzes trafen die Verbände nicht nur auf sowjetische Partisaneneinheiten, sondern ebenfalls auf sogenannte weißpolnische Verbände, welche gegen die deutschen Besatzer und die „roten Banden" kämpften. Von den Einheiten wurde allemein das Fehlen von ausreichend vielen SD-Kommandos für sofortige Verhöre bemängelt 62 . Das „Unternehmen Heinrich" zwischen dem 1. und dem 9. November 1943 lief ebenfalls nach dem Schema ab, daß drei SD-Kommandos verschiedenen Einheiten zugeteilt wurden und die Ic-Abteilung des Gruppenstabes v. Gottberg aus Mitgliedern der Einsatzgruppe Β bestand. Nun war SS-Stu'baf. Buchardt für die Einsatzleitung der SD-Kommandos zuständig 63 . Dieses Unternehmen lag unter der Gesamtleitung des Chefs der Bandenkampfverbände, Erich v. d. Bach-Zelewski, der zu diesem Zweck die Einsatzgruppen Jeckeln und v. Gottberg gebildet hatte. Das Ziel war, die Grenzregionen zwischen den Generalkommissariaten Lettland und „Weißruthenien" von Partisanen zu säubern 64 . Hier wurden den SD-Kommandos zur Erfassung von Arbeitskräften und landwirtschaftlichen Produkten 65 LA-Führer und ein Arbeitseinsatz-Erfassungskommando von 39 Personen zugewiesen 65 . Das Unternehmen nahm jedoch einen unerwarteten Verlauf, da die Rote Armee im Nordabschnitt der Front eine Offensive startete, die die deutschen Linien durchbrechen konnte. Die Polizeiverbände waren daraufhin gezwungen, eine stehende Abriegelungslinie zu bilden, und am 9. November wurde die Kampfgruppe Jeckeln der 16. Armee, die Kampfgruppe v. Gottberg dem 3. Panzer AOK unterstellt 66 . Die Gleichsetzung von Juden und „Bandenanhängern" war jedoch nicht nur bei den zum Partisanenkampf eingesetzten SS- und Polizeiverbänden anzutref-
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Weitergabe des Führerbefehls durch den Ia der Kampfgruppe v. Gottberg am 1. 8. 1943, ZStL, Slg. UdSSR, O r d n e r 108, Bl. 513. Zur Durchführung siehe Gefechtsbericht über das Unternehmen „Hermann" des Ia der Kampfgruppe v. Gottberg, 20. 8. 1943. Insgesamt wurden als Arbeitskräfte 9065 Männer, 7701 Frauen und 4 1 7 8 Kinder durch den Arbeitseinsatzstab unter Reg.Rat Tuschen erfaßt. Siehe Gefechtsbericht, ZStL, Slg. UdSSR, Ordner 2 4 5 A b , Bl. 1 2 8 - 1 4 5 , hier Bl. 141, zu den polnischen „Banden" Bl. 136, zur Rüge über zu wenige SD-Kdos. Bl. 137. Der Chef der Einsatzgruppe Β der Sicherheitspolizei und des SD I/Org./IV BB-300/43g, 20. 10. 1943, Einsatzbefehl f. d. Unternehmen „Heinrich", gez. Ehrlinger, ZStL, Slg. UdSSR, O r d n e r 108, Bl. 5 4 8 - 5 5 0 . Einsatzbefehl der Kampfgruppe v. Gottberg Abtl. Ia Tgb. Nr. 19/43g, 25. 10. 1943, ZStL, Slg. UdSSR, O r d n e r 108, Bl. 5 5 7 - 5 6 6 . Siehe Anlage zum Einsatzbefehl, 29. 10. 1943, ebd., Bl. 5 6 9 - 5 7 1 . Einträge im Tagebuch Erich von dem Bach-Zelewskis, 29. 10. 1943: „Frontdurchbruch bei Newel stellt Unternehmen in Frage"; 3.11.: „Wehrmacht wird v o n Russen zurückgedrängt oder herausmarschiert. Gebe Einsatzbefehl zur Bildung einer Abriegelungskette bei Dretun unter Führung von Stu'baf. Anhalt" [=SS-Pol. 2, Schuma-Batl. 57, S D - K o m mando II]; 7.11.: „Gruppe Anhalt zersprengt bezw.eingekesselt. Russe bricht nördlich Drissa bei Rgt. 24 durch"; 9.11.: „Kampfgruppe Jeckeln wird der 16. Armee und Kampfgruppe v. Gottberg dem 3. Panzer A O K unterstellt", BA, R 20/45b, Typoskriptseite 8 7 - 8 8 . Zu Bach-Zelewski siehe die biographische Skizze von Angrick, Mann.
Die Erlaubnis zum grenzenlosen Massenmord
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fen. Der Wehrmachtbefehlshaber Oscland beispielsweise argumentierte bereits im November 1941 gegen den geplanten „Zuzug" deutscher Juden, daß diese der weißrussischen Bevölkerung an Intelligenz weit überlegen seien, was eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit darstelle: „Die jüdische Bevölkerung Weißrutheniens ist bolschewistisch und zu jeder deutschfeindlichen Haltung fähig. In den Städten Weissrutheniens stellt sie den größten Teil der Bevölkerung und die treibende Kraft der sich anbahnenden Widerstandsbewegung. Auf dem Lande haben nach Meldungen der GFP die Juden versucht, durch Drohung die Bauern zu zwingen, die Ernte nicht mehr einzubringen bezw. zu vernichten. Wie überall, wo Meldungen über Sabotageakte, Aufhetzung der Bevölkerung, Widerstand usw. zu Aktionen zwangen, Juden als Urheber und Hintermänner, größtenteils auch als Täter festgestellt wurden, so werden die neu einwandernden Juden mit allen Mitteln trachten, mit kommunistischen Organen usw. in Verbindung zu treten und zu hetzen" 67 . Auch die Zivilverwaltung des Generalkommissariats Weißruthenien argumentierte mit dieser tödlichen Gleichsetzung. Am 15. Juni 1942 erhielt der Generalkommissar in Minsk eine Aufforderung, wonach er zu der Behauptung des BdS Ostland Stellung nehmen sollte, daß die Zahl der jüdischen Facharbeiter im Generalkommissariat in keinem Verhältnis zu den Nachteilen stünde, die die jüdische Partisanenunterstützung mit sich bringe. Nach einem Vortrag des KdS in Minsk beeilte Gauleiter Kube sich, dieser Auffassung beizutreten. Er veranlaßte die Gebietskommissare zu einer nach strengsten Maßregeln anzulegenden Uberprüfung, um alle „volkswirtschaftlich nicht unbedingt nötigen jüdischen Facharbeiter auszusondern" 68 . Aufgeschreckt durch eine offensichtliche Falschmeldung des KdS Strauch, wonach ohne Weisung Himmlers 1000 Juden aus Warschau nach Minsk deportiert seien, wandte sich Kube am 31. Juli 1942 in einem umfangreichen Schreiben an den Reichskommissar in Riga. Bei allen Zusamenstößen mit Partisanen habe sich herausgestellt, daß die Juden sowohl im ehemals polnischen als auch im altrussischen Gebiet die Hauptträger der polnischen und sowjetischen Widerstandsbewegung seien. „Infolgedessen ist die Behandlung des Judentums in Weißruthenien angesichts der Gefährdung der gesamten Wirtschaft eine hervorragend politische Angelegenheit, die infolgedessen auch nicht nach wirtschaftlichen, sondern nach politischen Gesichtspunkten gelöst werden müßte". Kube erwähnte sodann, daß er in Kooperation mit dem SSPF Zenner und dem KdS Strauch in den letzten zehn Wochen rund 55 000 Juden ermorden ließ. Kubes Plan war, in den folgenden Wochen sämtliche Juden des Generalkommissariats bis auf 8600 in der Stadt Minsk und insgesamt ca. 7000 in den übrigen Gebieten liquidieren zu lassen. „Die Gefahr, daß die Partisanen sich in Zukunft 67
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Wehrmachtbefehlshaber Ostland - Ic 282/41geh. an den Reichskommissar f ü r das Ostland, Y I V O , Occ Ε 3 - 3 4 . Schreiben i. Entwurf der H A II Politik des R K O , Nr. 2295/42g RRTr./Mz., 15. 6. 1942, an den Generalkommissar in Minsk mit Paraphe Trampedachs u. Notiz „ab 15./6."; A n t w o r t Kubes Abt. IIa Ju/Pa Tgb. Nr. 361/42g, 10. 7. 1942, an den R K O ; Weisung an die Gebietskommissare, nachr. den Hauptkommissaren und Hauptabteilungsleitern I-IV, 10. 7. 1942, alle Y I V O , Occ. Ε 3 - 4 0 .
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noch wesentlich auf das Judentum stützen können, besteht dann nicht mehr." Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Mordpläne, deren Durchführung zum Bestandteil der oben erwähnten „Bandenkampfaktionen" werden sollte, bat Kube um die Einstellung der laufenden Deportationen aus Westeuropa nach Maly Trostinec. „Ich wäre daher dankbar, wenn der Herr Reichskommissar es ermöglichen könnte, weitere Judentransporte nach Minsk wenigstens solange zu stoppen, bis die Partisanengefahr endgültig überwunden worden ist. Ich brauche den SD im hundertprozentigen Einsatz gegen die Partisanen und gegen die polnische Widerstandsbewegung, die beide alle Kräfte der nicht überwiegend starken SD-Einheiten in Anspruch nehmen" 6 9 . Nach einer zwischenzeitlichen Anfrage des Befehlshabers der Ordnungspolizei wiederholte der Generalkommissar für Weißruthenien seine Auffassung hinsichtlich der Ermordung der Juden und kündigte weitere Aktionen an 70 . In einem vielbeachteten Aufsatz in der Zeitschrift „WerkstattGeschichte" hat Christian Gerlach eine bemerkenswert dichte Rekonstruktion der Entscheidungsetappen hin zum Massenmord an allen europäischen Juden zwischen Ende November/Anfang Dezember 1941 und der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 vorgelegt 71 . Vor dem Hintergrund des Stadiums der Vernichtung der Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten, in Serbien, im Generalgouvernement und im Reichsgau Wartheland Ende 1941 datiert Gerlach Hitlers Bekanntgabe seiner Entscheidung, nunmehr alle Juden Europas ermorden zu lassen, auf den 12. Dezember 1941. Von 16 Uhr bis 19 Uhr fand in Hitlers Privaträumen in der Reichskanzlei eine Reichs- und Gauleitertagung statt, in welcher der „Führer" den Spitzen der NSDAP seinen Entschluß mitteilte 72 . In den Tagen zwischen dem 12. und dem 18. Dezember 1941 kam es dann zu verschiedenen Treffen zwischen Himmler, Brack, Bouhler, Rosenberg und Hitler, die sich in der Tat als Vorbereitungen für die Vernichtung aller europäischen Juden deuten lassen. Am Nachmittag des 18. Dezember trafen sich Hitler und Himmler wieder. Auf dem Besprechungszettel Himmlers findet sich als erstes von zwei Besprechungsthemen: „Judenfrage/als Partisanen auszurotten" 7 3 . Gerlach interpretiert diese Notiz als eine Anweisung an Himmler zur Umsetzung des Massenmords an den Juden Europas zusammen mit Hitlers Begründung. Sie seien mit dem Rechtfertigungsgrund „als Partisanen" zu töten. Er entwickelt diese These aus der bekannten Ankündigung Hitlers in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, 69
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Schreiben Kubes, 31. 7. 1942, an den R K O 507/42 g, betr.: Partisanenbekämpfung und Judenaktion im Generalbezirk Weißruthenien, Y I V O , Occ Ε 3—41. Generalkommissar Abt. II a Ju/Pa, 18. 8 . 1 9 4 2 , an den RKO/Höherer SS- und Polizeiführer. Betr.: Auftreten von Juden bei den Banditen. Bezug: Ihr Schreiben BdO. K d O . Abt. Ia Nr. 12213/42 mit Eingansstempel R K O und Marginalie Trampedachs „Entspricht bish. Vereinbarg. 16/9", Sonderarchiv Moskau, 5 0 4 - 1 - 7 . Gerlach, Wannsee-Konferenz. Ebd., S. 2 5 - 3 1 . „Führerbesprechung Wolfsschanze 18.XII.41 16 U h r Führer", in: Terminkalender Heinrich Himmlers, Sonderarchiv Moskau 1 3 7 2 - 5 - 2 3 . Die Treffen zwischen Bouhler, Brack, Himmler, Hitler, Rosenberg sind kommentiert wiedergegeben bei Gerlach, WannseeKonferenz, S.23.
D i e Erlaubnis z u m grenzenlosen M a s s e n m o r d
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wonach ein vom „internationalen Finanzjudentum" organisierter Weltkrieg die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" nach sich ziehe. Nach Hitlers Kriegserklärung an die U S A am 11. Dezember 1941 war die Zäsur eingetreten, der Krieg Deutschlands zum Weltkrieg geworden. Einen Tag später verkündete Hitler seine Entscheidung, die auf einem komplexen Begründungszusammenhang beruhte. Die wichtigste Rechtfertigung aus seiner Perspektive bildete die Kriegssituation in Europa. Hitler war, so Gerlach, nun einer Art kontinentaleuropäischer Festungsmentalität verhaftet. Weil „die Juden" schuldig am eingetretenen Weltkrieg seien und ihre Geiselrolle gegen die U S A nicht gewirkt hatte, habe „der Diktator" seinen Vernichtungswillen ungehemmt entfalten können. „Die Aussicht einer zweiten Front, verbunden mit der militärischen Niederlage vor Moskau, hatte für die deutsche Führung eine sehr ernste Situation geschaffen. Angesichts der zugespitzten Lage erschienen Hitler die Juden als Gegner, .Partisanen', Saboteure oder Spione im eigenen Hinterland, das nunmehr, bei einem erwarteten Angriff der U S A , aus ganz Europa bestand. Das war der Sinn von Hitlers Äußerung gegenüber Himmler am 18. Dezember 1941" 7 4 . Indem Christian Gerlach ausschließt, daß die N o t i z Himmlers sich auf den Mord an den Juden in der besetzten Sowjetunion beziehen könnte, gelingt es ihm, nicht nur den Zeitpunkt der Verkündung von Hitlers Entscheidung und die technische und personelle Umsetzung (Bouhler, Brack) des Massenmordes innerhalb weniger Tage aufeinander zu beziehen, er datiert darüber hinaus die Anweisung Hitlers an Himmler zur Ingangsetzung seiner Grundsatzentscheidung. Auf diese Weise klärt der Autor alle wesentlichen Voraussetzungen, die dazu führten, daß auf der Wannsee-Konferenz über solche Fragen gar nicht mehr diskutiert werden mußte. Mit der Begründung, der Mord an den Juden in der Sowjetunion sei in vollem Gange gewesen, es hätte darüber hinaus keine reale jüdische Partisanengefahr gegeben und letztlich sei das Besprechungsthema nicht mit „Judenfrage im Osten" oder „Sowjetjuden" sondern umfassend mit „Judenfrage" angegeben, geht Gerlach ungewöhnlich schnell über diesen Punkt hinweg. Zweifellos wurden seit Monaten in der besetzten Sowjetunion die Juden getötet, aber im Dezember 1941 lebten in den Reichskommissariaten und in den rückwärtigen Gebieten der Wehrmacht noch hunderttausende Juden in einer Vielzahl von großen und kleinen Ghettos. D a sich deren Vernichtung während der Wintermonate aufgrund des gefrorenen Bodens nicht durchführen ließ und der Krieg sich längst von einem hochmobil vorgetragenen Überfall in einen Stellungskrieg verwandelt hatte, nahm Hitler dies wohl zum Anlaß, dem Reichsführer-SS die kommende Fortsetzung der Massenmorde anzutragen mit der Begründung, die Juden seien als ständige Partisanengefahr anzusehen, wenn die Wehrmacht im nächsten Frühjahr zu weiteren Offensiven antrete. Hitler stellte sich nicht die Frage, ob es eine reale Gefahr durch jüdische Partisanen gab. Er war rationalen Argumenten in der „Judenfrage" nicht zugänglich. Gerlach dokumentiert dies selbst, wenn er die Kriegserklärung Hitlers an die U S A und die
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Ebd., S. 26-27, Zitat S. 27.
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anschließende Rede v o r den Reichs- und Gauleitern aus der Sicht von Goebbels dokumentiert, in der Hitler wieder die Schuld am Weltkrieg den Juden zuschob 7 5 . Die v o m R S H A herausgegebenen „Ereignismeldungen UdSSR" beinhalteten im Herbst 1941 eine Fülle v o n Behauptungen, wonach jüdische Partisanengruppen vorhanden, einzelne Juden als Führer von Partisaneneinheiten festgestellt oder Juden Zumindestens „bolschewistische Propagandeure" und „Gerüchteverbreiter" seien 76 . Solche Informationen entsprachen Hitlers Feindbild, ihr Wahrheitsgehalt w a r unwichtig. Darüber hinaus ist es fraglich, ob Himmler eine spezifizierte N o t i z gemacht hätte, w e n n es „lediglich" um die Juden in der Sowjetunion ging. Er benutzte diesen Begriff regelmäßig f ü r Besprechungsnotizen, auch w e n n es um detaillierte Fragen ging. „Judenfrage. Sitzung in Berlin", notierte sich der Reichsführer-SS bei einem Telefonat mit Heydrich einen Tag nach der Wannsee-Konferenz 7 7 . A m 11. März, bei einem Telefonat mit demselben Gesprächspartner, schrieb er nur „Judenfrage", o b w o h l hier schon rein terminlich gesehen wichtige Entscheidungen hinsichtlich der Deportationen besprochen wurden 7 8 . Bei einem Gespräch mit dem Staatssekretär des Reichsinnenministeriums notierte Himmler hinter dem Besprechungspunkt „Judenfrage" folgende Klarstellung, ohne auf weitere Details einzugehen: „gehören zu mir" 7 9 .
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Ebd., S. 25. Vgl. z.B. EM 94 vom 25. 9. 1941: „Einsatzgruppe A. Standort Kikerino ... Ein anderes Sonderkommando mußte nach Mogutowo entsandt werden, wo sich 87 Geisteskranke bewaffnet hatten und plündernd durch die Gegend zogen. Es konnte festgestellt werden, daß diese Geisteskranken von 11 Kommunisten, von denen vermutlich auch ein Teil zu einer Partisanenbande gehörte, aufgehetzt worden sind. Die 11 Hetzer, unter denen sich 6 Juden befanden, sowie die Geisteskranken wurden liquidiert", BA, R 58/217, S. 8 der Meldung; EM 95 vom 26. 9. 1941: „Einsatzgruppe D. Standort Nikolajew ... In Wolezowulowo jüdische Partisanengruppen beseitigt", BA, R 58/217, S.40 der Meldung; EM 106 vom 7. 10. 1941: „Einsatzgruppe C. Standort Kiew ... Es konnte festgestellt werden, daß eine rege Propaganda unter den Ukrainern, die besagte, daß die Rote Armee sehr bald die ihr entrissenen Gebiete zurückerobern würde, ihren Ausgangspunkt aus dem Judenviertel nahm", BA, R 58/218, S. 17 der Meldung; EM 107 vom 8. 10. 1941: „Einsatzgruppe B. Standort Smolensk... Auch die bolschewistenfreundliche Mundpropaganda hält nach wie vor an und wird offensichtlich durch feindliche Agenten und Partisanen sowie auch durch die jüdische Bevölkerung planmäßig betrieben", BA, R 58/218, S. 4 der Meldung; EM 108 vom 9. 10. 1941: „Einsatzgruppe B. Standort Smolensk ... Vor allem wird auch auf die Auswirkung der Partisanentätigkeit auf die Mentalität der Bevölkerung geachtet werden müssen. Partisanen, Juden und Kommunisten versuchen ständig durch bolschewistische Flugblätter oder Flüsterpropaganda die an sich gutgewillte Bevölkerung zu verängstigen", BA, R 58/218, S. 7 der Meldung. Hier werden jüdische Partisanen in Mogilew (S.15), Marina-Borka, Borissow und Smolowicze (S.16) gemeldet; EM 113 vom 14. 10. 1941: „Einsatzgruppe C. Standort Nikolajew ... Bei der Uberprüfung angeblicher Kriegsgefangener stellte sich heraus, daß die Juden Pintschowski, Schoichert und Scheschelewski Angehörige einer 120 Mann starken Partisanen-Kompanie gewesen waren". BA, R 58/218, S. 9 der Meldung. Telefonnotizen Himmlers, 21. 1. 1942, BA, NS 19/1439. Nach Auffassung Gerlachs hätte hier „deutsche Juden" u.ä. stehen müssen. Telefonnotizen Himmlers, 11.3. 1942, ebd. Folgt man Gerlach, so hätte dieser Eintrag „Judenabschub" u.ä. heißen müssen. In der Edition des Dienstkalenders sind diese Notizen Himmlers aufgenommen und kommentiert. Dienstkalender Himmlers, Besprechungszettel für 24. 11. 1941, Sonderarchiv Moskau, 1372-5-23.
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Letztlich sprechen gegen eine Interpretation der Eintragung Himmlers vom 18. Dezember 1941 als Anweisung Hitlers zur Umsetzung der Massenmordentscheidung im Sinne einer gesamteuropäischen Festungsmentalität die hier erwähnten Fakten des Jahres 1942: Die Juden in der Sowjetunion wurden fortan während der „Bandenkampfunternehmen" als Partisanen ausgerottet und teilweise als deren Unterstützer von Himmler an Hitler gemeldet. Diese „zweite Welle der Judenvernichtung" war Gegenstand des Gesprächs zwischen den beiden Verbrechern an der Spitze des „Dritten Reichs" 80 . Ihre Begründung für den Mord bewegte sich nach wie vor innerhalb eines rassistisch-antikommunistischen Paradigmas, das von der zivilen, militärischen und polizeilichen Besatzungsverwaltung geteilt wurde. Daß Juden als „Partisanen" galten, erhöhte den Tatbeitrag der militärischen Sicherungseinheiten, denn fortan lag nicht mehr nur ein ideologischer Rechtfertigungsgrund vor. Partisanen waren der zu bekämpfende Gegner von Wehrmacht und Polizei, so daß sich hier ein gemeinsames „Einsatzziel" definieren ließ.
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So Matthäus, Reibungslos.
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Wehrmacht, Krieg und Holocaust
Über fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die deutsche Öffentlichkeit durch das Buch von Daniel Jonah Goldhagen, „Hitlers willige Vollstrecker" 1 sowie durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über den „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1 9 4 1 - 1 9 4 4 " 2 regelrecht aufgeschreckt. Die Vergangenheit war urplötzlich wieder zur Gegenwart geworden, und zwar in einem Maße, wie es die historische Forschung seit den sechziger Jahren nicht einmal ansatzweise vermocht hatte. Ich sage das nicht etwa als frustrierter Historiker, sondern als kritischer Beobachter zweier kraftvoll inszenierter Medienereignisse, deren erzielte Wirkung in der Öffentlichkeit umgekehrt proportional zum wissenschaftlichen Ertrag steht. Es ist nur fair zu sagen, daß es der Hamburger Wanderausstellung besser als der Forschung gelang, wichtige Ausschnitte der Kriegswirklichkeit im Osten und auf dem Balkan optisch in das Land der Täter zurückzubringen. Mit dem Thema meines Beitrages sind zwei zentrale Probleme des „Dritten Reiches" direkt angesprochen: Krieg und Judenmord sowie das Verhältnis von Wehrmacht und Nationalsozialismus. Die Wehrmacht, diese, soziologisch gesprochen, heterogene männliche Massengesellschaft von über 17 Millionen Soldaten aus vier Generationen, fand in den bisherigen Gesamtdarstellungen des „Dritten Reiches" nicht die gebührende Beachtung. Dies ist umso bedauerlicher, als Hitler eine spezifisch nationalsozialistische Innen- und Wehrpolitik nur als Voraussetzung für seine kriegerische Raumpolitik in Europa ansah und die Wehrmacht damit, über ihre schiere Zahl hinaus, zur eigentlichen Schnittstelle von „Volksgemeinschaft", NS-Regime und Expansion wurde. Der generelle Rassismus - mit seinem Kernstück Antisemitismus - war beileibe nicht das politische Bekenntnis eines Mannes, sondern offizielle Staatsdoktrin seit 1933, wie die ersten einschneidenden Gesetze vom 7. April und 14. Juli belegen. Auch der Vernichtungswille gegen „Juden" und andere „Minderwertige" war in der nationalsozialistischen Weltanschauung angelegt. Doch ihre Tötung blieb bis 1939 eine Vision in den Köpfen der Rassenfanatiker. Erst der Krieg eröffnete sukzessive jene Möglichkeiten und Bedingungen, die den Massenmord zur grausamen Wirklichkeit für die unschuldigen Opfer werden ließ 3 . Ein Pionier der Holocaustforschung, Raul Hilberg, definierte bereits 1961 die Wehrmacht als einen Faktor des nationalsozialistischen Vernichtungsprozesses
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Goldhagen, Vollstrecker; vgl. die Rezensionen von Pohl, Holocaust-Forschung; Birn, Revising. H e e r / N a u m a n n (Hrsg.), Vernichtungskrieg; Ausst.-Kat Vernichtungskrieg, nebst Errata und Ergänzungen (1998). D i e Kontroverse dokumentieren drei Veröffentlichungen: Prantl (Hrsg.), Wehrmachtsverbrechen; Thiele (Hrsg.), Wehrmachtsausstellung; Donat/ Strohmeyer (Hrsg.), Befreiung. Vgl. Friedlander, Origins.
Wehrmacht, Krieg und Holocaust
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gegen das europäische Judentum 4 . Auch die deutsche historische Forschung hat seit damals die aktive Beteiligung der Wehrmacht an der Tötung von Juden weiter erhärtet und so die Legende von der „sauberen" Wehrmacht lange vor der Hamburger Ausstellung zerstört 5 . Mit dem Begriff „Holocaust" bezeichne auch ich den vorsätzlichen und systematischen Massenmord der europäischen Juden von 1941 bis 1944 durch staatliche deutsche Organe 6 . Obwohl Holocaust im eigentlichen Wortsinn unzutreffend ist als Bezeichnung für den Mord an den europäischen Juden, hat sich dieser Begriff doch in der Literatur gegenüber dem adäquateren hebräischen Wort „Shoa", Katastrophe, durchgesetzt. Die Verfolgung der Juden seit 1933, das Novemberpogrom von 1938 sowie die Tötungen in Polen gehören allerdings zur notwendigen Vorgeschichte des Holocaust. Bei dem Thema „Wehrmacht und Holocaust" wird man deutschen Soldaten aller Altersstufen und Dienstränge nicht „die respektvolle Anerkennung des großen Könnens und der bis zuletzt durchgehaltenen großen Leistung" zollen können, die Graf Kielmansegg bei deutschen Historikern anmahnt 7 . Das Bündnis zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus für die „nationale Erhebung" Deutschlands begann zwar erst am 30. Januar 1933, aber die ideologischen Kontinuitätslinien von Militär und Partei reichen bis zum Ersten Weltkrieg, dessen geistige Gefangene Hitler wie General von Blomberg gleichermaßen waren. Krieg, Niederlage, Revolution, Versailles und die „Wiederwehrhaftmachung" Deutschlands bildeten die entscheidenden Bezugspunkte in ihrem Denken und Handeln. Auch antijüdische Aktivitäten innerhalb der Streitkräfte hatten 1933 bereits eine Tradition. Ich erinnere nur an die sog. „Judenzählung" vom Herbst 1916, die die Soldaten mosaischen Glaubens ungerechtfertigt als Drückeberger an den Pranger stellte 8 . Die tiefe Enttäuschung über diese einseitige Aufkündigung des Burgfriedens von 1914 und individuelle politische Uberzeugungen sind wohl als eine Ursache dafür anzusehen, daß „der jüdische Anteil in den Soldatenräten (1918/19) überproportional hoch" war 9 . Diese Tatsache führte, in Verbindung mit der russischen Revolution und den alten Stereotypen, zu einem neuen Feindbild: dem jüdischen Bolschewismus. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Bereits im Sommer 1918 setzte ein Heeresoffizier die Bolschewiki in Rußland mit einer „Judenbande" gleich und wünschte sich, ein paar hundert dieser „Judenbengels" an der Kreml-Mauer hängen zu sehen. „Und zwar möglichst so, daß der Tod langsam eintritt, um die Wirkung zu erhöhen" 10 . Nach der deutschen Kapitulation identifizierte ζ. B. ein Marineoffizier den bewaffneten, aber nichtuniformierten Posten vor dem Reichsmarineamt sofort als einen „jüdischen Bolschewik" 1 1 . 1936 wurden Juden auch von
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Hilberg, Vernichtung. Vgl. Jacobsen, Kommissarbefehl; Messerschmidt, Wehrmacht (1969); Streit, Kameraden; Krausnick/Wilhelm, Truppe; Förster, Unternehmen; ders., Sicherung; Umbreit, Weg; Rürup (Hrsg.), Krieg. Vgl. Jäckel, Mord, S. 9 f. und jetzt Berenbaum/Peck, Holocaust, S. 23 ff. Kielmansegg, V o r w o r t zu Masson, Armee. Vgl. Messerschmidt, Juden. Petter, Wehrmacht, S. 163. Zit. n. Baumgart, Ostpolitik, S. 221, Anm. 45. Tagebuch Selchow, 11. 11. 1918, zit. n. Epkenhans, Volk, S. 199.
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der amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung als „Hauptträger der bolschewistischen Propaganda" und damit als Urheber der „Zersetzung der Truppe" noch einmal gebrandmarkt12. In der selektiven „Wehrmacht der Republik", der Reichswehr, hatten Juden von vornherein keine Chance. Als sie auch den bestehenden Veteranen- und Kriegervereinen nicht beitreten konnten, gründeten ehemalige jüdische Soldaten einen eigenen Verband zum Schutz ihrer Interessen: den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Ab 1933 zeigte sich die Reichswehr/Wehrmacht als williger Vollstrecker nationalsozialistischer Ziele. Aufgrund der politischen Richtlinie des neuen Reichswehrministers von Blomberg vom l.Juni 1933, „der nationalen Bewegung mit aller Hingabe zu dienen"13, mußten 70 jüdische Soldaten die Reichswehr 1934 verlassen. „Wegen mangelnder Befähigung", wie es offiziell hieß. Da sich kein Soldat mosaischen Glaubens in der Reichswehr hat nachweisen lassen, liegt die Vermutung nahe, daß die betroffenen Soldaten „nicht arischer Abstammung" waren, wie es in § 3, Abs. 1 des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 hieß. Da nutzte auch der Beweis patriotischer Gesinnung durch den jüdischen Reichsbund vom März 1934 wenig. Es gab allerdings eine grundsätzliche Kritik aus der Reichswehr gegen diese diskriminierende Maßnahme des Ministeriums. Doch der Protest von Oberst von Manstein richtete sich nicht gegen das rassistische Prinzip als solches, sondern vielmehr gegen die nachträgliche Anwendung des „Arierparagraphen" auf aktive Soldaten, die durch ihre Berufswahl gezeigt hatten, daß sie bereit waren, ihr Leben für Deutschland zu opfern14. Vor den Soldaten waren bereits die jüdischen Beamten, Angestellten und Arbeiter von der Reichswehr entlassen worden. Als im Frühjahr und Sommer 1935 eine weitere antisemitische Welle über Deutschland hinwegrollte, wurden die Soldaten der Wehrmacht angehalten, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen15. Mitte August 1935 verbot zwar Himmler jede Einzelaktion von SS-Angehöigen gegen Juden, da „die Lösung der Judenfrage ... eine Sorge des Führers", und nicht die von Einzelnen sei16. Aber von hier aus führte der direkte Weg zu den „Nürnberger Rassegesetzen", die keineswegs auf einen überstürzten Entschluß Hitlers zurückgehen. Natürlich wurde das Juden ohnehin diskriminierende Wehrgesetz vom 21. Mai 1935
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Rückführung, S. 173, 17 f. Abgedr. in: Müller, A r m e e (1987), S. 161. Die Denkschrift v o m 21. 4. 1934 ist abgedr. in: ebd., S. 1 8 3 - 1 8 9 . Verfügung Blombergs, 15. 7 . 1 9 3 5 , B A - M A , R M 8/57. Vgl. auch die Verfügung des Wehrkreiskommandos IX (Kassel) vom 31. 7. 1935 nach dem Besuch des Reichskriegsministers, ebd., R H 53-9/66. Die Vorgesetzten waren angehalten, durch „ständige Erziehung und entsprechende Belehrung" daür Sorge zu tragen, „daß die nationalsozialistische Grundeinstellung auch auf diesem Gebiet baldmöglichst Allgemeingut der Wehrmacht wird". Blombergs Verfügung wurde am 14. 8. 1937 durch Oberst Jodl noch einmal bestätigt, ebd., R H 53-12/67. Vgl. auch die Bestimmungen des Mob-Buches Zivilververwaltung, Ausgabe 1936, Kennziffer 1040, c, auf dem Gebiet des Judenrechts, ebd., Wi/IF5.317 T.2.
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SS-Befehl, 16. 8. 1935, Kriegsarchiv Prag, SS-Division „Das Reich". Vgl. auch die Verfügung des O b d H, Gen d A r t v o n Fritsch, 21. 9. 1935, in der er davon spricht, daß Hitler Einzelaktionen gegen Juden verboten habe, B A - M A , R H 2/v. 134.
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der neuen Rechtslage angepaßt. Ab dem 26. Juni 1936 durften die noch in der Wehrmacht geduldeten sogenannten jüdischen Mischlinge nicht mehr Unteroffizier werden; denn dann wären sie ja Vorgesetzte von deutschen Soldaten gewesen. Nur „nach schärfsten rassischen Gesichtspunkten" ausgewählte Führer und Unterführer sollten, so hatte Hitler am 13. Mai 1936 verfügt, als Erzieher wirken, um in der Wehrmacht, „der soldatischen Schule des Volkes eine Auslese besten deutschen Volkstums zu erhalten" 17 . Wie ernst die militärische Führung die Rassenfrage nahm, zeigt der Fall Dr. Zeise. Der Heerespsychologe im Wehrkreis VII (München) wurde nach einer anonymen Anzeige vom 2. Juli 1935 bei der bayerischen politischen Polizei am 30. September 1936 als untragbar entlassen, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Ab dem 23. März 1938 wurden sämtliche Rasse-Verordnungen auf die Angehörigen des „ehemaligen österreichischen Bundesheeres" übertragen. Nach dem Novemberpogrom erreichte das Oberkommando der Wehrmacht eine Kritik an den Formen der „Judensäuberung". Die Wehrwirtschaftsinspektion XVII meldete aus Wien, daß die weitaus größere Zahl der Österreicher mit der Art und Weise der „Entfernung der Juden" nicht einverstanden sei. Sie empfänden zwar kein besonderes Mitleid „mit dem Juden" und wollten ihn lieber heute als morgen loshaben, aber „ein Tempelverbrennen und Judenverprügeln" sei ihnen nicht ganz verständlich 18 . Der Krieg führte dann zu einer weiteren Verschärfung der rassistischen Personalpolitik des Heeres und antijüdischen Maßnahmen innerhalb der Wehrmacht. Ab Herbst 1942 wurde derjenige als Heeresoffizier untragbar, der gegen die „völlig kompromißlose Haltung" des Nationalsozialismus „in der Judenfrage" verstieß. Nun entließ man auch diejenigen „Mischlinge" aus der Wehrmacht, denen man sowohl vor dem Frankreich-Feldzug als auch vor dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erlaubt hatte, ihre sogenannte Deutschblütigkeit durch „hervorragende Tapferkeit und soldatische Einsatzbereitschaft" vor dem Feind zu beweisen 19 . Wenn schon deutsche und österreichische Juden als „out-group" angesehen wurden, wie ging die Wehrmacht mit den Juden in den besetzten Gebieten um? Der europäische Krieg, den Hitler mit seinem Überfall auf Polen am 1. September 1939 entfesselte, war von Anfang an kein bloßer Waffenkrieg, sondern ein ideologischer Krieg nach außen und nach innen. Es ging nicht um Danzig, sondern um die Errichtung eines großdeutschen Reiches auf rassischer Grundlage. Dieses Ziel schimmert auch im Tagesbefehl des Oberbefehlshabers des Heeres durch: „Die dauerhafte Sicherung deutschen Volkstums und deutschen Lebensraums gegen fremde Übergriffe und Machtansprüche" 2 0 . Im harten Kampf für die eigene Rasse, und damit gegen alles Fremde, konnte es keine gesetzlichen Bindungen, wie etwa das Kriegsvölkerrecht, oder moralische Skrupel geben, 17 18 19
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Verfügung mit Ausführungsbestimmungen, B A - M A , R H 19/ 155. 6. Teilbericht vom 23. 11. 1938, ebd., Wi/IF 5.1614. Vgl. die Verfügung des Heerespersonalamts, 3 1 . 1 0 . 1942, B A - M A , R H 53-7/v. 709; Förster, Policies; Petter, Wehrmacht; Grenville, .Endlösung'. B A - M A , R H 53-7/v. 1069. Im Tagesbefehl des VIII. Armeekorps wurde das gleiche Ziel so umschrieben: „Im bevorstehenden Kampf geht es um die Beseitigung des Unrechts von Versailles, um die Wiedergewinnung uralten deutschen Bodens, um die Rückgliederung von Millionen von Volksgenossen in das Großdeutsche Reich", ebd., R H 24-8/97.
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weder an der Front, noch in der Heimat. Allein der Sieg und die glorreiche Zukunft des rassisch stärkeren deutschen Volkes zählten. O b sich Generale und Offiziere an Himmlers Rede vom Januar 1937 erinnerten, als sieben Einsatzgruppen und ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des S D mit einer Gesamtstärke von etwa 2700 Mann im Spätsommer in Polen einrückten, um alle „reichs- und deutschfeindlichen Elemente rückwärts der kämpfenden Truppe" zu bekämpfen, ist nicht bekannt. Dem Heer, dem diese Einheiten bis zur Ablösung der Militärverwaltung am 26. Oktober 1939 unterstellt waren, wurde nur sukzessive mitgeteilt, worum es der SS bei ihrem Unternehmen „Tannenberg" eigentlich ging. Den vollen Umfang des Mordprogrammes erfuhr die Heeresspitze erst Mitte Oktober. Sie gab sich damit zufrieden, es nicht selbst durchführen oder verantworten zu müssen. Die Verbrechen der SS an Polen und Juden nach dem 1. September 1939 sind bekannt. Aber auch Soldaten beteiligten sich eigenmächtig an SS-Exekutionen oder haben, „teils in einer Freischärlerpsychose, befangen, willkürlich und in großer Zahl Kriegsgefangene und Zivilisten", Juden wie Polen, erschossen 21 . Gegen diese „ernsten Erscheinungen" in der Truppe, für die ein kritischer Kopf im O K H die „jahrelange (weltanschauliche) Erziehung" verantwortlich machte 2 2 , waren Befehlshaber kriegsgerichtlich eingeschritten, um „Landsknechtsmanieren" im Heer abzustellen. Einer wirklichen Bestrafung der Täter, Soldaten wie SS-Männer, wirkten allerdings Hitlers Gnadenerlaß vom 4. Oktober und die Einführung einer Sondergerichtsbarkeit für die SS im Felde am 17. O k t o b e r 1939 entgegen. Nach Ablösung der Militärverwaltung blieb den Kommandeuren nur die Form des Protestes gegen die anhaltenden Mordaktionen der SS an vorgesetzter Stelle. Diese griff der Oberbefehlshaber des Heeres v. Brauchitsch jedoch nicht auf, sondern verteidigte die staatliche „Volkstumspolitik" als notwendig für die Sicherung des deutschen Lebensraumes im Osten. Weil der Heeresführung das „harte" Vorgehen der SS nicht generell mißfiel, sondern bloß der „Blutrausch" der Beteiligten sowie die Gefahr, daß auch die Soldaten verrohten, war der Generaloberst nur interessiert, „die mit diesem Volkstumskampf zu erwartenden, dem Geist der Manneszucht des Heeres schädlichen Vorgänge und Handlungen von der Truppe fernzuhalten" 2 3 . Ähnlich argumentierte ein paar Monate später, am 22. Juli 1940, ein anderer hoher General, der 1939 noch zu den Kritikern der SS gehört hatte, der Oberbefehlshaber der 18. Armee, Generaloberst von Küchler: „Der an der Ostgrenze seit Jahrhunderten tobende Volkstumskampf bedarf zur endgültigen völkischen Lösung einmaliger, scharf durchgreifender Maßnahmen. . .Der Soldat hat sich aus diesen Aufgaben anderer (staatlicher) Verbände herauszuhalten (und) sich auch nicht durch Kritik . . . einzumischen" 2 4 .
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Umbreit, Weg, S. 42. Krausnick/Deutsch (Hrsg.), Groscurth, S. 216, Anm. 546 (10. 10. 1939). Groscurth war der Ic des O b d H . Zum Feindbild deutscher Soldaten in Polen vgl. den Aufsatz von Rossino, Soldiers. Verfügung des O b d H , 7. 2. 1940, zit. n. Krausnick/Wilhelm, Truppe S. 104. Ebd., S. 112.
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Den Umschwung zur Akzeptanz der Morde innerhalb der Generalität bewirkten zwei Ereignisse: Himmlers persönliche Erläuterung vom 13. März 1940 vor der Generalität, daß er nur auf Befehl Hitler handele, und der unerwartete militärische Triumph über Frankreich im Sommer 1940. Ein in Polen stationiertes Armeekorps meldete der 18. Armee auf Anfrage Mitte September 1940 lapidar: „Bezüglich der Einstellung zu den Juden bedarf es keiner Erörterung. Bis zum letzten Mann hat sich der Standpunkt durchgesetzt, daß jeglicher Verkehr mit dieser Rasse unmöglich ist und daß sie eines Tages aus dem deutschen Lebensraum restlos verschwinden muß" 2 5 . Der Blitzkrieg gegen die Sowjetunion bedeutet eine Zäsur des Zweiten Weltkrieges. Er war Hitlers eigentlicher Krieg. Militärische Operationen zur Eroberung der europäischen Sowjetunion und politisch-polizeiliche Maßnahmen zur Vernichtung des jüdischen Bolschewismus bildeten nämlich für ihn eine Einheit, oder wie Eberhard Jäckel einmal in Anlehnung an Andreas Hillgruber formulierte, „Hitlers doppeltes Kernstück" 26 . Strategie und Mord konnten von Hitler zu einem schwer auflösbaren Knoten verknüpft werden, weil Offiziere und Juristen in den Oberkommandos 1941 gewillt waren, die Truppe den von ihm verlangten „Vernichtungskampf" gegen Judentum und Bolschewismus mitdurchfechten zu lassen. Deshalb konnten Hitlers Weisungen in Weltanschauungsfragen zu „Befehlen in Dienstsachen" werden. Es ist schlichtweg falsch, weiterhin anzunehmen, nur Hitlers Weltanschauungstruppen, die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, Ordnungspolizeibataillone und Waffen-SS Brigaden, hätten nach dem 22. Juni 1941 begonnen, Juden und Kommunisten in großem Stil zu erschießen. Auch das Heer sollte rücksichtslos gegen „bolschewistische Hetzer", Juden, Freischärler und Saboteure vorgehen sowie die uniformierten „Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung", die Kommissare der Roten Armee, gleich nach ihrer Gefangennahme erschießen. Weil letzteres ebenso rechtswidrig war wie die Hinrichtung von Zivilisten beim bloßen Verdacht der Freischärlerei auf Befehl eines Offiziers, war mit dem sogenannten Gerichtsbarkeiterlaß vom 13. Mai 1941 eine präventive Amnestie für Verbrechen von Soldaten gegenüber Sowjetbürgern in und ohne Uniform erlassen worden 2 7 . Daß der deutsch-sowjetische Krieg aber eine besondere Qualität bekam, lag nicht nur am schonungslosen Vorgehen von Wehrmacht und SS, sondern auch an der sowjetischen Reaktion sowie den Konsequenzen, die Hitler daraus zog. Stalins öffentliche Erklärung vom 3. Juli 1941, einen erbarmungslosen Volkskrieg hinter den deutschen Linien führen zu wollen, begriff Hitler wiederum als willkommene Chance, sein Vernichtungsprogramm noch überzeugender als militärisch begründetes Vorgehen gegen sowjetische Partisanen auszugeben und „auszurotten, was sich gegen uns stellt" 28 . Der verständliche Wunsch der Truppe nach Sicherheit im Rücken wurde dazu benutzt, Terror gegen die Zivil-
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G e n K d o III. Armeekorps, Abt. Ic, 20. 9. 1940, B A - M A , R H 24-3/36. Jäckel, Kernstück. Vgl. Förster, Unternehmen, S. 241 ff. Aufzeichn. Bormanns über die Besprechung vom 16. 7. 1941, IMT, 38, S. 88.
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bevölkerung und summarische Erschießungen von vornehmlich Juden und Kommunisten zum gängigen Mittel zu machen, jeglichen Widerstand gegen die deutsche Besetzung auszuschalten 29 . Das Verhalten der Wehrmacht in den besetzten Gebieten vollzog sich im Geflecht von Vorgaben von oben, Reaktion des Gegners, Nachsteuern von oben und Eigeninitiative, war also befehls-, motivations- und situativ bedingt. Dabei spielte die direkte Zusammenarbeit des Heeres mit den Einsatzgruppen eine geringere Rolle 3 0 . Die drei Waffen SS-Brigaden des „Kommandosstabes Reichsführer SS" und die Ordnungspolizeibataillone der Höheren SS und Polizeiführer wurden - neben ihrem „Sonderauftrag" - viel häufiger für militärische Sicherungsaufgaben eingesetzt. Nicht zu vergessen die neun Polizeibataillone, die den Sicherungsdivisionen des Heeres direkt unterstanden 31 . Besonders das Leben der Juden änderte sich dramatisch mit dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion. Die Wehrmacht führte den ersten Schlag. Sie kennzeichnete Juden, zog sie zur Zwangsarbeit heran und errichtete erste Ghettos. Die SS begann allerdings sofort mit Massenerschießungen. Dies geschah durchaus nicht im Verborgenen. Erinnert sei nur an das Massaker des PolizeiBataillons 309 in Bialystok Ende Juni 1941, das direkt unter den Augen der vorgesetzten 221. Sicherungsdivision stattfand und bei dem mindestens 2000 Juden, darunter auch Frauen und Kinder, den Tod fanden. Dieses Massaker ist ein weiteres Beispiel für die „zweierlei Wirklichkeit" im Partisanenkampf, die sich dem Historiker erst durch den Vergleich von Prozeß- und Heeresakten erschließt 3 2 . Während das Gericht 1973 feststellte, daß die relativ große Synagoge in Bialystok mit Juden vollgestopft und angezündet wurde, lesen wir im Kriegstagebuch der Division: „Es ist eindeutig geklärt, daß die Synagoge in Brand geschossen wurde, weil aus ihr geschossen wurde" 3 3 . Generalleutnant Pflugbeil war stolz auf die Einnahme der Stadt durch seine Sicherungsdivision. Für diesen „schönen Erfolg" sprach er allen Einheiten „seine vollste Anerkennung" aus. Gleichzeitig ordnete Pfugbeil an, daß Zivilpersonen nur erschossen werden dürften, „wenn Widerstand geleistet wird, dann aber sofort am Tatort oder abgesondert von Zuschauern". Auch Brände seien zu vermeiden. Dieser mündliche Befehl war an alle Einheiten gerichtet, nicht nur an das Polizeibataillon 34 . Bereits nach zwei Wochen Kampf stand für die 221. Sicherungsdivison fest, daß „die Juden die Bildung von Partisanengruppen und die Beunruhigung des Rau-
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Vgl. Hitlers Weisung N r . 33a vom 23. 7. 1941 und die Verfügung des O b d H vom 25. 7. 1941. Beide zit. u. erläut. in: Förster, Sicherung S. 1030 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang den neu aufgetauchten Tätigkeitsbericht der Einsatzgruppe Β bei der Heeresgruppe Mitte für die Zeit vom 23.6.-13. 7. 1941, in: Klein (Hrsg.), Einsatzgruppen, S. 3 7 9 - 3 8 1 . Vgl. Förster, Gesicht, S. 1 5 5 - 1 5 7 , 1 5 9 - 1 6 1 ; Kwiet, Auftakt. Vgl. Birn, Wirklichkeit. Vgl. die jüngste Studie von Longerich, Massenmord, S. 4 9 ff., die sich auf das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 24. 5. 1973 stützt und so die bekannten Darstellungen von Browning und Goldhagen korrigieren kann, sowie das K T B der 221. SichD i v vom 2 8 . 6 . 1941 und den Bericht des P o l B t l 309 vom 1. 7. 1941, B A - M A , R H 2 6 - 2 2 1 / 1 0 bzw. 24. Pohl, Holocaust-Forschung, S. 26, meint dagegen, mit dieser Anordnung habe Gen. Pflugbeil allein die Vorgehensweise des PolBtls gerügt.
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mes durch versprengte russische Soldaten" unterstützten. Sie ordnete daraufhin die Evakuierung sämtlicher Dörfer nördlich Bialowieze von allen männlichen Juden an 35 . Da diese Maßnahme nach Meinung eines Bataillonskommandeurs des Infanterieregiments 350 nicht ausreichten, „den Einfluß der Juden" zu beseitigen, wurde vom Regimentskommandeur eine radikalere Lösung der „Judenfrage" gefordert. Doch im Stab der Division wurde der Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dies sei „Sache der Polizei, die schon das Richtige veranlassen wird" 3 6 . Bereits Ende Juli 1941 hatte der Ic der Sicherungsdivision einer „Ausmerzung des Judentums" zwar das Wort geredet, aber eben nicht durch die Wehrmacht 37 . Es war dann das Polizei-Bataillon 322, daß die 77 evakuierten Juden aus dem Jagdrevier von Bialowieze erschoß 38 . Auch auf Seiten der SS wurde im Sommer 1941 darüber diskutiert, wie die „Judenfrage" umfassender gelöst werden könne. Obwohl die Polizei ab Mitte Juli 1941 dazu überging, alle männlichen Juden zwischen 17 und 45 Jahren (die Wehrpflichtigen!) zu erschießen, wurde dennoch bezweifelt, ob allein dadurch „das jüd(ische) Problem einer grundsätzlichen Lösung zugeführt werden" könne 39 . Mitte August 1941 dehnte man das allgemeine Todesurteil erst auf alle männlichen Juden zwischen 16 und 65 Jahren (die Zeugungsfähigen!) aus, später auch auf Frauen, Kinder und Alte. Vergessen wir auch nicht, daß die Wehrmacht der SS am 8. September 1941 erlaubte, alle Juden aus den sowjetischen Kriegsgefangenen in Wehrmachtgewahrsam auszusondern und zu erschießen. Ab Oktober durften die Sonderkommandos auch in die dem O K H unterstehenden Kriegsgefangenenlager im Operationsgebiet. Ihre Zahl belief sich, nach Angabe der Gestapo, bis Anfang Dezember 1941 auf 16000. Insgesamt fielen den politischen und rassischen „Aussonderungen" weit über 140000 sowjetische Gefangene zum Opfer 40 . Die Ermordung von über 14000 Juden in den Pripjat'-Sümpfen durch die SSKavallerie Brigade unter Standartenführer H. Fegelein geschah zwar nicht unter den Augen der Wehrmacht, aber der militärische Befehlshaber, in dessen Auftrag die Waffen-SS Einheit dieses Gebiet „säuberte", wußte sehr wohl, daß mit der allgemeinen Formel „Niederdrückung der Juden" keine „normale" Partisanenbekämpfung gemeint war. General der Infanterie von Schenckendorff nahm auch den schon bekannten Hinweis, daß die Verbindung der Partisanenabteilungen untereinander „vor allem durch Juden" aufrechterhalten würde und „judenfreie" Dörfer in keinem Fall Stützpunkte der Partisanen gewesen seien, 35 36
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KTB-Eintrag vom 8. 7. 1941, B A - M A , R H 26-221/10, Bl 87, Rs. Ebd., R H 26-221/21, Anl. 294 und 295, Berichte vom 18. u. 19. 8. 1941, letzterer mit Randbemerkungen vom 20. 8. 1941. Sowohl Heer, Killing Fields, S. 66 f. als auch Hilberg, Vernichtung, S. 317, zitieren zwar die antisemitische Forderung des RgtKdrs vom 19. 8. 1941, nicht aber die abweichende Haltung im Stab der SichDiv (Marginalie wohl die des I c). Bericht zur Übergabe des Bezirks Bialystok an Ostpreußen vom 28. 7 . 1 9 4 1 , B A - M A , RH 26-221/70. Vgl. Kwiet, Auftakt, S. 200ff.; Angrick u.a., Tagebuch, S. 339. Tätigkeitsbericht des Ic des KdoStab RFSS vom 28. 7. 1941, Kriegsarchiv Prag, KdoStab RFSS, Karton 5, Mappe 27. Vgl. Förster, Herrschaftssystem, S. 39; Kwiet, Auftakt S. 197 f. und jetzt Longerich, Massenmord. Vgl. Streit, Kameraden, S. 105 und den Beitrag Otto.
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zustimmend zur Kenntnis und empfahl seinen Sicherungsdivisionen, das radikale Vorgehen der SS nachzuahmen 4 1 . Babij Jar ist zum Symbol für den Judenmord der SS auf dem Boden der Sowjetunion geworden, so wie Auschwitz für die physische Endlösung im europäischen Maßstab. Der Name der Schlucht von Kiev steht aber auch beispielhaft für die Zusammenarbeit von Heer und SS. Es war ein General, der das Sonderkommando 4a um „radikales Vorgehen" gegen die Juden gebeten hatte, nachdem von der Roten Armee gelegte Sprengkörper erhebliche Sachschäden in der Stadt angerichtet und einigen deutschen Soldaten das Leben gekostet hatten, und es war eine Propagandakompanie des Heeres, die den Aufruf an die Kiever Juden druckte. Die SS verfolgte allerdings von Anfang an auch ihr eigenes Mordprogramm. Konnte schon bei denen, die angesichts der von Hitler als notwendig eingestuften rassischen „Flurbereinigung" die Augen schlossen, kein Widerstand erwachsen - Feldmarschall von Leeb ist ein klassisches Beispiel für diese Haltung 4 2 - dann umso weniger bei denen, die die „restlose Ausmerzung dieses volksfremden Elements" eindeutig zustimmend zur Kenntnis nahmen und darin eine Hilfe für ihre eigene Befriedungspolitik erblickten 43 oder das Motto der SS: „wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan" für ihr Vorgehen übernahmen 4 4 . Natürlich gab es Offiziere, die wieder für eine klare Aufgabentrennung von Heer und SS eintraten, die die Beteiligung von Soldaten an SS-Aktionen oder das eigenmächtige Erschießen von Juden, „Lynchjustiz", verboten 4 5 , gegen die Morde der SS protestierten oder Juden vor der SS in Schutz zu nehmen suchten 4 6 , Offiziere, die Skrupel hatten, kollektive Sühnemaßnahmen gegen Juden und Kommunisten zu befehlen 47 , oder protestierten, daß andere Offiziere eigenhändig verdächtigte Partisanen erschossen 48 sowie für eine menschliche Behandlung der Zivilbevölkerung und der gefangenen Partisanen eintraten. Ihre Bemühungen waren vergebens; so auch die des Generals von Tiedemann, der nicht nur das Mißtrauen anderer Stellen im Felde erregte, sondern darüber hinaus beim O K H angeschwärzt wurde 4 9 . Weil das Heer nicht monolithisch und eine Bandbreite im Verhalten gegenüber den Ju-
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Vgl. Förster, Unternehmen, S. 159 f.; Birn, Wirklichkeit, S. 2 7 6 ff. Völlig ungenügend, weil beschönigend dagegen der Bildband von Yerger, Riding. Meyer (Hrsg.), Generalfeldmarschall, S. 288 (8. 7. 1941). Vgl. zu den Morden in Kovno den Aufsatz von Porat, Legend. Monatsberichte des Kdten in Weißruthenien und zgl. K d r der 707. InfDiv, Abt. Ia vom O k t o b e r / N o v e m b e r 1941, B A - M A , R H 2 6 - 7 0 7 / 1 . Z u m „Erfahrungsaustausch" zwischen H e e r und SS im September 1941 vgl. Förster, U n ternehmen, S. 159ff.; ders., Sicherung, S. 1043 f. Ebd., S. 1047 ff. Z u m Beispiel der Ia der 295. InfDiv., ebd., S. 1047 f. Dies beklagte der K d r der 99. InfDiv am 2 6 . 9 . 1941, B A - M A , 2 1 4 0 0 / 1 7 . Ein anderer Kommandeur kritisierte die „Weichheit" seiner Soldaten. Es ginge nicht an, daß die Offiziere schießen müßten, während die Männer zusähen, ebd., R H 2 6 - 2 2 1 / 2 2 . Vgl. die Beschwerde eines Zugführers im Radfahr-Wach-Btl 50, 24. 9. 1941, ebd., R H 23/228. Bericht des Heerespolizeichefs an den Generalquartiermeister vom 3. 3. 1942, Sonderarchiv Moskau, 5 0 0 / 1 / 7 4 9 . E r gelangte auch ins R S H A . Für diese Quelle danke ich meinem Freund Hans Umbreit. G e n L t . von Tiedemann hatte sich schon Ende Juli 1941 für eine saubere Trennung der Aufgaben von H e e r und SS eingesetzt.
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den in der Sowjetunion vorhanden war, schwankte das Urteil der SS über das Heer auch zwischen „mangelndem Verständnis" für ihr radikales Vorgehen und „ausgezeichneter Zusammenarbeit" sowie „erfreulich guter Einstellung gegen die Juden" 5 0 . Doch wenden wir uns wieder der „Befriedungspolitik" der Wehrmacht zu. Zur Ausschaltung tatsächlicher oder vermeintlicher Partisanen war der Truppe Ende Juli 1941 vom Oberfehlshaber des Heeres befohlen worden, keine Geiseln zur Haftung für zukünftigen Widerstand zu nehmen, sondern bei Sabotageakten ohne Täterfeststellung sofortige „Sühnemaßnahmen" durchzuführen. Die Tatsache, daß noch nicht an allen Stellen mit der erforderlichen Härte und Rücksichtslosigkeit gegen Juden und Kommunisten durchgegriffen worden war, führte dazu, daß das O K W die Truppe noch einmal daran erinnerte, daß die Juden die „Hauptträger des Bolschewismus" seien 51 . Wenige Tage später wurde der Ende Juli 1941 verschärfte „Kriegsbrauch mit östlichen Mitteln" auf die übrigen besetzten Gebiete zu übertragen. Die Wehrmachtbefehlshaber wurden von Feldmarschall Keitel informiert, daß Hitler angeordnet habe, ..überall mit den schärfsten Mitteln einzugreifen", um die kommunistischen „Umtriebe" im Keime zu ersticken. „Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 5 0 - 1 0 0 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muß die abschreckende Wirkung noch erhöhen" 5 2 . Die Befehlshaber und Kommandeure hatten also einen gewissen Spielraum, den sie so oder so nutzen konnten. „Sühnemaßnahmen", das hieß in der Regel: summarische Exekutionen und/ oder Zerstörung ganzer Dörfer. In einer solchen Situation kam es auf den Offizier an O r t und Stelle an. Bei ihm lag die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod der angetroffenen Bevölkerung. Er mußte entscheiden, ob echte Partisanen unter ihr waren oder einzelne als Partisanen bzw. nur als deren Helfer oder Sympathisanten verdächtig waren. In solchen Fällen kam es auf den Charakter, die Mentalität und den ideologischen Hintergrund jedes einzelnen Offiziers an, der wiederum an die Befehle seiner Vorgesetzten gebunden war. So erschoß ζ. B. die 62. I D - keine Sicherungsdivision, sondern eine Frontdivision - nach einer „Säuberungsaktion" Anfang November 1941 in Mirgorod außer 45 Partisanen auch die „gesamte jüdische Bevölkerung (168 Köpfe) wegen Verbindung mit Partisanen" 5 3 . Es gab auch Offiziere, die sich einer persönlichen Entscheidung entzogen und verdächtigte Personen dem SD überstellten, wohlwissend, daß dies das Todesurteil für sie bedeutete. Dem offiziellen Sicherheitsbedürfnis der Truppe in einer feindlich gewordenen Umwelt entsprach zwar die rücksichtslose Vernichtung der Partisanen und ihrer „Helfershelfer", auch die „gelegentliche" Erschießung von Unschuldigen, aber nicht ein „allgemeines Hin-
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Streit, Kameraden, S. 111 f.; Klein (Hrsg.), Einsatzgruppen, S. 1 1 3 , 3 8 0 f . 12. 9. 1941, zit. n. Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik, S. 72. Diese Weisung erreichte über das A O K 9 auch die 6. Panzerdivision, die sie dann am 20. 10. 1941 ihren Einheiten bekanntgab, B A - M A , R H 2 7 - 6 / 1 1 5 . O K W Verfügung, 16. 9. 1941, B A - M A , R W 4/v. 601. Vgl. den Beitrag Richter in diesem Band. Eintrag vom 3. 11. 1941, B A - M A , R H 22/3.
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metzeln und Niederbrennen von Dörfern durch einzelne Soldaten" 5 4 . Denn damit war die Disziplin der Truppe gefährdet. Gewaltmaßnahmen solchen Ausmaßes waren an die Entscheidung zumindest eines Bataillonskommandeurs gebunden. Im Herbst 1941, als die Blitzkriegsillusion geschwunden war, forderten mehrere Armeeoberbefehlshaber die Soldaten auf, ihre Aufgabe im Ostraum nicht mehr nur rein militärisch anzusehen, sondern sich auch als Träger einer unerbittlichen völkischen Idee zu begreifen, deren Ziel es sei, die asiatisch-jüdische Bedrohung des Lebensraumes des nationalsozialistischen deutschen Volkes für immer zu beseitigen. Welch starke Rolle auch die Erinnerung an die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg bei der Vernichtung der Juden spielte, sehen wir daran, daß Reichenau, Manstein und Hoth von ihren Soldaten forderten, Verständnis für die „harte, aber gerechte Sühne am (gleichen) jüdischen Untermenschentum" zu haben, das aus ihrer Sicht 1918 den Dolchstoß gegen das kaiserliche Heer geführt und jetzt 1941 Helfer der Partisanen, der Mordorganisation des Bolschewismus war 5 5 . Diese furchtbaren Befehle hatten natürlich Konsequenzen, die die osterfahrenen Truppenführer seit dem September 1939 kannten. Dennoch forderten sie ihre Offiziere auf, das gesunde Gefühl des Hasses des einfachen Mannes gegenüber dem rassisch minderwertigen Gegner nicht zu unterdrücken, sondern zu stärken. Am 6. November 1941 sprach auch Stalin das erste Mal von einem „Vernichtungskampf". Diese Absichtserklärung wurde wiederum im Heer als ein Beweis für das „Mordgelüst (einer) völlig vertierten (sowjetischen) Führung" angesehen und zur Steigerung der eigenen Kampfmoral gegen den Ansturm des „roten Gesindels" benutzt 5 6 . Schreckliche Gipfel, nicht die N o r m militärischer Befriedungspolitik während des Zweiten Weltkrieges stellen das Verhalten der Befehlshaber in Weißrußland und Serbien dar. Der Kommandeur der 707. I D , eine nicht vollwertige bayerische Divison 15. Welle, Generalmajor von Bechtolsheim, sah in den Juden nicht nur den Todfeind Deutschlands, sondern verbrecherische Bestien, die ebenso wie die Zigeuner vernichtet werden mußten 5 7 . Deshalb kam es in seinem Gebiet zu einer „Arbeitsteilung" mit der SS. Während diese vornehmlich die größeren Städte „judenfrei" machte - so ermordete ζ. B. das der 707. Division unterstellte Reserve-Polizeibataillonl 1 (mit litauischer Schutzmannschaft) 5900 Juden im Raum Sluzk-Kleck - gingen die Einheiten der Division gegen Juden, Zigeuner und „sonstiges Gesindel" auf dem flachen Land selber vor 5 8 . Ihnen wurde gene-
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Ausführungsbestimmungen des G e n K d o s L I . Armeekorps betr. Partisanenbekämpfung vom 12. 11. 1941, ebd., L I . A . K . , 15290/26. Vgl. Förster, Sicherung, S. 1 0 4 9 - 1 0 5 4 . Dieser Befehl, der - ähnlich dem Reichenaus vom O k t o b e r 1941 - die „besondere Billigung" Hitlers gefunden hatte, wurde vom I. Armeekorps am 10. 1. 1942 verteilt, B A - M A , R H 26-291/27. Vgl. den Tagesbefehl vom 16. 10. 1941, zit. n. Heer, Killing Fields, S. 86; Lagebericht vom 16. 10. 1941, U S H M M A , R G 53.002M. Lagericht vom 16. 10. 1941 u. Befehl N r . 24 vom 24. 1 1 . 1 9 4 1 , Ziffer 5, ebd., R G 53.002M. Vgl auch den Beitrag Stang in diesem Band und die Monatsberichte der Division 1941/42, die in: Förster, Rolle, S. 13 f., ausführlich zitiert werden.
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rell vorgeworfen, mit den Partisanen gemeinsame Sache zu machen 59 . Als Erfolg ihrer selektiven Repressionsmaßnahmen konnte die 707. Division nach oben melden, innerhalb von vier Wochen 10431 „Gefangene" (von einer Gesamtzahl von 10 940) erschossen zu haben. An eigenen Verlusten hatte sie aber nur 2 Tote und fünf Verwundete zu beklagen 6 0 ! In einer Beurteilung vom 1. April 1942 wurde Generalmajor von Bechtolsheim als „tüchtiger Divisionskommandeur" beschrieben, der seine Stelle gut ausfülle und die Truppe sicher in der Hand habe. „Grosses Unternehmen gegen die Partisanen ist von ihm zweckmäßig angelegt und unter Tatkraft durchgeführt worden" 6 1 . Ein zweites, nicht alltägliches Beispiel stellt das Verhalten des deutschen Befehlshabers in Serbien dar. Während in Frankreich zwischen September 1941 und Mai 1942 durch die Wehrmacht 466 Geiseln erschossen wurden, fielen der rigorosen „Vergeltungspolitik" General Böhmes in Serbien allein zwischen September 1941 und Februar 1942 fast 28000 Menschen zum Opfer, 7756 „Aufständische" sowie 20149 „Sühnepersonen" 62 , darunter waren alle männlichen Juden! Doch das war dem O K W noch immer nicht genug. Es kritisierte die zu geringe Zahl der „Liquidierten" und die zu hohe Anzahl der Gefangenen! Neben einem virulenten Antisemitismus und exzessiver Auslegung von „militärischer Notwendigkeit" spielte auch auf dem Balkan Rache für den negativen Ausgang des Ersten Weltkrieges eine große Rolle, dort allerdings für Österreich-Ungarn. Auffällig bei dieser Art von Partisanenkampf, die sich auch in den Berichten anderer Divisionen findet, ist zum einen die Selektion bestimmter Gruppen und ihre summarische Hinrichtung bei unaufgeklärten Sabotageakten. Auffällig zum anderen ist die große Diskrepanz zwischen den Zahlen getöteter sog. Partisanen und den eigenen Verlusten, der geringe Unterschied zwischen als verdächtigt festgenommenen und später erschossenen Zivilisten sowie die geringe Zahl erbeuteter Waffen. Die pauschalen Exekutionen lassen sich mit dem regelmäßig angeführten Sicherheitsbedürfnis der Truppe gegenüber „feigen Anschlägen" im Rücken der Front allein nicht rechtfertigen, sondern sie machen vielmehr den ideologischen Hintergrund des sogenannten militärischen Vorgehens unübersehbar. Die fatalen rechtlichen Grundlagen für diese Art von Befriedungspolitik der Wehrmacht bildeten Erlasse vom Frühjahr 1941, deren Ergänzungen vom Sommer und spezifische Auslegungen durch die Truppe. Auch 1942 schien Abschreckung durch gnadenlose Bestrafung immer noch die erfolgversprechende Methode zu sein, den zunehmenden Widerstand zu brechen, trotz negativer Erfahrungen. In den Reichskommissariaten war Himmler mit seinen Vertretern im Feld, den HSSPF, seit August 1942 für den „Bandenkampf" allein zuständig, die Wehrmachtbefehlshaber von dieser Verantwortung befreit.
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Dies tat auch Bechtolsheims Vorgesetzter, GenLt Braemer. Vgl. dessen Schreiben an Reichskommisar Lohse vom 20. 11. 1941, in: Schumann u.a. (Hrsg.) Europa, 7, S. 2 2 5 f . Monatsbericht vom 11.10.-10. 11. 1941, B A - M A , R H 26-707/v. 1. Zur Besatzungspolitik in Weißrußland allgemein vgl. Chiari, Alltag. National Archives, Washington, R G 1027. Schreiben vom 13. 2. 1942, B A - M A , R W 40/26. Zu Serbien vgl. Manoschek, Serbien.
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Allerdings unterstützten diese die SS bei ihren Aktionen mit Heereseinheiten ebenso wie der Befehlshaber im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte 63 . Die mit der SS abgestimmte „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten" des OKW vom 11. November 1942 unterstrich zwar die Wichtigkeit einer korrekten Behandlung und besseren Ernährung der Bevölkerung, forderte aber in erster Linie die Vernichtung der „Banden" im Operationsgebiet des Heeres 64 . Diese Praxis bedeutete, daß sich das Heer unter dem Deckmantel des Partisanenkrieges und der Vergeltung für Anschläge auch an der zweiten Phase des Holocaust aktiv beteiligte. Tausende in die Wälder und Sümpfe Weißrußlands geflüchtete Juden, aber auch Sinti und Roma wurden von gemischten „Bandenkampfverbänden" ermordet 65 . Für die ersten drei Monate ihrer Tätigkeit im Osten konnten Himmler und sein „Bevollmächtigter für Bandenbekämpfung", von dem Bach-Zelewski, Hitler melden, daß insgesamt 24900 „Banditen", 14257 „Bandenhelfer und -verdächtige" sowie 363211 Juden erschossen worden seien 66 . Allein vor dem Hintergrund dieser Zahlen erscheint es als eine Fehlinterpretation, wenn Christian Gerlach den Eintrag in Himmlers Terminkalender vom 18. Dezember 1941: „Judenfrage. I als Partisanen auszurotten" als Hitlers Entscheidung, alle europäischen Juden zu ermorden, deutete, weil es in den besetzten sowjetischen Gebieten „gar keine jüdischen Partisanen in nennenswerter Zahl" mehr gegeben habe 67 . Hitler ging es immer noch um die radikale Ausschaltung der Partisanen insgesamt, nicht nur um die Juden unter ihnen, da sie die deutsche Herrschaft empfindlich störten. Deshalb erklärte er im Rahmen des militärischen Lagevortrages am 10. März 1942, daß man nicht umhinkommen werde, „ganze Millionen der Bevölkerung auszurotten, da es sich doch um einen Rassenkrieg handele und wir später absolute Sicherheit in diesen von uns besetzten Gebieten haben müßten" 68 . Am 2./3. März 1942 hatte die SS in Minsk mit den am 29. Januar 1942 beschlossenen „starken Exekutionen" von Juden begonnen, um das Reichskommissariat Ostland „judenfrei" zu machen 69 . Der 339. Infanteriedivision erschien es Anfang November 1942 angebracht, die Truppe daran zu erinnern, „daß Juden und Zigeuner nur dann zu erschießen seien, wenn sie als Partisan oder ihre Helfer festgestellt seien... Erschießen von Frauen, sofern sie nicht
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Vgl. Ereignismeldung UdSSR Nr. 186 vom 27. 3. 1942, Besprechung vom 8. 3. 1942. Abgedr. in: Ueberschär/Wette (Hrsg.), Unternehmen, S. 376. B A - M A , R H D 6/692, Anhang 2. Zur Verquickung von militärischen Notwendigkeiten mit Mordaktionen vgl. Umbreit, Krieg an der „zweiten Front"; Wegner, Partisanenkrieg, S. 919; Umbreit, Problem; Bim, Wirklichkeit, S. 2 8 4 f f . 1 . 9 . - 1 . 1 2 . 1 9 4 2 . Vgl. Longerich, Rußlandkrieg, S. 92 f. Gerlach, Wannsee-Konferenz, S. 22. Vgl. den unveröffentlichten Vortrag von Peter Longerich v o m 19. 1. 1998 im Haus der Wannsee-Konferenz und die kritische Rezension von Ulrich Herbert in der N Z Z vom 14./15. 3. 1998, S. 53. Himmlers Terminkalender vom 1. 1. 1 9 4 1 - 3 1 . 12. 1942 mit gelegentlichen handschriftlichen Bemerkungen liegt im ehem. Sonderarchiv in Moskau, 1372/5/23 (Kopie im Besitz des Verfassers). B A - M A , Msg 1/1508. Vgl. Matthäus, Welle, S. 261 f.
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gleichfalls als Partisanen oder ihre Helfer festgestellt seien, und von Kindern sei nicht die Aufgabe der Truppe" 7 0 . Die 707. Divison hatte dagegen bereits im März 1942 „rücksichtslosestes Durchgreifen" gegen Frauen und Kinder gefordert. Die noch immer unterschiedliche Vorgehensweise von Heeresverbänden erregte das Mißfallen Hitlers. Mit deutlicher Kritik an einzelnen ungenannten Kommandeuren erklärte er im Dezember 1942, daß die Truppe im Kampf gegen die „Banden" berechtigt und verpflichtet sei, „ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führe." Der Oberste Befehlshaber verfügte, keinen Deutschen „wegen seines Verhaltens im Kampf gegen Banden oder ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft" zu ziehen 7 1 . War im Frühjahr 1941 der Verfolgungszwang bei Verbrechen und Vergehen der Truppe für die Zeit des Blitzsieges aufgehoben worden, so erging nun in Anbetracht eines Zermürbungskrieges ein ausdrückliches Verfolgungsverbot. Die Anweisungen zur Bekämpfung der Partisanen in allen besetzten Gebieten wurden zwar im April 1944 offiziell gemildert, doch die schwierige operative Lage und das Sicherheitsbedürfnis der Truppe mußten auch danach weiter zur Rechtfertigung brutalster Mittel gegen die Zivilbevölkerung, z . B . in Italien, herhalten 72 . Im Kampf gegen wirkliche oder vermutete Partisanen bzw. bei „Sühnemaßnahmen" gegen die Zivilbevölkerung entstand aus eigener Befehlslage und Reaktion des Gegners ein Geflecht von militärischen Aktionen. Waren einige noch vom damaligen Stand des Kriegsvölkerrechts gedeckt, so glichen doch viele eher dem Vernichtungskampf der SS als traditioneller Kriegführung. Die situative Bedingheit der Soldaten und Phänomene wie Dehumanisierung des Gegners, Gewöhnung und Abstumpfung bekamen im Verlauf des Krieges eine immer größere Bedeutung für die Mitwirkung der Wehrmacht an der Vernichtung der Juden, Zigeuner, Kommunisten und „Partisanen" als vermeintlich ideologische Uberzeugungen 7 3 . Vor diesem Hintergrund deutscher Besatzungspolitik klingt es wie Hohn, wenn ein Generalstabsoffizier nach dem Krieg urteilt: „Der Soldat ist am ehesten zur Befriedung eines eroberten Landes geeignet und dazu, seine Wunden zu heilen, besser als Parteiinstanzen oder Wirt-
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Merkblatt vom 2. 11. 1942, zit. n. Hilberg, W e h r m a c h t , S. 25. D i e 281. SichDiv stellte am 24. 3. 1943 noch einmal klar, daß sich die Zuständigkeit militärischer Dienststellen darauf beschränke, „herumziehende Zigeuner" und Juden dem nächsten Einsatzkommando der Sipo und des S D „zuzuführen". Eine Mitwirkung bei anschließenden Liquidierungen als „politische M a ß n a h m e " sei nirgends vorgesehen und werde abgelehnt, B A - M A , R H 26-281/10. O K W / W F S t / O p ( H ) N r . 0 0 4 8 7 0 vom 16. 12. 1942, Kriegsarchiv Prag, KdoStab R F S S , Karton 4, Mappe 21 und H e i b e r (Hrsg.), Lagebesprechungen, S. 65 ff. (1. 12. 1942). Vgl. Schreiber, Kriegsverbrechen; ders., Partisanenkrieg. D i e Feldmarschälle Kesselring und R o m m e l hatten bereits am 23. 9. 1943 ihren Soldaten eingeschärft, daß „irgendwelche sentimentalen H e m m u n g e n gegenüber Badoglio-hörigen B a n d e n " in italienischer U n i form „völlig unangebracht" seien, B A - M A , R M 7/ 1333 u. R H 2 7 - 2 4 / 2 6 . Für diesen Hinweis danke ich meinem Freunde Gerhard Schreiber. Vgl. H u m b u r g , Feldpostbriefe, der 739 Briefe von 25 Soldaten unterschiedlichen Alters aus Rußland analysiert.
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schaftsstäbe, weil er ohne Haß und Begehrlichkeit der Bevölkerung gegenüber tritt, deren Leid er bei seiner schweren Pflicht geteilt hat" 74 . Eine ganz andere Frage ist die, was wußte die deutsche Generalität offiziell vom Holocaust? Sie wußte spätestens seit Januar 1937 von Himmler persönlich, wer der natürliche weltanschauliche Gegner Deutschlands in einem zukünftigen Kriege sein werde: „der internationale jüdisch-freimaurerisch geführte Bolschewismus, die Organisation des Untermenschen". Es sei seine Aufgabe, so hatte der „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei" seinen hochrangigen Zuhörern auf dem ersten Lehrgang über Nationalpolitik in Berlin erläutert, den „Vernichtungskampf" gegen die untermenschlichen Gegner auf dem „Kriegsschauplatz Innerdeutschland" zu führen. Damit bewahre er die Wehrmacht vor einem Dolchstoß in den Rücken 7 5 . Zwei Jahre später, am 30. 1. 1939, hatte Hitler öffentlich den territorialen Rahmen bereits über Deutschland hinaus auf ganz Europa erweitert. Daß der Reichsführer SS seit September 1939 das jüdisch-bolschewistische „Gift der Zerstörung" nicht selbständig unschädlich machte, sondern auf Befehl Hitlers handelte, darüber hatte er die Generalität an der Westfront am 13. März 1940 persönlich informiert und damit deren Kritik an den Morden der SS in Polen zum Schweigen gebracht. Ein Jahr später, am 30. März 1941, war es Hitler, der in der Reichskanzlei vor hohen Offizieren des Ostheeres offen über die beabsichtigte Beseitigung der „jüdisch-bolschewistischen Intelligenz" sprach. Anfang Juli 1941 informierte Hitlers Wehrmachtadjutant, Oberst Schmundt, die Heeresgruppe Nord, daß die Vernichtung der Juden eine „notwendige Flurbereinigung" sei. Mitte November 1942 sprach Schmundt, inzwischen befördert und zusätzlich zum Heerespersonalchef avanciert, vor den höheren Adjutanten davon, daß sich die Einstellung der Wehrmacht zu den „Exekutionen" der Juden, „die die Wehrmacht ja nicht ausführen" müsse, daraus zu ergeben habe, daß dieses „Ferment der Dekomposition" England in den Krieg mit Deutschland gehetzt habe. Schmundt machte seine Zuhörer darauf aufmerksam, daß „der .anständige Jude' der gefährlichste" sei 76 . Im Mai 1943 klärte das O K W die Soldaten offiziell darüber auf, weshalb es „zur Judenfrage" gekommen sei, und zwar mit der gleichen Begründung, die Schmundt gegeben hatte. Weil der Krieg durch den tödlichen Haß der Juden den Charakter eines Rassenkampfes bekommen habe, liege der „tiefe Sinn unseres Kampfes" darin, „Europa judenrein zu machen", getreu der Prophezeiung Hitlers vom 30. Januar 1939 77 . Nachdem Himmler seinen „schwersten Auftrag", nämlich die physische Vernichtung der europäischen Juden, fast erledigt hatte, war es wiederum er selbst, der seine „Kameraden von der Wehrmacht" im Jahre 1944 bei mindestens vier Gelegenheiten darüber aufklärte, daß die „Judenfrage... nach Befehl und verstandesmäßiger Erkenntnis kompromißlos
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Wagener, Heeresgruppe, S. 80. Der Lehrgang fand vom 15.-23. 1. 1937 in Berlin statt. Die dort gehaltenen Vorträge wurden als Dienstschrift der Wehrmacht veröffentlicht und bis zu den Kompanien verteilt. Vortrag vom 17. 11. 1942 in der Kriegsakademie, B A - M A , R H 12/75. Himmler sprach ein Jahr später in Posen ähnlich. Mitteilungen für die Truppe, Nr. 264, B A - M A , R W 4/v.358.
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gelöst" worden sei 78 . Dennoch erklärte zwei Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht ihr letzter Oberbefehlshaber, Großadmiral Dönitz: „Wir haben uns nicht zu schämen. Was die deutsche Wehrmacht und das deutsche Volk im Erdulden in diesen sechs Jahren geleistet haben, ist einmalig in der Geschichte und in der Welt" 7 9 . Auch zwei ehemalige Oberbefehlshaber im Westen gaben „amtliche" Erklärungen für sich und ihre Soldaten ab, nur ihre Pflicht getan und „von all den scheußlichen Verbrechen wenig oder nichts gewußt zu haben" 8 0 . Diese Art der selektiven Vergangenheitsbewältigung, die die Wehrmacht vom nationalsozialistischen Regime zu trennen versucht, hat sich über Nürnberg bis in unsere Gegenwart erhalten. Allerdings ist es mittlerweise eine Binsenwahrheit, daß die Wehrmacht ein williger Vollstrecker Hitlerscher Ziele war. In bezug auf den Holocaust agierte die Wehrmacht in verschiedenen Rollen: Sie war Täter, Helfer, Mitwisser und Zuschauer. Das schließt Unbehagen, Widerspruch, ja sogar Widerstand keineswegs aus.
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U n d zwar am 26. 1. 1944 in Posen bzw. am 5.5., 24.5. u. 21. 6. 1944 in Sonthofen. Vgl. Smith/Peterson (Hrsg.), Himmler, S. 201-205; B A , N S 19/4014, N S 6/157; National Archives, Washington, Τ 175, roll 92. Bei der Vernichtung der ungarischen Juden hat die Wehrmacht nur indirekt geholfen. Sie durfte das verbündete Land im März 1944 zwar besetzen, aber die anschließenden Deportationen der Juden nach Auschwitz waren Sache der SS und der ungarischen Gendarmerie. Ansprache an die Soldaten vom 9. 5. 1945, in: Förster/Lakowski (Hrsg.), 1945, S. 387. Vgl. die Verlautbarungen des O B Südwest vom 15. 5. 1945 und des O B West vom 17. 5. 1945, B A - M A , R H 19 X / 6 8 bzw. R W 44 II/3.
VII Der Krieg und die Folgen
Hans-Erich
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Einführende Bemerkungen
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges für das Deutsche Reich besaßen eine andere Qualität als die des Ersten. Zwischen 1914 und 1918 hatten die späteren Siegermächte gegen das Kaiserliche Heer und die Kaiserliche Marine im Kampf gestanden, die im Versailler Friedensvertrag eine Reduzierung auf die Personalstärke von 100000 Mann hinnehmen mußten. Die innenpolitischen Konsequenzen aus Krieg und Niederlage zu ziehen, überließ man den Deutschen selbst, die die Monarchie zugunsten einer demokratischen Grundordnung opferten. Im Zweiten Weltkrieg kämpften die alliierten Truppen nicht nur gegen die Wehrmacht, sondern gegen das nationalsozialistische Regime in all seinen Strukturen und Verästelungen, fest entschlossen, nach dem errungenen Sieg in Deutschland eine ihren Vorstellungen und Uberzeugungen gemäße politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung zu installieren. Frühzeitig nahmen sie die aus ihrer Sicht notwendigen entsprechenden Weichenstellungen vor. Sieht man vom Morgenthau-Plan einmal ab, der niemals eine Realisierungschance besaß, sahen Briten und Amerikaner keine Veranlassung, an den Grundsätzen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems zu rühren. Da man von der nicht ganz unrichtigen Prämisse ausging, daß der Nationalsozialismus vom Mehrheitswillen der deutschen Bevölkerung getragen wurde, galt es, einen demokratischen Umerziehungsprozeß in die Wege zu leiten, in den vor allen Dingen die Wehrmachtangehörigen mit einbezogen werden mußten. Diese waren denn auch die ersten, die man in Gestalt der Kriegsgefangenen in britischem und amerikanischem Gewahrsam auf einen politischen Neuanfang nach Rückkehr in ihre Heimat vorzubereiten suchte. D a man in ihnen besonders überzeugte Anhänger des „Führers" aufgrund der Willfährigkeit vermutete, mit der die Wehrmachtführung Hitlerschen Befehlen Folge leistete, ergriff man schon während des Krieges in den Gefangenenlagern unterschiedliche Initiativen zu einer reeducation (vgl. dazu die Beiträge Steinbach und Smith). Natürlich verfügte die Sowjetunion über eigene Deutschlandpläne, die auf die Errichtung eines marxistischen Systems hinausliefen. Die kommunistischen Emigranten in Moskau wurden darauf vorbereitet, entsprechende Handlangerdienste nach Kriegsende zu leisten. Im übrigen aber galt die Rote Armee als Vollstrecker sowjetischen politischen Willens, ohne daß Stalin es für notwendig befunden hätte, die geplante zwangsweise Umgestaltung der politischen Verhältnisse in Deutschland etwa durch Sympathiewerbung vorzubereiten, zu begleiten und somit womöglich zu erleichtern. Da die Sowjetunion, anders als Großbritannien und die U S A , Schauplatz eines rassistisch begründeten Vernichtungskrieges war, sah man sowjetischerseits keine Veranlassung, die in ihre Hände geratene Masse deutscher Wehrmachtgefangener im Marxismus-Leninismus zu unterweisen. Die Sowjetunion stellte zweifellos Vergeltung und Wie-
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dergutmachung für die mit dem deutschen Überfall verbundenen Unrechtstaten und Zerstörungen in den Vordergrund. Es erfolgten erste Aburteilungen für vermeintliche und tatsächliche Kriegsverbrechen, und die Zwangsarbeit der Gefangenen diente dem wirtschaftlichen Wiederaufbau (siehe Beitrag Karner). Ideologische Schulung geschah mehr im Blick auf propagandistische Instrumentalisierung ζ. B. der Mitglieder des Nationalkomitees „Freies Deutschland" zwecks Schwächung der Kampfkraft der Wehrmacht, denn unter längerfristiger politischer Zukunftsperspektive. Vor dem Hintergrund des Bündnisses Ebert-Groener im Jahre 1918 zur Verteidigung der Republik durch die Reichswehr aus Furcht vor der linken Revolution einerseits, aber auch der Mitwirkung führender Offiziere und ganzer Truppenteile am Kapp-Putsch 1920 andererseits fällt es nicht schwer, sich auszumalen, welches Gefährdungspotential durch nationalsozialistisches Gedankengut infizierte und fanatisierte Wehrmachtangehörige für die in einem zweiten Anlauf zu errichtende demokratische Grundordnung in Deutschland hätten darstellen können. Eine entsprechende Befürchtung mußte um so begründeter erscheinen, als nach alliierter Ubereinkunft, anders als im Ersten Weltkrieg, ein ehrenvoller Waffenstillstand nicht in Frage kam, sondern einzig die bedingungslose Kapitulation. Wer wollte ausschließen, daß die daraus resultierende tiefe Verunsicherung soldatischen Selbstverständnisses zu unkalkulierbaren militärischen Reaktionen führen würde. Dies um so eher, als man entschlossen war, Deutschland restlos zu demilitarisieren, d. h. die Armee aufzulösen und die Rüstungswirtschaft zu demontieren. Es war damit zu rechnen, daß sich zwischen Entnazifizierung und Demokratisierung sozial und wirtschaftlich nicht integrierbare Wehrmachtangehörige zu einer vagabundierenden Soldateska zusammenschlossen. Daß von alledem nach der Kapitulation und während der Okkupation nichts zu spüren war, ist sicher nicht dieser reeducation der relativ geringen Zahl deutscher Gefangener in den USA und in Großbritannien zu verdanken, auch nicht dem Umstand, daß sich bei Kriegsende der allergrößte Teil der Wehrmacht in alliiertem Gewahrsam befand und nur sukzessive in die Heimat entlassen wurde. Über der Frage, warum ein nahezu spurenloser ziviler Reintegrationsprozeß stattfand, sieht man von den teilweise geänderten, teilweise gefärbten Uniformstücken ab, mit denen ehemalige Wehrmachtangehörige sich und ihre Familienmitglieder ausstaffierten, sinnieren die Historiker noch heute. Ansätze von Erklärungen sind gefunden. Sie reichen in der Summe aber noch nicht aus, um das Phänomen hinreichend zu beschreiben. Eines muß man sich vor Augen halten: Die Wehrmacht war eine Wehrpflichtarmee, durch die etwa 16 bis 17 Millionen Männer liefen. Im Verlauf des Krieges zählte nicht einmal die Mehrheit des Offizierkorps zum Berufssoldatentum. Nur die oberste Führungsspitze rekrutierte sich überwiegend aus dem Hunderttausend-Mann-Heer der Weimarer Republik und hatte schon im Kaiserreich gedient. Die Wehrmacht war somit keine homogene, im Eigeninteresse handlungsfähige Institution neben der übrigen Gesellschaft. Sie muß im Gegenteil als deren Spiegelbild betrachtet werden. Wie die übrigen Mitglieder der Gesellschaft, so waren auch die der Wehrmacht nicht an der Reflexion ihrer NSVergangenheit interessiert. Man zog die Uniform aus und trat, soweit man nicht zur Minderheit der Berufssoldaten zählte, in die Reihen der zivilen Gesellschaft
Einführende Bemerkungen
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zurück. Der normale Soldat, Unteroffizier und Offizier war nun wieder normaler Vater, Bruder, Sohn; er war wieder Arbeiter, Angestellter, Handwerker, Unternehmer, Arbeitsloser, Vertriebener, Akademiker, ja auch Pfarrer. Die Freude, den Familienangehörigen, den Freund, den Berufskollegen wieder unter sich weilen zu wissen, überwog das Bedürfnis zu erfahren, was dieser denn im Krieg erlebt oder gar verbrochen hatte. Die Sorge um die Restitution einer Nachkriegsexistenz förderte den kollektiven Verdrängungsprozeß. Nur unmittelbar nach Kriegsende gab es publizistische Ansätze zum Entwurf eines realistischen Bildes von der Wehrmacht in der lizensierten Presse, zumal die Nürnberger Prozesse entsprechendes Anschauungsmaterial lieferten. Doch wurde auch hier schon, wie der Beitrag Echternkamp erkennen läßt, das Bemühen um Selbstentschuldung der deutschen Gesellschaft deutlich. Es vollzog sich eine allmähliche Umdeutung soldatischer Täter in mißbrauchte NS-Opfer. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß hat Taten und durch die Wehrmacht begangene Untaten ins grelle Licht der Öffentlichkeit gerückt und zu einem bedeutsamen Urteil gefunden: Die Wehrmacht wurde ausdrücklich von dem Anwurf, eine verbrecherische Organisation gewesen zu sein, freigesprochen. Das heißt nicht, daß sie als Institution nicht gegen Kriegs- und Völkerrecht verstoßen hätte; aber sie wurde nicht zu verbrecherischen Zwecken gegründet und organisiert, wenngleich entsprechend eingesetzt. Aber gemäß rechtsstaatlichem Denken, das für menschliches Tun keine kollektive Schuldbemessung, sondern nur individuelle menschliche Verantwortung kennt, wurden Politiker, Angehörige von NS-Organisationen und Militärs lediglich aufgrund ihrer individuellen Verantwortlichkeit für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen; auch dann, wenn sie einer als verbrecherisch deklarierten Körperschaft wie ζ. B. der SS angehört hatten. Daß sich ganze Truppenteile und Einzelpersonen der Wehrmacht an Kriegsverbrechen im Rahmen der Partisanenbekämpfung und der damit zusammenhängenden Judenvernichtung vor allem im Osten aber auch an Unrechtstaten anderswo beteiligten oder für sie verantwortlich zeichneten, haben nur relativ wenige Nachfolgeprozesse erhellen können, weil die Strafverfolgungsbehörden nach dem Motto „was gestern Recht war, kann heute kein Unrecht sein", tendenziell eine Verschleppungs- und Verjährungstaktik verfolgten. Justiz und Historiker haben ihre rechtliche und wissenschaftliche Verpflichtung, Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit über Jahrzehnte nicht wahrgenommen - im übrigen im Einklang mit dem diesbezüglichen Desinteresse der Mehrheit der ehemaligen deutschen Kriegsgesellschaft. Ruth Bettina Birn konfrontiert den Leser mit dem zähflüssig widerwilligen Gebahren der Justiz bei der Verfolgung und Ahndung von Kriegsverbrechen. Daß die westdeutsche Geschichtswissenschaft einen langen Anlauf brauchte, um sich der Wehrmacht als Forschungsgegenstand, insbesondere ihrer Führung als einer elitären sozialen Gruppe zu nähern, liegt u. a. in dem vielfältigen persönlichen Beziehungsgeflecht der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft mit der Wehrmacht und dem NS-Regime begründet. Selbst diejenigen Historiker, die dem letzteren distanziert begegnet waren, hätten sich eingestehen müssen, aufgrund ihrer national-liberalen und konservativen politischen Grundauffassung (ihre sozialdemokratischen Kollegen waren überwiegen emigriert) zumindest Polen- und Frankreichfeldzug aus einem inneren Revisionsbedürfnis heraus als
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notwendig und für rechtens erachtet zu haben. Die wenigen Historiker, die öffentlich die Spurensuche nach den Ursachen der deutschen „Katastrophe" aufnahmen, verliefen sich sehr rasch im Dickicht ihrer eigenen Gesinnung. Es kam hinzu, daß die deutsche Kriegsgesellschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit nach 1945 nicht konfrontiert werden wollte, allem Militärischen abschwor, während große Teile der nachwachsenen Generation in einen Antimilitarismus verfielen, der militärgeschichtliche Themen und Militärgeschichte als solche an den Universitäten nicht Fuß fassen ließ. Erst der in der Bundesrepublik verspätet und nur langsam sich etablierenden Sozialgeschichte ist die Beschäftigung mit militärischen Eliten zu verdanken. Der angestrengte Blick zurück auf die nationalsozialistische Gesellschaft insgesamt wurde erst im Zuge des Trends zur Betrachtung der Geschichte von unten gewagt, wobei auch die Wehrmacht als Forschungsobjekt ins Visier geriet. Die vorausgegangenen Titel dieses Sammelbandes lassen dies deutlich erkennen. Das durch die marxistische Ideologie vorgegebene Faschismus-Modell wies der Wehrmacht einen ideologisch präformierten Platz zu, der dem Historiker wenig Raum ließ für die Entwicklung empirischer Interpretationsmuster oder Fragestellungen. Während in der Bundesrepublik, mit Manfred Messerschmidt beginnend, allmählich eine lebhafte Diskussion über das interdependente Verhältnis von Wehrmachtführung und Hitler in Gang kam, die sich besonders an der sicherlich überspitzten und zu vereinfachten These von Hitlers Wehrmacht besonders erhitzt hat, galt für die DDR-Historiographie auf entsprechenden politischen Geheiß, den Beweis zu führen, daß bei der Zubemessung der Verantwortlichkeit für die Verbrechen des „Dritten Reiches" und insbesondere während des Zweiten Weltkrieges zwischen dem Diktator und der Wehrmacht nicht zu unterscheiden sei. Demzufolge bildete die Wehrmachtführung mit Adolf Hitler an der Spitze eine institutionelle Einheit. Welche Differenziertheit in der Betrachtung dennoch möglich war, läßt sich in dem Beitrag von Gerhart Hass nachlesen. Spätestens seit Ende der 60er Jahre hat sich die historische Wissenschaft des Themas Wehrmacht zunehmend angenommen, ohne daß ihre Ergebnisse von der Öffentlichkeit hinlänglich rezipiert worden wären. Es bedurfte des Mediums der Ausstellung, um die Wehrmacht in plakativ-eindringlicher Form einer einesteils erschreckenden, anderenteils protestierenden Gesellschaft ins Bewußtsein zu rufen. Dabei war die Wehrmacht als wirksames Vermächtnis zu Beginn des Kalten Krieges 1949/50, als Anlaß zur Annahme bestand, er könne über Vietnam und Korea in einen heißen einmünden, am politischen Horizont sichtbar geworden, als es um die Aufrüstung beider deutscher Staaten ging. In Moskau wie in Washington bezog man damals deutsche Soldaten in das jeweilige verteidigungspolitische Kalkül mit ein, deren militärische Tugenden und professionelle Effizienz während des Zweiten Weltkrieges nachhaltigen Eindruck im Gedächtnis der beiden einstigen Feindmächte des Deutschen Reiches hinterlassen hatten. Ehemalige hohe deutsche Militärs wagten nun in der Bundesrepublik den Schritt in Öffentlichkeit und Politik und brachten dort in unterschiedlicher Form die offenkundig gefragten Erfahrungen ein. Die Auftrieb verspürenden rechten Kräfte warben, wenngleich mit höchst mäßigem Erfolg, um die Gunst ehemals hoher Militärs, als die Bundesregierung vor der Aufgabe
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stand, Streitkräfte aufzubauen. Daß diese sich nicht unter Verzicht auf ehemalige Wehrmachtangehörige rekrutieren ließen, hat Konrad Adenauer mit der ihm eigenen entwaffnenden Argumentation formuliert: Er glaube nicht, daß die Bündnispartner einverstanden seien, wenn er ihnen achtzehnjährige Generale präsentiere. Vor diesem Dilemma stand natürlich auch die DDR, die allerdings auf solche Offiziere zurückgreifen konnte, die in sowjetischer Gefangenschaft „umerzogen" worden waren. Sie begegnete so dem Vorwurf, an die „faschistische" Wehrmacht anzuknüpfen, den sie selbst gegenüber der Bundesrepublik erhob. Daß es sich bei der Indienstnahme ehemaliger Wehrmachtangehöriger nicht um eine Liebesverbindung handelte, sondern um eine zeitlich begrenzte Vernunftehe, dies schildert anschaulich Rüdiger Wenzke in seinem Beitrag über das unliebsame Erbe der Wehrmacht für die DDR-Volksarmee. Auch die Bundesrepublik hat es sich mit diesem Erbe nicht leicht gemacht. Die weit verbreitete „ohne mich"-Haltung konfrontierte die Regierung Adenauer mit der Möglichkeit, daß die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung den geplanten Streitkräften die Zustimmung versagte und daß sich keine parlamentarische Mehrheit für die Verabschiedung der notwendigen Wehrgesetze fand. Sie besaß nicht einmal die Gewißheit, daß sich unverzichtbare ehemalige Offiziere und Unteroffiziere einer neuen Armee zur Verfügung stellen würden, die gegen vermeintliche Diffamierungen und laufende Prozesse wegen Kriegsverbrechen gegenüber einzelnen Wehrmachtangehörigen Sturm liefen. Vor allem aber galt es nach den negativen Weimarer Erfahrungen, als die Reichswehrspitze selbst das Selektionsverfahren bestimmte, die richtigen Bewerber zu finden und zu gewinnen, die nach juristischen Kriterien bemessen, sich während des Zweiten Weltkrieges nichts Belastendes hatten zuschulden kommen lassen und sich zudem nicht im nationalsozialistischen Sinne prostituiert hatten. Darüber hinaus mußten sie sich dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet fühlen. Erwartet wurde der „Bürger in Uniform" in einer parlamentarisch kontrollierten Armee. U m eine mögliche Garantie für die Erfüllung beider Voraussetzungen zu erlangen, entstand zum einen das Konzept der „Inneren Führung". Zum anderen selektierte der sogenannte Personalgutachterausschuß die Bewerber für die Bundeswehr nach den genannten Kriterien. Dennoch ist, ungeachtet des Willens vieler ehemaliger Wehrmachtsoldaten zur beruflichen Selbstverwirklichung und Übernahme von Verantwortlichkeit in einer demokratisch und pluralistisch geprägten Armee, vielen der Abschied von der Vergangenheit, von der deutschen militärischen Tradition bis 1945, nicht leicht gefallen. Und die „Unfähigkeit zu Trauern", die im übrigen für die deutsche Gesamtgesellschaft bezeichnend war, trat nicht nur als Kritik an der „Inneren Führung", als Reaktion auf die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Wehrmacht zutage, sondern auch auf Untersuchungsergebnisse des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Zu diesem Fragenkomplex ist der Beitrag eines tätigen Zeitzeugen aus Wehrmacht und Bundeswehr in diesen Band aufgenommen worden (siehe Beitrag Ulrich de Maiziere), der verdeutlicht, daß die Bundeswehr trotz aller personeller Kontinuität, etlicher nicht zu leugnender Reminiszenzen seitens übernommener Wehrmachtangehöriger an eine bis 1945 gültige Tradition, den gelungenen Versuch einer Neuschöpfung darstellt. Sie konnte gelingen, weil Konrad
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Adenauer einerseits der Erwartung der Soldatenverbände auf moralische Rehabilitierung und Anerkennung der professionellen Leistung der Wehrmachtsoldaten durch seine entsprechende Erklärung für alle die, die ehrenhaft gekämpft hatten, entgegenkam, zum anderen die Politik den Aufbau der Bundeswehr in Anbetracht des Bildes der Wehrmacht betrieb, das zwischenzeitlich als Ergebnis juristischer Urteile und historischer Erforschung der NS-Zeit deutliche Konturen annahm. Es galt, sich dezidiert von der Wehrmacht dort abzusetzen, wo der eigentliche soldatische Verteidigungsauftrag durch Übernahme militärischer Funktionen seitens ziviler Einrichtungen nicht gefährdet erschien, und den Primat der Politik durchzusetzen. Zu verweisen ist auf die zivile Bundeswehrverwaltung, auf die zivile Militärgeistlichkeit, auf Soldatengesetz, Wehrstrafgesetz, Wehrdisziplinarordnung, Wehrbeauftragten, Vertrauensmänner, Wahlgesetz und anderes mehr. Dennoch ist die Wehrmacht ein in Bundeswehr und Öffentlichkeit umstrittenes Thema soldatischer Traditionspflege bis heute geblieben (siehe den Beitrag von Hans-Adolf Jacobsen), auch wenn die offizielle Politik sich längst zu der gültigen Formel durchgerungen hat, daß die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig ist. Worauf sich aus heutiger Sicht Tradition begründen läßt, darüber bahnt sich erst allmählich ein Konsenz innerhalb der Öffentlichkeit und auch der Bundeswehr an. Unter ehemaligen Wehrmachtsoldaten war dies und blieb dies umstritten. Gemeint ist der militärische Widerstand. Die Einsicht in die institutionelle Verantwortlichkeit der Wehrmacht für einen verbrecherischen Krieg und das Wissen um die Beteiligung vieler Einzelner an Kriegsverbrechen hat die Uberzeugung gefördert, daß der militärische Widerstand gegen die Diktatur Adolf Hitlers mit militärischem Selbstverständnis und dem Eid auf den „Führer" vereinbar ist. Ernstgenommene militärische Verantwortlichkeit hätte dies zum Allgemeingut soldatischer Überzeugung zumindest im höheren Offizierkorps schon während des Krieges werden lassen müssen. Selbst hohe Generale in der Aufbauphase der Bundeswehr haben Jahre benötigt, um sich zu dieser Erkenntnis, vielleicht auch nur zum Bekenntnis für den militärischen Widerstand durchzuringen. Die Rechtfertigung des 20. Juli und die Erinnerung an die daran beteiligten Soldaten ist ein konstitutives Element traditionsbezogenen Denkens, weil die Widerständler in Uniform das Prinzip politischer Verantwortlichkeit über den geleisteten militärischen Eid erhoben (siehe den Beitrag Steinbach). Dagegen aber, daß der einzige traditionelle Bezugspunkt zur Wehrmacht dieser Widerstand sein könnte, meldet sich nach wie vor Widerspruch an, gegen den Ministerworte und Traditionserlasse schwerlich ankommen. Daß Vergangenheit, auch die leidige, lange Schatten auf Gegenwart und Zukunft wirft, ist aber völlig selbstverständlich im Prozeß historischer Selbstfindung. Dieser Prozeß der historischen Selbstfindung nach 1945 ist für die Soldaten dadurch erschwert worden, daß sie den sprichwörtlichen Dank des Vaterlandes entbehren mußten und bei der Gesellschaft im stillen Wissen um Schuld und Verhängnis im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg auch nicht eingeklagt haben. Er reduzierte sich nur noch auf die materielle Entschädigung für Kriegsleiden und Gefangenschaft, auf die Versorgung der Hinterbliebenen, aber auch auf die Eingliederung der ehemaligen Wehrmachtsoldaten in das Er-
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werbsieben, vor allem auch auf die Anerkennung der Dienstzeiten in der Wehrmacht (vgl. dazu den Beitrag von Traugott Wulfhorst). Darauf besaß der ehemalige Soldat einen einklagbaren Anspruch, nachdem die Bundesrepublik sich zum Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches erklärt und dessen Verpflichtungen übernommen hatte. Der moralische Kredit des Soldaten war weitgehend verspielt. Da half auch die Versicherung des Nürnberger Militärtribunals nichts, es handele sich beim Beruf des Soldaten um eine ehrenhafte Profession. Eine semi-militärische Nachkriegskultur, wie sie auch nach 1918 im Gedenken an Soldatenleben, -taten und -sterben mit den entsprechenden Riten einen selbstverständlichen Platz im Vereinsleben und Festgebaren der Weimarer Republik besaß, ließ sich nicht mehr etablieren (siehe Beitrag Danyel). Keine Kriegervereine, keine Heldengedenktage, keine Siegesfeiern, Triumphbögen und neue Denkmäler: An die Stelle der Heldenverehrung trat das Totengedächtnis. Gefallen für das Vaterland war niemand, sondern laut Eid nur für Adolf Hitler - eine bittere historische Wahrheit.
Arthur L. Smith, Jr. Angloamerikanische Umerziehungsprogramme für deutsche Kriegsgefangene. Ein Vergleich.
Die Entscheidung der beiden westlichen Kriegsverbündeten U S A und Großbritannien, besondere Programme für eine sorgfältig ausgewählte Anzahl deutscher Kriegsgefangener zu gestalten, führte zu einer einmaligen Erfahrung. Aus dem Wunsch heraus, den beiden Programmen, deren wesentliches Ziel die Vermittlung des demokratischen Gedankengutes war, einen verständlicheren Namen zu geben, wurden sie gewöhnlich als Umerziehungsprogramme bezeichnet. Die Herausforderung für die alliierten Planer der Umerziehungsprogramme war, ein geistiges Umpolen von Menschen zu bewerkstelligen, die gründlich mit einer nichtdemokratischen politischen Philosophie indoktriniert worden waren. Sowohl die amerikanischen wie die britischen Lehrer, die sehr darauf bedacht waren, das Stigma der Indoktrination und der Gehirnwäsche zu vermeiden, forderten ihre „Schüler" immer wieder auf, das vermittelte Wissen zu hinterfragen 1 . Diese beiden ungewöhnlichen Erziehungsvorhaben - das amerikanische „Special Projects" und das britische „Wilton Park" - wurden nicht gleichzeitig verwirklicht. Das Programm der U S A begann schon während des letzten Kriegsjahres, das britische dagegen erst 1946. Der zeitliche Unterschied - erst noch Krieg, dann Frieden - bedingte sehr große Unterschiede in der Durchführung der beiden Programme. Wenn man bedenkt, daß Amerika und Großbritannien etwa 7 0 % aller im Krieg gefangen genommenen deutschen Soldaten aus einer Gesamtzahl von über 10 Millionen in ihrer Obhut hatten, war die Zahl der für diese Umerziehungsprogramme ausgewählten Männer verschwindend gering. An Special Projects nahmen knapp 40 000 Kriegsgefangene teil, an Wilton Park sogar nicht einmal 5000. In Anbetracht dessen braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß diese Programme Umerziehungsversuche waren, die nicht das Ziel hatten, weitreichenderen Einfluß auf die jeweilige Besatzungspolitik zu gewinnen, obwohl einige der Teilnehmer dies hofften. Das amerikanische Programm wurde von einem in Großbritannien geborenen amerikanischen Oberst namens Edward Davison geleitet. Im Zivilleben war er Dichter und Lehrer gewesen und hatte wenig administrative Erfahrung. Auch war er wenig mit Deutschland vertraut (er hatte das Land einmal als Tourist besucht, sprach jedoch nicht Deutsch) 2 . Davison erwies sich als viel kompetenter, als diese Biographie hätte erwarten lassen. Trotz ungeheurer Schwierigkeiten ist
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Smith, War, S. 200-202. Ebd., S. 40—41.
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es ihm gelungen, einen recht ordentlichen Mitarbeiterstab zu gewinnen und Special Projects in Gang zu bringen, wobei die Bezeichnung des Programms als Schutz gegen Neugierige dienen sollte. Der Mangel an Lehrern mit guten Deutschkenntnissen war eines der Hauptprobleme für die Durchführung von Special Projects wie auch von Wilton Park und blieb über die gesamte Laufzeit beider Projekte ein schwerwiegendes Handicap 3 . Die Sprache blieb nicht das einzige Hindernis, wenn es sich vielleicht auch am schwierigsten überwinden ließ. Der Kampf mit der Bürokratie war zuweilen genau so entmutigend. Es hatte den Anschein, als würden viele Bitten um Entschärfung von Vorschriften oder Bereitstellung der zur erfolgreichen Durchführung der Programme erforderlichen Mittel auf taube Ohren treffen. Wenn Davison gewisse Kriegsgefangene aus Lagern in den U S A anforderte, stieß er bei manchen Lagerleitern, die wenig Verständnis für die Umerziehung hatten, auf offene Ablehnung 4 . Nachdem sich die Kriegslage 1944 schnell änderte, wurde die Programmverwirklichung immer akuter. Die erste Special Projects-„Schule" begann ihre Arbeit im Oktober 1944 im Camp Van Etten (im Staat N e w York). Die Schule, an deren erstem Lehrgang 48 ausgewählte deutsche Kriegsgefangene teilnahmen, geriet schnell zur „Ideenfabrik" für das Programm. Während der acht Lehrgangswochen verzichtete man auf militärisches Protokoll, obwohl die Männer verschiedenste Dienstgrade bekleidet hatten. Offensichtlich veranlaßte der Wegfall der üblichen Lagerroutine die Gefangenen, ihre neue Freiheit als den „Van Etten-Geist" zu bezeichnen 5 . Bald erschien eine Lagerzeitung mit der Bezeichnung „Der R u f " , die schnell zur meist gelesenen Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in Amerika wurde. Dieser Name war gewählt worden als Symbol der Hoffnung auf die Zukunft, und obwohl ein Exemplar fünf Cents kostete, erhöhte sich die Auflage auf über 75 000. „Der R u f " zeichnete sich dadurch aus, daß er die einzige deutsche Kriegsgefangenenlagerzeitung war, die dann auch noch kurz in Deutschland weiterbestand. Ihre liberalen Botschaften, welche die Kriegsgefangenen aufforderten, sich der Zukunft mit Optimismus zu stellen und entschlossen den Wiederaufbau ihres verwüsteten Landes zu betreiben, wurde nicht von allen gutgeheißen. Einige Kriegsgefangene sahen in diesen Botschaften ein Kollaborieren mit dem Feind und einen Verrat am Vaterland 6 . Schon bald nach Beginn des Lehrgangs war Davison so begeistert über das, was geschah, daß er unverzüglich Pläne zur Erweiterung des Umerziehungsprogramms vorlegte. Nachdem er vom War Department die erforderliche Genehmigung erhalten hatte, wurde die zweite Umerziehungsschule im April 1945 in Fort Kearney (Rhode Island) eröffnet. Mit der Beendigung des Krieges in Europa und der sich abzeichnenden Notwendigkeit, die deutschen Kriegsgefangenen bald in ihre Heimat zu entlassen, begannen zwei weitere Schulen an nicht weit entfernten Orten, d. h. in Fort Getty und Fort Wetherill, mit ihren Kursen.
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USPMGO, Spec. Proj., S. 30. McCracken, Prisoners, S. 27. Ebd., S. 549-550. Ebd., S. 552-553.
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Die Themen des Lehrplanes waren als „administrativ" deklariert, obwohl sie bis auf die Vorlesungen über die „amerikanische Militärverwaltung" weitgehend dem sozialwissenschaftlichen Angebot von amerikanischen Colleges entsprachen. Der Lehrgang in Fort Wetherill hatte eine andere Ausrichtung. Dort sollten die Teilnehmer für den Polizeidienst ausgebildet werden. Von den Lehrgangsteilnehmern der Schulen an den anderen (den Van Etten-Geist ausstrahlenden) Orten wurde er nicht als gleichwertig betrachtet 7 . Anfang 1946 erkannte Davison, daß sich der Teilnehmernachschub in den Vereinigten Staaten schnell verringern würde und schlug die Schaffung einer Umerziehungsschule für die noch in Europa inhaftierten Kriegsgefangenen vor. Nach Genehmigung durch das War Department fuhr er nach Europa und eröffnete eine Schule bei Cherbourg, die aber keinen langen Bestand hatte, weil sich die militärischen Interessen Amerikas anderen Dingen zuwendeten. Nach seiner Rückkehr in die U S A brachte Davison Special Projects mit einem vollkommen anders gestalteten Lehrgangstyp in Fort Eustis (Virginia) zum Abschluß. Dieser Lehrgang dauerte nur sechs Tage (und erhielt sofort den Spitznamen „Sechstagerennen"). Es wurden etwa 23 000 Kriegsgefangene durch einen blassen Abklatsch dessen durchgeschleust, was einmal ein zeitlich vernünftig aufgebauter Lehrgang war 8 . Ein interessanter Aspekt des Umerziehungsprogramms in Amerika und in Großbritannien war das Auswahlverfahren. Alle, die sich mit der Planung und Durchführung der Umerziehung in beiden Ländern befaßten, hofften, dafür deutsche Kriegsgefangene zu gewinnen, die entweder gegen den Nationalsozialismus eingestellt oder bereit waren, irgendeine Alternative dazu in Betracht zu ziehen (wobei erklärte Kommunisten ausgeschlossen blieben). Weil es sich um eine nicht mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringende Idealvorstellung handelte, bestand das stillschweigende Übereinkommen unter allen Beteiligten, daß man von diesen Vorgaben auch abweichen müsse. Da die Teilnahme freiwillig war, erhob sich die Frage, ob sich deutsche Kriegsgefangene im gewünschten Umfang dazu melden würden. In diesem Punkt gab es jedoch nie Schwierigkeiten, da sich sogar jene Gefangenen, die Vorbehalte gegen die Umerziehungsprogramme hegten, dadurch eine frühere Fahrkarte in die Heimat erhofften. Im allgemeinen erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Die Planer der Umerziehung stellten bald fest, daß diejenigen, die man dafür gewinnen wollte, ganz unterschiedlich reagierten. So war z . B . der Zeitpunkt der Gefangennahme von Bedeutung. Die früh - beispielsweise in Nordafrika gefangen genommenen Deutschen erwiesen sich als weniger geneigt, ihren Glauben an den Nationalsozialismus aufzugeben als ihre Kameraden, die später in Gefangenschaft geraten waren. Offensichtlich hatte dies viel mit der Tatsache zu tun, daß 1942 noch Aussicht auf den Sieg bestand und an der Heimatfront noch keine so gewaltigen Kriegsschäden zu verzeichnen waren, während sich 1944 das Blatt gewendet und sich alles in dramatischer Weise zum Schlechteren hin entwickelt hatte. In den Gefangenenlagern in den U S A gab es auch Pro-
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U S P M G O , Spec. Proj., „Report on the Experimental Administrative School for Selected German P O W s , Projects II and I I I " , S. 1 - 1 1 . Ebd., „Re-education of E n e m y Prioners of War, Eustis Project", 4. 4. 1946, S. 1 - 7 .
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bleme, wenn später angekommene Kriegsgefangene mit solchen zusammentrafen, die schon längere Zeit im Lager weilten, denn die „Veteranen" dominierten im Lagerleben und waren weniger zugänglich für irgendwelche Aufforderungen, sich freiwillig an Maßnahmen zu beteiligen, die von Seiten der Macht kamen, die sie in Gefangenschaft gebracht hatte 9 . Großbritannien verzeichnete ähnliche Probleme mit den deutschen Kriegsgefangenen, mußte aber zusätzlich noch mit einem weiteren Widerstand fertig werden. Als die U S A ihre Kriegsgefangenenlager bald nach dem Krieg räumten, mußten viele deutsche Kriegsgefangene - die sich auf dem Heimweg gewähnt hatten - feststellen, daß sie an britische Lager übergeben worden waren. Dort angekommen, bestand wenig Aussicht auf baldige Entlassung, denn in Großbritannien herrschte nach dem Krieg ein erheblicher Arbeitskräftemangel, und die deutschen Kriegsgefangenen wurden in den Arbeitsprozeß eingegliedert. Diese Verzögerung führte bei den meisten zu einer Verbitterung, die sich sehr nachteilig auf die britischen Umerziehungsbemühungen auswirkte, - und die Erinnerung daran war jahrelang lebendig 10 . Bei der Auswahl künftiger Teilnehmer der Lehrgänge arbeiteten die „Anwerber" von Special Projects nicht mit irgendwelchen Anreizen. Sie traten an die Gefangenen aufgrund einer Empfehlung des Lagerleiters oder der Personalakten, aus denen auf eine mögliche Aufgeschlossenheit für die Umerziehung zu schließen war, heran. Es konnte auch vorkommen, daß ein deutscher Kriegsgefangener ohne vorherige Benachrichtigung einfach deshalb ins Umerziehungslager geschickt wurde, weil einer von Davisons Leuten seine Akten studiert und ihn als aussichtsreichen Kandidaten beurteilt hatte. Wenn ein Gefangener die Teilnahme an einem Umerziehungslehrgang ablehnte, wurde er in ein reguläres Kriegsgefangenenlager zurückgeschickt. Nach der Vorauswahl fand ein Interview mit dem betreffenden Kriegsgefangenen statt, das im allgemeinen ein Offizier und ein Soldat aus Davisons Mitarbeiterstab führten. Sie gingen nach gewissen Richtlinien vor, die von Special Projects während der Planungsphase festgelegt worden waren. Unberücksichtigt blieben deutsche Berufsoffiziere ab dem Rang eines Majors, erklärte Kommunisten, Parteimitglieder und gewisse Parteimitläufer sowie Gefangene, die eine andere Staatsangehörigkeit zu haben vorgaben. Auch das Alter spielte eine Rolle. Dabei wurde die Altersgruppe zwischen 30 und 40 als am geeignetsten betrachtet, obwohl die Interviewer in dieser Hinsicht gewisse Freiheiten besaßen 1 1 . Es steht fest, daß während der Planung für Special Projects die Zweifler in Washington beschwichtigt werden mußten, indem Maßnahmen zur Sicherstellung der korrekten Durchführung der Lehrgänge festgelegt wurden. Aber es gab praktische Erwägungen, aufgrund derer im Alltag gelegentlich ganz anders verfahren werden mußte als in der Theorie angedacht worden war. Man darf nicht vergessen, daß sich alles in der Hektik des Krieges abspielte. Es fehlte ganz ein-
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Lerch, Handling, S. 4. Faulk, Group, S. 21, 1 7 5 - 1 7 6 . U S P M G O , Spec. Proj., „Screening German Prisoners of W a r " , 7 . 6 . 1945, S. 1, und „Special Screening of Cooperative German Prisoners of W a r " , 4. 4. 1946, S. 3 - 4 .
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fach die Zeit für oder der Zugang zu Informationen, um mit Hilfe der Interviews und Uberprüfung ausreichend sicherzustellen, daß die richtigen Leute ausgewählt wurden. Die Lehrgangsplätze mußten ja vergeben werden. Durch die Einführung von drei Kategorien versuchte man, das Auswahlverfahren etwas zuverlässiger zu gestalten, wobei „schwarz" für unakzeptabel stand, obwohl einige so eingestufte Gefangene zu Lehrgängen geschickt wurden; unter „grau" fielen jene Kriegsgefangenen, über die keine Klarheit bestand, aber viele „Graue" besuchten die Special Projects-Lehrgänge, und unter „weiß" natürlich jene eingestuft wurden, die als am besten geeignet befunden worden waren, weil sie über alle zu Hoffnung Anlaß gebenden Voraussetzungen für die Umerziehung verfügten. Von den etwa 30 000 befragten Kriegsgefangenen waren über 8 0 % als geeignet befunden worden 1 2 . Wie notwendig das Befragungs- und Prüfverfahren war, wird durch die Schätzungen deutlich, die im Rahmen der beiden Projekte vorgenommen wurden: Aus den amerikanischen Fragebogen geht hervor, daß von den Befragten 15% weiter dem nationalsozialistischen Gedankengut anhingen, 15% Nazigegner und 7 0 % unentschieden waren. Die Briten schätzten, daß 10% der von ihnen befragten Gefangenen weiterhin überzeugte Nazis, 10% Nazigegner und 8 0 % „Konformisten" waren 1 3 . Der von Davison und seinen Mitarbeitern entwickelte Lehrplan setzte auf die heilende Kraft der Erziehung. Er basierte auf der Vorstellung, daß die meisten Menschen positiv reagieren, wenn die Vorzüge der Demokratie richtig erklärt werden. Hinsichtlich der Bewertung der Vorzüge der Demokratie vertraten die Amerikaner und Briten jedoch etwas unterschiedliche Standpunkte, - auch hinsichtlich der Art, sie „richtig zu erklären". Aber der Unterschied war nicht so gravierend. Ein sehr ernsthaftes Handicap für Davison und seine Special Projects-Lehrer waren die Beschränkungen, welche nicht zuließen, daß die deutschen Kriegsgefangenen das amerikanische Leben außerhalb der Lager kennenlernten. Im Unterschied zu den Lehrgängen in Wilton Park in Großbritannien, wo Ausflüge in den englischen Alltag erlaubt waren, mußten sich die deutschen Kriegsgefangenen in den amerikanischen Umerziehungseinrichtungen mit der Lehrgangserfahrung zufriedengeben. In den Jahren 1944-1945 konnten die Kriegsgefangenen in U S A einfach nicht die Einblicke gewinnen wie die Kriegsgefangenen in Großbritannien nach Beendigung des Krieges in den Jahren 1946-1948 . Die Special Projects-Lehrgangsthemen waren weitgehend auf einen Vergleich zwischen historischen und politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Deutschland während der letzten zweihundert Jahre ausgelegt. Dahinter steckte die Überlegung, daß die kritische Auseinandersetzung mit wichtigen Dokumenten, die die Grundlage der amerikanischen Demokratie bilden, den
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M c C r a c k e n , Prisoners, S. 64. H o o v e r Institution. Farrand Collection, „Re-education Programm for German Prisoners", B o x 2, O r d n e r 4, und persönliche dem A u t o r zur Verfügung gestellte Notizen von H e n r y Faulk, (in der Folge als Faulk Notes), S. 10.
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erforderlichen Hintergrund für Diskussionen unter den Lehrgangsteilnehmern abgeben würden 1 4 . Zum Glück hatte Davison in seinem Mitarbeiterstab eine Reihe Deutscher, die in den 30er Jahren vor Hitler geflohen waren. Sie waren im Hörsaal äußerst hilfreich, denn sie konnten teilweise die Kluft zwischen den deutschen Kriegsgefangenen und ihren amerikanischen Lehrern überbrücken. Henry Ehrmann, ein emigrierter deutscher Politikwissenschaftler, der von Davison angeheuert worden war, mahnte seine amerikanischen Kollegen oft, einen einzelnen Kriegsgefangenen nicht mit den Verbrechen des Naziregimes in Verbindung zu bringen. Für die Darlegung der deutschen Geschichte wurde beschlossen, das Schwergewicht auf Ereignisse zu legen, die Deutschland an der Entwicklung zu einem demokratischen Staat gehindert hatten, und zu vermitteln, daß es dazu noch nicht zu spät war 1 5 . Auch wenn der Lehrkörper noch so innovativ vorging, so waren doch gewisse kriegsbedingte Beschränkungen zu beachten, was sich als sehr schwierig erwies, wenn es um die Auswahl von Unterrichtsmaterial für die Kriegsgefangenen ging. Bücher, Schallplatten und Filme wurden sorgfältig zensiert. Die Kriegsgefangenen waren nicht über die Art der Zensur informiert, obwohl sich viele von ihnen wahrscheinlich denken konnten, weshalb gewisse Druckerzeugnisse nicht verfügbar waren. Uber zweihundert deutsche Autoren standen auf dem Index, und auch viele amerikanische Publikationen waren unzugänglich 16 . Jeder ins Umerziehungsprogramm aufgenommene Gefangene mußte einen Fragebogen zu seiner Ausbildung ausfüllen und eine Englischprüfung ablegen. Zusammen mit einem persönlichen Interview war dies die Grundlage für die abschließende Auswahl und die Zuweisung zu einem Lehrgang. Jeder Lehrgang umfaßte 30 Mann, die fünf Tage in der Woche - Montag bis Freitag - die Schulbank drückten. Der Tag begann mit drei Stunden Englischunterricht. Dies wurde für den Fall als äußerst wichtig erachtet, daß der Kriegsgefangene eines Tages von der amerikanischen Militärverwaltung (American Military Government - A M G ) eingestellt würde. Da die Teilnehmer aufgrund des Englischtests in Gruppen mit mangelhaften bis guten Kenntnissen eingestuft wurden, konnten solche mit guten Englischkenntnissen vielfach als Gehilfen der Lehrer eingesetzt werden. Dieses Vorgehen wurde vom Lehrkörper und den Lehrgangsteilnehmern nicht immer gutgeheißen und von einem Lehrer mit den Worten beschrieben: „Ein Blinder führt Blinde". Das Unterrichtsprogramm „Englisch wie man's spricht" war als umfassender Einzelunterricht gedacht, aber die Schulen waren zu überfüllt und hatten zu wenig Zeit, um dieses Ziel verwirklichen zu können. Statt dessen las der Gruppenleiter den täglichen Stundenplan vor in der Absicht, die Lehrgangsteilnehmer zur Diskussion anzuregen. Oftmals kam diese Diskussion ins Stocken, weil die Kriegsgefangenen mit der Aussprache kämpften, und der Gruppenleiter zuweilen auch nicht weiterhelfen konnte. Eine ge-
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McCracken, Prisoners, S. 54; Ehrmann, Experiment, S. 304-320. Ebd., 315. Farrand Collection, Box 2, Ordner 3, „German Authors Not Approved for Prisoner of W a r Camps".
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wisse Hilfe waren Wortlisten mit Begriffen, die aus einer Vielzahl von Quellen ausgewählt und den Kriegsgefangenen in der Vorbereitungsstunde übergeben wurden. Bei der Beurteilung ihrer Sprachausbildungsbemühungen waren sich die Special Projects-Lehrer einig darüber, daß mit den gebildetsten Gefangenen die besten Ergebnisse erzielt werden können. „Lehrgangsteilnehmer, die in jeder Hinsicht für die Offiziere der amerikanischen Militärverwaltung am wertvollsten sein werden, sind jene, welche die erforderlichen Englischkenntnisse mit Hilfe eines 2-monatigen Unterrichtes erwerben können" 1 7 . In den nachmittäglichen Unterrichtsstunden wurden meist Geschichte und Politikwissenschaften mit dem Schwergewicht auf der amerikanischen und deutschen Geschichte gelehrt. Der amerikanische Teil umfaßte 20 Vorträge, für die als Textvorlage eine deutsche Übersetzung von J o h n Truslow Adams „The Epic of America" (Der Aufstieg Amerikas vom Land der Indianer zum Weltreich) verwendet wurde. Die Lehrgangsteilnehmer erhielten vor jedem Vortrag eine englische Zusammenfassung. Alle Vorträge über amerikanische Geschichte wurden in Englisch gehalten. O b w o h l zwei Stunden dafür angesetzt waren, wurde wegen der ausführlichen Diskussionen zu den die Kriegsgefangenen interessierenden Punkten kaum das gesteckte Unterrichtsziel erreicht. Die amerikanische Verfassung und das Verfassungsgesetz (Bill of Rights) boten immer reichlich Stoff für lebhafte Diskussionen 1 8 . Das einzige Fach, in dem die Lehrgangsteilnehmer das Wörterbuch nicht benutzen mußten, war deutsche Geschichte, weil der Unterricht in Deutsch stattfand. Es erwies sich auch als das beliebteste Fach. Dr. Ehrmann hielt die meisten Vorträge als Lehrer und Zeitzeuge zugleich. Ehrmann war sich bewußt, daß viele seiner deutschen Zuhörer überzeugt waren, die deutsche Geschichte schon zu kennen, und deshalb voller Neugier auf das warteten, was ihnen geboten werden würde. Eingangs hatte er den Eindruck, etwas herablassend und geringschätzig betrachtet zu werden. Diese Einstellung schien sich aber im Diskussionsteil zu verflüchtigen. Verständlicherweise war Zeitgeschichte - also Themen wie der Nationalsozialismus und deutsch-sowjetische Beziehungen am meisten gefragt 19 . Es war schwieriger, die Ergebnisse des Unterrichts in amerikanischer Geschichte zu beurteilen. Man konnte kaum abschätzen, wieviel verstanden wurde, obwohl die Verwirrung zuweilen offenkundig war. Die Änderung des Lehrplanes, d. h. die Beschränkung des Vortrages auf zwei Stunden und eine anschließende Stunde zur Wiederholung in Deutsch durch einen der Kriegsgefangenen, stieß auf unterschiedliches Echo. Als nützlichstes Hilfsmittel erwies sich eine deutsche Zusammenfassung, bei einem abstrakten Thema die Aushändigung einer vollständigen deutschen Ubersetzung als beste Methode 2 0 .
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U S P M G O , Spec. Proj., „Report on the Experimental School for Selected German Prisoners of W a r established at F o r t K e a r n e y " , 1. 3. 1946, S. 1 - 2 . Ebd., S. 2 5 - 2 6 . Ebd., S. 23. Material wurde dem A u t o r durch den einstigen deutschen Gefangenen Alois H . zur Verfügung gestellt.
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Besondere Schwierigkeiten bereiteten die Vorträge über die Militärverwaltung. Es wurde nur in Englisch und ohne Unterstützung durch einen deutschen Helfer unterrichtet, weshalb der Themenkomplex den meisten Lehrgangsteilnehmern schwer vermittelbar war. Der Unterricht (mit recht umfangreicher Lektüre) basierte auf US-Feldhandbüchern und dem Handbook for Military Government. Wahrscheinlich wurde mit diesem Unterrichtsfach bezweckt, die Besatzungsbedingungen in der amerikanischen Zone in Deutschland zu erläutern, aber das dafür verwendete Material war im allgemeinen wegen der Zensurvorschriften der Streitkräfte und der lahmen Bürokratie veraltet21. Die Aufnahme dieses Faches in den Stundenplan ist jedoch ein Hinweis darauf, daß damals ernsthafte Pläne bestanden, den Kriegsgefangenen bei ihrer Heimkehr eine Beschäftigung bei der A M G anzubieten. Zweifellos waren die meisten Teilnehmer der Special Projects-Verwaltungslehrgänge wirklich beeindruckt. Die Männer dachten später gern daran zurück. In Interviews und schriftlichen Mitteilungen berichteten sie über die angenehme Atmosphäre in den Lagerschulen und insbesondere über die Muße, sich dem Lernen hingeben zu können. Es sind auch viele Fälle bekannt, in denen einer Reihe von Lehrern gegenüber Sympathie und Achtung zum Ausdruck ka22
men . Vor der Einstellung der Special Projects-Lehrgänge wurde die Zensur aufgehoben, und dieser Umerziehungsversuch auch nicht mehr geheimgehalten. Ein bekannter amerikanischer Journalist gab zu, daß er Vorbehalte gegen deutsche Kriegsgefangene gehabt, nach dem Besuch eines Special Projects-Lehrganges jedoch positiv überrascht gewesen zu sein: „Ihr Blick war offen - nicht unfreundlich; sie lachten miteinander über Witze; sie wirkten nicht eingeschüchtert ... Verdammt noch mal, trotzdem waren sie anders" 23 . Mit der Absolvierung des Lehrgangs hatten sich die Kriegsgefangenen nicht zwangsläufig ihre Heimfahrkarte verdient. Da die Vereinigten Staaten aber daran interessiert waren, die deutschen Kriegsgefangenen loszuwerden, begann die Repatriierung bald nach Kriegsende, so daß zwischen Lehrgangsende und Rückführung in die Heimat nicht viel Zeit lag. Nach Abschluß des Lehrgangs fand immer eine bescheidene Feier zur Ehrung der „ausgewählten deutschen Staatsbürger" statt. Jeder Kriegsgefangene erhielt eine Leistungsbescheinigung. Dieses Dokument trug seinen Namen, die Bezeichnung und den Standort der von ihm besuchten Schule und die Unterschrift des U.S. Army Provost Marshal General und von Special Projects-Mitarbeitern 24 . Mittlerweile traf Großbritannien Maßnahmen, um seine eigene Version der Umerziehung deutscher Kriegsgefangener in Gang zu bringen. Im Januar 1946 gab ein britischer General in einer in Deutsch gehaltenen Ansprache vor einer Gruppe Kriegsgefangener mit wenig Aufsehen und ohne Erwähnung des amerikanischen Projektes den Beginn der Umerziehung einer ausgewählten Anzahl 21 22 23 24
U S P M G O , Spec. Proj., „Report on the Experimental School", 1. 3. 1946, S. 23. Richter, Defeat; Andersch, Disappearance. Reynolds, Experiment, S. 41. Eine Kopie einer Leistungsbescheinigung wurde dem Autor vom einstigen Lehrgangsteilnehmer Martin K . zur Verfügung gestellt.
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deutscher Kriegsgefangener bekannt. Sie fand im PoW Camp 300 in einem von Rasen und Bäumen umgebenen Herrenhaus, Wilton Park, statt. In Beaconsfield, Buckinghamshire, gelegen, sah Wilton Park eher wie ein kleines College und nicht wie ein Kriegsgefangenenlager aus. Der Lehrgang dauerte sechs bis acht Wochen. Von der Eröffnung im Jahr 1946 bis zur Schließung im Juni 1948 nahmen etwa 4500 deutsche Kriegsgefangene an den Lehrgängen teil. Alle militärischen Dienstgrade wurden aufgenommen, aber anfänglich waren die Beziehungen untereinander nicht immer so harmonisch wie bei Special Projects. Die ranghöheren deutschen Offiziere zeigten sich anfangs nicht willens, ihre Unterkünfte mit niedrigeren Chargen zu teilen, mußten sich aber schließlich in die Gegebenheiten schicken 25 . Wilton Park hatte eine Reihe bemerkenswerter Vorteile gegenüber dem amerikanischen Projekt. Die Bedingungen des Friedens sicherten einen nicht durch die Zensur beeinträchtigten Anfang, und die Einstellung gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen war allgemein positiver. Die Wahl des in Deutschland geborenen und ausgebildeten Leiters Heinz Koeppler wirkte sich sicher vorteilhaft auf das Wilton Park-Projekt aus, zumal er mit den meisten Lehrgangsteilnehmern gleichaltrig war. Er hatte nach Studium und Berufstätigkeit in England vor dem Krieg die britische Staatsbürgerschaft angenommen. Als Akademiker gründlich mit der englischen und deutschen Kultur vertraut war, erwies er sich als der geeignete Mann auf dem Posten 26 . Dr. Koeppler hatte Interesse gezeigt, während des Krieges eine spezielle Schulung für deutsche Kriegsgefangene durchzuführen, was sich jedoch bis kurz vor Kriegsende aus Mangel an Kriegsgefangenen nicht realisieren ließ. Es war Großbritanniens Bedarf an Arbeitskräften in der Nachkriegszeit, die die Regierung veranlaßte, deutsche Kriegsgefangene zurückzuhalten und Koeppler wie gleichgesinnten Kollegen eine Chance bot. Koepplers erste Aufgabe bestand darin, nach Mitarbeitern Ausschau zu halten. Nachdem die im Krieg geltenden Beschäftigungsbeschränkungen weggefallen waren, konnte er eine ansehnliche Zahl Deutsch sprechender Lehrer gewinnen. Dadurch wurde sichergestellt, daß Wilton Park nicht unter den selben Kommunikationsproblemen wie Special Projects litt 27 . Mehrere der führenden Lehrer in Wilton Park, einschließlich Dr. Koeppler, lehnten es von Anfang an ab, sich - wie die Amerikaner (oder Russen) - um eine politische Umorientierung zu bemühen. Einer der Planer, Colonel Henry Faulk, gab zu verstehen, daß die zur Teilnahme ausgewählten deutschen Kriegsgefangenen nicht für irgendeine Unterstützung der britischen Besatzungsbehörden vorgesehen seien. Er beschrieb den Zweck des Vorhabens wie folgt: „Wilton Park wurde zur Notwendigkeit, die sich unmittelbar aus der sog. .allgemeinen' Umerziehung ergab. Im wesentlichen ging es um eine Neubelebung der Bemühungen um die .allgemeine Umerziehung' in den Lagern ... Kurzum,
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Keezer, Contribution, S. 1 1 - 1 3 . Diese Ansicht über Koeppler w u r d e nicht allgemein geteilt. Dies geht aus dem Schriftverkehr eines Mitarbeiters hervor. Schreiben Reichert-Abendroths, 23. 12. 1964, B A - M A , B205/1436, S. 72. Smith, War, S. 5 2 - 5 3 .
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es ging darum, etwas gegen die Depersonalisierung durch den Nazi-Einfluß zu tun" 2 8 . Faulk stellte in Rechnung, daß der Kriegsgefangene stark durch seine Umgebung beeinflußt wird, weshalb das Lager auch nicht von sichtbaren Stacheldrahtzäunen umgeben sein sollte. Die Kriegsgefangenen mußten seitens des Lehrkörpers (der Tutoren) eine Behandlung wie richtige Studenten erfahren. Im Rahmen des Lehrplanes sollten immer wieder Ausflüge in Zivilkleidung in britische Dörfer und Städte stattfinden 29 . Koeppler, der jede Anlehnung an Davisons vorausgegangene Bemühungen abstreitet, stellte fest, daß er in gewissen Bereichen dieselben Maßnahmen treffen mußte. Bei der Rekrutierung und Uberprüfung von Kriegsgefangenen gingen die Lehrer in Wilton Park vom selben Grundgedanken aus, unverbesserliche Nazis auszuschließen. D a der Krieg jedoch vorbei war, fiel dieser Punkt weniger ins Gewicht als bei Special Projects. Das amerikanische Schema der Klassifizierung der Kriegsgefangenen in „schwarz", „grau" und „weiß" wurde verwendet. Der Auswahlvorgang unterschied sich ebenfalls nicht sehr vom amerikanischen, außer daß man bestrebt war, Männer zu gewinnen, die befähigt schienen - wie Colonel Faulk sich ausdrückte - „einen Gedanken aufzugreifen und zu erörtern ..., und ihre Grundhaltung mußte wirklich menschlich sein" 3 0 . Die Frage, ob jemand diese Qualitäten besaß, sollte durch einen Interviewer („segregation officer" oder „training advisor" genannt) geklärt werden, und es gelang, einen Kreis jüngerer und gebildeter Lehrgangsteilnehmer für Wilton Park zu gewinnen. Die Zeit war in Großbritannien auch günstig für ein solches Erziehungsexperiment, denn die neue Labour-Regierung setzte Hoffnungen auf ein wiederaufzubauendes, demokratisches Deutschland und begrüßte Beiträge, die dies verwirklichen halfen. Obwohl die Regierung aufgrund der darniederliegenden Nachkriegswirtschaft nur über bescheidene Finanzen verfügte, konnten ausreichend Mittel für den von Koeppler und seinen Leuten geplanten Unterrichtsbetrieb in Wilton Park flüssig gemacht werden. Die wenigen tausend deutschen Kriegsgefangenen, die aus Hunderttausenden ausgewählt worden waren, um die Schule zu besuchen, genossen die außergewöhnliche Behandlung. Aber da sie aus Briefen und den ihnen in Wilton Park zugänglichen Medien wußten, daß in Deutschland schlimme Verhältnisse herrschten und daß ihre Familien sie dringend brauchten, fiel es ihnen offensichtlich schwer, sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Die Auswahl der Teilnehmer des ersten Lehrganges in Wilton Park war im Dezember 1945 in etwa zehn Tagen erfolgt, wobei darauf geachtet wurde, daß die Teilnehmer aus der britischen Zone kamen. Wahrscheinlich umfaßte der erste 350 Mann starke Lehrgang aufgrund der von Koeppler und seinen Mitarbeitern befolgten Kriterien mehr Offiziere als Mannschaftsdienstgrade 3 1 .
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Schreiben Henry Faulks, 18. 10. 1988, an den Autor. Faulk, G r o u p , S. 70. Schreiben von Faulk. Faulk, Kriegsgefangenen, S. 194.
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Es ist eine interessante Parallele, daß den Special Projects wie Wilton Park der Geruch kommunistischer Beeinflussung anhaftete. Davison wurde beschuldigt, als Kommunisten bekannte Lehrer einzusetzen. Gegen diese Anschuldigung mußte er seine Mitarbeiter in einem Regierungsausschuß verteidigen 32 . Die Anschuldigungen gegen Koeppler lauteten etwas anders. Ihm unterstellte man, wissentlich einen deutschen Kriegsgefangenen in die Schule aufgenommen zu haben. Nach Entlassung in seine Heimat in Mitteldeutschland wurde der einstige Lehrgangsteilnehmer hier verhaftet und beschuldigt, die „Spionageschule Wilton Park" besucht zu haben 3 3 . Zum Glück konnte Koeppler jeder nachteiligen Kritik lobende Presse- und Rundfunkkommentare entgegenhalten. Inzwischen hatte die Schule die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und bekannte Pädagogen aus dem In- und Ausland wollten die Schule besuchen. Auf politische Anfragen hin sprach Koeppler Einladungen aus, wies jedoch vorsichtig darauf hin, daß in Wilton Park keine Wunder vollbracht würden, da nicht jeder Lehrgangsteilnehmer als Verfechter der Demokratie die Schule verlasse 34 . Tatsächlich waren in der Hoffnung, Toleranz zu üben, Kriegsgefangene in Wilton Park aufgenommen worden, die aufgrund ihrer politischen Ansichten unsichere Kandidaten waren. Die Männer, die anfänglich ihre Unterstützung des Nationalsozialismus verteidigt hatten, aber später das in Wilton Park vermittelte Wissen als sinnvoll zu akzeptieren schienen, wurden nicht unbedingt in den Bann der Demokratie gezogen. Grundlage gemeinsamer Uberzeugung war eher die sich allmählich abzeichnende antikommunistische Grundstimmung, die sich verstärkt in den Vereinigten Staaten und Großbritannien bemerkbar machte. Man war nicht unbedingt für, sondern gemeinsam gegen eine Sache. Dadurch wurde es möglich, eine rationale Erklärung für sich ändernde Loyalitäten zu finden35. Der Lehrkörper in Wilton Park machte sich keine überzogenen Hoffnungen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, die deutschen Lehrgangsteilnehmer zur Demokratie zu bekehren. Die Lehrer hatten bei den zahlreichen Diskussionen mit den Kriegsgefangenen schon festgestellt, daß sie zwar gern historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts diskutierten, es jedoch ablehnten, einen Zusammenhang zwischen der Politik Hitler-Deutschlands und der derzeitigen internationalen Lage zu sehen. Als erfahrene Pädagogen legten Koeppler und seine Kollegen großen Wert auf eine gute Beziehung zwischen Lehrer und „Student" in dem von Oxford übernommenen Tutorialsystem. Dazu kamen Vorlesungen von Mitarbeitern, von Gastdozenten, die Fachwissen von außen beisteuerten, und von anderen Kriegsgefangenen selbst. Die Zahl der Vorlesungsteilnehmer war auf 15 bis 20 beschränkt, und in den Seminaren noch viel kleiner 36 . Die Einweisung für die Neuankömmlinge lautete: „Wilton Park ist keine Institution, in der unverdaute Informationen aufgenommen werden sollen. Die Arbeit in Wilton Park wird weniger von den Lektoren als von den Lehrgangsteil-
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M c C r a c k e n , Prisoners, S. 27. Keezer, Contribution, S. 26. Faulk, Kriegsgefangenen, S. 225. Interview mit Prof. D r . W . A . , 3. 12. 1964, B A - M A , B 2 0 5 / 3 6 , S. 7 6 - 7 7 . Sullivan, Thresholds, S. 244.
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nehmern selbst geleistet... Es werden nicht einfach Vorlesungen gehalten. Unsere Unterrichtseinheiten dauern eineinhalb Stunden, von denen etwa 40 Minuten dem einleitenden Vortrag vorbehalten sind. Die übrige Zeit steht zur Diskussion bzw. für Fragen und Antworten zur Verfügung" 3 7 . Die Schule befolgte einen strikten Stundenplan. Die fünfzehn Lehrgangsgruppen begannen jeden Tag den Unterricht um 9 U h r mit einer 90-minütigen Unterrichtseinheit. Jeder Lehrgangsteilnehmer hatte mindestens eine Freistunde und nie mehr als drei Unterrichtseinheiten am Tag. Zwei Unterrichtseinheiten pro Woche waren dem Sport vorbehalten. Der Sonntag als Ruhetag bot Gelegenheit zum Gottesdienstbesuch 38 . Die Fächer in Wilton Park waren vergleichbar denen von Special Projects, ausgenommen der Unterricht über die Militärverwaltung. Deutsche Geschichte bildete ein Kernthema. Das Schwergewicht lag auf der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen endete. Die britischen Lehrer zogen - genau wie die amerikanischen - subtile und auch weniger subtile Vergleiche mit der Geschichte ihres Landes, so daß die englische Geschichte zur Verdeutlichung des Wachsens einer Demokratie herangezogen wurde. Zu den Themen zählten u.a. Wirtschaftstheorie und internationale Beziehungen. Englisch und die Sitten und Gebräuche des englischen Volkes wurden ebenfalls als wichtige Unterrichtsthemen betrachtet. Den Kriegsgefangenen mit guten Englischkenntnissen wurden Vorlesungen angeboten wie „Deutscher Wiederaufbau und Englands konservative Partei" und „Akademische Freiheit und die deutsche Universität". Des weiteren machten die Zuhörer Bekanntschaft mit berühmten Dichtern und Schriftstellern wie Chaucer, Milton, D. Η. Lawrence und James Joyce 3 9 . In Wilton Park gab es eine Lagerwandzeitung, aber besser bekannt war eine Zeitschrift, Die Brücke, die am Ende eines jeden Lehrganges erschien. Sie wurde in anderen Kriegsgefangenenlagern in Großbritannien verteilt und erfreute sich großer Beliebtheit. Die zur Herausgabe der Zeitschrift ausgewählten Männer hatten ein Interesse bekundet, sich nach ihrer Entlassung journalistisch betätigen zu wollen. Ihnen wurde eine besondere Vorlesungsreihe, die „Press Class" angeboten. Einige Gefangene verfügten auch schon über journalistische Erfahrungen aus der Zeit vor ihrem Eintritt in die Wehrmacht 4 0 . 1948 entwickelte sich Wilton Park in eine interessante Richtung. Da durch die Entlassung von Kriegsgefangenen immer weniger Lehrgangsteilnehmer zur Verfügung standen, hatte Koeppler schon daran gedacht, zivile Studenten aus Deutschland hereinzuholen. Dafür wurden zusätzliche Mittel benötigt, von enen einige aus Reparationskosten stammten. Das Projekt galt als besonders nützlich für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Großbritannien und dem politischen Gebilde, das bald als Westdeutschland Gestalt annahm. Die Kriegsgefangenen in Wilton Park hatten jetzt engen Kontakt mit studierenden
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„The Course at Wilton P a r k " , National Archives, Washington, R G 260, 5 / 3 0 8 - 1 / 2 7 , S. 1. Faulk, Kriegsgefangenen, S. 203, 207. Ebd., S. 2 0 4 - 2 0 5 , 2 1 2 . Keezer, Contribution. S. 15.
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Männern und Frauen aus Deutschland, die in der Ausbildungsstätte Aufnahme fanden. Durch den Erfolg des Projektes war sichergestellt, daß die Regierung selbst nach dem Ausscheiden des letzten Kriegsgefangenen ihre Unterstützung fortsetzen würde. Als die Ära der Kriegsgefangenen in Wilton Park im Jahr 1948 zu Ende ging, war es an der Zeit, eine gewisse Bewertung dieses ungewöhnlichen Erziehungsexperimentes vorzunehmen. Koeppler wußte genau, daß nur etwa 1 % der der in England inhaftierten Kriegsgefangenen Gelegenheit zum Lehrgangsbesuch hatte und ihre Ansichten für die Gesamtheit der Kriegsgefangenen nicht repräsentativ waren. Die Kriegsgefangenen äußerten sich beinahe übereinstimmend lobend über Dr. Koepplers Leistung, eine Schule ins Leben gerufen zu haben, in der die Männer nicht den Eindruck hatten, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Sie trafen eine Atmosphäre an, in der Gleichheit gefördert wurde, so wie ein ehemaliger Lehrgangsteilnehmer feststellte: „In Wilton Park . . . fühlte man sich als Gleicher unter Gleichen" 4 1 . Aber wie zu erwarten stand, sahen nicht alle Kriegsgefangenen ihre Zeit in Wilton Park so positiv. Viele der Befragten meinten, daß ihnen diese Erfahrung nichts gebracht habe. Es wurden Klagen laut, die Engländer würden versuchen, ihnen durch laufende Kritik an Deutschland ihren Lebensstil verkaufen zu wollen. Einige der Befragten unterstellten sogar, Koeppler und die Labour-Regierung hätten versucht, die Lehrgangsteilnehmer für den Kommunismus zu gewinnen 42 . Im Jahr 1962 nahmen im Rahmen einer deutschen Rundfunksendung mehrere Wilton Park-Absolventen an einer Diskussion über ihre Erfahrung teil. Sie waren übereinstimmend der Auffassung, daß man sie nicht schlecht behandelt hatte, äußerten sich jedoch kritisch über die Lerninhalte. Einzig Colonel Henry Faulk wurde sehr gelobt. Die anderen Vorlesungen erhielten schlechte Noten, weil sie von unfähigen Lehrern zu propagandistischen Zwecken gehalten worden seien. Die schärfste Kritik richtete sich nicht gegen Koeppler und Wilton Park, sondern gegen das Vorgehen der britischen Regierung, die die deutschen Kriegsgefangenen so lange nach Kriegsende eingesperrt hielt. Die späte Entlassung hatte nicht nur unverdiente Härten für die Familien der heimkehrenden Kriegsveteranen mit sich gebracht, sondern diese auch ernsthaft gegenüber den schon zu Hause befindlichen Männern benachteiligt. Das hieß, daß sich die Bemühungen um eine Wohnung, eine Aufenthaltsgenehmigung, einen Arbeitsplatz oder den Abschluß einer Ausbildung aufgrund der späten Heimkehr diesen gegenüber als schwieriger erwiesen 43 . Sehr interessant erwies sich für die Vereinigten Staaten und Großbritannien die Frage, was aus ihren Lehrgangsteilnehmern nach der Entlassung geworden war. Eine Ende 1945 durchgeführte O M G U S (Office of Military Government, United States)-Nachforschung fand zu früh statt, um schon aufschlußreiche Angaben zu bekommen. Der Bericht, der auf der Grundlage eines kurzen Fragebo-
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Faulk, Kriegsgefangenen, S. 218. Bericht über eine Befragung heimgekehrter deutscher Kriegsgefangener aus England, Afrika, Frankreich und Rußland, B A - M A , B205/1409, S. 11-12. Westdeutscher Rundfunk, 2. 10. 1962.
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gens abgefaßt wurde, kam lediglich zu dem Schluß, daß die Kriegsgefangenen mit einer liberaleren Einstellung und mehr Zukunftshoffnung heimgekehrt 44
seien . Davison und seine Mitarbeiter hatten schon einige der Probleme vorausgesehen, denen sich ihre „Schüler" bei ihrer Heimkehr stellen mußten. Eine von deren Hauptsorge galt der Eingliederung in das Arbeitsleben. Davison drängte darauf, daß den deutschen Kriegsgefangenen, die an Special Projects-Lehrgängen teilgenommen hatten, da sie wertvolle Arbeit für die Militärverwaltung leisten konnten, in der amerikanischen Besatzungszone eine vorzugsweise Anstellung erhielten. Im Frühjahr 1945 sah es so aus, als ob das U.S. War Department und die U.S. Army in Europe ebenfalls das Ziel verfolgten, die Absolventen von Special Projects-Lehrgängen in irgendeiner Form zu verwenden, aber in der damaligen kritischen Ubergangszeit mit umfangreichen Personalveränderungen im militärischen Bereich fanden die „ausgewählten Staatsbürger" nur wenig Beachtung. Es waren ja hunderttausende von amerikanischen Soldaten, die Europa in Richtung des pazifischen Kriegsschauplatzes oder wegen ihres Ausscheidens aus den Streitkräften verließen, während eine gleiche Zahl frisch rekrutierter für den Besatzungsdienst nach Deutschland gebracht wurde. In einer solchen Lage waren nur wenige oder überhaupt keine Vorkehrungen getroffen worden, um Kriegsgefangenen mit einer Umerziehungsbescheinigung eine bessere Chance zu geben als den anderen Millionen entlassener deutscher Kriegsveteranen. Die neu in Deutschland eingetroffenen Angehörigen der U S Streitkräfte wußten mit den sich ihnen vorstellenden Absolventen der Special Projects-Lehrgänge in der Regel nichts anzufangen 4 5 . Die Hoffnungen von Davison und seinen Mitarbeitern sahen ihre Bemühungen zunichte gemacht, als General Lucius Clay, der stellvertretende Militärgouverneur der amerikanischen Zone, es ablehnte, den zurückgekehrten Absolventen der Special Projects-Schulen irgendeine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen. Der A M G fehlte es sehr an Hilfspersonal mit englischen Sprachkenntnissen, aber Clay gab als Grund für seine ablehnende Haltung gegenüber der Anwerbung ehemaliger amerikanischer Kriegsgefangener an, daß diese Männer von den anderen auf Arbeitssuche befindlichen Deutschen abgelehnt würden und durch sie eine bevorzugte Klasse entstünde. Der General schlug vor, sie sollten selbst ihren Weg im deutschen Alltag finden, wodurch ein gesünderes politisches Gemeinwesen entstehen könne 4 6 . Einige ehemalige Kriegsgefangene, die eine Special Projects-Schulung durchlaufen hatten, wurden von der amerikanischen Militärverwaltung eingestellt, aber eher zufällig. Die Einstellung der britischen Besatzungsbehörden gegenüber den Kriegsgefangenen von Wilton Park war nicht viel anders. Deren Beschäftigung galt gewiß nicht als verboten, aber wirkliches Entgegenkommen wurde nicht spürbar. D a im Lehrplan von Wilton Park keine Einweisung in die Funktionen der Mi-
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A Reorientation Program Seen through the Eyes of German Prisoners of War, National Archives, Washington, R G 260, O M G U S 5/307-3/16, S. 31-32. Detailed Report of Situation In Occupied Germany Affecting Approved Project for Use of Prisoners of War, ebd., O M G U S 44-45/21/1, S. 1-6. Clay to War Department, 7. 10. 1945, ebd.
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litärverwaltung erfolgt und eine spätere Tätigkeit bei den Besatzungsbehörden auch nicht direkt ins Auge gefaßt worden war, kam bei den Betroffenen aber nicht, wie hinsichtlich der Behandlung durch die Amerikaner, das Gefühl des Verrates auf. Colonel Faulk hatte klargestellt, daß die Kriegsgefangenen in Wilton Park auf die Rückkehr in reguläre Lager in Großbritannien vorbereitet wurden, um dort an der Umerziehung ihrer dort verbliebenen Kameraden mitzuwirken 4 7 . Der Niederschlag der beiden Umerziehungsprogramme im Deutschland der ersten Nachkriegsjahren ist schwer zu beurteilen. Anfang 1946 gründeten in München Absolventen von Special Projects aus Fort Getty eine Gesellschaft. Hundertundsiebzig der früheren Kriegsgefangenen gaben an, sich öffentlich für das Gedankengut einzusetzen, mit dem sie in Fort Getty vertraut gemacht worden waren. Sie nannten ihren Zusammenschluß „Demokratische Gesellschaft". Bald traten dieser auch andere Mitglieder bei. Die Bildung der Münchener Gruppe gab den Anstoß zur Formierung mehrerer anderer Kreise ähnlicher Art durch Absolventen anderer Umerziehungsschulen in den Vereinigten Staaten, aber die Zeiten änderten sich rasch in Deutschland 4 8 . Die Währungsreform, der Aufbau einer westdeutschen Regierung und eine wachsende Sorge um das Wohlergehen aller ehemaligen deutschen Kriegsteilnehmer führte zur Gründung einer allumfassenden Organisation mit der Bezeichnung „Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen Deutschlands", wodurch die Umerziehungsgesellschaften in gewisser Weise überflüssig wurden. Die deutschen Absolventen von Wilton Park machten hinterher andere Erfahrungen mit ihrer Umerziehung. Schon vor ihrer Heimkehr hatten einige Kriegsgefangene begonnen, sich als „Wiltonians" zu bezeichnen und vereinbart, zuhause „Old Wiltonian"-Gesellschaften zu gründen. Obwohl die Männer den Geist lebendig halten wollten, war Koeppler nicht allzu angetan von der Benutzung des Namens Wilton Park. Nach seiner Auffassung klang dies zu elitär 49 . Die Kriegsgefangenen gaben nichts auf Koepplers Einwand, und nach der Entlassung wurden in den größeren Städten der britischen Besatzungszone einige Old Wiltonian-Vereinigungen ins Leben gerufen. Ihr propagiertes Ziel war die Schaffung eines Diskussionsforums für wichtige, die deutsche Öffentlichkeit allgemein interessierende Themen. Bei einem Besuch in Deutschland suchte Koeppler trotz seiner früheren Vorbehalte gegenüber den Vereinigungen mehrere der Old Wiltonian-Gesellschaften auf und war recht beeindruckt 50 . Die Gesellschaften hatten noch nach der Gründung der Bundesrepublik eine ganze Zeit Bestand. Bleibt die Frage, warum diese Lehrgänge nicht in größerem Umfang durchgeführt wurden. Beide Nationen hätten reichlich Gelegenheit dazu gehabt. Da
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Schreiben von Faulk. Henry Ehrmann Correspondence, Demokratische Gesellschaft Report, 1 . 5 . 1947, S. 2. Ehrmann wechselte über 500 Briefe mit ehemaligen Kriegsgefangenen nach ihrer Entlassung. Die Briefe sind in der State University of N e w Y o r k in Albany archiviert. Keezer, Contribution, S. 23. Ein Wilton Park-Treffen in Deutschland, in: Zukunft, N r . 37 vom 20. 9. 1948.
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sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg viele Millionen deutscher Kriegsgefangener in alliierter Haft befanden, wären - wenn man gewollt hätte der Ausweitung der Umerziehung eigentlich keine Grenzen gesetzt gewesen. Diese Frage erscheint um so berechtigter, als die Umerziehung in den westlichen Besatzungszonen im pränatralen Feld der Bundesrepublik später erfolgte. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hätten über die Mittel zur Durchführung von mehr Lehrgängen durchaus verfügt. Doch wer sollte entscheiden, wie zu Kriegszeiten wertvolle Ressourcen zu nutzen sind? Da gab es das Lager jener, die alle verfügbaren Finanzmittel in erster Linie zur Unterstützung der alliierten Kampftruppen und nicht für ein fragwürdiges Umerziehungsprogramm verwendet wissen wollten. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien waren die Bürger ununterbrochen mit Nachrichten über die Verbrechen von Nazi-Deutschland überflutet worden, wobei kaum je zwischen dem einfachen Soldaten und den politischen Entscheidungsträgern unterschieden wurde. Die Kollektivschuld für Hitlers Verbrechen wurde von weiten Kreisen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien akzeptiert, und die Vorstellung, daß viele Deutsche, die ihrem Vaterland gedient hatten, vielleicht keine eingefleischten Nazis sein könnten, war nicht populär. Das Feindbild saß also tief. Die möglicherweise wichtigste aller Fragen, die unausgesprochen über den amerikanischen und britischen Projekten schwebte, war der Vorbehalt aller an diesen Projekten Beteiligten gegenüber jeglichem Versuch, - bei allem Bemühen, Kriegsgefangene das Kennenlernen einer demokratischen Gesellschaft zu bieten - diese einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Peter Steinbach „Die Brücke ist geschlagen" Die Konfrontation deutscher Kriegsgefangener mit der Demokratie in amerikanischer und britischer Kriegsgefangenschaft 1
„Wie ist so etwas möglich, daß in Amerika mitten im Krieg dauernd gestreikt werden konnte? Können Sie uns vielleicht sagen, warum es in Amerika nur zwei Parteien gibt? Sind die Amerikaner eigentlich gern Soldaten? Stimmt es, daß die Presse nur von Juden gemacht wird? Glauben Sie auch, daß Amerika bald kommunistisch wird" 2 ? Mit diesen Fragen an einen Kriegsgefangenen, der aus Amerika zurückgekehrt war, konfrontierte der Berliner „Telegraf" im Sommer 1946 seine Leser. Der deutsche Soldat nach Jahren westlicher Gefangenschaft als Amerikaexperte mit diesem ungewohnten und überraschenden Rollenbild hat dieser Aufsatz zu tun. Im folgenden soll versucht werden, die Konturen eines Themas zu bestimmen, das bisher bei der Erforschung lebensgeschichtlicher und kollektiver Ubergänge von Diktaturen und Demokratien vernachlässigt worden ist. Welche Rolle, so lautet die zentrale Frage, spielte bei der Konfrontation deutscher Kriegsgefangener mit dem Typus der westlichen Demokratie in britischer und amerikanischer Gefangenschaft und der daraus resultierenden politischen Neuorientierung die Kriegsgefangenschaft? Dieser Versuch knüpft an eine frühere Beschäftigung mit der Sozialgeschichte der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion an. Bisher hat die Bewertung der politischen und kulturellen Konflikte in der sowjetischen Gefangenschaft nicht zu einem systematischen Vergleich der Gefühle, Stimmungen und Verhaltensweisen deutscher Kriegsgefangener in Ost und West geführt. Ebenso ist die vergleichende Analyse der Ziele, welche die westalliierten Mächte mit der Kriegegfangenschaft verfolgten, noch ein Desiderat. Im sozialgeschichtlichen Kontext steht auch weiterhin die Frage nach den Konflikten innerhalb der Lager im Mittelpunkt des Interesses 3 . In diesen Auseinandersetzungen entschieden sich, vor allem im Osten, vielfach die Uberlebens1
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Ich stütze mich im folgenden z u m einen auf das wohl größte deutsche zeithistorische Forschungsprojekt, das im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg dokumentierte Kriegsgefangenenprojekt, das unter Leitung des Heidelberger Historikers Erich Maschke seit den fünfziger Jahren durchgeführt und in den frühen siebziger Jahren abgeschlossen worden ist. Z u m anderen hatte ich die Möglichkeit, weitgehend unbekannte und unveröffentlichte Q u e l l e n aus britischen, amerikanischen und kanadischen Beständen einzusehen. Erstmals ausgewertet wurden auch Bestände des ehemaligen Instituts für Marxismus-Leninismus ( I M L ) beim Zentralkomitee der S E D in Ostberlin. „Allein auf das Wollen kam es an", in: Telegraf N r . 80/1, 13. 7. 1946. Vgl. dazu Carlson, Prisoners; ders./Haase (Hrsg.), Freiheit.
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chancen der Gefangenen, die unter schwierigsten klimatischen Verhältnissen in einer materiell unterversorgten Gesellschaft lebten. Die Lebenslage und Lebenschancen im Westen unterschieden sich fundamental von denen im Osten. Die deutschen Gefangenen in den USA, in Großbritannien und in Kanada, aber auch in Ägypten wurden gut versorgt und waren in der Regel als Sommergefangene körperlich in ungleich besserer Verfassung als die deutschen Winter gefangenen in der Sowjetunion. Sie standen politisch auch weitaus weniger unter Druck, weil die amerikanische Seite peinlich auf die Einhaltung der Genfer Konvention bedacht war und Repressalien gegen die amerikanischen Gefangenen in deutscher Hand fürchtete. Dennoch spricht viel dafür, daß es in Ost und West in der Entwicklung, der Funktion und der Abwicklung des Kriegsgefangenenproblems ganz ähnliche Prozesse gab. Gefangenschaft - dies bedeutet nicht nur eine psychische Herausforderung, sondern in der Regel die Einleitung einer fundamentalen Umorientierung: In unserem Falle die Ablösung von den Wertvorstellungen des NS-Staates und die Entwicklung eines neuen politischen Grundmusters, das den Ubergang in genau jenes System gestattete, welches nicht nur militärisch bekämpft, sondern auch verächtlich gemacht oder als übermächtige Gefahr gedeutet wurde. So mag die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen in Kanada, Großbritannien und den USA in politik- und mentalitätshistorischer Hinsicht auch für den von Interesse sein, der nach der Entwicklung der deutschen Demokratie ab 1945 fragt. Die Kriegsgefangenschaft in den USA und Großbritannien läßt sich rückblickend als Konfrontation eines deutlich abgrenzbaren Teiles der deutschen Bevölkerung mit einem demokratischen System interpretieren. Dabei geht es vor allem um die bisher nicht ausreichend analysierte Frage, wie eine durch den NS-Staat und durch ganz spezifische soldatische Wertvorstellungen - den soldatischen Ehrenkodex der Wehrmacht - tief geprägte, weltanschaulich relativ homogene Gruppe von Gefangenen den Ubergang in postdiktatorische Verhältnisse bewältigt hat. Den seit 1943 in amerikanischen Lagern lebenden Gefangenen kam dabei große Bedeutung zu, denn sie hatten eine ungleich längere Frist als die in Europa aufgebrachten Kapitulationsgefangenen, sich mit dem „westlichen System", seinen Vor- und Nachteilen, seinen „Werten", Defiziten und Leistungen, aber auch mit dem NS-Staat und seinen Folgen unter den unkomfortablen Bedingungen eines Massenschicksal auseinanderzusetzen, das in nichts den Lebensverhältnissen in den USA und Kanada ähnelte. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Vermutung, daß durch die Konfrontation deutscher Gefangener mit den politischen Strukturen und Wertvorstellungen des Westens in der Kriegsgefangenschaft nicht selten ein Wandel eingeleitet oder beeinflußt wurde, der die durch die deutsche Diktatur geprägten Wertvorstellungen, Grundüberzeugungen, Einstellungen abschwächte und auch auflöste. Dieser Prozeß ist nicht allein als Denazifizierung zu bezeichnen, sondern entfaltete auf längere Sicht eine Wirkung, welche die politische Demokratisierung unterstützte und die Entstehung eines pluralistischen Systems prägen konnte. Kriegsgefangenschaft - dies ist zunächst einmal die in vielen Erinnerungen überlieferte Erfahrung der Leere, des Versagens, der Unsicherheit, der Raum-
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und Zeitlosigkeit 4 . Herausgerissen aus kameradschaftlichen Zusammenhängen, beeinflußt durch die bisher demonstrierte Siegeszuversicht, moralisch gebunden auch durch die Uberzeugung, als Soldat eidgemäß gehandelt zu haben und weiterhin innerlich zur Treue gegenüber dem - wie man sagte - „Vaterland" verpflichtet zu sein, mußte es für die meisten Soldaten darauf ankommen, in der Gefangenschaft eine eigene Identität zu bewahren. Sie verwies auf den wichtigen Bezugspunkt Deutschland, die „Heimat" - damit allerdings auch auf den NS-Staat. Diese Verbindung - Deutschland, Heimat, Nationalsozialismus - innerlich zu behaupten, wurde für viele Gefangene im Kriegsverlauf immer schwerer, weil nicht nur die deutschen Niederlagen die Siegeszuversicht lädierten, sondern auch weil die geistige und politische Auseinandersetzung mit dem NS-Staat in der Gefangenschaft nicht selten die politischen Bindungen an die Führung des Reiches lockerte. Diese wiederum reagierte 1944/45, was kaum bekannt ist, mit der Androhung von Maßnahmen, die an die Unterdrückung von Regimegegnern und Widerstandskämpfern erinnern: Überläufer und jene, die „in der Kriegsgefangenschaft Landesverrat" begingen, sollten durch das Reichskriegsgericht verfolgt, die Namen ihrer Angehörigen aktenkundig gemacht werden, um den „Bestimmungen der Sippenhaftung" - Haftung mit Freiheit, Vermögen und Leben - Geltung verleihen zu können. Begründend hieß es: „Während die überwältigende Mehrzahl aller kriegsgefangenen deutschen Soldaten es für ihre selbstverständliche Pflicht hält, lieber den Tod oder schwerste Mißhandlungen zu erleiden, als Führer, Volk und Vaterland zu verraten, haben einzelne Elemente in der Kriegsgefangenschaft Angaben über Stärke, Bewaffnung und Einsatzort ihrer Truppe gemacht und sind somit zum Landesverräter geworden. Die Gefahr, die dadurch für die kämpfende Front und die Kraftanstrengungen der Heimat beschworen wird, muß rücksichtslos und mit allen Mitteln bekämpft werden. Die Sicherheit des Reiches und die Erhaltung der Nation verlangt das" 5 . Diese Bestimmung macht deutlich, daß Desertion und politische Auseinandersetzungen in der deutschen Kriegsgefangenschaft auch von der deutschen Wehrmachtführung als Problem erkannt worden waren und versucht wurde, Druck auf die Soldaten auszuüben, indem man deren Angehörige bedrohte. In den letzten Kriegsmonaten konnte auf diese Weise aber nicht verhindert werden, daß die Lebenswirklichkeit der Kriegsgefangenschaft zum wichtigen U m stand einer inneren Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur wurde, deren Dämme vollends nach der Niederlage brachen. Dieses Phänomen des Stimmungsumschwungs nach dem Scheitern einer diktatorischen Führung ist aus der Geschichte postdiktatorischer Gesellschaften bekannt. Das Scheitern einer Diktatur forciert regelmäßig eine politische Distanzierung von diesem System und begründet in diesem Zusammenhang auch den Versuch deutscher Soldaten, im Rückblick die Zeit ihrer Gefangenschaft positiver zu deuten, nicht selten und dies vor allem im Blick auf die Gefangenschaft im Westen - als Übergangs-
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Lehmann, Gefangenschaft; Steinbach, Zeit; Benz/Schardt (Hrsg.), Kriegsgefangenschaft. Verfügung des Chefs O K W , betr. Maßnahmen gegen Überläufer, 5. 2. 1945, IfZ, MA 671, Bd. 10.
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phase in eine neue Grundhaltung, die den Gefangenen in die Lage versetze, ideologische Illusionen und auch geistige Isolation zu überwinden und „den Tatsachen ins Auge zu sehen, nüchtern und männlich" 6 . Dieser Wandel ist für die Endphase der deutschen Kriegsgefangenschaft im Westen gut dokumentiert, vor allem durch eine seit 1944 kräftig aufblühende Lagerpresse, deren bekanntestes Beispiel erstmals am 1. März 1945 unter dem Titel „Der Ruf" 7 erschienen war. Dort konnte man bereits vor Kriegsende lesen: „Wir leben hier auf verlorenem Posten. Die Zeit geht an uns vorbei. Es sind verlorene Jahre, die wir hier hinter Stacheldraht verbringen müssen." Der unbekannte Verfasser warnte allerdings davor, die Zeit der Gefangenschaft als so zu bezeichnen, dies sei „falsch - und gefährlich", denn jeder Tag, der durch solche Gedanken nutzlos verstreiche, sei „unwiederbringlich" verloren. Die Zeit der Kriegsgefangenschaft wird hier als Voraussetzung eines Lernprozesses gedeutet, als Ausdruck einer „Freiheit hinter Stacheldraht" 8 , die Voraussetzung einer Neuorientierung gewesen sei. Man mag im Hinblick auf die Masse der Gefangenen Zweifel hegen, ob diese Stimmung wirklich authentisch war. Ohne Zweifel spiegelte sich in ihr eine Tendenz, die zunehmend besser auch statistisch greifbar wurde. Während zunächst Briten und Amerikaner von der Vehemenz überrascht waren, mit der die deutschen Gefangenen ihr ungebrochenes Selbstwertgefühl ausdrückten und es nach dem militärischen Scheitern ja nur aus ihrer Zukunftszuversicht zu begründen vermochten, bröckelte vor allem die Mitte. Man schätzte den harten Kern der Nationalsozialisten auf ca. 10 Prozent, den Kreis der engeren Gefolgsleute auf zunächst 30 Prozent ein. Kritiker und Gegner des NS-Staates sollten maximal 10 Prozent ausmachen. Der Rest galt als Masse der Mitläufer und war abhängig von Einflüssen, die von außen, etwa durch Kameraden in der Lagerselbstverwaltung, kamen. Vielleicht spiegelt das Zitat aus dem „Ruf" so vor allem die Stimmung der Regimegegner unter den Gefangenen, die sich in manchen Lagerzeitschriften eine wichtige Bühne ihrer Auseinandersetzung mit dem NS-Staat und demokratischen Prinzipien schaffen konnten, vielleicht lagen derartige Zuschriften deutscher Kriegsgefangener auch vor allem im Interesse der amerikanischen Gewahrsamsmacht, deren Zensur keine Zeile in einer der seit Ende 1943 erscheinenden zahlreichen Kriegsgefangenenzeitschriften ungeprüft passieren ließ. Daß sie gelesen und aufgenommen wurden, ist aber ebensowenig zu bezweifeln. Die zahlreichen späteren Berichte deutscher Kriegsgefangener, keineswegs nur der Regimegegner unter ihnen, die in den Akten der Gefangenenverwaltungen überliefert sind oder Jahrzehnte später in Deutschland angeregt und gesammelt wurden, zeigen deutlich, daß die westliche Kriegsgefangenschaft für viele Soldaten, die in der Regel zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt waren, eine
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Erlösung, in: Der Ruf 6, Sondernummer, S.l. Vgl. Böhme, Geist, S.46 ff. Rundfunkansprache im „Forum" der N e w Y o r k Harald Tribüne, gehalten am 30. 10. 1945 von einem Kriegsgefangenen in der Verwaltungsschule Fort Getty/RI, in: Der Ruf 18, 1. 12. 1945, S.l f.
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grundlegende Konfrontation mit jener westlichen Demokratie bedeuten konnte. Großbritannien und die U S A stellten für viele Deutsche lange Zeit geradezu das Gegenbild der eigenen politischen Ordnung dar. O b der Begriff des „deutschen Sonderwegs" den Gefangenen bekannt war, ob sie gar ihre Wertvorstellungen als Ausdruck des „deutschen Sonderbewußtseins" empfanden, können wir nicht belegen und müssen es sogar bezweifeln, aber daß die westlichen Systeme nicht selten Ziel ihres Spotts und Quelle eigener Überheblichkeit waren, das läßt sich vielfach belegen. Amerika galt manchem Deutschen zunächst als ein Land, „das ausschließlich von Millionären, Gangstern, Schwächlingen, Filmstars, korrupten Politikern, Luxusweibchen und einem selbstsüchtigen, hungernden Proletariat bewohnt wurde" 9 . In der „Schlußausgabe" des „Ruf" war hingegen als „Abschied" das folgende glühende Bekenntnis zu lesen: „.. .jetzt, wo wir noch einmal nachsinnen können, wo die erste Entfernung entsteht, spüren wir, daß es an uns liegen wird, später, aus noch größerer Distanz, doch nicht nur ein ungewöhnliches, sondern vor allem auch ein bereicherndes Erlebnis daraus zu gestalten" 10 . Kriegsgefangenschaft als inneres Erlebnis, als Bereicherung - hier deutet sich mein Thema als Befindlichkeit an. Die Kriegsgefangenschaft als Konfrontation deutscher Soldaten mit den Prinzipien des Westens, deren Ergebnis die Ausprägung eines spezifischen „Geistes" und einer „ deutlich sichtbaren Kultur" gewesen sein soll 11 , die auch die Nachkriegsdemokratie geprägt hat - falls diese Annahme stimmt, dann kann diese geistige Öffnung erst nach der Überwindung nationalsozialistischer Vorstellungen erfolgt sein., d. h. als Ergebnis eines sich über längere Zeit erstreckenden Prozesses, in dem vermutlich stufenweise die Entscheidung für die Prinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates erfolgte. Diese Verfassungsprinzipien wurden in der britischen, kanadischen und vor allem in der amerikanischen Bildungsarbeit mit den Kriegsgefangenen oftmals durch Vorträge vermittelt und in den zahllosen Lagerzeitungen immer wieder beschworen. Vorträge und Zeitungsartikel waren der Bezugspunkt einer Bildungsarbeit, die in Deutschland bis heute als „Umerziehung" diskreditiert ist. Zweifellos gehört der Begriff der „Re-education" zu den Kampfbegriffen unseres Jahrhunderts und hat in Deutschland bis heute seinen abschätzigen Klang nicht verloren. In der Sicht der westlichen Alliierten handelte es sich bei der „Re-education" nicht um eine schlichte weltanschauliche „Umpolung", sondern vor allem um den Versuch, eine Rückkehr zu den Grundlagen einer gesitteten politischen Erziehung zu unterstützen 1 2 . In den Lagerzeitungen und in den zeitursprünglichen Lebensberichten ist deshalb selten von Umerziehung, viel häufiger hingegen von „Rück"- oder sogar von „Zurückerziehung" die Rede. Dieses politische Erziehungsziel wird vor allem von regimekritischen Kriegsgefangenen geteilt. Sie waren es, die offensichtlich die Prinzipien der Demokra-
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E b d . 1, 1. 3. 1945, letzte Seite. Abschied, in: ebd. 26, 1. 4. 1946, S.l f. B ö h m e , Geist. Knapp dazu Wolff, Kriegsgefangene, S. 46 ff.; grundlegend Faulk, Kriegsgefangene.
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tie immer entschiedener auf diejenigen der Diktatur bezogen und so jenen Boden vorbereiteten, auf welchen die westlichen Alliierten dann seit Ende 1944 systematisch nach Kräften unter den Gefangenen suchen konnten, die nach entsprechender Vorbereitung in Lehrgängen oder sogar nach dem Besuch einer Verwaltungsakademie bei der Administration der okkupierten deutschen Gebiete und schließlich beim demokratischen Neuaufbau einzusetzen waren. Regimekritische Gefangene versuchten auch zuerst, zentrale Begriffe der Nationalsozialisten umzuwerten. So hieß es in den „Grundsätzen" der Lagergemeinschaft sogenannter „AntiNazis" in Fort Devens: „Mensch und Kamerad sein im besten Sinne des Wortes, das bedeutet eine innere Abkehr von der nazistischen Lehre, daß allein das Germanentum Kulturschöpfer sei und die nordische Rasse das Herrenvolk darstelle, das bedeutet innerliches Abrücken vom Naziterror" 1 3 . Damit spitzte sich die bereits 1943 aufgeworfene Frage nach der Beeinflußbarkeit und Besserungsfähigkeit der Deutschen zu. Die Frage, ob man aus Deutschen Demokraten machen könnte, hatte sich zuerst nicht, wie man vermuten könnte, in Großbritannien als dem Land mit den ersten deutschen Kriegsgefangenen, sondern in den U S A gestellt. Aufgeworfen hatte sie erstmals wohl der amerikanische Generalstabschef George C. Marshall. Er reagierte damit auf die Manifestationen nationalsozialistischer Gesinnung unter Internierten und Gefangenen 14 . Auch die britische Regierung war beunruhigt. Vertreter der Regierung und Unterhausabgeordnete regten im Mai 1943 erstmals an, die deutschen Gefangenen, damals noch sehr klein an Zahl 1 5 , aber unbeirrbar im Glauben an das nationalsozialistische Deutschland, auch weltanschaulich zu beeinflussen. Dies war aufgrund der Genfer Konvention zwar verboten, galt aber doch als legitim. Denn zum einen verlangten manche Emigranten, die beanspruchten, das „wahre" und „andere Deutschland" zu vertreten, die Kriegsgefangenen auch ihrerseits politisch beeinflussen zu können, zum anderen hatten sich seit der französischen Revolution und mit der Entstehung von Nationalstaaten militärische Auseinandersetzungen immer stärker auch weltanschaulich aufgeladen. Sie wurden schon im Ersten und vollends dann im Zweiten Weltkrieg auf politisch-zivilisatorische Grundkonflikte bezogen, also auf jenen „crash" der Kulturen, der geradezu ein grundlegendes Legitimationsmuster im Zeitalter der Weltanschauungskämpfe ausmacht und heute von Samuel N. Huntington wieder beschworen wird.
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Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu Berlin, Sammlung Kriegsgefangene, Ordner Briefkasten. Vgl. etwa die Schlagzeile der hektographierten Gefangenenzeitung „Die W o c h e " N r . 19, 14. 12. 1943: „Einig und stark - deutsch bis ins M a r k " . In „Die W o c h e " N r . 5 , 1 8 . 9. 1943, heißt es: „ O b noch im Kampfe das Vaterland,/bald wird es stolz sich erheben, schwoert es mit steil erhobener Hand, schwoert es beim hoechsten Weltenbrand/Deutschland muß frei sein und leben". In der gleichen Ausgabe ist die Rede Hitlers zur Lage in Italien dokumentiert. Vgl. Wolff, Kriegsgefangene, S. 20 f.
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Mit diesem Konfliktmuster war ein wichtiger Begleitumstand der Auseinandersetzung mit den deutschen Kriegsgefangenen bezeichnet, der seinen Ursprung in der Kritik der gefangengenommenen Regimegegner am NS-Staat und an seinen gefangenen Anhängern hatte. Denn in der jahrelangen Kriegsgefangenschaft setzen sich so nicht selten die Konflikte zwischen weltanschaulichen Gegnern fort, die bereits im Reich Widerstand versucht oder geleistet hatten. Dabei stellten die Kommunisten die Mehrheit der sich bekennenden „AntiNazis", nach vorliegenden Erhebungen etwa 70 bis 80 Prozent 1 6 . Als entscheidend für die mentale Neuorientierung der deutschen Kriegsgefangenen kann deshalb nicht allein oder vorrangig die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen der deutschen Politik nach 1918 und mit dem Weimarer Verfassungssystem, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihren Voraussetzungen gelten 17 . Sie macht zwar deutlich, weshalb so viele Deutsche mit der nationalsozialistischen Politik übereinstimmten und erklärt die Vielzahl von Artikeln aus der Feder von Kriegsgefangenen, die geradezu das große Thema einem anderen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, Karl Dietrich Bracher, vorwegnahmen: die Erklärung des Scheiterns der Weimarer Republik. U n d immer wieder finden sich auch Versuche, den Nationalsozialismus faschismustheoretisch zu erklären. Eigentlich werden schon hier die großen Themen der frühen Politikwissenschaft, die Demokratiewissenschaft sein wollte, aufgenommen. Dennoch ist spürbar, daß vor 1945 diese aus den späteren historisch-politischen Analysen bestens bekannten Themen zurücktreten, vielleicht, weil sie geeignet zu sein scheinen, gerade die von den führenden Politikern in London und Washington geforderte Auseinandersetzung mit der politische Verantwortung jedes einzelnen zu erschweren und „Schuld" wie „Verantwortung" zu externalisieren. In der Tat rückt zunehmend die Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld und der politischen Verantwortung in den Mittelpunkt der Versuche, das eigene Selbstverständnis zu bestimmen. Dies ist verständlich, denn in der Bereitschaft zu dieser Auseinandersetzung wird sehr früh die Möglichkeit der inneren Uberwindung des Systems festgemacht. Der Wille, die, wie es heißt, „Last der jüngsten Vergangenheit" 1 8 zu tragen und zu bewältigen, wird für die Neuorientierung immer entscheidender. Die Neuorientierung der Deutschen, so schien es, sollte nicht zuletzt das Ergebnis einer entschiedenen politisch-ethische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten sein: „Schulddiskussionen" wurden gefordert, Klärungen der Verantwortlichkeit erwartet - und lange Zeit verweigert. Darauf hatten bereits die ersten Konzepte der „Re-education" abgehoben. Sie bezogen sich zunächst vor allem auf Fragen des Volkscharakters, bemühten sich um eine differenzierte Betrachtung der deutschen Bevölkerung und bezweifelten nicht zuletzt die Bereitschaft oder gar die Fähigkeit der Deutschen, ein politisches System wie jenes der westlichen Demokratie überhaupt zu ertragen.
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Vgl. Krammer, Kriegsgefangene, S.187ff. So ist eine Reihe von Vortragsmanuskripten überliefert, die sich diesen Gegenständen widmet. B ö h m e , Geist, S. 112 ff.
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Wieviel Pluralismus, wieviele Konflikte, wieviel Unübersichtlichkeit würden die Deutschen ertragen können, nachdem sie die Weimarer Republik hatten scheitern lassen? Diese Frage bewegte auch die Emigranten, die sich im Westen um die „Rekonstruktion" oder um eine kulturelle (Neu)Orientierung deutscher Politik bemühten. Die deutschlandpolitischen Grundinterpretationen waren in jene der Optimisten und jene der Pessimisten zu scheiden: Optimisten setzten auf die Besserung des Volkscharakters durch Erziehung und Beeinflussung, Pessimisten hielten die Deutschen in ihrer Seele für schwer geschädigt und fühlten sich nicht zuletzt durch die Manifestationen des blanken N S - G e i stes in vielen Gefangenenlagern bestätigt. Insofern spiegelten diese Richtungen auch die Hauptströmungen der westalliierten Nachkriegsplanungen, die nicht nur die bekannten prinzipiellen Unterschiede zwischen Vertretern der „outlaw theory" und den Anhängern von der politisch-kulturell belegten Demokratieunfähigkeit der Deutschen zu klären suchten, sondern vor allem auch den Wandel politischer Konstellation in der Reaktion auf eine sich langsam entwickelnde Besatzungspolitik 1 9 in konkreten Planungsentscheidungen zu bewältigen hatten. Erst viel später, im Frühjahr 1945, mit den Bildern aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Bergen-Belsen und Dachau und von den Todesmärschen vor Augen, wurde die Konfrontation des einzelnen Gefangenen mit dem NS-System und seinen Zielen unter dem Eindruck des Schreckens der Konzentrationslager erleichtert. Die zunächst erörterte Frage nach der Möglichkeit einer Hinführung deutscher Kriegsgefangener an die Ordnungsvorstellungen der repräsensativen, gewaltenteiligen und liberal-pluralistischen Demokratie verweist uns natürlich in starkem Maße auf die Optimisten. Sie bestimmten zunächst die Diskussion über die „politische und moralische Rückerziehung", die an die Besserungsfähigkeit vor allem der jüngeren Deutschen durch politische Erziehung glauben wollten und mußten. Sie hatten neben klaren politischen Zielen vor allem ein Konzept der Nachkriegsordnung unter Einbeziehung von Deutschland und ein klares optimistisches Menschenbild, das von der Lern- und Besserungsfähigkeit auch jener Menschen ausging, die in einer - wie man damals schon sagte - „totalitären Diktatur" sozialisiert worden waren. Deutlich wurden Prämissen und Ziele dieser Bestrebung in einer Besprechung, die im Oktober 1945 in Buh Hose unter Vorsitz des Leiters des Political Intelligente Departement des britischen Außenministeriums stattfand, das den Stand der Reduktion zu erörtern hatte 20 . Cyrus Brooks, hauptverantwortlich für die Re-education 2 1 , wurde auf dieser Besprechung eingangs gebeten, die Grundziele der „Rückerziehung" zu bestimmen und Erfolge zu bewerten. Seine Aufzählung klingt nicht überraschend: Die Irrtümer aufzuklären, die aus den rassistischen und militaristischen Grundsätzen der Nationalsozialisten und der Deutschen folgten und so die Wahrheit über Deutschland sagen, lautete das erste Ziel. Das zweite bezog sich auf die Skizzierung des weltpolitischen Rahmens, der zum Beginn des
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Vgl. dazu H e n k e , Besetzung. National Archives Washington, F O 9 3 9 / 4 5 9 - X C 15860; Gedenkstätte Deutscher W i derstand zu Berlin, P R O 3.2. Kriegsgefangene Allg. Faulk, Kriegsgefangene.
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Krieges führte. Erst das dritte der genannten Ziele läßt aufhorchen, denn hier ging es um die Grundlagen der neuen politischen Ordnung, die wenige Wochen zuvor auch auf der Potsdamer Konferenz mit den vier großen D's beschworen worden war: Brooks bekannte sich zu der Aufgabe, den deutschen Gefangenen die Ideale der westlichen Demokratie nahezubringen. Diese Bemühung hatte die Bildungsarbeit in den Lagern seit langem bestimmt, war aber zunächst bei den meisten gefangenen Deutschen nur auf wenig Resonanz gestoßen. Sie hatten die sozialpsychologischen Barrieren einer Kameradschaft, die nicht selten gewaltsam „Schweigespiralen" erzeugt und so „Fraglosigkeit" hergestellt hatte, nur schwer überwunden, vor allem bei den Mitläufern. Sie hatten sich von den nicht selten aggressiven „Regimetreuen" beeindrucken lassen und sich weniger gegen die angebliche amerikanische Propaganda gewehrt, sie gar nicht an sich herankommen lassen. Bei den überlieferten heftigen Debatten zwischen gefangenen Nationalsozialisten und Dozenten in den Lagerkursen hatten sie keine Partei ergriffen, sondern sich vielmehr der Lagerstimmung angepaßt, weil sie überleben wollten. Daß bei dieser geistigen Disziplinierung stark auf Zukunftsängste gesetzt wurde, macht die Aufforderung eines Kriegsgefangenen an einen ebenfalls gefangenen Verwandten deutlich, er dürfe „mit Rücksicht auf sein weiteres Leben als Deutscher und als Mensch . . . unter keinen Umständen in einem amerikanischen Antinazilager ge•
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wesen sein . Niedergeschlagen hatten sich die politischen Bildungsbemühungen der Gewahrsamsmächte so vor allem in der Lagerpresse, am deutlichsten wohl in der ohne Beteiligung von deutschen Gefangenen zusammengestellten britischen „Wochenpost" 2 3 , überzeugender dann in den unter Beteiligung von deutschen Gefangenen entstandenen amerikanischen Lagerzeitungen. Zahlreiche nicht nur um Verständnis demokratischer Strukturen und Prozesse bemühte, sondern geradezu dafür werbende Artikel finden sich in diesen Zeitschriften, in denen immer wieder der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung, die Rolle der Erziehung für die Demokratie, die Bedeutung wissenschaftlicher Unabhängigkeit und künstlerischer Freiheit beschrieben und nicht zuletzt in der Konfrontation mit den diktatorischen Herrschaftsprinzipien des „Dritten Reiches" begründet wurden. Das demokratische System wurde dabei nicht nur als Institutionengefüge geschildert, sondern als Ausdruck einer politischen Aktivität, die auf Beteiligung des einzelnen an den politischen Entscheidungsprozessen zielte. Das Zugeständnis der Gewahrsamsmacht, die Häftlinge sollten sich an der Verwaltung ihrer Lager beteiligen, verschaffte aber zunächst vor allem den „Hitlertreuen" Vorteile. Den Kern machten dabei Unteroffiziere und Feldwebel aus, denen es vielfach gelang, die Führung in der Lagerselbstverwaltung und sogar in der Postverteilung 24 in ihre Hand zu bekommen. Teilweise kam es dabei zu Konflikten mit Regimegegnern, die jedoch noch lange Zeit in der Minderzahl blieben und in der Regel nicht mehr als zehn Prozent der Gefangenen ausmachten. 22 23 24
Krammer, Kriegsgefangene, S.190. Böhme, Geist, S.64ff. Krammer, Kriegsgefangene, S.190.
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Zunächst wurden sie innerhalb der Lager geschützt, dann zunehmend in speziellen Anti-Nazi-Camps zusammengefaßt, und zugleich wurden „Naziführer, Gestapoagenten und Extremisten" in einem eigenen Lager - Alva/Oklahoma zusammengeführt. Die politischen Konflikte in den Lagern hatten zur Folge, daß ein starkes Mißtrauen gegenüber Kameraden herrschte. Es konnte sich zur Angst steigern und Anpassung nach sich ziehen. Dies bedeutete zugleich in normativer Hinsicht, daß in der politischen Bildungsarbeit immer deutlicher mitmenschliche Grundkategorien der Demokratie beschworen wurden, wie etwa das „Vertrauen" zum lernfähigen Mitbürger. Hier bot sich auch ein wichtiger Ansatzpunkt für die Kritik rassistischer Vorstellungen, die bei den Vertretern des Rückerziehungskonzeptes als Kern eines auf Weltherrschaft zielenden nationalsozialistischen Selbstverständnisses galten. Dem Vertrauen in den Mitbürger und seine politische Befähigung zur Mitwirkung an der Herrschaft durch das Volk auf der einen, entsprach auf der anderen Seite die Betonung des Mißtrauens gegenüber den Trägern der staatlichen Institutionen. Auch dieses Prinzip wurde in Beziehung zu Grundelementen diktatorischer Herrschaft gesetzt: Jeffersons Satz vom Mißtrauen als dem Grundelement der Demokratie diskreditierte jedes blinde politische Gefolgschaftsdenken und damit die Führerideologie. Bedingungsloses Vertrauen in die politische Führung münde in die Zerstörung der Öffentlichkeit durch die Ausschaltung der Pressefreiheit, in die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, und nicht zuletzt mache die Forderung eines bedingungslosen Gehorsams gegenüber der politischen Führung alle Bestrebungen zur menschlichen Selbstverwirklichung durch Bildung und Erziehung zunichte. Sicherlich wirkten sich in den zahlreichen Gegenüberstellungen ganz unterschiedlicher demokratischer und diktatorischer Prinzipien wissenschaftliche Ansätze einer sich immer kräftiger entwickelnden komparatistischen Politikwissenschaft und einer „politischen Verhaltenslehre" aus, die bereits Gabriel Almonds späteres Interesse an der „politischen Kultur" ahnen ließ und mit der Analyse der Diktatur Hitlers den Grundstein einer Totalitarismusanalyse legte. Die Betonung der Unterschiede sollte zunächst aber vor allem die geistige Auseinandersetzung der Gefangenen mit politischen Strukturprinzipien der westlichen Demokratie vorantreiben. So begann etwa ein an sich wenig aussagekräftiger Artikel über „Dr. Gallups Voraussagen" mit der Feststellung: „Zum Unterschied von der Diktatur spielt in der Demokratie die öffentliche Meinung eine wichtige Rolle" 25 . Anzunehmen, daß derartige Beeinflussungsversuche durch die Gefangenenpresse direkte Wirkungen gezeigt hätten, wäre allerdings kurzschlüssig. Politische Neuorientierung ist in der Regel nicht nur das Ergebnis von politischer Bildung, sondern steht am Ende einer mentalen Neuprägung, die ihre Zeit braucht und als „Erwachsenensozialisation" besonders schwer zu greifen ist. Messen läßt sich diese Neuorientierung nur schwer, am eindrücklichsten vielleicht im Zusammenhang mit dem Screening, einer in der Regel ebenso wie die
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Einstufung im Zusammenhang mit der Entnazifizierung negativ bewerteten Prozedur, die Kriegsgefangene später in der Tat in die Nähe der Uberprüfung durch Fragebogen stellte. Dabei sollte aufgrund von Indikatoren gemessen werden, in welchem Maße Gefangene als politisch bildungsfähig und natürlich auch als verwendbar im von alliierten Truppen besetzten Heimatgebiet galten. Ohne Zweifel ist die statistische Gruppenbildung problematisch26. Dennoch gibt sie Hinweise auf die politischen Präferenzen und Prägungen der Gefangenen. Vergleichsweise konstant war der Anteil der „Whites" mit zwischen 10 und 15 Prozent. Als sehr hoch erwies sich zunächst der Anteil der „Blacks", also der nationalsozialistisch Orientierten. Er lag im April 1945 bei weit über 50 Prozent, machte Ende des Jahres noch ein Drittel aus und sank erst im Laufe des Jahres 1946 stark ab, ob als Folge der Überstellungen von Gefangenen an andere Gewahrsamsländer des Westens oder als Folge einer zielstrebig betriebenen Befreiung der britischen Lager von belasteten Gefangenen, wissen wir nicht. Der Anteil der „Grauen" stieg hingegen an, von einem Drittel im April 1945 auf über 80 Prozent am Ende des Erfassungszeitraums. Ohne Zweifel war die langsam einsetzende und dann widerspruchslos akzeptierte geistige und politische Neuorientierung der Gefangenen zu einem guten Teil auch die Folge des Zusammenbruchs selbst und nicht zuletzt auch ihr Reflex auf unterstellte Erwartungen der Sieger. Vielfach ist überliefert, daß das durch die Kapitulation entstandene geistige Vakuum rasch in der Weise gefüllt wurde, daß man sich vom NS-Staat absetzte und die verlorenen Wertmuster durch ein anderes Wertesystem zu ersetzen suchte. Nun wurde auch die politische Bildung positiver aufgenommen. Die Vorherrschaft der „Politischen", der „Nazi", wie man sagte, in den Lagern schwand, eine Art neuer Selbstverwaltungstyp entstand, die „Didaskalotratie"27, die Herrschaft der Lehrer. Lehrer schienen das Sinnvakuum füllen zu können, das mit dem Kriegsende gerade jene prägte, die zu den jüngeren Gefangenen gehörten. Diese Vakuumtheorie erklärt die politisch-mentalen Wandlungen in den Jahren 1943 und 1944 allerdings noch nicht. Mochte Brooks auch die Ideale der Demokratie beschworen haben, so war doch nicht zu bestreiten, daß es den deutschen Gefangenen weitgehend gerade an diesen Idealen gemangelt hatte. Vor allem die Überlieferung aus den Lagern der Afrika-Korps-Gefangenen zeigt, daß die meisten deutschen Kriegsgefangenen lange an den deutschen Sieg glaubten, sich in dieser Zuversicht auch nicht durch die Niederlage von Stalingrad irritieren ließen und sich weltanschaulich durch die vielfach belegte Annahme stabilisierten, die alliierten Siegesmeldungen seien ebenso wie die Nachrichten über NSVerbrechen vor allem als Feind- und Greuelpropaganda zu bewerten. Entscheidender als die für Kapitulationsgefangene typischen Formen der Umorientierung als Folge der Niederlage selbst war so für die Gefangenen, die sich seit langer Zeit in Gefangenschaft befanden, ihre Erfahrung mit den Gewahrsamsmächten und die Auseinandersetzung mit den Parteigängern des Regimes in der Gefangenschaft selbst. Die Amerikaner wurden ebenso wie die Briten in der Regel sehr gelobt. Sie versorgten die Gefangenen nach allem, was wir wis26 27
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sen, ausgezeichnet, ebenso wie die kanadische Gefangenenverwaltung. Insofern entstand ein positives Grundgefühl, das durch gute Kontakte mancher Gefangenen mit der Zivilbevölkerung vor allem bei Erntearbeiten verstärkt wurde. Die Ernährung war ausgezeichnet, Arbeit und Freizeit waren geregelt, und nicht zuletzt wurden auch Bildungsbestrebungen befördert. Aus vielen Lagern werden Vortragsveranstaltungen, Sprachkurse, Sportmöglichkeiten überliefert. Es gab nicht nur, wie am Bittersee in Ägyten oder in den U S A , verschiedentlich Lageruniversitäten, sondern die Kriegsgefangenenverwaltung organisierte ein regelrechtes Prüfungswesen, verlieh Diplome und ermöglichte schließlich sogar Soldaten, sich als Fernstudenten an amerikanischen Universitäten einzuschreiben. In manchen Kursen beschäftigten sich die Studenten intensiv mit zeitgeschichtlichen und verfassungspolitischen Fragen. Hier setzte eine reflektierte Auseinandersetzung mit Ordnungsprinzipien der westlichen Demokratien, aber auch mit jenen Tendenzen ein, die im NS-Staat zunächst vor allem den „Irrweg" einer Nation erweisen sollten, der in die zunächst noch nicht so deutlich akzentuierte „deutsche Katastrophe" mündete. Besonders effektiv war die geistige Umorientierung, wo sie nicht durch das deutsche Unteroffiziersregiment erschwert wurde. Der Kampf zwischen den Häftlingen wurde so vor allem im Bildungssektor und im publizistischen Bereich immer erbitterter, weil die „Anti-Nazis" den Kampf um die in den Mitläufergruppen bestimmenden wandlungswilligen und indifferenten Gefangenen aufnahmen. Die teilweise heftigen, blutigen, nicht selten sogar lebensgefährlichen Konflikte gingen deshalb seit Anfang 1945 zunehmend zugunsten der Regimekritischen aus, die sich schließlich sogar durch einen in B B C ausgestrahlten Rundfunkaufruf zu erkennen gaben, obwohl dieser ihre Angehörigen der Gefahr der Sippenhaftung aussetzte. Entscheidender für die Auseinandersetzung der deutschen Gefangenen mit den eigenen Überzeugungen als die Informationen über das politische System des westlich-liberalen Verfassungsstaates, das in vielen Vorträgen für Gefangene und in unübersehbar vielen Artikeln der Lagerzeitungen beschrieben wurde, waren so vermutlich die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der deutschen Gefangenen untereinander. In diesen wurde deutlich, daß die nationalsozialistischen Gefangenen keine moralische Substanz mehr verkörperten. Zunächst wurden die zahlreich überlieferten unmittelbaren Konflikte zwischen „ N a z i s " und „Anti N a z i s " immer gewaltsamer, dann aber allmählich durch den Zugang zu den Medien der Gefangenschaft entschärft. U m sie zu verstehen, muß ein Blick auf die Entwicklung des Aufkommens deutscher Gefangener geworfen werden. Die internen Konflikte entwickelten sich in einem langen Zeitraum, denn die ersten Kriegsgefangenen wurden unmittelbar nach Kriegsbeginn gemacht. Ende 1939 befanden sich 100 deutsche Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft, ein Jahr später etwa 3500. Bis Ende 1941 war diese Zahl auf etwa 6300 Soldaten angewachsen, nur ein Viertel jener Gefangenen, die Ende 1941 in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Sprunghaft veränderten sich die Zahlen dann 1942, zunächst weniger wegen des Kriegseintritts der U S A , sondern vor allem im Osten. Anfang 1942 befanden sich fast 120000 deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, in britischem
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Gewahrsam knapp 13000. Diese wurden überwiegend nach Kanada verschifft. Im Frühjahr 1943 fand dann die erste Registrierung deutscher Kriegsgefangener in den USA statt. Ihre Zahl belief sich zunächst nicht einmal auf 100, wuchs Anfang 1943 auf gut 1000, bei ca. 28000 Kriegsgefangenen in britischer Hand, und stieg dann sprunghaft an. Ende 1943 waren etwa 120000 deutsche Soldaten in amerikanischen, etwa 35 000 in britischen Lagern. Insgesamt hatten sich bis Ende 1944 maximal 600000 deutsche Soldaten in westliche Kriegsgefangenschaft begeben. Zwei Drittel von ihnen befanden sich in den USA, also in einem Land, „in dem es keine Not gab" und das Lebensbedingungen bot, die ähnlich günstig in keinem anderen Gewahrsamstaat anzutreffen waren 28 . Das Kennzeichen dieser Gruppe war ihre altersmäßige Zusammensetzung und, dies zu betonen ist wichtig, der relativ frühe Zeitpunkt ihrer Gefangennahme: Etwa 150000 Wehrmachtangehörige gerieten im Mai 1943 in Nordafrika in alliierte Kriegsgefangenschaft; über 130000 von ihnen wurden in die USA verschifft. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie wie die meisten Deutschen noch nicht mit dem Regime gebrochen. Diese Soldaten, die überwiegend zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt waren, zeichneten sich durch ihre weitgehende Ubereinstimmung mit der NS-Führung und NS-Ideologie aus, sieht man von den etwa 5000 Gefangenen ab, welche die Afrika-Schützen-Regimenter 961 und 962 gebildet hatten und somit aus den mit politischen Regimegegnern bemannten Bewährungseinheiten kamen. Diese sog. „999er" stießen bei anderen Kriegsgefangenen bald auf vehemente Ablehnung. Zum einen galten sie als kriminell, zum anderen wurde sehr schnell deutlich, daß diese unbeirrbaren Regimegegner die geforderte „Treue" zum NS-Staat und zu Hitler nicht für den Ausdruck von Tugend und Anstand hielten. Heftigste Auseinandersetzungen zwischen den Oppositionellen und den nationalsozialistisch Gesinnten waren die Folge, und manche Regimegegner mußten, wie der in Griechenland in Gefangenschaft geratene spätere Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, von den Vertretern der Gewahrsamsmacht im Gefangenenlager noch einmal durch eine Segregation vor Kameraden geschützt werden. Viele Beispiele des Terrorisierens von „Kameraden", die Zweifel am Endsieg der Deutschen äußerten, sind bekannt. Mancher wurde nach einem geheimen Gerichtsverfahren erhängt, andere zusammengeschlagen - in der Sprache der Rollkommandos hieß das „behandelt". Dabei ging es zum einen um Bevorteilung der sog. „Hitlertreuen" bei der Versorgung mit Posten und Nahrungsmitteln, zum anderen aber auch um die politische Auseinandersetzungen mit denen, die sich frühzeitig vom Nationalsozialismus distanziert hatten oder als Sozialdemokraten oder Kommunisten, als Gewerkschaftsanhänger oder Demokraten zu erkennen gaben. Die Uberlieferung vieler Konflikte in den Lagern, aber auch Strafprozesse gegen deutsche Soldaten, die selbst vor Kapitalverbrechen nicht zurückschreckten, belegen, daß zumindest bis zum Kriegsende Kriegsgefangenschaft noch nicht das Massenschicksal war, als das man sie später bezeichnet hatte. Viele Personalakten und Namenslisten belegen dies.
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Jung, Kriegsgefangene, S.l.
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Diese politischen Konflikte stehen am Beginn der sogenannten Anti-Nazi Camps, die in den USA für Regimegegner eingerichtet wurden und sich zunehmend zum Motor einer produktiven Auseinandersetzung mit der westlichen Demokratie entwickelten. Allerdings waren manche dieser Anti-Nazis von Haus aus Kommunisten und wurden deshalb nicht selten von der amerikanischen Seite sogar mit Mißtrauen betrachtet. Insofern hat der Aspekt der Konfrontation mit der westlichen Demokratie eine weitere demokratiepolitisch wichtige Dimension, denn sie stimulierte nicht selten die Wandlung vom Kommunisten zum Vertreter eines liberalen Konfliktmodells. Dies machte später die DDR-Führung so mißtrauisch gegen die aus dem Westen kommenden Gefangenen. Die Prägung der meisten in Afrika festgesetzten deutschen Soldaten durch nationalsozialistische Vorstellungen ist vielfach überliefert; ebenso die Entschiedenheit, mit der sich NS-Gegner in der Kriegsgefangenschaft auf die politische Arbeit konzentrieren. Diese Eigenschaften hatten sich bei der zweiten großen Gefangenengruppe bereits abgeschliffen, für die ein gutes Jahr vorher, im Juni 1944, die Zeit der Kriegsgefangenschaft begann. Seit der Landung der Westalliierten in der Normandie und bis zur deutschen Kapitulation wurden etwa 140000 deutsche Soldaten von amerikanischen Einheiten gefangengenommen und in die USA verschifft. Auch sie zeichneten sich noch nicht durch die Erwartung der Niederlage oder durch Untergangsstimmung aus, wenn die begeisterte Aufnahme der Erfolge der VI und V2 und die Nachrichten aus den Wochen der deutschen Ardennenoffensive nicht trügen. Wenn sich aber bei einzelnen dieser Gefangenen einmal die Ahnung einstellte, der Krieg könnte verloren gehen, dann wurde sie nicht selten von „regime-" oder „führertreuen" Gefangenen niedergeknüppelt. In der Tat sind Fälle überliefert, daß skeptische deutsche Kriegsgefangene brutal von Rollkommandos zusammengeschlagen wurden, nur weil sie die Nachricht von der Landung in der Normandie überbracht hatten. Ein Deutscher, der den Lagebericht nach der Befreiung von Neapel vortrug, mußte sich als „Verräter" bezeichnen lassen. Erst Ende 1944 schlug die Stimmung endgültig um. Deutsche Gefangene verloren zunehmend ihre Angst vor den Rollkommandos und beschrieben nun manchen ihrer ehemals so unerschütterlich an den deutschen Endsieg glaubenden Kameraden als „Stehaufmännchen". Zu diesen etwa 300000 deutschen Kriegsgefangenen müssen noch etwa 60000 gezählt werden, die seit Sommer 1944 in Italien und Südfrankreich in Gefangenschaft geraten waren. Unter diesen befanden sich erstmals in größerer Zahl Deserteure. Sie wurden wiederum ausgegrenzt, diesmal nicht nur als „Verräter", sondern „als Feiglinge". Die Deserteure verstärken die Gruppe der AntiNazis. Einer der bekanntesten war Alfred Andersch. Dies sind im Vergleich zu den mehreren Millionen deutschen Kapitulationsgefangenen geringe Zahlen; dennoch sind sie beträchtlich, vor allem im Vergleich, denn die Zahl der italienischen Gefangenen Kriegsgefangenen in den USA belief sich auf gut 50000, die der japanischen auf höchstens 6000. Erst mit der bedingungslosen Kapitulation hatte sich die Stellung der deutschen Kriegsgefangenen im Kalkül der Alliierten entscheidend verändert. Dies war sowohl die Folge des Schocks einer unmittelbaren Konfrontation mit den Kon-
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zentrationslagern Mitte April 194 5 2 9 , als auch die Folge neuer Quantitäten. Für die in den U S A einsitzenden Gefangenen begann nun das sog. „Straffasten", also das Austeilen kleinerer Essensrationen, weil in den U S A die Frage gestellt wurde, ob die Soldaten nicht durch die Verteidigung des NS-Regimes auch gerade die nun bekannt gewordenen Verbrechen ermöglicht hätten. Gravierender für den Umschwung in der Gefangenenbetreuung war aber vor allem die Tatsache, daß sich etwa 5 Mio. Soldaten im Frühsommer 1945 in westalliierter, mehr als 2 Mio. in sowjetischer Hand befanden. Sie waren als die kompakten Reste einer „Zusammenbruchsgesellschaft" einfach nicht mehr angemessen unterzubringen und zu versorgen. Die Kapitulationsgefangenschaft war zu einem Massenschicksal geworden, das von den meisten Soldaten als „Elend" und eine Art von stellvertretendem Leiden wahrgenommen wurde. Es wurde als um so trostloser empfunden, als sich die Soldaten unmittelbar nach dem von ihnen so empfundenen „Zusammenbruch" von ihren Überzeugungen lösten und so nun ungerecht behandelt fühlten. Der politisch legitimierte Terror regimetreuer Gefangener schwächte sich ab, an seine Stelle traten zunehmend Erpressungsversuche und Manifestationen des nackten Überlebenswillens, die endgültig die „Gemeinschaftsideologie" der NS-Führung diskreditierten. Die politische Systemauseinandersetzung wurde nach der Kapitulation durch alltägliche Erfahrungen überlagert. Nun wurden manche Neuansätze politischer Verortung unter dem Eindruck negativer Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener nach der bedingungslosen Kapitulation mehr situativ als grundsätzlich reflektiert korrigiert. Viele der deutschen Gefangenen lasteten ihre schwierige Lage, vor allem in den großen Massenlagern längs des Rheines, den Amerikanern und Briten an. Nicht eingehaltene Versprechungen zur bevorstehenden Entlassung und Repatriierung und die als „Auslieferung" bezeichnete Überstellung von Gefangenen an andere Staaten empfand man als Beleg der These vom „falschen Albion". Nicht zuletzt sahen sich manche Kriegsgefangene, die durch ihre Arbeitseinsätze Kriegsschäden wiedergutmachen sollten, zu Unrecht als Leidopfer aller Deutschen. Nun schienen sich, zumindest im Hinblick auf die Masse der Gefangenen, die Pessimisten durchzusetzen. In den U S A wurde einerseits die Breitenarbeit unter den Gefangenen eingeschränkt, andererseits aber die politische Rückerziehung seit Ende 1944 vor allem im Hinblick auf die Ausbildung eines deutschen Ordnungs- und Verwaltungspersonals forciert, welches ganz entschieden antinationalsozialistisch geprägt war. Diese Ausbildung wurde einerseits an amerikanische Lehrkräfte übertragen, lag aber zu einem guten Teil auch bei den Deutschen. So finden sich emigrierte Schriftsteller und Politiker, selbst Heinrich Brüning, unter den Referenten, und unter den Autoren finden sich manche der späteren deutschen Politikwissenschaftler. In der Einbeziehung der Deutschen wurde im Urteil mancher Beteiligten gerade jenes Vertrauen dokumentiert, das so oft als demokratische Grundtugend beschrieben worden war. So
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A m 11. 4. 1945 erreichten amerikanische Verbände Buchenwald und Ohrdruf, am 12. 4. besichtigte Eisenhower Ohrdruf. In den U S A begann eine heftige Debatte und ließ Erregung und Entrüstung steigen. Vgl. Jung, Kriegsgefangene, S. 60.
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stemmten sich die Gefangenen nicht selten den Einflüssen der Pessimisten entgegen und belegten den bekannten psychologischen Mechanismus der „sekundären Integration", ihre Identifizierung mit den demokratischen Werten und ihre Propagierung demokratischer Ziele galt als Beleg ihrer Lernfähigkeit und Zuverlässigkeit. Nun schreckte der Vorwurf des „Verrats" nicht mehr - entscheidender wurde die Aussicht, an der demokratischen Neuorientierung mitzuarbeiten. Der Erfolg war beachtlich, wie die Befragungen von Gefangenen zeigten und vor allem möglich, weil ein guter Teil der politischen Uberzeugungsarbeit bis zu diesem Zeitpunkt in die Hände der Gefangenen selbst übergegangen war, die sich zu den Zielen des demokratischen westlichen Systems bekannten. Mit Kriegsende begann die Rückführung der Gefangenen aus den USA. Nun erst übernahm die britische Gefangenenverwaltung einen führenden Part bei der politischen Bildung. Bisher hatte sich das Problem politischer Erziehung in England nicht in gravierendem Maße gestellt, weil der weitaus größte Teil der britischen Gefangenen aufgrund einer Vereinbarung der beiden Westalliierten in die USA abgegeben worden war. Die Bedingungen der politischen Auseinandersetzung in den britischen Lagern unterschieden sich ganz erheblich von den bisher erwähnten. Politische Auseinandersetzungen zwischen „Nazis" und „Anti-Nazis" hatten vor allem die Verhältnisse in den Internierungslagern geprägt. Sie verloren seit Frühjahr 1945 zunehmend an Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil das Screening der Briten für eine klare Einstufung und Differenzierung sorgte. Die nationalsozialistisch gesonnenen Gefangenen verloren nach der Niederlage aber auch in der Heimat an Rückhalt und gerieten zunehmend in eine schwache Position, was u. a. daran deutlich wurde, daß der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner den Austausch unbelasteter Kriegsgefangener gegen belastete Nationalsozialisten anbot und anregte, diese Wiedergutmachungsarbeiten verrichten zu lassen. Nun wurde endgültig deutlich: Die gewaltsamen Formen der politischen Auseinandersetzung zielten nicht mehr auf die Erzeugung einer „Schweigespirale" zugunsten der „Eidtreuen", sondern diskreditierten die „Nazis" als das, was sie waren: als gewaltbereite Kameraden, die in der Mangelsituation vor allem auf der Suche nach dem eigenen Vorteil waren. Dies vor allem machte sie nun wandlungsfähiger, nicht zuletzt auch kompromißbereiter und trennte sie von jenen, die sich bewußt in der Gefangenschaft gegen den NSStaat entschieden hatten. Den breiten, nicht selten gedankenlos vollzogenen inneren Wandel mancher deutscher Kriegsgefangener haben weitsichtige britische Fachleute der politisch-pädagogischen Gefangenenarbeit langfristig kommen sehen und schon sehr frühzeitig durch politische Schulungsprogramme gestalten wollen. Die Konfrontation der deutschen Kriegsgefangenen mit diesen schließlich geradezu schwärmerisch beschriebenen britischen Beeinflussungs- und Bildungsversuchen durch die Vertreter der britischen Gewahrsamsmacht erfolgte aber zunehmend weniger unter dem Ausnahmezustand der Kriegsgefangenschaft, als unter einem neuartigen sozialpsychologischen Gruppendruck. Der statistisch klar feststellbare Anteil überzeugter Anhänger des NS-Staates sank rapide, die Macht der „Feldwebel und Unteroffiziere" wurde vor allem in
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den durch hervorragende Bildungsarbeit bekanntgewordenen Lagern geschwächt. Die Lagerpolizei konzentrierte sich auf Ordnungswidrigkeiten, nicht auf die politische Auseinandersetzung. Wer einen Kameraden als „Verräter oder Eidbrecher" bezeichnete, diskreditierte sich selbst, forderte aber nicht zum Terror auf. Die Parteigänger Hitlers lösten unter dem Druck der Verhältnisse ihre Bindungen an das untergegangene Regime, akzeptierten die Veränderung ihres bisherigen völkerrechtlichen Status vom „Kriegsgefangenen" zum „ehemaligen Feind" und empfanden sich nicht länger als „Soldaten, die für den Ausgang des Krieges verantwortlich" 30 seien. Unter den Verhältnissen der deutschen Massengefangenschaft war eine politische Beeinflussung der Gefangenen nicht mehr möglich. Sie setzte erst wieder später ein, sowohl in dem geradezu legendär gewordenen britischen Lager Wilton Park 31 , einer oft als „Hochschule der Demokratie" bezeichneten Einrichtung, als auch in den ebenso legendären „Antifa-Schulen" 32 der Sowjetunion. Hier wurde eine Umorientierung abgeschlossen, die dann auf längere Sicht auch eine Integration ermöglichte. Teilweise lag diese im unmittelbaren Nutzen der Besatzungsmacht wie bei kriegsgefangenen Technikern und Forschern, teilweise entpuppte sich die Ausbildung von Verwaltungsleuten als Zukunftsinvestition. Wer den Zusammenbruch der Diktatur produktiv bewältigte und sich demokratischen Vorstellungen öffnete, hatte eine entscheidende Voraussetzung politischer oder bürokratischer, kultureller oder publizistischer Karriere bewältigt und befand sich gewiß in einer besseren Situation als mancher rückkehrwillige Emigrant. Die zahlreichen Hinweise auf die politische Arbeit mit den Gefangenen können aber nicht davon ablenken, daß die deutschen Kriegsgefangenen seit 1945 vor allem als Arbeitskräfte interessant geworden waren, die in beträchtlichem Umfang den Regierungen ehemals besetzter Staaten zur Verfügung gestellt wurden und deren Leistungen als Beitrag zur Wiedergutmachung galten. Diesem Sachverhalt ist es zuzuschreiben, daß die Themen Arbeit, Hunger und Repatriierung in ganz grundlegender Weise in den Mittelpunkt des Interesses der Gefangenenforschung rückten und vielfach bis heute das Bild bestimmten. In diesem Zusammenhang ist auf die mehr als kritikwürdigen Studien von James Bacque33 hinzuweisen, der vor allem die These belegen will, die Amerikaner hätten stets danach gestrebt, die Lebensgrundlage der Deutschen dauerhaft zu zerstören und so auf ihre Weise einen neuen Völkermord begangen. Bacques geschichtspolitische Absicht wird spätestens dann deutlich, wenn er die Zahl der Opfer amerikanischer Besatzungspolitik auf exakt 6 Millionen taxiert. Hätte er Recht, dann wäre nicht verständlich, weshalb das Ziel der politischen Erziehung zur Demokratie so beharrlich verfochten wurde. Im Rückblick mag uns das von Brooks benannte Ziel, unter den Gefangenen die „Ideale der Demokratie" zu propagieren, ebensowenig überraschen wie die zuvor von ihm erwähnten Ziele rationaler historisch-politischer Bildungsarbeit, 30 31 32 33
B A - M A , Β 205/v.41 (WKF-036). Faulk, Kriegsgefangene. Röbel, Kriegsgefangene. Bacque, Schuld.
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denn wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt, daß die Alliierten den Krieg gegen den NS-Staat und Japan als „Kreuzzug für die Demokratie" geführt hätten. Für die Westmächte war der Krieg die Folge einer „deutschen Krankheit", die durch „Re-education" geheilt werden sollte. Die Forderung der bedingungslosen Kapitulation galt zunächst als demonstrativer Ausdruck des Willens zur deutschen Umerziehung, denn sie sollte, wie der britische Minister Butler schon Ende Mai 1943 im Unterhaus erklärte, den Deutschen klarmachen, „was unerlaubt ist" 34 .Umerziehung hatte die Beseitigung „übler Kräfte, übler Doktrinen und übler Einflüsse" zur Voraussetzung. In der Praxis wurde die „Rückerziehung" auch durch eigene Anstrengungen der Gefangenen geprägt. Sie suchten Zugang zu Land und Leuten ihrer Umgebung, forcierten die Auseinandersetzung zwischen Regimegegnern und „Hitlertreuen" und waren bereit, über die Sprache hinaus auch selbstkritisch die eigene Geschichte zu sehen und die Prinzipien des Verfassungsstaates zu reflektieren. Wandlungsfähige Gefangene hatten nicht nur Aussicht auf ihre baldige Entlassung, sondern auch Anspruch auf die Anerkennung ihrer Person. Dies rückt die Frage der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der deutschen Schuld in den Mittelpunkt. Wer hier aktive Bewältigungsversuche glaubhaft machte, der gehörte zu den „Weißen" 35 . Sie sollten nach einer als „top secret" eingestuften Denkschrift nicht als „Verräter" gelten, sondern als „deutsche Patrioten", die aus Liebe zu ihrer Nation den Nationalsozialismus ablehnten, weil er das Land zugrunde gerichtet hatte. Diese Überlegungen markieren offensichtlich einen Endpunkt der Entwicklung, denn mit Hilfe dieser „Whites" sollte das besetzte Gebiet verwaltet, sollten die Zeitungen kontrolliert und ein Nachrichtendienst aufgebaut werden. Sie konnten sich in dem Gefühl wiegen, im demokratischen Deutschland die Nachfolger der Nationalsozialisten zu werden. Selbst an die neuen Schulbücher und die Lehrerbildung hatte man in diesem Zusammenhang gedacht. Solche Überlegungen hingen mit der Absicht zusammen, eine Art „Manpower Division" zu bilden, um nach Deutschland eine beachtliche Anzahl entlassener und gewandelter kriegsgefangener Soldaten zurückzuschicken, die daran glaubten, daß der demokratische Weg besser war als der totalitäre („totalitarian") und die eingesehen hatten, daß die Zusammenarbeit mit den Alliierten die beste Politik für Deutschland sei. Zu dieser Vorstellung passen allerdings weniger die verbreiteten und gut bekannten Bilder von deutschen Kriegsgefangenen, die in den alliierten Gefangenenlagern die Hakenkreuzfahne hißten und den Geburtstag Hitlers sogar durch eine Parade feiern durften. Diese Bilder beschreiben die Wirklichkeit, zugleich aber nur einen Ausgangspunkt. Sie machten einen sich auflösenden Gruppenzusammenhalt sichtbar, der zwar belegt, in welchem Maße die Kriegsgefangenen im Spätsommer 1943 und auch im folgenden Jahr zu der Fahne standen, die das Hakenkreuz trug, der zugleich aber auch zeigt, in welchem Maße die westliche Gefangenschaft das
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Zit. n. Faulk, Kriegsgefangene, S . l l . „Whites" werden wie folgt charakterisiert: „urgently needed by the Anglo-American-Armies on the Western f r o n t , and will be needed also the serve Britsh interests during and after the period of occupation".
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Feld einer Regimegegnerschaft und einer Umorientierung wurde, die ihren moralisch Anspruch auf das sehr intensiv beschworene Bild vom „anderen Deutschland" stützte. In der Nachkriegszeit wurde diese Denkhaltung zunehmend verdrängt. Die Absolventen von Wilton Park entwickelten den Stolz der Mitglieder eines Traditionsvereins. Sie wurden, im Unterschied zu den Gefangenen vieler AntiNazi-Lager, auch akzeptiert. In den U S A wurde der Konflikt als fundamentaler Gegensatz zwischen deutschen Anhängern unterschiedlicher politischer Ordnungsvorstellungen ausgetragen, in Großbritannien verlief diese Auseinandersetzung eher als Bildungs- und Erziehungsprozeß. Vielleicht erklärt dieser Unterschied, weshalb die amerikanische Kriegsgefangenschaft kaum als jene positive Erfahrung gedeutet wurde, die sich die Mitarbeiter der Gefangenenzeitung, wie zitiert, erhofft hatten. Die kollektive Deutung der Gefangenschaft wurde überlagert durch die Erfahrungen im Osten. Hans Werner Richters Roman „Die Geschlagenen" hatte keine Chance im Vergleich zu Bauers „So weit die Füße tragen". Die Terrorisierung regimekritischer Skeptiker unter den gefangenen deutschen Soldaten wurde verdrängt, verdrängt wie die Tatsache, daß in den U S A nach dem 9. Mai 1945 fünfzehn Todesurteile an deutschen Gefangenen vollstreckt wurden, die wegen Mordes verurteilt worden waren. Verdrängt wurde, daß 1944 ein in Gefangenschaft geratener kleiner Bahnbeamter von seinen Kameraden brutal zusammengeschlagen worden war, weil er die einzige Postkarte, die er im Monat versenden durfte, an seine Angehörigen und nicht als Geburtstagsgruß an Hitler schicken wollte, wie fast alle anderen seiner Kameraden. Beide Beispiele machen deutlich, daß sich in der deutschen Kriegsgefangenschaft eine dramatische Geschichte weltanschaulicher Konfrontation zwischen Deutschen, die durch den Nationalsozialismus geprägt worden waren, und denjenigen ereignete, die sich den Prinzipien der westlichen Ordnung geöffnet hatten. Diese Konfrontation mit der westlichen Demokratie hatte ganz unterschiedliche Konfliktdimensionen. Zum einen handelte es sich um Konflikte zwischen Gefangenen und den Vertretern der Gewahrsamsmächte, die sich natürlich als weltanschauliche Gegner des NS-Staates definierten und geradezu unvermeidlich in den gefangenen deutschen Soldaten vielfach Gefolgsleute des Regimes erblickten. „Sie haben", so heißt es in einer Ansprache eines Vertreters der amerikanischen Gewahrsamsmacht, „dafür gekämpft, daß diese Macht, die diese Verbrechen diesen fast unaussprechbaren und ohne Augenzeugenberichte unglaubhaften Tiefstand menschlicher Kultur - herbeiführen konnte, daß diese Macht hatte weiter wirken können. Sie haben dafür gekämpft, das deutsche Volk hat dafür gearbeitet- und hier haben Sie die Schlüsselfrage für die untrennbare Schuld des Nationalsozialismus und des deutschen Volkes" 3 6 . Zum anderen handelte es sich um Konflikte zwischen den gefangenen deutschen Soldaten selbst. Sie entluden sich im Zeitverlauf, nahmen aber teilweise eine Schärfe an, die nach dem Krieg geradezu, so scheint es, verdrängt werden
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National Archives Washington, F O 9 3 9 / 2 6 7 - 1 6 0 2 5 .
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mußte, um so mehr, als sich das westliche Ordnungsmodell als das akzeptierte, gewollte und verinnerlichte durchsetzte. Und schließlich wirkten sich natürlich auch Konflikte aus, welche die Alliierten miteinander austrugen. Sie rangen ständig um Kriegsziele, wachten mißtrauisch darüber, daß die Bündnispartner keinen Teilfriedensvertrag schlossen und die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation" vertraten. Und dennoch konnten sie dem Problem nicht ausweichen, aus den Kriegsgefangenen jene später dringend benötigten deutschen Hilfskräfte zu rekrutieren, die sie in Deutschland einsetzen wollten. Erst nach der Kapitulation schien die Stimmung umzuschlagen, denn nun wurden nur wenige Gefangene das Objekt von Umerziehungsbestrebungen; interessant wurden sie vielmehr als Arbeitskräfte. Manche Gefangene waren gegenüber dem NS-Regime distanzierter, als sich die Alliierten zunächst vorstellen konnten, manche wurden in der Kriegsgefangenschaft selbst distanzierter, sei es, weil sie die Konflikte mit überzeugten Nationalsozialisten aufrüttelten, sei es, weil sich allmählich im Kriegsverlauf ihr Urteil über den Nationalsozialismus wandelte, sei es, weil sie Kontakte mit deutschen Regimegegnern hatten, die vor 1939 aus Deutschland emigriert oder in Bewährungseinheiten gepreßt worden waren. Vor allem Emigranten lösten sich nicht von ihrer tröstlichen Idee - wie etwa Sebastian Haffner - , das Deutsche Reich sei das erste von den Nazis besetzte Land gewesen. Das Ergebnis der politischen „Rückerziehung" deutscher Soldaten haben die amerikanischen Behörden unmittelbar vor der Repatriierung gemessen. Diese denkbar umfangreiche Befragung 37 wurde in den USA durchgeführt, ohne die Absicht des Screening. Mit den Methoden empirischer Sozialforschung wurden mehr als 27000 deutsche Kriegsgefangene in Altersgruppen eingeteilt, befragt und zugleich mit zwei Kontrastgruppen, den Insassen des Camps Fort Eustis, wo eine neue demokratische Führungsschicht herangezogen werden sollte und jenen des Camps Atlanta verglichen. Die Fragen zielten eindeutig auf den Gegensatz von Diktatur und Demokratie. So hieß es: „Hitler lehrt, der Staat sei alles, der einzelne habe sich ganz dem Staat zu unterwerfen. Den Amerikanern wird beigebracht, der Staat habe dem Volk zu dienen". In Eustis teilten 96 % die Position der Amerikaner, in Atlanta 80 % , unter den übrigen Gefangenen nur drei Viertel. Die Demokratie bevorzugten 96 % der Gefangenen aus Eustis, gegenüber etwas mehr als 50 % der Befragten, unter denen wiederum der Anteil derjenigen, die den Kommunismus bevorzugten, bei 8 % lag, etwas höher als der Anteil derjenigen, die sich zum Nationalsozialismus bekannten. Ähnliche Stimmverhältnisse bestimmten die Einschätzung der Rassenideologie, die vor allem von den älteren der Befragten geteilt wurde. Die Frage, ob die Juden Deutschlands Unglück seien, bejahten - zumindest teilweise („partly") - 1 0 % der Insassen von Eustis, im Unterschied zu den über 50 % der anderen Befragten, von denen 10 % die Antwort gaben: „Ausschließlich". Arbeitsleistungen als Wiedergutmachung hielten gut 1 0 % der Gefangenen aus Eustis für ungerechtfertigt - gerechtfertigt: 31 % - , im Gegensatz zum 37
Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu Berlin, Bestand Deutsche Kriegsgefangenen in den U S A , Umfrage.
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einem guten Drittel der Hauptgruppe, die sich nur zu 5 % dazu erklären konnten, diese Arbeitsleistungen zu akzeptieren. Die Meinung über die NS-Verbrechen waren geteilt. Während 94 % der Insassen von Eustis angaben, den Berichten Glauben zu schenken, erklärten die anderen Befragten zu einem guten Drittel, den Nachrichten zu glauben, ein weiteres Drittel hielt sie für Propaganda, ein Drittel verweigerte die Antwort. Die letzten Fragen bezogen sich auf die U S A und ihre politische Ordnung. Presse- und Redefreiheit beeindruckten weit über ein Drittel der Befragten aus Eustis, die Freiheit des Individuums hoben 15 % hervor, die Tatsache, daß Demokratie funktioniert, hielten 8 % für bemerkenswert. Die Redefreiheit bedeutete den anderen nur zu einem Siebentel, die individuelle Entfaltungsfreiheit zu knapp 1 0 % etwas, während der Anteil derjenigen, die über das Funktionieren der Demokratie erstaunt waren, ebenso hoch wie bei den Befragten aus Eustis war - hier kommt es wohl auf das Vorzeichen an. Schließlich wurde nach den tragenden Ideen der Amerikaner gefragt. Fast 50 % der Gefangenen aus Eustis betonten, zu den beeindruckendsten Lehren gehöre für sie die Tatsache, daß Demokratie und Freiheit gute Dinge, vielleicht sollten wir sagen „wertvolle Güter" seien - dieser Anteil war fünfmal höher aber bei den Hauptbefragten, die allerdings auch klare Gegenbekenntnisse unterdrückten. Hier fällt vor allem der hohe Anteil der Unentschiedenen auf. Insgesamt erscheint das Ergebnis bemerkenswert, vor allem zunächst einmal im Hinblick auf jene, die in Eustis waren und nur als Kontrastgruppe benutzt werden sollten. Sie konnten durch ihre Musterwerte zeigen, wie fest sie auf dem Boden der Demokratie standen. 97 % belegten, daß die „Demokratie" als Gegenbild der NS-Ideologie galt. Die Hauptgruppe erreichte hier nur 7 4 % , die über Vierzigjährigen allerdings über 80 % im Unterschied zu den Jüngsten, die nicht einmal 7 0 % erreichten. In demokratietheoretisch reflektierter Hinsicht sahen die Werte noch ungünstiger aus. Die Insassen von Eustis erreichten zwar wiederum 9 6 % , die Hauptgruppe beantwortete die Fragen, welche Aufschluß gaben über die Einstellung zur demokratischen Ordnung, nicht einmal zu zwei Drittel positiv. Offensichtlich brauchten sie ihre Zeit. Immerhin: zum Zeitpunkt der Befragung galt ein Drittel der Gefangenen als Anti-Nazi und prodemokratisch. Sie hatten die militanten und die entschiedenen Nationalsozialisten überrundet, die insgesamt 25 % ausmachten (10/15). Die Entscheidung für die Prinzipien der Demokratie galt bald als Ausdruck des Wollens der deutschen Gefangenen. „Fern vom Zwang und jeder Pflicht" hätte „jeder einzelne sich das Wissen um Ursachen und Zusammenhänge erarbeiten" können. Ihm habe es frei gestanden, „die Jahre der Gefangenschaft zu verwerten". Die Wunden mancher Auseinandersetzungen schmerzten, die Narben gingen tief. In der Tat war es ja vorgekommen, daß kranke Gefangene, die vorzeitig repatriiert wurden, die Heimatanschriften von „Anti-Nazis" mitnehmen mußten, um die Angehörigen der Sippenhaftung zuführen zu lassen. Aber alles dies sackte in der Erinnerung an die heftigen Auseinandersetzungen mit den „aggressiven Neinsagern", den überzeugten Nationalsozialisten, ab und machte einem Gefühl der Überlegenheit Platz: „Der Rückkehrer nach Berlin steht vor seiner aus Amerika mitgebrachten 54bändigen Bibliothek, blättert in seinen Ordnern voller Zeitungsaus-
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schnitte, Aufzeichnungen und Lehrmaterial und ist im übrigen der Ansicht, daß die drüben gelegte Saat irgendwann einmal aufgehen wird.... Er ist der amerikanischen Gewahrsamsmacht dankbar für das, was sie tat und wie sie es tat" 38 . Und siegesgewiß konnte er auch sein. Im Hinblick auf die spürbare Wandlung ehemaliger Nationalsozialisten war sich der damalige, eingangs zitierte Autor sicher: Als überzeugter Anti-Nazi zähle er sich nun zur „überwältigenden Minorität". Er wußte: „eine hübsche Anzahl mehr" werde „mit gewaltigem Schwung die richtige Kurve nehmen und Anschluß zu finden versuchen." Das Gefühl der deutschen Gefangenen im Westen wurde in Deutschland in den nächsten Jahren nun weitgehend entpolitisiert, vor allem im Schlager. Wer erinnert sich denn noch daran, daß die Hits der fünfziger Jahre - „brennend heißer Wüstensand" oder „Deutschland, deine Sterne" - eine Entfremdung und Einsamkeit verkitschend emotionalisierten, die vergessen ließ, daß die Auseinandersetzung mit der westlichen Demokratie auch hinter Stacheldraht stattgefunden und eine Neuorientierung eingesetzt hatte, die keineswegs so einmütig und harmonisch verlaufen war, wie man dann auf Erinnerungstreffen glauben machen wollte.
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Telegraph Nr. 80/1, 13. 7. 1946.
Stefan
Karner
Deutsche Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion 1941-1956
Rund 2,3 bis 2,8 Millionen Deutsche - Kriegsgefangene, Zivilisten, Internierte, Frauen und Männer wurden zwischen 1941 und 1956 von Einheiten der Roten Armee oder sowjetischer Staatsorgane in der Sowjetunion gefangen genommen oder dorthin verbracht und in Lagern, Gefängnissen oder Arbeitsbataillonen registriert. Miteingerechnet jene noch Jahre nach Kriegsende in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ, später D D R ) inhaftierten, teilweise nach sowjetischem Recht verurteilten, teilweise ohne Gerichtsurteil in die Sowjetunion verschleppten Zivilisten 1 . Verurteilte Deutsche wurden ebenso wie alle durch sowjetische Instanzen verurteilten Personen (In- und Ausländer) in die Lager des seit den zwanziger Jahren bestehenden G U L A G des N K V D sowie in Haftanstalten eingewiesen. Nicht-verurteilte Kriegsgefangene und Internierte kamen in einen eigens für sie eingerichteten Archipel von Lagern der NKVD-Hauptverwaltung G U P V I von der polnischen Grenze bis nach Ostsibirien. Für viele, Zivilisten und Kriegsgefangene, endete die Gefangenschaft erst nach Jahren. Keine andere Gewahrsamsmacht behielt deutsche Kriegsgefangene so lange wie die Sowjetunion. Dort sollten sie für die sowjetische Volkswirtschaft arbeiten und zunächst wiederaufbauen, was zuvor im Krieg zerstört worden war. Später stellten auch die Kriegsgefangenen ein fest kalkuliertes Arbeitskräftepotential in wichtigen Teilbereichen der sowjetischen Wirtschaft dar. Viele Leistungen des ersten sowjetischen Nachkriegs-Fünfjahresplans sind von ihnen erbracht worden. Als der internationale Druck auf die Sowjetunion zur Freilassung ihrer Kriegsgefangenen stark wurde, verurteilte der Sowjetstaat 1949 Tausende als Kriegsverbrecher in Militär- und Sondergerichtsverfahren zu 25 Jahren „Besserungsarbeitslager" des G U L A G , entzog ihnen den Status als „Kriegsgefangene" und konnte damit auch ihre Arbeitskraft weiter nutzen. Außer Deutschen waren noch knapp zwei Millionen anderer Gefangener aus allen Ländern Europas (vor allem Ungarn, Rumänen und Österreicher), aus den U S A , Kanada oder Brasilien, die auf der Seite der deutschen Wehrmacht gekämpft hatten, als Kriegsgegner eingestuft worden oder eher zufällig in sowjetische Hand geraten waren („befreit" aus NS-Konzentrationslagern, usw.), aber auch Japaner und Angehörige von mit ihnen verbündeten Armeen in den
Siehe dazu vor allem den Sammelband Speziallager. D e r vorliegende Beitrag orientiert sich maßgeblich an Karner, Kriegsgefangene, sowie im Detail an ders., Archipel. Siehe außerdem u. a. den Sammelband Kriegsgefangene; Bährens, Deutsche. Von russischer Seite liegen zum Problemkreis ebenfalls bereits mehrere wissenschaftliche Abhandlungen vor. Verwiesen sei hier insbesondere auf Konasov, V o e n n o p l e n n y j ; sowie Bezborodova, Schuldige.
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sowjetischen Lagern der Archipele von G U P V I und G U L A G registriert worden. Das N K V D 2 bezifferte ihre Gesamtzahl mit knapp über vier Millionen, andere sowjetische Quellen sprachen von bis zu sechs Millionen Menschen 3 . In diesem Zusammenhang ist auf das furchtbare Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, „Fremd- und Ostarbeiter" hinzuweisen, die teils angeworben, zum Großteil jedoch zwangsverpflichtet, „hilfswillig" oder kriegsgefangen im Herrschaftsbereich des Deutschen Reiches zur Arbeit eingesetzt worden waren. Etwa die Hälfte von ihnen überlebte die Internierung und Gefangenschaft in deutscher Hand nicht, starb an Hunger, in Lagern, oder wurde ermordet. Ein weiterer Teil der wieder in die Sowjetunion Repatriierten kam zur Zwangsarbeit in die sowjetischen Lager des G U L A G , wo wiederum viele verstarben 4 . Während das Lagersystem des Archipel G U L A G - vor allem durch die zahlreichen Publikationen Solzenicyns 5 - weitgehend bekannt ist, blieb die Existenz des Archipel G U P V I 6 des sowjetischen Innenministeriums ( N K V D ) mit seinen mehr als 4000 über das ganze Land verstreuten Lagern, Teillagern, SpezialSpitälern 7 und Arbeitsbataillonen im Dunkeln. Im Verantwortungsbereich der G U P V I des N K V D wurden Millionen von Menschen - zum größten Teil unter eklatanten Menschenrechtsverletzungen - festgehalten, Abertausende verhungerten, Zahllose erfroren oder wurden bereits auf dem Marsch und dem Transport in die Lager erschossen. Die G U P V I war Teil des stalinistischen Herrschafts- und Terrorapparates und diente - etwa am Beispiel von in Katyn' erschossenen Polen - auch als vorbereitendes System zur gezielten Massentötung 8 . Unter den im Archipel G U P V I registrierten Kriegsgefangenen und Internierten dürften insgesamt rund fünf Prozent Frauen gewesen sein. Für sie war der OKW-Geheimbefehl vom 5. September 1944 (Frauen „rasch und reibungslos" von den Fronten zurückzunehmen, um sie nicht „in Feindeshand fallen" zu las-
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N K V D = N a r o d n y j komissariat vnutrennych del SSSR (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der U d S S R ) , ab M ä r z 1946 M V D = Ministerstvo vnutrennych del SSSR (Ministerium für Innere Angelegenheiten der U d S S R ) . Siehe Tabelle 1. N K V D - G U P V I - S t a t i s t i k , in: Centr Chranenija Istoriko-dokumental'nych Kollekcij (= Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen, Moskau), C C h l D K , Spravka, gefertigt vom Chef der Gefängnisabteilung des M V D der U d S S R , Oberst Bulanov, vom 28. 4. 1956 gibt 3,4 Millionen Kriegsgefangene und Internierte der westlichen Armeen und rund 520 000 Kriegsgefangene der japanischen Armee und ihrer Verbündeten an. - Die Statistik bezieht sich naturgemäß lediglich auf die in den G U P V I - L a g e r n , Sonderspitälern, Arbeitsbataillonen bzw. in Gefängnissen Registrierten. Sie kann zudem nur als Richtwert für die Größenordnungen herangezogen werden. Siehe auch Karner, Prisoners. Siehe dazu vor allem Streit, Kameraden; Pavel Poljan, Sowjetische Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Repatriierung nach 1945. Manuskript, Freiburg, Moskau 1994; Solschenizyn, Archipel, 1, S. 230 ff. G U L A G = Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung für Lager). Siehe dazu insbesondere Solschenizyn, Archipel, 1; Rossi, Spravocnik. G U P V I = Glavnoe upravlenie p o delam voennoplennych i internirovannych (Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten). Spitäler für Kriegsgefangene und Internierte. D a z u u. a. auch Semirjaga, Tajny, bes. S. 111 ff.
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sen) zu spät gekommen 9 . Sie waren als Stabs-, Luftwaffen-, und Waffen-SSHelferinnen oder als Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes und Arztinnen gefangen genommen worden. Ein Teil von ihnen war dem Kontingent der „internierten und mobilisierten Deutschen" zugeschlagen und in Arbeitsbataillone eingeteilt worden. Carell/Böddeker schätzen, daß jede Dritte von ihnen in sowjetischer Hand verstorben ist 10 . Noch 1949 sollen sich - nach Angaben der „Maschke-Kommission" - etwa 25 000 Frauen, die zum Wehrmachtgefolge gehört hatten, in der Sowjetunion befunden haben 11 . Die Sowjetunion hatte 1929 die Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsgefangenen, ausgenommen partielle Vereinbarungen, nicht unterschrieben. Sie bemühte sich lediglich formell, international anerkannte Grundprinzipien des Schutzes von Kriegsgefangenen (vor allem nach der Haager Landkriegsordnung) im Bereich ihres Archipel GUPVI aufrecht zu erhalten. Zusätzlich hatten die Sowjets durch die Kategorie „Internierte und mobilisierte Deutsche" einen außerhalb der internationalen Vereinbarungen und auch ihrer eigenen erklärten Verordnungen stehenden Gefangenen-Typus - besonders für („Volks")Deutsche, gefangene Wehrmacht- und Waffen-SS-Helferinnen und Zivilisten aller Art - kreiert. Einer NKVD-Statistik vom 15. Juli 1950 zufolge belief sich die Gesamtzahl der von der Roten Armee und Staatsorganen auf ihrem Marsch nach Zentraleuropa in Ost-Mitteleuropa ohne jedes Gerichtsverfahren - meist buchstäblich von der Straße, dem Haus oder dem freien Feld gefangenen und in die UdSSR verschleppten „Internierten und mobilisierten (,Volks')Deutschen" auf 271 672 12 . Wie viele während der wochenlangen Transporte verstarben, wird wohl überhaupt nie geklärt werden können - diesbezügliche Schätzungen müssen jedenfalls vom Schlimmsten ausgehen: Gemäß der amtlichen sowjetischen Statistik wurden von dem oben genannten Gesamtkontingent 202 720 Menschen wieder repatriiert, was nach Abzug der 1950 noch in der UdSSR festgehaltenen Internierten eine Sterbeziffer von 68 952 bzw. eine Todesrate von knapp 25,4 Prozent ergab 13 .
Der Archipel GUPVI Der Archipel GUPVI, die „Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten", breitete sich zwischen 1939 und 1953 über die gesamte Sowjetunion, von den ersten Lagern hinter den Fronten in Mitteleuropa bis nach Sachalin und in die Goldgruben von Jakutien aus, und umfaßte insgesamt etwa 5000 Lager, Teillager, Frontlager, Evako- und Spezialspitäler sowie Arbeitsbataillone. Im Archipel GUPVI wurden Daten und Dokumente zu Schicksalen von über vier Millionen Kriegsgefangenen und Internierten auf-
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Zit. n. Carell/Böddeker, Gefangene, S. 322 f. Ebd., S. 325. Nach Böhme, Schicksal; Maschke (Hrsg.), Geschichte, X V , S. 3 1 7 - 3 4 5 . C C h l D K , F. l p , op. 01, d. 81. Ebd.
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bewahrt. Ein großer Teil wurde unter eklatanten Menschenrechtsverletzungen festgehalten, Hunderttausende überlebten nicht, weil sie verhungerten, erfroren, an Seuchen und Schwäche verstarben, zum Tod verurteilt wurden oder auf der Flucht aus dem Archipel umkamen. Die Errichtung der GUPVI als Zentrale für die Verwaltung des Archipels der Kriegsgefangenen und Internierten geht auf die Zeit unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zurück. Nur zwei Tage nach dem sowjetischen Einmarsch in Polen, am 19. September 1939, hatte Lavrentij P. Berija als Volkskommissar des Inneren mit Geheimbefehl 0308 die „Organisation von Kriegsgefangenenlagern" angeordnet 14 und die generellen Richtlinien für eine zentrale Verwaltung (UPVI) festgelegt: Als erstes unterstellte er die UPVI dem NKVD. Durch diese Maßnahme verfügte das sowjetische Innenministerium neben dem G U L A G 1 5 nun über einen zweiten Archipel von Lagern. Das NKVD führte damit auch die operativ-geheimpolizeiliche Arbeit im Archipel der GUPVILager durch, übernahm deren Finanzierung, Versorgung und Bewachung. Die ersten Lager des Archipels wurden vor allem in ehemaligen Klöstern und auf dem Areal von NKVD-Lagern und -Heimen aufgestellt. Später, besonders 1944/45, mußten die Kriegsgefangenen zahlreiche Lager oder lagerähnliche Einrichtungen unter schwierigsten Bedingungen - mitten in der Halbwüste, in Dauerfrostböden, in Sumpfgebieten - und ohne vorhandene Basis-Infrastruktur selbst errichten. Aufgabe der UPVI war es generell, die Kriegsgefangenen und Internierten im vorgeschobenen Frontlager-Netz zu erfassen, dem Inneren des Archipels zuzuführen, sie zu registrieren, ihre Mindestversorgung nach den vorgesehenen Normen des N K V D zu gewährleisten, sie physisch und politisch auszuwählen und zur Arbeit heranzuziehen. Die politische Umerziehung in der „Antifa" begann, besonders gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen, erst später. Eine Erweiterung erfuhr der Archipel 1941 16 , als ihm auch 26 Lagern von „besonderer Bedeutung" (Spezial-Lager) unterstellt wurden. Durch den vor Moskau ins Stocken geratenen deutschen Vormarsch war es der Roten Armee im Spätherbst nämlich gelungen, tausende ehemaliger Rotarmisten, die von der deutschen Wehrmacht gefangen gehalten wurden oder zu ihr übergelaufen waren, zu rekrutieren. Die geheimdienstliche Überprüfung, Filtration und spätere Verurteilung der meist als Deserteure, Spione und Vaterlandsverräter bezeichneten Sowjetbürger nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR 1 7 (Artikel 58/lb), brachte sie bis zum Juli 1944 in die Spezial-Lager des Archipel UPVI 18 : „Wir kennen keine Gefangenen, wir kennen nur Vaterlandsverräter", wird Stalin in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert.
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C C h l D K , F. lp., op. 37a, d. 1. Befehl Nr.0308. Siehe dazu vor allem Solschenizyn, Archipel, 1, und die in den einleitenden Anmerkungen zum G U L A G zitierte Literatur. C C h l D K , F. lp, op. 23a, d. 1; S. 5. Beschluß 1069ss der G O K O . RSFSR = Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialisticeskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik). Siehe auch Solschenizyn, Archipel I, S. 230 ff. und den Lager-Bestand des C C h l D K . - Mit N K V D - B e f e h l v. 19. 7. 1944 wurden diese Spezial-Lager in das System des G U L A G überstellt.
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Im Herbst und Winter 1941/42 gerieten auch die ersten größeren Kontingente Deutscher, am Volchov, vor Moskau und im Süden Rußlands in Kriegsgefangenschaft. Die ersten Erfolge der sowjetischen Armeen an der Voronez-, der Südwest- und der Don-Front im Herbst 1942 führten zu einem weiteren Zufluß von Kriegsgefangenen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten (etwa 30 Nationalitäten) in den nun sehr bald überbelegten Archipel. Die Neuerrichtungen von Lagern konnten mit dem Bedarf nicht Schritt halten. Hatte es zu Jahresbeginn 1942 nur sechs Kriegsgefangenenlager gegeben, so stieg ihre Zahl binnen eines Jahres auf dreißig, die Zahl der Aufnahmelager an der Front auf 44 an 19 . Der Archipel UPVI bestand bis Jahresmitte 1942 aus zwei Hauptteilen und zwar - aus dem Frontlager-Netz (den Aufnahmepunkten für Kriegsgefangene, PPV) - und aus Lagern im Hinterland, die ihrerseits in Lager für Kriegsgefangene und Internierte und in Lager für die ehemaligen Rotarmisten unterteilt waren. Ab dem Sommer 1942 kamen zum Frontlager-Netz des Archipel noch die Front-Aufnahme-Durchgangslager (FPPL) hinzu, die ein Zwischenglied zwischen den ersten Aufnahmepunkten (PPV) und den stationären Lagern waren. Außerdem dienten sie der Überwachung und Leitung des Frontlager-Netzes 20 . In den FPPL, auch Verteilungslager (lageri razpredeliteli) genannt, wurden die Kriegsgefangenen und ehemaligen Rotarmisten ausgemustert und in die stationären Lager im Inneren des Archipel weitertransportiert. Im Laufe des Jahres 1942 hatte man, entsprechend dem gestiegenen Arbeitskräfte-Angebot aus Kriegsgefangenen der UPVI, zusätzlich zu den Verwaltungsabteilungen noch eine Produktionsabteilung eingerichtet. Sie sollte die Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen für die Sowjetunion regeln und überwachen. Fast gleichzeitig inszenierte man unter den Kriegsgefangenen eine stärkere geheimdienstliche Tätigkeit. Die vor Jahresende 1942 gegründete „Operative"-Abteilung der UPVI (später „operativ-cekistische" Abteilung) hatte für die einzelnen gefangenen Nationalitäten eigene Unterabteilungen 21 : Die erste für die „Deutschen" (inklusive der Österreicher, Südtiroler und („Volks" -)Deutschen). Mit der entscheidenden Wende des Krieges in Stalingrad und dem sukzessiven Rückzug der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten 1943 nahm die Zahl der aktenmäßig feststellbaren Kriegsgefangenen rapide zu, obwohl etwa die Hälfte der Kriegsgefangenen in den stationären Lagern gar nicht mehr registriert werden konnte 22 : Sie waren zwischen ihrer Gefangennahme und der
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C C h l D K , F. lp, op. 23a, d. 1. Ebd., S. 5. C C h l D K , F. lp, op. 37a, d. 1. Die erschreckenden Zahlen f ü r Stalingrad etwa gibt Galickij, Beketovka, an. Auch von den durch die Rote Armee gefangengenommenen, geschätzten 2 0 0 0 0 0 bis 2 5 0 0 0 0 österreichischen Kriegsgefangenen waren nur rund 1 5 0 0 0 0 in den Lagern registriert worden. Siehe meine Erhebung der österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der ehemaligen Sowjetunion nach 1941. - Zu den Stalingrader Lagern jüngst auch Epifanov, Stalingrad.
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Registrierung im stationären Lager, also noch im Eingangsbereich des Archipel GUPVI, ums Leben gekommen, verhungert, erfroren, total erschöpft, schwerst verwundet oder, weil die entsprechende kämpfende Einheit der Roten Armee keine Gefangenen machte, kurzerhand erschossen worden. In diesem Zusammenhang muß allerdings nachdrücklich auf das mindestens ebenso schwere Schicksal der sowjetischen GULAG-Häftlinge, Gefängnisinsassen und Repressierten hingewiesen werden. Ihnen wurden zumeist - wie auch ehemalige Kriegsgefangene immer wieder berichten - selbst die Minimalrationen und die Minimalbehandlung der Kriegsgefangenen vorenthalten. Ahnliches galt in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren auch für größere Teile der Zivilbevölkerung, als besonders im Winter 1946/47 nach großen Mißernten die Lebensmittelversorgung praktisch zum Erliegen gekommen war: „Russische Frauen kamen zu uns auf die Baustelle. Sie brachten meist Tabak mit, um ein Stück Brot für ihre hungernden Kinder zu tauschen. So mancher Kriegsgefangene gab aus Mitleid sein letztes Stück Brot weg." Während die arbeitenden Kriegsgefangenen etwa 600 Gramm wässriges Schwarzbrot erhielten, hatte die russische Zivilbevölkerung oft nicht einmal das 23 . Das Zurückdrängen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten aus dem Gebiet der Sowjetunion im Laufe des Jahres 1944 bedeutete für hunderttausende Soldaten den Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft: Um sieben Mal mehr, als in den Jahren 1942 und 1943 zusammen, will man den sowjetischen Angaben Glauben schenken 24 . Die UPVI, eben erst neu organisiert, war auf einen derart gewaltigen Ansturm keineswegs vorbereitet. Es mangelte nahezu an allem: an Unterbringungsmöglichkeiten, Lebensmitteln, Medikamenten, Transportmitteln und Bekleidung 25 . Dabei benötigte rund ein Drittel der gefangen genommenen Soldaten eine Spitalbehandlung. Vier Fünftel der Toten der kalten Monate Januar und Februar 1944 starben in den Spezial-Spitälern an Dystrophie und Tbc, es folgten Herzleiden und Flecktyphus als weitere häufigste Todesursachen 26 . Als Sofortmaßnahme wurde der Archipel GUPVI - zumindest auf dem Papier - deutlich vergrößert: Von 52 Lagern zum Jahresende 1943 auf 156 zum Jahresende 194427; dazu auch die Zahl der Frontlager. Zum Jahresende 1944 ergab dies eine Gesamtaufnahmekapazität der UPVI-Lager von rund 905 000 Personen. Dabei hatte die UPVI erstmals bereits Lager außerhalb des Territoriums der Sowjetunion, vor allem in Polen, im Baltikum und in Rumänien errichtet. Im Oktober 194428 wurden auf der Basis von ehemaligen deutschen Lagern an der Frontlinie 18 stationäre Lager organisiert, davon drei in Polen, fünf in Lettland, zwei in Litauen sowie je eines in der Ukraine, in Weißrußland, auf der Krim, im Gebiet Leningrad, in Moldawien und in Rumänien. Die Gesamtkapazität dieser Lager betrug 100000 Kriegsgefangene.
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Siehe dazu Carell/Böddeker, Gefangene, S. 298.
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Dies geht aus nahezu allen Berichten der Einzellager hervor. C C h l D K , F. lp, op. 23a, d. 2. Die Spezial-Lager wurden am 19. 7. 1944 aufgrund des Befehls des N K V D Nr. 0149 dem G U L A G übergeben. C C h l D K , F. lp, op. 23a, d. 1, S. 1-66. Die Gründung der Lager erfolgte mit NKVDBefehl 001271 v. 16. 10. 1944.
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In den letzten Monaten des Krieges, nach ihrem Vormarsch auf deutsches Gebiet, machte die Rote Armee die höchste Zahl an Kriegsgefangenen. Allein nach der Kapitulation der Wehrmacht waren in den sowjetischen Frontlagern 1,3 Millionen Kriegsgefangene untergebracht worden. Kurzfristig befanden sich allein in den Frontlagern insgesamt bis zu 1,5 Millionen Kriegsgefangene. Zur Aufnahme dieser Kriegsgefangenen gab es in den vorgeschobenen Frontlagern insgesamt 172 Lagerpunkte, wovon 34 FPPL, 56 SPV und 72 PPV waren 29 . Die Verlagerung einer derart großen Zahl an Kriegsgefangenen in das Innere des Archipels dauerte einige Monate und war nach sowjetischen Angaben erst am 1. November 1945 abgeschlossen. Während dieser Zeit starben Tausende an Erschöpfung, Hunger und verschiedensten Krankheiten. Zu Jahresende 1945 umfaßte der Archipel GUPVI insgesamt 267 Lager mit rund 3200 angeschlossenen stationären Teillagern 30 . Die GUPVI-Lager wurden generell so angelegt, daß man die Kriegsgefangenen „optimal" und ohne Transportverluste in der Industrie, auf den verschiedensten Baustellen, beim Torfstechen, im Wald, im Bergbau, am Wiederaufbau von während des Krieges zerstörten Städten und in anderen Zweigen der sowjetischen Wirtschaft einsetzen konnte 31 . Nahezu jedes Lager verfügte daher über einen Bahnanschluß. War ein Bauvorhaben beendet oder die Aufträge und Verträge, die von der Lagerverwaltung mit einzelnen Unternehmen abgeschlossen worden waren, erfüllt, kam es nicht selten vor, daß ein Lager kurzfristig verlegt, mit einem oder mehreren anderen Lagern zusammengebracht oder überhaupt geschlossen wurde. Dieser Umstand erschwert auch eine exaktere Angabe des Bestandes an Lagern zu einem bestimmten Zeitpunkt. Besonders seit dem Frühjahr 1946 erkannte das sowjetische Innenministerium, daß die Situation der Insassen des Archipel GUPVI verbessert werden müßte, wollte man die Todesraten in den Lagern und die große Zahl an Arbeitsunfähigen, aber auch die Lebensmittelsituation ändern. Während einer Beratung der Innenminister der Republiken und der Leiter der UMVD der Regionen und Gebiete im März 1946 meinte der sowjetische Innenminister Kruglov, daß „die Unterbringung der Kriegsgefangenen eine sehr wichtige Angelegenheit" wäre und daß der „Tagesablauf der Lager vereinfacht und den Interessen des Arbeitseinsatzes und der Bewahrung des Gesundheitszustandes der Kriegsgefangenen untergeordnet werden sollte. Wenn der Kriegsgefangene um 8 Uhr zur Arbeit muß, so ist es nicht notwendig, ihn um 5 Uhr zu wecken, er soll länger liegen bleiben, denn ... wenn der Mensch länger liegt, dann braucht er weniger zum Essen" 32 .
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Ebd. und Berichte von heimgekehrten Kriegsgefangenen im Archiv des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, G r a z - W i e n . Ebd. - Pro Lagerverwaltung kann ein Netz v o n durchschnittlich 12 Lagern angenommen werden. Dieser Durchschnittswert geht aus den Beständen der Lager-Beschreibungen im C C h l D K hervor. Ebd. - Die arbeits- und auftragsbedingte Anlage der Kriegsgefangenenlager erfolgte auf Basis der Anweisungen 1 0 8 4 - 1 2 6 8 des S N K der UdSSR v. 14. 5. 1945, 7712, 7958 und 8921 der G O K O aus dem Frühjahr 1945 sowie von den Befehlen des N K V D der UdSSR. C C h l D K , F. lp, op. 23a, d. 1, S. 40.
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Trotz entsprechend angeordneter Maßnahmen blieben die Vorbereitungen auf den sowjetischen Hunger-Winter 1946/47 unzureichend. Der physische Zustand der Kriegsgefangenen verschlechterte sich, Lebensmittel gelangten nur unregelmäßig in die Lager bzw. von den Lagerverwaltungen an die Gefangenen. Die Lagerinsassen waren mit der Winterbekleidung und dem Winterschuhwerk schlecht versorgt, nahezu überall fehlte es an Heizmaterial. Die Lage hatte sich derart zugespitzt, daß Innenminister Kruglov mit seinen Direktiven vom 27. und 28. Januar 1947 gezwungen war, in den Lagern des Archipel G U P V I von Januar bis März 1947 den Ausnahmezustand zu verhängen 33 . Mehrere Kommissionen überprüften die Situation in den Lagern der einzelnen Regionen, wobei sich eine derart katastrophale Situation für die Lagerinsassen zeigte, daß der Ausnahmezustand erst im Mai 1947 wieder aufgehoben werden konnte. Die Verkleinerung des zentralen Apparats der G U P V I entsprach auch dem Fortgang der Massen-Repatriierungen der Kriegsgefangenen und Internierten, anfänglich vor allem von Franzosen, Luxemburgern, Italienern sowie mittelosteuropäischen Staaten, ab 1947 auch von Österreichern. Die Obergrenze für die Belegung der Lager war allein während des Jahres 1947 um rund eine halbe Million gesunken 34 . 1948 setzte schließlich auch die Massen-Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen ein. U m jedoch die Kontrolle über die noch verbliebenen Lager des Archipels zu verbessern, wurden sie in vier Hauptgruppen unterteilt 35 : Lager in den Grenzgebieten, Lager im Hinterland, Lager mit milderem Regime, in denen Kriegsgefangene ungarischer, rumänischer und österreichischer Nationalität untergebracht waren, Lager mit Sonderregime, wo jener Teil der Kriegsgefangenen untergebracht war, denen besondere Vergehen zur Last gelegt wurden: Flüchtlinge, Saboteure, Mitglieder von SS, SD, SA, und G E S T A P O , Beteiligte an Greueltaten. Diese Lager wurden durch Sonderwachmannschaften streng bewacht. Ab 1946/47 wurde seitens der operativen Abteilungen der G U P V I auch die geheimdienstliche Arbeit zur Ausforschung von Kriegsverbrechern unter den Lagerinsassen intensiviert. Der dabei „entdeckte" Sohn des ehemaligen NS-Reichsstatthalters in Wien, Richard Seyß-Inquart, führte zu weiteren „Filtrierung" der Kriegsgefangenen durch das M V D 3 6 . Im Jahre 1949 wurde die Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion im wesentlichen abgeschlossen, bis auf jene rund 30 000, die zu Jahresende als Kriegsverbrecher - zumeist zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager des G U L A G - verurteilt worden waren.
Sowjetische Haftanstalten und GULAG-Lager Diese Internierten fanden sich, je nach Gefangenenkategorie in den sowjetischen N K V D - L a g e r n des G U L A G , in Haftanstalten, wie Gefängnissen oder „Politisolatoren" (Hochsicherheitsgefängnisse ohne Kontaktmöglichkeiten zur
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Ebd., S.49. Ebd. Ebd., S. 60. Persönliche Mitteilung von Richard Seyß-Inquart an den Autor.
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Außenwelt) der Staatssicherheit ( N K G B / M G B / K G B ) und der Justiz- und Gefängnisverwaltungen wieder. Die GULAG-Verwaltung verfügte über rund 8000 Lager, Teillager, Kolonien, Sonderlager und lagerähnliche Einrichtungen mit rund 20 Millionen Häftlingen. Während in den GUPVI-Lagern und in den Besserungsarbeitslagern ( I T L ) und Besserungsarbeitskolonien ( I T K ) des G U L A G hart geschuftet werden mußte, galt dies für Gefängnisse nicht. Zu den bekanntesten Gefängnissen der Sowjetunion zählten auch in der Nachkriegszeit - der „Politisolator" in Vladimir 3 7 , etwa 250 km nordöstlich von Moskau (bis Mitte der fünfziger Jahre saßen hier u. a. kriegsgefangene deutsche und österreichische Generale und andere Ausländer, wie Janos Kadar oder Margarethe Ottiiiinger ein), - die Butyrka 3 8 , das größte Gefängnis in Moskau, - Lefortovo 3 9 , das Moskauer Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheitsorgane seit den zwanziger Jahren (1974 war auch Solzenicyn einige Tage in Lefortovo) und - die Lubjanka 4 0 , das zentrale Gebäude der sowjetischen Staatssicherheit, mitten in Moskau mit ihrem „Inneren Gefängnis", das über 115 Zellen für ca. 200 bis 500 Untersuchungshäftlinge verfügte. Die Lubjanka galt als „vornehmstes" Gefängnis der Sowjetunion - für „bedeutende" Häftlinge wie Politemigranten, Weißgardisten u.a. Während der großen Säuberungen durchliefen alle in Ungnade gefallenen und später erschossenen Mitstreiter Lenins, Politbüro- und ZK-Mitglieder, darunter auch ausländische Kommunisten die Lubjanka; dazu deutsche und japanische kriegsgefangene Generale. Unter den rund 8000 Besserungsarbeitslagern, Besserungsarbeitskolonien, Sonderlagern und anderen lagerähnlichen Einrichtungen des G U L A G , der zu Beginn der kommunistischen Herrschaft Anfang der zwanziger Jahre, noch unter Lenin, insbesondere in klimatisch unwirtlichsten Regionen, auch als schier unerschöpfliches Zwangsarbeitskräftereservoir der sowjetischen Volkswirtschaft, eingerichtet wurde, zählten Solovki, Vorkuta, Kolyma und Pot'ma zu den bekanntesten. Das G U L A G - L a g e r Vorkuta, lag ebenso wie die im Laufe der Jahre angelegte gleichnamige Stadt nördlich des Polarkreises in der Republik Komi. Das Gebiet verfügt über bedeutende Kohlevorkommen. „ V O R K U T L a g " , wie das große Lagersystem intern genannt wurde, war seit 1936 ein Straflagerbezirk und zusammen mit einigen anderen entlegenen Gebieten (Kasachstan, Kolyma, Noril'sk, Tajset) einer jener Straflagerbezirke, in denen sogenannte „KatorgaLager" existierten. Die in ihnen festgehaltenen „katorzane" oder K T R (im Unterschied zu den Zeki in den I T L ) waren zu schwerster Zwangsarbeit verurteilt; die Katorga war eine Einrichtung der zaristischen Herrschaftsstruktur und wurde von der Provisorischen Regierung im März 1917 abgeschafft. Per Ukaz vom 19. April 1943 führte die Sowjetmacht die Katorga wieder ein, speziell für
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Rossi, Spravocnik, 1, S. 53. Ebd., S. 44. Ebd., S. 188 ff. Ebd., S. 193 f.
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wegen „Vaterlandsverrats" Verurteilte, die aber mildernde Umstände für sich geltend machen konnten. Diese bekamen 15 oder 20 Jahre Katorga, ansonsten stand auf Vaterlandsverrat die Todesstrafe. Unter den KTR gab es eine extrem hohe Sterblichkeit, sie hatten schwerste körperliche Arbeiten (365 Arbeitstage jährlich mit 11,5 Stunden täglich, medizinische Hilfe gab es nur in schweren Fällen, bei Schwangeren wurden Zwangsabtreibungen vorgenommen, es gab keinerlei Kontakt zur Außenwelt). Die KTR bekamen Ordnungsnummern aus einem Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets (später zwei) und einer dreistelligen Zahl von 001-999, die jeweils immer nur einmal vergeben und nach einem Todesfall auch nicht weitergegeben wurden. „Die ersten KTR (Frühsommer 1943) hatten die Buchstaben A, B, C, usw. Zu Winterbeginn desselben Jahres tauchten in denselben Lagern bereits die Buchstaben O, P, Q, usw. auf" 41 . Die Katorga-Lager bestanden oft neben den gewöhnlichen ITL, allerdings war ein Kontakt zwischen KTR und Zeki praktisch ausgeschlossen. Obwohl man kein offizielles Dekret über die Auflösung der Katorga-Lager veröffentlichte, wurden die überlebenden KTR im Frühjahr 1948 in sogenannte Speziallager (nicht zu verwechseln mit den Spezial-Lagern des Archipel GUPVI), überführt. Ursprünglich als „Sonderlager" (osobye lageri) geführt, wurden die Speziallager ausschließlich für die Festhaltung politischer Häftlinge eingerichtet, hatten ein strenges Regime, schwere Arbeitsbedingungen, die Brigadeführer waren rückfällige Kriminelle aus den ITL, deren Verpflegung von der Arbeitsleistung abhing und die gegen die Häftlinge Gewalt anwendeten. Eine Arbeitsbefreiung wegen Krankheit gab es erst ab 38° Fieber (in den ITL ab 37,5°) 42 . Im Jahr 1948 für insgesamt 145000 „staatspolitisch besonders gefährliche Verbrecher" geplant, stießen die Speziallager bald an ihre Kapazitätsgrenzen. In einem Bericht an den Chef des G U L A G , Generalmajor Dobrynin, vom 13. Januar 1949 ging man davon aus, daß das in die Speziallager einzuweisende Häftlingskontingent „zu Jahresende 1949 ungefähr 220000 Personen umfassen wird" 4 3 . Zu Jahresbeginn 1949 waren in den bis dahin sieben bestehenden Speziallagern 91164 Häftlinge registriert, unter ihnen 2280 bereits verurteilte Häftlinge mit ausländischer Staatsbürgerschaft (darunter 577 Deutsche, 624 Ungarn, 222 Polen, 126 Rumänen, 52 Tschechen und Slowaken) 4 4 . Der Gesamtstand an Häftlingen betrug zum 1. Februar 1953 in insgesamt elf Speziallagern 233084 Menschen 45 . Sie wurden dorthin wegen folgender politischer Delikte bzw. Tatbestände eingeliefert (Auswahl): Vaterlandsverrat, Spionage, Terror, terroristische Absichten, Sabotage, Schädlingstätigkeit, Teilnahme an antisowjetischen Verschwörungen, antisowjetische Agitation, Aufstandsbewegungen oder politischer Banditismus, Familienangehörige von Vaterlandsverrätern, sozial gefährliche Elemente 46 .
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Ebd., S. 176. Dazu generell ebd. GARF, F. 9414, op. 1, d. 1845. Ebd. GARF, F. 9414, op. l , d . 118. GARF, F. 9414, op. 1, d. 1845.
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Die Kolyma, ein Fluß in Nordost-Sibirien mit 2600 km Länge wurde ebenfalls zum Synonym für ein ganzes Straflagergebiet (1932 bis 1956). In den KolymaLagern gab es die höchste Sterblichkeit unter allen stalinistischen Lagern, hervorgerufen durch ein unwirtliches Klima, unmenschliche Haft- und Arbeitsbedingungen (im Bergbau mußten die Häftlinge eine tägliche Norm von 1,5 Tonnen erbringen). Das USVITLag 4 7 , Lagerverwaltungsbehörde der Kolyma, lieferte der DAL'STROJ (beide waren Teilorganisationen des NKVD) die Arbeitskraft hunderttausender Häftlinge. In der Kolyma, dem größten Goldvorkommen der UdSSR, schürften Zeki das Gold für die DAL'STROJ, bauten Dörfer und Städte für die zivilen Arbeitskräfte (ζ. B. Magadan, 1933) und tausende Kilometer an Straßen oder errichteten Baracken für Häftlinge. Die DAL'STROJ verfügte über eine eigene Flotte, mit der sie pro Schiff 6000 bis 9000 Häftlinge transportierte. Ihren Ausgangspunkt nahmen solche Transporte zumeist in der Stadt Vanino, rund tausend km nördlich von Vladivostok 48 . Ende der dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre kamen 400000 bis 500000 Strafgefangene jährlich ins Gebiet der Kolyma, allerdings lag deren Gesamtzahl aufgrund der hohen Sterblichkeit nie höher als bei zwei bis drei Millionen, unter ihnen auch Herbert Killian, der als Jugendlicher einem sowjetischen Besatzungskind in Wien eine Ohrfeige gegeben hatte. Das Speziallager 3, „Dubravnyj" war ein großer Lagerbezirk in der Mordwinischen ASSR rund um die Stadt Pot'ma. Er umfaßte Kriegsgefangenenlager, ein ITL und Speziallager. Mit MVD-Befehl 00471 vom 29. April 1948 wurde bei der Siedlung Javas auf Basis des ITL Temnikovskij das Speziallager 3 „Dubravnyj" mit einer Nennkapazität von 20000 Insassen eingerichtet (Postfachnummer 385, Haupteinsatzgebiet der Häftlinge: Näherei, Torfstich, Land- und Holzwirtschaft, relativ hoher Anteil an Invaliden und begrenzt Arbeitstauglichen). Das Lager hatte 19 Abteilungen im Umkreis zwischen 0,2 und 36 km von der Verwaltung, etwa 90 Prozent der Insassen galten als „staatspolitisch gefährliche Verbrecher", der Rest als „normales" Kontingent, rund 25 Prozent waren Frauen 49 .
Die rechtlichen Grundlagen der sowjetischen Nachkriegsjustiz Die generell wichtigste legistische Grundlage der Strafverfahren in der Sowjetunion war seit 1926 das Strafgesetzbuch der RSFSR 5 0 . Vor allem in seinem Artikel 58 verfügte es über ein gegen politische, ideologische oder innerparteiliche Gegner fast jederzeit einsetzbares Instrumentarium. Wurden Österreicher nach dem Artikel 58 verurteilt, so kamen meist die Paragraphen 6 (Spionage) 47
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USVITLag = Upravlenie severo-vostocnymi ispravitel'no-trudovymi lagerjami (Verwaltung nordöstlicher ITL). Rossi, Spravocnik, 1, S. 101. G A R F , F. 9414, op. 1, d. 1852. Ugolovnyj kodeks RSFSR. Moskau 1926. Der Kodex wurde zwar noch während der Stalinzeit mehrfach verändert, blieb jedoch in seinen politischen Artikeln im wesentlichen unverändert. - RSFSR = Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, 1 9 2 2 - 1 9 9 1 , heute im Wesentlichen das Gebiet der Russischen Föderation.
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und 4 (Unterstützung der Weltbourgeoisie) zur Anwendung. Zusätzlich wurden noch zwei Sondererlässe verhängt, die die normative Basis der Aburteilung von Kriegsverbrechern bildeten: Mit einem Geheimerlaß vom 19. April 1943 („Ukaz 4 3 " ) verfügte das Präsidium des Obersten Sowjet entsprechende „Strafmaßnahmen gegen deutschfaschistische Verbrecher, die sich der Ermordung und Folterung sowjetischer Zivilpersonen und gefangener Rotarmisten schuldig gemacht hatten" 5 1 . Mit diesem Erlaß wurde die Hinrichtung durch den Strang als Höchststrafe gesetzlich verankert. Das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates in Deutschland vom 20. Dezember 1945, sah - bezugnehmend auf die Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom O k t o b e r 1943 - die Bestrafung von Personen vor, „die sich der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen den Frieden und die Menschheit" schuldig gemacht hatten 5 2 . Die Formulierungen des Gesetzes konnten und wurden derart unpräzise ausgelegt, daß die Grenze zwischen den Maßnahmen des deutschen Okkupators zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und dem verbrecherischen Vorgehen gegen vorgebliche sowjetische Partisanen, andere Greueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fließend waren. Durch die exzessive Auslegung des Passus über „Verbrechen gegen den Frieden" in der Sowjetunion konnte jeder Soldat der deutschen Wehrmacht, der am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, als Friedensbrecher bestraft werden. Nach dem Strafgesetzbuch der R S F S R wurden in der Regel eher Mitglieder der deutschen Abwehr, der SS, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes, nach 1945 in die Sowjetunion verschleppte Österreicher, österreichische Zivilisten, die als Nicht-Kombattanten in sowjetische Hand geraten waren, sowie Ingenieure, Techniker und NS-Beamte verurteilt. Nach dem „Ukaz 4 3 " und dem Gesetz Nr. 10 verurteilten die sowjetischen Gerichte vor allem ehemalige Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, Mitglieder der SS (einschließlich der Waffen SS), des SD, der Gestapo sowie von „Sondereinheiten". Das Strafmaß schwankte in der Regel zwischen Freiheitsentzug von 12 Monaten bis zu 25 Jahren. In zahlreichen Fällen wurde auch die Höchststrafe, der Tod durch den Strang oder durch Erschießen, ausgesprochen und exekutiert. Lediglich zwischen 1947 und 1950, als in der Sowjetunion die Todesstrafe in Gerichtsverfahren ausgesetzt worden war, stellte eine Verurteilung zu 25 Jahren Freiheitsentzug ebenfalls die Höchststrafe dar. In Wahrheit bedeutete eine Strafverbüßung von 25 Jahren in einem G U L A G - L a g e r einen Tod auf Raten.
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Gleichzeitig wurde damit die legistische Basis zur Verfolgung und Aburteilung „sowjetischer Spione und Vaterlandsverräter" gelegt, w o m i t die sowjetischen Repatrianten nach 1945, die den NS-Kriegsgefangenenlagern und K Z s entkommen waren, „als Vaterlandsverräter" verurteilt wurden. Zu diesem äußerst diffizilen und unvorstellbar grausamen Kapitel der sowjetischen Nachkriegsgeschichte hat Pavel Poljan eine Arbeit in Vorbereitung, die als Band 2 der Reihe „Kriegsfolgen-Forschung" 1998 erscheinen soll. Siehe Sammlung gesetzgebender und normativer A k t e n über die Verfolgung und die Rehabilitierung der O p f e r politischer Verfolgung. Moskau 1993 (in russisch).
Deutsche Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion
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Der sowjetische Erhebungs- und Justizapparat U m begangene NS-Verbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion auflisten, darstellen und ahnden zu können - und auch als Reaktion auf die vom N K V D 1940 begangenen, von der Sowjetunion jedoch bis Anfang der neunziger Jahre hartnäckig geleugneten Verbrechen in Katyn' - wurde am 2. November 1942 mit Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjet ein weitverzweigtes und mächtiges politisches Organ gegründet: Die „Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der U d S S R zugefügt wurden" ( C G K J 5 3 . Für die Kommission arbeiteten bis 1946 hunderttausende Mitarbeiter, Helfer und Zeugen. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, möglichst viele „Beweise" von Verbrechen und Übeltaten des NS-Okkupators aufzuspüren, eine gewaltige Sammlung dazu anzulegen, Zeugen ausfindig zu machen und für ihre Aussagen zu unterweisen. Die C G K initiierte auch den „Ukaz 4 3 " . Mit den Vorerhebungen und der Untersuchung von Verbrechen, die nach dem „Ukaz 4 3 " bestraft werden sollten, beauftragte man ab 1943 die Staatssicherheit N K G B / M G B 5 4 und die Sonderabwehrbehörde S M E R S 5 5 des Volkskommissariats für Verteidigung. Kriegsgefangene wurden in den Lagern - nach geheimdienstlichen Untersuchungen der operativen Lagerabteilungen und der entsprechenden Abteilung der G U P V I - vom N K V D / M V D inhaftiert. Daneben ließ auch die Hauptverwaltung für Gegenspionage des Generalstabs der Sowjetarmee gegen vermutete Kriegsverbrecher unter den Kriegsgefangenen ermitteln. Ihre Erhebungsergebnisse wurden jedoch wiederum an das M V D , das N K G B oder an die S M E R S weitergegeben 5 6 .
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C G K = Crezvycajnaja gosudarstvennaja komissija. Ü b e r die C G K bereite ich eine D a r stellung auf Basis des zentralen Aktenbestandes der Kommission vor. D i e sowjetische Staatssicherheit war seit 1917 unter verschiedenen Bezeichnungen organisiert worden: C K (sprich: „ T s c h e k a " , 1 9 1 7 - 1 9 2 2 ) , G P U , O G P U ( 1 9 2 2 - 1 9 3 4 ) , N K V D ( 1 9 3 4 - 1 9 4 6 unter Einschluß des N K G B ) , M G B ( 1 9 4 6 - 1 9 5 3 ) , M V D ( 1 9 5 3 - 1 9 5 4 ) und K G B ( 1 9 5 4 - 1 9 9 1 ) . Sie war als ein weitverzeigtes, von der „ L u b j a n k a " (Dzerzinskij-Platz) in Moskau aus, im I n - und Ausland operierendes N e t z organisiert und war eines der stärksten Machtmittel des totalitären kommunistischen Systems geworden. Siehe jüngst: Lubjanka. Moskau 1997. S M E R S ( A k r o n y m : „Tod den S p i o n e n " ) war zwischen 1943 und 1946 die sowjetische Sonder-Abwehrbehörde. S M E R S wurde mit seinen Sonderabteilungen vom Innenministerium N K V D abgetrennt und direkt Stalin als Vorsitzendem des Staatskomitees für Verteidigung ( G O K O ) unterstellt. Leiter der S M E R S war V. Abakumov, der von 1946 bis 1952 Minister für Staatssicherheit ( M G B ) war und unter Chruscev verurteilt und erschossen wurde. S M E R S beschäftigte sich neben der „ B e o b a c h t u n g " der rückzuführenden Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, vor allem mit der „Entlarvung ausländischer S p i o n e " . 1946 wurde die S M E R S von der 3 Verwaltung des M G B übernommen. Siehe dazu u.a. A n d r e w / G o r d i e w s k y , K G B , S. 4 3 8 f f . ; Rossi, Spravocnik, 1, S. 364. D a z u die entsprechenden Abschnitte bei Karner, Archipel; verschiedene Arbeiten von Nikita Petrov, die er im Auftrag des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, G r a z - W i e n , durchführt und Ira B e z b o r o d o v a , D e r Schriftwechsel zwischen N K V D und G U P V I (Arbeitstitel). Manuskript, Moskau 1997.
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Die Verurteilungen von Deutschen erfolgten im Rahmen der sowjetischen Gesetze und Verordnungen. Sofern es sich um Kriegsgefangene handelte - in der Regel nach dem geheimen „Ukaz 43", sofern es sich um Zivilisten handelte vor allem nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR, Artikel 58. Die Verurteilungen selbst erfolgten durch zwei Gerichtstypen: - durch Militärtribunale der Armee - durch außergerichtliche Organe („Sondergerichte", wie OSO 57 , „Dvojkas" und „Trojkas"). Dazu kam die administrative Repression für Deutsche, die ohne Gerichtsbeschluß oft jahrelang festgehalten und zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Als Höchststrafe galt die Todesstrafe, die nur zwischen 19. April 1947 und 12. Januar 1950 ausgesetzt und in 25 Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager des GULAG oder in einem Gefängnis umgewandelt worden war 58 . Die in der „Norm" zu 25 Jahren Besserungsarbeitslagern (ITL) des GULAG verurteilten Deutschen wurden zur Strafarbeit eingeteilt. Verurteilungen erfolgten nicht selten bloß auf den Verdacht hin. Ein rechtstaatliches Gerichtsverfahren war in keinem Fall gegeben, ein großer Teil der Urteile politisch motiviert, eine Rekursmöglichkeit zwar meist gegeben, doch hatten Rekurse kaum Einfluß auf das endgültige Urteil. Die größte unter den eingangs angeführten verurteilten Gruppen waren die deutschen Kriegsgefangenen der ehemaligen Wehrmacht. Die meisten von ihnen büßten zwischen 1943 und 1955 Strafen sowohl wegen angelasteter Kriegsverbrechen, als auch wegen Vergehen gegen die sowjetische Lagerordnung des GUPVI-Systems und wegen krimineller Delikte ab. Die Verurteilungen erfolgten anfangs in Schauprozessen und Einzelanklagen, später - besonders 1949 - in Massenverfahren, bei denen der Nachweis einer persönlichen Schuld nicht mehr erbracht werden mußte 59 . Eine knappe zusammenfassende Darstellung kann die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Verurteilungspraxis durch die sowjetische Gewahrsamsmacht und die darauf bezugnehmende Politik der Sowjetunion im Detail nicht ausleuchten. Erst die Beispiele einzelner Gefangener können einen Einblick in die Komplexität des Themas und die Problematik seiner persönlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung geben. Ein Teil dieser Aufarbeitung wird derzeit durch die Rehabilitierung von Stalin-Opfern versucht 60 . Die folgenden Schick-
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O S O = Osoboe sovescanie (Sonderkommission), eine seit dem „roten Terror" der Dreißiger Jahre in der Sowjetunion etablierte Gerichtsinstanz, die auch das Recht, Todesurteile zu fällen, hatte. Ukaz des Obersten Sowjet vom 19. 4. 1947. Siehe dazu auch Solschenizyn, Archipel, 1, S. 416. Dazu v o r allem Nikita Petrov, Die Strafgerichtsverfahren gegen Angehörige der Deutschen Wehrmacht und andere NS-Organsiationen in der Sowjetunion, Manuskript, Moskau 1996. Die Rehabilitierung deutscher und österreichischer Stalin-Opfer wird gemäß der russischen Gesetzgebung v o n der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau (V. Kupec und L. Kopalin) durchgeführt.
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sale von Deutschen sind lediglich zwei Beispiele von Verurteilungen durch sowjetische Organe zwischen 1941 und 1956. Gerhard Klatt war einer von ihnen: Die Angaben, die aus seiner N K V D - A k t e vorliegen, lauten: Klatt Gerhard, männlich, Zivilist, 1912, Geburtsort Schönlanke in Pommern, Adresse: Schwarzheide in Brandenburg, Gymnasium, Chemiker von Beruf. Verhaftet am 19. 9. 1949 in Brandenburg, verurteilt am 25. 3. 1950 zu 15 Jahren gemäß § 58, Absatz 6 des Strafgesetzbuches der RSFSR (Spionage). Rekurs nicht stattgegeben, Urteil bestätigt. Anschließend durchlief Klatt folgende Gefängnisse und Lager: Gefängnis Potsdam, Gefängnis Nr.l in Brest, Gefängnis Butyrka in Moskau, Straflagerbezirk Vorkuta und schließlich ein G U L A G - L a g e r südlich von Moskau. Repatriiert am 12. 1. 1955 61 . Das folgende Beispiel steht für die zehntausenden verurteilten kriegsgefangenen ehemaligen deutschen Wehrmachtsangehörigen. Die Akte des kriegsgefangenen Arztes Dr. Franz Herstein. Seine Daten: geboren 1912 in Ludwigsburg in der Pfalz, deutsche Staatsangehörigkeit, Arzt, Kriegsgefangener im Lager 280 von Stalino (Teillager 18). Verhaftet am 16. 6. 1949, Anklage gemäß § 58/6 (Spionage). 12. 10. 1949 Verlesung der Anklage: „Herstein hat Daten über verstorbene deutsche Kriegsgefangene aufgezeichnet in der Absicht, diese nach Deutschland zu senden, damit diese dort als antisowjetisches Propagandamaterial eingesetzt werden könnten". Dazu die Aussage Hersteins: „Ich habe die Liste aus rein menschlichen Gründen zusammengestellt, um später einmal den Angehörigen vom sicheren Tod ihrer Verwandten Nachricht geben zu können. . . . Eine solche Benachrichtigung ist nicht nur die Pflicht eines Arztes, sondern eines jeden Menschen überhaupt". Das Urteil: 10 Jahre Besserungsarbeitslager des G U L A G 6 2 . Mit Stichtag 20. Januar 1950 wurden in der Sowjetunion - nach N K V D - A n gaben - noch 52506 ausländische, teilweise verurteilte, deutsche und österreichische Kriegsgefangene sowie Internierte festgehalten. Von ihnen waren in Lagern der G U P V I bzw. in Spezialspitälern 32 931 (davon waren bereits 10550 Verurteilte), in den Lagern des G U L A G 13 894 (fast ausschließlich Verurteilte) und in den Gefängnissen 5681 (davon waren 4208 verurteilt und 1473 in U-Haft) verblieben 63 .
Die Auflösungen von GUPVI und G U L A G Im Zuge der Umstrukturierung der sowjetischen Ministerien nach dem Tod Stalins im März 1953, bei der M V D und M G B zu einem Ministerium (MVD) zusammengelegt worden waren, wurde in der neuen Struktur keine eigene Abteilung für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten mehr
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D a t e n b a n k „Verurteilte D e u t s c h e in der S o w j e t u n i o n 1 9 4 1 - 1 9 5 6 " am L u d w i g B o l t z mann-Institut f ü r K r i e g s f o l g e n - F o r s c h u n g , G r a z , Wien. D i e D a t e n b a n k w u r d e v o m A u t o r im A u f t r a g deutscher Regierungsstellen erstellt u n d u m f a ß t derzeit, in bisher bereinigter F o r m , D a t e n s ä t z e zu je 36 relevanten Variablen v o n insgesamt 3 9 6 4 4 Personen.
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C C l i l D K , F. Ι ρ , ο ρ . Ii, d. 1.
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geschaffen. Die G U P V I hatte aufgehört zu existieren. Der G U L A G selbst wurde auf Beschluß des Ministerrates der U d S S R 6 4 in das Justizministerium der U d S S R integriert. Lediglich die Führung der Lager, in denen die verurteilten Kriegsgefangenen festgehalten wurden, war weiterhin dem M V D , Gefängnisverwaltung, unterstellt, wozu man dort eine kleine Abteilung für Kriegsgefangene und Internierte eingerichtet hatte. N a c h der Reorganisation der Gefängnisverwaltung des M V D der U d S S R im Jahr 1954 wurde daraus die 2. Abteilung (für ehemalige Kriegsgefangene und Internierte), später die 3. Abteilung 6 5 . Nach der Amnestie und der Freilassung der verurteilten Kriegsgefangenen und Internierten kamen im Laufe des Jahres 1956 auch die letzten Lager des Archipels (Lager 48 bei Ivanovo, östlich von Moskau und Lager 476 in Asbest, im Ural) sowie das Spezial-Spital 1893 in Chor bei Chabarovsk zur Auflösung. Lediglich das Lager 16 im Gebiet Chabarovsk und das Lager in Pot'ma (Mordovien) 6 6 wurden in das System der Besserungs-Arbeitskolonien des M V D der U d S S R (ITK) integriert. Tabelle 1: Die Deutschen unter den anderen Kriegsgefangenen der „westlichen" Armeen im Archipel G U P V I 6 7 N a c h Angaben des M V D Nationalitäten
Gesamtzahl
Deutsche Ungarn Rumänen Österreicher Tschechoslow. Polen Italiener Franzosen Jugoslawen Holländer Finnen Belgicr Luxemburger Dänen Spanier Norweger Sonstige Summe
64 65 66 67
davon Generale
Repatriiert Gesamt
Verstorben Gesamt
2388443 513 766 187367 156681 69977 60277 48957 23136 21830 4730 2377 2014 1653 456 452 101 3 989
376 49 6 12 2 5 3
2031743 459011 132755 145 790 65 954 57149 21274 21811 20354 4530 1974 1833 1560 421 382 83 1062
3486206
455
2 967686
2
Verblieben 30.11.1956
Sterberate
davon Generali
356687 54753 54602 10891 4023 31271 27683 1325 1468 199 403 177 92 35 70 18 2927
13 2 10
14,9% 10,7% 29,1 % 7,0% 5,7% 5,2 % 56,5 % 5,7 % 6,2 % 4,2% 17,0% 8,8 % 5,6 % 7,7% 15,5% 17,8% 73,4 %
99 3
518480
40
14,9%
106
1
8 1 4 1
3 1
C C h l D K , F. l p , op. 23a, d. 1. - Beschluß des Ministerrates Nr.934/400ss v. 28. 3. 1953. E b d . - Entsprechende Anweisungen des M V D der U d S S R aus den Jahren 1954 und 1955. Karner, Akten, besonders S. 84 f. und 228 f. Q u e l l e : Zusammenfassung nach C C h l D K , Bescheinigung von Oberst Bulanov, Chef der Gefängnisabteilung des M V D der U d S S R vom 28. 4. 1956. - Die Statistik bezieht sich naturgemäß lediglich auf die in den stationären G U P V I - L a g e r n , Spezialspitälern, Arbeitsba-
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Auf das Alltagsleben der deutschen Kriegsgefangenen im Lager, den alltäglichen Hunger, die kaum behandelten Krankheiten, den besonders am Anfang alltäglichen Tod, die Überlebensstrategien und Methoden der Hungerbekämpfung (,,Plennyj"-Schritt) 6 8 , die politische Umerziehung in der „Antifa", die Ausbildung einer „Lagerkultur", die geheimdienstliche Arbeit der sowjetischen Staatssicherheit in den Lagern, das Spitzelwesen oder die „deutsche" Lagerverwaltung konnte hier nicht näher eingegangen werden. Sie bildeten jedoch wesentliche Aspekte der Kriegsgefangenschaft in sowjetischer Hand. Daher soll im folgenden lediglich ein Aspekt des komplexen Themas näher behandelt werden: die Arbeitsverwendung.
Arbeit Die wichtigste Aufgabe der deutschen Kriegsgefangenen in der U d S S R bestand in ihrem Arbeitseinsatz für die sowjetische Wirtschaft und deren Wiederaufbau nach dem Krieg. Ihr Beitrag fällt besonders in einzelnen wichtigen Sparten der Bauwirtschaft und anteilmäßig besonders nach 1949 ins Gewicht. Es gab kaum ein größeres wirtschaftliches Projekt der Sowjetunion in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bei dem nicht Deutsche, oft in technisch leitender Stellung, mitgewirkt hätten. In den Siegesjubel mischte sich 1945 für die Bevölkerung der U d S S R auch die schreckliche Bilanz des Krieges. Seine Folgen lassen sich kaum in Zahlen ausdrücken: - mindestens 20 Millionen Tote (Gefallene, Verhungerte, Repressierte), - rund 25 Millionen Obdachlose, - versetzte Völkerschaften (Balten, Kalmücken, Tataren, Deutsche, usw.), - Zerstörung von über 1700 Städten, rund 7 0 0 0 0 Dörfern, rund 32 000 Industriebetrieben und 6 5 0 0 0 km Schienenwegen, dazu von 60 Millionen Quadratmeter Wohnraum 6 9 , - Internierung von Millionen repatriierten sowjetischen Zivilisten und ehemaligen Soldaten der Roten Armee im G U L A G . Sie waren als „ O s t " - bzw. „Fremdarbeiter" oder als Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam gewesen 7 0 . - Repressionen gegen jene Sowjetbürger, die auf dem von der Wehrmacht okkupierten Territorium gelebt hatten. Mit einer Reihe von Maßnahmen wollte die Sowjetregierung unter Stalin die Wirtschaft des Landes ankurbeln, Rüstung und Schwerindustrie forcieren. Zu ihnen zählten auch die Ausnützung der Arbeitskraft der Millionen westlicher und japanischer Kriegsgefangener und Internierter des Archipels G U P V I sowie
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taillonen, bzw. in Gefängnissen Registrierten. Sie kann zudem nur als Richtwert für die G r ö ß e n o r d n u n g e n herangezogen werden. Zu den Generalen s. nunmehr Bezborodova, Generale. Plennyj - russ. für „Gefangener". H e l l e r / N e k r i c , Geschichte, S. 151; Rauch, Geschichte, S. 458. D a z u Pavel P o l j a n , " O s t y " - Zertvy dvuch diktatur, in: Rodina 2 / 1 9 9 4 , S. 5 1 - 5 8 , sowie: ders., N e po svoej v o l e . . . „ V o s t o c n y e rabocie" vo vremja v o j n y i posle (Manuskript).
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der sowjetischen Häftlinge und ausländischen verurteilten Zivilisten des Archipels G U L A G . Einen beträchtlichen Anteil an der Leistung des rasch zum Wiederaufbau aufgestellten 4. Fünfjahresplans erbrachten die Millionen kriegsgefangenen, internierten und verurteilten Ausländer, die zwischen 1941 und 1955/56 in den zwei Lager-Archipels des NKVD/MVD (der GUPVI und des G U L A G ) festgehalten worden waren. Geht man von der NKVD-Statistik mit insgesamt 3486206 registrierten Kriegsgefangenen der Wehrmacht und der mit ihr verbündeten europäischen Armeen aus (siehe Tabelle 1), so befanden sich rund 2,3 Millionen Deutsche in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Zur Jahresmitte 1942, als bereits tausende Deutsche im Archipel GUPVI registriert worden waren 71 , teilte das N K V D die Kriegsgefangenen hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit in fünf Gruppen 7 2 : - Gruppe 1: Gesunde, für schwere physische Arbeiten, - Gruppe 2: leicht und chronisch Kranke, für mittelschwere physische Arbeiten, - Gruppe 3: Kranke, für leichte körperliche Arbeiten sowie - Gruppe 4: Invalide und Arbeitsunfähige, ausschließlich für besonders leichte Arbeiten geeignet. - Gruppe OK: Genesungsgruppe, in Vorbereitung zum weiteren Arbeitseinsatz. Mit der Gefangenenzahl stieg das aus den deutschen Kriegsgefangenen gebildete Arbeitskontingent - allein während des Jahres 1944 um das Vierzehnfache! In den Sommermonaten wurden durchschnittlich rund 80 Prozent, in den Wintermonaten etwas über 50 Prozent aller Kriegsgefangenen zur Arbeitsleistung eingesetzt 73 . Zwischen 1. Januar und 16. Mai 1945 stieg die Zahl der im Archipel registrierten Kriegsgefangenen weiter um mehr als das Doppelte (!) 74 . Dazu kamen noch hunderttausende Internierte, vor allem („Volks"-)Deutsche, die von der Roten Armee einfach mitgenommen worden waren. So begann 1945 in der sowjetischen Volkswirtschaft der massenweise Arbeitseinsatz von rund 1,4 Millionen Deutschen 75 . Die rechtliche Grundlage dafür bildete ein Beschluß des Staatlichen Verteidigungskomitees G O K O vom Juni 1945 76 , der die Verteilung der Kriegsgefangenen zur Arbeitsleistung in den Betrieben und Baustellen der Volkskommissariate und Ämter regelte. Die deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten (insbesondere „Volks"-Deutsche) wurden dazu vor allem in Lagern, Arbeitsbataillonen für Internierte (RB), Spezialspitälern, Arbeitssonderbataillonen des NKO, Besserungsarbeitslagern und -kolonien des G U L A G , Sonderlagern des N K V D und in einzelnen Arbeitslagern des G U L A G unter meist schwierigsten, menschenunwürdigen 71 72 73 74 75 76
Karner, Archipel, S. 453. G A R F , F. 9401, op. 12, d. 205. Erlaß des N K V D / G U P V I v.17. 7. 1942, Nr.28/7309. C C h l D K , F. l p , op. 6i, d. 3. Auswertung der Detail-Statistiken. C C h l D K , F. lp, op. Ole, d. 36. Schätzung aufgrund der Arbeitsfähigkeits-Einstufungen der Sowjets. G O K O - B e s c h l u ß v. 4. 6. 1945, Nr.8921dd. Zit. nach: C C h l D K , F. lp, op. lOi, d. 1. Bericht über die Arbeits-Verwendung der Kriegsgefangenen in der Volkswirtschaft des Landes 1 9 4 1 - 1 9 4 9 v. 17. 1. 1950, gezeichnet Cerbov.
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Bedingungen festgehalten. Die Lager hatten mit den jeweiligen örtlichen Auftraggebern (vor allem Ministerien und staatlichen Organisationen) Verträge abgeschlossen und boten ihre Gefangenen als Arbeitskräfte an. Im Jahre 1946 waren, nach der ersten Welle von Repatriierungen und Entlassungen im Sommer 194577, in der Volkswirtschaft der UdSSR monatlich im Durchschnitt insgesamt 1 833 865 Kriegsgefangene westlicher und östlicher (vor allem Japaner) Nationalitäten und ehemaliger Armeen eingesetzt 78 . Ihre grobe Zuordnung zeigt bereits die bedeutsamsten Arbeits-Einsatzbereiche für die Kriegsgefangenen und Internierten in den nächsten Jahren und gleichzeitig die wichtigsten Akzente des ersten Nachkriegs-Fünfjahresplan (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Anzahl der eingesetzten Kriegsgefangenen in der UdSSR 194679 Einsatzbereiche
Anzahl der eingesetzten Kriegsgefangenen in absoluten Zahlen in Prozent
Bau, inkl. Straßen und Eisenbahnen Heiz- und Energieindustrie Rüstungsindustrie u. Min. f. Streitkräfte Baumaterialerzeugung u. Holzindustrie Metall- und Maschinenbauindustrie Div. Industriesparten u. Landwirtschaft
645532 410793 319098 247576 143044 67822
35,2 22,4 17,4 13,5 7,8 3,7
1 8 3 3 865
100
Gesamt
Zwischen 1943, dem Beginn der ersten größeren Arbeitseinsätze, und dem 31. Dezember 1949, dem Abschluß der Repatriierung der nicht verurteilten Kriegsgefangenen, wurden insgesamt 1077 564200 Mann-Tage für die Sowjetunion erarbeitet. Davon dürften aufgrund der Zusammensetzung der Kriegsgefangenen und Internierten knapp zwei Drittel von Deutschen geleistet worden sein: Insgesamt knapp 38 Milliarden Rubel an geschaffenem Wert für die sowjetische Volkswirtschaft 80 und das bei Zugrundelegung der niedersten von der NKVD-Statistik für die Kriegsgefangenen errechneten Wertberechnungstabellen81, die sich am Lohn der Kriegsgefangenen 82 orientierten. Es gibt praktisch kein größeres Bauvorhaben, kein größeres Industrieprojekt der Sowjetunion in den ersten fünf bis zehn Jahren der Nachkriegszeit, an dem 77
78 79
C C h l D K , F. lp, op. 4i, d. 1. Auszug aus der G O K O - W e i s u n g v. 13. 8. 1945. Demnach wurden noch im Sommer 1945 = 708 000 Personen aus den Gebieten der sowjetischen Fronten entlassen und es dem N K V D „gestattet, die Zahl der den Ministerien zugewiesenen Kriegsgefangenen-Arbeitskräfte um 7 0 8 0 0 0 Personen zu verringern". C C h l D K , F. lp, op. lOi, d. 1. Bericht. Quelle: Zusammenstellung nach: C C h l D K , F. lp, op. lOi, d. 1. Bericht
80 E b d 81
82
Ebd. Bericht: Lohnwertberechnung inklusive der Zuwendungen der landwirtschaftlichen Organisationen. Ebd. Der Arbeitslohn pro Tag betrug für Kriegsgefangene, nach einem äußerst komplizierten Punkte- bzw. Normensystem, durchschnittlich 17 bis 60 Rubel. Davon hatten die Kriegsgefangenen jedoch noch bedeutende Fixausgaben zu leisten.
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nicht auch, großteils sogar wesentlich, deutsche und österreichische Kriegsgefangene und ausländische Internierte beteiligt gewesen wären: Vom Bau eines Kolchosbetriebes in der Ukraine, über die Wiederingangsetzung der Kohlereviere im Donbas, die Kohlenversorgung von Leningrad, über die Prestigebauten der Stalinzeit, das größte Wasserkraftwerk der Welt, Eisenbahnlinien, die Metro in Moskau, Kanäle, das Dynamo-Stadion in Moskau, Rüstungswerke im Ural, Goldbergwerke in Ostsibirien bis zum Bau jener Institutsräumlichkeiten, in denen später die sowjetische Atombombe entwickelt wurde. Neben der physischen Arbeit nutzte die Sowjetunion auch bedeutende geistige und technische Leistungen von Kriegsgefangenen und Internierten. Als Resultat erhielt die Sowjetunion rund hundert wissenschaftlich-technische Vorschläge, die eine positive Beurteilung der sowjetischen Forschungsstellen und Ministerien erfuhren und daher für die Volkswirtschaft der UdSSR genutzt wurden. Die Aussicht auf eine frühere Repatriierung, höhere Essensrationen oder bessere Lebensbedingungen genügten zumeist, um Techniker und Wissenschafter zu bedeutenden Leistungen anzuspornen 8 3 . Im Jahre 1946 waren bis zu 1600 hochqualifizierte Spezialisten im Archipel G U P V I aussortiert worden. Unter ihnen befanden sich rund 570 Maschinenbauingenieure, beinahe 260 Architekten, etwa 220 Elektroingenieure, mehr als 110 Doktoren der Mathematik, Chemie und Technik, sowie Ingenieure aus weiteren zehn Fachgebieten. Zu ihnen zählten einige der bedeutendsten Forscher und Leiter von deutschen Firmen, wie Christian Manfred, bedeutender Spezialist für Gasturbinen und früherer technischer Direktor der Motorenbaufirma „Argus" 8 4 . Dazu kamen gezielt aus dem sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands ausgewählte und in die Sowjetunion verbrachte hochqualifizierte Wissenschafter und Forscher vor allem zur Entwicklung der sowjetischen Atombombe. Manfred von Ardenne, der im „Dritten Reich" an Versuchen zur Herstellung einer Kettenreaktion als Basis für den militärischen Einsatz einer Atombombe gearbeitet hatte, war unter ihnen. Den deutschen Forschern hatte man zwei eigene und völlig abgeschlossene Forschungsstätten mit den dazugehörigen Unterkünften, Siedlungen und Annehmlichkeiten zugewiesen. An der erfolgreichen Zündung der ersten sowjetischen Atombombe am 29. August 1949 besaßen jedoch nicht nur die deutschen Atomwissenschafter in der Sowjetunion wesentlichen Anteil, sondern auch einfache Kriegsgefangene, die in den verschiedenen Baubrigaden die entsprechenden Institute und Anlagen dazu errichtet hatten 85 . Trotz der bedeutenden Einnahmen, die die Lager für die Arbeitsleistung ihrer Kriegsgefangenen von den Auftraggebern erhielten, bilanzierten die meisten G U P V I - L a g e r bis zu ihrer Auflösung negativ. Besonders krasse Mißverhält-
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Ebd. Zu ihnen zählte etwa auch der spätere österreichische Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Siehe seinen Personalakt, C C h l D K , F. 460p, d. 893498 und F. 4p, op. 24a, d. 36 (Einführung in die vergleichende Verhaltensforschung). G A R F , F. 9401, op. 2, d. 137, Sondermappe Stalins. Bericht des Innenministers der U d S S R S. Kruglov vom 22. 6. 1946. D a z u u. a. Pestov, B o m b a . - Herrn Konstantin Zavojskij, Moskau, danke ich auch hier für entsprechende Hinweise und Hilfestellungen.
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nisse ortete das N K V D schon 1945 8 6 in den Lagern 525 (im Gebiet Kurgansk), 516 (im Gebiet Sverdlovsk) und 515 (in der Nordossetischen ASSR). Im Lager 514 (in Novokuzneck) standen den Einnahmen von bloß 2000 Rubel Ausgaben in Höhe von 300000 Rubel (!) gegenüber. Insgesamt arbeiteten die Kriegsgefangenen für bezahlte Arbeiten in Wirtschaftsorganen, in Nebenwirtschaften der Lager und in der Konsumgüterproduktion 81046 000 Mann-Tage. Dafür erhielten die Lager Gesamteinnahmen in Höhe von 1762 951000 Rubel, während die Ausgaben für den Unterhalt der Kriegsgefangenen im Ausmaß von 2101 677000 Rubel deutlich über den Einnahmen lagen und schwer defizitär waren 87 . Es ist dabei bezeichnend, daß einige GULAG-Lager-Gruppen aktiv bilanzierten. Der durchschnittliche Tagesverdienst im Jahr 1949 unterschied sich in den einzelnen Lagertypen grundlegend: Er lag zwischen 21,98 Rubel in den Lagern des M V D - U M V D , 14,98 Rubel in den Lagern des Angarstroj (Wasserkraftwerksprojekt an der Angara) und bloß 9,54 Rubel in einigen Lagergruppen des G U L A G 8 8 . Wie wichtig der Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen geworden war, geht auch daraus hervor, daß immer wieder ausgehandelte Repatriierungen durch Interventionen diverser betroffener Stellen und Trusts hinausgeschoben wurden.
Repatriierung Die Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion ist untrennbar mit der internationalen Politik, dem beginnenden „Kalten Krieg", dem politischen Klima zwischen dem westdeutschen Staat und der Sowjetunion sowie mit der innenpolitischen Entwicklung in der UdSSR selbst verbunden. International verbindliche Normen fallen dabei nicht ins Gewicht. Zweifelsfrei hatten jedoch die deutschen Kriegsgefangenen in den Augen und Argumenten der Sowjets die Hauptlast der moralischen Verantwortung für den Krieg und die Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung zu tragen. Damit kann etwa auch erklärt werden, daß die Sowjetunion die deutschen Kriegsgefangenen rund ein Jahr länger behielt als die aus Österreich stammenden 89 . Die ersten Repatriierungsanordnungen vom Juli und August 1945 9 0 betrafen die Rückführung von mehr als einer Million demobilisierter Soldaten, etwa drei Viertel von ihnen aus dem sowjetischen Frontlager-Netz, ein Viertel aus den Lagern und Spezialspitälern des N K V D , die sich im Hinterland der Front befunden hatten. Dabei handelte es sich in erster Linie um kranke, verwundete
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Dazu und zum Folgenden C C h l D K , F. l p , op, 3i, d. 73. Bericht des N K V D , Generalmaj o r Berenzon, v. 19. 6. 1945. Ebd. - Laut Plan war ein Abgang von 242 907 000 Rubel einkalkuliert gewesen. C C h l D K , F. lp, op. lOi, d. 1. Bericht Karmanov/Zajcev v.10. 5. 1950. Auswertung der Datenbasis der österreichischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Wien. Herrn Harald Knoll, Μ . Α., Graz, danke ich in diesem Zusammenhang besonders für seine Hilfestellung. G O K O - A n o r d n u n g e n 3921ss v. 4. 7. 1945 sowie 9343ss v. 13. 8. 1945, C C h l D K , F. lp, op. 34a, d. 8, S . l .
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oder invalide kriegsgefangene bzw. eigentlich demobilisierte Italiener, Belgier, Jugoslawen, Tschechen, Slowaken, Holländer, Ungarn, Rumänen, Polen, Österreicher und Deutsche, soweit diese Unteroffiziere oder Mannschaften waren. „Hatte doch", so das N K V D in seiner internen Begründung, „die Verbringung dieser Menschen in das Hinterland keine praktische Bedeutung gehabt, weil die Arbeitsfähigkeit eines Großteils von ihnen nicht gegeben war" 9 1 . Die Repatriierung erfolgte in dieser Frühphase im wesentlichen ohne entsprechende Bescheide, in seltenen Fällen mit notdürftigen Entlassungspapieren. Die Sowjets ließen die entwaffneten Soldaten einfach frei. Einige Lager legten lediglich Namenslisten der Entlassenen an, andere verlangten von den Entlassenen eine Bestätigung per Unterschrift auf den Namenslisten oder stellten lediglich summarisch die Zahl der Entlassenen nach Nationalitäten fest. Und nur ganz wenige führten exakte Repatriierungsakten 9 2 . A b September 1945 begannen, wie bereits angedeutet, die ersten regulären Ubergaben von Kriegsgefangenen an die jeweiligen Regierungen ihrer Herkunftsländer: Vor allem Franzosen 9 3 und Rumänen 9 4 . Es folgten 1946 hauptsächlich Kriegsgefangene westlicher Länder sowie meist aus politischen Gründen vorzeitig entlassene Gefangene ost-mittelosteuropäischer Staaten. Dieses Bild änderte sich ab der Jahresmitte 1947 schlagartig, als mit der Rückführung der Ungarn und Österreicher die Sowjetunion erstmals Massenrepatriierungen durchzuführen begann 9 5 . Insgesamt dürften in der zweiten Jahreshälfte 1947 etwa 6 5 0 0 0 0 Kriegsgefangene in ihre Herkunftsländer entlassen worden sein 96 , unter ihnen waren in 34 organisierten Heimkehrertransporten 4 7 7 4 0 Heimkehrer, die nach Österreich (Wiener Neustadt) repatriiert wurden 9 7 . Waren die vereinzelten Kriegsgefangenentransporte 1946 und zu Anfang 1947 noch über die Transit- und Repatriierungslager Odessa, Marmaros Sziget, Grodno und St. Valentin an der Enns geführt worden, so hatten mit Beginn der organisierten Massenentlassungen Frankfurt an der Oder sowie die zwei rumänischen Lager in Marmaros Sziget und Focani diese Aufgaben übernommen. Die Masse der deutschen Kriegsgefangenen wurde 1948 über Frankfurt an der Oder repatriiert. Im ersten Quartal 1950 wurde die Rückführung aller Kriegsgefangenen aus der U d S S R im wesentlichen abgeschlossen 9 8 . Somit repatriierte die Sowjetunion bis
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Ebd. Ebd., S. 2. Die Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte des N K V D hatte den Lagern dazu auch keine entsprechenden Anordnungen und Formulare zur Verfügung gestellt. Ebd., Erl aß des S N K der UdSSR v. 26. 6. 1945, Nr.1497-341. Ebd., Erlaß des S N K der UdSSR v. 11. 9. 1945, Nr.2315-599ss. Ebd., Bericht Gavrilov, Schlußfolgerungen. Ebd., Erlässe des S N K 1263-519ss v. 18.6. 1946, Nr.l022-305s, Nr.l571-414s, Nr.3545-1167ss v. 11.10. 1947 und 396-152ss. Die Ungarn wurden per SNK-Erlaß Nr. 1 5 2 1 ^ 0 2 v. 13. 5. 1947, die Österreicher per SNK-Erlaß Nr.2773-377ss v. 2. 8. 1948 repatriiert. Nach BMfl, Wien, Unterlagen des Österr. Bundesministeriums für Inneres, Abt. IV/4. Mitteilung der TASS v. 5. 5. 1950. Vgl. C C h l D K , F. lp, op. 34a, d. 8, Bericht, verm. 1950,
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31. März 1950 nach ihren eigenen Angaben insgesamt 3 1 6 8 1 0 9 Kriegsgefangene und Zivilinternierte 9 9 . Tabelle 3: Die größten Kontingente an repatriierten Kriegsgefangenen und Zivilinternierten aus der Sowjetunion nach Bestimmungsländern 1 0 0
Bestimmungsland
Anzahl
Deutschland Japan Ungarn Rumänien Osterreich
1399099 510409 377411 194069 120619
Selbst während der Repatriierung wurden die deutschen Kriegsgefangenen noch ideologisch geschult, in der Hoffnung, daß sie als Botschafter des sozialistischen Systems in der Heimat aktiv würden. Dazu fuhren noch in den Heimkehrer-Zügen Politagenten mit, wurden in Spezialseminaren Agitatoren für jeden Waggon ausgebildet, nach Zugsgarnituren antifaschistische Komitees zusammengestellt und teilweise sogar eigene Agit-Waggons mitgeführt 1 0 1 . Vor der Abfahrt der Zuggarnituren hatten die Heimkehrer noch antifaschistische Meetings und Versammlungen zu absolvieren, bei denen meist Dankschreiben an Stalin und andere Führer der Sowjetunion abgefaßt wurden 1 0 2 . D e r Großteil der deutschen Kriegsgefangenen und Zivilisten in sowjetischer Hand konnte wiederum nach Deutschland zurückkehren, jeder fünfte erlebte freilich die Heimkehr nicht mehr. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft dürften insgesamt zwischen 1941/42 und 1956 rund 3 5 0 0 0 0 Deutsche verstorben sein. Sie waren in einem Personalakt oder mit einer Eintragung in einem Friedhofsbuch bzw. in einem Spezial-Spital registriert worden. Die Zahl der vor der Registrierung Verstorbenen läßt sich nur schätzen, sie dürfte an die 200 000 betragen haben 1 0 3 . Eine kleine Zahl von Deutschen zog es - aus welchen Gründen auch immer vor, in der Sowjetunion zu verbleiben. Sie waren eine feste Lebensverbindung
S. 4. Der Abschluß der Repatriierung der Japaner wurde zuvor, ebenfalls per TASS-Meldung v. 22. 4. 1950 bekannt gegeben. 9 9 C C h l D K , F. lp, op. 34a, d. 8, Bericht, verm. 1950, S. 5. - Von den 3168 109 Personen wurden - nach NKVD-Angaben - für 2715 982 Personen Akten mit Namensverzeichnissen, für 181250 Personen Akten ohne Namensverzeichnisse, für 193140 Personen nur Namensverzeichnisse und für 20 626 Personen nur Verzeichnisse angelegt. Die Zahlenangaben dieses GUPVI-Bestandes korrespondieren nicht mit jenen des M V D aus dem Jahre 1956. 1 0 0 Quelle: C C h l D K , F. lp, op. 34a, d. 8, Bericht, verm. 1950, S. 5. 101 C C h l D K , F. lp, op. 34a, d. 8, Bericht, verm. 1950, S. 9. Zum Aufbau eines Heimkehrer„Eschelons" siehe die graphische Darstellung im C C h l D K , F lp, op. 61, d. 139, S. 245. 102 Siehe die entsprechenden Alben der Antifa im C C h l D K . 103 Schätzung aufgrund der Berichte der sowjetischen Zugsgarnituren und Frontlager. Die Aufarbeitung dieser Quellenmassen steht derzeit noch aus.
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eingegangen, durch verschiedenste Versprechungen zum Verbleib in der UdSSR überredet worden oder hatten im kommunistischen System sowjetischer Prägung persönliche Vorteile für sich gefunden. Andere waren durch ihre Tätigkeiten für die Sowjetunion in eine Situation gekommen, die eine Einbürgerung als ratsam erscheinen ließ.
Traugott Wulfhorst Der „Dank des Vaterlandes" Sozialpolitik und -Verwaltung zur Integration ehemaliger Wehrmachtsoldaten und ihrer Hinterbliebenen
I. Versorgung und Fürsorge für Heimkehrer und Kriegshinterbliebene in der Sicht des Sozial- und Staatsleistungssystems sowie der Ideologiekritik 1. Rahmenbedingungen für einen „Dank des Vaterlandes" Seit dem Zusammenbrach einzelner Frontabschnitte und der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 strömten die Angehörigen der Wehrmacht (§ 2 Abs. 1 BVG 1 ), die 1944 etwa 11 Mill. Soldaten umfaßte, direkt von der Truppe oder - zum größeren Teil - nach Kriegsgefangenschaft oder Internierung in Wellen bis 1955 überwiegend ins heutige Bundesgebiet, und zwar in die drei Westzonen 1945 und 1946 mehrere Millionen, 1947 und 1948 mehrere hunderttausend, ab 1949 abnehmend, 1955/6 noch einige tausend 2 . Diese Heimkehrer, wie sie hier genannt werden, konnten nicht den sonst nach Kriegsende üblichen „Dank des Vaterlandes" erwarten, nämlich nach einer geordneten Demobilisierung öffentliche Hilfen der Gemeinschaft für eine individuelle Eingliederung ins Zivilleben, insbesondere ins Erwerbsleben. Auch die Kriegsbeschädigten aus der Wehrmacht sowie Witwen, Waisen und Eltern der Kriegstoten und -vermißten, insgesamt ca. 2 Mill. 3 , konnten nicht mit einer üblichen Versorgung rechnen. Für eine entsprechende staatliche Sozialpolitik, die sich nach dem Maßstab der Gerechtigkeit, vor allem der Gleichheit, u m das Ausgleichen von gruppentypischen wirtschaftlichen und sozialen Nachteilen und Belastungen einzelner Bürger bemüht 4 , fehlten anfangs deutsche Staatsorgane und später wegen der Besat-
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Bundesversorgungsgesetz = Gesetz über die Versorgung der O p f e r des Krieges vom 20. 12. 1 9 5 0 - B G B l I S . 791 - mit zahlreichen Änderungen, aufgeführt in den lfd. N e u a u s gaben des Gesetzestextes des Bundesministeriums f ü r Arbeit und Sozialordnung. Smith, H e i m k e h r , S. 11 ff., 34 ff.; Maschke/Ratza, Kriegsgefangene. N a c h der Bearbeitung aller Anträge w e r d e n eine Million ehemalige Wehrmachtsangehörige als Kriegsbeschädigte rentenberechtigt gewesen sein. Vgl. Schönleiter, Kriegsopferversorgung, S. 4, 29; H u d e m a n n , Sozialpolitik, S. 514ff.; z.B. erhöhte sich allein in Niedersachsen schon bis 1949 die Zahl der Versorgungsberechtigten gegenüber 1938 u m das Vierfache u n d die Zahl der Schwerbeschädigten gegenüber der Vorkriegszeit u m das Achtfache - Ministervermerk v o m 17. 3. 1949, Hauptstaatsarchiv H a n n o v e r , N d s 300 A cc. 5/67 N r . 268. Brück, Sozialpolitik, S. 20 f.
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zungsgewalt das notwendige Selbstbestimmungsrecht und durchgehend die erforderlichen Hilfsmittel 5 . Die staatliche Gemeinschaft hatte auch andere Gruppen von Benachteiligten zu versorgen: Militärdienstopfer aus der Kaiserzeit, besonders aus dem Ersten Weltkrieg, und der Reichswehr, Beschädigte aus dem Zweiten Weltkrieg, die - außerhalb der Wehrmacht - militärähnlichen Dienst geleistet hatten (§ 3 Abs. 1 BVG) oder als Zivilisten durch Kriegseinwirkungen, besonders Kampfmittelschädigungen (§ 1 Abs. 2 Bst. a, § 5 BVG), verletzt worden waren, sowie deren Hinterbliebene. Daneben gab es die Verfolgten des NS-Regimes; bis 1947 etwa 10 Mill. Ausländer, die während des Krieges als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren („Displaced Persons"). Hinzuzurechnen sind auch Flüchtlinge und Vertriebene aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze, allein in Westdeutschland über 9 Mill., außerdem fast 6 Mill. Flüchtlinge aus der Sowjetzone. Schließlich kamen über 7 Mill. Kriegssachgeschädigte 6 hinzu. Viele Bedürftige gehörten mehreren dieser Gruppen an, so daß ihnen vermehrt geholfen werden mußte. Andererseits waren die materiellen Voraussetzungen für staatliche Leistungen stark geschrumpft: durch Kriegszerstörungen, durch vielerlei Beeinträchtigungen der Wirtschaft, durch den Verlust wirtschaftlich wertvoller Gebiete im Osten, durch Reparationen, Demontagen und Besatzungskosten.
2. Systematisierung des Untersuchungsgegenstandes Die sozialpolitische Gestaltung der Eingliederung der Heimkehrer erstreckte sich auf verschiedene Gebiete des Sozialrechts i.w.S. Sie werden im Folgenden, um die geschichtliche Entwicklung verständlicher zu erfassen, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend, behandelt, unterschieden nach dem Recht für Kriegsopfer und dem für alle Heimkehrer. Die maßgebenden Bereiche, die seit 1976 nach und nach im Sozialgesetzbuch 7 zusammengefaßt werden, bestanden in Deutschland schon seit langem. Vorhandene Gesetzesinstrumente wurden für die neuen Aufgaben der Nachkriegszeit zeitgemäß genutzt. Neues Recht, das geschaffen werden mußte, setzte weitgehend die ältere Tradition fort. Zu untersuchen ist, ob und wie jenseits der kommunal zu finanzierenden, allein von einer Bedürftigkeit abhängigen, in den sechziger Jahren zur Sozialhilfe erweiterten Fürsorge die besonderen Bedürfnisse der Heimkehrer und Kriegshinterbliebenen durch Maßnahmen anderer Sozialrechtsgebiete befriedigt wurden, im wesentlichen auf Staatskosten. Für tatsächliche und potentielle Arbeitnehmer waren Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Umschulung als Leistungen der Arbeitsförderung wichtig, zusammenhängend mit der Arbeitslosenversicherung, einem Teil der beitrags-
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Eschenburg, Jahre. Borchert, Arbeitsmarkt, S. 9 , 2 8 3 f f . ; Betreuung, S. 7 f., 17; Eingliederung, S. 7f., 12f., 18f., 27 f f , 84 ff. Wulfhorst, Politik, S. 29 ff.; allgemein zur Eingliederung Wulfhorst, Behindertenrecht, S. 4 9 3 - 5 2 2 .
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abhängigen Sozialversicherung i.w.S., der Vorsorge. Für kriegs- und gefangenschaftsbedingt beschädigte Heimkehrer ging es um die Kranken- und die Rentenversicherung als Glieder der Sozialversicherung, für Schwerkriegsbeschädigte, solange die Kriegsopferfürsorge als Teil der Kriegsopferentschädigung (jetzt: Sozialen Entschädigung) ausgesetzt war, um eine berufliche Förderung nach dem Schwerbeschädigtengesetz, später um eingeführte Kriegsopferrenten für die Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen zur Sicherung und Verbesserung ihres Lebensstandards. Die von Dienst- und Kriegsbeschädigungen abhängige Soldaten- und Kriegsopferversorgung, auch für ehemalige Berufssoldaten, wird als Teil des Sozialrechts von der Sozialpolitik geregelt und ist der Sozialgerichtsbarkeit zugeordnet; dagegen gehört die allein von Dienstzeiten abhängige Versorgung der Berufs- und Zeitsoldaten - der Wehrmacht wie jetzt der Bundeswehr - nach dem Dienst zum Dienst- und Wehrrecht, von der jeweiligen Wehrpolitik gestaltet, mit dem Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten 8 . Gleichwohl konnte den Berufs- und Zeitsoldaten, die 1945 diese Rechte verloren hatten, ein Ausgleich zwecks Eingliederung allein sozialpolitisch verschafft werden.
3. „Entmythologisierung" der staatlichen Versorgungspflicht Nach traditionellem Verständnis hilft der Staat zum „Dank" seinen ehemaligen Soldaten, insbesondere den Dienstopfern, kraft der Vorstellung, der Militärdienst sei dem Vaterland als Schutzverband geschuldet, und dienstlich erlittene Opfer an Leben und Gesundheit seien für das Vaterland erbracht worden. Ohne eine entsprechende Dienst- und Opferbereitschaft ist das Durchhalten im Zweiten Weltkrieg nicht zu erklären; eine Furcht vor der mörderischen Kriegsgerichtsbarkeit 9 wird nicht der alleinige Grund gewesen sein. Ein unterschwellig wirkender Opfermythos wurde pseudoreligiös durch eine Fehlinterpretation des Bibelwortes begründet:"Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde" 1 0 . Der derart motivierte Opfergang erhöhte die Zahl der Kriegstoten und -verletzten. Aber eine weiterwirkende Mystifizierung des Krieges wie nach 1918 wurde durch den Verlauf und den Ausgang des Totalen Krieges sowie durch die allein pragmatisch zu lösenden Nachkriegsaufgaben verhindert, wie ein amerikanischer Forscher bestätigt 11 . Das NS-Regime, das sich die Dienst- und Opferbereitschaft mißbräuchlich zunutze machte, entkräftete selbst den Bezugspunkt Vaterland durch die offizielle Sprachregelung, daß die Kriegsopfer für „Führer und Großdeutschland" gefallen seien, und
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Wulfhorst, Politik, S. 83 f.; BSGE 64, 225. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz; dazu Wulfhorst, Rezension, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1989, S. 1 1 3 - 1 1 5 . U b e r die politische und soziale Rehabilitierung der O p f e r und der Hinterbliebenen Ende der vierziger und Anfang der neunziger Jahre, bes. nach dem B V G (su. VIII): BSGE 69, 2 1 1 ; dazu Wulfhorst, Politik, S. 68 ff.; ders., Entschädigung, S. 2 0 9 - 2 1 1 ; BSGE 7 0 , 1 6 4 ; B S G SozR 3 - 3 1 0 0 § 1 Nr. 16; Kröning, Recht und Politik (1995), S. 1 3 9 - 1 4 4 ; (1997), S. 84-90. Wulfhorst, Politik, S. 35 f. Diehl, Thanks, S. 230 ff.
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durch die tatsächlichen Machtverhältnisse, d.h. durch die persönliche Herrschermacht Hitlers, dem die Soldaten eidlich unbedingten Gehorsam geloben mußten. Es gab kein von den wirklichen Machtverhältnissen unabhängiges Vaterland, dem die Wehrmacht hätte dienen können. Die herrschende Meinung hat die Versorgung der Kriegsopfer bisher mit einem Aufopferungsanspruch begründet. Indes hat sie die notwendige Voraussetzung nicht beachtet: ein Opfer für das Wohl der Allgemeinheit. Diese Bedingung war nicht gegeben. Die historisch erwiesenen Kriegsschäden, die das Volk belasten, schließen die Wertung aus, die im NS-Bezugsfeld handelnden Soldaten hätten dem Wohl Deutschlands gedient 12 . Der Geschichtsverlauf hat eine Tradition zerstört, die früher legitimierend wirkte. Allein zukunftsbezogen, final und utilitaristisch ließe sich, wie dies die S E D in der D D R tat, die Eingliederungspolitik damit rechtfertigen, daß die benachteiligten Heimkehrer für den Wiederaufbau als Arbeitskräfte benötigt würden 1 3 . Indes läßt sich damit keine Entschädigung begründen, die die Integrationskraft des Einzelnen stärken kann. Dazu bedarf es einer Kausalitätsbeurteilung. Ohne auf Verdienst und Opfer für die Allgemeinheit zurückzugreifen, ist der Entschädigungsanspruch gegen den Staat allein darauf zu stützen, daß jemand durch Einwirkungen geschädigt wurde, die die staatliche Gemeinschaft zu vertreten hat 14 . Allerdings ließ in der ersten Nachkriegszeit die bittere Enttäuschung über die NS-Herrschaft bei der Allgemeinheit nicht eine ausreichende Bereitschaft entstehen, über notwendigste Hilfen hinaus für die Folgen einzustehen 15 .
II. Ende der speziellen Entschädigungen und Hilfen für ehemalige Soldaten und Hinterbliebene als Folge des Zusammenbruchs von 1945 Anstelle von deutschen Organen hatten die vier Sieger- und Besatzungsmächte die staatliche Gewalt übernommen und übten sie gemeinsam durch den Kontrollrat als Spitze aus. Nachdem sie das verheerende sogenannte NS-Regime beseitigt hatten, wollten sie die kriegführende Macht, den deutschen Militarismus, der vom NS-Regime zur zweiten „Säule" des Staates erklärt worden war, vernichten. Die ehemaligen Soldaten sollten keine Sondervergünstigungen mehr erhalten. Darin waren sich die Alliierten einig. Sie hoben nachträglich die früheren Versorgungsgesetze auf, von denen das letzte an den Wehrdienst in der Wehrmacht als einen „Ehrendienst" angeknüpft hatte 16 . Die Voraussetzung dieser Versorgung war allerdings schon mit der Auflösung der Wehr-
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Wulfhorst, Politik, S. 41 ff. RdSchr. N r . 95, 5. 12. 1947 der S E D Thüringen, Thür. Hauptstaatsarchiv Weimar, Akte des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit N r . 3937, Bl. 2, Anl. Wulfhorst, Politik, S. 38 f., 88 ff. Zu weitergehenden Bestrebungen der Kriegsopfervertreter, s. Chronik V d K Hessen, S. 49 ff., 207 f. Wulfhorst, Politik, S. 38, 69, 92 f., 207f.; Präambel des Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetzes vom 26. 8. 1938 - R G B l I, S. 1077.
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macht, die deklaratorisch 1946 nachgeholt wurde, entfallen 17 . Unter den vier Mächten war aber umstritten, wie die Leitnorm „Entmilitarisierung" in der jeweiligen Zone, in der jede Besatzungsmacht selbständig herrschte, im einzelnen normativ verwirklicht werden sollte, und zwar als Heimkehrerintegration im Rahmen einer nicht am Militärwesen ausgerichteten Sozialpolitik. In den vier Zonen wirkten sich unterschiedliche Herrschaftsstile inhaltlich und organisatorisch aus 18 . Anfangs war unter der Besatzungsherrschaft eine integrative Sozialpolitik in Form eines „Dankes des Vaterlandes" ausgeschlossen, denn die Besatzungsmächte wollten Militarismus ja ausrotten, nicht belohnen und den inneren Frieden allein für ihre Sicherheit wahren sowie die Arbeitskräfte für ihre Zwecke verwenden. Die harte alliierte Sozialpolitik gegenüber den Heimkehrern und Hinterbliebenen bewirkte - ähnlich wie Entnazifizierung und Umerziehung (Reeducation) - weithin das Gegenteil des Angestrebten.
III. Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Umschulung für Heimkehrer Die meisten Heimkehrer mußten vor allem eine Erwerbsarbeit finden. Viele benötigten dafür eine Arbeitsvermittlung, nicht wenige vorher eine Berufsberatung und eine Umschulung oder Erstausbildung. Da allmählich die Aufbauarbeit begann und viele in Schwarzarbeit und auf den Schwarzen Markt auswichen, gab es bis 1949 nur eine geringe Arbeitslosigkeit; sie überschritt erst ab Anfang 1950 10 v. H. 1 9 . Vor allem wurden Kräfte für Landwirtschaft, Bergbau und Baugewerbe benötigt. Viele Heimkehrer waren aber kriegsbeschädigt, behandlungsbedürftig und in schlechtem Ernährungszustand oder um eine abgeschlossene Schul- oder Hochschulausbildung bemüht, „Kopfarbeiter" oder ohne Berufsausbildung, u. a. die Berufs- und Zeitsoldaten. Die Arbeits- und Landesarbeitsämter waren, bis sie in der früheren Bundesrepublik für die Bundesanstalt für Arbeit tätig wurden, als Sonderbehörden der jeweiligen Besatzungsmacht und später dem Landesarbeitsminister unterstellt. Die Arbeitsämter wandten die Instrumente des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927, die eine Arbeitslosigkeit verhüten sollten, als Eingliederungshilfen gezielt zugunsten der arbeitsuchenden Heimkehrer an 20 . Sie wurden ausdrücklich aufgefordert, dieser großen Gruppe durch Beratung, Vermittlung und Umschulung zu helfen und sollten in der Gefangenschaft erworbene Berufskenntnisse beim leistungsbestimmenden Entgelt be-
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K R - D i r . N r . 18, 12. 11. 1945, A B l N r . 3, S. 43; K R - G e s e t z N r . 34, 20. 8. 1946, Abi, 31. 8. 1946, S. 58; Gesetz N r . 16 der All. H ö h . Komm., 16. 12. 1949, ABl N r . 72. Hudemann, Sozialpolitik, S. 400 ff.; vgl. auch S. 140 ff.; Deutschland- und Besatzungspolitik; Jarausch/Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung; Naimark, Russen. Abelshauser, Wirtschaft; ders., Probleme; Borchert, Arbeitsmarkt, S. 98 ff. §§ 1 3 3 - 1 4 0 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ( A V A V G ) , 16. 7. 1927, R G B l , S. 187; mit zahlreichen Änderungen in der Nachkriegszeit vgl. Schiekkel, Kommentare. Für die Sowjetzone s. Arbeit und Sozialfürsorge (1946), S. 32 f., 139 f., 244 f.
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rücksichtigen 2 '. Außerdem konnten Reisekosten bei auswärtiger Tätigkeit erstattet, Familienzuschläge gezahlt und Einarbeitungszuschläge gewährt werden. In den ersten Jahren waren solche Maßnahmen noch nicht Ausfluß einer Sozialpolitik, die speziell auf die Eingliederung der Heimkehrer gerichtet gewesen wäre. Sie wurden vorrangig im Interesse der Besatzungsmächte getroffen, die allgemein die Deutschen zur Arbeit verpflichteten 22 . Erst seit 1949 steht das individuelle Interesse des Arbeitsuchenden im Vordergrund, weil der fortgeltende Gesetzestext nunmehr durch das Grundgesetz mit seinem beherrschenden Grundrechtsteil geprägt wird 2 3 . Dagegen wurde in der Sowjetzone und in der D D R durchgehend der „Arbeitseinsatz" im Staatsinteresse hoheitlich gelenkt. Da viele ehemalige Soldaten auf den Arbeitsmarkt drängten, weitgehend auch Familienväter, verschlechterten sich gegenüber der Kriegszeit die Erwerbschancen für Kriegswitwen, von denen viele nun für ihre Kinder zu sorgen hatten. O b frühere Arbeitsverhältnisse von Soldaten weiterhin aufgrund einer Sonderregelung als nicht durch die Einberufung beendet galten, war allgemein umstritten; dies mußten einzelne arbeitswillige und -fähige Heimkehrer, deren Arbeitsplatz nicht durch Kriegsumstände verlorengegangen war, notfalls im Arbeitsgerichtsprozeß klären lassen 24 .
IV. Spezifische Heimkehrerhilfen 1. Regelloser Zustand Soweit Heimkehrer nicht kraft eigener Initiative oder mit Hilfe von Verwandten, Freunden oder Bekannten wenigstens notdürftige Unterkünfte und mindestens existenzsichernde Erwerbsarbeit fanden, halfen örtliche Behörden, nicht nur Arbeitsämter, bei der Eingliederung. Ein Erfolg hing von der Qualität der Behördenmitarbeiter ab sowie von objektiven örtlichen Verhältnissen, wie Bevölkerungsdichte und Arbeitsmöglichkeiten, die sehr verschieden waren. Auf öffentliche Hilfen waren sehr viele Heimkehrer wegen individueller Umstände, die den gegebenen Anforderungen nicht genügten, und wegen typischer Sonderbelastungen angewiesen 25 . Wehrdienst vor dem Krieg, Kriegsdienst und -gefangenschaft hatten entweder eine Schul-, Fach- oder Hochschul- oder Berufsausbildung nicht beginnen oder nicht abschließen lassen; Berufserfahrung
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Borchert, Arbeitsmarkt, S. 260ff., zu Umschulungen S. 210 ff.; Frerich/Frey, Handbuch, 2, S. 27. KR-Befehl Nr. 3, 17. 1. 1946, ABl der Militärregierung 1946, S. 82; für die Sowjetzone: SMAD-Befehle und Richtlinien, Arbeit und Sozialfürsorge (1946), S. 26-29, 292 ff. Gagel u.a., Arbeitsförderungsgesetz. Kommentar, I, § 1, Rz. 13ff., 59ff., 77ff. Verordnung, 1. 9. 1939, R G B l I, S. 1683; Borchert, Arbeitsmarkt, S. 262 f.; für die Sowjetzone Helm, Arbeit, S. 378-380. Smith, Heimkehr, S. 13, 107 ff., 122, 186; Diehl, Thanks, S. 67 f.; Ischenin, Heimkehrer, S. 39 ff., 92 f.; Scheib, Gefangenschaft, S. 151 ff., 183 ff.; Biess, Returning POWs.
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fehlte vielfach. Außerdem waren im Militärdienst und in der Gefangenschaft die Fähigkeiten zur selbständigen Lebensgestaltung nicht geübt oder sogar gelähmt worden. Nicht wenige hatten nach langer Trennung Familienprobleme. Die gesellschaftliche Eingliederung der Heimkehrer war sehr komplex; bei ihr kamen verschiedene typische, auch sonst, besonders bei Emigranten vorkommende Arten der Eingliederung zusammen, die das Einleben sogar erschweren konnten 26 .
2. Regelungsansätze Als erste überregionale Institution nahm sich der Länderrat für die drei im Herbst 1945 gebildeten Länder der amerikanischen Zone der Kriegsgefangenen an; er bildete eine gemeinsame Dienststelle. Primär drängte er auf eine Entlassung der Gefangenen, die die Gewahrsamsmächte völkerrechtswidrig verzögerten, um möglichst lange billige Arbeitskräfte zu behalten 27 und koordinierte die Betreuung. Nach Bemühungen, die Ende 1946 begannen, billigte die Besatzungsmacht im April 1947 einen Kriegsgefangenen-Ausschuß. Bedürftige Heimkehrer erhielten freigegebene Uniformteile der Wehrmacht und der USArmy; allerdings funktionierte die Organisation über zwischengeschaltete Privathändler nicht. In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen (britische Zone) wurden Ende 1947 die Bezirksfürsorgeverbände zu umfassenden Hilfen für Heimkehrer verpflichtet 28 . Der Zonenbeirat der britischen Zone konnte, nachdem anfangs seine Bestrebungen als Verletzung der Viermächte-Politik erfolglos geblieben waren, im Sommer 1947 einen besonderen Ausschuß bilden, in dem auch Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften mitarbeiteten 29 . Ein gemeinsames Gremium für alle vier Zonen kam nicht zustande. Bei der Zusammenarbeit der Zentralstellen der amerikanischen und der britischen Zone scheint die erstgenannte führend gewesen zu sein. 1947 wurde der Zugang zu den Hochschulen im Westen u.a. für Heimkehrer, die kriegsbeschädigt oder mindestens drei Jahre lang in Kriegsgefangenschaft waren, erleichtert 30 . 1949/50 bekamen über 11 000 Berufsanwärter des Handwerks und der Industrie im Vereinigten Wirtschaftsgebiet (amerikanische und britische Zone seit Januar 1947), darunter wohl auch viele Heimkehrer, eine monatliche Beihilfe von 40 DM.
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Scheib, Gefangenschaft, S. 123 ff. Smith, Heimkehr, S. 14 f., 46 f., 61 ff., 82 ff., 90 f. Keese, Fürsorge, S. 90. Smith, Heimkehr, S. 86 ff.; über Aktivitäten privater Gruppen und Verbände: S. 1 1 9 ff., 170 ff.; Scheib, Gefangenschaft, S. 171 ff. Smith, Heimkehr, S. 114 f.
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3. Maßnahmenbündel nach dem Heimkehrergesetz Erst mit der Gründung der Bundesrepublik wurde eine umfassende und zentrale Eingliederungspolitik möglich. Anknüpfend an einen Entwurf des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, beschloß der Bundestag 1950 einstimmig das Heimkehrergesetz 3 1 . Die mitwirkenden Beamten und Politiker leisteten ebenso wie bei anderen Kriegsfolgengesetzen Bewundernswertes. Eine Novelle von 1953 erweiterte den Kreis der Begünstigten über die Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaft und Internierung hinaus, weil die Alliierten viele Kriegsgefangene in andere Formen des Gewahrsams überführt hatten, um sie als Arbeitskräfte zu behalten 3 2 . Das Gesetz sah, z.T. 1953 ergänzt, folgende Leistungen vor, und zwar ungeachtet weitergehender Landesregelungen: Entlassungsgeld (150, später 200 D M ) , das schon vorher in der Sowjetzone 3 3 und in einigen Westländern gewährt worden war, Bekleidung und Gebrauchsgegenstände als Ubergangshilfe, z.T. ersatzweise Bargeld, Aufhebung von Zuzugsbeschränkungen, bevorzugte Zuteilung von Wohnraum, Mietzuschläge, Wiederaufleben eines früheren, inzwischen erloschenen Arbeitsverhältnisses, Verzicht auf erneute Zulassung zu einem freien Beruf, ζ. B. dem des Kassenarztes oder -zahnarztes, bevorzugte Arbeitsvermittlung und Einstellung in den öffentlichen Dienst mit erhöhter Altersgrenze, Kündigungsschutz in den ersten sechs Monaten, um das Einarbeiten zu erleichtern, Berufs- und Arbeitsberatung, Förderung einer Ausbildung, Beihilfen für eine vor dem Wehrdienst nicht beendete Ausbildung, Umschulung, Vergünstigungen für Arbeitslosenleistungen, in der gesetzlichen Krankenversicherung eine freiwillige Fortsetzung einer früheren Versicherung und einen Ersatz einer Vorversicherung durch den Gewahrsam, Ersatzzeiten für Wartezeit und Anwartschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Steigerungsbeträge für die Gewahrsamszeit, Vollstreckungsschutz, richterliche Vertragshilfe für Verpflichtungen auf wiederkehrende Leistungen, pauschale Freibeträge für die Einkommen- und Lohnsteuer. Wesentliche Starthilfen, besonders für den Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz, bot das bundesrepublikanische Gesetz über die Entschädigung ehemaliger Kriegsgefangener 3 4 , die nach dem 31. 12. 1946 entlassen wurden. Die Ehefrauen und sonstigen unterhaltsberechtigten Angehörigen von Kriegsgefangenen und anderen Personen, die im Zusammenhang mit Kriegsereignissen festgehalten wurden, erhielten seit April 1950 im damaligen Bundesgebiet eine Unterhaltsbeihilfe in H ö h e der Hinterbliebenen-Kriegsopferversorgung 35 . Diese Leistung, die es in einigen Teilgebieten schon vorher gab, sollte
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Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz), 19. 6. 1950, BGBl I, S. 221; 30. 10. 1951, B G B l I, S. 875, 994; Diehl, Thanks, S. 101 ff. Draeger, Gesetz, Einf. S. 1 ff. SMAD-Befehle N r . 178, 16. 7. 1947 und N r . 241, 17. 10. 1947, in: Foitzik, Inventar. V o m 30. 1. 1954, B G B l I, S. 5; v o m 12. 6. 1954, B G B l I, S. 143. Die Entschädigung rechtfertigte sich durch die Gefangenenarbeit als Reparation, Diehl, Thanks, S. 101 f., 107. Zu den Bemühungen des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen Deutschlands ( V d H ) um das Gesetz vgl. Freiheit ohne Furcht, S. 1 2 2 - 1 2 5 . Gesetz über die Unterhaltsbeihilfe für Angehörige von Kriegsgefangenen, 13. 6. 1950, B G B l I, S. 204; 30. 4. 1952, B G B l I, S. 262.
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ihre soziale Lage verbessern, solange der Unterhaltspflichtige in Gewahrsam war.
V. Heilbehandlung und orthopädische Versorgung für Kriegsbeschädigte Viele Kriegsbeschädigte konnten in Wehrmachtlazaretten und Versorgungskrankenhäusern nach Kriegsende weiterhin behandelt werden, ohne daß dies gesetzlich geregelt war. Finanziert wurde dies provisorisch aus staatlichen Mitteln. Für die kriegsbeschädigten Heimkehrer einschließlich derjenigen, die an Kriegsgefangenschaftsfolgen litten, ordneten die Besatzungsmächte generell eine Heilbehandlung zu Lasten und im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung an 36 . Die Länder mußten den Krankenkassen ihre Aufwendungen erstatten, wie das seit dem B V G wieder gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Zuordnung zur Sozialversicherung bei Endbelastung des Staatshaushalts war ebenso wie bei den noch zu erörtenden Renten - eine Sonderform der Kriegsopferversorgung kraft Staatshaftung. Ohne solche traditionelle medizinische Rehabilitation hätten viele Kriegsbeschädigte nicht oder nicht angemessen erwerbstätig werden können 3 7 . Das B V G schreibt seit 1974 ausdrücklich u.a. die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft als eines der Rehabilitationsziele vor; dies galt aber praktisch schon vorher. Zur Heilbehandlung im versorgungsrechtlichen Sinn gehört auch die Versorgung mit Körperersatzstücken sowie mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln (in der Krankenversicherung erst seit 1974). Vor der Währungsreform waren diese Leistungen wegen der Knappheit an notwendigen Rohmaterialien (Leder für Prothesen usw.) sehr stark beeinträchtigt. Für einzelne Gruppen von Beschädigten, besonders Blinde und Hirnverletzte, wurden trotz widriger Zeitumstände in manchen Kliniken Sonderrehabilitationen eingerichtet.
VI. Berufsfürsorge für Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene 1. Besonderheiten der Kriegsopferfürsorge, insbesondere Arbeits- und Berufsförderung Die Institution der Fürsorge für die Kriegsbeschädigten unter den Heimkehrern und für Kriegshinterbliebene wird traditionell von der Kriegsopferversorgung im engerem Sinne unterschieden, die die Entschädigungsrenten und die Heilbehandlung umfaßt. Das ist durch ihre Entstehung im Ersten Weltkrieg zu
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Kötter, Heilbehandlung, S. 63-94; Hudemann, Sozialpolitik, S. 441, 448, speziell zu den Versorgungskrankenhäusern S. 502 f. Die Zahlen der Behandehen sind nicht bekannt, da statistisch nur die Rentenberechtigten erfaßt werden, deren Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 v. H . gemindert ist.
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erklären. Aus Bürgerinitiativen hervorgegangen, die sich um die Eingliederung der entlassenen Kriegsbeschädigten in den Arbeitsprozeß bemühten, wurde die berufliche Rehabilitation neben „sozialen" Leistungen für Beschädigte und Hinterbliebene als „Kriegsopferfürsorge" organisatorisch ein Teil der Fürsorge, allerdings von der allgemeinen abgehoben als „gehobene" oder „soziale" Fürsorge 38 . Diese Zuordnung förderte individuelle Hilfen zur Selbsthilfe gemäß einem allgemeinen Grundsatz der Fürsorge und heutigen Sozialhilfe, worin die Bediensteten der zuständigen Stellen besonders erfahren sind. Ungeachtet dessen ist die Berufsfürsorge inhaltlich ein Zweig der Kriegsopferversorgung. Denn auf die berufliche Rehabilitation hat der Kriegsbeschädigte ebenso einen einklagbaren Entschädigungsanspruch wie auf die medizinische. Bis 1954 wurde dagegen für die Fürsorge schlechthin ein Rechtsanspruch abgelehnt. Außerdem hängt die Berufsförderung, abweichend vom Fürsorgeprinzip, ebenso wie der Kern der sozialen Entschädigung nicht von einer wirtschaftlichen Bedürftigkeit ab. Sachgemäß ist auch seit 1920 die Kriegsopferfürsorge mit der Berufs- und Arbeitsförderung in den Versorgungsgesetzen geregelt 39 .
2. „Getarnte" Berufsförderung nach dem Schwerbeschädigtenrecht in der Ubergangszeit Die „Entmilitarisierung" mußte auch die Kriegsopferfürsorge mit dem Kern der Berufsförderung verbieten. Gleichwohl wurde diese Eingliederungshilfe in allen vier Zonen der Sache nach jedenfalls den Schwerkriegsbeschädigten geboten, und zwar in der französischen Zone legal, sonst unter dem Deckmantel des Schwerbeschädigtenrechts 40 . Seit 1920 verpflichtete das Schwerbeschädigtengesetz 41 , Menschen, die im „Dienst für die Allgemeinheit" schwer gesundheitlich geschädigt wurden, zur Arbeit zum Nutzen der Allgemeinheit und für den eigenen Lebensstandard zu verhelfen. Die „Schwerbeschädigung" beginnt bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v. H. oder einer entsprechenden Versehrtenstufe. Geschützt sind die Opfer des Militärdienstes und Krieges sowie von Arbeitsunfällen. Als Sondervergünstigung für Kriegsopfer hätte dies nicht weiterzugehen brauchen. Die fortwirkende Gleichstellung mit den Arbeitsopfern liegt auf der mittleren Linie, auf die die Besatzungsmächte allmählich einschwenkten: Durch eine Gleichordnung, allerdings außerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung, einem Zweig der Sozialversicherung, sollte den Kriegsopfern eine der Notzeit entsprechende Lebensstellung oberhalb des Fürsorgeniveaus verschafft werden.
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Zur Geschichte Strohn, Kriegsopferfürsorge, S. 5 ff. Gesetz über die Versorgung der Militärpersonen und ihrer Hinterbliebenen bei Dienstbeschädigungen, Reichsversorgungsgesetz ( R V G ) vom 12. 5. 1920, RGBl I, S. 989; 30. 6. 1923, R G B l I, S. 513. Hudemann, Sozialpolitik, S. 450, 468; Szilagi (Bearb.), 50 Jahre, S. 11 ff.; Muthesius, Grundlagen, § 1 Anm. 3; Berichte des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter, 6. 4. 1920, RGBl I, S. 458; 12. 1 . 1 9 2 3 , R G B l I, S. 57.
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Die Arbeitgeber hatten auch damals eine Pflichtquote zu erfüllen, d.h. einen bestimmten Vomhundertsatz ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten zu besetzen. Diese Quote wurde in einzelnen Zonen und Ländern geändert. Nicht besetzte Pflichtplätze konnten durch behördliche Zuweisung von Schwerbeschädigten belegt werden. In den Westzonen konnte sich nach dem weiterhin angewendeten Gesetz von 1920 der Arbeitgeber durch eine Siedlerwohnstelle für den Lebensunterhalt eines Schwerbeschädigten „freikaufen" oder einen Ablösungsbetrag zahlen. Außerdem standen und stehen die Schwerbeschädigten unter einem besonderen Kündigungsschutz. Während die Schwerbeschädigten Arbeitsunfallopfer sachgerecht zu Lasten der Arbeitgeber zu fördern sind, läßt sich die ζ. T. von den Unternehmern zu tragende Förderung der Schwerkriegsbeschädigten nur als Sonderform der Kriegsopferversorgung kraft Staatshaftung rechtfertigen, wobei die Lasten grundsätzlich über die Preise auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. 1953 wurde das Schwerbeschädigtenrecht für die damalige Bundesrepublik vereinheitlicht, auch bezüglich des Zusatzurlaubs 42 . Die Auflage für Befreiungsfälle, die zu einer Geldablösung geführt hatte, wurde in eine feste Ausgleichsabgabe umgewandelt. Auch die zuvor in den einzelnen Bezirken unterschiedlich geordnete Zusammenarbeit zwischen den Fürsorgestellen und den Arbeitsbehörden, die bereits vorher, über die Schwerkriegsbeschädigten hinaus, kraft Sozialpolitik alle „Erwerbsbeschränkten" besonders zu betreuen, u. a. umzuschulen hatten, wurde neu geregelt. Vorher hatten Hauptfürsorgestellen aufgrund ihrer Erfahrung seit den zwanziger Jahren unter dem „Dach" des Schwerbeschädigtenrechts - ebenso wie andere Behörden - die Berufsförderung, u.a. Umschulungen, wie zuvor und später nach dem Vorbild der Kriegsopferfürsorge betrieben. Diese zeitgemäßen Hilfen wurden wohl allgemein im jetzigen Bundesgebiet gewährt, jedoch in unterschiedlichem Maße, abhängig von spezifischen Erfahrungen, von Einfallsreichtum und von den Initiativen der zuständigen Mitarbeiter. Zu ihnen gehörten auch viele neu eingearbeitete, ζ. T. umgeschulte Kriegsbeschädigte. Besonders ausführlich ist diese Eingliederungsarbeit, die ohne eine einheitliche Sozialpolitik betrieben wurde, innerhalb des höheren Fürsorgeverbandes (Provinzialverband, Landschaftsverband) Westfalen (-Lippe) als vorbildlich dokumentiert 43 . Die im Vordergrund stehende Berufsberatung wurde mit einer psychologischen Eignungsprüfung verbunden, damit die Beschädigten weder unter- noch überfordert würden. Entsprechende Erfolge der gewählten Umschulungen rechtfertigten diese Auslese. Die Verwaltung bediente sich für die Maßnahmen weithin privater gemeinnütziger Einrichtungen, die traditionell mit der Fürsorge zusammenarbeiteten. Auf diese Weise halfen die Erfahrungen, die mit der Berufsförderung Kriegsbeschädigter seit dem Ersten Weltkrieg gewonnen und dann für Behinderte anderer Art nutzbar gemacht worden waren,
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Gesetz, 16. 6. 1953, B G B l I, S. 389. Landesrat Haverkamp, Tätigkeitsbericht der Hauptfürsorgestelle für Schwerbeschädigte Westfalen 1 9 4 5 - 1 9 4 7 , Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Münster. In Niedersachsen veranstalteten das zuständige Ministerium, das Landesarbeitsamt und die Hauptfürsorgestelle 1949 eine Ausstellung über die Berufsfürsorge für Schwerbeschädigte, um für geeignete Arbeitsplätze zu werben; die Arbeitsbeschaffung sollte die Rentenaufwendungen vermindern.
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auf einem Umweg den Kriegsbeschädigten des Zweiten Weltkrieges. Internatsausbildungen sicherten zugleich den Lebensunterhalt der Schwerbeschädigten Heimkehrer. Auch ihre Familien wurden wirtschaftlich unterstützt. Uber die Finanzierung der Kurse hinaus mußte die Verwaltung in vielen Fällen Lebensmittel, Maschinen und Materialien beschaffen, um die Umschulungen zu sichern. Die Kriegsbeschädigten absolvierten durchweg die Lehrgänge in sehr kurzer Zeit und erfolgreich, schneller als übliche Ausbildungen, und konnten fast alle in Arbeit vermittelt werden. Da an manchen Orten keine Beschäftigung möglich war, förderte die Hauptfürsorgestelle besondere SchwerbeschädigtenWerkstätten und -betriebe, teilweise sogar durch eine Beteiligung. 1946/7 entstand für die amerikanische und britische Zone eine Arbeitsgemeinschaft der Hauptfürsorgestellen, die die Arbeit vereinheitlichen sollte; eine derartige Zusammenarbeit hatte die britische Militärregierung 1945 verboten 44 . Bevor wieder eine Kriegsopferversorgung eingeführt wurde, fehlte es an einer Anerkennung als Schwerkriegsbeschädigter, die auf die SchwerbeschädigtenFörderung hätte übernommen werden können; besondere Untersuchungen waren erforderlich. Dieses Problem bestand nicht in der Sowjetzone. Dort wurde ein gleicher Schutz wie nach dem alten Schwerbeschädigtenrecht auf alle Schwerbehinderten, unabhängig von der Ursache der Behinderung, erstreckt, also für Kriegsbeschädigte ohne Sondervergünstigung, wie dies in der Bundesrepublik erst 1974 nachgeholt wurde, entsprechend einer schon seit vielen Jahrzehnten von Verbänden erhobenen Forderung.
3. Entwickelte Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz Das B V G schuf mit Wirkung ab Oktober 1950 wieder die Kriegsopferfürsorge nach dem Vorbild der Weimarer Zeit, nun klar unterschieden in Arbeits- und Berufsförderung mit Rechtsanspruch (für die Beschädigten) und in „soziale Fürsorge". Den unterhaltsberechtigten Kindern von Kriegsbeschädigten und den Kriegswaisen hatte die Kriegsopferfürsorge eine ihren Fähigkeiten entsprechende Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Die Regelungen zugunsten aller kriegsbeschädigten Heimkehrer und der Hinterbliebenen wurden im Laufe der Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung und den Erweiterungen der Sozialhilfe 45 angepaßt. Die Sozialhilfe übernahm umgekehrt die berufliche Förderung. Dies alles hatte über den Kreis der Schwerkriegsbeschädigten hinaus der Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu dienen. Ende 1950 entstand, schon bevor das B V G beschlossen war, erneut ein Ausschuß der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenen-Fürsorge als Körperschaft des öffentlichen Rechts, nun beschränkt auf das alte Bundesgebiet (statt des Reichsgebietes). In diesem Gremium wirken Vertreter von Verbänden und fürsorgeerfahrene Personen mit. Der Ausschuß hat den zuständigen Minister des Bundes in grundsätzlichen Fragen, auch der Eingliederung, zu 44 45
Ebd., S. 74. Bundessozialhilfegesetz, 30. 6. 1961, B G B l I, S. 815.
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beraten, bestimmte gesetzliche Aufgaben selbständig zu erledigen und u. a. den Ausgleichsfonds, in den Ausgleichsabgaben nach Schwerbeschädigtenrecht gezahlt werden, zugunsten einzelner Schwerbeschädigter zu verwalten.
VII. Besatzungsrechtlich bestimmte Not-Renten für Kriegsopfer 1. Renten entsprechend früherem Recht im französischen Herrschaftsbereich 46 a) Planungen und Weisungen der Militärregierung Mit der Kriegsopferversorgung der ersten Nachkriegsjahre hob sich die französische Zone durch zweierlei von den anderen Zonen ab: 1. durch eine binnenzonale Zersplitterung nach dem französischen Besatzungsprinzip, die Ländergewalt zu stärken; 2. durch ein hohes Niveau der Leistungen nach der französischen Tradition, den Kriegsopfern besonderes Ansehen zukommen zu lassen und den militärischen Gegner zu achten. Zudem gab es in einzelnen Bezirken besondere Erleichterungen in der Verwaltungspraxis, bedingt durch das Wohlwollen von Besatzungsoffizieren. Grundsätzlich wurden die Leistungen nach den früheren deutschen Versorgungsgesetzen gewährt, obwohl der Kontrollrat sie aufgehoben hatte, allerdings wegen der Zeitumstände, u. a. wegen Anforderungen an den deutschen Staatshaushalt für die französische Wirtschaft, eingeschränkt. b)Südbaden Versehrtengelder und Grundrenten nach deutschem Recht wurden um zwei Drittel gekürzt, und einige Zusatzleistungen entfielen. Die Gesamthöhe lag aber über derjenigen in anderen Zonen und z.T. über derjenigen des späteren BVG. Deswegen stimmte Südbaden im Bundesrat 1950 gegen das BVG. Die alte Versorgungsverwaltung wurde beibehalten, allerdings mit personellen Veränderungen. Ab 1950 gab es wieder Versorgungsgerichte für förmliche Kontrollen. 1947/8 scheiterte ein deutscher Gesetzesentwurf, der einheitliche Regelungen für die ganze Zone nach dem Vorbild des RVG anstrebte, am Widerstand der Gewerkschaften, die die Kriegsopfer nicht besser als die Arbeitsopfer stellen lassen wollten, und am Beharren der Kriegsopfer auf der erreichten Rentenhöhe. Die letztgenannte Position scheint, von der Besatzungsmacht wohlwollend beobachtet, mit zur großen Mehrheit für die Erhaltung des selbständigen Baden beigetragen zu haben, als 1950 und 1951 darüber Volksabstimmungen stattfanden. c) Rheinland-Pfalz Regelungen des Oberregierungspräsidenten von Hessen-Pfalz, die auf französische Weisungen zurückgingen 47 , wurden für die Regierungsbezirke Koblenz, Montabaur und Trier übernommen, die nach früherem Recht ergangenen Ver46 47
Ausführlich Hudemann, Sozialpolitik, S. 140 ff., 455 ff. Rundverfügung v o m 12. 12. 1945, in: Amtl. Mitteilungen des Oberregierungspräsidiums Hessen-Pfalz 1946, S. 1.
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waltungsentscheidungen aufgehoben. Aber inhaltlich galt früheres Recht, später dem Unfallversicherungsrecht angenähert, mit gewissen Einschränkungen. Die Landesversicherungsanstalt, Trägerin der Rentenversicherung, zahlte die Renten auf Staatskosten. Die Renten waren niedriger als in Südbaden, aber höher als später in der Bizone. Verbesserte Regelungen, die der Landtag 1947 und 1948 beschloß, genehmigte die Militärregierung nicht. Aufgrund einer Erlaubnis, der eine Rücktrittsdrohung des Ministerpräsidenten Altmeier vorausgegangen war, erging mit Wirkung von Februar 1949 ein Landesversorgungsgesetz 48 , das im wesentlichen dem R V G folgte. Wer bei der Entnazifizierung als Hauptschuldiger oder Belasteter eingestuft war, erhielt keine Versorgung. Abweichend vom späteren B V G , in dem so genaue Regelungen fehlen, wurden die Hinterbliebenen von Opfern der Kriegsgerichtsbarkeit versorgt, wenn ein Soldat wegen Fahnenflucht oder „Wehrkraftzersetzung" hingerichtet worden war, als Deutschland schon besetzt war oder mit einer alsbaldigen Besetzung rechnen mußte, oder wenn das Urteil möglicherweise durch politische, rassische oder weltanschauliche Motive beeinflußt erschien. d) Württemberg-Hohenzollern Anfangs nach dem Krieg führte der Direktor für Arbeit und Soziales von Nordwürttemberg das dortige System - der amerikanischen Zone - im südlichen Landesteil ein, der zur französischen Zone gehörte. Teilweise zahlten die verbliebenen Behörden weiterhin Renten nach früherem Versorgungsrecht. Von 1947 bis 1949 setzten sich deutsche Bemühungen um eine Annäherung an das höhere Niveau Südbadens durch. Nach vielerlei Auseinandersetzungen wurde eine institutionell selbständige Kriegsopferversorgung dem Bizonenmodell angeglichen, jedoch mit höheren Renten, wenn auch niedriger als in Südbaden und in Rheinland-Pfalz 4 9 . e) Saarland Das Saarland, das bis Ende 1956 außerhalb der französischen Zone, später der Bundesrepublik, einen Sonderstatus mit einer Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunion mit der Französischen Republik hatte, regelte die Kriegsopferversorgung eigenständig durch Anwendung des R V G aus der Weimarer Zeit ab O k t o b e r 1945, allerdings mit Einschränkungen der Rentenhöhe, die später anstieg, u. a. im Weg von Wahlgeschenken, insgesamt der guten südbadischen Versorgung gleichend, wobei die saarländische Sonderrolle ausgenutzt wurde. Dies galt bis Ende Mai 1960; erst dann wurde das B V G eingeführt, das z.T. ungünstiger war 5 0 .
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Gesetz, 18. 1. 1949, GVB1, S. 11; I. Durchführungsverordnung, 25. 8. 1949, GVB1, S. 353, bes. § 2 Abs. 6. Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte, 11. 1. 1949, Regierungsblatt für Württemberg-Hohenzollern, S. 215. Gesetz über die Einführung des B V G im Saarland (EG-BVG-Saar), 16. 8. 1961, B G B l I, S. 1292.
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2. Kriegsopferrenten nach bizonalem Mischsystem a) Vorreiterrolle der amerikanischen Zone aa) Entstehungsprozeß Die Richtlinien für die Besatzungspolitik, die schon im Krieg beschlossen wurden, sahen die Weiterzahlung von Kriegsopferrenten im Rahmen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vor. Aber die praktizierte Politik folgte weder diesem Modell noch einer radikalen „Demilitarisierung"; sie wurde von vielerei Interessen wechselvoll gestaltet. Die Militärregierung änderte seit 1946 immer wieder deutsche Gesetzesentwürfe 5 1 . Schließlich kam es zu einem gemeinsamen Entwurf des Länderrates und nach weiteren Beanstandungen durch die Besatzungsmacht zu gleichlautenden Landesgesetzen; diese traten am 1.2. 1947 in Kraft. Wie ein deutscher Beamter, der an den Verhandlungen teilnahm, berichtet 52 , forderten die deutschen Vertreter eine eigenständige Kriegsopferversorgung. Schließlich genehmigte die Besatzungsmacht ein Mischsystem nach dem Vorbild der Unfallversicherung, ließ jedoch keine Sonderstellung gegenüber den Unfallopfern zu und beanstandete immer wieder Einzelheiten von deutschen Entwürfen. Im Gesetzestitel durfte der Begriff „Krieg" nicht verwendet werden. Indes ließen die Regelungen der Schädigungstatbestände erkennen, daß sie speziell Kriegsopfer betrafen, bb) Systematische Einordnung Während die Sowjetzone die Kriegsopfer, wie allgemein geplant, in die Sozialversicherung eingliederte, dagegen die französische Zone eine traditionelle Kriegsopferversorgung einführte, kam in der amerikanischen Zone ein Mischsystem zustande. Das Leistungssystem war vom Kausalitätsgrundsatz beherrscht und insoweit versorgungsrechtlicher Art. Gleichwohl war es trotz einer Abhebung von der Fürsorge z.T. von seinem Bedürfigkeitsprinzip bestimmt. Die Bemessung nach der Unfallversicherung war vertretbar; denn die kriegs- oder dienstbedingte Einwirkung gleicht weitgehend dem Arbeitsunfall. Organisatorisch und verfahrensmäßig, also auch für die Kontrolle im Spruchverfahren wurde aber diese „Versorgung", gleichsam wie Invalidenleistungen, den Landesversicherungsanstalten, Trägern der Rentenversicherung, einem anderen Zweig der Sozialversicherung als die Unfallversicherung, zugeordnet. Die unselbständige „Versorgung" der Kriegsopfer in die beitragsabhängige Sozialversicherung einzubeziehen, war, systemisch betrachtet, nicht sachwidrig, weil die für die Opfer verantwortliche staatliche Gemeinschaft die Aufwendungen erstattete. Formal regelten die Landtage die Materie, so daß das B V G diese deutschen Gesetze aufheben konnte. Aber inhaltlich hatten die Volksvertreter nach den Weisungen der Besatzungsmacht zu entscheiden, cc) Leistungen Auch die Leistungen bestimmten sich nach einem Mischsystem. Sie hingen nach allgemeinem versorgungsrechtlichem Grundsatz - anders als in der Un-
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G i m b e l , B e s a t z u n g s p o l i t i k , bes. S. 1 3 f f . , 152, 167ff., 299, 321; Staib, V e r s o r g u n g s r e c h t , S. 49 ff., 69 ff. Schieckel, G e s e t z , S. 2 ff. A u c h die V e r s o r g u n g der U n t e r o f f i z i e r e u n d M a n n s c h a f t e n im Kaiserreich war an die Sozialversicherung angelehnt, vgl. W u l f h o r s t , Politik, S. 205.
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fallversicherung - von einem Antrag („Anmeldung") ab. Der Schädigungstatbestand, der dem Arbeitsunfall entspricht, war traditionsgemäß - und ist es seit 1950 nach dem BVG (VIII) - eine Einwirkung durch den - militärischen Dienst (in bestimmten Verbänden außerhalb der Wehrmacht: militärähnlichen Dienst), zusätzlich eine unmittelbare Kriegseinwirkung, die ebenso Soldaten außerhalb des Dienstes wie Zivilisten treffen konnte. Die Beschädigtenrente wurde wie allgemein im Versorgungs- und im Unfallversicherungsrecht nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessen, nicht nach tatsächlichem Erwerbsschaden, jedoch zusätzlich wie für Unfallopfer nach einem Jahresarbeitsverdienst, allerdings nicht (wie für Unfallopfer) nach einem individuellen, sondern einheitlich für alle entsprechend einem fingierten festen Pauschalbetrag, der sich nach dem veränderlichen Arbeitseinkommen eines Hilfsarbeiters richtete. Die durch einen Höchstbetrag begrenzte Rentenhöhe sollte sich von den Fürsorgeleistungen abheben, erreichte diese jedoch in vielen Fällen tatsächlich nicht. Auf die Renten, auch für Witwen, wurden abgestuft Einkünfte aus Vermögen, Arbeit und aus sonstigen Renten angerechnet. NS-Belastete der Gruppen I und II blieben auf Heilbehandlung beschränkt, b) Übernahme für die britische Zone In der britischen Zone erhielten Kriegsopfer anfangs Bedürftigkeitsrenten, sodann Leistungen aus der Sozialversicherung, die z.T. unter dem Fürsorgeniveau lagen 53 . Der Zonenbeirat konnte eine eigenständige Versorgung nicht erreichen. Schließlich übernahm die Besatzungsmacht, als ihre Zone mit der amerikanischen zur Bizone verbunden wurde, ab August 1947 das amerikanische System, jedoch mit einigen Besonderheiten: Wegen der andersartigen Besatzungsorganisation erließ die britische Kontrollkommission - Abteilung Manpower - selbst die Regelungen als Besatzungsrecht, und zwar durch eine Sozialversicherungsdirektive 54 . Der Jahresarbeitsverdienst wurde auf einen bestimmten Betrag festgesetzt. Die Beschädigtenrente begann schon bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v. H. statt um 40 v. H. wie in der amerikanischen Zone. Verbesserungen, die ein einheitlicher Entwurf für beide Zonen, auf Vorschlag einer bizonalen Kommission, vorsah, traten nicht mehr in Kraft. Wohl erhöhten die Länder Hamburg, Niedersachsen und NordrheinWestfalen 1949 einige Leistungen.
3. Integration der Kriegsopfer in die sowjetzonale Rentenversicherung Die Sowjetunion betrieb die „Demilitarisierung" am radikalsten. Erst 1946 ließ sie Unterstützungen an bedürftige Beschädigte zahlen, ab 1948 Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. 2, a) bb) an Beschädigte, deren Erwerbsfähigkeit um zwei Drittel gemindert war oder die 65 Jahre alt waren, an Witwen ab 60 Jahren oder bei der Versorgung von Kindern sowie an Waisen. Teilweise
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Hudemann, Sozialpolitik, S. 447 ff.; Dobbernack, ArbBl (1947), S. 326-330. Nr. 27, 2. 5. 1947, ArbBl, S. 155; dazu Wilhelm Radtke, ArbBl (1947) S. 331-333.
Der „Dank des Vaterlandes"
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wurde eigenes Einkommen angerechnet 55 . Die Renten konnten bis zu einem Mindest- und einem Höchstbetrag reichen. Wer eine zumutbare Umschulung ablehnte, bekam keine Invalidenrente. Politische Aktivisten der NS-Zeit waren schlechthin ausgeschlossen. Die D D R übernahm dieses System 1949; sie erhöhte die Renten 1974 56 .
VIII. Entwickelte Eingliederungshilfen und Entschädigungen ab Oktober 1950 in der Bundesrepublik 1. Zustandekommen des Bundesversorgungsgesetzes In den politisch maßgebenden Kreisen der früheren Bundesrepublik war von Anfang an der Wille, die Kriegsopfer über die anfängliche Teilvers orgung und die spätere Not-Vollversorgung hinaus angemessen und einheitlich zu versorgen, so verbreitet und stark, daß alsbald ein Gesetzgebungsverfahren in Gang kam 5 7 . Inzwischen hatten die Kriegsopfer mächtige Interessenverbände, allerdings gemäß der alliierten Auflage als „Mischverbände", d.h. unter Beteiligung von Sozialrentnern. Diese Vertretungen verlangten naturgemäß höhere Leistungen als die bis dahin gewährten, mußten sich jedoch angesichts der vielerei Kriegsfolgen mit dem Gesamtvolumen abfinden, das die Politiker untereinander ausgehandelt hatten 58 . In Übereinstimmung mit den großen Verbänden wurde ein selbständiges Versorgungssystem mit differenzierten Leistungen entwickelt, wie es in der Weimarer Zeit nach den Grundsätzen des R V G gegolten hatte. Gegenüber dem Regierungsentwurf erreichten die Verbände, daß kein Opfer als politisch diskriminiert von der Entschädigung ausgeschlossen wurde. Der Bundestag nahm im Dezember 1950 das rückwirkend zum 1. Oktober in Kraft gesetzte B V G einstimmig an; nur die vier kommunistischen Abgeordneten enthielten sich der Stimme.
2. Leistungssystem Im Vordergrund der Versorgung, die seit 1960 auch im Saarland und seit 1991 in den neuen Bundesländern, anfangs mit einigen Besonderheiten, gilt, stehen die medizinische und die berufliche Rehabilitation, typische Eingliederungsmaßnahmen für die Beschädigten; deren Rente ist demgegenüber subsidiär. Für die Integration sind die vom Einkommen unabhängigen Grundrenten für Beschädigte, Witwen, Waisen und anfangs bei Bedürftigkeit für Witwer und für Eltern
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Leutwein, Leistungen, S. 75 ff.; Arbeit und Sozialfürsorge (1946), S. 163-165; (1948), S. 345 f . , 4 8 9 f. Verordnung vom 3. 11. 1949, in Arbeit und Sozialfürsorge (1949), S. 528; Verordnung vom 4. 9. 1974, D D R - G B 1 , S. 201. Hudemann, Kriegsopferpolitik, bes. 292 f. Diehl, Thanks, S. 78 ff., 110-139.
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- später ohne diese Einschränkung - sowie die ein geringes Einkommen ergänzenden Ausgleichsrenten zweifach bedeutsam: 1. gleichen die Renten kriegsbedingte, nach einer Rehabilitation verbliebene Schäden wenigstens ζ. T. aus die Grundrenten pauschaliert nach einem als typisch vermuteten Schaden - und 2. verbessern sie dadurch den Lebensstandard. Außerdem können die Grundrenten unter günstigen Bedingungen für den Erwerb von Immobilien für Wohnzwecke kapitalisiert werden. Ein spezieller und individueller Berufsschaden wurde anfangs nur durch eine Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt, zusätzlich durch einen Berufsschadensausgleich seit 1960 bei Erwerbsunfähigen, deren Rente nicht auf jene Weise erhöht werden konnte, seit 1964 für alle Schwerbeschädigten, seit 1979 für alle Rentenberechtigten. Seit 1960 wurde die Witwen-Ausgleichsrente wegen eines berufsgebundenen wirtschaftlichen Schadens, der durch den Tod des Ehemannes eingetreten war, erhöht; seit 1964 erhält die Witwe entsprechend einem solchen Schaden einen zusätzlichen Ausgleich. Diese beiden Ausgleichsleistungen sollen den Beschädigten und die Witwe dem Lebensstandard annähern, den sie vom Beruf des Beschädigten oder Verstorbenen her ohne den Kriegsschaden erreicht hätten. Der Beschädigte wird derart wegen eines Schadens in seinem individuellen Beruf nur dann entschädigt, wenn nicht eine zumutbare Berufsförderung einen Ausgleich schaffen konnte, die Witwe nach dem Unterschied zwischen dem bei Uberleben des Ehemannes zu erwartenden Berufseinkommen und ihrem tatsächlichen niedrigeren Einkommen. Diese Subsidiaritätsregelung ebenso wie die für Ausgleichsrenten, die Witwen, Waisen und Schwerbeschädigte erhalten können, beruht auf dem Grundsatz, daß diese Entschädigung nur insoweit gewährt wird, als sich Kriegsopfer nicht aus eigener Kraft helfen können, d.h. eine Integration nicht genügend gelungen ist. Für ehemalige Berufssoldaten ist ihr früherer Beruf nicht schlechthin maßgebend für die Schadensfeststellung, sondern bloß dann, wenn der einzelne ohne seine Kriegsbeschädigung wahrscheinlich - ausnahmsweise - in die Bundeswehr übernommen worden wäre. Darin kommt die „Entmilitarisierung" deutscher Tradition seit dem R V G von 1920 zum Ausdruck, die die Soldaten- und Kriegsopferversorgung nicht mehr nach der militärischen Dienststellung bemißt, sondern nach zivilen Berufsverhältnissen. In den 50er Jahren waren die Renten sehr niedrig. Sie wurden dann in Abständen erhöht, seit 1970 laufend entsprechend einem Vomhundertsatz, der sich auf Veränderungen in der Rentenversicherung bezieht 5 9 . Schwerstbeschädigte können schon seit Jahren, u. a. mit verschiedenen funktionsgebundenen Zulagen, z . B . für Pflegeaufwand, auf steuerfreie Monatsrenten von mehreren tausend D M kommen.
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Wulfhorst, Politik, S. 97 ff.
Der „Dank des Vaterlandes"
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IX. Soziale Sonderregelungen für ehemalige Berufssoldaten Die Berufssoldaten der Wehrmacht, die sich zu einer mindestens zwölfjährigen Dienstzeit verpflichtet hatten, hatten mit dem Ende der Wehrmacht und der auf sie bezogenen Berufspolitik ihre Ansprüche auf dienst-rechtliche Versorgung verloren und waren nun auf die Fürsorge angewiesen, soweit sie nicht durch Erwerbseinkommen dank erfolgreicher Eingliederung oder durch eine Kriegsbeschädigtenrente oder durch Vermögen versorgt waren 6 0 . Gleiches galt für Hinterbliebene von Berufssoldaten. Erst 1948 ließen die Besatzungsmächte besondere Unterstützungen nach Bedürftigkeit, aber unabhängig vom Fürsorgerecht, zu. Einige Länder gewährten solche Leistungen, z.B. Nordrhein-Westfalen 1949, ausgerichtet nach den von früher zu erwartenden Dienstbezügen, jedoch abgesenkt. Ungeachtet der Streitfrage, ob das Deutsche Reich oder ein anderer früherer Dienstherr fortbestanden und ob der Bund oder die Länder der Nachkriegszeit für sie uneingeschränkt hafteten, schreibt Art. 131 Grundgesetz eine Regelung der Rechtsverhältnisse von Personen vor, die am 8. 5. 1945 im öffentlichen Dienst standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen, d.h. wegen des Kriegsausganges, ausgeschieden und noch nicht entsprechend ihrer früheren Stellung verwendet sind, außerdem für die am 8. 5. 1945 versorgungsberechtigten Personen. Diese Regelung wurde schon 1951 getroffen 61 . Da das Gesetz vom Untergang der Dienstverhältnisse und vom Verlust der zugesagten Berufsversorgung ausgeht, muß es, ungeachtet seines beamten- und soldatenrechtlichen Instrumentariums, der Sozialpolitik im weiteren Sinne zugerechnet werden. Die gebotene „Versorgung", die in Anerkennung der früheren Pflichterfüllung gewährt wird, hat „sozialen" Charakter; sie fördert die Integration oder gleicht, soweit dies nicht möglich war, wirtschaftliche Einbußen aus. Die Schwierigkeit der Materie und politische Auseinandersetzungen verzögerten das Gesetzgebungsverfahren. Die Betroffenen griffen das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht an. Das Gericht erkannte die Wehrmacht für aufgelöst mit dem Untergang des NS-Regimes an und erachtete keine Grundrechte als durch die einschränkenden Regelungen verletzt 62 . Von den Soldaten, die bei der Kapitulation der Wehrmacht berufsmäßig angehörten, werden die Offiziere mit mindestens zehnjähriger Dienstzeit und die Unteroffiziere mit mindestens 18 Jahren wie Beamte auf Lebenszeit behandelt, Soldaten mit kürzerer Dienstzeit wie Beamte auf Widerruf. Soldaten der ersten Gruppe gelten bei Dienstunfähigkeit oder bei Vollendung des 65. Lebensjahres am 8. 5. 1945 als in den Ruhestand versetzt, bei kürzerer Dienstzeit als entlassen. Die Ruhestandsversorgung ist ungünstiger als die übliche beamtenrechtliche. Für die Beschaffung von Wohnraum kann eine Kapitalabfindung gewährt
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62
Diehl, Thanks, S. 58 ff.; Meyer, Soldaten, S. 683 ff. Gesetz, 11. 5. 1951, BGBl I, S. 307, §§ 53 ff. Die SPD-Opposition stellte ihre traditionelle Reserve zurück und wirkte u.a. wegen der sozialen Öffnung des Offizier- und Unteroffizierkorps der Wehrmacht positiv mit. BVerfGE 3, S. 288, 290 f., 304 ff.
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Traugott Wulfhorst
werden. Sie soll in erster Linie das Unterkommen des Betroffenen und seiner Familie sichern und kommt zugleich der Bauwirtschaft und dem allgemeinen Wiederaufbau zugute. Eine klassische direkte Eingliederungsmaßnahme ist die berufliche Förderung. Die Berufssoldaten wurden in erster Linie in zumutbare Stellungen im öffentlichen Dienst übernommen, ein kleinerer Teil vom Bundesgrenzschutz und später, ab 1955/6 von der Bundeswehr- ca. 10 v. H . im übrigen im zivilen Bereich. Dies knüpfte an die traditionelle Unterbringung von ausgeschiedenen Berufssoldaten (auch Zeitsoldaten) aufgrund eines Zivilversorgungsscheines an, fortgesetzt in der Bundeswehr 6 3 . Wer nach dem Gesetz eine Unterbringung im zivilen öffentlichen Dienst beanspruchen konnte, aber infolge des Krieges planwidrig nicht die für den mittleren oder gehobenen Dienst erforderliche Prüfung an einer Wehrmachtsfachschule hatte ablegen können, konnte an entsprechenden allgemeinbildenden Förderlehrgängen, die von Verbänden (Verband deutscher Soldaten usw.) veranstaltet wurden, teilnehmen und sich dann ersatzweise einer staatlich geordneten Prüfung unterziehen. Deren Bestehen eröffnete den Zugang zur Ausbildung für eine der beiden Laufbahnen. Soweit Berufsunteroffiziere keinen regelmäßigen Verdienst erzielten, konnten ihnen Beihilfen zur Begründung oder Sicherung ihres beruflichen Fortkommens gewährt werden, außerdem für eine notwendige Übersiedlung oder als Unterhaltsergänzung in den ersten Monaten einer Tätigkeit.
X. Schlußbemerkungen Nicht wenige Heimkehrer sind trotz öffentlicher Hilfen von wirtschaftlichen und sozialen Stellungen ausgeschlossen geblieben, die ihren Fähigkeiten entsprochen hätten. Teilweise mag dies dadurch verursacht worden sein, daß ihnen in den ersten Jahren nicht ausreichend und sachgerecht bei der Integration geholfen wurde 6 4 . Die Kriegsbeschädigten unter den Heimkehrern wurden im allgemeinen wirksamer als die anderen gefördert, besonders als Schwerbeschädigte. Aber insgesamt können die durch andere Belastungen erschwerten, vielfältigen, ständig verbesserten Eingliederungsbemühungen der öffentlichen Hand, ζ. T. durch die Verwaltung ohne eine sozialpolitische Lenkung bewirkt, als erfolgreich beurteilt werden; sie haben gemeinsam mit den eigenen Initiativen und Anstrengungen der Heimkehrer und der Hinterbliebenen den wirt-
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W u l f h o r s t , Politik, S. 204 f., 207; ders., Behindertenrecht, S. 499 ff. Allgemeiner E i n d r u c k beim über 30jährigen richterlichen U m g a n g mit Versorgungsakten: In den ersten N a c h k r i e g s j a h r e n war die B e r u f s f ö r d e r u n g zur Rehabilitation und z w e c k s E r s p a r u n g v o n Beschädigtenrenten verständlicherweise trotz beachtlicher A n s t r e n g u n g e n der V e r w a l t u n g unzureichend. Andererseits nahmen viele Beschädigte erf o l g v e r s p r e c h e n d e A u f s t i e g s c h a n c e n , u . a . wegen familiärer Belastungen und wegen der allgemeinen schlechten B e r u f s a u s s i c h t e n , nicht wahr. E i n besonderer Berufsschaden w u r d e in sehr vielen Fällen in den f ü n f z i g e r J a h r e n nicht durch Rentenleistungen ausgeglichen, ab 1960 trotz deutlicherer G e s e t z e s l a g e lange mangels zureichender Verwaltungspraxis bei weitem nicht in allen gebotenen Fällen.
Der „Dank des Vaterlandes"
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schaftlichen und politischen Wiederaufbau gefördert 65 . Wenn die Integration von Millionen dieser Betroffenen nicht einigermaßen gelungen wäre, wären schwerwiegende Verwerfungen in der alten Bundesrepublik, vielleicht auch abgeschwächt - in Ostdeutschland, zu erwarten gewesen.
65
Diehl, Thanks, S. 2 3 7 f f .
Jörg
Echternkamp
Wut auf die Wehrmacht? Vom Bild der deutschen Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit
I.
Panzer, Kanonen, Zinnsoldaten: Wer vor der ersten „Friedens-Weihnacht" der Nachkriegszeit auf dem Münchener Weihnachtsmarkt nach Geschenken suchte, konnte nicht nur zwischen Stofftieren aus Flicken und Eisenbahnen aus Holz wählen; neben Christbäumen, die als Friedenssymbol leuchteten, wurden auch militärische Spielsachen angeboten. Kriegsspielzeug neben der Krippe diese Vorstellung stieß jedoch bei einigen Passanten bitter auf. Es gebe für Mangelmetalle eine sinnvollere Verwendung als die, Kinder „.spielend' mit militaristischem Geist zu verseuchen", klagte ein kritischer Kunde in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung. Für „Mordwerkzeuge" im Kleinformat sei kein Platz unter dem Weihnachtsbaum 1 . Der Krieg: ein Kinderspiel? Der Blick auf den Streit um Kriegsspielzeug läßt wie unter einem Brennglas eine Facette des problematischen Umgangs mit Krieg und Militär in der frühen Nachkriegszeit aufleuchten. Die noch in den Ohren klingende Propaganda des NS-Regimes, die den Krieg zum nationalen Selbstfindungsprozeß stilisiert und den bloßen Gedanken eines Deutschen an die Kapitulation zum „feigen Verrat am Lebensrecht seines Volkes" erklärt hatte 2 ; das Erlebnis eines „totalen" Krieges, in dem die Unterscheidung von Front und Heimat zunehmend sinnlos geworden war; schließlich die offensichtliche Niederlage und das Entmilitarisierungsgebot der Besatzungsmächte diese Erfahrungswerte steckten den Horizont ab, in dem die deutsche „Zusammenbruchgesellschaft" ins öffentliche Gespräch über den Krieg kam. Erstmals wurden die Ursachen, der Verlauf und das Ende sowie der Charakter des Zweiten Weltkrieges, die Rolle der deutschen Armee in diesem Krieg sowie die militärgeschichtliche Tradition der Deutschen debattiert. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Soldaten im Spannungsfeld von tradierten Werten und neuen Normen, von eigener Erfahrung und Erwartung stellt eine Art der Verarbeitung des Krieges dar - das Kriegserlebnis wirkte hier fort. Blickt man in die um1
2
Der Aufsatz spiegelt erste Überlegungen eines breiter angelegten Forschungsvorhabens wider, in dem es in einer kulturgeschichtlichen Perspektive um Kontinuität und Wandel zwischen Kriegsende und früher Nachkriegszeit geht. H(ans) Burggraf, Spielzeug in großen Mengen, in: Süddeutsche Zeitung 1. Jg, Nr. 18 vom 4. 12. 1945, S. 3. Der Verkauf von Christbäumen, ein Symbol des Friedens, hat begonnen, in: Süddeutsche Zeitung 1. Jg., Nr. 22 vom 18. 12. 1945, S. 3; vgl. auch Der Tagesspiegel 1. Jg., Nr. 43 vom 9. 12. 1945, S.2. Joseph Goebbels, Dreißig Kriegsartikel f ü r das deutsche Volk, München 1943, S. 4 u. 14f., B A - M A , ZSg 2/412.
Wut auf die Wehrmacht?
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gekehrte Richtung, bildeten sich in der frühen Erinnerung an die Wehrmacht Sedimente des „kulturellen Gedächtnisses" der Deutschen nach dem Ende des „Dritten Reiches", die auch für die weitere Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem Militär von Bedeutung sein sollten - nicht zuletzt angesichts der Wiederaufrüstung in den fünfziger Jahren 3 . Die Wehrmacht nach ihrer Auflösung zu untersuchen ist ein Teil des Versuchs, Fragestellungen einer kulturgeschichtlich konzipierten Militärgeschichte hier im Sinne einer Wirkungsgeschichte des Krieges nutzbar zu machen. Die Untersuchung konzentriert sich im Folgenden zunächst auf die Sicht der Wehrmacht in der amerikanische Besatzungszone. Sie ist jedoch anschlußfähig gegenüber dem noch zu leistenden innerdeutschen Vergleich durch den Blick auf die Sowjetische Besatzungszone und kann auch insofern unter dem Vorzeichen einer seit 1989/90 neu zu konzipierenden Zeitgeschichte einen Beitrag zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Nachkriegszeit leisten 4 . In welcher Form und mit welchem Inhalt wurden der Krieg und die Wehrmacht zur Sprache gebracht? Welches Bild von der Wehrmacht präsentierte die Presse? (II) Wie wurde dieses neue Bild beurteilt? In welchem normativen Koordinatensystem wurden Schuldvorwürfe erhoben (III)? Welche Entlastungsstrategien wurden entwickelt? (IV) Das sind Leitfragen, in welche die übergreifende Frage nach dem Verhältnis von Militär und Öffentlichkeit aufgebrochen werden soll, um erste Breschen in einen bislang wenig berücksichtigten Bereich der Nachkriegsgeschichte zu schlagen 5 . Eine geeignete Quelle bildet das breiteste Forum der frühen Nachkriegsöffentlichkeit: die Lizenzpresse. Wurden Zeitungen zunächst von den alliierten Armeegruppen herausgegeben, erschienen schon bald Blätter wie „Der Tagesspiegel" (Tsp.) in Berlin, die „Süddeutsche Zeitung" (SZ) in München oder die „Rhein-Neckar-Zeitung" (RNZ) in Heidelberg in der Verantwortung deutscher „Lizenzträger". Die Zeitungen lenkten erstmals den Blick über den Tellerrand der NS-Propaganda hinaus auf die Ereignisse des Krieges und des Kriegsendes, und sie eröffneten ein demokratisches Diskussionsforum, auf dem sich eine breitere Nachkriegsöffentlichkeit herausbildete. Einerseits stellten die Zeitungen Diskussionszusammenhänge her, aus denen sich Wahrnehmungs3
4 5
Vgl. zur Militärgeschichte zuletzt die Beiträge in: Frevert (Hrsg.), Militär; zur Kulturgeschichte Hardtwig/Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte, und Mergel/Welskopp (Hrsg.), Geschichte; Assmann, Gedächtnis; vgl. auch Judt, Vergangenheit. Vgl. Jarausch/Sigrist (Hrsg.), Amerikanisierung; Kleßmann, Verflechtung. In den Darstellungen zum Jahr 1945 wie auch in Überblicksdarstellungen zur Nachkriegsgeschichte taucht der Soldat gelegentlich in der Figur des „Heimkehrers", seltener noch als Kriegsgefangener auf, ohne daß das Verhältnis von Öffentlichkeit und Militär stärker ausgeleuchtet wird. Vgl. nur Benz, Potsdam; Plato/Leh, Frühling; Kleßmann, Staatsgründung. Gleichsam stellvertretend steht das häufig abgebildete - unkommentierte Photo der Badenden am Wannsee, das im Bildvordergrund ein Holzkreuz mit Stahlhelmen zeigt; so ζ. B. Engert (Hrsg.), Jahre. Andere, eher institutions- und verwaltungsgeschichtliche Studien beschränken sich auf die Binnenperspektive und fragen zum Beispiel nach der versorgungsrechtlichen Lage der Soldaten und der Entstehung ihrer Interessenverbände. Mit streckenweise elegischem Unterton Meyer, Situation, und ders., Soldaten. Siehe auch den Beitrag Wulfhorst in diesem Band: Kritisch Wette, Führungsschicht; ders., Soldaten. A u s einem innenpolitischen Blickwinkel nahm die Parteigeschichte die Haltung gegenüber den Wehrmachtsoldaten unter die Lupe; vgl. ζ. B. Wagner, FDP, S. 2 4 ^ 0 .
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und Deutungsmuster, Bewußtseinslagen und Sinnstiftungsversuche filtern lassen. Andererseits spiegelten sie die Pressepolitik der Militärregierung wider, die ebenso wie die Einrichtung deutscher Verwaltungen und die Zulassung von Parteien und Organisationen ein Teil des angestrebtem Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft von unten war, der die Entnazifizierung der Politik und Verwaltung von oben ergänzte. D i e Journalisten der Lizenzpresse machten keinen H e h l aus ihrem moralisch-politischem Erziehungsauftrag, die Deutschen aus ihrer „geistigen Verkümmerung" herauszuführen. N i c h t nur der Mitherausgeber der SZ, E d m u n d Goldschagg, wollte allem, was „nationalsozialistisch und militaristisch" war, den K a m p f ansagen. Als Quelle eignet sich die N a c h kriegspresse nicht trotz, sondern wegen dieses „programmatischen Antimilitarismus" ihrer Redakteure, da sie an einer entscheidenden Schnittstelle von Nachkriegsmentalität und Besatzungspolitik zeigt, welcher Platz dem deutschen Militär in der Konstruktion einer neuen, postdiktatorischen politischen Kultur zugewiesen wurde 6 . Zu den Ausdrucksformen zählten nicht nur die Kurzmitteilungen, die Reportagen und Glossen der Redakteure und freien Mitarbeiter sowie F o t o s und Karikaturen. I m Leserbrief konnte die interessierte Öffentlichkeit auf dem „Demokratischen F o r u m " - so hieß beispielsweise die entsprechende R u b r i k des Tagesspiegels - „im Zeichen der Meinungsfreiheit sprechen" 7 . N i c h t jeder kam jedoch zu Wort. D a ß diese Meinungsfreiheit im Verbot nationalsozialistischer und militaristischer Äußerungen ihre Grenze besaß, liegt auf der Hand. U m so lohnender ist die Frage nach der zugelassenen Bandbreite. Schon aufgrund der Vielfalt der Argumente ist klar, daß die veröffentliche Meinung eines Lesers nicht auf die Meinung der (lesenden) Nachkriegsöffentlichkeit verkürzt werden kann. U n d um statistische Signifikanz geht es nicht. Zweierlei läßt sich jedoch festhalten. Zum einen zeigen die Angaben zur Person, daß der Kreis nicht auf das Bildungsbürgertum beschränkt blieb. Z u m anderen verschafften sich nicht zuletzt die ehemaligen Wehrmachtsoldaten selbst Gehör.
II. Veränderte Vorstellung - Die Wehrmacht im Prozeßbericht Ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet die Wehrmacht kurz nach der Kapitulation vor allem durch den Prozeß, der ihrer militärischen Elite gemacht wurde. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg mußten sich führende Militärs vor Militärgerichten in den Besatzungszonen, im Ausland und schließlich, seit dem
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Edmund Goldschagg, Abkehr - Einkehr, in: SZ 1. Jg., Nr. 1 vom 6. 10. 1945, S. 1 f. Eine Entmilitarisierung, die über die materielle Abrüstung hinausgeht, war auch das Ziel der „Neuen Zeitung" (NZ), die als einzige weiterhin als offizielles Organ der amerikanischen Militärregierung in München herausgegeben wurde; vgl. Eisenhowers Erklärung auf dem Titelblatt der ersten Nummer (1. Jg., Nr. 1 vom 18. 10. 1945, S. 1). Zur Pressegeschichte vgl. autobiographisch Habe, Jahre; Hurwitz, Stunde; Köpf, Richtung. Als erste deutsche Zeitung in der amerikanischen Zone erschien ab dem 1. 8. 1945 die Frankfurter Rundschau, es folgten Der Tagesspiegel (27.9.) und die Süddeutsche Zeitung (6.10.); die Neue Zeitung erschien ab dem 18. 10. 1945. Vgl. nur als ein Beispiel Tsp. 1. Jg., Nr. 58, S. 2.
Wut auf die Wehrmacht?
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20. 11. 1945, vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT) in Nürnberg verantworten. Als Angehörige des Generalstabs und des OKW, welche die Anklagevertretung als „verbrecherische Organisation" eingestuft hatte, wurden der Chef des OKW Wilhelm Keitel, der Chef des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl, der Oberbefehshaber der Kriegsmarine Erich Raeder, sein Amtsnachfolger Karl Dönitz sowie - als OB der Luftwaffe - Hermann Göring der Kriegsverbrechen beschuldigt 8 . Die Prozeßberichterstattung, in der Zeugenaussagen und Verhörausschnitte wörtlich oder paraphrasiert wiedergegeben wurden, konfrontierte die Öffentlichkeit mit anschaulichen Beschreibungen der Rolle der Wehrmacht, ihrer Führung und ihrer Soldaten. Wie wurde die Wehrmacht dargestellt? Wer nach Kriegsende die Zeitung aufschlug, erfuhr zum einen Neues über den Krieg und die Wehrmacht, zum anderen stieß er auf Bekanntes, das nun mit einem umgekehrten Vorzeichen versehen und auf einen Begriff gebracht wurde, der quer zu der soeben noch gültigen nationalsozialistischen Sprachregelung lag. Zu den Mosaiksteinen, die sich zu einem neuen Bild zusammenfügten, gehörten die Berichte über die wirtschaftliche Ausbeutung vor allem der besetzten osteuropäischen Gebiete. Die Gerichtsreporter betonten „die Planmäßigkeit", mit der „die deutschen Armeen" die besetzten Gebiete „ausgeplündert" hätten, um ihre eigenen militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen und die Länder wirtschaftlich abhängig zu machen 9 . Schon 1941, bei dem Angriff auf die Sowjetunion, sei klar gewesen, daß das Prinzip, die Wehrmacht durch die Ausplünderung der besetzten Gebiete zu ernähren, „viele Millionen Menschen" in den Hungertod treiben würde 10 . Die Presse unterstrich die katastrophale ökonomische Auswirkung insbesondere des Schwarzmarktes. Nicht nur zivile deutsche Dienststellen, sondern auch Wehrmachteinheiten hatten sich beteiligt, untereinander um die Ware konkurriert und die Preise in die Höhe getrieben. Einkaufsgesellschaften, die Göring zur Ausbeutung des Schwarzmarktes in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Serbien eingerichtet hatte, sorgten für den Warentransfer, der durch die Reparationszahlungen der besetzten Gebiete finanziert wurde. Die Wehrmacht erscheint hier nicht nur als eine treibende Kraft der Plünderung in einem ungünstigen Licht; das Bild verdunkelt sich noch mehr durch die Feststellung, daß nicht der Bedarf an militärisch notwendigen Waren, sondern die Gier nach Luxusgütern die organisierte Plünderung motiviert habe. Die „allgemeine Korruption und Demoralisierung der Wehrmacht", der zufolge „Sekt und Gänseleber ... tonnenweise" ins Reich rollten, habe schließlich dazu geführt, daß die Einkaufsgesellschaften wieder aufgelöst wurden 11 .
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Vgl. zur juristischen Aufarbeitung Streim, Wehrmacht, und den Beitrag von Bettina Birn in diesem Band. V o n den 22 Männern, die zwischen Februar 1938 und Kriegsende im O K W und in den drei Wehrmachtteilen die neun führenden Stellen besetzt hatten, lebten Ende 1945 noch acht; fünf standen v o r Gericht. Vgl. die biographischen Beiträge in Smelser/Syring (Hrsg.), Militärelite. SZ 1. Jg., Nr. 13 vom 16. 11. 1945, S. 2. Tsp. 1. Jg., Nr. 33 vom 28. 11. 1945, S. 1. S Z 2 . J g . , Nr. 9 v o m 29. 1 . 1 9 4 6 , S. 2.
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A n diese Ausplünderung und ihr euphemistisches Verbrämen als „Organisieren" wurden die Berliner zu Weihnachten 1945 erinnert, als die vor dem spärlichen Gabentisch besonders intensive Mangelerfahrung das Raunen über die von den Nazis vorhergesagte Verschlechterung der Versorgungslage lauter werden ließ. Ein ehemaliger Wehrmachtangehöriger warnte vor der melancholischen Erinnerung an vermeintlich bessere Zeiten im Krieg: als die Luftwaffenhelferin nach Paris ging, um „wie eine Göttin in Frankreich zu leben"; als der Handelsvertreter im Auftrag des Wirtschaftsministeriums „zusammenraffte, was immer er fand; als der deutsche Zollpolizist im besetzen Dänemark Kisten voll Speck, Butter und Eiern „beschlagnahmte" und nach Hause schickte. Diese Vergehen, zu denen die Soldaten in Feldpostbriefen angespornt hätten, könnten nicht als „Ubergriffe rauher Krieger" entschuldigt werden. Der Traum, nach einem Sieg auf Kosten versklavter Völker leben zu können, dürfe auch im Rückblick nicht geträumt werden 1 2 . Der Eindruck mangelnder Moral in der Truppe wurde durch Meldungen bekräftigt, in denen Wehrmachtsoldaten als nationalsozialistische Söldner des Propagandaministers erschienen. „Wehrsold für L ü g e n " - so eine Schlagzeile des Tagesspiegels - erhielten danach jene „verläßliche(n) Parteigenossen aus den Reihen der Wehrmacht", die sich der Oberbereichsleiter der Reichspropagandaabteilung in Berlin im April 1944 zuweisen ließ. Sie sollten nach Luftangriffen in Wien „Lügengerüchte" streuen, um den Haß der Bevölkerung auf die Alliierten zu wecken. So hatten die „feldgrauen Gerüchtemacher" im Juni 1944 verbreitet, daß ein notgelandeter Pilot ein Jude sei, der die Wiener Arbeitersiedlungen bombardieren wollte; bei einer anderen Gelegenheit ließen sie verlauten, die feindlichen Flieger seien Häftlinge, die sich gegen Straferlaß verpflichtet hätten, Bomben auf Wohn- und Krankenhäuser abzuwerfen 1 3 . Daß die Wehrmacht auf unterschiedliche Weise in die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt war, daran ließen die Prozeßberichte keinen Zweifel. Der Öffentlichkeit wurde eine breite Palette gezeigt, die von der Kenntnis der verbrecherischen Befehle, zumindest in der Wehrmachtführung, über die Anwesenheit von Soldaten und mögliche logistische Unterstützung bei Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen bis hin zur Beteiligung am Massenmord oder an der Ermordung einzelner reichte. Relativ umfangreich waren dann auch die Darstellungen der Ausnutzung, Mißhandlung, Verschleppung und Ermordung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten - und ihres ideologischen Hintergrundes. Die Zwangsrekrutierung für die Wehrmacht beispielsweise wurde in den Zusammenhang der nationalsozialistischen Lebensraumideologie gestellt 14 . Aufgrund von schriftlichen Anforderungen des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz an die Wehrmachtstellen und die Verwaltung der besetzten Ostgebiete erfuhren die Leser, wie 12
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T s p . 1. Jg., N r . 56 vom 24. 12. 1945, S. 5. Vgl. auch z u m Krieg in Rußland: Hinter den Panzern die Räuber, in: Tsp. 1. Jg., N r . 44 v o m 11. 12. 1945, S. 1. Wehrsold für Lügen. Die feldgrauen Gerüchtemacher des Generalkommandos 17, in: Tsp. 1. Jg., N r . 47 vom 14. 12. 1945, S. 1. S Z 1. Jg., Sonderbeilage (ITM) v o m 13. 11. 1945, S. 2. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in verschiedenen französischen Departements beispielsweise wurde als ein Teil des Bestrebens gedeutet, die eroberten Gebiete zu „germanisieren".
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„Sauckel auf Menschenjagd" gegangen war, um Zwangsarbeiter aufzutreiben und zu deportieren 15 . Zudem war nun nachzulesen, daß sich die Wehrmacht zum Verrichtungsgehilfen des NS-Regimes gemacht hatte, wenn es darum ging, Personen aus politischen oder rassischen Gründen in „Schutzhaft" zu nehmen oder die Familien von Widerstandskämpfern zu internieren, ihr Vermögen zu beschlagnahmen und sie in bombengefährdete Gebiete oder nach Deutschland zu verschleppen 16 . Zumeist fallbezogen, mangelte es dem Gerichtsreport nicht an Deutlichkeit. Die Aussagen beispielsweise, die ein Heeresdolmetscher vor dem Nürnberger Gerichtshof zu Ereignissen an der Ostfront, in Militärgefängnissen und in Kriegsgefangenenlagern machte, wurden ausführlich wiedergegeben. Er berichtete von einem Verbindungsoffizier im Stab der 6. Armee, der beobachtet hatte, wie in Shitomir Angehörige der SS und des SD etwa 1500 Juden in einen Sumpf trieben, um dann auf ihre Köpfe zu schießen; von Offizieren und Wehrmachtbeamten des Offlag XIa in Woldzmierz, die Ende September 1941 Zeugen der als „Umsiedlungsaktion" getarnten Massentötung von über 33 000 Juden aus Kiew durch ein Sonderkommando der Einsatzgruppe C in Babij Yar geworden waren; von einem Hauptmann, der sich im Offizierskasino mit dem Gebietskommissar darüber unterhalten hatte, wie im ukrainischen Rowno die Leichen der von SS und SD mit Handgranaten und Maschinenpistolen exekutierten rund 17 000 jüdischen Frauen und Kinder durch eine Sprengung des Muldenrandes bedeckt worden seien: Die Erdschicht sei so dünn gewesen, daß Hunde am nächsten Tag die Leichen herausgezerrt hätten 17 . Der Wehrmachtoffizier, dargestellt als Zuschauer eines Verbrechens - diese Vorstellung vertrug sich schlecht mit dem Ideal eines Kriegers aus dem noch im Frühjahr 1945 beschworenen „Heldenvolk der Deutschen" 1 8 . Ebenfalls nachlesen ließ sich nun, welche menschenunwürdigen Zustände in deutschen Kriegsgefangenenlagern herrschten. Hier war auch der Ort, an dem Wehrmachtoffiziere selbst zur Waffe gegriffen hatten, um russische Gefangene zu erschießen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ein „Sonderführer" aus dem A O K 9 schilderte, wie zwei deutsche Offiziere während der Vernehmung eines Gefangenen nebenbei einige im Kasernenhof arbeitende sowjetische Offiziere „wie Krähen abgeschossen" hätten. Der herbeigeholte Generaloberst Ernst Busch habe sich nicht getraut, die Schuldigen zu bestrafen 19 . Schon im Oktober machte die Presse durch den Bericht über den Prozeß gegen Anton Dostler in Rom deutlich, wie das Genfer
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Tsp 1. Jg., Nr. 46 vom 13. 12. 1945, S. 1. SZ 2. Jg., Nr. 9 vom 29. 1. 1946, S. 2. SZ 1. Jg. Nr. 11 vom 9. 11. 1945, S. 1 f. So noch wenige Wochen vor der Kapitulation Generalfeldmarschall Walter Model in einem Tagesbefehl an Soldaten im Rheinland; vgl. Front und Heimat Nr. 81 vom Februar 1945, S. 1 f. SZ 1. Jg., Nr. 11 vom 9. 11. 1945, S. 1 f. Eugen Kumming zum Beispiel informierte anschaulich über das Stalag 325 in Zamosc: „Der Lehmboden im Lager war mit Blut und Kot vermischt. Es roch intensiv nach Leichen und Lysoform. In den Baracken hausten schreiende, röchelnde, fiebernde Skelette, die kaum noch Menschen waren, mit eingefallenen Augen, in denen bereits der Wahnsinn flackerte. Sie stürzten sich gierig auf Ratten und Mäuse und auf tote Kameraden, denn man hatte ihnen monatelang einen Roggenzwieback täglich zu essen gegeben . . . " Vgl. ebd. die Schilderung des Offlag Zamosc-Nord.
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Abkommen mißachtet worden war. Der frühere Kommandierende General des 63. Armeekorps in Italien war angeklagt, die Erschießung von 15 amerikanischen Soldaten befohlen zu haben, die im März 1945 in Gefangenschaft geraten waren. Obwohl sie dem Kriegsrecht entsprechend Uniform trugen, wurden sie ohne Verhör hingerichtet 20 . Daß auch einfache Soldaten zu den Tätern zählten, zeigte die Berichterstattung über den Kriegsverbrecherprozeß in Brjansk. Der Gefreite Martin Adolf Lemmie hatte gestanden, mit seinen Kameraden an die 200 Menschen erschossen oder gehenkt zu haben 21 . Durch die Aussage des Generals Erwin Lahousen in Nürnberg erfuhr die Öffentlichkeit, daß das Ο KW im Sommer 1941 den „Kommissarbefehl" ausgearbeitet und weitergegeben hatte, der die Tötung gefangengenommener Politischer Kommissare der Roten Armee und die Ubergabe der im rückwärtigen Gebiet aufgegriffenen Kommissare an den SD oder die Einsatzgruppen vorsah 22 . Die Kooperation der Wehrmacht mit diesen von der Sicherheitspolizei und dem SD zur Ermordung vor allem jüdischer Gefangener aufgestellten mobilen Einheiten zeigte sich auch in einer ausführlichen Meldung über die Zeugenaussage Otto Ohlendorfs. Der Chef des Amtes III im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der in Nürnberg als geständiger Massenmörder ohne schlechtes Gewissen auftrat, kam im Zusammenhang der Verbrechen, welche die sogenannten Einsatzgruppen A, B, C und D in den Ostgebieten begingen, auch mehrfach auf die Beteiligung der Wehrmacht zu sprechen. Er bestätigte, daß zwei Wochen vor dem Rußlandfeldzug ein „Abkommen" zwischen der Wehrmacht und der Sicherheitspolizei über ihr Verhältnis und ihre Zuständigkeitsbereiche getroffen worden sei, demzufolge jeder Heeresgruppe eine Einsatzgruppe und jeder Armee ein Einsatzkommando zugeteilt wurde; ein „Verbindungsführer" sorgte für den Kontakt zwischen Heeres- und Einsatzgruppe, die ihrerseits „selbständig" tätig wurde. Die Order zu Töten sei den Oberbefehlshabern der Armeen, denen Einsatzgruppen zugeteilt worden waren, bekannt gewesen. Ohlendorf wies auf eine Anordnung hin, welche die „Liquidationen" in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers der Armeeführer verbot. Bei den Massenerschießungen in Panzergräben oder Schluchten, zu denen die Juden unter dem Vorwand der Umsiedlung mit LKW transportiert wurden, seien „gelegentlich" auch Offiziere der Armeekommandos anwesend gewesen, berichtete Ohlendorf. Mehr noch: Wehrmachtsoldaten und Wehrmachtgefolge hätten sich „als Freiwillige für die Erschießungen gemeldet". Wertgegenstände, die den Menschen vor oder nach der Hinrichtung abgenommen wurden, fielen nicht nur an die Einsatzgruppe, das RSHA oder die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt; auch in der Armee wurden beispielsweise die Uhren der Toten getragen 23 .
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Tsp l . J g . , N r . 2 vom 11. 1 0 . 1 9 4 5 , S. 1 ; S Z 1. Jg., Nr. 5 vom 19. 10. 1945, S. 1. Vgl. die Meldung über seine Erschießung, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 37 vom 2. 12. 1945, S. 1. 1 4 0 0 0 0 Russen ermordet, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 58 vom 28. 12. 1945, S. 1. Auch der ebenfalls angeklagte Obergefreite Karl Theodor Stein bekannte sich schuldig. Tsp. 1. Jg., Nr. 36 v o m 1. 12. 1945, S. 1. SZ 2. Jg., Nr. 3 v o m 8. 1. 1946, S. 3. Ohlendorf war als Chef der Einsatzgruppe D, die der in der südlichen Ukraine operierenden 11. A r m e e zugeteilt worden war, im Juni 1941 nach Rußland gezogen. Er w u r d e f ü r die Ermordung von ca. 9 0 0 0 0 zumeist jüdischen
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Über die Mißhandlung und Tötung von Kriegsgefangenen in Konzentrationslagern erfuhr die Öffentlichkeit spätestens durch die Berichterstattung über den bereits am 15. August 1945 eröffneten Dachauprozeß, den ersten Kriegsverbrecherprozeß in der amerikanischen Zone. Die grauenhaften Details der medizinischen Experimente, die im Geheimen an Menschen, „die ihre Freiheit in Ausübung ihrer Pflicht verloren" hatten, vorgenommen worden waren, wurden nun ans Licht der Öffentlichkeit gebracht 24 . Der Tagesspiegel beispielsweise berichtete über „Serien-Experimente der Wehrmacht und SS": Uber die medizinischen Menschenversuche im KZ am Rand der oberbayerischen Stadt, das am 29. April 1945 von US-Truppen befreit worden war. Vor dem Auge des Lesers entstand das Schreckensszenario der Unterkühlungsversuche und „Einfrierungsexperimente", die der Generalinspekteur der Luftwaffe Erhard Milch angeregt hatte, um die Folgen eines Pilotenabsturzes in kalte Gewässer zu simulieren. Berichtet wurde auch über die in Buchenwald „auf Ersuchen der militärärztlichen Akademie der Wehrmacht" durchgeführten, in der Regel tödlich verlaufenden Experimente etwa zur Heilung von Phosphorbrandwunden, die den Insassen zuvor beigebracht worden waren 25 . Nicht nur auf das Heer und die Luftwaffe, auch auf die Marine fiel der lange Schatten des Kriegsverbrechens. Mord und Mißhandlung von „Personen auf hoher See", die nach alliierter Definition ebenfalls zu den Völkerrechtsverletzungen zählten, wurden in den Presseberichten über den Prozeß eines englischen Militärgerichtshofes in Hamburg gegen die Besatzung und den Kommandanten des U-Boots 852 publik. Ihnen wurde vorgeworfen, im März 1944 Überlebende eines versenkten griechischen Dampfers durch Gewehrschüsse und Handgranaten umgebracht zu haben. Anfang 1946 sorgte die Anklage gegen Karl Dönitz und Erich Raeder für Lesestoff. Auch ihnen wurde zur Last gelegt, nicht nur neutrale Schiffe ohne Warnung versenkt, sondern auch die Überlebenden sinkender Schiffe, ganz gleich ob feindlicher oder neutraler Provenienz, vorsätzlich getötet zu haben 26 . Thematisiert wurde schließlich nicht nur das Verbrechen im Krieg, sondern auch der Krieg als Verbrechen. Soeben noch zum notwendigen „Schicksalskampf" des deutschen Volkes überhöht, wurde er nun als Angriffskrieg entlarvt. Die deutsche Generalität erschien als Wegbereiter, der hinter den Kulissen die Wiederaufrüstung betrieben hatte. Daß die Remilitarisierung, von Hitlers frühen Friedensbeteuerungen nur kaschiert, auf der geheimen Agenda gestanden hatte, brachte die Neue Zeitung den Lesern nicht nur im Prozeßbericht, sondern auch, gleichsam en passant, in einem ganz anderen Kontext bei: im Englisch-Sprachkurs. U m dem deutschen Leser die englische Aussprache nahezubringen, wurde etwa ein Beispielsatz gewählt, der als Zitat aus der Korre-
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Zivilisten verantwortlich gemacht, am 10. 4. 1948 zum Tode verurteilt und drei Jahre später gehenkt. N Z 1. Jg., Nr. 10 vom 18. 11. 1945, S. 3. Der Versuch der Verteidigung, die Angeklagten wegen ihrer Zugehörigkeit zur Wehrmacht oder Waffen-SS als Kriegsgefangene hinzustellen und sie der Zuständigkeit des Gerichts zu entziehen, lief ins Leere. Verseucht, verbrannt, gefroren - Serien-Experimente der Wehrmacht und SS, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 28 vom 21. 11. 1945, S. 3 (Beilage). SZ 2. Jg., N r . 6 vom 18.1.1946, S. 1.
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spondenz eines Generals zugleich den frühen Aufrüstungswillen belegte. Die sprachliche Bildung ging hier Hand in Hand mit der historisch-politischen „Umerziehung" nach Maßgabe des Entmilitarisierungsgebots 27 . Die Prozeßberichterstatter verzichteten in der Regel auf eine emphatische Beurteilung oder Verurteilung, reichte es doch, die Fakten für sich sprechen zu lassen, um ein neues Bild von der Wehrmacht zu malen, das in einem scharfen Gegensatz zur älteren Propagandaversion stand. Die Vorstellung des im Sumpf erschossenen Juden oder der nur notdüftig mit Erde bedeckten Leichen rüttelte dabei nachhaltiger auf als der Hinweis auf die Tausende von Toten. Um keine Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Reporte aufkommen zu lassen, unterstrichen die Journalisten die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Der Dolmetscher Eugen Kumming beispielsweise wurde als ein verläßlicher Gewährsmann präsentiert, der Einblick in Geheimakten der Obersten Heeresleitung besessen und Gelegenheit zum Austausch mit Soldaten und anderen Dolmetschern gehabt habe. Häufig wurden die Art der Dokumente, die betroffene Dienststelle und die militärische Einheit präzise bezeichnet. Eine besondere Wirkung erzielte die streckenweise wörtliche Wiedergabe der Vernehmung. Durch die Annäherung der Erzählzeit an die erzählte Zeit kehrte der Leser Schritt für Schritt in die Vergangenheit des Krieges zurück und sah sich dabei denselben bohrenden Fragen ausgesetzt wie der Angeklagte 28 . Das Verbrechen wurde zudem als Schlagzeile auf den Punkt gebracht. Gelegentlich durch eine Alliteration besonders griffig formuliert, brannte sie sich im Gedächtnis der Leser ein. Sie kündete vom Schrecklichen, das den Leser erwartete, und verkündete zugleich das Urteil, das die moralische Perspektive der Lektüre prägen sollte. „Befohlene Barbarei" 29 , „Verseucht, verbrannt, gefroren" 30 , „Verbrecherische Seekriegsführung" 31 , „Hinter den Panzern die Räuber" 32 - die Wehrmacht machte auch nach ihrer Kapitulation mit fetten Lettern von sich reden. Gelegentlich wurden die Tatbestände auch im Text kommentiert oder die Informationen als „furchtbare Enthüllungen" ausdrücklich gewertet. Umgekehrt bekräftigte gezielter Zynismus die moralische Verurteilung. Der Kontrast zwischen der Unmenschlichkeit der
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NZ 1. Jg., Nr. 13 vom 30. 11. 1945, Beilage. Wer der Sprache der Besatzungsmacht noch nicht mächtig war, durfte dank Umschrift üben: „Ai häw ohlwehs konssidcrd a riahrmäment of dhe Dschörmän pihpl äs än indispensäbvl kondischn of dhi istäblischment of ä niuh Dschörmäni", sei in einem Brief des ehemaligen Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht vom 29. 12. 1937 an einen deutschen General zu lesen. So referiert, um nur ein Beispiel anzuführen, der erwähnte Prozeßbericht aus Hamburg folgende Teile des Wortwechsels zwischen dem Angeklagten und den Anklagevertretern: „Auf den Einwurf des Anklagevertreters: ,Halten Sie das, was mit den Schiffbrüchigen geschah, für sehr menschlich?' antwortete der Wachoffizier Hoffmann: ,Ich habe gar nichts gedacht; als ich den Befehl bekam, schoß ich.' Der Anklagevertreter fuhr fort: .Halten Sie es für richtig, auf hilflose Menschen zu schießen?' Leise und verhalten kam nach einem Zögern die Antwort: Jetzt nicht, wo ich hier stehe. Damals dachte ich nicht so.'" SZ 2. Jg., Nr. 6 vom 18. 1. 1946, S. 1. Tsp. 1. Jg., Nr. 11 vom 20. 10. 1945, S. 1. Verseucht, verbrannt, gefroren - Serien-Experimente der Wehrmacht und SS, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 28 vom 21. 11. 1945, S. 3 (Beilage). Daß Wehrmacht und SS dabei in einem Zug genannt wurden, mag als subtilere Art zu urteilen verstanden werden. SZ 2. Jg., Nr. 6 vom 18. 1. 1946, S. 1. Tsp. 1. Jg., Nr. 44 vom 11. 12. 1945, S. 1.
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Tat und der Gleichgültigkeit der Täter gewann dadurch an besonderer Schärfe, daß die Wortwahl in der Täterperspektive erfolgte - etwa wenn im Bericht eines Oberstleutnants die Ermordung der in den Morast getriebenen Juden durch SA und SD als „lustiges Wettschießen" oder der Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen als „Russenschießen" apostrophiert wurde 3 3 . Derart in die Schlagzeilen geraten, rief die Wehrmacht nach ihrer Auflösung ein doppeltes Entsetzen über das hervor, was die NS-Presse verschwiegen oder verzerrt dargestellt hatte. Ende 1945 wurde die Wehrmacht in einer Zwischenbilanz der Aufklärung über die Verbrechen im NS-Regime eingeordnet, die mit den Enthüllungen über die Konzentrationslager in Bergen-Belsen und Dachau und die Rolle der SS begonnen hatte: „Und nun Nürnberg. Die Wehrmacht wird unter voller Beleuchtung sichtbar 34 ."
III. Schuldvorwürfe - Die Wehrmacht, das NS-Regime und der Verlust der „soldatischen Ehre" Je deutlicher sich das neue Bild der Wehrmacht abzeichnete, desto drängender wurde die Frage, wie die Wehrmacht, vor allem die Wehrmachtführung, nun zu beurteilen sei? Der zentrale, auf unterschiedliche Weise untermauerte Schuldvorwurf lautete, daß die militärische Elite die nationalsozialistische Ideologisierung der Wehrmacht und deren Instrumentalisierung für die verbrecherischen Ziele des NS-Regimes zugelassen habe. Einen mentalitätsgeschichtlichen Rahmen für diese Deutung lieferte insbesondere der Vergleich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges; das Konstrukt der „soldatischen Ehre" diente als eine normative Schlüsselkategorie. Die Prozeßberichte und -kommentare wiesen darauf hin, daß die Wehrmacht dem NS-Regime Schützenhilfe geleistet hatte. Umgekehrt wurde kein Zweifel an den spezifisch nationalsozialistischen Motiven und Rechtfertigungen der Kriegsverbrechen, ja des Krieges selbst gelassen. Dieser wurde in der Lizenzpresse im Hinblick auf die Ostfront als ein ideologischer Krieg erkannt, in dem alle bisherigen Regeln der Kriegführung in dem Maße außer Kraft gesetzt worden waren, wie die nationalsozialistische Ideologie die Wehrmacht durchdrungen hatte. So wurde, erfuhr der Leser, die Tötung russischer Gefangener, die der SD als „bolschewistisch verseucht" gebrandmarkt hatte, damit begründet, daß es um „die Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen" gegangen
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SZ 1. Jg. Nr. 11 vom 9. 11. 1945, S. 1 f. Leo Menter, Das Schießgewehr, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 57 vom 27. 12. 1945, S. 3. Ebd. Die ideologische Überhöhung des Kampfes wird erneut durch ein Fallbeispiel des Umgangs mit russischen Kriegsgefangenen auf den Punkt gebracht. Der Bericht gipfelt im Zitat der Begründung, die ein deutscher Bewacher für seinen Rat anführt, einen fliehenden Gefangenen zu erschießen: „Das ist genau so, als ob man auf Tiere schießt. Die Russen sind nämlich keine richtigen Menschen." Im übrigen wies er zynisch darauf hin, daß sie gewohnt seien, erschossen zu werden. Hinter der Front trieben die Kommissare sie mit Revolvern an, „und vor ihnen, da stehen wir und schießen. Wenn man die abknallt, tut man ihnen nur etwas Gutes."
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Wie verbreitet die Annahme einer Affinität von Wehrmachtsoldaten zum Nationalsozialismus war, zeigte sich in einem ganz anderen Zusammenhang. Im Herbst 1945 griffen die Medien die Frage der Eingliederung „heimgekehrter" Soldaten in das Arbeitsleben auf. Die Leiter der Personalabteilungen von Behörden, die aufgrund der Verhaftung von Kriegsverbrechern und der Entlassung von Nationalsozialisten freie Stellen zu vergeben hatten, berichteten übereinstimmend von dem „alle Schätzungen übersteigenden" Anteil von Wehrmachtsoldaten und Wehrmachtverwaltungspersonal unter den Bewerbern. Die Ursache für diesen „Andrang der Berufssoldaten" lag auf der Hand: D a Angehörige dieser Gruppe (bis 1944) nicht Mitglieder der N S D A P oder ihrer Organisationen werden durften, erschien ihr Entnazifizierungs-Fragebogen auf den ersten Blick makellos. Die Personalreferate hatten jedoch begründete Bedenken, daraus auf eine unpolitische, womöglich antinationalsozialistische Haltung ihrer Bewerber zu schließen. Hatte sich doch gezeigt, daß in fast allen Ämtern unter den sogenannten Militäranwärtern (jenen Personen, die nach ihrer zwölfjährigen Militärdienstzeit in das Beamtenverhältnis übernommen waren) der Prozentsatz an Parteimitgliedern „erheblich größer" war als unter den von vornherein zivilen Mitarbeitern. D e m „anscheinend Unpolitischen" aus der Wehrmacht wurde deshalb „mit großer Vorsicht" begegnet. Nicht zuletzt Polizeibehörden übten sich, folgt man dem Bericht, „aufgrund ihrer Erfahrungen" in personalpolitischer Zurückhaltung gegenüber Wehrmachtsoldaten 36 . Die Wehrmacht saß auf der Anklagebank - auch im übertragenen Sinn. Nicht zuletzt als Reaktion auf die Berichte über die Kriegsverbrecherprozesse geriet vor allem die Wehrmachtführung ins Visier der Öffentlichkeit. Sieht man von vereinzelten Wortmeldungen ab, welche die Kriegsproblematik auf die Frage verkürzten, welche Fehler in der deutschen Kriegführung zur Niederlage geführt hätten 37 - ein Topos der apologetischen Memoiren von Generalen in den fünfziger Jahren: Schuld sei der militärische „Dilettant" Hitler 3 8 , wurde hier vorweggenommen - lag der Brennpunkt der Kritik in der Frage, wie das Verhältnis von Wehrmacht und Nationalsozialismus zu vermessen sei? Die Vorwürfe zielten auf den Charakter der handelnden Personen, auf das Eindringen des nationalsozialistischen Jargons in die Sprache der Wehrmacht und auf die Funktion der vom O K W betriebenen Desinformationspolitik. Erstens wurde insofern eine moralische Meßlatte an das Verhalten einzelner Persönlichkeiten angelegt, als ihnen Opportunismus gegenüber der politischen Führung angekreidet wurde. Die Vorwürfe hoben nicht nur auf die „Rückgratlosigkeit" insbesondere von Wehrmachtgeneralen wie Wilhelm Keitel und Alfred Jodl ab, sondern auch auf die „widerliche Lobhudelei und unterwürfige Speichelleckerei" zahlreicher hoher Offiziere, „selbst der alten Armee" (d.h. der Reichswehr) gegenüber Hitler 3 9 . Daß ihnen nur mit Verachtung begegnet
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N Z 1. Jg., N r . 12 vom 26. 11. 1945, S. 3. Vgl. auch den Beitrag Wulfhorst in diesem Band. Vgl. nur (-gg-), Hitlers „Strategie" führte zur Niederlage. Aussagen gefangener Generalstäbler, in: S Z 1. Jg., N r . 4 v o m 16. 10. 1945, S. 1, und den Bericht von der Vernehmung Franz Halders, des C h e f s des Generalstabs des Heeres von 1938 bis 1942, in: SZ 1. Jg., N r . 10 v o m 6. 11. 1945, S 1; N Z 1. Jg., N r . 8 v o m 12. 11. 1945, S. 5 (Hans Habe). Vgl. Breit, Staats- und Gesellschaftsbild; Gerstenberger, Erinnerungen. S Z 1. J g . N r . 4 vom 16. 10. 1945, S. l ; T s p . 1. Jg., N r . 17 vom 1. 11. 1945, S. 3.
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werden konnte, zeigte sich beispielhaft, als der 96jährige Feldmarschall August v. Mackensen im November 1945 starb. Der Nachruf der SZ ließ das de mortuis nil nisi bene nicht gelten. Mackensen stand ganz oben auf der Liste der „alten Generale, die sich dem Nationalsozialismus als Propagandapuppen verschrieben hatten". Von den Krieger- und Regimentsvereinen glorifiziert, sei er ein „Leichtgewicht", das dem Kaiser ebenso „geflissentlich" wie dem Diktator gedient habe. U m ihn verächtlich zu machen, mokierte man sich über sein Verhalten bei Kriegsende: hatte er doch die Alliierten bei der Besetzung seines Gutes gebeten, seine Hühner zu schützen - „Kein guter Abgang für einen Soldaten, der sich martialisch gab und nur ein Höfling war." Daß diese klare Sprache die Meinung der Öffentlichkeit reflektierte, zeigte nicht zuletzt eine Leserschelte an die Adresse der NZ-Redaktion, die Mackensens Tod ohne Bewertung erwähnt hatte. Ein Münchener, der sich in Einklang mit anderen Lesern wußte, zeigte sich in seinem prompten Protest von „der .Objektivität' unangenehm berührt"; so habe er sich „den Kampf gegen Militarismus und Militaristen" nicht vorgestellt 40 . Zweitens wurde die Sprache des OKW, das „OKW-Deutsch" als ein aussagekräftiger Beweis der nationalsozialistischen Infiltration angeführt und als ein Versuch entlarvt, die deutsche Öffentlichkeit im Sinne des Regimes zu manipulieren 41 . So klagte Theodor Heuss, der Lizenzträger der Rhein-Neckar-Zeitung, darüber, daß Hitlers „Propagandadeutsch" die Wehrmachtberichte immer mehr durchsetzt habe - die Neujahrsbotschaften der Befehlshaber seien in den „peinlichen Wortschatz des Parteijargons" abgeglitten 42 . Hans Habe, ein Pionier der Presse in der amerikanischen Zone, stellte klar, daß diese Entstellung der deutschen Sprache kein Zufall, sondern das Kernstück eines „wohldurchdachten Programmes zur Verschleierung der Wahrheit" gewesen sei. Allerdings, räumte Habe ein, büßte die sprachliche Camouflage aufgrund der im Kriegsverlauf zunehmenden Diskrepanz von Aussage und Erfahrung ihre Wirkungskraft ein. Zwei Beispiele: Die Rede von „Absetzbewegungen" der Wehrmacht übertünchte nicht das Bild flüchtender Soldaten, und die Metapher vom „Feindangriff", der „im Feuer liegengeblieben" war, täuschte nicht mehr darüber hinweg, daß der Gegner noch längst nicht geschlagen war 4 3 . Für das Urteil zählte jedoch die Intention des OKW. Der Jahrestag der sogenannten Ardennen-Offensive bot Gelegenheit für eine exemplarische Sprachanalyse der Wehrmachtberichte, die der Leser auszugsweise noch einmal zu lesen bekam, jetzt jedoch mit einem klärenden Kommentar: Während man sich in der Bendlerstraße binnen kurzem über das Scheitern im klaren war, betrieben die Berichte ihr „Gauklergeschäft"; erst gegen Weihnachten wurden die „Trommelklänge" leiser, mahnten auch die „Goebbelsjournalisten" zur vorsichtigen Beurteilung der Lage. Der Blick auf den Text zeigt, wie es von schönfärbenden Formulie40
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N Z 1. Jg., Nr. 12 vom 26. 11. 1945, 3. Die Redaktion schob nach und wies darauf hin, daß Mackensen bei der Eingliederung des „Stahlhelm" in die SA geholfen und als Hitlers Günstling Schenkungen erhalten habe. Hans Habe, Von der Sprache, in: N Z 1. Jg., Nr. 3 v o m 25. 10. 1945, S. 3. Theodor Heuss, Das Ende der deutschen Wehrmacht, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12. 9. 1945, zit. n. Heuss, Aufzeichnungen, S. 148 f. Hans Habe, V o n der Sprache, in: N Z 1. Jg., Nr. 3 vom 25. 10. 1945, S. 3.
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rungen wimmelte, welche die schreckliche Realität des Krieges ebenso zwischen die Zeilen verdrängten wie die Hinweise auf die bevorstehende Kapitulation - um den Preis weiterer Toter. Das Urteil stand auch aufgrund der Sprachkritik fest: Die Generäle ließen durch die gefälschten Wehrmachtberichte den Eindruck entstehen, als dauere die Offensive an. In Wirklichkeit kam es ihnen darauf an, „den Krieg zu verlängern, um auf Kosten des Volkes zusammen mit dem Teufel Hitler, dem sie sich verschrieben haben, noch einige Wochen länger zu leben" 44 . Das weist auf einen dritten Aspekt hin: Ging es in den Prozeßberichten um die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen insbesondere außerhalb der (alten) Reichsgrenzen, besaß der Vorwurf der Kriegsverlängerung eine breitere erfahrungsgeschichtliche Dimension. Wenn die deutsche Öffentlichkeit die Wehrmachtführung wegen ihrer Bereitschaft, die Durchhalteparolen der NSPropaganda in den letzten Kriegsmonaten übernommen und ihnen durch entsprechende Befehle Geltung verliehen zu haben, an den Pranger stellte, dann wurde in eigener Sache Anklage erhoben. In die Erinnerung an die Eroberung von Aachen ein Jahr zuvor beispielsweise mischte sich der wiederkehrende Vorwurf des „Kadavergehorsam(s)". Der Vorwurf lautete: Die verantwortlichen Kommandeure „brachten nicht den Mut auf" zu kapitulieren und die Naziherrschaft „abzuschütteln", obwohl ihnen die ausweglose Lage klar war 45 . Im Rückblick auf die Vorweihnachtszeit 1944 zeigte sich die damit zusammenhängende Desinformationspolitik des OKW. Meldungen von der Front, die gezeigt hätten, daß der „heldenhafte Widerstand" zusammenbrach, wurden „vor dem Volke eifrig verheimlicht" 46 . Darüber hinaus entzündete sich die Empörung an der Bereitschaft, die schlecht ausgerüsteten, auch aus jungen Wehrpflichtigen und Kranken bestehenden „Volksgrenadierdivisionen" 47 und schließlich den „Volkssturm" als letztes Aufgebot in den sogenannten Endkampf zu schicken und dadurch den auch militärisch sinnlosen Tod deutscher Soldaten in Kauf zu nehmen. Verherrlichte die NS-Presse noch im Februar 1945 die „Helden der
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Die Ardennen-Offensive. Jahrestag einer Desperado-Aktion, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 49 vom 16. 12. 1945, S. 5. Als Beispiel für die „schwindlerisch verschleiernde(n) Fachausdrücke" wird auf die Metaphorik hingewiesen: Da „verlagert sich" der Schwerpunkt der Kämpfe, wenn die Wehrmacht den Rückzug antritt, hinter dem „Druck des Feindes" verbirgt sich seine Offensive, die ggf. zum „erwarteten Angriff" wird, dem dann die „Abwehrschlacht" folgt. Vgl. auch Oskar Jancke, „Total - fanatisch", in: SZ 1. Jg. Nr. 7 vom 26. 10. 1945,5. Ebenso entzündete sich die Sprachkritik an dem Versuch des Regimes, auch über den zivilen Alltag ein Netz von militärischen Begriffen und Metaphern zu legen. Für die Neuordnung der Nachkriegsgesellschaft forderte deshalb der Marburger Kunsthistoriker Richard Hamann (Entmilitarisierte Begriffe, in: NZ 1. Jg., Nr. 13 vom 30. 11. 1945, Beilage), „die Entmilitarisierung der Begriffe": Es dürfe nicht mehr vom „Soldat der Arbeit" gesprochen werden. Frieden sei nicht möglich, solange der Kritiker „das Schwert seines Witzes schärft, der Geistes held seine Leistung mit einem Orden ... belohnt wünscht und der Professor nichts heißer ersehnt, als eine große Kanone genannt zu werden." NZ 1. Jg., Nr. 6 vom 4. 11. 1945, S. 1. Vgl. die Kritik von Theodor Heuss, Aufzeichnungen, S. 149: „Töricht willige Teile" der Armee ließen sich zum „Werkzeug" degradieren, das „die Partei" schließlich zur „Selbstvernichtung des Volkes" nutzen wollte. Tsp. 1. Jg., Nr. 49 vom 1 6 . 1 2 . 1 9 4 5 , S. 5. Ebd.
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Hitlerjugend" 48 , wurde der Volkssturm nun als „Heer der Verzweiflung" entlarvt, als eine militärische Farce, die primär der Disziplinierung nach Innen dienen sollte. In den Augen der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit war dies der letzte Beweis dafür, daß die deutschen „Kriegsherren" längst „zu Befehlsempfängern degradiert" worden waren. Die Kommandeure wurden als Handlanger für schuldig erklärt 49 . Die Feststellung, daß sich die Generalität von Hitler den Weg weisen ließ, wurde in einer Zeichnung des englischen Karikaturisten David Low zur stummen Anklage. Das aus Anlaß des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 entstandene Bild zeigt Wehrmachtgenerale, die in Reih' und Glied durch den kniehohen Schnee stapfen und Hitler folgen, der ihnen im weißen Gewand voranschwebt, die Hand zum Hitler-Gruß erhoben, fünf Schirmmützen auf dem Kopf. Sie wurden, wie es in in der Bildunterschrift heißt, „von der Eingebung des Führers" geleitet 50 . Die Reflexion des erlebten Kriegsendes von 1945 bezieht die Erinnerung an das Kriegsende von 1918 ein. Im kulturellen Gedächtnis fest verankert, diente sie als eine Folie, auf der die eigene Erfahrung gedeutet werden konnte. Der Vergleich gab dem Bild der Wehrmachtführung schärfere Konturen, wenn auch zuweilen um den Preis des künstlichen Aufhellens älterer Porträts. In der Perspektive der zweiten Nachkriegszeit erschien vor allem Erich Ludendorff manchem im hellen Licht soldatischer Größe. Wenn auch ein politischer Dilettant, sei Hindenburgs Generalstabschef nicht nur „als Soldat ein sehr großer Könner", sondern ein „Mann von staatsmännisch-soldatischer Haltung" insofern, als er 1918 aus Einsicht in die Unabwendbarkeit der Niederlage den Krieg, wenn auch zögernd, beendigt und dadurch die Heimat geschont habe. Gegenüber der verantwortungslosen Wehrmachtführung erschien Ludendorff dem späterem Bundespräsidenten Heuss in der Rhein-Neckar-Zeitung nachgerade als „der große Patriot" 51 . Er hätte, vermutet der Tagesspiegel, den Krieg 1944 sicher nicht mehr verantwortet. Durch den Vergleich des Kriegsendes 1918 und 1944/45 kommt das Berliner Blatt zu dem vernichtenden Urteil, daß Ludendorffs „Nachfolger... zu blind und zu feige (waren), um dem Krieg ins Gesicht zu sehen." Der Grund für diesen Unterschied wurde erneut darin gesehen, daß die Wehrmacht Hitlers Wehrmacht war: „Die stickige Bunkerluft des Führerhauptquartiers hatte sie entnervt 52 ."
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Vgl. den Art. Helden der Hitlerjugend, in: Front und Heimat Nr. 81 vom Februar 1945, S. 2. Tsp. 1. Jg. vom 18. 10. 1945, S. 3: „Von der Wehrmacht war diese Organisation bewußten Volksmordes zwar nicht gefordert worden, aber sie wurde vom O K W skrupellos als Lükkenbüßer verwandt. Darum haben sich unzählige Kommandeure an dieser Untat mitschuldig gemacht. W i d e r besseres (sie) Wissens handelten sie, als sei eine ,levee en masse' im Jahrhundert des technischen Krieges noch m ö g l i c h . . . . Die vielen Gräber unbekannter Volkssturmmänner bleiben stumme Ankläger eines Systems, das den letzten Deutschen als Kugelfang zu benutzen gedachte, um seine letzte Stunde um eine kurze Frist hinauszuschieben." Vgl. Die Kriegsherren und der Herbst, in: Tsp. 1. Jg. vom 1 . 1 1 . 1945, S. 3. N Z 1. Jg., Nr. 4 v o m 28. 11. 1945, S.3. Heuss, Aufzeichnungen, S. 146. Tsp. 1. Jg. vom 1. 11. 1945, S. 3.
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Der Vorwurf an die Wehrmachtführung, sich für das Regime und gegen das Volk entschieden zu haben, wurde in der öffentlichen deutschen Diskussion weniger in juristischen Kategorien als im Koordinatensystem überkommener soldatischer Normen festgemacht. Den Fixpunkt bildete die Konzeption einer spezifisch soldatischen „Ehre". Heuss brachte die Vorstellung in einem programmatischen Leitartikel der Rhein-Neckar-Zeitung auf den Punkt, als er beklagte, daß die sukzessive Verquickung von Militär und Nationalsozialismus das „überkommene Ehr- und Würdegefühl" des deutschen Heeres ausgehöhlt habe 53 . Diese Bewertung unterschied sich keineswegs von der Argumentation der amerikanischen Anklagebehörde: Die Feststellung, daß die Mitglieder des Generalstabs und des O K W den „Ehrbegriff des Soldaten" durch ihre Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten „verletzt" hätten, machte ihr Verhalten im Krieg erst justitiabel 54 . Damit wurde der im Krieg geltende Ehrbegriff in sein Gegenteil gekehrt: Noch im März hatte Hitler jenem Soldaten, der kampflos in Gefangenschaft ging und sein Leben also nicht dem NS-Regime zu opfern bereit war, bescheinigt, „seine Ehre verwirkt" zu haben und aus der Gemeinschaft der „tapferen Soldaten" ausgeschlossen zu sein 55 . Das nationale Vorzeichen, mit dem dieses Argumentationsmuster versehen wurde, erlaubte eine Ausweitung des Blickwinkels. Heuss blickte über das im Vergleich evozierte Kriegsende von 1918 hinaus auf die preußisch-deutsche Militärgeschichte. In dieser durch den Mythos der Ehre deutscher Heere eröffneten historischen Perspektive erschien 1945 als eine Zäsur in der deutschen Militär- und damit in der Nationalgeschichte. In diesem Deutungszusammenhang wurde ein besonderes Bedauern möglich, das weniger dem Verlust fremden Lebens infolge deutscher Kriegsverbrechen als dem Verlust der eigenen Tradition galt. Das alltägliche Bild der Heimkehrer auf den Landstraßen verdichtete sich zum Sinnbild: Mit den Soldaten zog „ein großes Stück deutscher Geschichte in die Vergangenheit". Der Anflug von Larmoyanz, mit der Heuss einen historischen Schlußstrich zog, überrascht dann ebenso wenig wie die Bewunderung für die deutschen militärischen Führer der Vergangenheit: für Gneisenau, Moltke und Schlieffen, denen er „wirkende Größe staatlichen Willens und nationalen Sinnes" bescheinigte. Dem Leser blieb ein Stück Erinnerung an die hinter 1918 zurückgreifende militärische Vergangenheit. Zu „verarbeiten" blieb weniger die militärische Niederlage oder die moralische Schuld als der nationale Verlust militärischer Glorie und soldatischen Selbstverständnisses. Deshalb war die Rückschau für den Deutschen schmerzlich, und heute noch ist ihre „Unbarmherzigkeit" schwer zu ertragen 56 .
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Heuss, Aufzeichnungen, S. 149. SZ 2. Jg., N r . 3 vom 8. 1. 1946, S. 1. Hitlers Befehl vorn 5. 3. 1945 betr. Haftung der Angehörigen von kampflos in Gefangenschaft geratenen Soldaten, B A - M A , R H 19 X V / 7 b , zit. n. Müller/Ueberschär, Kriegsende, S. 163. Heuss, Aufzeichnungen, S. 148 f.
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IV. Streit u m Entlastungsstrategien - D e r „echte Soldat" zwischen Standespflicht, militaristischer Tradition und nationalsozialistischer Erziehung Das Konstrukt der soldatischen Ehrverletzung ermöglichte die kategorische Verurteilung der militärische Elite ebenso wie das im Zeichen der Entmilitarisierung geiorderte Bekenntnis zum Bruch mit der eigenen Militärgeschichte aber auch die ebenso deutliche Entlastung der Mehrheit der Wehrmachtsoldaten. Damit ist eine weitere Dimension der Diskussion über die Wehrmacht aufgezeigt. Im semantischen Umfeld des Grundbegriffs der Ehre wurden auch die Deutungs- und Argumentationsmuster der Exkulpationsstrategien formuliert. Auf die gleichsam ahistorische Meßlatte soldatischer Werte zurückzugreifen und auf die zeitlosen Mechanismen des Kriegsgeschehens abzuheben machte es möglich, die unmittelbare Vergangenheit zu transzendieren, das Normale im Außergewöhnlichen herauszuheben und dadurch die Einmaligkeit des Zweiten Weltkriegs für das Gros der Wehrmacht zu relativieren. Die Feststellung von Heuss, die militärische Niederlage sei „ein ganz normaler kriegsgeschichtlicher Vorgang" gewesen, zeichnet beispielsweise eine solche Argumentationslinie. Zum „ A B C der Kriegführung" gehöre es, durch Überlegenheit Entscheidungen zu erzwingen, nichts anderes hätten deutsche Soldaten in den „Feldzügen" gegen Polen, Norwegen, Frankreich, Jugoslawien und Griechenland erreicht - was die deutsche Presse zu Heuss' Bedauern unerwähnt ließe. Der soldatische Ehrbegriff, um den es ihm dabei ging, wurde als Konstante im Wechselspiel von Sieg und Niederlage aus dem aktuellen Geschehen herausgehoben. Die „soldatische Ehre" der kämpfenden Truppe blieb davon „unberührt". Ein militärischer Mißerfolg sei keine „Schande", versicherte Heuss 5 7 . Auch der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers unterschied in seiner vieldiskutierten Schrift zur Schuldfrage zwischen der „soldatischen Ehre" und dem „politischen Sinn". Die Ehre des Soldaten werde von der Diskussion über die Schuld nicht berührt: „Wer in Kameradschaftlichkeit treu war, in Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich bewährt hat, der darf etwas Unantastbares in seinem Selbstbewußtsein bewahren." Hier wird das Bild des tapferen Kriegers gezeichnet, der jenseits des zur Erinnerung anstehenden politischen Funktionszusammenhangs seinem Handwerk nachgeht und die Fahne der soldatischen Tugenden hochhält. Diese Fahne ist keine Landesflagge. Es nimmt nicht wunder, daß Jaspers, nachdem er die Tugend aus ihrem Zeitrahmen genommen hat, den universalistischen Geltungsanspruch betont. Das „rein Soldatische" und das „Menschliche" fallen zusammen, sind „allen Völkern ge-
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D u r c h a u s üblich und im Kern „keine deutsche Sondererscheinung" war nach H e u s s der personelle Wandel im Generalstab. Dieser sei - das bestätigten auch die „verständigen" O f f i z i e r e der Alliierten - ebensowenig wie St. C y r und West Point ein „Seminar für Kindergärtnerinnen", sondern „Pflanzstätte der Willenskraft und des soldatischen Streb e n s " . Insofern war es nur normal, daß nach der Fritsch-Krise und der Entlassung L u d wig Becks 1938 „gestaute E h r g e i z e " aufstiegen, denen das notwendige politische Regulativ fehlte. D a s war ein Seitenhieb auf die „politische P r o p a g a n d a " der Alliierten, die den neuen Generalstab vereinfachend der Kriegstreiberei bezichtige, H e u s s , Aufzeichnungen, S. 146 f.
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meinsam" 5 8 . Jenes Deutungsmuster lief auf eine dichotomische Vorstellung des Wehrmachtsoldaten hinaus. Die Rhein-Neckar-Zeitung führte ihren Lesern zwei Typen soldatischer Existenz in der Wehrmacht vor: Dem „üblen, pseudomilitärischen Typus" vom Schlage eines Jodl und Keitel, den die N S D A P zu verantworten hatte, wurde „der echte Soldat" gegenübergestellt, der seinen nationalsozialistischen Widerpart als „peinlich, renommistisch, auch unsauber" verachtete 59 . Die Nähe der Hofritter Hitlers zum Nationalsozialismus, weniger die nationalsozialistische Indoktrination der Soldaten und ihr dadurch bedingtes „falsches Bild der Realität" 6 0 des Krieges galten als Novum. Dem möglichen Vorwurf gegenüber dem wahren deutschen Soldaten, nämlich nichts gegen seine falschen Kameraden unternommen zu haben, wurde in mehrfacher Weise argumentativ begegnet. Belastung bot Entlastung: Aus dem Begründungszusammenhang, in dem der Vorwurf an die Wehrmachtelite stand, ließen sich auch exkulpatorische Argumente gewinnen. Danach erschwerten zum einen die propagandistischen Nebelwerfer dem einfachen Soldaten den Durchblick; die Ruhmgesänge auf die militärischen Leistungen der Wehrmacht übertönten mögliche Klagelieder. Zweitens sorgte die „scharfe Bespitzelung" in Hitlers Wehrmacht dafür, daß es kein lautes „Schimpfen" gab. Drittens zählte die Disziplin zum Kernbestand der Tugenden des echten Soldaten, so daß sich Protest als Insubordination von selbst verbot - ein Argument, das die Problematik der Konstruktion soldatischer Tugenden offenlegt. Insbesondere ging es schließlich, viertens, um die Denkfigur des unpolitischen und deshalb nicht verantwortlichen deutschen Soldaten, der gehorsam seine Pflicht getan hatte - eine Pflicht, die in der Regel als patriotische Pflicht überhöht wurde. Der Soldat sei ein „Fachmann" gewesen; seine Zuständigkeit für das militärische Handwerk, so darf der Leser folgern, schloß weitergehende Überlegungen und Handlungen wie selbstverständlich aus. Den deutschen Soldaten dürfte das Weiterkämpfen auf heimatlichem Boden nicht vorgehalten werden; „glaubten" sie doch, wie Heuss auf der Gründungsversammlung der Demokratischen Volkspartei in Stuttgart im November 1945 klarstellte, für eine Sache, die sie selbst für verloren hielten, dennoch „ihre Pflicht tun zu müssen" 6 1 . An dieser neuralgischen Stelle setzte jedoch eine Kritik ein, die auf die Dekonstruktion der Idee einer unbedingten soldatisch-patriotischen Pflicht zielte. Daß der Wehrmachtsoldat sich als militärischer Experte bewährt habe, stelle ihm, so Jaspers, keinen Freibrief aus. Seine Schuld liege darin, daß er ein „gute(s) Gewissen im bösen Tun" gehabt habe, was Jaspers auf „blinden Gehorsam" aus einer falsch verstandenen „Pflicht gegen das Vaterland" zurückführte. Die für das Entlastungsargument notwendige implizite Gleichung von Vaterland und NS-Regime wies Jaspers durch einen letztlich nationalistischen 58
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Vgl. auch die Klarstellung des amerikanischen Hauptanklägers Telford Taylor, es sei „kein Verbrechen, Soldat zu sein", vielmehr handele es sich um „einen ehrenvollen Beruf"; SZ 2. Jg., Nr. 3 vom 8. 1. 1946, S. 1; ders., Prozesse, S. 2 9 7 f . Auch in der Broschüren-Literatur zum IMT w u r d e diese Unterscheidung hervorgehoben, vgl. nur: Nürnberger Urteil, S. 116. Heuss, Aufzeichnungen, S. 148. Bartov, Wehrmacht, S. 180. Heuss, Aufzeichnungen, S. 148, 158.
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Kunstgriff zurück. Wenn der Staat „das deutsche Wesen vernichtet", höre er auf, ein Vaterland zu sein. Deutschland und der „Hitlerstaat" fielen auseinander. Damit endete für Jaspers die Gehorsamspflicht des Soldaten. In der dennoch, trotz des „Bösen" vollzogenen „Selbstidentifizierung" des Wehrmachtsoldaten mit der Armee und dem Staat sieht Jaspers dessen „moralische Schuld" 62 . In der SZ wurde die „soldatische Pflicht" als eine Funktion der „bürgerlichen" in der „Rangordnung" der Pflichten herabgestuft. Im Gegensatz zur Pflicht des Bürgers als des „verantwortlichen Mitglieds einer staatlichen Gemeinschaft" stelle die „soldatische Pflicht" keine „echte und unmittelbare" dar, sondern eine „sehr relative"; sie gelte zum Beispiel dort, wo es um die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten gehe. Selbst der Begriff der „soldatischen Pflicht" verlor in diesem Kontext seine Eigenständigkeit und wurde als eine bloße Analogiebildung demaskiert. Der Wehrmachtangehörige konnte sich seine soldatische Pflicht deshalb nur „einreden und einbilden". Möglich wurde das dadurch, daß er die vorrangige bürgerliche Pflicht nicht erkannt und erfüllt hatte. Die Anerkennung seiner staatsbürgerlichen Verantwortung hätte ihn verpflichtet, Hitlers „Machtergreifung" zu verhinden. Kurz: Die Pflicht des Soldaten wäre es gewesen, sich nicht in die soldatische Pflicht nehmen zu lassen63. Die Dekonstruktion des soldatischen Pflichtbegriffs hielt jedoch in dem Moment ein Hintertürchen der Entlastung offen, wo sie die letzte Verantwortung in die luftige Sphäre historischen Zwangs hob. Weil „die Deutschen" - hier wurde über die NS-Zeit hinausgegriffen - ihre wahren politischen Pflichten nie begriffen haben „und demzufolge auch nicht erfüllen konnten, mußten wir dann eben die andere, unechte des Kriegsdienstes für eine schlechte Sache erfüllen" 64 . Hier Schloß die Militarismusdebatte unmittelbar an, welche die geschichtliche Tiefendimension der jüngsten Ereignisse auslotete. Es ging nicht um persönliche Verantwortung, sondern um die Wirkungsmacht einer preußisch-deutschen Tradition. Die „neue deutsche Wehrmacht" stand aus dieser Sicht am Ende der häufig unternommenen tour d'horizon des deutschen Militarismus, dessen Anfang im „Soldatenstaat" Brandenburg-Preußens ausgemacht wurde. Das Kriegsende galt als (vorläufiger) Schlußpunkt der Kontinuität von „militaristischen" Denkmustern und Verhaltensweisen65. Der Hinweis auf die Ausnahme des politischen, in den Augen der Kritiker „schlechten" Soldaten sollte dabei nicht nur die Regel bestätigen. Er richtete sich vielmehr gegen den Kurzschluß von Militarismus und Nationalcharakter: 62
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Jaspers, Schuldfrage, S. 58-60. Diesen „Gewissensirrtum" hält Jaspers auch jenen Soldaten vor, die nach 1933 die Offizierslaufbahn in der Annahme eingeschlagen hatten, sie könnten hier auf einem gleichsam exterritorialen Gelände des NS-Herrschaftsbereichs Karriere machen. F.M. Reifferscheidt, Soldatische Pflichterfüllung? in: SZ 2. Jg, Nr. 4 vom 11.1. 1946, S. 5. Ebd., meine Hervorhebung, J.E. Karl August Meißinger, Deutschland und Preußen, in: SZ 1. Jg. Nr. 7 vom 26. 10. 1945, S. 5. Sofern dieser Militarismus weniger als ein deutsches denn als ein preußisches Phänomen beschrieben wird, verquickte sich die Diskussion - das sei hier nur angedeutet - mit dem Problem der Identität im Spannungsfeld von Föderalismus und Zentralismus, Regionalismus und Nationalismus. Vgl. dazu auch Franz-Josef Schöningh, Was ist preußisch? in: SZ 1. Jg., Nr. 17 vom 30. 11. 1945, S. 2.
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Nicht alle Deutschen besäßen gleichsam „von Natur" aus das inkriminierte „soldatische Empfinden", lautete der Einwand 6 6 . Eine weitere Argumentationsfigur in diesem Zusammenhang kreiste um die Vorstellung der „Entartung" (!) der ursprünglich guten und an sich richtigen Werte. In der Geschichtsbetrachtung wurde der Nachweis geführt, daß „unsere schlichten soldatischen Tugenden" zum „Kadervergehorsam" verkommen und deutsche Männer deshalb zu „Folterknechten, Schlächtern und Mördern" geworden seien 67 . Was der Masse der Wehrmachtsoldaten zur Last gelegt wurde, wog um so weniger, je schwerer die militärische Führung an Verantwortung zu tragen hatte und je stärker der Eindruck einer ebenso tragischen wie zwangsläufigen Entwicklung wurde, deren Unabwendbarkeit nicht selten eine düstere Untergangsmetaphorik vermitteln sollte. Das Ergebnis war ein Rollentausch: Aus dem potentiellen Täter wurde ein tatsächliches Opfer, aus der Wehrmacht eine „mißbrauchte Armee" 6 8 . Ob es um Be- oder Entlastung ging: Die Rede von den Wehrmachtsoldaten provozierte Protest - nicht zuletzt unter den Betroffenen. Im Prisma einer Leserbriefdebatte über die Zulassung ehemaliger Wehrmachtoffiziere zum Hochschulstudium bot sich ein differenzierteres Bild. Als Ende November 1945 der Rektor der Münchener Universität ankündigte, daß sich ehemalige Reserveoffiziere und, „mit gewissen Einschränkungen", auch ehemalige aktive Wehrmachtoffiziere immatrikulieren könnten, wenn sie damit ein „Umsatteln" verbänden 6 9 , erinnerte ein ehemaliger Gefreiter „im Namen vieler junger Kameraden" an die ideologische Nähe der Wehrmachtoffiziere zum Nationalsozialismus. Der Nachkriegstopos von der Wehrmacht als einem Refugium der NS-Gegner fand hier keine Akzeptanz. Ehemalige Offiziere in den Hörsälen stellten nach Ansicht der Kritiker eine doppelte Gefahr für den Demokratisierungsprozeß dar: Zum einen untergrüben sie das akademische Fundament, auf dem die demokratische Erziehung der jüngeren Generation ruhen sollte. Die Hochschule liefe Gefahr, zu einem Ort des „Ungeistes von Potsdam", statt zu einer Stätte der „Geistesfreiheit" und des klassischen Humanismus zu werden. Die wünschenswerte demokratische Qualifikation des Nachkriegsstudenten lag quer zu dem vermuteten Militarismus des ehemals aktiven Offiziers. Auch wenn diesem „persönlicher M u t " konzediert wurde - die Tatsache seiner Karriere im NS-Regime führte zum Rückschluß auf charakterliche Defizite wie „Strebertum" und „Unterwürfigkeit". Zum anderen wurde die Warnung vor dem Marsch durch die Institutionen laut: Zahlreiche „Kriegseinpeitscher"
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F.M. Reifferscheid!, Soldatische Pflichterfüllung? in: SZ 2. Jg, Nr. 4 vom 1 1 . 1 . 1 9 4 6 , S. 5. Bernhard Kellermann, U n b e l i e b t h e i t - w a r u m ? , in: N Z 1. Jg., Nr. 4 vom 28. 10. 1945 (Beilage). A u c h hier überlappen sich die Militarismus- und die Nationalismus-Debatte: Die Vorstellung vom Verfall soldatischer Tugenden wurde analog zur Idee der Ubersteigerung eines „berechtigten" Nationalbewußtseins zum „Nationalstolz" konzipiert. Daß der Entwurf einer militaristischen Nationalgeschichte auch eine Entlastungsfunktion besaß, widerspricht seiner im Kern aufklärerischen Stoßrichtung nicht. Vgl. nur die Mahnung, den Militarismus nicht im Deckmantel der Antike (Sparta) im künftigen Geschichtsunterricht zuzulassen: Adolf Fleckenstein, Humanistisch getarnter Militarismus, in: SZ 1. Jg., Nr. 15 v o m 23. 11. 1945, S. 2. Heuss, Aufzeichnungen, S. 158. SZ 1. Jg., Nr. 17 vom 30. 11. 1945, S. 5.
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könnten sich nach, dem Studium Zugang zu höheren Positionen verschaffen und dadurch Frieden und Demokratie bedrohen. Ausnahmen für Soldaten mit der richtigen Gesinnung waren möglich. Den Lackmustest bildete die Rolle am 20. Juli 1944. Wer zu den „aktiven Gegnern" des Regimes zählte, dem wurde die Absolution erteilt. D e m Gefreiten, der sich durch das Medium der Lizenzpresse an die Nachkriegsöffentlichkeit wandte, ging es nicht zuletzt darum, im Verteilungskampf um Studienplätze die Position der Mannschaftsdienstgrade zu stärken, die aufgrund ihres niedrigen Ranges von jeder Verantwortung freigesprochen wurden 7 0 . Soldaten im Unteroffiziersrang gerieten ebenfalls ins Visier. Die deutlichen Worte, die beispielsweise ein Leser aus München fand, lassen den emotionalen Druck ahnen, mit dem sich die aus der Erfahrung offenbar genährte und durch den verordneten Antimilitarismus abgesicherte Wut auf die Wehrmacht in der Presse wie durch ein Ventil entlud. Weil sie „die ehrbare Arbeit" scheuten, hätten sich auch die „kleinen Generäle" in der Reichswehr verpflichtet und die einfachen Soldaten „schikaniert". Auch diese Berufssoldaten wurden zu den „Helfershelfern)" des NS-Regimes gezählt, auch ihnen wurde eine „unermeßliche Schuld" bescheinigt 7 1 . Daß ein Leser aus Schongau die Feldwebel binnen kurzem gegen eine derartige Invektive in Schutz nahm und einen größeren „Gerechtigkeitssinn" forderte, zeigt, wie sehr der Streit um das rechte Bild der Wehrmacht die Gemüter erhitzte 7 2 . Mit der Trennung nach Dienstrang eng verknüpft, bildete das Alter ein zweites Kriterium, wenn es um die moralische Verurteilung der Soldaten ging. Die Generationszugehörigkeit ließ auf die Art der Sozialisation in der Jugend und in der Regel auf die Verantwortlichkeit im Krieg schließen. So unterschied etwa der Lizenzträger des Tagesspiegels, Hans Schwab-Felisch, die Jugend von 1939 von der „Zwischengeneration" der älteren Soldaten. Jene Jugendlichen, die vor Kriegsbeginn das Ende des nationalsozialistischen Erziehungsprozesses noch nicht erreicht hatten, zeigten 1939 keineswegs die von der Partei erwartete Kriegsbegeisterung - „aber ihr Rückgrat war angebrochen; es zerbrach, als die ersten Siege kamen und anscheinend alles rechtfertigten, was bisher geschehen war." Während Schwab-Felisch für die „törichte Jugendeselei" jener jungen Männer, die nun erneut ihre „Kollektivideale" revidieren müßten, Verständnis zeigte, strafte er die 35- bis 40jährigen Soldaten mit Verachtung. Da sie die nationalsozialistischen Werte als „Uberzeugung" verinnerlicht und im HitlerRegime Führungspositionen erreicht hätten, seien in erster Linie ihnen die „begangenen Grausamkeiten" zuzuschreiben 7 3 . Wer an die Stationen des Lebenswegs der um 1918 geborenen, bei Kriegsbeginn 21jährigen jungen Erwachsenen
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Hans Burggraf, Studium für aktive Offiziere (Leserbrief), in: SZ 1. Jg. N r . 19 vom 7. 12. 1945, S. 5. Dagegen wies ein Hochschullehrer diese pauschale Verurteilung und die damit verbundene Beweislastumkehr zurück und unterstrich die Wirksamkeit der inneruniversitären „Säuberung" (sie); S Z 1. Jg., N r . 23 vom 21. 12. 1945, S. 5. Paul Gleinig, Vergeßt den Feldwebel nicht! (Leserbrief), in: N Z 1. Jg., N r . 1 vom 18. 10. 1945, S. 4. N Z 1. Jg., N r . 3 vom 25. 10. 1945, S. 3. Hans Schwab-Felisch, Mit den Augen meiner Generation, in: Tsp. 1. Jg., N r . 24 vom 10. 11. 1945, S. 3.
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erinnerte, unterstrich die Tragik einer von diesen nicht zu verantwortenden Entwicklung. Die bei Kriegsende 27jährigen Abiturienten, die nach ihrem zweijährigen Wehrdienst den grauen Rock anbehalten mußten, gehörten zum „Jahrgang der meisten Holz- und Ritterkreuze". Die Schuldfrage zu stellen, bedeutete aus dieser Perspektive, ein „Generationenproblem" aufzuwerfen. Die Antwort käme, versicherte ein 27jähriger, „einer Anklage gegen unsere Väter" gleich 74 . Insbesondere jene jüngere Generation wurde gegen die pauschale Soldatenschelte in Schutz genommen oder wehrte sich selbst in der Presse gegen ihre öffentliche Verunglimpfung als „Hitlerhorden". Der 18jährige Bernt Conrad gab vielen Gleichaltrigen seine Stimme, als er die Schwierigkeit schilderte, die ihm die Niederlage, der Wertewandel und der Prestigeverlust in der „neuen Welt" der Nachkriegsdemokratie bereiteten. Wer seit dem zehnten Lebensjahr in Schule und H J zu einem „guten Soldaten des Führers" erzogen und während des Fronturlaubs als Teil der „Elite des Vaterlandes" bewundert wurde, reagierte nach der Niederlage mit „Trotz" - und machte daraus auch keinen Hehl. Die um ihre Ideale betrogene und damit von den Älteren geopferte Generation wurde zur „verratene(n) Jugend" stilisiert 75 . In das Bild von diesem Teil der Wehrmacht fügt sich das Porträt eines jungen Heimkehrers im „schlecht getarnten Soldatenhabit" auf einer bayerischen Landstraße. Seine Verbitterung über das Verhältnis der Nachkriegsgesellschaft zu den (einfachen) Wehrmachtangehörigen nährte sich nicht zuletzt aus der Annahme, den Respekt eben jener Menschen verloren zu haben, für die er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte: „Man macht uns schlecht, weil wir für die Nazis kämpften. Wir aber glaubten, für unsere Frauen und Mütter zu kämpfen. Nun hat man nicht einmal einen Händedruck für uns 76 ." Daß sie die Korona des Kriegers verloren hatten, führten einsichtige Soldaten - auch in der privaten Korrespondenz - auf die umfängliche „Umwertung aller Werte" zurück, deren Ursache sie nicht der Besatzungsherrschaft, sondern in der „hinter uns liegenden Zeitepoche" orteten 77 . Der Sturz aus den Höhen der öffentlichen Aufmerksamkeit in die Tiefe der Gleichgültigkeit einer Gesellschaft, die sich nicht mehr um ihre Soldaten „kümmert", konnte jedoch auch durch ein doppeltes Dementi abgefedert werden. Zum einen wurde der Spieß umgedreht und die (zivile) Öffentlichkeit fehlender Solidarität bezichtigt - das Kameradschaftsideal der Kriegszeit konnte dazu in die Nachkriegszeit verlängert werden 78 . Zum anderen waren Soldaten etwa in der Form eines „offenen Briefes" darum bemüht, das dunkle Bild der Wehrmacht, wie es vor allem die Prozeßberichte malten, aufzuhellen. Die Verbrechen und die ideologische Nähe zum Nationalsozialismus wurden dabei nicht ge-
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Herbert Rehe, Jahrgang 1 9 1 8 (Leserbrief), in: Tsp. 1. Jg., Nr. 26 vom 14. 11. 1945, S. 2. Bernt Conrad, Verratene Jugend! in: Tsp. 1. Jg., Nr. 45 vom 12. 12. 1945, S. 2. Vgl. auch die A r t . v o n Rehe u. Schwab-Felisch. W e r n e r Friedmann, Verlorene Stimme, in: SZ 2. Jg., Nr. 9 v o m 29. 1. 1946, S. 4. Vgl. den Brief des aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Erich Kniest an die Mutter seines gefallenen Freundes Hermann Hüdepohl im Kreis Höxter, Berlin, 19. 5. 1946, B A - M A , MSg 2/5045. Friedmann, S. 4. Tsp. 1. Jg., Nr. 41 v o m 7. 12. 1945, S. 3. Heinz M a r mahnte den Leser: „Das waren deine Kameraden!"
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leugnet. Der Verfasser des „offenen Briefes" räumte aufgrund eigener Erfahrung freimütig ein, daß, „besonders in Rußland, vieles geschah, was niemals hätte geschehen dürfen", und daß es „viele Wehrmachtangehörige gab, die sich in ihrem Größenwahn nur zu gerne dem ,Herrenrassen'-Prinzip verschrieben und sich auch dementsprechend im Ausland verhielten." Zugleich beklagte er es als ein Zeichen von Unwissenheit, wenn „viele Deutsche jeden ehemaligen Wehrmachtangehörigen im Lichte des .Kriegsverbrechers' erscheinen lassen wollen." Der Vowurf des Militarismus und des Vasallentums wurde in der kollektivistischen Verallgemeinerung zurückgewiesen: Nirgendwo seien „Antifaschismus" und Antimilitarismus früher und deutlicher zu Tage getreten als in der Wehrmacht. Ständig und in aller Offenheit hätten die „einfachen Soldaten" etwa über die Korruption im Offizierskorps gesprochen und ihrem Haß auf die „Goldfasan^)", die Politischen Leiter der Partei, Luft gemacht. „Tausende von Wehrmachtangehörigen" seien wegen ihrer „antimilitaristischen Haltung" von ihren Vorgesetzten zum Beispiel durch todbringende „Sondereinsätzen" terrorisiert worden. Die wachsende Zahl der Desertionen galt als ein weiterer Beleg. Der „immer stärker werdende Widerstand des einfachen Soldaten gegen seine Führer und das System" habe diese schließlich zur Disziplinierung durch die Nationalsozialistischen Führungsoffiziere gezwungen - auch das ein untrügliches Zeichen. Hier wurde der einfache Frontsoldat als potentieller Widerstandskämpfer gegen die Staats- und Wehrmachtführung geadelt. Mehr noch: Der Einsender übermalte den schwarzen Grundton des Wehrmachtbildes mit noch heller leuchtenden Farben, wenn er die militärische Aggression und Besetzung zu einem anrührenden Akt der Völkerverständigung in fernen Ländern mutieren ließ. In diesem Idyll wird die Präsenz von Wehrmachtsoldaten außerhalb des Reiches zu einem „Aufenthalt im Ausland", den der aufgeschlossene Soldat eifrig nutzte, um den Horizont seiner Persönlichkeit im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung zu erweitern. Nicht um diese „aufzuhetzen oder für den Nationalsozialismus zu gewinnen" - als wäre der Angriffskrieg im Osten eine Werbekampagne der Partei - , sondern „um sie kennenzulernen, wie sie lebt und denkt". Hier gerät die Truppe zur Reisegruppe, der Troupier zum Tourist, der Angreifer zum Botschafter für Frieden und Völkerverständigung. Die „Freundschaft" mit Menschen anderer Völker: Das ist es, was vielen Soldaten in Erinnerung bleibe und was die zivile Öffentlichkeit ebenfalls bedenken sollte. Die Wehrmacht erhält auch hier einen humanitären Anstrich, der ihre militärischen Züge verblassen läßt. Statt die Zukunft der Deutschen in der internationalen Gemeinschaft zu belasten, ebnete sie - folgt man dieser Interpretation erste Wege in die grenzüberschreitende Völkergemeinschaft der Nachkriegszeit. Der Wehrmachtangehörige hört in diesem Szenario auf, Militär zu sein: „Nicht als deutscher Soldat, sondern als Mensch" sah sich auch der Einsender des offenen Briefes. Auch dieses Selbstbildnis konnte öffentlich präsentiert werden 79 .
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Der willkommene Sündenbock. O f f e n e r Brief eines Kriegsgefangenen, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 30 vom 24. 11. 1945, S. 5. Der Widerstandscharakter der Wehrmacht wurde auch betont in dem Artikel: W i d e r den soldatischen Geist, in: Tsp. 1. Jg., Nr. 51 vom 19. 12. 1945, S. 3 (Beilage). Der Einsender erinnerte sich an „unzählige Gespräche" mit seinen Kameraden, in denen die „Wahnsinnspolitik" der Nationalsozialisten beklagt wurde; nur durch
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Mit einer Mythisierung des Kriegserlebnisses und des Frontsoldaten, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg gang und gäbe war, hatte das wenig gemein. Die vollständige Niederlage, die bedingungslose Kapitulation und die Besatzungsherrschaft, sie erstickten auch jede Neuauflage der Dolchstoßlegende im Keim. Anders als in der ersten Nachkriegszeit mußte sich zudem die militärische Elite vor Gericht verantworten. Die Berichte über die alliierten Nachkriegsprozesse in der Presse führten der frühen Nachkriegsgesellschaft nicht nur die Verquikkung der militärischen Elite mit dem Nationalsozialismus vor Augen, sondern ließen das Ausmaß der Verbrechen insbesondere in den besetzten osteuropäischen Gebieten sowie die Beteiligung, zumindest die Anwesenheit und Kenntnis auch von einfachen Dienstgraden immer wieder schlaglichtartig, wenn auch noch nicht in ihrem ganzen Ausmaß, deutlich werden. A n dem ideologischen Nexus von Wehrmacht und NS-Regime, der nicht zuletzt aus der Sprachkritik erhellte, ließen die Prozeßberichte, die Kommentare und die Leserbriefe in der Lizenzpresse der amerikanischen Besatzungszone wenig Zweifel. Hinzu kamen der moralische Vorwurf des „Opportunismus" und die durch den Vergleich mit 1917/18 scharf konturierte Kritik an der Kriegsverlängerung. Aber die Wut auf die Wehrmacht blieb nicht ohne Widerspruch. Schon zu einem frühen Zeitpunkt zeichneten sich Entlastungsstrategien ab, die vor allem durch den Mythos des Soldatischen und den Rekurs auf Sekundärtugenden des Kriegers, der Platz für die Anerkennung seiner Leistung ließ, darauf zielten, die Kriegführung aus ihrem politischen Zusammenhang zu zerren, das Wirken der Wehrmacht mit dem Gewand des Gewöhnlichen zu bedecken und die konkrete, persönliche Verantwortung im Dunst der Vergangenheit aufzulösen. Die Rede über die Wehrmacht ist insofern symptomatisch für den Umgang mit der Schuldfrage in den frühen Nachkriegsjahren, in denen es in der Regel um Schuldtheorien und nur im Ausnahmefall um Schuldbekenntnisse ging, wie sie die Alliierten erwarteten 80 . Die Debatte auf dem Forum der neuen politischen Kultur kreiste auch um alte Wertvorstellungen wie die einer spezifisch soldatischen Ehre und Pflicht, die als semantische Trennmittel dienten, um die Mehrheit der wahren deutschen Soldaten von der Minderheit nationalsozialistischer Kriegstreiber zu unterscheiden. Die Grenzen konnten durchaus unterschiedlich gezogen werden. Verantwortlichkeit und Schuld erschienen auch als Funktionen des militärischen Ranges und der Generationszugehörigkeit. So diffus die Diskussion auch blieb - im Hinblick auf die vergangenheitspolitischen Integrationsbemühungen der fünfziger Jahre 8 1 fällt auf, daß zumindest in der Übergangsphase zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, unter dem frischen Eindruck des Kriegserlebnisses, der täglichen Erfahrung der Kriegsfolgen und des Entmilitarisierungsgebots, das Bild der Wehrmacht mit hellen wie dunklen Farben gezeichnet wurde.
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entsprechende Maßnahmen habe man verhindern können, daß Kritik aus den Schreibstuben höherer Stäbe bekannt werde. Vgl. zu den ideologischen Pendants, ζ. B. den Schuldtheorien der Kirchen oder der Intellektuellen Hermand, Rückfall. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik; Naumann, Nachkrieg.
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Wehrmacht und Wehrmachtangehörige in den deutschen Nachkriegsprozessen
Vor Ende des Zweiten Weltkriegs war bereits deutlich, daß die von Deutschland begangenen Verbrechen, darunter auch die der Wehrmacht, gerichtlich geahndet werden würden; die Alliierten hatten dazu mehrere unmißverständliche Verlautbarungen abgegeben. In der grundsätzlichsten und grundlegendsten Form ist das in den Nürnberger Prozessen geschehen, auf die hier angesichts des hohen Bekanntheitsgrades der Materie und zahlreicher wissenschaftlicher Studien nicht weiter eingegangen werden soll 1 . Auch die anderen Kriegsgegner (oder Opfer) Deutschlands schritten zur rechtlichen Ahndung 2 . Diese Verfahren waren zum Teil auf die Aburteilung der an den eigenen Soldaten begangenen Verbrechen beschränkt. In Falle Kanadas, zum Beispiel, wurde die Erschießung kanadischer Soldaten in Frankreich und von kanadischem Flugpersonal und Fallschirmspringern durch die Deutschen Gegenstand von Gerichtsverfahren. Die Reihe der Beschuldigten reichte vom General der Waffen-SS Kurt M e y e r bis zu einfachen Gefreiten. Das reflektiert die Tatvorwürfe, ist aber sehr punktuell und dient nicht zur Erhellung übergeordneter Fragen zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht an den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Zudem war das kanadische „War Crimes Program" auch nur von kurzer Dauer und wurde 1946 bereits eingestellt 3 . Deutsche Justizorgane betraute man schrittweise mit der Verfolgung, zunächst beschränkt laut Kontrollratsgesetz Nr. 4 auf Straftaten der Wehrmacht gegen deutsche Soldaten oder Zivilisten; diese Zuständigkeiten wurden dann ausgeweitet, und 1950 stellte man mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 13 die deutsche Gerichtsbarkeit im wesentlichen auch für Kriegsverbrechen wieder her 4 . Die wichtigste Zäsur in der Geschichte der Strafverfolgung von Naziverbrechen in Deutschland ist die Einrichtung der „Zentralen Stelle der Landes) ustizverwaltungen" 1958; die Verfolgung von Kriegsverbrechen gehörte aber zunächst nicht in ihre Zuständigkeit, sondern erst ab 1965 5 .
1 Einen Überblick über die dazu erschienenen W e r k e gibt T u t o r o w (Hrsg.), W a r Crimes. * Siehe Rückerl, Strafverfolgung, S. 25 ff., S. 73 ff. 3 Siehe Margolian, Conduct. Zum Verfahren gegen K u r t Meyer siehe Abbaye Ardenne Case. Dies war das erste „War Crimes Program" in Canada. 1 9 8 7 wurde, den Empfehlungen einer „Commission of Inquiry" unter Jules Dechenes folgend, eine „War Crimes und Crimes Against Humanity Section" gebildet. 4 Willi Dreßen, Strafverfolgung v o n Wehrmachtsverbrechen. Unveröffentlichtes Manuskript. Die Verf. dankt dem jetzigen Leiter der Zentralen Stelle, Oberstaatsanwalt Dreßen, f ü r die freundliche Überlassung des Manuskripts. 5 Siehe Rückerl, Strafverfolgung; Dreßen, Strafverfolgung von Wehrmachtsverbrechen; Streim, Behandlung, S. 281 ff.
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Der deutsche strafrechtliche Umgang mit Verbrechen der Wehrmacht ist deshalb interessant, weil hier nicht „der Gegner" abgeurteilt wurde, sondern ein Mitglied der eigenen Gesellschaft. Zudem blieben die Verfahren nicht auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre beschränkt, sondern erstreckten sich über einen langen Zeitraum - praktisch von Kriegsende bis in die Gegenwart. Ganz generell ist eine Wechselwirkung zwischen Rechtspflege und gesellschaftlicher Erkenntnis zu konstatieren. In der Gesellschaft verbreitete historische Erkenntnisse und Vorurteile gingen in strafrechtliche Ermittlungen ein. Gleichzeitig beförderten die Feststellungen von Gerichten die Akzeptanz der historischen Wahrheit in der Gesellschaft. Im Folgenden soll deshalb auf die deutschen Verfahren eingegangen werden, und, um eine einheitliche Vergleichsebene herzustellen, auf von Deutschen in der Sowjetunion begangene Verbrechen 6 . Man kann sagen, daß die Bandbreite möglicher Stellungnahmen zu den Verbrechen der Wehrmacht schon 1945 vorgezeichnet war: Markiert durch das Wissen aufgrund der Verfahren vor den Nürnberger Gerichten auf der einen Seite, auf der anderen Seite bereits durch das Bemühen, die kollektive Umgestaltung der Erinnerung im Sinne eienr Abwehrfront gegen die Beschuldigungen zu formieren. Welche Resultate haben etwa fünfzig Jahre deutscher Strafverfolgung von Verbrechen der Wehrmacht gezeitigt? Ein Überblick über die Ermittlungen und Strafverfahren, beide sind für die historische Erkenntnis wichtig, in der Zentralen Stelle Ludwigsburg zeigt, daß die am meisten behandelten Komplexe Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen sind, außerdem Verbrechen, die sich im Zusammenspiel von Wehrmacht und Sicherheitspolizei ereigneten, unter Einschluß von Verbrechen der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht (GFP). Diese beiden Bereiche sind ja auch in der Literatur vorrangig behandelt. Für den nicht-sowjetischen Raum kommen Geiselerschießungen in besetzten Ländern und Verbrechen während der Endphase in Deutschland hinzu. Andere Bereiche sind sehr viel weniger aufgeklärt worden, viele gar nicht, manche nur sehr zufällig. Besonders die grundlegende Frage, ob sich die deutsche Herrschaft im militärisch verwalteten Gebiet im Bezug auf die Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie und auf begangene Verbrechen signifikant von der in den Regionen der Zivilverwaltung unterschied, also ob das Leben unter einem Ortskommandanten ganz anders als unter einem Gebietskommissar war, kann mit den Akten der Zentralen Stelle Ludwigsburg nicht beantwortet werden 7 . Generell gesehen ist im Hinblick auf die Verbrechen der Wehrmacht der Ertrag der strafrechtlichen Ermittlungen eher gering zu veranschlagen. Aus den zahlreichen, den Staatsanwaltschaften von der Zentralen Stelle zugegangenen Materialien und Vorermittlungen sind nur sehr wenige Anklagen hervorgegangen, der Großteil der Ermittlungen oder Verfahren wurde eingestellt. Wo es zu Ver-
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Die Verfolgung von NS-Verbrechen in der D D R ist noch nicht genügend erforscht. Laut Auskunft der Zentralen Stelle scheinen nur wenige Verfahren zur Wehrmacht stattgefunden zu haben, zumeist gegen Angehörige der GFP. Siehe Rückerl, Strafverfolgung; Dreßen, Strafverfolgung von Wehrmachtsverbrechen.
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urteilungen kam, gilt als als auffälliges Kennzeichen bei NS-Verfahren ganz allgemein das zu konstatierende geringe Stafmaß 8 . Die Hauptprobleme sind bei allen NS-Verfahren die gleichen: Die Definition von Mord, der „grausam", aus „niedrigen Beweggründen" oder „heimtükkisch" ausgeführt sein mußte, was, besonders im Bezug auf politisch motivierte Verbrechen, viele Probleme aufwirft. Dasselbe gilt für die Frage des Täterwillens, der Täter muß die Tat „als eigene gewollt" haben. Die Änderung des Paragraph 50, Absatz 2, Strafgesetzbuch 1968 bestimmte, daß nur eine Person, bei der die Mordqualifikation in eigener Person vorlag, wegen Beihilfe zum Mord bestraft werden konnte, was die Schreibtischtäter aus der Verantwortung entließ 9 . Seit 1960 war alles außer Mord verjährt, die Zentrale Stelle Ludwigsburg wurde aber erst 1965 voll eingeschaltet. Strafrechtliche Ermittlungen haben historische Fakten nach rechtlichen Kriterien zu behandeln. Eine kritische Durchsicht der Akten durch den Historiker verdeutlicht, daß die Ermittlungsbehörden nicht vollständig im gesellschaftsfreien Raum operieren, sondern auch in einem historischen Kontinuum stehen; gesellschaftliche Vorurteile, Vorstellungen von historischen Fakten, also die Resultate kollektiver rückwirkender Umgestaltung der Vergangenheit finden ihren Ausdruck. Es gibt einige entscheidende Stellen im Ermittlungsverfahren, die, figurativ gesprochen, als Durchlaßventile dienen. Das soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden.
Verfahrenseröffnung Hier ist die erste Durchlaßtelle zu sehen. Ermittlungsverfahren werden nur dann aufgenommen, wenn es einen ernstzunehmenden oder ernstgenommenen Tatvorwurf gibt. Dazu ein Beispiel: 1963 schrieb ein arbeitsloser Malergeselle einen Brief an die Behörden, in dem er u. a. erwähnte, daß er im Krieg in Weißrußland in einem O r t stationiert gewesen sei, wo sich ein großes, zu dieser Zeit schon eingeebnetes Massengrab befunden habe. Dem Mann war gerichtlich verminderte Zurechnungsfähigkeit bescheinigt worden, er war ersichtlich ein Querulant und litt an Verfolgungswahn (er sah sich selbst als Opfer medizinischer Experimente) 1 0 . Glücklicherweise beschäftigte sich ein sehr erfahrener Kriminalbeamter mit dem Vorgang, der erkannte, daß der Kern der Aussage durchaus richtig sein konnte, was die nachfolgende Ermittlung bestätigte 11 .
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Siehe ebd. Laut Dreßen ist es, angesichts der verantwortlichen Person, die die Abänderung konzipierte, schwer, an einen Zufall zu glauben, ebd., S. 23. W . Ko., 17. 1 0 . 1 9 6 3 , S. 1 ff., ZStL 202 A R - Z 9/64. Unter anderem verlor Ko. einen Prozeß zur Annullierung seiner Ehe: „Mit dem Urteil war ich nicht einverstanden, weswegen ich mich auch seit 1957 mit dem Fall beschäftige und keiner Arbeit mehr nachgehe". Landeskriminalamt ( L K A ) Niedersachsen, 18. 10. 1963, S. lOff. W . Ko. hielt seine Aussagen in einer zweiten Aussage aufrecht, 12. 7. 1965, S. 1159 ff., sämtlich: ZStL 202 A R - Z 9/64. Die Zentrale Stelle führte aus, daß die von Ko. gemachten Angaben über die Vorgehensweise der Geheimen Feldpolizei den Erkenntnissen aus anderen Verfahren völlig entspräche, ZStL an L K A , 6. 2. 1964, S. 58 ff. Ko. und andere hatten einen Stützpunkt nahe einem Waldlager, in dem ihre Einheit stationiert war, zu bewachen. A m Heiligen
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Bei den A u s s a g e n v o n W . K o . w a r eine eigenartige G e m e n g e l a g e v o n W a h n u n d W i r k l i c h k e i t zu b e o b a c h t e n . Z u m einen schilderte er alle Vorgänge v o n E r s c h i e ß u n g e n u n d M i ß h a n d l u n g e n v o n Zivilisten, an die er sich e r i n n e r n k o n n t e , g l a u b h a f t . D i e E r s c h i e ß u n g einer im sechsten o d e r siebten M o n a t s c h w a n g e r e n russischen F r a u w u r d e d u r c h Zeugenaussagen bestätigt. A u f d e r a n d e r e n Seite legen das A u s m a ß u n d die U n g e h e u e r l i c h k e i t d e r V e r b r e c h e n , die er erlebt hatte nahe, d a ß er i m G r u n d e alles f ü r m ö g l i c h hielt: S o v e r d ä c h t i g t e er den Stabsarzt in e i n e m R e s e r v e l a z a r e t t , 1 9 4 4 bei einer O p e r a t i o n m e d i z i n i s c h e V e r s u c h e an i h m v o r g e n o m m e n z u h a b e n 1 2 . Im L a u f e d e r E r m i t t l u n g w u r d e ein einziger, v o r b e h a l t l o s aussagender Z e u g e g e f u n d e n , ein ehemaliger D o l m e t s c h e r bei d e r als v e r a n t w o r t l i c h e r m i t t e l t e n G F P - E i n h e i t 7 0 7 1 3 , d e r detaillierte A n g a b e n n i c h t n u r ü b e r M a s s e n e r s c h i e ß u n g e n , s o n d e r n auch ü b e r f o r t l a u f e n d e W i l l k ü r akte machte: W i e ein russischer B a u e r e r s c h o s s e n w u r d e , w e i l er die H ä n d e nicht aus d e r H o s e n t a s c h e n e h m e n w o l l t e , e b e n s o eine alte russische Frau u n d ein alter b l i n d e r M a n n als „ P a r t i s a n e n z u t r ä g e r " 1 4 . A u c h dieser Zeuge ist eine d e u t l i c h r a n d s t ä n d i g e E x i s t e n z in d e r N a c h k r i e g s g e s e l l s c h a f t . Vergleichbare
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Abend 1942 wurde der Stützpunkt angegriffen, der danach kontrollierende Kompaniechef fragte, ob die Angreifer Spaten bei sich gehabt hätten, da sie, seiner Vermutung nach, das Massengrab hätten ausgraben wollen. Ko. fand dann die Umrisse des Massengrabes - mit jungen Bäumen bepflanzt - und er nahm an, daß der Zweck des Stützpunkts sei, das Auffinden von Leichen zu verhindern. Im Verlauf der Ermittlungen wurde eine große Zahl ehemaliger Angehöriger der Einheit ermittelt, ohne daß dies zu Ergebnissen geführt hätte. Der Tatverdächtige H. R. brachte sich nach Südafrika in Sicherheit; in den weiteren Ermittlungen gegen W . K. scheinen einige Zeugen ihre Aussagen abgeschwächt zu haben, im Bezug auf die anderen nahm die Staatsanwaltschaft an, daß sie voreingenommen seien. W . Ko., ZStL 202 A R - Z 9/64, S. 1 ff. Zur GFP allgemein das in Teilen problematische Buch von Geßner, Geheime Feldpolizei; eine aktualisierte Zusammenfassung in: ders., Feldpolizei. E. Ku., 1. 4. 1965, S. 871 ff., ZStL 202 A R - Z 9/64, Ku. war in demselben Waldlager in Staryje Dorogi (ein Außenkommando von Ossipowitschi) stationiert wie Ko.: „Erschießungen von Zivilpersonen sind je nach Anfall vorgekommen. Während meiner Zeit wurden fast in jeder Woche eine bis zu zehn Personen exekutiert". Weiter berichtet er über eine Massenerschießung in Bobruisk durch die GFP 707, die in dem ursprünglichen Tatvorwurf nicht erwähnt gewesen war. Angehörige der GFP hätten Photos des Massengrabs und der Leichen in der Festung von Bobruisk während des Essens in der Kantine herumgereicht. Ein Judenlager, nahe dem Waldlager gelegen, wurde im August oder September 1942 von einer Einheit der Feldgendarmerie (FG) geräumt: „Ich habe davon erfahren und mir noch rechtzeitig meinen Stoff wiedergeholt, den ich bei einem jüdischen Schneider zur Fertigung eines Kleidungsstücks abgegeben hatte." Ku. gibt an, aus der GFP entlassen und an die Front versetzt worden zu sein, weil er sich über die Unrechtmäßigkeit der Erschießungen durch die GFP geäußert habe. Er habe keinerlei Kontakte zu ehemaligen Angehörigen seiner Einheit mehr. Im Gegensatz dazu die Aussage von W . Fr., 17.2.1964, ZStL, 202 A R - Z 9/64, S. 165f.:" „Mir ist nicht bekannt, daß von Feldpolizeieinheiten irgendwelche Exekutionen an Zivilisten (u. a. auch Frauen und Kindern) ausgeführt worden sind". Einsätze habe es nur gegen Partisanen gegeben, nachdem diese deutsche Soldaten „auf grausame Art und Weise ermordet", ihnen die Augen ausgestochen, die Zunge und das Geschlechtsteil abgeschnitten hätten. Die Kameraden hätten sich aber trotzdem nicht zu Exzessen hinreißen lassen. Ebenso der Zeuge F. Gr, 2 4 . 2 . 1964, S. 177 ff, ZStL 202 A R - Z 9/64: „Solange ich bei der GFP 707 war, ist nie eine Aktion gegen die jüdische Bevölkerung gewesen." Ein anderer Zeuge ist etwas differenzierter, er erinnert sich an einzelne Einheitsangehörige als „sehr schnelle Schießer", die dann auch rasch dekoriert worden seien, W . Hä., 19. 2. 1964, ZStL 202 A R - Z 9/64, S. 167 ff.
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B e o b a c h t u n g e n k a n n m a n i m m e r w i e d e r m a c h e n , v o r allem in der F r ü h z e i t , w i e den f ü n f z i g e r J a h r e n 1 5 . Es stellt sich also die Frage n a c h kausalen Z u s a m m e n hängen. H i e r ist h e r v o r z u h e b e n , d a ß d e r U m s t a n d , d a ß die Z e n t r a l e Stelle z u n ä c h s t an den E r m i t t l u n g e n v o n K r i e g s v e r b r e c h e n nicht beteiligt w a r , v o n sehr g r o ß e r B e d e u t u n g ist. F ü r d e n G e s a m t k o m p l e x v o n N S - V e r f a h r e n ist zu sagen, d a ß o h n e d e r e n E r r i c h t u n g 1 9 5 8 eine ü b e r das E p i s o d e n h a f t e hinausgehende E r mittlungstätigkeit n i c h t m ö g l i c h g e w e s e n w ä r e , da n u r p e r s ö n l i c h e A n z e i g e n z u r V e r f a h r e n s e r ö f f n u n g f ü h r e n k o n n t e n , w a s viele g r ö ß e r e V e r b r e c h e n s k o m plexe v o n vornherein ausschloß16. A u ß e r d e r Z e n t r a l e n Stelle h a b e n einige S t a a t s a n w a l t s c h a f t e n , die viele N S - V e r f a h r e n g e f ü h r t haben, eine g r u n d l e g e n d e r e A u f a r b e i t u n g d e r historisch belegten V e r b r e c h e n v e r s u c h t , s o die S t a a t s a n w a l t s c h a f t M ü n c h e n I i m B e z u g auf die Z u s a m m e n a r b e i t z w i s c h e n den K o m m a n d e u r e n d e r r ü c k w ä r t i g e n A r m e e g e b i e t e u n d d e r E i n s a t z g r u p p e D 1 7 . D i e Z e n t r a l e Stelle v e r s u c h t e in s y s t e m a t i s c h e r
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Diese Anmerkung stützt sich auf persönliche Beobachtungen der Verfasserin, ohne dabei den Anspruch stellen zu wollen, dies zahlenmäßig belegen zu können. Als Beispiele: G. He., der beschreibt, wie Kleinkinder bei einer großen Mordaktion an Juden „wie Tontauben" abgeschossen wurden, 20. 1. 1965, S. 81 ff., ZStL 202 A R - Z 52/59. D. We., 29. 5. 1959, S. 3 f., 319 A R - Z 369/59. H. O., 12. 7. 1961, der seine Informationen zu Erpressungszwecken benutzte, ZStL 213 A R - Z 88/61. Häufig bilden Streitsituationen oder Scheidungen den Anlaß zu Anzeigen, so ZStL SA 244, oder ZStL 202 A R - Z 43/69. Im letzten Fall w a r die Anzeige falsch, und die Eskalation eines Nachbarschaftsstreits, in dem sich die Kontrahenten mit „SS-Sau" und „Russische Drecksau" beschimpften. Dazu kommt, daß unentbehrliche Hilfsmittel, wie Karteien und Aktensammlungen, die auf Archivsauswertung beruhten, erst durch die Zentrale Stelle aufgebaut werden konnten. Ein weiterer Faktor ist die notwendige Spezialisierung des Justizpersonals. So gegen Angehörige des Korück 553, ZStL 449 A R 2126/65; StA München I 112 Js 24/62. In diesem Fall lagen der Ermittlungsbehörde Beweisdokumente vor, was die Zeugen an der rückerinnernden Verschiebung von Zuständigkeiten nicht hinderte. O. Bu., Hauptfeldwebel in der Ortskommandantur Dshankoj, erinnerte sich an Judenerschießungen durch den SD in Panzergräben und die Abordnung von Absperrmannschaften durch die Ortskommandantur. Er beschreibt die Details der Erstellung von Berichten, die dem Korück zur Entscheidung vorgelegt wurden, der dann „dem SD übergeben" oder „erledigen" vermerken konnte, 2. 7. 1962, S. 9ff. Der Kradmelder beim Korück 553, H. Re., erinnert sich Post beim SD in Simferopol abgegeben zu haben. Außerdem erinnerte er sich an Mordaktionen gegen Juden auf jeder Etappe seines Vormarsches in Rußland, inklusive Gaswagen in Simferopol, 19. 6. 1963, S. 35 ff. Der Schreiber des Quartiermeisters hatte keine Befehle des Korück oder Berichte der Ortskommandanten oder der FG „im Bezug auf Aktionen über Juden" gesehen und hielt die Beteiligung des Korück an „Liquidierungen von Juden" auf der Krim für unmöglich, H. Go., 20. 8. 1963, S. 67 ff. Einige der Berichte stammten allerdings vom Quartiermeister. Der Zeuge gab an, sein Chef habe sie wohl selbst geschrieben. Dem Quartiermeister und Chef des Stabes war von den in den Berichten „erwähnten Maßnahmen gegen die Juden nichts bekannt", er sei „ausdrücklich ausgeschlossen . . . als Vertreter in Gerichtssachen und in Sachen des Ic" gewesen, F. Be.,7. 4. 1964, S. 111 ff. Das deutete auf den Ic. Der Schreiber des Ic, der auch Zugang zu den „Geheim- und G'kdos-Sachen" hatte, erinnerte sich an den Inhalt von Schreiben, die an den SD gingen, nicht. Mit dem Begriff „Umsiedlung" verband er nichts, er hatte „hundertprozentig. .. niemals etwas über Judenexekutionen gehört." Auf Vorhalt schließlich: „Mir ist ein bißchen bekannt, daß von den Ortskommandanten aus Leute des Wach-bzw Landesschützenbtl. und Fahrzeuge zum SD abgestellt wurden", womit aber die Abteilung Ic nichts zutun gehabt habe, sondern allenfalls der Quartiermeister, K. Ke., 28. 8. 1963, S. 78 ff., sämtlich ZStL 449 A R 2126/65.
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Weise der Weitergabe und Durchführung des Kommissarbefehls nachzugehen. Hier wurde deutlich, daß zu diesem Zeitpunkt - mittlerweile die frühen siebziger Jahre - bei den historisch rekonstruierbaren Verbrechen das Lebensalter der Verdächtigen eine weitere Strafverfolgung unmöglich machte, Zum größten Teil waren sie bereits tot 18 . Einige historisch wichtige Bereiche sind strafrechtlich nicht relevant, weil das Interesse an historischer Aufarbeitung nicht mit dem rechtlichen koinzidierte. So fällt auf, daß Verbrechen im Zusammenhang mit dem Partisanenkampf so gut wie nicht berücksichtigt wurden. Einer der Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen im Rahmen der Partisanenbekämpfung, der „Bevollmächtige für den Partisanenkampf", Erich von dem Bach-Zelewski, war in den fünfziger Jahren wegen dreier individueller politischer Mordtaten zu dreimal lebenslanger Haft verurteilt worden, weshalb die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth keinen Grund zur Anstrengung neuer Verfahren sah 19 . Das ist aus juristischer Sicht richtig, aus der Sicht historischer Erkenntnis bedauerlich; man kann auch nicht umhin anzunehmen, daß die Staatsanwaltschaft nicht besonders unglücklich war, dieses heiße Eisen, das in der Nachkriegsgesellschaft kontrovers und emotional diskutiert wurde, nicht anpacken zu müssen.
Beweismittel Wenn Verfahren eröffnet worden waren, standen als Beweismittel Dokumente und Zeugenaussagen zur Verfügung. Die den Ermittlungsbehörden vorliegenden Dokumentenbestände waren spärlich (weitgehend Nürnberger Dokumente, teilweise ergänzt durch Bestände des Bundesarchiv-Militärarchivs), und konnten viele Vorkommmnisse nicht erhellen. Die Justiz blieb in erster Linie auf die Aussagen deutscher Zeugen angewiese, die zum großen Teil selbst tatverdächtig waren. Insgesamt ist zu sagen, daß das Ausmaß der falschen Angaben immens ist. Selten sind vorbehaltlose und ehrliche Aussagen vor allem der Hauptverantwortlichen zu finden, so gut wie niemand schien sich seiner Verantwortung stellen zu wollen. Die Tendenz zum Leugnen ist proportional zur Schwere der zu verantwortenden Taten. Das galt selbst dann, wenn Dokumente vorlagen. Ein Tatvorwurf betraf die Ermordung von Geisteskranken in einer Anstalt in Rußland-Nord im Zusammenwirken von Wehrmachtstellen und einem Einsatzkommando. Zu dem Vorgang lag Korrespondenz zwischen dem Teilkom-
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Die Zentrale Stelle hatte für diese routinemäßigen Ermittlungen einen Vordruck erstellt, Akten des Militärarchivs ausgewertet und mit Hilfe der Wehrmachtauskunftsstelle ( W A S t ) die Kommandanten und Ic ermittelt. Im Falle Korück 559 und 584 waren die möglichen Beschuldigten aus den Jahrgängen 1877, 1884, 1890, 1891. Verfahrenseinstellungen erfolgten 1979, ZStL 3 1 9 A R 1598/72, ZStL 3 1 9 A R 1601/72. Im Falle des A O Κ 16 konnte noch der 3. Ordonnanzoffizier ermittelt werden, ZStL 3 1 9 A R - Z 142/76. Streim weist auf dasselbe Problem im Bezug auf die Kommandanten von Kriegsgefangenenlagern hin, siehe ders., Behandlung, S. 287 ff. Der Kommissarbefehl ist in der Literatur intensiv behandelt, siehe Krausnick, Einsatzgruppen; Förster, Unternehmen. Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, 9. 4. 1965, S. 48 ff., ZStL 202 A R - Z 52/59.
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mando Hubig der Sicherheitspolizei und des SD sowie den Ic des XXVIII Armeekorps und der 18. Armee vor, die schon im Nürnberger Prozeß verwendet worden waren 20 . Ihnen zufolge hatten Hubig und der Ic sowie der Generalstabschef des XXVIII Armeekorps die Tötung von weiblichen Insassen einer Anstalt als notwendige Maßnahme empfohlen, da sie einen möglichen Gefahrenherd bilden und zudem „nicht lebenswertes Leben" darstellen würden. Der zuständige Ortskommandant sah, interessanterweise, eine Gefahr nicht gegeben. Die Zustimmung des Oberbefehlshabers der 18. Armee wurde eingeholt und im Januar 1942 die „Angelegenheit" als bereinigt gemeldet. Man sollte denken, daß in diesem Fall die Beweislage eindeutig gewesen wäre. Die meisten Beteiligten waren noch am Leben. Der ehemalige Ic des Generalkommandos XXVIII A.K., E.v.W., erinnerte sich an die Eintragungen in seinem Tätigkeitsbericht, die auf einen Vorgang bei der 269. Infanteriedivision zurückgegangen seien. Der Kommandierende General, Loch, habe entschieden, die Sache der Armee vorzulegen, das A.O.K. 18 habe dann mitgeteilt, die „Angelegenheit dem SD" zu übertragen 21 . Sein Kommandierender General dagegen wollte von dem Vorgang nie etwas gehört haben; die Verantwortung für die Zusammenarbeit mit dem SD versuchte er seinen Untergebenen zuzuschieben: „Die leitenden Herren meines Stabes mögen vielleicht Verbindungen zu einzelnen SD-Stellen gehabt haben, was mir aber nie bekannt wurde" 22 . Auf der eigentlichen Entscheidungs- und Ausführungsebene bekannte sich niemand zu Mitwissen oder Mitbeteiligung an der Ermordung der geisteskranken Frauen, weder der Ic 23 noch der Oberbefehlshaber des A O K 18 24 . Die Vertreter
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Tätigkeitsbericht, 7.-26. 12. 1941, Gen. Kdo/ XXVIII AK, Ic, Teilkommando Hubig an die Einsatzgruppe A, 2. Dezember 1941, Gen. Kdo. XXVIII. Α. K., Ic an AOK 18, Ic, 20. 12. 1941, Gen. Kdo. XXVIII. Α. K., Ic an AOK 18, Ic, 3. 1. 1942, N O K W 2268; siehe Beschreibung des Vorfalls bei Krausnick, Einsatzgruppen, S. 268 ff. E. v. W., 6. 10. 1966, S. 34 ff, ZStL 207 A R 2142/66. Dem Zeugen zufolge habe Hubig keine Uberlebenden in der Anstalt mehr angetroffen: „Die Truppe hätte sich inzwischen selbst geholfen gehabt und die Insassen, soweit sie nicht schon gestorben waren, erschossen". Der Zeuge beeilte sich auch, Hubig zu bescheinigen „nur befehlsgemäß gehandelt" zu haben. Herbert Loch, 20. 9. 1967, S. 87 ff., ZStL 207 A R 2142/66. Loch wollte das Tagebuch des XXVIII Α. K. nie gesehen haben, noch seinem Ic Weisung zu dem -erhalten gebliebenen Antwortschreiben gegeben haben. W . Ri„ 20. 2. 1967, S. 57ff., ZStL 207 A R 2142/66: „da das Schreiben vom 20. 12. 41 des Generalkommandos des XXVIII. Α. K., Abt. Ic, an AOK 18, Ant. Ic, gerichtet war, müßte ich von dem Schreiben und der weiteren Behandlung Kenntnis haben, da ich zu diesem Zeitpunkt Ic der 18. Armee war. Wie schon oben erwähnt, habe ich von diesem Schreiben keine Kenntnis mehr. Ich weiß auch nicht, wie dieses Schreiben im Stab der 18. Armee weiterbehandelt worden ist." Georg v. Küchler, 23. 2.1967, S. 63 ff., ZStL 207 A R 2142/66. Der ehemalige Generalfeldmarschall versuchte, die Verantwortung auf die ihm Unterstellten abzuwälzen, entweder den Kommandierenden General Loch oder den Chef des Stabes des AOK 18. Küchler war in Nürnberg unter anderem wegen der Tötung der Geisteskranken zu zwanzig Jahren verurteilt worden, IMT, XI, „The High Command Case", „The Hostage Case", S. 565 ff, siehe auch Küchlers Aussage, ebd., X, S. 1200 ff. Vgl. die Darstellung bei Friedrich, Gesetz, S. 447 ff.
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d e r Sicherheitspolizei, H u b i g 2 5 u n d Fischer 2 6 , v e r h i e l t e n sich ebenso. Einzig ein w e i t g e h e n d Unbeteiligter, d e r F a h r e r H u b i g s , erinnerte sich an die U n t e r r e d u n g z w i s c h e n O r t s k o m m a n d a n t u n d E i n s a t z k o m m a n d o l e i t e r , er erinnerte sich an die F a h r t z u r A n s t a l t , er e r i n n e r t e sich auch an den elenden u n d v e r nachlässigten Z u s t a n d d e r Insassinnen: „In d e m einen R a u m , d e n ich m i t besichtigte, w a r e n e t w a 5 o d e r 6 F r a u e n u n t e r g e b r a c h t . Sie lagen in B e t t e n u n d m a c h t e n einen v ö l l i g v e r w a h r l o s t e n u n d i r r e n E i n d r u c k . D e r G e s t a n k w a r bestialisch. D e r R a u m s t r o t z t e v o r S c h m u t z . M a n k a n n dieses Bild gar nicht beschreiben" 2 7 . Es sollte h i n z u g e f ü g t w e r d e n , d a ß die S t a a t s a n w a l t s c h a f t diesen Zeugen v o r sorglich als M i t b e s c h u l d i g t e n b e n a n n t hatte, w ä h r e n d die W e h r m a c h t o f f i z i e r e Z e u g e n w a r e n . D a s V e r f a h r e n w u r d e eingestellt 2 8 . Falls keine k o n k r e t e n D o k u m e n t e v o r l a g e n , selbst w e n n die historischen G r u n d t a t s a c h e n a u ß e r Z w e i f e l standen, gestaltete sich die Beweislage n o c h schwieriger. „ O r a l h i s t o r y " w a r als M e t h o d e in E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n ungeignet, w i e ein V e r s u c h z u r A u f k l ä r u n g d e r V e r b i n d u n g e n u n d K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n W e h r m a c h t u n d E i n s a t z g r u p p e n d u r c h B e f r a g u n g ehemaliger h o c h rangiger O f f i z i e r e E n d e d e r f ü n f z i g e r J a h r e zeigte 2 9 . D i e erteilten A n g a b e n lief e n n u r auf A b g r e n z u n g der beiden Bereiche hinaus. D e r „ K a l t e K r i e g " , d e r einen d i r e k t e n Z u g r i f f auf s o w j e t i s c h e A r c h i v a l i e n und Z e u g e n u n m ö g l i c h machte, v e r b e s s e r t e die C h a n c e n der E r m i t t l u n g e n nicht 3 0 .
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Hermann Hubig, 14. 11. 67, S. 100 ff., ZStL 207 A R 2142/66. Hubig räumte nur auf Vorhalt der Dokumente das Notwendigste ein, er habe aber nur „gesprächsweise" von der Durchführung der Anstaltsräumung gehört, vermutlich sei sie vom Stab der Einsatzgruppe Α in Krasnowardeisk veranlaßt worden. Alois Fischer w a r Leiter der Außenstelle der Sicherheitspolizei, 23. 6. 1967, S. 82 ff., ZStL 207 A R 2142/66. K. Di., 22. 7. 1966, S. 25 ff., ZStL 207 A R 2142/66. Der Ortskommandant, der dem Vorhaben der Tötung der Anstaltsinsassen nicht zugestimmt hatte, erinnerte sich zumindest an einige der Vorkommnisse, unter anderem daran, gehört zu haben, daß Geisteskranke getötet wurden, K. v. W., 27. 2. 1967, S. 69 ff., ZStL 207 A R 2142/66. Staatsanwaltschaft Konstanz, 3. 1. 1968, ZStL 207 A R 2142/66. Hubig, der bis in die sechziger Jahre dem Bundesnachrichtendienst angehörte, wurde auch in einer Reihe anderer Ermittlungen außer Verfolgung gesetzt. ZStL an J., ehemaliger l c der Heeresgruppe Nord, 19. 12. 1958; W. Ri., ehemaliger l c der 18. Armee, 3. 1.1959, J. an ZStL, 5. 1.1959; R. G., ehemaliger lc/AO Heeresgruppe Mitte, an Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart, 27. 3. 1957, sämtlich ZStL 319 A R - Z 142/76. Während lange Zeit darüber spekuliert wurde, ob sich in sowjetischen Archiven wichtige und sonst nirgendwo überlieferte Akten befinden könnten, hat sich diese Hoffnung mittlerweile als unbegründet erwiesen. Auch die Archive in Rußland und den anderen GUSStaaten bringen im Bezug auf zeitgenössische Akten keine entscheidenden Durchbrüche. Sowohl hinsichtlich der politischen Entscheidungsebene der Zivilverwaltung als auch der Sicherheitspolizei, SS und der höherrangigen Stellen der Ordnungspolizei sind kaum Akten vorhanden. Die Täter haben die Beweismittel vernichtet. Ein Beispiel sind die Akten des „Reichskommissars Ukraine", die im Staatsarchiv in Kiew verwahrt werden. Nach Auskunft des Archivs waren diese Akten bereits zum Abtransport ins Reich in Kisten verpackt, wurden aber von Einheiten der Roten Armee bei einer Bahnlinie in Transnistrien aufgefunden (dazu gibt es Bildmaterial). Die politisch entscheidenden Teile der Akten, etwa die Hauptabteilung Politik, sind aber trotzdem nicht erhalten; man kann annehmen, daß diese bereits vor dem versuchten Abtransport vernichtet wurden. Über längere Zeit wurde von den sowjetischen Behörden Dokumente allenfalls Strafverfolgungsbehörden
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Bei d e n späteren V e r f a h r e n w u r d e n die A u s s a g e n s o w j e t i s c h e r Zeugen den d e u t s c h e n E r m i t t l u n g s b e h ö r d e n in z u n e h m e n d e m U m f a n g zugeleitet. A b g e s e h e n v o n allen F r a g e n d e r rechtlichen W ü r d i g u n g 3 1 , zeigte sich o f t , daß diese A u s s a g e n sich auf Details b e z o g e n , d e r e n Z u o r d n u n g z u m G a n z e n dessen Evid e n z sehr schwierig erscheinen ließ. S o in einem V e r f a h r e n , gegen (neben anderen Einheiten) die S i c h e r u n g s d i v i s i o n 4 4 4 im R a u m östlich v o n D n e p r o p e t r o v s k , f ü r das E i n t r a g u n g e n i m K r i e g s t a g e b u c h z u r V e r f ü g u n g standen, die aber z u pauschal w a r e n , u m sie d e n beteiligten Einheiten o d e r gar individuellen T ä t e r n z u o r d n e n z u k ö n n e n 3 2 . V o n den s o w j e t i s c h e n B e h ö r d e n w u r d e eine ganze A n z a h l m i n u t i ö s e r A u s s a g e n v o n D o r f b e w o h n e r n e r h o b e n . Diese berichteten ü b e r die i h n e n e r i n n e r l i c h e n V o r f ä l l e , K a m p f h a n d l u n g e n u n d T ö t u n gen, w o b e i sich die ihnen m ö g l i c h e p e r s o n e l l e I d e n t i f i z i e r u n g ü b e r die Ebene der örtlichen, n i c h t d e u t s c h e n Polizei nicht hinausreichten. S o n s t k o n n t e n sie sich lediglich an „deutsche Soldaten" u n d allenfalls die U n i f o r m f a r b e o d e r das Metallschild d e r F e l d g e n d a r m e r i e e r i n n e r n ; die jeweils gestellte Frage nach den d e u t s c h e n H a u p t v e r a n t w o r t l i c h e n , w i e den K o m m a n d e u r e n d e r 4 4 4 . Sicher u n g s d i v i s i o n , blieb einheitlich u n b e a n t w o r t e t 3 3 . D i e A u s s a g e n der deutschen Z e u g e n gaben, im besten Fall, I n f o r m a t i o n e n zu T ö t u n g s h a n d l u n g e n , w a r e n
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zugänglich gemacht, allerdings nur „tropfenweise", und vermutlich nach Maßgabe propagandistischer Interessen. Häufig werden starke Vorbehalte nicht nur gegen Akten aus sowjetischen Archiven, sondern speziell gegen Aussagen, die vor dem KGB gemacht wurden, erhoben. Der seit etwa 1991 mögliche Zugang zu KGB Ermittlungen erlaubt es, zu differenzierten Einschätzungen zu kommen. Es lassen sich im historischen Ablauf der Ermittlungen Phasen erkennen, wonach sich die Verfahren gegen Sowjetbürger in der unmittelbaren Nachkriegszeit (oder sogar vor Kriegsende) auf die Konsoldierung sowjetischer Herrschaft richteten und häufig sehr summarisch geführt waren. Die Teilnahme an NS-Verbrechen steht dabei nicht immer im Vordergrund. Das änderte sich, die Ermittlungen konzentrierten sich auf in der Besatzungszeit begangene Verbrechen und sind sehr sorgfältig durchgeführt worden. Es ist vielfach zu beobachten, daß Zeugen keine sachdienlichen Angaben machten und ihnen diese auch nicht abverlangt wurden. In welcher Weise Geständnisse der Angeklagten herbeigeführt wurden, darüber kann nur spekuliert werden, wobei zum Beispiel die Tageszeiten, zu denen Verhöre stattfanden, als Hinweis dienen können. Man sollte bei der Auswertung dieser Akten im Auge behalten, daß sie für den internen Gebrauch bestimmt waren, und der KGB zur Zeit ihrer Entstehung keinen Grund zur Annahme hatte, daß sie einmal einem weiteren Personenkreis zugänglich sein würden, somit kein Anlaß bestand, etwas zu verschleiern. In der Literatur ist diese Problematik nicht hinreichend behandelt worden, selbst in der jüngeren Literatur läßt zum Beispiel Karner es an kritischer Differenzierung mangeln, Karner, Archipel, S. 170 ff. Siehe auch Beitrag Karner in diesem Band. Zentrale Stelle, 15. 3.1972, Bd I; Abschlußbericht Zentrale Stelle, 3. 3. 1973; Staatsanwaltschaft Stuttgart, Einstellungsverfügung, 4. 3. 1980, ZStL 204 A R - Z 70/73. Verfahren dieser Größenordnung scheinen an die Grenzen der Kapazitäten einer Staatsanwaltschaft gestoßen zu sein. M. Ir., 6. 1. 1978, S. 372ff; A. Pa., 6. 1. 1978, S. 377ff.; F. Is., 10. 1. 1978, S. 410ff; P. Bu., 11.1.1978, S. 466 ff.; A. Pk., 11. 1. 1978, S. 472 ff.; I. Bo„ 11.1.1978, S. 489 ff.; G. Bo„ 5. 1. 1978, S. 581 ff.; M . Sa., 5. 1. 1978, S. 586ff.; M. Pa., 25. 10. 1977, S. 750ff.; M. Po., 26. 10. 1977, S. 759ff.; M. Sy., 28. 10. 1977, S. 765 ff.; M. Su„ 16. 11. 1977, S. 793ff.; S. Ko„ 13. 4. 1978, S. 835ff.; dieser Zeuge berichtete, daß die Deutschen Dorfbewohner als lebende „Minensuchgeräte" vor sich her trieben; J. Kr., 22. 4. 1978, S. 862 ff., sämtlich ZStL 204 A R - Z 70/73.
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aber zu vage im Bezug auf spezifische Tatorte oder Daten 3 4 . Das zur Verbindung der beiden Aussageebenen notwendige Mittelglied fehlte, was durch zeitgenössische, lokale Dokumente geleistet hätte werden können.
Einstellungen, Urteile Besonders stark kommen kollektive historische Kategorien bei der Einstellung von Verfahren sowie in Urteilen zum tragen. Dabei sind einige immer wiederkehrende Argumentationsmuster zu beobachten, die die rückschauenden Exkulpations- und Erklärungsstrategien in der deutschen Nachkriegsgesellschaft wiederspiegeln, als da sind: Abgrenzung der Wehrmacht von eindeutig nationalsozialistischen und besonders verbrecherischen Institutionen, wie der Sicherheitspolizei, der SS und der politischen Führungsspitze. Ebenso wurde eine strikte weltanschaulich begründete Trennung zwischen den politischen Zielen des Nationalsozialismus und den ausschließlich an soldatischen Werten orientierten Vorstellungen der Wehrmacht postuliert. Hinzu kommen tradierte Wertvorstellungen und Überzeugungen aus der Kriegszeit, die nicht revidiert werden. Sie betreffen insbesondere die historische und moralische Problematik des Zweiten Weltkriegs, und insbesondere den deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Eine Argumentationslinie zielt darauf, jede Zusammenarbeit, ja jede Berührung zwischen Wehrmacht und Sicherheitspolizei zu leugnen und beide Bereiche als völlig voneinander getrennt darzustellen. Ein Beispiel dafür ist eine Ermittlung gegen Angehörige der Ortskommandantur 1/287 (in Kerc' und Feodosia) und deren Verbindung mit den örtlichen Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD. Der ehemalige Ortskommandant sagte aus, daß keinerlei Verbindung bestanden hätte 35 , ja, daß ihm der Zutritt zum Dienstgebäude des Sicherheitspolizeikommandos verwehrt gewesen sei. Seine eigenen Tätigkeitsberichte, in denen über Festnahmen und Exekutionen von Juden und Krimtschaken berichtet wurde, wollte er nicht geschrieben haben 36 . Der Führer des Feld-
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W. Ka., 9. 5. 1974, S. 177ff.; W. Ot., 17. 6. 1975, Z S t L 204 A R - Z 70/73. A. Va., 1. 8. 1962, S. 25 ff. Va. war Ortskommandant von Kerc' von Mai bis September 1942. „ E s ist unrichtig, daß der S D in Zusammenarbeit mit der Feldgendarmerie und der Ortskommandantur politische Abwehrmaßnahmen durchgeführt hat.. .Ortskommandantur und Feldgendarmerie beschäftigten sich nur mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und O r d n u n g . " Glaubhaft war dies allenfalls im Falle des ersten Ortskommandeurs, der diese Position nur für zwei Wochen direkt nach dem deutschen Einmarsch einnahm, J. Ha., 14. 6. 1962, S. 20ff. Ha. war Pfarrer der Bekennenden Kirche gewesen, sämtlich Z S t L 213 A R - Z 72/67. „Ich kann mich nicht erinnern, ob ich diesen Bericht geschrieben habe... (Auf Vorhalt).. N a c h meiner Erinnerung haben Ortskommandantur und S D nie zusammengearbeitet. Der Bericht muß insofern unrichtig sein." A. Va., 1. 8. 1962, S. 25 ff. Der Schreiber gab zu, den militärischen Teil geschrieben zu haben, den politischen habe sich der Adjudant vorbehalten, F. Fa., 17. 1. 1968, S. 28 ff. Der Adjudant berichtete, den militärischen Teil der Berichte selbst verfaßt und den politischen vom Leiter des F G - T r u p p s erhalten zu haben. Der fertige Tätigkeitsbericht sei dem Ortskommandanten zur Unterschrift vorgelegt worden. A n den Inhalt der ihm während der Vernehmung vorgelegten Berichte konnte er sich „im großen und ganzen erinnern". Diese Aussage kommt dem wahren Sachverhalt
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g e n d a r m e r i e t r u p p s v e r f o l g t e eine ähnliche Strategie, nämlich alle V e r a n t w o r t u n g f ü r T ö t u n g s h a n d l u n g e n d e r Sicherheitspolizei z u z u s c h i e b e n ; er ging sogar s o w e i t z u behaupten, d a ß i h m die B e f e h l s g e w a l t ü b e r die einheimische Polizei also eines d e r E x e k u t i v o r g a n e 3 7 - schlicht v o n d e r Sicherheitspolizei entzogen w o r d e n w ä r e 3 8 . D i e s e V e r f ä l s c h u n g e n d e r tatsächlichen Zuständigkeits- u n d U n t e r s t e l l u n g s v e r h ä l t n i s s e w u r d e v o n den j e w e i l e n U n t e r g e b e n e n berichtigt 3 9 , die sich d u r c h a u s an die b e s t e h e n d e n V e r b i n d u n g e n z w i s c h e n Sicherheitspolizei u n d W e h r m a c h t e r i n n e r n k o n n t e n , z u m Teil sogar an einen sehr kollegialen U m g a n g s t o n . Diese Z e u g e n w u ß t e n auch v o n d e r E r m o r d u n g v o n J u d e n 4 0 u n d K r i m t s c h a k e n 4 1 , sie hatten den G a s w a g e n gesehen u n d ö f f e n t l i c h Erhängte 4 2 .
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am nächsten, E. PI., 22. 1. 1968, S. 38ff.; sämtlich ZStL 213 A R - Z 72/67. Die Tätigkeitsberichte lagen als N O K W Dokumente 1628, 1651, 1699,1711, 1764, 1872, 1891 vor. Das steht im Widerspruch zur Aussage des Ortskommandanten, der angibt, daß ihm sowohl deutsche als auch einheimische Polizei unterstellt war, A. Va., 1. 8. 1962, S. 25 ff., ZStL 207 A R - Z 72/67. Die Stärke der Feldgendarmerie war 1 Offizier und 12-14 Mann, so daß Verstärkung durch die einheimische Polizei für alle Exekutivmaßnahmen unabdingbar war. G. R e , , 26. 8. 1963, S. 50 ff. Laut Re. w a r der FG-Trupp nur „zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung" da. Re. stritt selbst jede Verbindung zur Sicherheitspolizei ab, gab aber an, daß der Ortskommandant sehr wohl „dienstliche oder persönliche Zusammenkünfte" gehabt hätte. Dem steht die Aussage des Adjudanten des Ortskommandanten entgegen: „Übrigens sprechen die vorliegenden Berichte sowieso von einem Zusammenwirken der Feldgendarmerie und des Sicherheitsdienstes. Dieses Zusammenwirken zwischen den genannten Formationen hat sich Ende 1942, bzw. anfangs 1943 immer mehr und mehr intensiviert", E. PI, 22. 1. 1968, S. 38 ff.; sämtlich ZStL 213 A R - Z 72/67. Es gibt auch Gegenbeispiele, so einen Chauffeur, der kategorisch jedes Wissen verneint: „Abschließend möchte ich angeben, daß mir während meiner gesamten Kriegszeit keine Umstände bekannt geworden sind, die in Zusammenhang mit sogenannten NS-Verbrechen stehen könnten", L. H a , 17. 1. 1968, S. 49 ff.; ähnlich der stellvertretende Ortskommandant: „abschließend möchte ich angeben, daß mir während meines gesamten Kriegseinsatzes keinerlei Vorfälle oder Umstände bekannt geworden sind, die heute eventuell als NS-Verbrechen zu werten wären", E. K u , 19. 1. 1968, S. 57ff„ sämtlich ZStL 213 AR-Z 72/67. Der Zeuge F. J a , der die alleinige Verantwortung für Exekutionen bei der Sicherheitspolizei sah, w a r bei einer Familie einquartiert, der Mann war Jude und mußte sich mit den Kindern „beim SD" melden. Die Reaktion der russischen Frau machte ihm klar, was „Umsiedlung" bedeutete: „In etwa habe ich von dieser Praxis schon vorher erfahren, aber in diesem Fall kam mir erst richtig zu Bewußtsein, was sich in unserm Einsatzraum abspielte", F. J a , 19. 8. 1963, S. 43 ff.; ebenso H. H i , der bei einer jüdischen Witwe und deren Sohn einquartiert war. Beide wurden von „SS-Leuten" abgeführt und erschossen: „ich sowie der Kraftfahrer S , der mit mir in gleichen Quartier untergebracht war, waren über diese Vorgehensweise sehr entsetzt, da es sich bei den beiden Juden um sehr nette Leute gehandelt hat", H. H i , 23. 1. 1968, S. 61 ff.; sämtlich ZStL 207 A R - Z 72/67. Die Feldgendarmerie hatte Weisung, alle Juden und Krimtschaken „festzunehmen und dem SD zu überstellen", E. S w , 17. 1. 1968, S. 66 ff.; ZStL 207 AR-Z 72/67. Der Kradmelder W. Ho. bei der FG berichtet, daß Feldgendarmen Juden aus ihren Wohnungen abholten und zur Ortskommandantur brachten, W . H o , 26. 8. 1963, S. 53 ff.; der Dolmetscher der Ortskommandantur Feodosia erinnerte sich an den Leiter der „SDDienststelle", den Sturmbannführer Baumgartner: „unser Kommandant und der SS-Stubaf Baumgartner verstanden sich persönlich sehr gut. Sie kamen auch außerdienstlich zusammen". Die FG überstellte Verhaftete nach kurzem Verhör der Sicherheitspolizei. Das gleiche spielt sich nach der Wiedereinnahme im Mai 1942 in Kerc' ab: Juden wurden laufend bei Razzien aufgegriffen und „zunächst auf dem Hof der Kommandantur festgehalten. Nach Abschluß der Aktion wurden die Festgenommenen mit L K W zum SD abtrans-
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Das Verhältnis von militärischer zu politischer Führung, ja zu Hitler selbst, stand im Zentrum einer von der Zentralen Stelle ausgehenden strafrechtlichen Aufarbeitung verschiedener zentraler Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht und des Oberkommandos des Heeres 4 3 . Gegenstand des Verfahrens war die Beteiligung ehemaliger Angehöriger der Abteilungen Wehrmachtführungsstab, Allgemeines Wehrmachtamt und Wehrmachtrechtwesen 44 an den folgenden Befehlen: Nacht- und Nebelerlaß vom 7. Dezember 1941 4 5 , Kommandobefehl vom 7./18. Oktober 1942 4 6 , Kugelerlaß vom 4. März 1944 4 7 und „Befehl über Maßnahmen gegen Uberläufer und deren Angehörige" vom 19. November 1944 4 8 . Die ermittelnde Staatsanwaltschaft befand, daß bei den neun noch lebenden Beschuldigten eine Mitautorenschaft an den Befehlen nicht nachweisbar sei. Insgesamt wird in der Einstellungsverordnung eine Innenansicht der betroffenen Abteilungen dargeboten, in denen jedermann die „eindeutig dem Gehirn Hitlers entsprungenen Befehle" ablehnte, zu zerreden versuchte, „unermüdlich bekämpfte" und „erschüttert" war. Die „Verantwortlichkeiten" hätten vermutlich „bei der politischen Führung" und allenfalls bei Keitel und Jodl gelegen. Die Staatsanwaltschaft folgte damit der Selbstdarstellung der - in der Nachkriegszeit in honorigen Positionen befindlichen - Beschuldigten und
portiert. U n t e r diesen Juden befanden sich auch Frauen und Kinder. Diese Razzien wurden vom S D und unserer Feldgendarmerie in gemeinsamen Aktionen durchgeführt." F ü h r e r des S D in K e r c ' war SS-Hauptsturmführer Schuchart. F. Gr., 17. 9. 1963, S. 59 ff.; F . Zi., 16. 1. 1968, S. 26 ff.; „eines m ö c h t e ich noch erwähnen, daß S D - A n g e h ö r i g e , in erster Linie ein bestimmter Offizier, in der O r t s k o m m a n d a n t u r praktisch ein- und ausgingen." Fa. fiel besonders auf, daß der O r t s k o m m a n d a n t B. (Nachfolger v o n Va.) den „SDO f f i z i e r " mit „Herr Kollege" ansprach. F . Fa., 17. 1. 1968, S. 26 ff.; E. Re. war für die Verpflegungsausgabe zuständig. E r erlangte Zutritt zu einem „SS-Lager" für Juden in Kerc', u m dem vormaligen Besitzer eines Restaurants, jetzt Soldatenheim, das Eßbesteck abzujagen, E . Re., 15. 1. 1967, S. 34 ff.; ein Zeuge berichtet über Mißhandlungen von Zivilisten im Gefängnisraum der F G , R . Fl., 24. 1. 1968, S. 43 ff; A . E b . , 22. 1. 1968, S. 53 ff.; sämtlich Z S t L 213 A R - Z 7 2 / 6 7 . Das Verfahren gegen Va. wurde an die österreichischen Behörden abgegeben; das Verfahren gegen den Leiter des F G - T R u p p mit der Bemerkung eingestellt: „Es ist bekannt, daß andere, sehr viel ranghöhere Personen als der Beschuldigte, die damals Reichsministerien und anderen hohen Dienststellen in Berlin angehörten, sich darauf berufen haben, von den aus Rassenhaß organisierten Judenvernichtungsaktionen nichts gewußt zu haben. Das spricht für die Einlassungen des Beschuldigten R . " , S t A Stade, 4. 5. 1970, S. 148 ff., Z S t L 213 A R - Z 7 2 / 6 7 . 43 44 45
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Z S t L 4 1 2 A R 1412/65; Z S t L 4 1 2 A R - Z 7 2 / 7 2 . Staatsanwaltschaft Kassel Einstellungsverfügung, 16. 12. 1983, Z S t L 412 A R - Z 72/72. Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten, bekannt als „ N a c h t - und Nebelerlaß". Befehl über die Behandlung feindlicher T e r r o r - und Sabotagetrupps, bekannnt als „Kommandobefehl". A n o r d n u n g von M a ß n a h m e n gegen wiederergriffene, flüchtige kriegsgefangene Offiziere und nicht arbeitende Unteroffiziere mit Ausnahme britischer und amerikanischer Kriegsgefangener, bekannt als „Kugelerlaß". D i e Ermittlung beschäftigte sich auch mit dem „Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im G e b i e t Barbarossa und über besondere Maßnahmen der T r u p p e " vom 13. 5. 1941; den „Richtlinien für die Behandlungen politischer K o m m i s s a r e " vom 6 . 6 . 1941 und den Vereinbarungen des O K H mit dem C h e f der Sicherheitspolizei bezüglich der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener. D i e an diesen Befehls- und Erlaßentwürfen beteiligten Beschuldigten waren aber alle verstorben oder verhandlungsunfähig.
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ging an den tatsächlichen G e g e b e n h e i t e n vorbei; das ging so weit, daß selbst die U n t e r s c h r i f t u n t e r ein D o k u m e n t nicht als Beweis f ü r die Mitarbeit daran angesehen w u r d e 4 9 . B e m e r k e n s w e r t ist, daß nicht n u r der N ü r n b e r g e r G e richtshof schon anders b e f u n d e n hatte 5 0 , s o n d e r n es auch zu diesem Zeitpunkt - 1 9 8 3 - bereits genügend einschlägige historische Literatur über die Beteiligung d e r W e h r m a c h t an der Planung u n d A u s f ü h r u n g v o n Verbrechen der nationalsozialistischen F ü h r u n g gab, die herangezogen hätte w e r d e n k ö n n e n 5 1 ; die Staatsanwaltschaft sich aber w e i t g e h e n d an einer Dissertation orientierte 5 2 , die der apologetischen R ü c k s c h a u der Generalität in der Nachkriegszeit v e r pflichtet ist. Eine dritte Strategie - neben der F i k t i o n strikter institutioneller Trennung v o n d e r Sicherheitspolizei u n d innerer u n d moralischer Trennung v o n der politischen F ü h r u n g - bestand in der angeblichen N i c h t a k z e p t a n z nationalsozialistischer ideologischer Inhalte d u r c h die W e h r m a c h t . D a z u boten die D e f i n i t i o n e n des M o r d p a r a g r a p h e n eine Handhabe. A u s dem N e b e n l a g e r A d a b a s des Stalag 3 0 5 in K i r o v o g r a d 5 3 w a r e n jüdische Kriegsgefangene aussortiert u n d z u m A b t r a n s p o r t in E i s e n b a h n w a g g o n s gepfercht w o r d e n . D i e L o k o m o t i v e kam nicht. N a c h m e h r e r e n Tagen überaus quallvollen W a r t e n s - in denen es d u r c h H u n g e r u n d Kälte bedingt „einen auffallend h o h e n A u s f a l l an Toten" gab - w u r d e n sie v o n d e r W a c h k o m p a n i e erschossen 5 4 . Im U r t e i l z u r Einstellung des Verfahrens hieß es: „Die Einlassung des A n g e k l a g t e n Ga., er habe in erster Linie aus E r b a r m e n u n d Mitleid gehandelt, kann ihm nicht mit der e r f o r d e r l i c h e n Sicherheit widerlegt w e r d e n " ; es sei unklar, o b ein h ö h e r e r Befehl vorgelegen habe.
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So im Fall des Beschuldigten F. Po.: „Po. kann sich an den Überläufererlaß nicht mehr konkret erinnern. U m solche Dinge habe er sich auch persönlich nicht gekümmert, sondern die Bearbeitung seinen Mitarbeitern übertragen. Ob seine Abteilung an den Formulierungen mitgewirkt habe, könne er heute mit Sicherheit nicht mehr sagen; er möchte es aber ausschließen. Die Unterschrift unter dem Dokument vom 19. 11. 1944 betr. Maßnahmen gegen Uberläufer stamme von ihm. Daraus könne man jedoch keineswegs seine Mitarbeit an den Erlaß herleiten, da er mit seiner Unterschrift lediglich die Richtigkeit der Abschrift dokumentiert habe." Einstellungsverfügung, ZStL 319 AR-Z 72/72. Auch bei anderen Beschuldigten wurde die schlichte Versicherung, sich nicht an die Mitarbeit an den Erlassen erinnern zu können, als ausreichend zur Verfahrenseinstellung angesehen. IMT, XI, S. 684 ff. Neben den erwähnten Standardwerken von Förster, Unternehmen; Krausnick, Einsatzgruppen; Streim, Behandlung; siehe z.B. Weber, Sicherheit; Gruchmann, Nacht. Betz, O K W . Die Verhältnisse im Lager waren so schlecht, daß Fälle von Kannibalismus vorkamen, B. Fr., 28. 9. 1960, S. 59ff, ZStL 319 A R - Z 369/59. Streim, Die Behandlung, S. 132f., weist darauf hin, daß dies schon im Bericht der Sowjetischen Außerordentlichen Kommission von 1944 erwähnt ist. Ubereinstimmungen solcher Art ermöglichen es, den Grad der Zuverlässigkeit der Kommissionsberichte zu bestimmen, die als Quelle sehr umstritten sind. Dies war die 2. Kompanie des Landesschützenbataillons 783; der Chef der Kompanie, G. Ga., und einer der Zugführer, O. Ke., standen vor Gericht. Urteil des Schwurgerichts Hannover, 26.6. 1968, Ks 1/68, ZStL 319 AR-Z 369/59. Der Vorgang wird auch von Streim beschrieben, der am detailliertesten auf die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene eingeht; ders., Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, S. 129 ff. Die selektierten Kriegsgefangenen sollten vermutlich der Einsatzgruppe C übergeben werden. Der Wehrmachtbefehlshaber Ukraine habe bei einer Kommandeurbesprechung den Befehl gegeben, die ausgesonderten Kriegsgefangenen selbst zu liquidieren, wenn die Sicherheitspolizei nicht zur Verfügung stand.
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„Ausschlaggebend für sein Handeln sei dann letztlich die Überlegung gewesen, daß es für die Gefangenen s e l b s t . . . unter den gegebenen Verhältnissen am besten sei, nicht noch länger diesem untragbaren Zustand und diesen Q u a l e n ausgesetzt zu bleiben, sondern möglichst schnell davon erlöst zu werden". Niedrige Beweggründe und Grausamkeit der Tötungshandlungen verneinte das Schwurgericht 5 5 . Eine Massenexekution, die Teil des Gesamtvorgangs der A u s s o n d e r u n g und T ö t u n g jüdischer Kriegsgefangener und damit Teil des Versuchs der Vernichtung der europäischen J u d e n war, wurde aus diesem Zusammenhang völlig herauslöst und als individuelle Reaktion auf eine Notstandssituation begriffen 5 6 . D a s kann nur vor dem Hintergrund verstanden werden, daß die Wehrmacht nicht als Teil der Vernichtungsmaschinerie gesehen wurde. D i e Staatsanwaltschaft wendete sich in ihrem Revisionsantrag gegen diese Sicht: „ E s muß schließlich auch als historische Tatsache angesehen werden, daß Massentötungen von jüdischen Kriegsgefangenen, politischen Kommissaren und jüdischen Frauen, Kindern und männlichen Zivilisten in Rußland während des Krieges ausschließlich aus niedrigen Beweggründen im Rahmen der von den N S - M a c h t h a b e r n geübten Ausrottungspolitik veranlaßt worden sind." Z u d e m seien „Massentötungen schon an sich als grausam zu werten" 5 7 . Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision 5 8 .
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Urteil Schwurgericht Hannover, S. 25 ff, 2 K s 1/68, Z S t L 319 A R - Z 369/59. Ursprünglich hatte der Angeklagte vorgegeben, auf höheren Befehl gehandelt zu haben, um sich damit rechtfertigen zu können; zudem behauptete er, „die Erschießung als mögliche .Repressalie' angesehen" zu haben. D e r Angeklagte änderte seine Verteidungsstrategie erst in der Hauptverhandlung, was im Schwurgericht aber keinen Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit weckte. Angehörige des Stalag lassen keinen Zweifel, daß fortlaufend Aussonderungen und Exekutionen von Juden stattfanden, siehe Aussage J. Wi., der sowohl Eintragungen in ein Notizbuch als auch Photos als Beweismittel zur Verfügung stellte, 20. 4. 1961, S. 261 ff., 319 A R - Z 369/59. Staatsanwaltschaft Hannover, 7. 10. 1968, S. 1821 ff., 2 K s 1/68, Z S t L 319 A R - Z 369/59. Bundesgerichtshof, 16. 9. 1969, S. 1840 ff., 5 StR 740/68, Z S t L 319 A R - Z 369/59. Dieses Urteil ist eines der vielen Beispiele dafür, zu welchen Problemen im Bezug auf nationalsozialistische Verbrechen die Notwendigkeit führt, die mordqualifizierenden Merkmale (Grausamkeit, niedere Beweggründe etc) zu begründen. D a s Schwurgericht hätte dem Angeklagten nachweisen müssen, „daß er bei der Tat von einer gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung beherrscht war"; diese Forderung zur Individualisierung steht den Gegebenheiten politischer Massenverbrechen diametral entgegen. D a z u kommt, daß Ga. seit 1925 sehr aktives N S D A P - M i t g l i e d war, und damit anzunehmen ist, daß er sich mit den rassenpolitischen Zielen seiner Partei identifizierte. Vergleichbar problematisch ist die „Tatherrschaft"; für den Angeklagten Ke. wurde angenommen, daß er „sich als Hilfsperson dem Willen des Angeklagten Ga. und des Lagerkommandanten Fr. völlig unterordnete und auch bis zuletzt keine echte Tatherrschaft hatte". Das macht natürlich die strafrechtliche Verfolgung jedes in einem militärischen Rahmen begangenen Verbrechens schwierig. V o m Faktischen kommt hinzu, daß Ke. einem während der Exekution flüchtenden Kriegsgefangenen nachsetzte und ihn, so ein Teil der Zeugen, mit dem Seitengewehr niedermachte.
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Fortführende Identifizierung mit den Werten der Kriegszeit wirkte sich zum Beispiel im Bereich der Wehrmachtjustiz aus 59 . Ein Kompanieführer des Feldstraflagers II 60 präsentierte sich als aufrechter, korrrekter Offizier, der keinerlei Ausschreitungen duldete, die Verwahrten sogar mit Vernunftgründen zu gutem Verhalten anzuhalten versuchte, Todesfälle seien auf vergiftete Pilze zurückzuführen gewesen 61 . Die ehemaligen Häftlinge (zum großen Teil wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe verurteilt) berichteten von Hunger, Schlägen, täglichen Grausamkeiten und Erschießungen 62 . Die Wachposten praktizierten eine Abart des aus K Z bekannten „Mützenwerfens", das darin bestand, beim Holzfällen außerhalb der Grenzen des Arbeitsplatzes gefallene Bäume bearbeiten zu lassen 63 . Wenn der Strafgefangene dem Befehl nachkam, und den Baum bearbeitete, wurde er wegen Fluchtversuch erschossen, wenn er sich weigerte „mußte er damit rechnen, das er wegen Befehlsverweigerung erschossen wurde. Diese Fälle kamen so häufig vor, daß ich mich heute an eine konkrete Begebenheit nicht mehr erinnern kann". In der Einstellungsverfügung wird deutlich, daß das Vorurteil gegenüber den ehemaligen Häftlingen als „Vorbestraften" weiterwirkte, deren Aussagen wegen zum Teil geringfügiger Widersprüche diskreditiert wurden, ohne daß man allein der Tatsache des Umfangs der Anschuldigungen Gewicht gegeben hätte 64 . Es wurde grundsätzlich, wenn die Aussage eines Zeugen den Einlassungen des Beschuldigten entgegenstand, zu Gunsten des Angeklagten entschieden. Das
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Zu diesem Thema hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur historisches, sondern auch öffentliches Interesse geregt, wodurch die nahtlose Übernahme der Wertungen der Kriegszeit in Frage gestellt wurde, siehe etwa Haase, „Gefahr für die Manneszucht". Das Verfahren entstand aufgrund der Anzeige eines Betroffenen an die Zentrale Stelle, die es aber als nicht zuständig abgeben mußte, G. Ne. an ZStL, 28. 1. 1963; ZStL an GStA Celle, 4. 3. 1963, ZStL 207 A R 1762/64. A. Fü., 16. 7. 1963, S. 60 ff., ZStL A R 1762/64. Fü. unterstand 1944 in Estland ein eigenes Lager in Vasknarva. Es gab zahlreiche Beschuldigungen gegen Fü., auf die er pauschal so reagierte: „Ich möchte dazu ganz allgemein bemerken, daß ich niemals einen Verwahrten geschlagen oder auch nur körperlich angefaßt habe. Das war für mich als Offizier vollkommen undenkbar und wäre strafbar gewesen". W . Lü., 22. 7. 1963, S. 73 ff.; ein ehemaliger Verwahrter machte keine Angaben, da er „mit der ganzen Sache nichts zu tun haben" wolle. „Auch als ihm erklärt wurde, daß er vom Richter in Beugehaft genommen werden könne, meinte er nur, daß er irgendwann auch wieder rausgelassen werden müsse", Bericht LKPA Kiel, 24. 7. 1964, S. 157£f; W. Ot., 27. 7. 1964, S. 242 ff.; Ot. gab an, in Torgau „gelandet" zu sein, weil er in Rußland die willkürliche Erschießung von Zivilisten verweigert habe; E. Li., 31.7. 1964, S. 278 ff., „als Strafgefangene mußten wir jederzeit damit rechnen, daß wir jederzeit wegen einer Geringfügigkeit erschossen wurden"; G. Ri., 3 . 8 . 1964, S. 293 ff., „Fü. hatte ständig eine Reitpeitsche oder einen Stock bei sich"; F. No., 14. 9. 1965, S. 600 ff. Während eines 600 km Marsches auf der „Eismeerstraße" in Finnland seien Verwahrte, die ihre „Notdurft zu verrrichten suchten", erschossen worden. „Jedenfalls befanden wir .Verwahrte' uns in einer Stimmung äußerster Verzweiflung." Der ehemalige Gerichtsoffizier konnte sich an keine der zahlreich bezeugten Erschießungen erinnern, kolportiert aber den Ausspruch eines „hohen Offz. des O K W " bei der Verabschiedung des Personals aus Torgau, „daß sie alle mitnehmen müßten, aber keinen zurückzubringen brauchten", W . Sch., 24. 11. 1967, S. 736 ff., sämtlich: ZStL 207 A R 1762/64. E. Li., 3 1 . 7 . 1964, S. 248 ff., ZStL 207 A R 1762/64. Viele vergleichbare Fälle sind eingestellt worden. Staatsanwaltschaft Regensburg, Einstellungsverfügung, 17. 7. 1969, II 4 Js 951/65p, ZStL 207 A R 1762/64.
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galt auch für andere in diesem Verfahren Beschuldigte. Ein anderer Angehöriger des Wachpersonals wurde von 16 Zeugen beschuldigt, einen Verwahrten, der sich etwas Essen erbettelt hatte, erschossen zu haben. Trotzdem erschien der Beschuldigte „der Tat nicht hinreichend verdächtig", weil es Diskrepanzen in den Details der Aussagen gab; Gewicht wurde dagegen der Aussage eines Zeugen zugebilligt: „Er charakterisierte diesen (den Beschuldigten, R. Β. B.) als einen Mann, der damals unter seiner Aufgabe gelitten .. ..habe". Die Erklärung für Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Partisanengefahr wurde in einer Standardentschuldigung als Reaktion auf die „bestialische Weise", in der der Russe gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft habe 65 , gefunden. Diese Formulierung verwendete ein Kompaniechef im Panzernachrichtenregiment 4 als Entschuldigung für sein Wüten in Rußland. Im Mittelabschnitt hatte er eine Reihe willkürlicher Tötungen befohlen - so wurde der einzige Besitzer einer Taschenlampe in einem Dorf erschossen, weil Blinkzeichen für Partisanen beobachtet worden wären, die sich dann als Reflektionen von Autoscheinwerfern an einer Hauswand herausstellten 66 . In Südrußland hatte er, vermutlich aufgrund von Denunziationen eines Dorfbürgermeisters, die gesamte jüdische Bevölkerung des Dorfes, in dem die Einheit lag, zusammenholen, über Nacht auf L K W unter einer Plane gepfercht stehen und am nächsten Morgen erschießen lassen 67 . Seine oben angeführte Rechtfertigung wurde mit sympathischem Einverständnis aufgenommen. Das Schwurgericht 68 - nach eigener Angabe bis auf
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F. F. S. 263 ff. ZStL 213 A R - Z 88/61. B. Ob., 3. 10. 1961, S. 82ff.; W . OL, 14. 2. 1962, S. 130ff.; H . Ni„ 24. 2. 1962, S. 165 ff.; H. So., 15. 5. 1962, S. 173 ff.; H. Ho., 21. 5. 1962, S. 174ff.; sämtlich ZStL 213 A R - Z 88/61. J. Schwa., 17. 8. 1961, S. 18ff.; H. Bo, 29. 8. 1961, S. 46 ff., der als ehemaliger Spieß ano n y m e Erpressungsschreiben erhielt; A. Mö., 28. 8. 1961, S. 50ff.; G. Li., 2 9 . 8 . 1961, S. 54 ff.; K. Ro„ 6. 9. 1961, S. 64 ff.; H.Pe., 3. 10. 1961, S.78ff., w u r d e zur Teilnahme an der Erschießung befohlen. Laut seiner Aussage widersetzte er sich dem Befehl, wurde als Feigling bezeichnet und konnte gehen. Diese Darstellung wird von anderen Zeugen unterstützt, H. Be., 20. 2. 1962, S. 150ff.; ebenso hat G. Li. die Teilnahme verweigert, 28. 5. 1963, Bd la, S. 22ff.; B. Ob., 3. 10. 1961, S. 82 ff.; verschiedentlich wurde als besonders grausig berichtet, daß unter den Opfern eine Mutter mit Kleinkind gewesen sei, das Kind sei zunächst nicht getroffen worden, und habe „nach dem Tode seiner Mutter in dem zerfetzten Gehirn herumgewühlt", H. Or., 14. 11. 1961, S. 115 ff.; H . Ni„ 24. 2. 1962, S. 165ff.; H-J., Kö, 20. 7. 1962, S. 216ff.; E. G., 19. 6. 1963, Bd la, S. 5ff.; H.-J., Kö, 15. 11. 1962, Bd. II, S. 319 ff.; Aus einem Vermerk des Hessischen Landeskriminalamtes geht hervor, daß alle ermittelten Angehörigen der Einheit zugaben, von der Judenerschießung gehört zu haben, und zum Teil erhebliche Nervosität zeigten, 21. 8. 1961; Interessanterweise gab der Vorgesetzte des Kompaniechefs an (der später ins O K W versetzt wurde), nie etwas von Exekutionsbefehlen gehört zu haben, E. Lo., 24. 10. 1961, S. 112 ff.; ebenso der Adjudant der Panzergruppe 4, W. v. d. Schu., 15. 2. 1962, S. 142 ff., und der Kommandeur der Armeenachrichtenführer/Panzerarmee 4, Fr., 21. 2. 1962, S. 155 ff. Der Ο. B. der 4. Panzerarmee, Generaloberst a. D. Hoth, gab an, daß von ihm keine Befehle zur Sonderbehandlung ergangen seien, also vermutlich Eigenmächtigkeit des Kompanieführers vorliege, Hermann Hoth, 23. 1. 1962, Bd. Ia, S. 88ff.; sämtlich ZStL 213 A R - Z 88/61. Schwurgericht des Landgerichts Düsseldorf, 13. 5. 1964, 8 I Ks 1/64, ZStL 213 AR-Z 66/61. Das Verfahren gegen F. wurde eingestellt, P. w u r d e freigesprochen. Da das Schwurgericht die mordqualifizerenden Merkmale als nicht gegeben ansah, wurde bei F. auf Totschlag erkannt, Totschlag w a r verjährt. Weder der Umstand, daß die Opfer einen halben Tag und eine Nacht eng zusammengepfercht auf Lastwagen standen (Einheitsangehörige sagten aus, daß wegen dem Schreien und Jammern an Schlaf nicht zu denken gewesen sei), noch die Ausführung der Massenerschießung selbst führten dazu, F. s Tat als
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eine Ausnahme „aktive Kriegsteilnehmer" - folgte den Erklärungen des Angeklagten über den „Krieg im Osten, der von Seite der Russen mit rücksichtsloser Grausamkeit geführt wurde", obwohl die Opfer durchweg alte Männer, Frauen und Kinder waren, und keiner der Untergebenen etwas von Partisanenaktivitäten bemerkt hatte; es vertrat zudem die Meinung, daß Kinder Partisanenzuträgerdienste getan hätten (Säuglinge unter den Opfern seien nicht mit Sicherheit festzustellen gewesen). Weiter bescheinigte es dem Angeklagten, nicht aus Rassenhaß 69 , sondern zum Schutze der Truppe gehandelt zu haben, es sah ihn als „fürsorglichen Einheitsführer., um das Wohl seiner Soldaten" besorgt 70 . In Pervertierung soldatischer Tugenden wurde der Unteroffizier, der das Erschießungskommando leitete, als „kameradschaftlich eingestellter Vorgesetzter", der sich bei „unangenehmen Aufgaben der.. .persönlichen Mitwirkung" nicht entzog 7 1 typisiert; die persönliche Mitwirkung an der Erschießungsaktion wurde mithin noch als positiv gewertet 72 . Befangenheit in den fragwürdigen Wertvorstellungen, Auffassungen und Haltungen der Kriegszeit ist auch in der Urteilsfindung in einem anderen Fall feststellbar. Interessant ist hier allerdings, daß zwei Urteile, von 1954 und 1956 vorliegen, die die Möglichkeit des Vergleichs bieten. Den Hintergrund bildet die auch in der Literatur erwähnte Tagung in Mogilev 1941, in der zum Thema Partisanen die Devise: „Wo der Jude ist, da lauert auch der Partisan, und wo der Partisan ist, da ist auch der Jude" ausgegeben wurde 7 3 . Ein an der Tagung teilnehmender Batallionskommandeur gab später den drei ihm unterstellten Kom-
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,.grausam" z u qualifizieren, denn, so das S c h w u r g e r i c h t , er habe in beiden Fällen U n t e r gebene mit der A u s f ü h r u n g beauftragt und sei für die A r t des V o r g e h e n s n i c h t verantw o r t l i c h . D i e s e A r g u m e n t a t i o n kann nur als P e r v e r t i e r u n g der V o r s t e l l u n g militärischer V e r a n t w o r t l i c h k e i t angesehen w e r d e n . D a s S c h w u r g e r i c h t glaubte nicht, feststellen zu k ö n n e n , o b die O p f e r J u d e n waren: „ D e r A n g e k l a g t e F . und die an ihrer Z u s a m m e n h o l u n g u n d E r s c h i e ß u n g beteiligten A n g e h ö r i gen der 4. K o m p a n i e h a b e n sie für J u d e n gehalten; o b sie tatsächlich J u d e n waren, steht n i c h t f e s t " , S. 16, U r t e i l L G D ü s s e l d o r f 8 I K s 1 / 6 4 . D e m steht entgegen, d a ß eine F r a u , die beteuerte, k e i n e J ü d i n zu sein, v e r s c h o n t w u r d e . D i e A n g e h ö r i g e n der E i n h e i t sprac h e n alle v o n J u d e n , einer gab an, v o n F . bestraft w o r d e n zu sein, weil er in einem Q u a r t i e r den i m H a u s w o h n e n d e n J u d e n E s s e n gegeben habe. F . sei „der T y p des J u d e n h a s s e r s " gewesen, K . Le., 2 3 . 3. 1 9 6 2 , S. 2 2 9 f f . , Z S t L 2 1 3 A R - Z 8 8 / 6 1 . D i e s e m Z e u g e n zufolge war die U n r e c h t m ä ß i g k e i t der J u d e n e r s c h i e ß u n g allen b e w u ß t , es sei auch nach d e m Krieg i m mer wieder darüber gesprochen worden. S. 4 1 , U r t e i l L a n d g e r i c h t D ü s s e l d o r f , 81 K s 1 / 6 4 . A u s s a g e des B e s c h u l d i g t e n F . F . , 16. 5. 1962, S. 2 6 3 ff., 2 8 . 7. 1 9 6 3 , B d . Ia, S. 3 6 f f . ; 6. 12. 1 9 6 2 , B d . I I , S. 3 4 1 ff., w o r i n F . zunächst den V o r w u r f z u r ü c k w i e s , er h a b e J u d e n e r s c h i e ß e n lassen, F . W i . , 2 9 . 5 . 1 9 6 3 , B d . Ia, S. 42; sämtlich: Z S t L 2 1 3 A R - Z 8 8 / 6 1 . S. 6 9 , U r t e i l L a n d g e r i c h t D ü s s e l d o r f , 81 K s 1 / 6 4 . V o n A n g e h ö r i g e n der E i n h e i t dagegen w u r d e a n g e m e r k t , daß b e k a n n t war, d a ß P. A n g e h ö r i g e r der A l l g e m e i n e n SS w a r , B . O b . , 3 . 10. 1961, P . selbst k o n n t e sich nicht mehr daran erinnern, in die N S D A P a u f g e n o m m e n w o r d e n zu sein, und b e h a u p t e t e , nie der allg e m e i n e n SS als Mitglied a n g e h ö r t zu h a b e n , F . P., 2 9 . 5. 1962, S. 185. D a s S c h w u r g e r i c h t Schloß sich dieser E i n l a s s u n g an, o b w o h l festgestellt w u r d e , daß P. s c h o n 1 9 2 6 d e u t s c h v ö l k i s c h e n G r u p p e n a n g e h ö r t e . P. gab an, aufgrund des „ E i n d r u c k s " , F . sein L e b e n zu verdanken, z u n ä c h s t k e i n e A n g a b e n g e m a c h t zu haben. D a n n gab er die E r s c h i e ß u n g zu, und daß F . i h m den B e f e h l dazu gegeben habe, 2 7 . 11. 1962, B d . I I , S. 351 ff.; sämtlich: ZStL 213 A R - Z 88/61. Siehe K r a u s n i c k , E i n s a t z g r u p p e n , S. 2 4 8 . Vgl. auch den Beitrag R i c h t e r in diesem Band.
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panien im Raum Smolensk den Befehl, die jüdische Bevölkerung zu töten, wann immer sich die Gelegenheit dazu böte. Der Führer der zweiten Kompanie war ein SS-Mann, der diesen Befehl als seinem ideologischen Gesamtauftrag entsprechend ausführte. Die erste Kompanie wurde von einem Mann geführt, der sich schon während des Vormarschs einige Gedanken zur Vernichtungspolitik gemacht hatte, er verweigerte den Befehl. Der Führer der dritten Kompanie zögerte, ließ den Befehl aber ausführen; er, und zwei andere, standen vor Gericht 74 . Die beiden ergangenen Urteile sind in der Argumentationsweise sehr unterschiedlich. Das Strafmaß war in beiden Fällen sehr niedrig, zunächst vier und drei Jahre, dann reduziert auf drei und zwei Jahre. Der Tathergang war klar rekonstruierbar: Es wurde festgestellt, daß die erschossenen Opfer Juden waren und daß sich Frauen und Kleinkinder unter ihnen befanden 75 . In der ersten Verhandlung bestand kein Zweifel darüber, daß der Täter das Verbrecherische des Befehls klar erkannt hatte 76 , denn der Sachverständigen konnte überzeugend verdeutlichen, daß nicht, wie vorgebracht, Partisanenkampf eine Rechtfertigung für diese Aktion gewesen war 7 7 . Ausgeführt habe der Angeklagte den Befehl, um sich bei seinen Vorgesetzten nicht unbeliebt zu machen, obwohl ihm, neben anderen Möglichkeiten, die Befehlsverweigerung nach Paragraph 47 des Militärstrafgesetzbuches offengestanden habe 78 . Zudem wurde hervorgehoben, daß der Hauptangeklagte die Tat auf seine Untergebenen abgewälzt (er blieb in der Schreibstube) und damit „als Soldat und Menschenführer versagt" habe; straferschwerend fiel ins Gewicht, durch seine Tat „das Ansehen und die Ehre des deutschen Volkes und des deutschen Soldaten im In- und Ausland schwerstens" geschädigt zu haben 79 . Der Bundesgerichtshof 74
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Urteil Schwurgericht Darmstadt, 8. 5. 1954, 2 Ks 2/54; Urteil Schwurgericht Darmstadt, 10. 3. 1956, 2 Ks 2/54, beide ZStL SA 244. Der Führer der 1. Kompanie verweigerte, seinen Angaben nach, den Befehl mit der Begründung, „es sei nicht Aufgabe der Wehrmacht, solche Aufträge durchzuführen; einige Tage später intervenierte offenbar der Regimentskommandeur, der von den Judenerschießungen gehört hatte, und der Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes erließ einen Tagesbefehl, daß untergeordnete Heeresdienststellen keine Judenerschießungen durchzuführen hätten, S. 12, Urteil 8. 5. 1954, ZStL SA 244, in: Rüter/Rüter-Ehlermann/Fuchs (Hrsg), Justiz, XII, S. 317 u. XIII, S. 617. Jüngere Männer scheinen kaum vorhanden gewesen zu sein. Das Schwurgericht verneint sogar im Falle des Bataillonskommandeurs, daß er aus niedrigen Beweggründen wie Rassenhaß oder grausam gehandelt habe: „die Zeugen.. .haben ihn als einen geraden und aufrechten Charakter, als einen in seinem dienstlichen Auftreten und in seinem Verhalten gegenüber Untergebenen korrekten Vorgesetzten bezeichnet, der unermüdlich in der Fürsorge für seine Truppe gewesen sei", Urteil 1954, S. 17, ZStL SA 244. Es w a r also nicht Mord. Das Gericht konnte nicht feststellen, daß die jüdische Bevölkerung als Informationenzuträger für die Partisanen besonders in Erscheinung getreten sei; diese Argumentation stellt eine in der Nachkriegszeit häufig verwendete Exkulpationsargumentation dar und ist als die direkte Verlängerung der Propaganda der Kriegszeit zu sehen. Das Gericht sah auch einen vermeintlichen Notstand nicht als gegeben an, sondern darin nur eine nachträgliche Schutzbehauptung, Urteil 1954, S. 24, ZStL SA 244. Der dritte Angeklagte, ein Gefreiter, hatte zuerst, zusammen mit einer anderen Person, gebeten, ihn vom Erschießungskommando freizustellen, dann nicht auf das ihm zugeteilten Opfer geschossen, worauf er abgelöst und in die Unterkunft zurückgeschickt wurde. Er wurde freigesprochen. Urteil 1954, S. 25, ZStL SA 244.
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hob das Urteil auf 8 0 . Von der Verteidigung war unter anderem gerügt worden, daß der Vorsitzende dem Zeugen, der den Befehl verweigert hatte, die Hand drückte, und daß unter den Geschworenen ein Kommunist war 8 1 . Im zweiten Urteil drückt sich eine veränderte Grundauffassung aus. Der „völkerrechtswidrige" Partisanenkampf der Sowjetunion wird ausgiebig behandelt, und das Faktum, daß, wenn auch die Bevölkerung nach außen hin „friedlich und unauffällig" gewesen sei, doch gerade Juden widerholt mit Lebensmitteln im Walde gesehen worden seien, und die ständige Wachsamkeit „eine seelische Belastung" für die Soldaten bedeutet habe 82 . Die Meinung der in diesem Verfahren befragten Gutachter - insbesondere des Strafrechtsprofessors und Militärjuristen Schwinge - tat ein Übriges 8 3 . Die Feststellung, daß Kinder unter den Opfern waren, konnte nicht mehr getroffen werden, weil zu vermuten gewesen sei, daß die deutschen Soldaten bewußt nachlässig gewesen seien, und vor allem Müttern mit Kindern die Gelegenheit zur Flucht gegeben hätten 84 . Das fiel strafmildernd ins Gewicht. Der Tenor dieser Urteilsbegründung ist exkulpatorisch. Es wird von einer „gewissen Tragik" gesprochen, der „weit verbreiteten Furcht dieser Jahre" 8 5 : Der Angeklagte, der im Kriege seine Pflicht tat, habe schwer unter dem Vorfall gelitten - und von den Partisanen, die „zwangsläufig auch auf deutscher Seite eine radikale Haltung erzeugt" hätten 86 . Der Vergleich der beiden Urteile zeigt die unterschiedliche Werteordnung, die in den fünfziger Jahren und, implizit, der Kriegszeit, zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen führen konnte. Die beispielhaften Verfahren werfen die Frage auf, inwieweit das Strafrecht zur Aburteilung politischer Massenverbrechen überhaupt geeignet ist. Zumindest kommen Zweifel hoch, ob die Justiz die politisch motivierten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ohne politische Vorgaben wirklich ahnden konnte.
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B G H , 5. 5.1955, 3 StR 603/54, Z S t L S A 244. Diese Anträge der Verteidigung wurden vom B G H abgewiesen. Wirkliche Partisanen hatten sie allerdings zu dieser Zeit nicht zu Gesicht bekommen, Urteil 1956, S. 8, Z S t L SA 244. Jetzt wurde Schwinges Gutachten als „überzeugend" bezeichnet, Urteil 1956, S. 16, Z S t L SA 244. Zur Rolle Schwinges generell siehe Messerschmidt, Recht; ders./Wüllner, Wehrmachtjustiz. Das Schwurgericht ging von nur noch mindestens 15 Opfern aus, 1954 war man von mindestens 60 ausgegangen, die Zeugen bezifferten die Anzahl der Opfer auf 100-150. N u n wurde Angst als Motiv für die Befehlsausführung angenommen, Urteil 1956, S. 28, Z S t L SA 244. Urteil 1956, S. 34 ff, Z S t L SA 244. Auch hier wird von der Schädigung der Ehre und des Ansehens des deutschen Volkes gesprochen, und daß die Abwälzung von Befehlen auf Untergebene unwürdig sei.
Gerhart Hass Zum Bild der Wehrmacht in der Geschichtsschreibung der D D R Das D D R - B i l d der Wehrmacht, die als millionenstarke Streitkraft den Aggressionskrieg ermöglichte und hinter deren vorderster Front die Massenverbrechen geschahen, oft mit ihrer Beteiligung, unterschied sich von Anfang an von dem in der B R D durch seinen theoretisch-weltanschaulichen Rahmen und seine Ursprünge. Diese gehen bis ins kommunistischen Exil während des Zweiten Weltkrieges und die Nachkriegszeit in der S B Z zurück. Der theoretische Rahmen, der das Bild ein halbes Jahrhundert zusammengehalten hat, setzte sich in der Historiographie der D D R und des gesamten Ostblocks aus Bestandteilen des „Marxismus-Leninismus" zusammen. Danach war cfie Wehrmacht „das wichtigtste Instrument der deutschen Monopolbourgeoisie zur Sicherung der Herrschaft über das eigene Volk, insbesondere zur Niederhaltung der Arbeiterbewegung, und zur Durchsetzung der Weltmachtpläne der Großbourgeoisie, vor allem der reaktionären Klassenziele gegenüber der Sowjetunion" 1 . Quelle dieser Sicht ist die auf Aussagen von August Bebel, Rudolf Hilferding, Karl Kautsky, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg u. a. aufbauende, von W. I. Lenin geprägte Theorie von der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus des 20. Jahrhunderts mit einem ihm eigenen „modernen Militarismus". Dementsprechend galt: „Dem Imperialismus ist der Militarismus immanent" 2 . Gewöhnlich verstehen Historiker unter Militarismus eine Politik, die sich hauptsächlich auf die Streitkräfte stützt. Der neue Brockhaus definiert den Militarismus weitergefaßt als „Denkweisen, die militärische Prinzipien zur ideologischen und ordnungspolitischen Grundlage von Staat und Gesellschaft machen" 3 . Im Unterschied dazu wurde in der D D R der Militarismus als „spezifische F o r m der Politik, die Ausbeuterklassen . . . zur Sicherung ihrer Herrschaft und zur Ausweitung ihres Machtbereichs betreiben" 4 , definiert. „Militarismus und Krieg resultieren aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln, aus der Existenz antagonistischer Klassen und dem unversöhnlichen Kampf zwischen ihnen" 5 , lautete eine andere Begriffsbestimmung. Lenin unterschied zwei Erscheinungsformen: Den „Militarismus nach außen" und - als Waffe zur Niederhaltung aller ökonomischen und politischen Bewegungen des Proletariats - den „Militarismus nach innen" 6 . Zu dieser Imperialismustheorie kam für die Dar-
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W ö r t e r b u c h , S. 1053. Ebd., S. 577; siehe auch Bachmann/Zeisler, Militarismus, S. 2 8 7 f f . Brockhaus, 14, S. 605. W ö r t e r b u c h , S. 576. Charisius u.a., Militarismus, S. 15. Lenin, W e r k e , 15, S. 187; siehe auch Kern, F u n k t i o n ; die Beiträge von Dieter Dreetz und Wolfgang Kern sowie Alwin R a m m e , in: N u ß (Hrsg.), Militarismus.
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Stellung Deutschlands und seiner Verbündeten noch die Einschätzung des Faschismus als „Abart" des Imperialismus hinzu. Der ständige Gebrauch der Termini „faschistischer deutscher Imperialismus und Militarismus" sowie „faschistische Wehrmacht" bekundete Ubereinstimmung mit dieser Theorie. Die Anwendung dieser Sicht auf die Wehrmacht erforderte nach der dem „Marxismus-Leninismus" wesenseigenen Lehre vom Klassenkampf als Triebkraft der Gesellschaft eine Differenzierung zwischen den Klassen und Schichten, den Herrschenden und Beherrschten, bezogen auf die Wehrmacht also zwischen Generalität und höherem Offizierskorps einerseits und der Millionenmasse der Soldaten, Unteroffiziere und Leutnantsdienstgrade andererseits. Letztere wurden, wenn auch mit manchen Abstrichen, zum „Volk", zu den Unterdrückten gezählt. Angesichts der deutschen Aggressionsakte gegen andere Staaten, des Völkermordes gegen die europäischen Juden, des Massenmordes an Bürgern der bes e t z e n Länder und weiterer abscheulicher Verbrechen, an denen Hunderttausende beteiligt gewesen waren, reichte diese allgemeine Differenzierung nicht aus. Die Völker der Welt verlangten konkrete Antworten auf die Frage nach dem unterschiedlichen Anteil der Gruppen der deutschen Gesellschaft am Geschehen und erwarteten Reue und Sühne. Das größte militärische Aggressionsinstrument, die Wehrmacht, bestand eben nicht nur aus der Führung, die unbestritten hauptverantwortlich war, sondern auch aus Millionen Angehöriger des „einfachen Volkes". Unleugbar war Hitlers Armee in allen angegriffenen Staaten, aber auch in Deutschland selbst, in Terroraktionen und Kriegsverbrechen verwickelt, für die sie allein oder gemeinsam mit der SS, Gestapo, Polizei, den Besatzungsbehörden usw. die Verantwortung zu tragen hatte. Spätestens nach der Wende des Krieges an allen Fronten im Jahre 1943 wurde ein „Deutschland nach Hitler" real möglich. Deutsche Exilpolitiker und die Widerstandskämpfer im Lande mußten im Hinblick darauf ihre bisherigen Antworten zur Schuld für die faschistische Diktatur, den Krieg und die begangenen Schandtaten überprüfen. Kommunisten und, allerdings mit anderen A k zenten, Sozialdemokraten im Exil hatten in ihren Publikationen mit einem, die „antifaschistische Arbeiterklasse" verklärenden Bild eine folgenschwere Tradition der linken Kräfte in Deutschland fortgesetzt. Diese in der SBZ/DDR weiterbestehende und noch ausgeweitete Sicht diente aber auch dem „Herrschaftsanspruch der Arbeiter und Bauern" im Nachkriegsdeutschland. Spätestens 1943, nach drei Kriegsjahren, war klar gewesen, daß zwischen den Erwartungen und Aussagen der KPD und dem Geschehen in Deutschland seit 1933 eine große Diskrepanz bestand. Der vorhergesagte Massenkampf der Arbeiter gegen die Nazidiktatur und den Krieg war ausgeblieben. Das „Mitläufertum" vieler einst „linker" Wähler und das gehorsame, „pflichtbewußte" Verhalten und Kämpfen von Millionen Arbeitern, Bauern, Angestellten, Handwerkern und anderen „Nichtkapitalisten" in der Wehrmacht und an der „Heimatfront" paßten nicht in das propagierte Bild vom durch die Nazis unterdrückten Volk. Nach dem 22. Juni 1941 erwies sich die immer noch propagierte Vorstellung vom „klassenbewußten", die revolutionären Arbeiter und Bauern in der Sowjetarmee liebenden, einfachen Wehrmachtsoldaten, den die KPD zur sofortigen Beendigung des Krieges aufrief, als illusionär. Dieser Fehleinschätzung hing
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zu dieser Zeit übrigens auch die sowjetische Propaganda an. Viele Millionen Russen, Belorussen, Ukrainer und Angehörige anderer Völker der UdSSR bezahlten diesen Irrglauben mit dem Leben oder jahrelanger Kriegsgefangenschaft und vielfach zusätzlich mit einer Bestrafung dafür durch stalinistische Nachkriegswillkür. Die falschen Vorstellungen vom deutschen Wehrmachtangehörigen, seinen Möglichkeiten, in das Kriegsgeschehen einzugreifen, seinem Denken und Wollen kamen in damaligen Aussagen kommunistischer Funktionäre zum Ausdruck. Die Reden des Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck wurden unkorrigiert und unkommentiert nach 1945 in der SBZ/DDR erneut publiziert. Für Lehrende, Lernende und historisch Interessierte dienten sie als Ersatz für nicht vorhandene neue Geschichtsbücher und vermittelten das neue Bild vom jüngsten Geschehen 7 . Die Fehleinschätzung der Wehrmachtsoldaten zeigte sich bei Pieck unmittelbar jiach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, als er „alle ehrlichen deutschen Patrioten in der deutschen Armee" aufrief, auf die Seite der Roten Armee überzulaufen und die „vom Faschismus versklavten" deutschen Arbeiter der Rüstungswerke beschwor, sabotierend Hand anzulegen, damit die Truppen „keine Waffen erhalten" 8 . Über den Rundfunk appellierte er am 8. April 1942 an die Soldaten an der Front und in den besetzten Gebieten, „Schluß mit dem Kriege zu machen, mit den Waffen in der Hand in die Heimat zurückzukehren" und dort mit einem Schlage „die ganze Hitlerclique mitsamt den großen Konzernherren und Kriegsgewinnlern" zu beseitigen 9 . Auch noch während der Stalingrader Schlacht sagte Pieck am 1. September 1942: „Bedenkt doch ihr deutschen Soldaten, daß der Krieg beendet ist und ihr nach Hause fahren könnt, wenn ihr nicht mehr mitmacht" 10 . Schon etwas resignierend mahnte er nach der Kapitulation in Stalingrad alle anderen Wehrmachtangehörigen am 1. Februar 1943, zu verhindern, daß „die Tragödie dieser 330000 Menschen zur Tragödie unseres ganzen deutschen Volkes wird" 11 . Neue Züge sowohl taktischer als auch strategischer Natur bekam das Bild von der Wehrmacht mit der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" (NKFD) und des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) aus kriegsgefangenen Wehrmachtangehörigen und kommunistischen Emigranten in der Sowjetunion. Anknüpfend an die Volksfrontpolitik der KPD in den dreißiger Jahren wurde im Gründungsmanifest des NKFD auf die Zusammenarbeit von „Menschen aller politischen und weltanschaulichen Richtungen" zum Sturz Hitlers und für ein freies Deutschland verwiesen 12 . Für dieses vorrangige Ziel wurde die Ahndung von Kriegsverbrechen, bis auf wenige Ausnahmen, auf die Nachkriegszeit vertagt, in der dann tatsächlich auch Angehörige des NKFD und des BDO von sowjetischen Tribunalen verurteilt wurden.
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Siehe Förster, Stand, S. 403 ff.; Hass, Geschichts- und Militärgeschichtsschreibung. Pieck, Reden, 1 , S . 362. Ebd., S. 366. Ebd., S. 368. Ebd., S. 378. Weinert, Nationalkomitee, S. 19 ff.
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Die Tatsache, daß N K F D und B D O ebenso wie der Widerstandskampf in Deutschland und der von Offizieren und Generälen der Wehrmacht inszenierte Versuch, das Hitler-Regime am 20. Juli 1944 zu stürzen, nicht verhindern konnten, daß die Truppen der Anti-Hitler-Koalition mit schweren Verlusten jeden Quadratmeter deutschen Bodens erobern mußten, zwang die Führung der KPD in Moskau, ihr Bild von der Wehrmacht zu korrigieren. Zwar erfolgten weiterhin Aufrufe an die Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, die Waffen niederzulegen, Hitler zu entmachten und den Krieg zu beenden, jedoch wurden gleichzeitig Überlegungen angestellt, w a r u m die deutschen Arbeiter und Bauern in der Wehrmacht diesen Aufforderungen nicht nachkamen. Auch spielte eine große Rolle, daß auf den Konferenzen der Anti-Hitler-Koalition von Casablanca bis Jalta eindeutige Aussagen zur Verantwortlichkeit der Deutschen für den Krieg und die Verbrechen erfolgt waren. Bezüglich des deutschen Volkes, insbesondere der Arbeiter, liefen die Bemühungen um eine Differenzierung bei der danach übrig bleibenden Schuld auf deren Minderung hinaus. So sagte Pieck im Dezember 1943, den Nazis sei es gelungen, durch „ihre raffinierte demagogische Agitation gegen den Versailler Vertrag", die Kolonialforderungen, die „Theorie des mangelnden Lebensraumes" und durch die Herrenrassen-Ideologie „die Köpfe der Arbeiter mit dem Gift des Imperialismus zu verwirren und ihre Abneigung gegen den Krieg zu schwächen" 1 3 . Im Juli 1946 griff er diesen Gedanken wieder auf und übte, wie schon in den dreißiger Jahren Selbstkritik für die KPD. Ausgehend von den furchtbaren Folgen des Krieges und der Tatsache, daß ihr Kampf „erfolglos geblieben ist, und damit der Hitlerbande der grauenhafte Krieg erst ermöglicht wurde", warf er die Frage auf: „Wer war für alles das verantwortlich?" Ohne damit die Schuld der deutschen Regierung zu mindern, sagte Pieck, die KPD träfe die „Schuld", nicht imstande gewesen zu sein, „die Arbeitermassen, vor allen Dingen aber die Jugend, zum Kampf gegen den Faschismus und gegen den Krieg zu erfassen" 1 4 . Im letzten Kriegsjahr wurde die für das Bild von der Wehrmacht grundlegende Problematik Schuld und Verantwortung weiter aufgearbeitet. Das Ergebnis fand seinen Niederschlag in dem lange vorbereiteten Aufruf der KPD, der am 11. Juni 1945 veröffentlicht wurde. Darin heißt es: Das Hitler-Regime habe das deutsche „Volk ins Unglück gestürzt und es vor der gesamten gesitteten Menschheit mit schwerer Schuld und Verantwortung b e l a d e n . . . Ungeheuerlich sind die Greueltaten, die von den Hitlerbanditen in fremden Ländern begangen wurden. An den Händen der Hitlerdeutschen klebt das Blut von vielen, vielen Millionen gemordeter." Differenzierend wird weiter ausgeführt: „Nicht nur Hitler ist schuld an den Verbrechen, die an der Menschheit begangen wurden!" Nachdem eingangs als Schuldige „die gewissenlosen Abenteurer und Verbrecher" der Nazipartei um Hitler, „die Träger des reaktionären Militarismus, die Keitel, Jodl und Konsorten" sowie die Herren der Großbanken und Konzerne genannt wurden, heißt es: „Ihr Teil Schuld tragen auch die zehn Millionen Deutsche, die 1932 bei freien Wahlen für Hitler stimmten, ...alle jenen Deut13 14
Pieck, Reden, 1,S. 406. Ebd., 2, S. 86.
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sehen, die in der Aufrüstung die .Größe Deutschlands' sahen und im wilden Militarismus, im Marschieren und Exerzieren das alleinseligmachende Heil der Nation erblickten, .. .jene Millionen, die der Rassenlehre des ,Kampfes um Lebensraum' verfielen und jene breiten Bevökerungsschichten, die das elementare Gefühl für Anstand und Gerechtigkeit verloren und Hitler folgten, als er ihnen einen gutgedeckten Mittags- und Abendbrottisch auf Kosten anderer Völker durch Krieg und Raub versprach" 1 5 . D e r Aufruf war lange Zeit Richtschnur für das neue Geschichtsbild in der S B Z / D D R . Rückschauend fällt auf, daß viele Verbrechen angeführt, Schuldige, auch der Militarismus, beim Namen genannt wurden, jedoch der Begriff Wehrmacht fehlte. Ebenso gab es keinen direkten Verweis auf den Völkermord an den Juden Deutschlands und des besetzten Europas. Beide Desiderate ließen sich als Menetekel für das Fortbestehen von Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen bis zum Ende der D D R auffassen. Bei Kriegsende setzten sich mit dieser Problematik auch Autoren auseinander, die auf sehr unterschiedliche Weise die zwölf Jahre Hitler-Diktatur durchlebt hatten. Im mexikanischen Exil verfaßte Alexander Abusch 1944/45 die unter dem Titel „Irrweg einer Nation" publizierte deutsche Geschichte 1 6 . Darin heißt es: Das deutsche Volk trägt „die größte Schuld daran, daß die deutsche Nation zum zweitenmal in einem halben Jahrhundert von ihren imperialistischen Machthabern zur Angreifer- und Unterdrückernation gemacht werden konnte". Das geschah, weil „die Deutschen sich im .unpolitischen Sichbeugen' unter den Zwang auf allen Gebieten, bis zum Tode auf dem Schlachtfeld geübt hatten" 1 7 . Der dafür verantwortlichen Generalität bescheinigt Abusch, daß „antiimperialistischer und demokratischer Geist" von ihr „ihrer Herkunft" gemäß nicht zu erwarten gewesen seien. Wirklich schuldig sei sie, weil sie mitwirkte, „Hitler als .Führer' Deutschlands zu installieren", der alles Reaktionäre aus dem Preußentum - die militaristische Organisation und den Geist des Kadavergehorsams - im „Dritten Reich" fortsetzte, und nach den Siegen über Polen und Frankreich „gern von ihm die Marschallstäbe in Empfang nahm" 1 8 . In dem von Albert Norden mit Gerhart Eisler und Albert Schreiner im Exil in den U S A verfaßten, dann von ihm allein 1947 in der S B Z publizierten Buch „Lehren deutscher Geschichte" wird in gleicher Weise festgehalten, „daß ein großer Teil des deutschen Volkes Hitler auf dem Weg folgte, der zur Begehung so namenloser Verbrechen führte" 1 9 . Ernst Niekisch, befreit aus achtjähriger Nazi-Haft, las nach der Wiedereröffnung der Berliner (Humboldt) Universität bis 1951 vor überfüllten Hörsälen, in denen viele Studenten saßen, die später in den Gesellschaftswissenschaften die D D R mitgestalteten - auch der Autor dieses Beitrages. Wesentliche Teile der
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B e r t h o l d / D i e h l (Hrsg.), Parteiprogramme, S. 192 ff. In der D D R erschien nicht: Paul Merker, Deutschland sein oder nicht sein? V o n Weimar zu Hitler. Das Dritte Reich und sein Ende, 2 Bde, M e x i c o - C i t y 1944/45. A b u s c h , Irrweg, S. 2 5 6 f. Ebd., S. 287. N o r d e n , Lehren, S. 215.
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Vorlesungen des in der Haft fast erblindeten Niekisch, der 1950/51 mit der S E D in Konflikt geriet, sind in seinem 1953 in Hamburg und nach erheblichen Schwierigkeiten 1957 auch in der D D R erschienenen Buch „Das Reich der niederen Dämonen" nachzulesen. Niekisch gelang es, ein zutreffendes Bild des Zusammenhangs von Hitler, der Nazipartei, von Wehrmacht und Militarismus zu zeichnen und darzulegen, wie das deutsche Volk in den „Taumel seiner Selbstvernichtung" geriet, in dessen Folge es selbst dann noch kämpfte, „als es kaum noch über einen Quadratmeter unbesetzten Landes verfügte" 2 0 . Er ging davon aus, daß die Reichswehr „bei der Geburt der Hitlerbewegung Pate" stand und „dem werdenden Tribun die Tribüne" schuf. „Diese Bewegung, die von Anfang an präzis in Reih und Glied marschierte, zuverlässig zum Kadavergehorsam dressierte . . . , versprach, eine vollkommene Vorschule für jenen totalen Kasernenhof zu werden, in den die Generale Deutschland zu verwandeln strebten" 2 1 . Mit der „totalen Mobilmachung" ordnete die Führung „den gesamten Lebensprozeß eines Volkes dem Gesichtspunkt des künftigen Krieges unter; jede Lebensäußerung ist Kriegsvorbereitung. Die Gesamtproduktion ist Herstellung von Kriegsbedarf; der Arbeiter ist Soldat, der eingesetzt ist, um Kriegsgerät herbeizuschaffen. Die Fabrik ist eine kleine Festung, in der auf Kommando produziert wird, wie man in der Kaserne auf Kommando exerziert . . . Die Menschen heiraten, um Soldaten zu erzeugen. Die Erziehung wird zur unendlichen militärischen Instruktionsstunde" 2 2 . Auf einer Beratung mit Rektoren, Hochschullehrern und Mitarbeitern der Verwaltung für Volksbildung in der S B Z Ende Mai 1946 sagte Anton Ackermann, von der gerade gegründeten S E D als Mitglied des Zentralsekretariats, des obersten Führungsgremiums der Partei, gewählt und speziell verantwortlich für ideologische Fragen: „Es kann auch niemand leugnen, daß zu dieser Zeit in Deutschland die Zahl der Menschen äußerst gering war, die zu diesen Verbrechen und diesem Verbrecherj argon nicht laut Beifall geklatscht und sich daran erinnert hätten, was Recht und Unrecht, Anstand und Menschlichkeit von einem Volk erfordern. . . . Man fand es in Ordnung, daß der sogenannte ,Kampf um den Lebensraum' geführt wird. Man fand es in Ordnung, daß die Deutschen ein auserwähltes Volk seien, die ,Herrenrasse', die zur .Neuordnung Europas' berufen sei. Wäre es nur gelungen, kein Mensch hätte nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gefragt... Dieser bedingungslosen Gefolgschaft der Mehrheit unseres Volkes für Hitler verdanken wir es, daß nicht nur die Naziregierung, sondern das deutsche Volk für den Krieg und die Kriegsschäden verantwortlich gemacht werden" 2 3 . Die Auseinandersetzung wurde auch gefördert durch das Publizieren von zumeist noch im Exil geschriebenen Gedichtbänden, Romanen und Prosaerzählungen über Krieg, Soldatentum, Verfolgung und Kriegsverbrechen von Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Stephan Hermlin, Stefan Heym,
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Niekisch, Reich, S. 516. Ebd., S. 27. Ebd., S. 237. Huschner, Historiker 1946, S. 893 f.
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Heinrich und Thomas Mann, Ludwig Renn, Anna Seghers, Erich Weinert, F.C. Weiskopf, Friedrich Wolf, Arnold Zweig u. a. 24 . Im Jahre 1948 erschien der Dokumentarroman „Finale Berlin" von Heinz Rein, der auf großes Interesse stieß und 1951 die Auflage von 100000 Exemplaren erreichte. Der Autor bemühte sich, auf Fragen nach der Schuld der Wehrmachtsoldaten und Arbeiter Antworten zu geben. Beispielsweise ließ er einen jungen Leutnant Ende April 1945 zu dem Schluß gelangen, daß der Krieg nicht etwa nur darin bestehe, ein feindliches Heer zu bekämpfen, sondern daß der Sinn dieses Krieges gerade der zu sein schien, das Land hinter der Front nicht zu befrieden, sondern es mit dem Blut der Leichen der zurückgebliebenen Bevölkerung für die einst nachrückenden Besiedler des kolonialen Ostraumes zu düngen, sofern sie nicht als Siegesbeute in die Arbeitssklaverei entführt wurde" 2 5 . Ein Arzt und Widerstandskämpfer in diesem Roman vergleicht die Soldaten des Ersten und des Zweiten Weltkrieges und erklärt, daß die Wehrmachtsoldaten „im Bewußtsein einer Herrenrasse anzugehören, unvorstellbare Grausamkeiten und länderweite Verwüstungen begangen" haben 26 . Schließlich legt Rein einem anderen Widerstandskämpfer den Satz in den Mund: „Die deutsche Arbeiterschaft hat leider zum großen Teil versagt, sie hat gewissenhaft und fleißig in den Rüstungsbetrieben gearbeitet, als ob es um ihre eigene Sache ginge" 2 7 . Diese und viele weitere Beispiele dokumentieren, wie in der S B Z / D D R eine breite Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begann. Ab 1950/51, als sich die S E D nach sowjetischem Vorbild zur „Partei neuen Typus" wandelte und im Juli 1950 mit der Annahme des ersten Fünfjahrplans im Osten Kurs auf eine sozialistische Entwicklung genommen wurde, änderte sich jedoch der Grundtenor. Das hatte auch zur Folge, das Abusch Selbstkritik für sein Buch üben mußte, Niekisch im geistigen Leben fast keine Rolle mehr spielte und in Westberlin blieb. Rein, der bis 1947 Referent für Literatur der Deutschen Verwaltung für Volksbildung der SBZ war, danach als freier Schriftsteller wirkte, hatte 1950 das Buch „Die neue Literatur" veröffentlicht. Abusch, selbst in Bedrängnis, griff es am 4. Juli 1950 im „Neuen Deutschland" an und bezeichnete es als „Ersatz"geschichte der neuen Literatur, „in der weder Beziehungen zu unserem nationalen Kulturerbe noch der Einfluß der Sowjetliteratur auf unser literarisches Schaffen sichtbar" werden. Rein siedelte schließlich nach Baden-Baden über. Ehe der „neue K u r s " Historie und Literatur bestimmte, wirkten die bisherigen Ansichten über Schuld und Sühne weiter. Dafür bestanden positive und negative Voraussetzungen. Im arg zerstörten, von den Siegermächten vollständig besetzten Deutschland gab es - neben den als schuldig und belastet eingestuften Mitgliedern der NSDAP, SS, Gestapo usw. 28 - wohl kaum eine Familie, deren Angehörige nicht als Soldaten und Offiziere in der Wehrmacht, in anderen
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Kaiser (Hrsg.), Wort; Becher, Heimkehr; Hermlin/Mayer, Ansichten. Rein, Finale, S. 105. Ebd., S. 55. Ebd., S. 183. Beispielsweise gehörten von 50000 Einwohnern der Stadt Frankfurt/Oder 20000 der N S D A P und ihren Gliederungen an. Vgl. Maerz (Hrsg.), Wir waren damals 19, S. 196.
Z u m B i l d d e r W e h r m a c h t in d e r G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g der D D R
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halbmilitärischen Organisationen, Besatzungsbehörden usw. tätig gewesen waren. Vom Einmarsch in Osterreich 1938 bis zu den letzten Schüssen im Mai 1945 hatten die meisten von ihnen Verbrechen und Greueltaten gesehen und sich in zahlreichen Fällen „auf Befehl" daran beteiligt. Auch die im Reich verbliebene Bevölkerung hatte die ausgegrenzten Nachbarn mit dem Judenstern, die dann in die Todeslager verschwanden, die Kolonnen von ausgemergelten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern vor Augen gehabt. Aber bei vielen wirkte auch die Hitler-Goebbels-Propaganda nach, die ihnen ausgemalt hatte, welches Scherbengericht über sie kommen werde, wenn Deutschland den Krieg verliere. Das Geschehen nach Kriegsende, das Abführen weiterer zehntausender Deutscher in die Kriegsgefangenschaft, oft wahllose, nicht selten auf Denunziationen beruhende Festnahmen und Haft in N K W D - L a g e r n und die Befehle der Siegermächte für alle vier Besatzungszonen, später nur der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), hemmten objektiv die Bereitschaft, Zeugnis über die Kriegsverbrechen abzulegen. Die Gründung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1949 und ihre aktive Teilhabe am Kalten Krieg, in dem sie sich bis 1961 an einer relativ offenen Grenze feindlich gegenüberstanden, wirkte sich auf das jeweilige Bild von der Hitler-Diktatur, dem Krieg und der Wehrmacht unterschiedlich aus. Die Einnahme von Generals- und anderer Offizierspositionen der Bundeswehr und in den NATO-Streitkräften durch ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die Flut von Memoiren und Kriegsgeschichten, von Millionen „Landserheften", die nicht die Untaten, sondern die „Heldentaten" der Wehrmacht und SS darstellten, wurde von Seiten der D D R für eine heftige Polemik ausgenutzt. Das „neue" Geschichtsbild im westlichen Deutschland erreichte über die zunächst noch passierbare Grenze, über den Rundfunk und später das Fernsehen auch die Bürger der D D R und hatte immer einen nicht unerheblichen Einfluß. Das erklärt, warum neben den noch fehlenden eigenen Forschungen, die „Auseinandersetzung" mit der Geschichtsschreibung der B R D über den Zweiten Weltkrieg bei den Historiklern der D D R Vorrang hatte 29 . Auch in der D D R erschienen Memoiren ehemaliger Offiziere der Wehrmacht, in denen allerdings die Auseinandersetzung mit der verbrecherischen Politik und Kriegführung einen breiten Raum beanspruchten 30 . Seit den sechziger Jahren nahmen Publikationen von Militärhistorikern zur Geschichte des deutschen Militärwesens, der Waffengattungen, insbesondere auch der Wehrmacht zu 3 1 . In der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" und der 1962 gegründeten Zeitschrift „Militärgeschichte" wurden häufig Themen zu den Jahren 1933 bis 1945 behandelt 32 . Ende der sechziger Jahre erschienen die Hochschullehrbücher zur deutschen Geschichte 1933 bis 1939 und 1939 bis 1945. Im „Bulletin
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Probleme; L o z e k u.a. Imperialismus; ders. u.a. (Hrsg.), Vergangenheit. Adam, Entschluß; Frankenberg, Hrsg., Entscheidung; H o m a n n , Ehre; Müller, Vaterland; Steidle, Entscheidung; Welz, Grenadiere. Förster/Helmert/Schnitter, Weltkrieg; dies., Generalstab; Förster, Totaler Krieg; ders. u. a., Abriß; Müller, Wehrmacht; Schützle, Reichswehr; Wünsche, Strategie. Siehe Register 1 9 6 2 - 1 9 8 1 , in: Militärgeschichte, 20 (1981) 6.
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des Arbeitskreises Zweiter Weltkrieg" wurden 1968/69 Konzeption und Disposition des zwischen 1974 und 1985 veröffentlichten sechsbändigen Werkes „Deutschland im zweiten Weltkrieg" zur Diskussion gestellt. Im Ergebnis dieser vielseitigen Forschungstätigkeit entstanden in Hunderten von Büchern und Artikeln viele Teile des Bildes von der Wehrmacht und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg 33 . Beeinträchtigt wurde jedoch das Gesamtbild durch den Verlauf der seit der Mitte der fünfziger Jahre in der D D R kontrovers geführten Diskussion über die Rolle der Volksmassen in der Geschichte. Entgegen den, vor allem von Jürgen Kuczynski vertretenen Thesen setzte sich eine Betrachtungsweise durch, die losgelöst vom tatsächlichen Geschichtsverlauf historische Wertungen aktuellen politischen Zielen unterordnete. Führende Funktionäre der S E D um Ulbricht strebten, in Ubereinstimmung mit der von der S M A D betriebenen Politik Stalins in Deutschland, in der D D R weitgehende gesellschaftliche Veränderungen an. Diese waren nur durchsetzbar, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung dafür zu gewinnen war. Erfordernisse des Zeitgeistes traten an die Stelle langwieriger Auseinandersetzungen über die Vergangenheit. Häufig forderte Ulbricht, „im Vorwärtsschreiten" die Probleme von gestern zu lösen. Dieser Politik kamen objektiv die auf eine schnelle Überwindung der katastrophalen Nachkriegssituation abzielenden Befehle des Alliierten Kontrollrats, für die S B Z vor allem der S M A D , entgegen. Schnell, teilweise mit großer Härte, bei oft juristisch fragwürdiger Prozeßführung, erfolgte zuerst vor sowjetischen, später deutschen Tribunalen die, in zeitgenössischen Artikeln und Broschüren dargestellte Verurteilung von „ N a z i - und Kriegsverbrechern". Darunter befanden sich viele der SS, aber auch der Wehrmacht angehörende Kommandeure und Wachmannschaften von KZ's, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlagern 3 4 . Schon im März 1948 beendete ein Befehl der S M A D die Entnazifizierung 3 5 . Die sowjetischen Internierungslager in der S B Z wurden im Januar 1950 aufgelöst; im August 1952 gewährte die Volkskammer der D D R ehemaligen Mitgliedern der N S D A P wieder die vollen bürgerlichen und politischen Rechte. Mit Ausnahme der nach den Beschlüssen der U N O bis zum Ende der D D R weiterverfolgten Verbrechen war für die Politik dieses Kapitel abgeschlossen 3 6 . Geschichtswissenschaft, Schriftsteller und Journalisten behandelten es als „historisches" Thema. Eine Aufarbeitung in der Gesellschaft und im Familienkreis stand nicht auf der Tagesordnung der „ideologischen Arbeit", fand - so überhaupt - „privat" statt. Als in der DDR-Geschichtsschreibung seit dem Ende der fünfziger Jahre wissenschaftliche Arbeiten über die Jahre 1933 bis 1945 erschienen, war - spätestens seit dem 1952 proklamierten „planmäßigen Aufbau des Sozialismus" - die Grobskizze über diese Zeit schon fertig: Schuldig waren die „faschistischen 33 34
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Deutschland im zweiten Weltkrieg; Hass, Weltkrieg. Von über 3000 zumeist aus N K W D - L a g e r n nach Waldheim überführten Häftlingen gibt es für 2015 eine Statistik, aus der hervorgeht, daß darunter 60 Wehrmachtangehörige und 170 Bewacher von Kriegsgefangenenlagern waren. Zit. n. Wieland, Beitrag, S. 381; Ahndung; Todeslager. Meinicke, Entnazifizierung, S. 968 ff.; siehe Welsh, U m w ä l z u n g , S. 84 ff. Siehe Wieland, Rechtsverkehr, S. 367 ff.
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deutschen Imperialisten und Militaristen", Konzern- und Bankherren, Junker, Rüstungsindustrielle, Großagrarier, Theoretiker und Praktiker von „nordischer Rassenlehre", Nationalismus und Antisemitismus sowie der „preußische Kadavergehorsam". Generalstäbler und Offiziere, die zu einem bedeutenden Teil aus diesen Gesellschaftsschichten hervorgegangen waren, zählten mit Ausnahme einiger „Patrioten, die Interessen des Volkes vertreten hatten", zu den Schuldbeladenen. Die sofort nach Kriegsende von der KPD, aber auch von anderen, zum Bürgertum gehörenden Kreisen geforderte und bis zur Gründung der DDR im wesentlichen abgeschlossene Entmachtung der bisher Herrschenden durch die Enteignung der „Kriegsverbrecher- und Rüstungsbetriebe" und die Bodenreform wurde in erster Linie als Bestrafung der Hauptschuldigen für Hitlerherrschaft und Krieg und zugleich als notwendige Voraussetzung für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung angesehen. Im ersten in der DDR allgemeingültigen Schullehrbuch, dessen Ausarbeitung Walter Bartel leitete, wurde dieses Geschichtsbild unter Berufung auf den IV. Parteitages der SED (März 1954) wie folgt vermittelt: In der D D R gibt es „kein Streben nach Eroberung fremder Rohstoffgebiete und Absatzmärkte und nach Beherrschung anderer Länder" mehr, weil „die Klasse, die Deutschland ins Unglück gestürzt hat", entmachtet wurde, weil „die kapitalistische Gewinnsucht, dieser Anreiz zum Krieg," und „die Herrschaft der kapitalistischen Monopole" beseitigt worden sind 37 . Das Lehrbuch, das unverändert bis 1960 für die Schulen galt, behandelt die Rolle der Wehrmachtführung bei der Vorbereitung des Krieges, nennt Generalfeldmarschall Keitel, den Chef des OKW, als Unterzeichner des „Kommissarbefehls", schildert das Massensterben sowjetischer und anderer Kriegsgefangener in Lagern, für die die Wehrmacht verantwortlich war. Zitiert wird die Antwort Keitels auf Eingaben einiger Generale gegen die Behandlung der Kriegsgefangenen: Es handele sich „um die Vernichtung einer Weltanschauung. Deshalb billige ich diese Maßnahmen und decke sie." Das Buch vermittelt Fakten und Beispiele vom Massenmord an Zwangsarbeitern und der Zivilbevölkerung, zitiert Befehle, als „Kommissare verdächtige Sowjetsoldaten" sofort zu erschießen, „Angehörige der sowjetischen Intelligenz, alle Juden, alle Kommunisten ausfindig zu machen" und „außerhalb der Gefangenenlager" zu exekutieren. Der Raub von Rohstoffen, Lebensmitteln, materiellen und kulturellen Gütern wurde dargelegt. Auch auf die mehr als 20000 Todesurteile deutscher Militärgerichte gegen Soldaten und Offiziere der Wehrmacht wird eingegangen 38 . Im Gegensatz zu diesem sachlich begründeten, in vielen weiteren Publikationen präzisiertem Bloßlegen der Verbrechen der „Herrschenden", einschließlich der Wehrmachtführung, geriet die Behandlung der Rolle des Volkes zunehmend in eine Schieflage. Schon am 25. Juli 1945 sagte Ulbricht: „Die Tragödie des deutschen Volkes besteht darin, daß es einer Bande von Verbrechern gehorcht hat" 39 . Dieser Vorgabe folgte auch das Lehrbuch von Bartel. Unter der
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Bartel, Deutschland, S. 258. Ebd., S. 204 ff. Ulbricht u. a., Geschichte, S. 425.
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Überschrift „Fortschreitende Entrechtung und Verelendung der Werktätigen in Hitlerdeutschland" wurden Themen wie „Versklavung der Arbeiterklasse", „Die Bauern werden geprellt" und „Der Mittelstand wird betrogen" so behandelt, daß ein Bild von „Opfern" entsteht 40 . Diese Darstellung vermittelte kein richtiges Bild von der Haltung, vom Denken und Tun der Masse des deutschen Volkes, zu dem auch Millionen Soldaten gehörten. Hinzu kam eine oft maßlose Überbetonung des unbestritten aufopferungsvollen und ehrenwerten Widerstandskampfes, insbesondere des von den Kommunisten geführten. Das Gesamtbild von Deutschland unter Hitler bestand aus zwei Hälften: Die eine demonstrierte als Schuldige die bis 1945 Herrschenden, die andere die „Opfer", zu denen alle von Deutschland angegriffenen Völker, die rassisch Verfolgten, und - in zeitlicher Reihenfolge sogar an erster Stelle - das eigene Volk gezählt wurden. Diese Art der Darstellung wurde von dem vorwiegend aus Historikern bestehenden, von Ulbricht persönlich geleiteten Autorenkollektiv im 1966 erschienenen 6. Band der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" richtungweisend formuliert: „Die faschistischen Machthaber hatten das deutsche Volk in ihre Verbrechen verstrickt", heißt es dort. „Die Arbeiterklasse stellte über die Hälfte der Bevölkerung", aber „die Faschisten hatten das gesamte Arbeitsleben militarisiert. Die Masse der Arbeiter war in die Wehrmacht gepreßt worden". Die Schlußfolgerung lautete: „Die deutsche Arbeiterklasse hatte keinen Anteil an der faschistischen Gewaltherrschaft gehabt" 41 . Die Arbeiter, das ganze werktätige Volk der DDR sollten mit diesem Unschuldsurteil, unbelastet von der Vergangenheit nach dem Willen der SEDFührung zur „Vollendung des sozialistischen Aufbaus vorwärtsschreiten". Von dieser Wertung bis zu so unsinnigen Thesen, die den deutschen Widerstand, einschließlich des vom NKFD und B D O geleisteten, als Teil der weltweiten Antihitlerkoalition betrachteten, oder gar das Volk der DDR zu den „Siegern der Geschichte" zählten, war kein weiter Weg. Zweifelsohne trugen viele Arbeiten der Historiker zu der Absicht bei, die „Arbeiter-und-Bauernmacht" historisch zu legitimieren, wie das übrigens für die jeweiligen Ordnungen in vielen Staaten der Welt seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart geschieht. Dennoch wäre es falsch, die Geschichtsschreibung der DDR darauf zu reduzieren. Konkrete Forschungsergebnisse sind über die Jahre 1933 bis 1945 vorgelegt worden 4 2 . Selbst wissenschaftliche Arbeiten, die für die Propaganda und die politische Bildung, zum Beispiel der Offiziere der NVA, genutzt wurden, enthielten weiterführende Erkenntnisse. Die Traditionsforschung für die NVA ist dafür ein Beispiel. Bei der Bestimmung ihrer militärischen Traditionen wurden „der militaristische Militärapparat und die volksfeindlichen Streitkräfte", also auch Reichswehr und Wehrmacht, ausgeschlossen. Die Traditionslinie führte aber durch das gesamte fortschrittliche und revolutionäre historische Erbe von den antifeudalen Aufständen über den Bauernkrieg, die bewaffneten Kämpfe in
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Bartel, Deutschland, S. 47 ff. Ulbricht u.a., Geschichte, 6, S. 32f. Siehe Helmert/Knoll/Schnitter, Forschungen, S. 147 ff.; Charisius/Förster/Schnitter, Forschungen, S. 673 ff.
Z u m Bild der W e h r m a c h t in der Geschichtsschreibung der D D R
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der Revolution 1848/49 und in der Novemberrevolution 1918/19, gegen den Kapp-Putsch und im Jahre 1923 bis hin zur Teilnahme deutscher Antifaschisten am Spanischen Bürgerkrieg und auf der Seite der Sowjetarmee und in anderen Armeen der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg. Einbezogen waren auch „die progressiven militärischen und militärtheoretischen Leistungen von Angehörigen der Ausbeuterklassen", wie Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz. Schließlich legte man besonderes Gewicht auf die „in der Geschichte der DDR entstandenen neuen militärischen Traditionen" 43 . Viele Publikationen zu diesem weiten Feld brachten wichtige Forschungserkenntnisse. Ein besonderes Beispiel ist die propagandistische und wissenschaftliche Tätigkeit der am 11. Januar 1958 in der DDR gegründeten „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere" (AeO). Das vornehmlich aus ehemaligen Mitglieder des NKFD und des B D O zusammengesetztes Gremium hatte sich laut Statut als eine Hauptaufgabe gestellt, „historische Forschungen über bestimmte Probleme des zweiten Weltkrieges zu veröffentlichen" 44 . Der zum Vorsitzenden der AeO gewählte Generalmajor a.D. Otto Korfes rief in seinem Beitrag „Die Pflicht des deutschen Offiziers" die in der DDR lebenden ehemaligen Offiziere, „die militärische Fachkenntnisse mit politischer Erfahrung zu verbinden gelernt haben", die „aus eigenem Erleben die Wahrheit über den Krieg und seine Ursachen wissen", auf, durch „kritische Geschichtsschreibung, Bloßlegung der Geschichtslügen und Legenden" zur „Zerstörung der geistigen Grundlagen des Militarismus aus der Geschichte her" beizutragen. Der OstCDU-Politiker, Gesundheitsminister der DDR und spätere Oberbürgermeister von Weimar, Oberst a. D. Luitpold Steidle, wandte sich in seiner Beurteilung der Wehrmacht gegen die Aussagen vieler ehemaliger Offiziere, „sie hätten sich politisch nie betätigt, sie seien ausschließlich Soldaten gewesen", und erklärte: „Das eben macht diesen Weg der deutschen Wehrmacht zu einem tragischen: die subjektive Schuldlosigkeit vieler einzelner kann die objektive Schuld aller, aller einzelnen zusammen nicht mehr aufheben. So führte der Weg der ehemaligen deutschen Wehrmacht trotz der Tapferkeit und der Kameradschaft vieler einzelner unausweichlich in die Unehre und die Schande, unter der Fahne Adolf Hitlers gekämpft zu haben; . . . irgendwann gab es wohl für jeden deutschen Soldaten" die tiefere Erkenntnis: „So sollte es nicht kommen, das habe ich nicht gewollt, solcher Krieg ist ein Wahnsinn und ein Verbrechen" 45 . Für die Ende der fünfziger Jahre zunehmende wissenschaftliche Arbeit über Nazidiktatur und Zweiten Weltkrieg kamen solche Überlegungen über die Mehrschichtigkeit des Bildes der Wehrmacht zur rechten Zeit. Jedoch galten für die historischen Forschungen die ausführlich dargelegten Rahmenbedingungen des „Marxismus-Leninismus" und die DDR-spezifische, von manchen polnischen und sowjetischen Historikern anders gesehene Wertung der Rolle des Volkes. Das Dilemma zeigt sich in der 1968 veröffentlichten Konzeption für die „Geschichte Deutschlands im zweiten Weltkrieg". Gegenüber der groben Einteilung der Herrschenden als Schuldige und dem Volk hieß es zaghaft Schlupf-
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Wörterbuch, S. 570 ff. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere (1958) 1, S. 1 f. Ebd., S. 3.
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löcher suchend, es dürfe „nicht geschlußfolgert werden, daß das Maß der Verantwortung für die hauptschuldigen Kräfte des Monopolkapitals und die mehr oder weniger willig mißbrauchten Teile des Volkes gleich sei". Es müsse „differenziert werden zwischen den imperialistischen Kräften, die den Krieg planmäßig vorbereiteten, entfesselten und in deren Profit- und Eroberungsinteresse er geführt wurde und denen, die sich durch aktive Beteiligung an Verbrechen schuldig machten, und denen, die verführt, skrupellos mißbraucht und gezwungen wurden, für die Interessen des deutschen Imperialismus zu arbeiten, zu kämpfen und zu leiden, und schließlich denen, die aktiven Widerstand leisteten" 4 6 . Dieses waren doch bereits gedankliche Ansätze zur Differenzierung von Verantwortung, wie sie später auch in der nicht sozialistischen Forschung weiterverfolgt wurden. Die Historiker stellten sich selbst die Aufgabe, „den zentralen Platz zu bestimmen, den das Militär im staatsmonopolistischen System" und bei der Vorbereitung des Krieges einnahm, „das verbrecherische Wirken der faschistischen Militärs, ihre Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel, ihre Bedenkenlosigkeit beim Hinwegsetzen über gültige internationale Rechtsnormen, ihre führende und organisierende Teilnahme an Raub und Verbrechen zu enthüllen". Das Ergebnis der Arbeit wurde vorformuliert, als es hieß, es sei „der oberste militärische Führungsmechanismus zu analysieren, um zu zeigen, daß nicht Hitler für die verbrecherischen militärischen Entschlüsse allein verantwortlich war, sondern die oberste Wehrmachtsführung mit Hitler an der Spitze". Unter Zugrundelegung dieser Thesen wurde für das konkrete Bild der Kriegsführung und des Kriegsverlaufs verlangt, „die Rolle der Streitkräfte, ihre Organisation, Bewaffnung, Moral, Kriegskunst, d.h. ihre Kampfkraft" zu analysieren 47 . Zwischen dieser Aufgabenstellung und dem Ende der D D R und ihrer Geschichtsschreibung liegen zwanzig Jahre. In diesen beiden Jahrzehnten ist eine Vielzahl von Gesamtdarstellungen, Dokumentenbänden, Monographien und Aufsätzen erschienen. Eine abschließende Analyse sowohl der Details als auch des Gesamtbildes steht ebenso aus, wie die Antwort auf die Frage, ob diese Geschichtsschreibung ihre selbstgestellten Aufgaben gelöst hat - und wenn nicht, wer und was sie daran hinderte. N u r die Antworten auf alle diese Fragen werden auch den Platz bestimmen, welcher der Geschichtsschreibung der D D R zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Wehrmacht gebührt.
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Schumann u.a., Konzeption, S. 39f. Ebd., S. 48 f.
Rüdiger Wenzke Das unliebsame Erbe der Wehrmacht und der Aufbau der DDR-Volksarmee
Im Mai 1945 war die totale Niederlage der Wehrmacht mit der Kapitulation besiegelt worden. In Deutschland herrschten Trauer, N o t und Sorge um die Zukunft. Ein deutsches Militär gab es nicht mehr, das militärische „Heldentum des deutschen Soldaten" war spätestens seit dem Uberfall auf die Sowjetunion entmythologisiert - zumindest im Bewußtsein der alliierten Siegermächte. Diese standen ebenso wie die Deutschen vor der Aufgabe, sich mit der Erblast des „Dritten Reiches" auseinandersetzen zu müssen. Als ein Punkt von zentraler Bedeutung rückte dabei die Ausrottung des „deutschen Militarismus" auf die Tagesordnung. Die Staaten der „Anti-Hitler-Koalition" waren nach dem Zusammenbruch Deutschlands von der festen Absicht getragen, einerseits solche militärischen Sicherungen dafür zu schaffen, daß von Deutschland keine Bedrohung mehr ausgehen konnte und andererseits die Deutschen für immer allem Militärischen zu entwöhnen und letztlich moralisch umzuerziehen 1 . Die Entmilitarisierungsbeschlüsse des Alliierten Kontrollrates verlangten daher sowohl die organisatorische Beseitigung aller militärischen Strukturen, die Liquidierung des Generalstabes, die Zerstörung der Rüstungsindustrie, die Bestrafung der Kriegsverbrecher, die Auflösung der Kriegervereine usw. als auch das Ende der als bedrohlich empfundenen preußisch-deutschen Tradition des Militarismus 2 . Die Sowjetunion versuchte dabei, den westlichen Willen, Deutschland dauerhaft niederzuhalten, für die Verfolgung ihrer kommunistischen Ziele zu instrumentalisieren. So war im sowjetischen Kalkül die Beseitigung von „Faschismus und Militarismus" untrennbar mit revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen, insbesondere der Eigentumsverhältnisse in Deutschland gleichgesetzt 3 . Letzteres entsprach auch den Vorstellungen der Kommunistischen Partei ( K P D ) bzw. der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die 1945/46 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren D D R die Führungsrolle bei der politischen und sozialen Gestaltung des „neuen Deutschland" beanspruchte. Hier hatte man die Fragen nach der Schuld an der deutschen Katastrophe, am Krieg und Elend der Völker frühzeitig beantwortet: „Die Schuld und Verantwortung tragen die gewissenlosen Abenteurer und Verbrecher, die die Schuld am Kriege tragen. Es sind die Hitler und Göring, Himmler und Goebbels, die aktiven Anhänger und Helfer der Nazipartei. Es sind die Träger des reaktionären Militarismus, die Keitel, Jodl und Konsorten. Es sind die imperialistischen Auftraggeber der Nazipartei, die Herren der Großbanken und ' 2 3
Siehe dazu u. a. Fischer, Anfänge, S. 13 f. Siehe dazu ausführlich Wettig, Entmilitarisierung, S. 102-106. Siehe u. a. Fischer, Anfänge, S. 17. Siehe auch Wettig, Aufrüstung, S. 7.
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Rüdiger Wenzke
Konzerne, die Krupp und Röchling, Poensgen und Siemens" 4 . Eine Teilschuld wurde darüber hinaus sowohl jenen Männern und Frauen auferlegt, „die willenlos und widerstandslos zusahen, wie Hitler die Macht an sich riß", als auch „jenen Deutschen, die in der Aufrüstung die ,Größe Deutschlands' sahen und im wilden Militarismus, im Marschieren und Exerzieren das alleinseligmachende Heil der Nation erblickten" 5 . Die „faschistische Wehrmacht" als Kern des Militärs wurde von den deutschen Kommunisten von Anfang an als Instrument einer verbrecherischen Führung verurteilt. Diese Einschätzung schloß die Generalität sowie das höhere Offizierkorps und - anfangs undifferenziert - auch die Masse der Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften mit ein. Gleichwohl wurde nach 1945 nicht jeder deutsche Soldat als Kriegsverbrecher abgestempelt. Alles Militärische schien jedoch auf lange Sicht verpönt - „Nie wieder Krieg" und „Nie wieder deutsche Soldaten" waren im Westen wie im Osten im Volk weit verbreitete Ansichten. Die militärische Frage begann jedoch schon wenige Jahre nach der Kapitulation - forciert durch die weltweite Systemauseinandersetzung im Kalten Krieg wieder eine zentrale Bedeutung für die Staatswerdung im geteilten Deutschland einzunehmen 6 . Ein Wiederaufbau alter Strukturen der Wehrmacht bzw. die Wiedereinstellung ihres Führungspersonals waren jedoch im Osten ebenso wenig gewollt wie angesichts der Bedingungen möglich. Hier sollte das entstehende Militär - im Ergebnis des postulierten entschiedenen Bruchs mit dem preußischen Militarismus - in seinem Sozialprofil, seiner Tradition und seinem Auftrag von Anfang an ein Gegenbild zur Wehrmacht und allen anderen bisherigen deutschen Armeen darstellen. Ab 1948 begann die S E D mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht unter dem Deckmantel einer „antifaschistisch-demokratischen" Entwicklung erste streng geheimgehaltene Schritte zur Aufrüstung in ihrem Herrschaftsbereich einzuleiten. Im Oktober 1949, dem Gründungsmonat der D D R , gehörten militärisch orientierte Polizeikräfte bereits zum Machtapparat des sich im Osten Deutschlands etablierenden Regimes. Bis zum Anfang der fünfziger Jahre bildete sich eine Truppe heraus, die rasch und immer offener die charakteristischen Merkmale von Streitkräften annahm 7 . Es gehörte dabei zu den Prinzipien der SED-Politik, jegliche öffentliche Verbindung der geheimen Aufrüstung in der D D R zur ehemaligen Wehrmacht zu vermeiden. Dieses Tabu wurde anfangs „nach außen" zwar konsequent durchgehalten, doch es zeigten sich im Innern der „neuen Streitkräfte" schon bald sichtbare Widersprüche zwischen Absicht und Wirklichkeit. Als im Januar 1956 die Nationale Volksarmee(NVA) offiziell gegründet wurde und sich die Soldaten der Öffentlichkeit in Uniformen päsentierten, die denen der Wehrmacht glichen, war das für viele Menschen in Ost und West der letzte Beweis für eine bis dahin mehr erahnte als sichtbare Kontinuität zwischen dem „braunen" und dem „roten" Militär.
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Aufruf des Z K der K P D vom 1 1 . 6 . 1945, in: Erler/Laude/Wilke (Hrsg.), Hitler, S. 390. Ebd., S. 392. Siehe Bald, Bürger. Siehe dazu ausführlich T h o ß (Hrsg.), Volksarmee.
D a s unliebsame Erbe der W e h r m a c h t
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Noch bis in die sechziger Jahre wurden in der Bundesrepublik von verschiedenen Parteien und Organisationen Bücher, Broschüren und andere Publikationen herausgebracht, die generell eine direkte, vor allem personelle Linie zwischen dem Naziregime und dem SED-Staat, speziell auch im Bereich des Militärs, zu konstruieren versuchten - so wie die DDR in umgekehrter Richtung propagandistisch argumentierte 8 . Derartige Thesen sind auch in jüngster Zeit verschiedentlich wieder zu finden9. Im folgenden soll auf Grundlage erster Forschungen der Frage nach Kontinuität und Neubeginn im militärischem Bereich nach 1945 nachgegangen werden 10 . Dabei geht es weder um den Versuch, den Platz der ostdeutschen Streitkräfte in der deutschen Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts detailliert auszuloten, noch um die vordergründige Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Wehrmacht und Nationaler Volksarmee der DDR. Vielmehr sollen in drei ausgewählten Problemlagen - der materiell-technischen Hinterlassenschaft, dem Personalbereich und dem Bereich der inneren Verhältnisse Spuren verfolgt werden, die möglicherweise auf Verbindungen zwischen Wehrmacht und DDR-Streitkräften deuten: Wirkten Strukturen oder Traditionen weiter ? Was vermischte sich ? Was brach ab ? Was war neu ? Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht zuletzt für die Diskussion der bis heute postulierten „antifaschistischen" Legitimation der Nationalen-Volksarmee in der zweiten deutschen Diktatur von besonderer Relevanz. Eine umfassende Bestimmung des Stellenwerts und der Rolle des Wehrmachterbes in der NVA und ihren Vorgängern steht freilich noch aus.
Die materielle Hinterlassenschaft Die Besatzungstruppen der UdSSR hatten nach 1945 überwiegend die Standorte und Truppenübungsplätze der Wehrmacht übernommen und waren in deren Kasernen eingezogen, so in Dresden, Schwerin, Neuruppin, Jüterbog, Ohrdruf, Wünsdorf und anderen Orten 11 . Die Sowjetische Militäradministration tilgte alle Namen aus der Zeit der Wehrmacht. Als die SED ab Ende der vierziger Jahre daran ging, kasernierte Polizeitruppen aufzustellen, begann auch sie, alte Wehrmachtanlagen, die bisher brach lagen oder von der Sowjetarmee bereits freigegeben worden waren, wieder herzurichten. So entstand ζ. B. 1954 das spätere DDR-Verteidigungsministerium in Strausberg in einer Kaserne der ehe-
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Siehe dazu u.a. NS-Wehrmacht; Martin (Hrsg.), SED-Funktionäre; Kappelt, Braunbuch. Die SED versuchte ihrerseits unter dem Motto „Hitlers Generalstab kommandiert Adenauers Armee" eine direkte Kontinuität zwischen Wehrmacht und Bundeswehr nachzuweisen. Vgl. u.a. Schwarzer (Bearb.), Kriegsbrandstifter, III. Siehe zur Gesamtproblematik auch die Ähnlichkeiten im Bereich der Staatssicherheit; vgl. dazu ausführlich Gieseke, Frage. Siehe Aus Braun mach Rot, in: Focus (1997)10, S. 80; Kappelt, Entnazifizierung. Kappelt versucht in seiner Arbeit, den Einfluß ehemaliger Nationalsozialisten „in seinem ganzen Ausmaß" darzustellen; seine Thesen sind jedoch nicht immer nachvollziehbar. Siehe zu ähnlicher Fragestellung bereits Messerschmidt, Geschichte. Siehe Arlt, Truppen, S. 596.
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maligen Luftwaffe, in der nach Kriegsende sowjetische Einheiten untergebracht waren. Insbesondere ab Mitte der fünfziger Jahre richteten die verantwortlichen DDR-Politiker verstärkt Bitten an die sowjetische Armeeführung, die durch die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland(GSSD) nicht mehr genutzten ehemaligen Wehrmachtobjekte zur militärischen Verwendung an die D D R zurückzugeben 1 2 . Dennoch reichten die zur Verfügung stehenden Anlagen für den Aufbau von ostdeutschen Streitkräften nicht aus, zumal die Sowjets mit ihren über 400000 Mann Besatzungstruppen die „Filetstücke" unter den Kasernen, Schießplätzen, Bunkeranlagen und Flugplätzen zu ihrer ausschließlichen Verwendung behielten. Die D D R konnte also für die Unterbringung ihrer Armee nur partiell auf Vorhandenes zurückgreifen, das Gros mußte neugebaut bzw. beträchtlich ausgebaut werden, wie z . B . Kasernenkomplexe im Nordosten der Republik im Raum Eggesin und Torgelow, in Spremberg oder Sondershausen. Bewaffnung, Munition und Ausrüstung für die neuaufgestellten bewaffneten Kräfte der S B Z / D D R teilte in den Anfangsjahren generell die Besatzungsmacht zu. Die Ubergabe von Waffen aus sowjetischer Produktion erfolgte dabei spärlich und restriktiv. Offenbar entsprach es eher den praktischen Möglichkeiten und letztlich auch dem Willen der Besatzungsmacht, dem militärischen Aufbau in der S B Z / D D R anfangs nicht gerade die modernsten Waffen zur Verfügung zu stellen, sondern auf die von der Wehrmacht erbeuteten, teilweise veralteten und bereits verschlissenen Bestände zurückzugreifen. Das hatte zudem den Vorteil, daß diese Bewaffnung manchem Angehörigen der kasernierten Truppen noch vertraut war und man sich auf Dokumentationen und bewährte Vorschriften stützen konnte, was einer raschen Grundausbildung von Rekruten durchaus förderlich war. Noch bis Anfang der fünfziger Jahre war die Truppe z . B . teilweise mit deutschen Handfeuerwaffen, vor allem dem Karabiner 98 k, ausgerüstet, die aus den Beutebeständen der Sowjetarmee stammten. Der „Reibert" galt besonders in den Schulen und Bereitschaften der „Hauptverwaltung für Ausbildung" als eine gefragte Ausbildungshilfe in der Truppe 1 3 . In Ausrüstungsfragen mußte nicht selten improvisiert werden, wobei es vor allem im Intendanturwesen darum ging, ehemalige Wehrmachtbestände aufzuspüren und für die Einheiten bereitzustellen. Alte Wehrmachtmuster bildeten auch später teilweise die Vorlage für militärische Neu- oder Weiterentwicklungen. So konnte man bei der Stahlhelmentwicklung für die N V A auf das deutsche Modell von 1943 aufbauen. Das bekannte etwas kantige Muster aus der Wehrmacht wurde nunmehr durch eine überschräge Form weiterentwickelt. Dazu kamen eine verbesserte „Innenausstattung" und eine veränderte Metallegierung. So entstand der typische NVAStahlhelm, der sich in dieser Form über Jahrzehnte hinweg hielt. Insgesamt ist festzustellen, daß die teilweise Übernahme und Nutzung der materiellen Hinterlassenschaft der Wehrmacht vor allem von pragmatischen Ge-
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Siehe Protokoll der SED-Sicherheitskommission vom 2 9 . 6 . 1955, B A - M A , D V W 1/39547, Bl. 1 f. Nach dem Verfasser O b e r s t a . D . Dr. Reibert benanntes Ausbildungshandbuch, das seit 1929 in den deutschen Streitkräften weite Verbreitung fand.
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sichtspunkten geprägt war, die eine wie auch immer geartete ideelle oder politische Kontunität nicht erkennen lassen.
Das personelle Erbe Für jedes neu an die Macht gekommene politische System ergibt sich früher oder später das Problem, die alte Armee durch eine neue zu ersetzen oder, falls diese nicht mehr existent ist, eine neue aufbauen zu müssen 14 . Der Soziologe Werner Baur hat für die Neubildung einer militärischen Elite drei theoretische Möglichkeiten genannt: 1) man greift auf die alte Elite zurück; 2) man bildet eine neue Elite ohne Berücksichtigung der alten; 3) man kombiniert beide Möglichkeiten 15 . Die D D R versuchte den zweiten Weg zu gehen, denn der personelle Aufbau der neuen militärischen Verbände sollte und durfte nicht vordergründig mit Angehörigen der Wehrmacht, vor allem nicht mit deren ehemaligen Generalen und Offizieren erfolgen. In der Sehweise der kommunistischen Führung sollte es in der neuen Armee keine Wiederholung überholter Zustände geben 16 . Anfangs hatten Offiziere und Berufssoldaten der einstigen Wehrmacht in den Polizeikräften der SBZ in der Tat kaum eine Rolle gespielt. Die einschlägigen Bestimmungen, so u. a. die Einstellungsrichtlinie für die Polizei aus dem Jahr 1947, schlossen ehemalige Berufssoldaten (Offiziere und Unteroffiziere) ausdrücklich aus. Insbesondere für Wehrmachtoffiziere blieb es in den ersten Jahren insgesamt schwierig, in der neuen Gesellschaft Fuß zu fassen 17 . Bis 1949 unterlagen sie - ebenso wie ehemalige NSDAP-Mitglieder - gemäß alliierter Bestimmungen und den Beschlüssen der Entnazifizierungskommissionen „wegen ihrer Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus und Militarismus" bestimmten Beschränkungen im gesellschaftlichen und im beruflichen Leben. Die Provisorische Volkskammer der D D R verfaßte als eine ihrer ersten legislativen Bestimmungen das „Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen und die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für ehemalige Mitglieder und Anhänger der Nazipartei und Offiziere der faschistischen Wehrmacht" 1 8 . Danach erhielten die Offiziere zwar das passive und aktive Wahlrecht. Zudem wurde ihnen die Möglichkeit eingeräumt, in allen Betrieben, gesellschaftlichen Organisationen und im öffentlichen Dienst tätig zu sein. Ausgenommen blieben aber die innere Verwaltung und deren Organe, für die jedoch Ausnahmebedingungen eingeräumt worden waren. Knapp drei Jahre später hob eine erneutes Ge-
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Siehe Stumpf, Wiederverwendung. Siehe Baur, Generale, S. 114. Siehe Wenzke, Kaderarmee, S. 2 0 7 f . Die Einbeziehung von einzelnen Wehrmachtoffizieren in den polizeilichen bzw. militärischen Aufbau im Osten Deutschlands ist dennoch frühzeitig nachweisbar. In der Regel handelte es sich bei diesen Personen um Wehrmachtangehörige, die sich bereits während ihrer Gefangenschaft in der U d S S R im Rahmen der sogenannten antifaschistischen Gruppen („Antifa"), des Nationalkomitees „Freies D e u t s c h l a n d " ( N K F D ) und des Bundes Deutscher Offiziere ( B D O ) aktiv politisch betätigt hatten bzw. bereits 1945/46 Mitglied der K P D / S E D waren. Siehe Gesetzblatt der D D R , 1949, N r . 7 vom 18. 11. 1949, S. 59 f.
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Rüdiger Wenzke
setz der Volkskammer alle bis zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Einschränkungen auf. Die überwiegende Mehrzahl der ehemaligen N S D A P - M i t glieder sowie der früheren Offiziere hatte nach Einschätzung der D D R - R e gierung „beim Aufbau eines friedliebenden und demokratischen Deutschland tatkräftig mitgearbeitet" und sich des in sie gesetzten Vertrauens als würdig erwiesen. Deshalb könne nunmehr diesen Personen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte gewährt werden wie allen anderen deutschen Staatsbürgern 19 . Eine - eingeschränkte - Ehrenerklärung zur Rehabilitierung der deutschen Soldaten, wie sie Bundeskanzler Konrad Adenauer 1952 vor dem westdeutschen Bundestag abgegeben hatte, gab es in der S B Z / D D R nicht 20 . Die Wiedereinstellung von Wehrmachtoffizieren beim Aufbau der künftigen D D R - A r m e e war wohl kaum eine Idee der deutschen Kommunisten, die den Generalen und Offizieren schon seit ihren Begegnungen in den Kriegsgefangenlagern der U d S S R eher abwartend gegenüberstanden 2 1 . Ihre Sympathien für die „faschistische Wehrmacht" waren aufgrund der Erfahrungen im Kampf gegen das NS-Regime und ihrer generellen politischen Haltung gegenüber der Hitlerarmee im Zweiten Weltkrieg daher mehr als gering, zumal einige von ihnen die Wehrmacht aus eigenem Erleben kannten. Offenbar hatte die sowjetische Führung keine grundsätzlichen Vorbehalte, ausgewählte deutsche Berufsmilitärs mit größtmöglichem Nutzen, aber keineswegs unkontrolliert - wie bereits ab 1943 mit der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland" und des „Bundes Deutscher Offiziere" praktiziert zur Verwirklichung ihrer politischen Interessen nunmehr direkt in der Ostzone einzusetzen. Zur Unterstützung des personellen Aufbaus der bewaffneten Kräfte in der S B Z / D D R begannen ab 1947/48 spezielle sowjetische Kommissionen in den Kriegsgefangenenlagern, Wehrmachtangehörige gezielt für den Eintritt in die „Polizei" der S B Z zu werben 2 2 . A b Mitte Juli 1948 plante aber auch die S E D , eine eigene Kommission zur Werbung „antifaschistischer Kriegsgefangener" einzurichten und in die U d S S R zu entsenden 23 . A m 8. September 1948 traf der erste Transport von ausschließlich für die Polizei bestimmten ehemaligen Wehrmachtangehörigen in Frankfurt/Oder ein. Wenige Tage später wurden die Rückkehrer in das Lager Fürstenwalde gebracht. Aber schon bei der Begrüßung der Neuankömmlinge bemerkten die dort versammelten Vertreter der S E D , darunter der Polit-Kultur-Chef der Deutschen Verwaltung des Innern(DVdl) Robert Bialek, daß sich diese Heimkehrer von früheren sogenannten Antifa-Transporten unterschieden. Die Begrüßungsrede von Bialek und der Gesang des Liedes „Brüder zur Sonne, zur Freiheit" wurden 19 20 21
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Ebd., 1952, N r . 140 v o m 6. 10. 1952, S. 981. Siehe Messerschmidt, Geschichte, S. 19. D e n verantwortlichen Funktionären waren aber die Aussagen der „Klassiker" des Marxismus-Leninismus und die Erfahrungen der Roten Armee bekannt, die wiederholt auf die Notwendigkeit und Möglichkeit des zeitweisen Einsatzes von „bürgerlichen Militärspezialisten" beim A u f b a u militärischer Formationen hingewiesen hatten. Siehe Wenzke, Kaderarmee, S. 222 f. Vgl. u.a. Erinnerungsberichte von N V A - G e n e r a l m a j o r Günter K a e k o w und N V A Oberst a . D . Gerhard Tschitschke, F o n d s Befragungen und Erinnerungen des Militärgeschichtlichen Instituts, Potsdam 1987, Dokumentensammlung des Autors. Vgl. Wenzke, Kaderarmee, S. 218.
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kaum angenommen. Es stellte sich rasch heraus, daß die Mehrzahl der Heimkehrer von den sowjetischen Behörden mit falschen Versprechungen und Teilwahrheiten geworben worden war, u. a. mit der Zusicherung, daß man nicht kaserniert untergebracht werde, oder daß man sich für die Polizei nur „bereithalten" müsse 2 4 . D e r allgemeine Mißmut, sogar eine Abneigung gegen Militär und Uniformen, aber auch antisowjetische Stimmungen wurden immer wieder deutlich. Wie sich zeigte, kamen rund zwei Drittel des Transportes der knapp 900 Heimkehrer aus Arbeitslagern; sie hatten bisher kaum politische Schulungen erhalten. Viele waren Berufssoldaten mit Unteroffizierdienstgraden, nicht wenige von ihnen hatten der N S D A P angehört. Der allgemeine Gesundheitsund Ernährungszustand war dagegen gut bis sehr gut. Erst nach oftmals intensiven Gesprächen verpflichteten sich 835 Mann zum Dienst in der Polizei, 173 von ihnen waren als Mitarbeiter der D V d l ausgewählt worden. In den nachfolgenden drei Transporten gab es dagegen kaum noch Probleme und Auffälligkeiten, in denen Kritik oder gar Ablehnung gegenüber der S B Z bzw. ihrer „Volkspolizei" zum Ausdruck kam. Eine bessere Vorauswahl und die Warnungen an die Heimkehrer bereits im sowjetischen Grenzbahnhof Brest und in Frankfurt/ Oder, daß bei Ablehnung des Polizeidienstes der Rücktransport in die U d S S R erfolgen würde, zeigten Wirkung. Nicht wenige der Ankömmlinge hatten nunmehr selbst dann Angst, wieder in die Sowjetunion zurück zu müssen, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen für den Polizeidienst nicht mehr in Frage kamen 2 5 . Insgesamt wurden in der Zeit vom 13. September bis zum 6. Oktober 1948 exakt 4934 Rückkehrer registriert - überwiegend Unteroffiziere und Mannschaften - , wovon sich 4774 Mann endgültig für den Polizeidienst verpflichteten 2 6 . Damit war ein personeller Grundstock für künftige militärische Einheiten im Ostteil Deutschlands gelegt. Zur Unterstützung des Aufbaus in den Stäben sowie zur Führung der geplanten kasernierten Einheiten kehrten im Herbst 1948 in einer Sonderaktion auch 5 Generale und über 100 ausgewählte Offiziere aus sowjetischen Lagern mit der Auflage zum Dienst in der Polizei in die S B Z zurück. Sie hätten in der Gefangenschaft mit ihren Traditionen gebrochen, ständen theoretisch im „Lager des Fortschritts" und wären ehrlich gewillt, einen Teil dessen, was sie früher in der Führung der Hitlerarmee mitverschuldet hatten, wiedergutzumachen, so die zeitgenössische Aussage eines Parteifunktionärs 2 7 . Knapp die Hälfte von ihnen erhielt sofort Leitungsfunktionen auf Zonen- oder Landesebene. Diese vorgeblich „großzügig" offerierte Möglichkeit der Wiedergutmachung diente der SED-Führung lange Zeit nicht nur intern als Rechtfertigung für den Einsatz von hohen Wehrmachtangehörigen beim Aufbau des ostdeutschen Staates 28 . Die Schuldfrage war zudem ein willkommenes moralisches Druck-
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Siehe Bericht über den ersten Heimkehrertransport im Lager Fürstenwalde (ohne D a tum), B A - M A , Pt 7187, Bl. 6 1 - 6 5 . Siehe ebd., Bl. 87 f., Gesamtbericht über die Heimkehrertransporte vom 7. 10. 1948. Siehe ebd., Bl. 8 4 - 8 8 . Siehe Referat von D V d l - C h e f Fischer auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Potsdam vom 1 0 . 1 0 . 1 9 4 8 , S A P M O - B A , D Y 30 2 / 1 . 0 1 / 1 0 0 , Bl. 65. Diejenigen Wehrmachtangehörigen, die sich noch bis zur Mitte der fünfziger Jahre in den sowjetischen Gefangenenlagern der U d S S R befanden, galten in den Augen der S E D - F ü h -
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mittel in den Händen der S E D , ehemalige Berufssoldaten wieder für einen militärischen Dienst zu gewinnen. Aber ungeachtet ihres Lebensweges und ihrer politischen Einstellung haftete den „Ehemaligen" oft der Makel der nichtproletarischen Klassenherkunft und einer für Kommunisten schwer einschätzbaren ideellen Geistesverfassung an. Sie blieben in den Augen der S E D daher eher ein notwendiges Übel als Partner bei der Schaffung von Streitkräften. Nach einer statistischen Erhebung vom Juni 1951 befanden sich unter den 10206 Offizieren der Hauptverwaltung für Ausbildung(HVA) insgesamt 3391 ehemalige Angehörige der Wehrmacht, davon aber nur 431 im Offizierrang. 956 hatten Unteroffizierdienstgrade der Wehrmacht getragen und 2004 waren Mannschaften gewesen 29 . Auch während der Jahre 1952 bis 1955 bildete vor allem die Gruppe der Generale und Offiziere der einstigen Wehrmacht im Personalkörper der sich nunmehr im Aufbau befindlichen „Nationalen Streitkräfte", die noch den Namen „Kasernierte Volkspolizei" (KVP) trugen, eine feste Größe 3 0 . Unter den rund 450 ehemaligen Wehrmachtoffizieren (bei ca. 10000 Offizieren), die im Jahr 1953 in der KVP-Land Dienst taten, befanden sich 5 frühere Generale und etwa 30 Stabsoffiziere, die auf größere Erfahrungen in militärischen Verwaltungen, Stäben oder in der Truppenführung zurückgreifen konnten. Die Mehrzahl war aber mit Leutnantdienstgraden in Gefangenschaft geraten und hatte zudem oft nur wenige Jahre in der Wehrmacht gedient. Auch die Zusammensetzung nach dem Status der Offiziere machte deutlich, daß nur etwa ein Drittel der in die KVP übernommenen Wehrmachtangehörigen Berufsoffiziere gewesen waren; alle anderen hatten den Status von Reserveoffizieren oder gar Fähnrichen 31 . Die wenigen übernommenen hohen Offiziere setzte man zumeist mit ihrem letzten Dienstgrad und sofort in Führungspositionen ein 32 . Etwa die Hälfte der anderen, zumeist jüngeren Offiziere rückte aufgrund ihrer neuen Dienststellungen in die Gruppe der Stabsoffiziere, im KVP-Sprach-
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rung als „Kriegsverbrecher". Als im Herbst 1955 die Rückführung der vom Obersten Sowjet begnadigten Personen nach Deutschland stattfand, war dementsprechend offiziell von der Rückführung „amnestierter Kriegsverbrecher" die Rede. Obwohl sich etwa nur ein Viertel der ehemaligen Kriegsgefangenen für den Verbleib in der D D R entschieden hatte, wurde allein schon die Tatsache, daß die meisten Spätheimkehrerzüge von Frankf u r t / O d e r quer durch die D D R an die Grenze zur Bundesrepublik geleitet werden mußten, von der S E D als ein politisches Problem dargestellt. So hatte die ostdeutsche Transportpolizei strikt darauf zu achten, daß jegliche Symphathiebekundungen, Diskussionen oder Kundgebungen der Bevölkerung mit den Heimkehrern in den Bahnhofsbereichen unterblieben. Teilweise waren Bahnhöfe abgesperrt oder spezielle SED-Agitatoren eingesetzt worden, die die Kontakte und Gespräche der Bevölkerung mit den Zuginsassen verhindern sollten. Dennoch mußte in Berichten des Staatssekretariats für Staatssicherheit u. a. festgestellt werden, daß „ein großer Teil der Bevölkerung den Kriegsverbrechern zuwinkt" und sich Menschenansammlungen bis zu 300 Menschen, ζ. B. auf dem Bahnhof in Güsten, gebildet hatten. Siehe Berichte über die Rückführung „amnestierter Kriegsverbrecher" aus der U d S S R (Oktober 1955), B A - M A , Pt 8049, Bl. 1-19. Siehe Ubersicht zur Zusammensetzung des Offizierbestandes der H V A vom 30.6.1951, ebd., D V H 3/ 3851, Bl. 5. U b e r den Anteil von Wehrmachtangehörigen an der Gesamtpersonalstärke der kasernierten Truppen der D D R liegen keine Angaben vor. Siehe Wenzke, Wehrmachtoffiziere, S. 144. Zu den Offizieren wurden auch technische Beamte, Ärzte usw. gezählt. Rückstufungen waren die Ausnahme. So leistete der ehemalige Generalleutnant Rudolf Bamler als Generalmajor der K V P Dienst.
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gebrauch der „höheren Offiziere" auf. Größere „Karierresprünge" waren dabei keine Seltenheit. So war z . B . Otto Fräßdorf, Abteilungsleiter in der Verwaltung Pionierwesen des KVP-Stabes, nach knapp fünf Monaten Dienstzeit als Wehrmachtleutnant und 15 Monaten in den bewaffneten Kräften der D D R bereits Oberst der KVP. Insbesondere im mittleren, aber auch im höheren Offizierkorps verfügten die „Ehemaligen" über bedeutende Positionen, die durch Dienststellungen wie Kommandeur, stellvertretender Kommandeur oder Stabschef von Truppenverbänden, Verwaltungschef und Abteilungsleiter im Ministerium des Innern (Mdl), Schulleiter, Hauptfachlehrer, Abteilungsleiter u. ä. verkörpert wurden. Ihre Arbeitsgebiete bildeten in erster Linie die militärfachlichen Bereiche, wie die operative Planung, die Truppenführung, der Stabsdienst und die Ausbildung an den Schulen und Lehranstalten sowie die Verwaltung und Organisation der Armee (Finanzwesen, Verpflegung usw.). Insgesamt leisteten sie bis Mitte der fünfziger Jahre einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Aufbau des ostdeutschen Militärs und verkörperten einen Teil des militärischen Rückgrats der Armee. Die entscheidenden Kommandoposten lagen jedoch von Anfang an stets in den Händen jener, die im Sinne der Partei als zuverlässig galten und militärisch teilweise bereits „vorgebildete" Kommunisten waren, wie z . B . Friedrich Dickel, Rudolf Dölling, Heinrich Dollwetzel, Heinz Hoffmann, Fritz Johne, Fritz Köhn, Karl Maron, Ewald Munschke.
Tabelle 1 Dienststellungen ehemaliger Wehrmachtoffiziere in der K V P (Auswahl), Oktober 1953 3 3 Dienststellung
Anzahl (von Gesamtzahl)
Stabschef der K V P Stellvertretender Stabschef der K V P Chefs von Verwaltungen im Mdl Abteilungsleiter im Mdl Chefs der Territorialverwaltungen Stellvertretende Bereitschaftsleiter Stabschefs von Bereitschaften Leiter von Militärschulen Ärzte
1 1 10 17 1 11 4 14 20
Prozent
(i) (2) (28) (140) (2) (28) (7) (20) (48)
100 50 35 12 50 40 57 75 42
Eine wichtige Rolle bei der Gewinnung und Einbeziehung ehemaliger Wehrmachtoffiziere in den Aufbau der ostdeutschen bewaffneten Kräfte spielte die National-Demokratische Partei Deutschlands ( N D P D ) . Sie war 1948 von der S E D gezielt als sogenannte Blockpartei gegründet worden und sollte vor allem „unbelasteten" NSDAP-Mitgliedern und ehemaligen Wehrmachtsoldaten ein politisches Betätigungsfeld einräumen. Ganz in diesem Sinne rekrutierte sich die Führung der Partei vor allem aus ehemaligen Kriegsgefangenen, die sich be-
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Siehe Übersicht zu Dienststellungen, O k t o b e r 1953, B A - M A , D V H 3/ 3878, Bl. 47.
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reits im N K F D und im B D O ihre ersten politischen Sporen auf dem Gebiet der neuen Ideologie verdient hatten. Neben der Integration „Ehemaliger" hatte die N D P D von Anfang an die Aufgabe, als „unverfängliches nationales Aushängeschild für die Propagandaarbeit im Westen" zu wirken 3 4 . Im Jahr 1952 zählte die Partei ca. 107000 Mitglieder, doch eine wirkliche politische und soziale Interessenvertretung der ehemaligen Weltkriegssoldaten war sie zu keinem Zeitpunkt. Dennoch schuf die N D P D besonders für ehemalige Offiziere eine gewisse politische Nische, in der diese ihre nationalen, mit dem Ziel eines Gesamtdeutschlands geprägten Vorstellungen artikulieren konnten. Viele NDPD-Mitglieder im Offizierrang der einstigen deutschen Wehrmacht bekannten sich öffentlich zu den neuen Streitkräften in der D D R . Einige Nationaldemokraten brachten ihren militärischen Sachverstand auch praktisch ein, indem sie in die K V P eintraten, nachdem sie von ihrer Parteiführung ausdrücklich dazu aufgefordert worden waren 3 5 . All das geschah nicht nur unter den Augen der östlichen Siegermacht, sondern mit deren ausdrücklichen Zustimmung und oft auch auf deren Anregung hin. So soll der sowjetische Marschall Vasilij Ivanovic Cuikov den ehemaligen Wehrmachtgeneral Arno von Lenski ausdrücklich zum KVP-Beitritt aufgefordert haben 3 6 . Auch die zu keiner Zeit in den DDR-Streitkräften aktiv dienenden Wehrmachtoffiziere wie die Generale Kurt Hähling, Martin Lattmann, Wilhelm Kunze und andere engagierten sich ganz im Sinne der S E D gegen den Pazifismus im eigenen Land und gegen die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik. Die Aufgeschlossenheit der sowjetischen Führung und auch einiger ostdeutscher Altkommunisten für eine Zusammenarbeit mit ausgewählten ehemaligen „Hitleroffizieren" konnte jedoch nicht über die tiefsitzenden Ressentiments der Mehrheit der kommunistischen Parteikader gegenüber diesen Personenkreis hinwegtäuschen. Das Miteinander zwischen Wehrmachtoffizieren auf der einen Seite und KPD-Funktionären auf der anderen war schon in den Kriegsgefangenenlagern keinesfalls problemlos verlaufen. Gegenseitige Vorurteile und Vorbehalte wurden anfangs noch von der gemeinsamen Sache - der Beseitigung der Nazi-Regimes - überlagert, sie konnten aber offenbar nie ganz ausgeräumt werden 3 7 . Dabei waren viele ehemalige Offiziere, die sich für einen Neubeginn in der Ostzone einsetzten, kaum politisch vorbelastet. Immerhin hatte aber ein Teil von ihnen vor 1945 der N S D A P , der SA oder der SS angehört 3 8 , auch wenn man diese Mitgliedschaft letztlich nicht als alleinigen Ausdruck nationalsozialistischen Gesinnung werten sollte. Zweifellos befanden sich auch einige Ritterkreuzträger und anderweitig hochdekorierte Personen unter ihnen. Daß aber 34 35
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Eppelmann u.a. (Hrsg.), Lexikon, S. 426. I m J a h r 1954 dienten im Stab der K V P u.a. die N D P D - M i t g l i e d e r und früheren Wehrmachtoffiziere Vincenz Müller, O t t o Korfes, A r n o von Lenski, G ü n t h e r Aßmann, Günther Ludwig, Gerhard Bechly, Friedrich Ring und in Dresden Wilhelm Adam. Siehe Haas, N D P D , S. 120. Siehe Heider, Nationalkomitee, S. 13 f. Statistiken von Ende 1955 belegen, daß es im K V P - O f f i z i e r k o r p s (einschließlich VP-See und A e r o - K l u b s ) mit einer Gesamtstärke von über 15 000 Mann 122 ehemalige N S D A P Mitglieder und 68 ehemalige SA/SS-Mitglieder gab. I m Politoffizierbereich registrierte man 1954 10 „Parteigenossen" der Nazipartei sowie 4 SA/SS-Mitglieder. Siehe Strukturübersicht der Kaderverwaltung, Stand 31. 12. 1955, B A - M A , D V H 3 / 3 8 6 4 , Bl. 148f.
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gerade „NS-Führungsoffiziere und Angehörige der Generalität der Deutschen Wehrmacht" eine „Affinität für die neuen Machthaber in der S B Z und eine beachtenswerte Bereitschaft zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus in der D D R " zeigten 3 9 , trifft wohl in dieser Absolutheit kaum zu. Fast ein Viertel der später in der K V P diensttuenden Wehrmachtoffiziere hatte im Rahmen der geistigen „Umerziehung" in sogenannten „Antifa"-, Gebiets- oder Zentralschulen in der U d S S R eine intensive politisch-ideologische Ausbildung genossen 40 . Sie bekannten sich offen und nicht selten aus ehrlicher Einsicht - als persönliche Schlußfolgerung aus der Kriegskatastrophe - zu dem neuen System im Osten, das für sie subjektiv durchaus überzeugend den Kampf für Frieden sowie gegen Krieg und Militarismus propagierte. Als wohl prominentester Angehöriger der Wehrmacht war der ehemalige Generalfeldmarschall Friedrich Paulus am 26. Oktober 1953 aus sowjetischer Gefangenschaft in die D D R zurückgekehrt. Er wurde von Innenminister Willi Stoph empfangen und als militärwissenschaftlicher Mitarbeiter der K V P mit Einzelvertrag und weiteren persönlichen Vergünstigungen eingestellt. Unter seiner Leitung sollten in einer speziellen Forschungsabteilung militärhistorische und militärwissenschaftliche Abhandlungen mit Lehren des Zweiten Weltkrieges für die Ausbildung und Erziehung in der K V P / N V A entstehen. In diesem Zusammenhang hielt Paulus auch an der KVP-Hochschule in Dresden Vorträge über Stalingrad. Paulus' eigentliche Aufgabe bestand aber vor allem darin, eine gesamtdeutsche Offiziersverbindung herzustellen. Diese sollte durch persönliche Schreiben des Feldmarschalls an seine ehemaligen Kameraden in Berlin(West) und in der Bundesrepublik sowie durch die Organisierung von sogenannten Offiziertreffen in Ost-Berlin erreicht werden 4 1 . Ab Anfang 1956, nicht zuletzt aufgrund seines sich rasch verschlechternden Gesundheitszustandes, trat Pauus nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Auf die zahlreichen Anfragen von Menschen aus beiden Teilen Deutschlands über den Verbleib ihrer Angehörigen, die als Soldaten in der ehemaligen 6. Armee unter dem Feldmarschall gedient hatten, reagierte er ebensowenig wie auf Interviewwünsche von Journalisten. Paulus, dem Verteidigungsminister Willi Stoph noch zu seinem 66. Geburtstag den Dank der D D R - F ü h r u n g für die Bereitstellung seiner „hervorragenden Kenntnisse auf dem Gebiete der Kriegswissenschaft in den Dienst unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht" abstattete 42 , starb am 1. Februar 1957 in Dresden. Die meisten ehemaligen Wehrmachtangehörigen im Dienste der K V P vollzogen im Laufe des Jahres 1956 - wie ihre nicht kriegsgedienten Kameraden - problemlos den Schritt von der „Polizeitruppe" zur nunmehr offiziellen „Nationalen Volksarmee", der N V A . Die Streitkräfte der D D R blieben in Planung, Ausbildung, Bewaffnung und Logistik weitestgehend von der Sowjetunion abhän-
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So Kappelt, Entnazifizierung, S. 128. Ca. 2500 K V P - O f f i z i e r e kamen als ehemalige Angehörige der Wehrmacht aus sowjetischer Gefangenschaft. U b e r 500 von ihnen besuchten in der U d S S R eine Antifa-Zentralschule. Siehe dazu u.a. Ehlert, Auseinandersetzung, S. 3 5 0 f . ; Helfert, Offiziertagung. Glückwünsche von Stoph an Paulus, 22. 9. 1956, B A - M A , D V H 3 / 2 0 6 9 , Bl. 3.
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gig. Ausschließlich deren Armee lieferte das verbindliche Vorbild für die Gliederung und Strukturen, für die Führungs- und Einsatzgrundsätze, für die Ausbildung und die „politisch-ideologische" Erziehung der ostdeutschen Armee 43 . Mitte 1956 registrierte die NVA-Personalverwaltung im rund 17500 Mann starken Offizierbestand etwa 2600 ehemalige Mannschafts- und ca. 1600 Unteroffizierdienstgrade sowie knapp 500 Offiziere der Wehrmacht, wobei letztere vor allem im Ministerium sowie in den Kommandos der Teilstreitkräfte und an Schulen zum Einsatz kamen und dort zum Teil Konzentrationen im mittleren und höheren Führungsbereich bildeten. Tabelle 2 Anteil ehemaliger Wehrmachtoffziere in leitenden Stellungen der NVA, Stand vom 1.1. 195744 Ebene Ministerium für Nationale Verteidigung Kommandos der Teilstreitkräfte und Militärbezirke Divisionen Regimenter Schulen
Anzahl 30 19 12 29 19
Prozent 25,5 20,2 21,8 9,6 30,2
Vor allem die von Erich Honecker - seit 1956 verantwortlicher Sekretär für Sicherheitsfragen des ZK der SED - veranlaßten Kaderüberprüfungen in der Truppe legten nunmehr einen Schwerpunkt darauf, diese „Konzentrationen ehemaliger Dienstgrade der faschistischen Wehrmacht" in den Leitungen der Dienststellen aufzuspüren und sie als vermeintliche Ursachen für Schwächen im Offizierkorps sowie als Anlaufpunkte des „Klassengegners" auszumerzen. Tatsächlich schienen die Ergebnisse der ersten Analysen die Vorurteile und Ängste der SED-Führung zu bestätigen. Bei den Fachoffizieren 45 zeigte sich nicht nur ein - gemessen an ihrer sozialen Herkunft (nach dem Beruf des Vaters) - „völlig ungesundes Verhältnis" von Arbeitern zu Berufssoldaten und Angestellten 46 . Die 82 höheren Kommandoposten in der Armee (ohne Politbereich), die der ZK-Nomenklatur unterlagen, setzten sich zudem aus immerhin 61 ehemaligen Unterführer- und Offizierdienstgraden der Wehrmacht zusammen. Hier erfaßte die Statistik 11 Stabsoffiziere und Generale, 19 Offiziere der Dienstgrade Leutnant bis Hauptmann, 21 Feld- und Stabsfeldwebel sowie 10 Unteroffiziere 47 .
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Siehe d a z u W e n z k e , Volksarmee, S. 428 f. Siehe Personalstatistik über die Z u s a m m e n s e t z u n g des Offizierbestandes der N V A vom 1. 1. 1959, B A - M A , D V W 1/5496, Bl. 71. D a z u gehörten alle Offiziere, die nicht unmittelbar dem Politbereich in der N V A unterstanden. Analyse über die Z u s a m m e n s e t z u n g der N V A - K a d e r v o m stellvertretenden Regimentsk o m m a n d e u r a u f w ä r t s ( 1 . 1 . 1956-1. 1. 1958), o.D. (1958), S A P M O - B A , D Y 30 IV 2/12/27, Bl. 58. Siehe ebd., Bl. 76.
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Zweifellos schätzte man die militärischen Erfahrungen und Kenntnisse der Frontgeneration, die für den Aufbau von HVA, K V P und N V A zeitweise nahezu unverzichtbar waren, da die Gruppen der Altkommunisten und der F D J bzw. SED-Aufsteiger in den bewaffneten Kräften zwar wichtige Posten einnahmen, jedoch zumeist bislang nur über wenig oder keine militärischen Fachkenntnisse verfügten. Auch in Gesinnungsfragen, im „fortschrittlichem Denken" und in ihrem öffentlichen Eintreten für die Politik von Partei und Regierung der D D R und der Sowjetunion, so konnte die S E D wohl zu Recht einschätzen, gab es bei den meisten „Ehemaligen" keine sichtbaren Zweifel an deren Treue und Ergebenheit. Dennoch waren bereits ab den späten vierziger Jahren immer wieder Befürchtungen laut geworden, daß diese eigentlich „klassenfremden" Elemente, ausgestattet mit militärischer Macht, sich gegen die Partei richten bzw. allzuleicht von der „Konterrevolution" mißbraucht werden könnten. Insofern stufte man insbesondere die ehemaligen Wehrmachtoffiziere generell als politisch „unsicher" ein. Ein Grund für diese Einschätzungen lag auch in den von Anfang an weitgehend bekannten westlichen Bindungen einiger Offiziere und Generale, die in einzelnen Fällen bis in maßgebliche politische, wirtschaftliche und militärische Kreise der Bundesrepublik reichten 48 . Hinzu kam, daß man bestimmte Unzulänglichkeiten, Schwierigkeiten und Probleme im Innern der Armee nicht auf systemimmanente Ursachen zurückführen wollte. So wurden „Sündenböcke" gesucht, die man schließlich oftmals unter den „Ehemaligen" zu finden glaubte. Walter Ulbricht begründete den Sowjets die Entlassung der alten Militärs deshalb auch damit, „daß in der Zeit des Aufbaues unserer Armee die Ausbildung des Offiziernachwuchses in den Händen von Militärfachleuten der alten Schule lag. Das hatte, wie es nicht anders sein kann, seine negativen Seiten" 4 9 . Gerade die älteren Offiziere ließen sich nicht, so glaubten vor allem die verantwortlichen Politoffiziere, in den gewünschten sozialistischen Offiziertyp umformen, da sie nicht über ihren Schatten springen würden. Ihre politischen Ansichten seien im „Dritten Reich" geprägt worden, und man nahm an, daß sie die neuen Anforderungen an einen „sozialistischen Militär" nicht erfüllen könnten. Die Ereignisse in Ungarn im Herbst 1956, wo sich ehemalige Offiziere der Horthy-Armee im Dienst der Ungarischen Volksarmee auf die Seite der „Konterrevolution" gestellt hatten, ließen diese Befürchtungen noch stärker hervortreten. Die S E D mußte deshalb alles unternehmen, um die Machtkontrolle der Partei über das Militär zu zementieren. Auch angesichts der angespannten Krisensituation im Innern der D D R hielt es die SED-Führung wenige Monate nach der NVA-Gründung für erforderlich, sich der Zuverlässigkeit ihres stärksten bewaffneten Organs, insbesondere seines Führungspersonals, zu versichern. Eine Hauptrichtung, aus der der Partei Gefahr zu drohen schien, vermutete man daher - mit Blick auf Ungarn - in den Kreisen der aktiv in der NVA dienenden ehemaligen Generale und Offiziere der Wehrmacht. Generell unterlagen diese - wie bereits in der HVA und in der K V P - auch in
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Siehe Rehm, Wiederbewaffnung. Ulbricht an Chruscov vom 27. 2. 1959, S A P M O - B A , D Y 30 I IV 2 / 2 0 2 / 7 0 , Bl. 66. Siehe auch Buddrus, Kaderschmiede, S. 205.
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der N V A einer ständigen Beobachtung und Kontrolle durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit(MfS), namentlich der Hauptabteilung(HA) I. Verdächtige Personen wurden durch ein N e t z Hauptamtlicher und Informeller Mitarbeiter(IM) überwacht und ausspioniert. Im Herbst 1956 wurde das MfS offensichtlich von höchster Stelle - beauftragt, erstmalig eine umfassende und genaue Analyse der Rolle der Wehrmachtangehörigen in der DDR-Volksarmee vorzunehmen. Die dafür zuständige Hauptabteilung I legte wenig später ihren streng geheimen Bericht vor. Danach befanden sich unter den 1 036 im Ministerium für Nationale Verteidigung beschäftigten Offizieren 60 ehemalige „faschistische Offiziere", das waren 5,8 Prozent. Unter den 16 leitenden Generalen der N V A wurden fünf ehemalige Offiziere ausgemacht, wovon drei bereits in der Wehrmacht im Generalsrang waren: Generalleutnant Vincenz Müller (Generalleutnant der Wehrmacht) als Chef des Hauptstabes, Generalmajor Bernhard Bechler (Major i.G.) als 1. Stellvertreter Müllers, Generalmajor Arno von Lenski (Generalmajor) als Chef Panzertruppen, Generalmajor Helmut Borufka (Leutnant) als Chef Ausbildung und der Standortälteste von Ost-Berlin, Generalmajor Hans Wulz (Generalmajor). Die von den MfS-Mitarbeitern ausspionierte politische Haltung dieser Generale und Offiziere wurde mit moralischen Wertungen verbunden. Die genannten Personen galten dem MfS insgesamt als suspekt: Wulz unterstellte man eine „negative Haltung" zur D D R , Lenski sei nicht in der Lage, seine Dienststellung auszufüllen, Bechler zeige einen starken überheblichen Ehrgeiz, Borufka sei politisch schwach. Bei anderen Offizieren aus dem Ministerium schätzte das MfS ein, daß sie eine „bürgerliche Einstellung" besäßen und „Verbindung zu bürgerlichen Kreisen" pflegten. Bei fast allen überprüften Personen wußte man von mehr oder weniger engen Beziehungen in Richtung Westen bzw. man vermutete sie 50 . Fand man nichts Kompromittierendes, warf man den Betroffenen einfach mangelnde fachliche Kompetenz vor. Im Ergebnis seiner Untersuchung hielt dann auch das MfS 33 der 60 überprüften Offiziere für unzuverlässig bzw. bedenklich, „denen kein Vertrauen geschenkt werden kann" 5 1 . Vor allem die Ministeriumsverwaltungen „Organisation und Planung" und „Transportwesen", das Materialwesen sowie der Medizinische und der Chemische Dienst entpuppten sich in den Augen des MfS als regelrechte Zusammenballungen von „Ehemaligen". Kompromittierendes Material sammelte man auch gegen Offiziere der dem Ministerium nachgeordneten Ebenen bis hinunter zu den Regimentsleitungen. In den Truppenstäben der Landstreitkräfte der N V A stellte man mehrfach die als gefährlich betrachtete „Konzentration" ehemaliger Wehrmachtangehöriger fest: So waren von den insgesamt 7 Divisionskommandeuren der N V A 4 ehemals Offizier gewesen; das gleiche Bild ergab sich bei den Stabschefs. Es kam auch vor, daß alte Kameraden, die vor 1945 noch als „Spieß" im selben Regiment der Wehrmacht gedient hatten, nunmehr als Oberste der N V A wieder in einer Dienststelle zusammenarbeiteter, wobei man solchen Fällen eine besondere „Gefährlichkeit" attestierte. Ähn50
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Vgl. Einschätzung des MfS zur Lage in der N V A , o.D. (November 1956), BStU, ZA, SdM 1201, Bl. 255-276. Ebd., Bl. 259.
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liehe Verhältnisse erkannte man in den Stäben der Luftstreitkräfte, der Seestreitkräfte sowie in den 15 Bezirkskommandos der NVA 5 2 . Diese insgesamt äußerst negativ formulierte und die Gefährlichkeit der „Ehemaligen" betonende Einschätzung des MfS war natürlich absichtlich stark überzogen, um die eigene Rolle als „Schild und Schwert" der Partei hervorzuheben und um gleichzeitig den Einfluß in der Armee zu verstärken. Als Schlußfolgerung aus seiner Analyse verlangte das MfS vom Verteidigungsminister daher auch unverhohlen, eine rasche Umbesetzung der Kader herbeizuführen und der H A I einen größeren Einfluß bei Personalentscheidungen zu gewähren. Zudem sollte die Möglichkeit geprüft werden, um vorgeblich belastendes Material als Basis für die Erzwingung politischen Gehorsams stärker nutzen zu können. Der ehemalige Generalleutnant der Wehrmacht Vincenz Müller stellte zweifellos die bekannteste Persönlichkeit aus dem Kreis der „Ehemaligen" dar, die aktiv am militärischen Aufbau in der D D R beteiligt waren. Er diente seit 1952 in der K V P und in der N V A als Chef des Stabes und Stellvertreter von K V P Chef Heinz Hoffmann bzw. von Verteidigungsminister Willi Stoph. Er nahm als Nicht-SED-Mitglied eine der wenigen Schlüsselstellungen in den bewaffneten Kräften der D D R ein. Seine militärische Karriere hatte im Jahr 1913 als Berufssoldat des kaiserlichen Heeres begonnen und sich in der Reichswehr und der Wehrmacht fortgesetzt, in der er zuletzt den Posten des Kommandierenden Generals des X I I . Armeekorps bekleidete. Nach vierjähriger Gefangenschaft in der UdSSR kehrte er 1948 in die SBZ zurück. Im Jahr 1958 schied der Soldat in vier Armeen aus der N V A aus. Drei Jahre später starb er als Pensionär in OstBerlin durch einen mysteriösen Sturz aus dem Fenster seines Hauses. Aufgrund seines früheren Dienstgrades, seiner exponierten Position beim Aufbau der bewaffneten Kräfte und nicht zuletzt seiner Kontakte zu ehemaligen Kameraden im Westen stand Müller von Anfang an im Visier des MfS. Anfangs, 1950/1951, als stellvertretender Vorsitzender der N D P D zeitweise von der Staatssicherheit als IM „Heinrich" geführt 53 , wurde er ab 1952 nunmehr selbst zu einem wichtigen Überwachungsobjekt des Geheimdienstes. Zahlreiche IM wurden in seinem unmittelbaren dienstlichen und persönlichen Umfeld piaziert, die ihn bis zu seinem Tode zu beobachten hatten. So erfuhr das MfS u. a. nicht nur von Müllers gespanntem Verhältnis zu seinem (zeitweise) unmittelbaren Vorgesetzten Generalleutnant Heinz Hoffmann und zu Politchef Rudolf Dölling, die ihn bei wichtigen Fragen und Entscheidungen in der Armeeführung oftmals bewußt übergingen, sondern auch von seinen geheimen „Westkontakten" und seiner - aber nur im engsten Kreis zum Ausdruck gebrachten distanzierten Haltung im militärfachlichen Bereich gegenüber den „Russen" 5 4 . Konkrete Hinweise auf einen möglichen „Putsch" von NVA-Offizieren unter der Beteiligung oder gar Leitung Müllers gegen die SED-Führung fanden sich
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Siehe ebd., Bl. 2 7 1 - 2 7 6 . Siehe Personalakte I M „Heinrich", ebd., Z A , A G I , 167/51, Bd. 1. Siehe u.a. I M - B e r i c h t e „Wölfi" und „Krause", ebd., A I M 11095/70, Bd. 2. Bl. 126; A I M 2 2 0 8 / 5 6 . Müller brachte seinerseits bereits 1955 in einem vertraulichen Gespräch mit Willi Stoph und Ewald Munschke zum Ausdruck, daß man ihm in der K V P - F ü h r u n g nicht mehr traue.
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trotz der oftmals ambivalenten und letztlich schwer durchschaubaren Haltung des Generalleutnants jedoch nicht. Auch Friedrich Paulus hatte man nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion einer permanenten und umfassenden personengebundenen Observation durch das MfS unterzogen, obwohl der ehemalige Generalfeldmarschall nie aktiv in den ostdeutschen Streitkräften diente. Unter der Bezeichnung „Terrasse" wurde das „ O b j e k t " Paulus beim Staatssicherheitsdienst geführt. Die zuständige H A I wurde beauftragt, „alle operativen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Feindtätigkeit des in die Deutsche Demokratische Republik gekommenen ehemaligen Generalfeldmarschalls Paulus zu erkennen, bzw. alle Maßnahmen des Gegners abzufangen" 5 5 . Als „Geheime" bzw. Informelle Mitarbeiter fungierten u. a. sein persönlicher Referent mit dem Decknamen „Bai", sein Kraftfahrer unter dem Decknamen „Leipzig", die Köchin „Eva Weber" sowie ein Mitarbeiter in seiner Arbeitsstelle der KVP. Man verzichtete im Fall Paulus auch nicht auf den Einsatz von Abhörtechnik und eine lückenlose Postkontrolle. Eine wie auch immer geartete „feindliche" Tätigkeit von Paulus gegen die D D R konnte jedoch zu keinem Zeitpunkt festgestellt werden. Als Schlußfolgerung aus den Analysen des MfS und den Hinweisen der Z K Abteilung für Sicherheitsfragen zur Rolle der ehemaligen Wehrmachtoffiziere beschloß das höchste Machtgremium der D D R , das Politbüro des Z K der S E D , am 15. Februar 1957 Richtlinien zur raschen Aussonderung „Ehemaliger" aus den Reihen der N V A , um diese Offiziere in einem stufenweisen Prozeß und möglichst unauffällig aus dem Dienst zu entlassen 56 . Der Politbürobeschluß teilte die Offiziere in drei Gruppen ein. Bis Ende 1957 sollten alle diejenigen in die Reserve versetzt werden, die „aktiv führend in der Reichswehr und der Hitler-Armee tätig waren, z . B . Offiziere des Generalstabes, Kandidaten des Generalstabes, Teilnehmer am Überfall in Spanien usw." 5 7 . Sogenannte Spezialisten, die nicht in Stabs- oder Kommandostellen eingesetzt waren, durften bis nach 1960 im aktiven Dienst der N V A verbleiben. Alle übrigen mußten spätestens bis Ende 1959 die Armee verlassen haben 5 8 . Obwohl die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen 1958 einschätzen mußte, daß von den untersuchten Nomenklaturkadern noch immer knapp ein Drittel ehemalige Offiziere waren, konstatierte man dennoch schon etwas beruhigter: „In der Spitze des Hauptstabes ist wohl die spürbarste und positivste Veränderung erfolgt. Nach Weggang der Generale Müller und Bechler und Oberst Göhringer kann die heutige Besetzung klassenmäßig, in der politischen Zuverlässigkeit und der militärischen Qualifikation als gut bezeichnet werden" 5 9 .
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Siehe Auskunftsbericht des M f S vom 19. 7. 1956, ebd., A O P , 709/57, Bd. 1, Bl. 378. Siehe Protokoll N r . 8/57 des Politbüros des Z K der S E D vom 15.2. 1957, S A P M O BArch, D Y 30 J IV 2/2/528, Bl. 10-13. Im Arbeitsprotokoll derselben Politbürositzung findet sich eine namentliche Aufstellung aller zu diesem Zeitpunkt in der N V A dienenden ehemaligen Wehrmachtoffiziere, siehe ebd., D Y 30 J IV 2/2 A / 550. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Daniel Niemetz, Leipzig. Protokoll N r . 8/57 des Politbüros des Z K der S E D vom 15. 2. 1957, S A P M O - B A r c h , D Y 30 J IV 2/2/528, Bl. 10. Siehe Wenzke, Wehrmachtoffiziere, S. 146f. Analyse über die Zusammensetzung der N V A - K a d e r vom stellvertretenden Regiments-
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Tabelle 3
Ubersicht über die Zusammensetzung leitender Nomenklaturkader des Z K der S E D in der N V A 1956/1958 6 0 Zusammensetzung Angehörige der ehemaligen Wehrmacht (Unteroffizier bis General) davon Berufssoldaten Sowjetische Gefangenschaft NKFD Besuch von Zentralschulen/Antifa-Schulen in der U d S S R Militärische Sonderlehrgänge in der U d S S R nach 1945 Widerstandskämpfer / KPD-Mitglieder / „Verfolgte des Naziregimes"
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1958
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Bis Mitte 1959 waren bereits annähernd 300 Offiziere in die Reserve versetzt, für eine Berufsvorbereitung freigestellt oder entlassen worden 6 1 . Nach Ansicht der S E D über den Umgang mit alten „Militärspezialisten" waren die aus der N V A zur Entlassung kommenden Offiziere der Wehrmacht weiterhin unter Kontrolle zu halten. Wenn möglich sollten sie sogar zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele der S E D vereinnahmt werden. Gerade letzteres spielte im pragmatischen Kalkül der Parteiführung Mitte der fünfziger Jahre eine große Rolle. War es in der Aufstellungsetappe der Streitkräfte vor allem um die „Ausbeutung" des fachlichen Potentials der ehemaligen Offiziere gegangen, so sollte es sich nunmehr stärker darum handeln, sie in die „nationale" Politik der D D R zu integrieren sowie ihre Verbindungen zu ehemaligen Kameraden in der Bundesrepublik für die kommunistische Machtpolitik zu exploitieren. Politische, militärpolitische, ideologische und nicht zuletzt geheimdienstliche Stränge verbanden sich dabei eng miteinander. Vor diesem Hintergrund versuchte die SED-Führung mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere ( A e O ) " die „eigenen" Wehrmachtoffiziere unter Kontrolle zu halten und vor allem bestimmte Wehrmachtkreise im Westen, die ab 1955/56 zum großen Teil in der Bundeswehr Dienst leisteten,
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kommandeur aufwärts (1. 1. 1 9 5 6 - 1 . 1. 1958), o. D . (1958), S A P M P O - B A , D Y 30 IV 2 / 1 2 / 2 7 , Bl. 71. Zusammengestellt nach ebd., Bl. 7 5 - 8 1 . Übersicht über die Zusammensetzung leitender Nomenklaturkader, 1958. Als Nomenklaturkader des Z K der S E D galten in der N V A u.a. die Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chefs der Dienstbereiche, die Chefs der Verwaltungen, die Chefs der Militärbezirke und ihre Stellvertreter, die Divisionskommandeure sowie die Kommandeure der Schulen. Anzahl der für Tabelle ausgewählten Nomenklaturkader 1956: 82; 1958: 72. In einem Protokoll der SED-Sicherheitskommission hieß es dazu: „Die ausgeschiedenen Offiziere wurden mit Hilfe und Unterstützung der Nationalen Volksarmee in geeignete Arbeitsstellen vermittelt. Eine ganze Reihe dieser Offiziere wurde in verantwortliche Funktionen im Staatsapparat und in der Wirtschaft eingesetzt." Siehe Bericht über die Durchführung des Entlassungsbeschlusses vom 3. 8. 1959, B S t U , Z A , SdM 408, Bl. 583.
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propagandistisch zu beeinflussen 6 2 . Das sogenannte Initiativkomitee zur Bildung der A e O bestand aus Luitpold Steidle, Martin Lattmann, Rudolf Bamler, O t t o Korfes und Heinrich Homann und traf sich erstmals am 4./5. Oktober 1957 6 3 . Zu diesem Zeitpunkt waren in der S E D die wichtigsten Entscheidungen über die Bildung der Offiziervereinigung, die offiziell Anfang 1958 erfolgte, längst gefallen. Einige ehemals höhere Offiziere, unter ihnen die Obersten J o b von Witzleben, und Bernhard Watzdorf kamen an das am 15. März 1958 gegründete Institut für Deutsche Militärgeschichte (ab 1972 Militärgeschichtliches Institut der D D R ) nach Potsdam, um dort historische Studien u.a. zum Zweiten Weltkrieg zu betreiben. Die Entlassung oder Umsetzung der Offiziere, die von den Betroffenen nicht selten mit Unverständnis aufgenommen wurde, erfolgte über die bereits genannten sicherheitsrelevanten Gründe hinaus auch aus propagandistischen und legitimatorischen Erwägungen. Zweifellos konnte sich die D D R - F ü h r u n g nunmehr noch besser und glaubwürdiger von der als militaristisch apostrophierten und von „Nazigeneralen" geführten Bundeswehr abheben. Ganz in diesem Sinne verkündete Generalleutnant Heinz Hoffmann im Sommer 1959 auf einer Pressekonferenz in Genf, daß die N V A für ehemalige Hitlergenerale keine Heimat war und ist. Damit wurde die in der D D R offiziell verbreitete Legende gestützt, mit der über Jahrzehnte hinweg der wahre Anteil der Wehrmachtangehörigen an der Entwicklung der DDR-Volksarmee verschwiegen bzw. verschleiert werden sollte 6 4 . Es paßte einfach nicht ins Bild über die N V A als „antifaschistische Armee", daß sich zeitweise mehr ehemalige Wehrmachtoffiziere in den Reihen ihres Offizierkorps befanden als Widerstandskämpfer und KPD-Funktionäre aus der Zeit vor 1945. Im März 1964, sieben Jahre nach dem Politbürobeschluß über die Entlassung der Offiziere, dienten noch exakt 67 ehemalige Wehrmachtoffiziere aktiv in den DDR-Streitkräften. Sie waren in folgenden Bereichen tätig: 21 in der Lehrtätigkeit, 13 im Medizinischen Dienst, 13 in der militärwissenschaftlichen Arbeit, 9 in Stäben und zentralen Einrichtungen, 5 im Ministerium für Nationale Verteidigung, 4 in Musikkorps und 2 in der Sportvereinigung „Vorwärts". Damit war das „Problem" der Wehrmachtoffiziere in den eigenen Streitkräften für die politische und militärische Führung der N V A sowie für die SED-Spitze kein Thema mehr 6 5 . Die Misere der meisten ehemaligen Offiziere des Zweiten Weltkrieges in der D D R bestand darin, daß sie keine „ L o b b y " in der D D R - F ü h r u n g besaßen und 62 63
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Siehe W e n z k e , Wehrmachtoffiziere, S. 147 f. Siehe A k t e n n o t i z über die Vorbereitung der A e O vom 26. 09. 1957, S A P M O - B A , D Y 30 I V 2 / 1 2 / 7 , Bl. 1 1 7 f . I m J a h r 1971 beschloß die S E D - F ü h r u n g die Auflösung der A e O , die zu diesem Zeitpunkt noch knapp 100 Abgehörige zählte. Offiziell erfolgte die „Selbstauflösung" der Arbeitsgemeinschaft auf ihrer 21. Mitgliederversammlung im N o v e m b e r des Jahres. Ein Vertreter dieser Legendenbildung ist Besymenski, Generale, S. 5 1 6 f . Bisher nachweislich letztmalig lehnte es die ZK-Sicherheitsabteilung im J a h r e 1966 mit dem Verweis auf den Politbürobeschluß von 1957 ab, der Einsetzung eines Offiziers ( O b e r s t ) in eine leitende F u n k t i o n (stellvertretender Stabschef) im Neubrandenburger Militärbezirk zuzustimmen. Siehe Schreiben von Generalmajor Borning an H o n e c k e r vom 28. 7. 1966, S A P M O - B A , D Y 30 I V 2 / 1 2 / 3 8 .
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im Grunde stets nur als ein zeitweise notwendiges, aber insgesamt ungeliebtes Überbleibsel aus einer anderen Zeit betrachtet wurden. F ü r die S E D - F ü h r u n g waren sie nur solange von N u t z e n , wie sie für die Erreichung bestimmter praktischer M a ß n a h m e n bzw. propagandistischer Zielstellungen eingesetzt werden konnten. F ü r ihre Kameraden im Westen galten sie als Verräter und Werkzeuge Moskaus. Traditionsgemeinschaften oder organisierte militärische Kameradschaften waren in der D D R weder gewollt noch erlaubt. Öffentliche Aufmerksamkeit konnten die „Ehemaligen" daher oft nur erringen, wenn sie Erklärungen gegen „Militarismus und Krieg" abgeben durften. Frühere Wehrmachtgenerale und -Offiziere, soweit sie beispielsweise dem N K F D angehört hatten 6 6 , konnten aber den Status eines „Kämpfers gegen den Faschismus" erhalten bzw. Mitglied in den Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer werden. Das hatte neben anderen Vergünstigungen auch den materiellen Vorteil, daß diesem Personenkreis eine Ehrenpension (Sonderrente) zuerkannt wurde. N o c h eine Bemerkung zur Rolle der ehemaligen Unteroffiziere der Wehrmacht in der N V A : Sie ist bisher nur im Ansatz untersucht. Es fällt aber auf, daß diese Personengruppe nicht nur quantitativ stark im ostdeutschen Offizierkorps vertreten war, sondern ihre Vertreter oft auch eine steile Karriere machten: G e n e raloberst Werner Fleißner, von 1972 bis 1985 Stellvertreter des Ministers und C h e f für Technik und Bewaffnung, Generaloberst Fritz Streletz, zuletzt Stellvertreter des Ministers und C h e f des Hauptstabes der N V A sowie Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, H o r s t Stechbarth als Ministerstellvertreter und langjähriger C h e f der Landstreitkräfte und eine Reihe weiterer Generale - sie alle waren 1945 Unteroffiziere oder Feldwebel der Wehrmacht und damit in einer guten, offensichtlich sogar besseren Ausgangsposition als ihre ehemaligen Offizierkameraden: Sie waren sehr jung, schon teilweise kriegserfahren, aber nicht generell militärmüde. Sie besaßen zumeist eine „proletarische" Herkunft, hatten aber bereits eine erste technische und militärtaktische Ausbildung genossen. Politisch blieben sie noch formbar. Ihre Kaderakten waren nicht mit dem Makel des Wehrmachtoffiziers versehen. Permanentes Mißtrauen seitens der S E D , wie es dem größten Teil der ehemaligen Offizieren in ihrem Dienst entgegenschlug, war daher nicht oder nur in Einzelfällen spürbar. Aufgrund ihres raschen Avancements fühlten sie sich zudem dem neuen Staat besonders verpflichtet und galten deshalb als politisch und militärisch zuverlässig. D i e Bilanz des „personellen E r b e s " ist eindeutig: Generale, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der einstigen Wehrmacht dienten vor allem in den fünfziger Jahren zeitweise in größerem U m f a n g aktiv in den Streitkräften der D D R . Waren z . B . 1956 noch 500 ehemalige Offiziere im N V A - O f f i z i e r k o r p s vertreten, so sank ihre Zahl bis 1971 auf 59. Das ehemalige Wehrmachtpersonal bildete den personellen G r u n d s t o c k und zweifellos auch einen wichtigen Teil
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Siehe Heider, Nationalkomitee, S. 27. Heider gibt an, daß in der N V A Anfang der sechziger Jahre in den Führungsstäben ab Division noch etwa 60 Offiziere tätig gewesen seien, die der Bewegung „Freies Deutschland" angehört hatten, über 40 von ihnen seien im Fronteinsatz gewesen und annähernd 2 0 0 weitere Offiziere in Stäben hätten Antifa-Schulen absolviert.
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des militärischen Rückgrats der DDR-Volksarmee und ihrer Vorläufer 67 . Die meisten von ihnen hatten - aus welchen Gründen auch immer - eine vermutlich ehrliche Wende im persönlichen Leben vollzogen und sich nach Kriegsende mit ihrem Wissen und Können dem neuen Staat engagiert verschrieben. Vor allem Offiziere und Unteroffiziere erhielten dafür die Möglichkeit, in führende Positionen aufzusteigen und Leitungsverantwortung zu übernehmen. Immerhin gelangten über 20 ehemalige Wehrmachtoffiziere (einschließlich der Generale) in einen militärischen Generalsrang der D D R . Eine rückhaltlose, vorurteilsfreie Integration in die Gesellschaft sowie ein volles uneingeschränktes Vertrauen der verantwortlichen Funktionäre konnte - zumindest bis Ende der sechziger Jahre - jedoch kaum ein ehemaliger Wehrmachtoffizier, selbst wenn er langjähriges SED-Mitglied war, seitens der Partei erreichen. Insgesamt waren der Anteil und die Rolle der in die bewaffneten Kräfte der S B Z / D D R übernommenen ehemaligen Wehrmachtoffiziere, einschließlich der Generale, aber relativ gering, legt man den Maßstab der Bundesrepublik an, die beim Aufbau ihres Militärs vor allem in der Führung fast ausnahmslos auf ehemalige Angehörige der Wehrmacht zurückgegriffen hatte 68 . KVP- und NVA-Angehörige mit nachweisbaren NS-Belastungen 6 9 - hier ist beispielsweise die Tätigkeit von Generalmajor Arno von Lenski als ehrenamtlicher Richter am sogenannten Volksgerichtshof der Nazis zu nennen - gab es zweifellos; sie stellten aber eher Ausnahmen dar. Von einer generellen nationalsozialistischen Belastung der D D R Armee, die aus der einfachen Zugehörigkeit von Teilen ihrer ersten Soldatengeneration zur Wehrmacht resultierte, kann daher nicht die Rede sein. Es ist jedoch im Einzelfall, z . B . anhand der konkreten Lebensläufe, weiter zu prüfen, ob die später in Führungspositionen der K V P / N V A gelangten ehemaligen Unteroffiziere, Offiziere und Generale der Wehrmacht im Einzelfalle nicht doch in einer besonderen Form mit dem NS-Staat und seinen Verbrechen verbunden waren.
Das Erbe der Wehrmacht im Bereich der inneren Verhältnisse Die ostdeutschen Streitkräfte entstanden mit dem Anspruch, eine neue Armee zu sein, die mit dem deutschen Militarismus nichts gemein hatte, unter der Führung von „Antifaschisten" und „Arbeiterkadern" stand und dem Frieden in seiner angeblichen Einheit mit dem Sozialismus diente. Die Orientierung an Normen, Vorbildern oder Idealen aus der militärischen Vergangenheit, namentlich der Wehrmacht, war daher in der Zeit ihrer Existenz offiziell unerwünscht. Niemand in der D D R stellte sich dem „Erbe Wehrmacht" in seiner Gesamtheit,
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Eine umfassende soziostrukturelle Untersuchung der Zusammensetzung sowie Analysen der politischen Biographien der im Osten Deutschlands beim Aufbau der Streitkräfte verwendeten ehemaligen Wehrmachtangehörigen liegen bisher nicht vor. Ein biographisches Handbuch über die Generale und Admirale der DDR-Streitkräfte (1952-1990) ist zur Zeit in Vorbereitung. Siehe Meyer, Entwicklung; siehe auch ders., Generale. Eine alphabetische, gleichwohl wenig differenzierende Aufstellung von Personen mit „ N S - B e l a s t u n g " findet sich bei Kappelt, Braunbuch.
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es wurde in der Regel entweder verteufelt oder einfach verschwiegen. Bis zum Ende der D D R war die Wehrmacht stets mit dem Beiwort „faschistisch" zu benennen 7 0 . Die formale Ablehnung der Wehrmacht ging zum Beispiel im militärwissenschaftlichen Bereich soweit, daß selbst sowjetische Lehroffiziere an der Generalstabsakademie der U d S S R sich wunderten, warum die NVA-Offiziere die bekannten Schriften der Wehrmachtgenerale Erwin Rommel und Heinz Guderian nicht gelesen hatten. Einzig der staatlich oktroyierte Antifaschismus wurde als Form der Auseinandersetzung erlaubt. Die fraglos antifaschistischen Biographien von leitenden Militärs der D D R , die man immer wieder ins Spiel brachte, sollten eine Abkehr von der Vergangenheit demonstrieren. Die N V A wurde als Verkörperung des „Guten" in der deutschen Militärgeschichte gesehen. Ihre Traditionen bezogen sich im Verständnis der marxistisch-leninistischen Ideologie auf das gesellschaftlich Progressive. Die D D R Führung griff dabei bekanntlich sowohl auf die „proletarische Linie" als auch auf Ereignisse aus der früheren Militärgeschichte, so auf die Befreiungskriege von 1813-15 zurück. In diesem Konnex sah sich die N V A als Alternative zu allen anderen bisherigen deutschen Armeen. Der Zweite Weltkrieg und seine Soldaten waren vor diesem Hintergrund kein traditionsbildendes Moment. Deshalb gab es im Traditionsverständnis der N V A nie das Problem der „Erblast Wehrmacht". Das Schloß auch Zugeständnisse an sogenannte ewige Soldatentugenden aus, obwohl in Kreisen der Volksmarine dieses Problem in den achtziger Jahre verschiedentlich intern diskutiert worden war. Die Folgen eines derartigen Geschichtsverständnisses zeigten sich zwangsläufig auch in historischen Verfälschungen und Verkürzungen der Darstellungen über die Wehrmacht bzw. in einer Verklärung der K P D und des N K F D . Einzig das N K F D und seine Tätigkeit im Krieg wurden sowohl für legitimatorische Zwecke der D D R als auch zur ideologischen Indoktrination im Rahmen der Traditionspflege der Streitkräfte in Anspruch genommen 7 1 . In der N V A gab es bis 1989 in Bezug auf Traditionsnamen keine Truppenteile oder Kasernen, die als Namensgeber hohe Wehrmachtoffizieren oder anderer „Kriegshelden" älterer deutscher Armeen hatten. Von den insgesamt knapp 300 „Ehrennamen" in der DDR-Volksarmee (und den Grenztruppen) stammten zwar mehr als ein Drittel aus dem Zeitabschnitt 1933-1945 7 2 , aber nur 16 von ihnen waren aber keine Kommunisten. Mehrere Namensverleihungen galten Wehrmachtangehörigen, die entweder als Mitglieder des N K F D (u.a. Hermann Rentzsch, Felix Scheffler, Herrmann Vogt, Paul Blechschmidt) oder Partisanen bzw. „Kundschafter" (Fritz Schmenkel, Harro Schulze-Boysen) die „Seite" gewechselt und letztlich gegen das NS-Regime und die Wehrmacht gekämpft hat-
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D e r Terminus „faschistische W e h r m a c h t " bildete in der S B Z / D D R bis 1989 die offizielle Bezeichnung für Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine des N S - R c g i m e s . Z u r Charakterisierung der W e h r m a c h t in den offiziösen Darstellungen siehe den Beitrag Hass in diesem Band. Siehe Heider, Nationalkomitee, S. 34. Eine Aufstellung der in der N V A und den Grenztruppen verliehenen Traditionsnamen findet sich in einer Beitragsreihe von H e i n z Karl H o f f m a n n . Siehe dazu Militärgeschichte, 25 (1986), S. 1 5 2 - 1 5 9 , 3 3 3 - 3 4 1 ; 26 (1987), S. 6 3 - 6 7 , 1 7 1 - 1 7 4 ; 27 (1988), S. 1 9 7 - 1 9 9 ; 28 (1989), S. 5 0 6 - 5 1 0 .
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ten. So gab es ζ. B. den NVA-Pioniertruppenteil „Horst Viedt", der nach einem Wehrmachtleutnant und späteren N K F D - M i t g l i e d benannt war. Viedt fiel als Leiter einer N K F D - G r u p p e in den letzten Kriegstagen in der Festung Breslau. Von den Männern des 20. Juli findet sich nur ein „Nichtmilitär" in der N V A Traditionsliste: Wilhelm Leuschner. D e r Name des Wehrmachtobersten Claus Schenk von Stauifenberg kam erst nach dem politischen Umbruch in die NVA, als 1990 ein Führungsgebäude des Verteidigungsministeriums in Strausberg diesen Namen erhielt. Aufgrund ihres Anspruchs, die Wurzeln von „Faschismus und Militarismus" ausgerottet zu haben, verzichtete die S E D dennoch nicht auf nationale Termini, überlieferte Militärsymbole und manch „altes" Zeremoniell. Dies geschah jedoch nicht bruchlos, sondern stets mit neuen inhaltlichen, „sozialistischen" Vorzeichen. Vieles war jedoch in diesem Bereich - besonders in den Anfangsjahren - widersprüchlich. Besaß z . B . 1949 noch alles, was mit der Wehrmacht zu tun hatte und mit „ K o m m i ß " , Militarismus und Preußentum in Beziehung gesetzt werden konnte, aus Sicht der damals Verantwortlichen keine Existenzberechtigung, so war man andererseits auf Ausrüstungsgegenstände der Wehrmacht ebenso angewiesen wie auf deren Ausbildungsunterlagen. Diese schizophrene Situation führte nicht selten zu absurden Anweisungen. So galt der Begriff „Kaserne" nicht nur aus Geheimhaltungsgründen, sondern weil er aus der Wehrmacht stammte, als suspekt und kam in den frühen Jahren im Sprachgebrauch der Polizeitruppen kaum vor. Ahnliches galt für die Anreden „Kamerad" oder „Herr", die schon frühzeitig durch die Anrede „Genösse" ersetzt wurden. Auch das Koppelschloß, weil es in der Tradition deutscher Armeen stand, wurde anfangs rigoros abgelehnt - um es Jahre später wieder einzuführen 7 3 . Der fragwürdige Umgang mit der deutschen Militärgeschichte bis 1945 spiegelte sich nicht zuletzt in der instinktlosen Uniformierung der N V A wider. Hier wurde - offensichtlich sowohl von Seiten der U d S S R als auch seitens der D D R - F ü h r u n g - pragmatisch auf die damals aktuelle Karte gesetzt, die den „nationalen" Führungsanspruch der S E D in Deutschland mit Blick auf den Westen untermauern sollte. Dazu hatte im Kalkül der Partei auch die neue Armee beizutragen, wenn sie in „nationalen" Uniformen die „Adenauer-Truppe" mit ihrem amerikanischen Zuschnitt desavouieren konnte. Waren die kasernierten Polizeitruppen der D D R bis Mitte der fünfziger Jahre noch mit khakifarbenen Uniformen russischer Art ausgerüstet und dadurch oft Beschimpfungen aus der Bevölkerung als „Russenknechte" ausgesetzt, so gab es 1956 mit der Einführung der steingrauen Uniform eine entscheidende Wende. Die „neue" Uniform weckte mit dem charakteristischen Schnitt der Uniformjacke (vier aufgesetzte Taschen), der Form der Schirm-, der Winterund der Feldmütze, der Paspelierung der Waffenfarben, den festen Stiefeln sowie der Beibehaltung der Schulterklappen und -stücken als Dienstgradabzeichen sofort Assoziationen zur Wehrmacht. Es gab jedoch auch Modifizierungen. So führte man die Dienstgrade Unterleutnant und Armeegeneral neu ein
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Siehe dazu u. a. Hasemann, Soldat, S. 88.
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und veränderte die Zahl der Dienstgradsterne entsprechend der im Warschauer Pakt üblichen und einheitlichen Kennzeichnung 7 4 . Offiziell wollte man mit der Neuuniformierung der NVA an die Militärtraditionen der Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts anknüpfen. Berührungsängste im Hinblick auf Ähnlichkeiten zur Wehrmachtuniform waren selbst bei den Verantwortlichen in der SED durchaus vorhanden, doch Entscheidungshilfe in der „nationalen Ausrichtung" der Uniformfrage kam einmal mehr von einflußreichen sowjetischen Stellen. In seinen Memoiren erinnerte sich Heinz Hoffmann, langjähriger Verteidigungsminister der DDR, an die damalige Situation: Im Jahr 1955 reiste Hoffmann als Chef der KVP mit SEDChef Walter Ulbricht und Ministerpräsident Otto Grotewohl in die polnische Hauptstadt, um den Warschauer Vertrag, die Geburtsurkunde des östlichen Militärbündnisses, zu unterzeichnen. Nach der offiziellen Begrüßung nahm ihn Bulganin, damals sowjetischer Ministerpräsident, zur Seite, musterte ihn und fragte: „Was trägst Du für eine Uniform? Eine sowjetische oder eine deutsche?" Da Hoffmann nicht mit „Jein" antworten wollte, versuchte er die Angelegenheit zu erklären. „Also entschied ich mich für ,ja' und ,nein', erläuterte ihm unsere Überlegegungen, die ja nun schon drei Jahre zurücklagen, und vergaß natürlich nicht, den 1955 zum Marschall der Sowjetunion ernannten Wassili Tschuikow zu erwähnen, der unsere Entscheidung [für die den sowjetischen Uniformen nachempfundene Bekleidung der KVP - d.A.] nicht nur gebilligt, sondern sie für ausgesprochen gut befunden hatte. Michail Bulganin indessen war von meinen Darlegungen wenig beeindruckt, schüttelte den Kopf und meinte nur: ,Ihr seid doch Deutsche'! Warum tragt ihr nicht auch deutsche Uniformen" 7 5 ? Das Ergebnis dieser „Empfehlung" ist bekannt. Vor allem im Ausland gab es in den Anfangsjahren immer wieder Probleme, die mit der wehrmachtähnlichen Uniform der NVA-Angehörigen zusammenhingen. Im Sommer 1968 war es ζ. B. nicht zuletzt auch die Ähnlichkeit der Uniformen, die die Tschechen und Slowaken zu solchen Losungen wie „1938 - Hitler - 1968 Ulbricht" animierte. Publikationen zur Auswertung des Zweiten Weltkrieges in der Art der „Verlorenen Siege" Erich von Mansteins gab es in der D D R nicht. Die literarische Auseinandersetzung mit der deutschen militärischen Vergangenheit wurde maßgeblich - neben den sowjetischen Publikationen - vom NDPD-eigenen „Verlag der Nation" aufgegriffen. Mit dem Buch des ehemaligen Greifswalder Kampfkommandanten Rudolf Petershagen, der 1945 die Universitätsstadt der Roten Armee kampflos übergeben hatte, begann die Form der Kriegsverarbeitung aus der Sicht früherer Wehrmachtangehöriger 7 6 . Die Bücher „Der schwere Entschluß" von Wilhelm Adam, „Genesung in Jelabuga" von Otto Rühle, „Roter Schnee" von Günter Hofe, „Verratene Grenadiere" von Helmut Welz sowie
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Siehe Keubke/Kunz, Uniformen, S. 24. Zit. n. Hoffmann, Moskau-Berlin, S. 309. A u f die Auseinandersetzung der DDR-Historiographie mit dem Zweiten Weltkrieg, auf ihre Leistungen, Grenzen und Defizite soll hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu u. a. Beitrag Hass in diesem Band.
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weitere (mehr als zwanzig) Titel dieses Genres gehörten zu den vielgelesenen Erinnerungen in der DDR. Wenn von der NVA oft als den „roten Preußen" gesprochen wurde, so meinte man damit neben den immer mit der Wehrmacht in Verbindung gebrachten Äußerlichkeiten auch das strenge Regime im Innern der Armee. Es ist anzunehmen, daß traditionelle soldatische Einstellungen der älteren gedienten Soldatengeneration auch in die DDR-Gesellschaft, namentlich in die bewaffneten Kräfte, Eingang fanden und dort in unterschiedlicher Weise fortwirkten. Ein Ausdruck des rigiden inneren Regimes in der KVP/NVA war der von vielen Armeeangehörigen immer wieder zu Recht angeprangerte rüde Kasernenhofton, der eigentlich bis 1989 in der Armee vorhanden war. Er kann vor allem als eine Folge des Einflusses der ehemaligen Unteroffiziere gewertet werden, die besonders in den fünfziger Jahren - nunmehr als Offiziere Formen der Menschenführung in die Truppe einbrachten, die das Niveau ehemaliger Hauptfeldwebel und Schirrmeister im Umgang mit Rekruten kaum verleugnen konnten. Die Anwendung „faschistischen Erziehungs- und Ausbildungsmethoden", darunter faßte man in der KVP/NVA z.B. unangemessene Bestrafungen, ein völlig übertriebener Drill oder gegen die Menschenwürde gerichtete Handlungen, mußte daher von der militärischen und politischen Führung in der DDR wiederholt in verschiedenen Einheiten festgestellt und zur disziplinaren Ahndung gebracht werden. Wie schon erwähnt, wurde in den ersten Jahren noch oft nach alten deutschen Heeresvorschriften und Unterlagen der Wehrmacht ausgebildet. Diese Dokumente, die auch für die Gestaltung der inneren Verhältnisse von Bedeutung waren, bildeten die Grundlage für schrittweise neu erarbeitete Vorschriften, da es oftmals noch keine übersetzten russischen Unterlagen gab. Erst mit den Absolventen der geheimen Lehrgänge in Privolsk (UdSSR), auf denen Offiziere der kasernierten DDR-Truppen, darunter eine Reihe kriegserfahrener ehemalige Unteroffiziere und Offiziere, ab 1949 innerhalb eines Jahres zu Regimentskommandeuren herangebildet wurden, sowie durch die Anleitung und Kontrolle der sowjetischen Berater kamen zunehmend sowjetische Auffassungen zum Tragen. Das betraf Fragen der operativen Kunst, der Taktik, des Waffeneinsatzes und der Gefechtsausbildung in der Truppenausbildung und in der Lehrtätigkeit der Schulen, die als Spitze des militärwissenschaftlichen Fortschritts und damit als Vorbild für die D D R hingestellt wurden. Formen der Stabskultur und einiges im Innendienst erinnerte jedoch weiter an vergangene Wehrmachtzeiten. Manch „preußisch" Anmutendes kam auch über den U m w e g der Roten Armee in die ostdeutschen Streitkräfte. So war das NVA -Exerzierreglement keinesfalls - wie man vermuten könnte - ein genaues Abbild der entsprechenden Wehrmachtvorschrift, sondern eine Mischung deutscher und russischer Formen. Dazu gehörten der vielzitierten „Stechschritt" der NVA, die geschlossene Faust an der Hosennaht (anders als „Finger lang" der Wehrmacht) und verschiedene militärzeremonielle Formen. Manchmal blieb man aber ausschließlich beim „bewährtem" deutschen Vorbild. So erinnerte sich der langjährige Chef der NVA-Landstreitkräfte, Generaloberst a.D. Horst Stechbarth, im Jahr 1997 rückblickend an eine Episode im Zusammenhang mit der am 1. Mai 1956 veranstalteten ersten Militärparade der
Das unliebsame Erbe der Wehrmacht
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DDR-Armee in Ost-Berlin. Stechbarth sollte - nach der Empfehlung der sowjetischen Berater - mit seinen Truppen nach sowjetischem Marschtempo ( - 120 Schritt pro Minute) marschieren. Das klappte nicht, weil die dazu gespielte deutsche Marschmusik nicht geeignet war. Verteidigungsminister Willi Stoph kam hinzu und - so die Erinnerungen Stechbarths - soll ihn gefragt haben, wie denn die Wehrmacht marschiert sei. Der nannte ihm den Takt von 114 Schritt pro Minute als Marschtempo. Darauf ordnete Stoph mit der Bemerkung, die Parade werde in Berlin und nicht Moskau durchgeführt, das „deutsche" Marschtempo für die NVA an 77 . Die Frage, ob diese Äußerungen Stophs vielleicht schon als ein Zeichen aufkeimendes Selbstbewußtseins der jungen DDR-Armee - auch im Umgang mit dem Wehrmachterbe - oder eher als ein Ausdruck militärischen Pragmatismus' gewertet werden können, muß an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Führung der DDR-Streitkräfte schätzte durchaus das Wissen und Können der ehemaligen Offiziere, insbesondere deren Erfahrungen in der Stabsarbeit, im operativen Denken, in der Sicherstellung und nicht zuletzt bei der Organisation des Innenlebens der Armee. Unübersehbar gab es auch „Reibungsflächen", wenn die oft sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensansichten im Dienst aufeinanderprallten. Zudem riefen das etwas andere Auftreten einiger zumeist älterer Generale und Offiziere in der Truppe, ihr manchmal als „bürgerlich" verpönter Lebensstil und ihre Gepflogenheiten nicht selten Unverständnis und auch den Unmut bei den zumeist aus sehr einfachen Verhältnissen stammenden „Arbeiteroffizieren" hervor 78 . Manchen der ehemaligen Berufssoldaten der Wehrmacht fiel es dagegen freilich schwer, mit zumeist noch unerfahrenen und wenig gebildeten Stabsoffizieren arbeiten bzw. bisherige Angewohnheiten und Dienstauffassungen ändern zu müssen. Auch die von den Sowjets vermittelte Erkenntnis, daß jeder Befehl zuallererst eine politische Entscheidung sei und stets politisch motiviert werden müsse, paßte nicht in ihre Vorstellungen von Befehl und Gehorsam. Die „Ehemaligen" bildeten zudem keine geschlossene Phalanx. Sie stellten aufgrund ihrer verschiedenen Dienststellungen, ihres Dienstalters, ihres politischen Engagements usw. vielmehr eine in sich differenzierte Gruppierung dar 79 . Aber auch in der politischen Führung und in der Truppe waren sowohl der Umgang mit dem Wehrmachterbe als auch die Bewertung des Einsatzes und des Engagements von ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht keinesfalls einheitlich, sondern eher umstritten 8 0 . Die Einschätzungen reichten von Akzeptanz,
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Siehe I n t e r v i e w von J ü r g e n Eike mit G e n e r a l o b e r s t a . D . der N V A H o r s t Stechbarth, in: D i e v e r s c h w u n d e n e A r m e e . D o k u m e n t a r f i l m . E r s t s e n d u n g a m 15. 1. 1997 in „arte". Siehe Bericht ü b e r die Situation in der K V P v o m 27. 10. 1953, S A P M O - B A , DY 30 J IV 2/2J/6, Bl. 8 f. Dies w i r d u. a.bestätigt bei K u n z e , Feind, S. 75 f. Siehe a u s f ü h r l i c h N i e m e t z , U m g a n g . So plädierte K V P - K a d e r c h e f M u n s c h k e M i t t e 1954 aus offensichtlich pragmatischen G r ü n d e n a u s d r ü c k l i c h d a f ü r , einer „politisch falschen Einstellung z u den e h e m a l i g e n O f f i z i e r e n " e n t g e g e n z u t r e t e n : „ N i c h t w a s f r ü h e r w a r u n d w a s man f r ü h e r gemacht hat, ist jetzt die e n t s c h e i d e n d e Frage, sondern jetzt k o m m t es darauf an, w i e m a n in der D u r c h f ü h r u n g der A u f g a b e n seine Pflicht erfüllt u n d w i e m a n sich politisch u n d fachlich an der E r z i e h u n g u n s e r e r M e n s c h e n beteiligt u n d sie zu b e w u ß t e n K ä m p f e r n z u m S c h u t z der
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Rüdiger Wenzke
Anerkennung, Respekt und Achtung bis hin zur fachlichen und persönlichen Diskreditierung und Ablehnung. Ein permanentes Mißtrauen hegten vor allem die militärisch inkompetenten Politoffiziere gegenüber den fachlich anerkannten, oft aber unpolitisch wirkenden Offizierkameraden81. Auch im Mannschaftsstand hatte sich mancherorts Unmut geregt, wenn z.B. ehemalige Frontsoldaten auf ihre alten Vorgesetzten aus der Wehrmachtzeit trafen. Fazit Die NVA wurde als militärisches Instrument zur äußeren und inneren Machtsicherung der SED aufgebaut. Ihr Lehrmeister und Vorbild war von Anfang an die Sowjetarmee und nicht die Wehrmacht. Insofern gab es keinen direkten Weg von „braun zu rot", von der Wehrmacht zur DDR-Volksarmee. Das insgesamt ungeliebte, aber in der Praxis zumeist ambivalent gehandhabte Erbe der Wehrmacht blieb jedoch entgegen dem Selbstverständnis der Machthaber in der DDR und trotz radikaler Umbrüche auf den Gebiet der Ideologie, des Führungspersonals usw. über lange Jahre in den ostdeutschen Streitkräften präsent. Besonders in den fünfziger Jahren prägte es im beträchtlichem Maße - mehr versteckt als offen - den Aufbau und die Entwicklung des DDR-Militärs.
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Heimat entwickelt." Referat von Generalmajor Munschke auf der Kaderkonferenz vom 18./20. 5. 1954, B A - M A , D V H 3/3845, Bl. 17. Siehe u. a. Bericht über die Situation in der K V P vom 27. 10. 1953, S A P M O - B A , D Y 30 J IV 2/2J/6, Bl. 10.
Jürgen
Danyel
Die Erinnerung an die Wehrmacht in beiden deutschen Staaten. Vergangenheitspolitik und Gedenkrituale.
Die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Rolle der Wehrmacht in den beiden deutschen Staaten thematisierte geschichtliche Ereignisse und Erfahrungen, deren negative Konnotation durch die Niederlage und bedingungslose Kapitiulation, den Zusammenbruch des NS-Regimes und die mit der deutschen Kriegführung verbundenen Verbrechen gegenüber anderen Völkern gleichsam vorgegeben war. Anläßlich von Jahrestagen, bei politischen Gedenkfeiern und Ritualen des Totenkults von Politikern, Staatsrepräsentanten und Vertretern der Öffentlichkeit praktizierten symbolischen Formen der Politik mußte man sich mit diesem negativen Bezug des Erinnerten auseinandersetzen. Ungeachtet differierender Deutungen des historischen Geschehens zwischen 1933 und 1945 in den verschiedenen politischen Parteien und Verbänden blieben es ein von Deutschland verschuldeter und verlorener Krieg und ein nationaler Irrweg, an den es sich zu erinnern galt. Dort w o beide Staaten ihr jeweils spezifisches politisches Selbstverständnis formulierten oder sinnstiftende Deutungsmuster für ihre gemeinsame Vorgeschichte zu entwickeln suchten, mußten sie sich an diesem negativen Fixpunkt reiben. Die Besatzungs- und späteren Garantiemächte sowie ein im weiteren Sinne durch den nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg betroffenes Ausland bildeten die Kontrollinstanzen dieser negativen Identitätsfindung. Aber auch in einem anderen Sinne wurde die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Nachkriegsdeutschland und in den beiden deutschen Staaten durch sein für die Deutschen traumatisches Ende und die darauf folgende alliierte Besatzung bestimmt. Für weite Teile der Bevölkerung rief die Erinnerung an den Krieg vor allem dessen dramatische Folgen für die persönlichen Lebensverläufe der Menschen wach. Viele Familien hatten oft mehrere Angehörige im Krieg, bei den alliierten Bombardierungen deutscher Städte oder in den letzten Gefechtshandlungen auf deutschem Boden verloren. Das Vorrücken der alliierten Truppen, besonders der Roten Armee, die ordnungspolitischen Eingriffe der Siegermächte und die in der Folge spontaner Vergeltungsaktionen erfolgte Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten lösten Migrationsströme aus, die Hunderttausende der Grundlagen ihrer materiellen und sozialen Existenz beraubten. Ebenso weitreichend waren die Folgen der deutschen Niederlage für die am Krieg beteiligten Soldaten und Offiziere der Wehrmacht. Die psychischen Folgen der Niederlage, oft langjährige Kriegsgefangenschaft und die Schwierigkeiten der Reintegration in die Nachkriegsgesellschaft bildeten für diese Gruppe wichtige Axiome der erfahrungsgeschichtlichen Verarbeitung des miterlebten Krieges. Die Entnazifizierung mit ihrem zunächst weitreichenden Anspruch der Schuldzuordnung und der sozia-
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Jürgen Danyel
len Ausgrenzung belasteter Systemträger wurde von den Betroffenen in einem kausalen Zusammenhang wahrgenommen, der auf den verlorenen Krieg verwies. Der Nürnberger Prozeß bewirkte auch in der deutschen Öffentlichkeit eine Art Schock, indem er die Dimension der im Zusammenhang mit dem deutschen Eroberungskrieg begangenen Verbrechen offenbarte. Die Erfahrung des Kriegsendes, das von weiten Teilen der Bevölkerung zwar nicht als Befreiung, aber doch als eine Art Erlösung von Chaos, Agonie und Endkampfhysterie' empfunden wurde, hatte ebenso wie der von den Besatzungsmächten ausgehende politisch-moralische Druck eine grundsätzliche Distanzierung vom NSRegime und dem Krieg als solchem zur Folge. Dabei handelte es sich eher um eine diffuse Grundstimmung, die aus Frustrationen, Enttäuschungen und einem tiefgreifenden Verlust an Lebensorientierung resultierte. Diese mentale Disposition paarte sich, wie wir aus zahlreichen Befunden der kritischen Historiographie zur Vergangenheitsaufarbeitung 2 wissen, eher mit dem Unwillen, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen, und verdrängte den Verantwortungszusammenhang zwischen dem Mitmachen des Einzelnen und den Verbrechen des Regimes. Gleichzeitig konnte die Erinnerung an den Krieg nicht mehr auf nationalsozialistische Sinngebungen und Rechtfertigungsmuster zurückgreifen. Der Schriftsteller Franz Fühmann, der die erfahrungsgeschichtlichen Umbrüche seiner Kriegsgeneration immer wieder thematisierte, hat diese mentale Disposition als „Verweigerung jeglichen Handelns" beschrieben: „kein Urteil fällen, keinen Rat geben, nicht Partei ergreifen, mich keiner Sache verdingen, niemand an mich binden, auch kein Kind zeugen: verflucht sei alles, was etwas bewirkt! - Auch niemand mehr glauben als den eigenen Sinnen" 3 . Als sich die deutsche Gesellschaft nach 1945 auf die neuen Bedingungen umstellte, herrschten bei weiten Kreisen der Bevölkerung ein ausgeprägter Pragmatismus, ein eher situationsgeleitetes Umgehen mit den Bedingungen und kaum Zukunftsvorstellungen vor 4 . Nach wie vor ist allerdings sehr wenig über diese erfahrungsgeschichtliche Verarbeitung des Krieges bei den Frauen, den Soldaten und der großen Gruppe der Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen außer den gängigen moralisierenden Wertungen von deren „Unfähigkeit zu trauern" bekannt 5 . Neuere Untersuchungen zu Illustriertenromanen der fünfziger Jahre und den Memoiren deutscher Offiziere belegen zumindest für die frühe Bundesrepublik, daß diese Jahre nicht einfach eine Zeit des Beschweigens und der Erinnerungslosigkeit waren: Der Massenkonsum von Fortsetzungsromanen und sogenannten Tatsachenberichten in Zeitschriften wie dem „Stern" und der „Quick", die die Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und die Situation in der deutschen Wehrmacht beschreiben, zeigt eher, daß „die Bundesdeutschen sich leidenschaftlich, ja geradezu besessen mit ihrer Vergangenheit und
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Vgl. Müller/Ueberschär, Kriegsende 1945, S. 142. Siehe dazu u.a. B e n z , Nachkriegsgesellschaft; Brochhagen, Nürnberg; Garbe, Abkehr; Danyel, Vergangenheit; Frei, Vergangenheitspolitik. Vgl. Fühmann, Feuerschlünden, S. 50. Vgl. Sywottek, Tabuisierung, S. 231. Ebd., S. 230.
Die Erinnerung an die Wehrmacht in beiden deutschen Staaten
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deren Identifikationsfiguren beschäftigten" 6 . Gleiches gilt für namhafte Wehrmachtgenerale, die in ihren in den fünfziger Jahren erschienen Memoiren die Frage diskutierten, wie sie den Krieg gegen die Sowjetunion „ohne die Einmischung Hitlers" hätten gewinnen können 7 . Wir haben es hier mit der Formierung einer subjektiv gefärbten Erinnerung zu tun, die sich „durch wiederholtes privates und öffentliches Mitteilen individueller Erlebnisse" zu „repräsentativen Geschichten" 8 verdichtet. Diese Geschichtserzählungen enthalten dann auch den Versuch, neue Sinngebungen für das individuelle Handeln des Einzelnen unter dem NS-Regime und im Krieg zu konstruieren. Die Erinnerungswelt ehemaliger Wehrmachtangehöriger 9 rekurierte auf den Wertekanon soldatischer Pflichterfüllung und Ehre. Sie wurde von dem Motiv der Bewährung in einer Grenzsituation geprägt, wo angesichts des Feindes die moralischen Fragen verblassen und Härte unvermeidlich wird - ein klassisches Motiv der Männergesellschaft „Armee", das in der in den fünfziger Jahren überbordenden Trivial- und Abenteuerliteratur, in den Büchern über einzelne Schlachten und Militärtechnik seine Gedächtnisstützen fand. Sie aktualisierte die Bilder von Kameradentreue, Gemeinschaftserleben und der harten Askese des Soldatenalltags, über den niemand urteilen könne, der nicht selbst dabei gewesen ist. Ähnliche Muster fanden sich in den Geschichtserzählungen der Zivilbevölkerung, wo der Sinnbezug des Erlittenen über das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Schicksals- und Leidensgemeinschaft oder den verhaltenen Stolz des „Was haben wir alles durchgemacht" hergestellt wird, wobei der letztere als eine Art Erfahrungskapital dann auch gegenüber einer kritischen Nachfolgegeneration geltend gemacht wurde. Damit ist ein Erinnerungskollektiv beschrieben, das in beiden deutschen Staaten die Majorität der Bevölkerung bildete. Jede Form des geschichtspolitischen Rückgriffs auf das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg durch politische Parteien und staatliche Institutionen mußte sich direkt oder indirekt auf diese Erinnerungskonstellation in der Bevölkerungsmehrheit beziehen - zumal wenn die öffentlich inszenierte Auseinandersetzung mit Geschichte sinn- und identitätsstiftend wirken und Bindungen an eine konkrete, in Ost und West unterschiedliche gesellschaftspolitische Ordnung erzeugen sollte. Für die politische Elite in beiden deutschen Staaten bildeten die großen Gruppen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten und Offiziere sowie der Flüchtlinge und Vertriebenen ein Reservoir, durch dessen Integration man sich innenpolitische Stabilisierungseffekte erhoffte. Der eskalierende Ost-West-Konflikt förderte den relativ schnellen Ubergang von der Entnazifizierungs- zur Integrationspolitik. Den ehemaligen Angehörigen von Wehrmacht und N S D A P wurden von Seiten der Politik das Angebot unterbreitet, das eigene moralische Versagen durch eine aktive Beteiligung am Wie-
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Vgl. Schornstheimer, Augen, S. 10. Vgl. Gerstenberger, Erinnerungen, S. 627. Vgl. Jarausch, Niederlage, S. 310. Einen Versuch, die Erzählstrukturen dieser Erinnerung zu beschreiben, liefert Rosenthal, Krieg.
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deraufbau zu kompensieren 1 0 . In der D D R erfolgten die Weichenstellungen für diese Reintegration Anfang der fünfziger Jahre, nachdem die Volkskammer bereits im November 1949 ein „Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen für ehemalige Anhänger der Nazipartei und Offiziere der Wehrmacht" verabschiedet hatte. Am 2. Oktober 1952 wurde dann dieser Gruppe die vollen staatsbürgerlichen Rechte zugesprochen. Die Initiative zu diesem Integrationsgesetz ging von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands aus 11 . Man wollte die Desillusionierung der ehemaligen Soldaten und Offiziere der Wehrmacht über den verlorenen Krieg nutzen, um sie für den „Friedenskampf" gegen „amerikanische Kriegsvorbereitungen" und die „Politik Adenauers" zu mobilisieren: „Die Kriegsverbrecher sind bestraft worden. Sie haben nun die Verantwortung für ihre Verbrechen in vollem Umfang zu t r a g e n . . . Der Masse derer, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, ist die Forderung gestellt, aber auch die Möglichkeit gegeben worden, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit ernsthaft auseinanderzusetzen, die Schlußfolgerungen zu ziehen und Schuld und Irrtum der Vergangenheit durch ihren Einsatz bei der Errichtung eines neuen Deutschland auszulöschen. Dabei ist vielen klar geworden, daß sie nur dort eine Zukunft haben, wo Kriege keine Zukunft haben" 1 2 . In der Bundesrepublik hatte das vom Bundestag im Sommer 1954 verabschiedete zweite Straffreiheitsgesetz eine vergleichbare integrationspolitische Signalwirkung. Es vollendete zugleich die bereits seit längerem praktizierte Amnestiepolitik der Bundesregierung, die sich in den Folgejahren auch noch auf die von alliierten Gerichten verurteilten Kriegs- und NS-Verbrecher erstrecken sollte 13 . Im Umgang mit den großen Erinnerungskollektiven wurden in der D D R und der Bundesrepublik unterschiedliche Strategien entwickelt. Der offizielle Antifaschismus der S E D hat sich mit dem Erfahrungsbestand des Alltagslebens unter dem Nationalsozialismus und der Erfahrungswelt der deutschen Kriegsteilnehmer stets schwer getan 14 . Er versuchte sie eher mit der Macht politischer und kultureller Institutionen zu brechen bzw. durch neue Deutungsmuster zu überlagern. Sicherlich lassen sich hier gewisse Veränderungen und Akzentverschiebungen feststellen. Die D D R - F ü h r u n g war erst ab Mitte der achtziger Jahre bereit, neben den obligatorischen Befreiungsfeiern auch die ambivalente Erfahrung des Kriegsendes bei der deutschen Bevölkerung zu thematisieren. Ein Indiz für diese vorsichtige Kurskorrektur lieferte die mit großer Aufmerksamkeit seitens der SED-Führung bedachte Filmdokumentation „Das Jahr 1945", die am 8. März 1985 uraufgeführt wurde. Der nüchterne Filmbericht
Vgl. Bender, Ansätze, S. 201. ' Vgl. den Wortlaut der Begründung des Gesetzes durch den Vorsitzenden der N D P D , Dr. Lothar Bolz, unter dem Titel „Der letzte Schritt zur Gleichberechtigung" in der NationalZeitung vom 3. 10. 1952. 12 Vgl. Rede von D r . Lothar B o l z ( N D P D ) auf der Sitzung des Blocks der antifaschistischdemokratischen Parteien und Massenorganisationen am 29. 10. 1952, S A P M O - B A S E D , I V 2 / 1 5 / 1 9 , Bl. 136. 13 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 87f. 1 4 Siehe auch den Beitrag Hass in diesem Band. 10 1
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über die letzten Kriegs- und die ersten Friedenstage bewertete die Rolle der deutschen Bevölkerung im Nationalsozialismus anders als die bisherigen pauschalen Distanzierungen. Westliche Beobachter konstatierten in diesem Zusammenhang eine gewachsene Bereitschaft der SED-Führung „sich mit dem Ausmaß, in dem das deutsche Volk den Nationalsozialismus unterstützt und aufrechterhalten hatte, auseinanderzusetzen" 15 . Im gleichen Jahr mahnte Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges die Deutschen, die Verantwortung für die eigene Geschichte „ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit" 1 6 anzunehmen. In Ost und West gab es insofern spiegelbildliche Annäherungseffekte im Bereich des öffentlichen Erinnerns. Für die Bundesrepublik der fünfziger Jahre läßt sich in Gestalt der Vergangenheitspolitik der Regierung Adenauer noch ein gesellschaftlich dominierendes erinnerungspolitisches Konzept ausmachen. Ab den sechziger Jahren haben wir es, verstärkt durch den Generationswechsel, eher mit einer Konkurrenzsituation verschiedener Gruppen und Erinnerungskonzepte zu tun, die um die kulturelle Hegemonie bei der Ausdeutung der deutschen Vergangenheit streiten. Sieht man einmal von dem Versuch ab, die Erfahrungswelt der Kriegsgeneration in ein antikommunistisches und antitotalitäres ideologisches Konzept einzubauen - ein Vorgang, bei dem antibolschewistische und antislawische Vorurteile aus der NS-Zeit mit pseudodemokratischen Argumenten revitalisiert werden, ist die Erinnerungspolitk der Ära Adenauer eher durch einen ausgeprägten Pragmatismus gekennzeichnet. Die subjektive Erinnerung der Soldaten, Flüchtlinge und Vertrieben, der ehemaligen Anhänger des NS-Regimes mit ihren postnationalsozialistischen Sinndeutungen kann sich relativ ungehindert in bestimmten Teilöffentlichkeiten entfalten oder etwa in Verbänden wie dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten ( B H E ) oder den Soldatenvereinigungen organisieren. Der moralische Druck, der von der Entnazifizierung, den publizistischen Schulddiskursen der ersten Nachkriegsjahre und den Forderungen der Opfer des NS-Regimes ausging, hatte längst nachgelassen. Die politische Elite der frühen Bundesrepublik dachte auch nicht daran, einen solchen Druck erneut zu erzeugen: „Mitte der fünfziger Jahre mußte fast niemand mehr befürchten, ob seiner NS-Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden. Angeheizt von den ebenso profilierten wie populären vergangenheitspolitischen Forderungen der rechten Kleinparteien, hatte eine Allparteienkoalition des Bundestages die den Deutschen nach der Kapitulation aufgezwungene individuelle Rechenschaftslegung beendet; fast alle waren jetzt entlastet und entschulDort wo politische Gruppen vom rechten Rand Frustrationen, Integrationsprobleme und die Restbestände nationalsozialistischer Ideen politisch aufzuladen suchten, setzte man gewisse Grenzen. Zudem zerfaserten diese Remobili-
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Vgl. Sienna, Entwicklungen, S. 725. Vgl. Weizsäcker, Deutschland, S. 13. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 20.
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sierungsversuche in dem durch Care-Pakete und Wirtschaftswunder bewirkten Stimmungswandel. Die antifaschistische DDR ließ die subjektive Welt der soldatischen Erinnerungsprosa oder eine nostalgische Heimatfolklore der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht in die öffentlichen Räume des politischen Gedenkens vordringen. Sie fürchtete deren Eigendynamik und hatte Rücksichten auf ihre verbündeten östlichen Nachbarn zu nehmen. Ohnehin war diese Erfahrungswelt für die Kommunisten, die sich als die entschiedensten Gegner des NS-Regimes und des von Deutschland ausgegangenen Krieges sahen, kaum nachvollziehbar. Die offizielle DDR tat sich mit dem Thema Soldatengräber sehr schwer. Wie die Geschichte des Waldfriedhofs in Halbe, einer der größten Kriegsgräberstätten des Zweiten Weltkriegs bei Berlin, zeigt, wurde es eher gemieden und erst unter dem Druck kirchlicher Instanzen aufgegriffen. Wegen der großen Zahl der dort liegenden Toten mußte allerdings auch die DDR-Führung gewisse Rücksichten auf das Ausland nehmen: Im Zusammenhang mit dem Antrag der DDR auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen faßte der Ministerrat im Juli 1971 einen „Beschluß über die Behandlung von Gräbern Gefallener und ausländischer Zivilpersonen" 18 . Die Kriegserfahrung der deutschen Zivilbevölkerung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren nur thematisiert, wenn sie sich für die Auseinandersetzung mit dem Westen funktionalisieren ließ. Ein zentrales symbolisches Ereignis für diese Erfahrung, die Zerstörung Dresdens, wurde von dem Vorsitzenden der N D P D Lothar Bolz in einem Artikel von 1953 als Beleg für „die enge Verwandtschaft der amerikanischen Rüstungsmiliardäre mit dem Nationalsozialismus, ihre Verwandtschaft im barbarischen Denken wie im barbarischen Handeln" bewertet: „Die Ruinen unserer Städte und die Leichen, die unter ihnen begraben sind, verdanken wir Amerika und England. Das was unser Volk an Wohnungen, Krankenhäusern und Kulturstätten, an Lebens- und Aufbaukräften behalten hat, verdanken wir der Sowjetunion" 1 9 . Die geschichtspolitischen Strategien des Umgangs mit den Zweiten Weltkrieg in Ost und West und die sich dabei herausbildenden Erinnerungskulturen wurden von politischen Gruppen geprägt, die im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung Minderheitserfahrungen verkörperten. In der DDR war es eine relativ kleine Gruppe kommunistischer Funktionäre, die das NS-Regime und den Krieg unter Haftbedingungen, im Untergrund oder in der politischen Emigration erfahren hatte. Dieser Erfahrungsbestand wurde jedoch durch die Säuberungen der fünfziger Jahre noch einmal stark ausgedünnt und engte sich im wesentlichen auf das Geschichtsbild der KP-Emigranten in der UdSSR ein. Sie hatten den Krieg aus der Perspektive der Umstellung der sowjetischen Gesellschaft auf die militärische Verteidigung des Landes, aus gelegentlichen Agitationseinsätzen an der Front, aus der Umerziehungsarbeit mit den deutschen Kriegsgefangenen und im Falle der „Gruppe Ulbricht" im Begleittroß des sowjetischen Vormarsches auf Berlin erlebt. Wie weit die Vorstellungswelten der 18 19
Vgl. Matschenz/Potratz, Waldfriedhof. Vgl. S A P M O - B A NDPD, DZ 16, Bündel 71, Bolz 53.
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k o m m u n i s t i s c h e n S p i t z e n k a d e r u n d der deutschen B e v ö l k e r u n g auseinandergingen, belegen W o l f g a n g L e o n h a r d s Schilderungen über seine ersten Begegnungen nach der L a n d u n g der G r u p p e auf d e u t s c h e m B o d e n 2 0 . In der B u n d e s r e p u b l i k rekrutierten sich die Spitzen v o n Staat u n d Parteien vorrangig aus den Vertretern der d u r c h d a s N S - R e g i m e ins Abseits gestoßenen p o litischen K l a s s e der Weimarer R e p u b l i k : „ D e n n es war gerade nicht die schmale G r u p p e v o n Persönlichkeiten, die Hitlers systematische A u s r o t t u n g der A n g e h ö r i g e n des Widerstands überlebt hatten, die an die Spitze des neu erstehenden deutschen Staatswesens traten « 2 1 . D i e Vertreter dieser G r u p p e hatten sich unter d e m N S - R e g i m e in die innere E m i g r a t i o n begeben u n d zu einem kleinen Teil das L a n d verlassen. Ihre Politik in den f ü n f z i g e r J a h r e n zielte auf eine A b k e h r v o m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s , jedoch mit deutlichen Präferenzen f ü r p r a g m a t i s c h e L ö s u n g e n hinsichtlich der Integration ehemaliger A n h ä n g e r des R e g i m e s . H i n z u k a m e n weitreichende personelle Kontinuitäten: I m Bereich der J u s t i z , des Militärs, des A u s w ä r t i g e n A m t s u n d im Staatsdienst k o n n t e n große Teile der N S - F u n k t i o n s e l i t e n ihre Positionen behaupten o d e r wiedererlangen. D i e vergangenheitspolitischen Interessenlagen dieser ehemaligen N S - F u n k t i o n s t r ä g e r prägten b e s o n d e r s in der A n f a n g s zeit der B u n d e s r e p u b l i k die T h e m e n u n d die T a b u s der öffentlichen Auseinand e r s e t z u n g ü b e r den N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . D i e s gilt insbesondere auch für die A u f a r b e i t u n g der R o l l e der deutschen Wehrmacht, die in der B u n d e s w e h r u n d der w e s t d e u t s c h e n Öffentlichkeit insgesamt erst sehr spät in G a n g kam. In beiden deutschen Staaten bildeten sich politische O r g a n i s a t i o n e n u n d Verb ä n d e heraus, die z u m i n d e s t f ü r eine U b e r g a n g s z e i t versuchten, die sogenannte „ F r o n t g e n e r a t i o n " u n d die große G r u p p e der N S D A P - M i t g l i e d e r politisch an sich zu binden bzw. in die neue G e s e l l s c h a f t zu integrieren. In der S B Z / D D R k a m diese intergrationspolitische R o l l e der auf Inititaive der S M A D 1948 gegründeten N a t i o n a l d e m o k r a t i s c h e n Partei D e u t s c h l a n d s ( N D P D ) z u 2 2 . D i e K o m m u n i s t e n u n d die sowjetische B e s a t z u n g s m a c h t waren v o n A n f a n g an b e m ü h t , das nationale E n g a g e m e n t , das sie bei den ehemaligen Wehrmachtangehörigen u n d N S D A P - A n h ä n g e r n vermuteten, f ü r die Belange der sowjetischen D e u t s c h l a n d p o l i t i k zu mobilisieren. Eine direkte E i n b i n d u n g dieser G r u p p e n in die bereits bestehenden Parteien des sogenannten „ d e m o k r a tischen B l o c k s " w a r w e g e n der beträchtlichen Vorbehalte gegen die „ E h e m a l i g e n " s o w o h l in den bürgerlichen Parteien C D U u n d L D P als auch bei der Basis der S E D nicht denkbar. D i e N D P D als eine neue Partei mit nationaler O r i e n tierung u n d einem spezifischen erinnerungspolitischen Profil sollte demnach eine B r ü c k e n f u n k t i o n f ü r diese speziellen B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n übernehmen u n d sie an die neue O r d n u n g binden. In den L e i p z i g e r Beschlüssen v o n 1952 formulierte der Parteivorstand der N D P D die A u f g a b e , alle M e n s c h e n anzusprechen, „die politisch o d e r militärisch unter Hitlers F a h n e n g e k ä m p f t haben
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Vgl. Leonhardt, Revolution, S. 426 f. Vgl. Mommsen, Weimar, S. 745. Siehe auch ders., 20. Juli 1944, S. 21 f. Zu Aufbau, Entwicklung und Struktur der N D P D siehe Broszat/Weber (Hrsg.), SBZHandbuch, S. 574 f.
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und folgerichtig in die totale politische und militärische Katastrophe marschiert sind" und sie für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen 23 . Zur Mobilisierung ehemaliger Wehrmachtangehöriger startete die Partei im gleichen Jahr eine großangelegte Kampagne und verschickte einen in Massenauflage gedruckten „Ruf an die deutsche Frontgeneration des zweiten Weltkrieges" 2 4 . Die lokalen Parteigliederungen wurden dazu angehalten, öffentliche Versammlungen u.a. zum Thema „Was haben wir ehemalige Soldaten zu den nationalen Streitkräften zu sagen" 2 5 ? durchzuführen. Der Erfolg dieser Aktion blieb allerdings begrenzt. Die „Frontgeneration" in der Partei repräsentierten in der Mehrzahl ehemalige Soldaten und Offiziere, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und Mitglieder des „Nationalkomitees ,Freies Deutschland'" bzw. des „Bundes deutscher Offiziere" geworden waren. Die von der N D P D initiierte Erinnerungsarbeit propagierte im Rückgriff auf diese Tradition das Motiv der Wandlung ehemaliger Soldaten und Offiziere hin zu einem neuen Nationalbewußtsein. Im parteieigenen „Verlag der Nation" erschienen in hohen Auflagen Erinnerungen prominenter Militärs, die sich von Hitler losgesagt und sich den verlustreichen Endkämpfen verweigert hatten. Diese spezifische Erinnerungsund Aufarbeitungsliteratur bot im Vergleich zur geschichtspolitischen Linie der S E D der soldatischen Erfahrungswelt einen größeren Raum und versuchte mit ihren Botschaften ehemalige Wehrmachtsoldaten in die gesellschaftspolitische Ordnung der D D R einzubinden. Allerdings wurde die N D P D trotz dieses vergangenheitspolitischen Profils nie zu einer reinen Partei der ehemaligen Wehrmachtsoldaten und NSDAP-Mitglieder. Auf lange Sicht entwickelte sie sich primär zu einer Interessenvertetung des DDR-Mittelstandes. In der Bundesrepublik versuchten vor allem Parteien und Verbände am rechten Rand des politischen Spektrums die spezifische Erfahrungswelt der ehemaligen Frontsoldaten und Wehrmachtoffiziere für ihre Interessen zu nutzen. Die sich bis zu ihrem Verbot 1952 mit beachtlichem Erfolg als Nachfolgepartei der N S D A P profilierende Sozialistische Reichspartei (SRP) mit dem Generalmajor a. D. O t t o Ernst Remer als politischem Kopf war das prägnanteste Beispiel für diese Tendenz: „Unter ehemaligen Wehrmachts- und Parteiangehörigen, aber auch unter Flüchtlingen und Vertriebenen, die die Jahre der Entnazifizierung, Internierung und des Lagerlebens als eine vielfach noch keineswegs überwundene soziale und wirtschaftliche Deklassierung erlebt hatten — nicht selten auch als schweren Sinnverlust fanden die Parolen des in seinen Uberzeugungen anscheinend ganz Unangefochtenen [Remers — J.D.] begeisterte Zustimmung me. Auf lange Sicht konnten jedoch die großen bundesdeutschen Parteien, insbe-
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Vgl. S A P M O - B A , N D P D , D Z 16, Bündel 3. D e r R u f wurde mit einer Startauflage von 5 0 0 0 0 0 Exemplaren gedruckt und sollte von den Parteieinheiten mit persönlichen Anschreiben verschickt werden. Dabei sollten auch gezielt Wehrmachtangehörige in Westdeutschland angesprochen werden. Eine Sonderauflage „auf gutem Papier" wurde an westdeutsche Politiker, Parteispitzen, Bundestagsabgeordnete und Mitglieder von Ländereregierungen versandt. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 327.
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sondere die C D U mit ihrer Integrationskraft, die in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchenden rechtsextremen Kleinparteien weitestgehend marginalisieren 27 . Insofern läßt sich für die frühe Bundesrepublik kein eindeutiges politisches Äquivalent zur ostdeutschen „Integrationspartei" NDPD ausmachen, sondern die Einbindung der ehmaligen NS-Anhänger in die parlamentarische Ordnung erfolgte weitestgehend durch die großen Volksparteien. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus erfolgte in der DDR in einem bereits relativ früh festgefügten Kanon politischer Gedenktage und damit verbundener Erinnerungsrituale. Das Schlüsseldatum für die ostdeutsche Wahrnehmung des Krieges war der 8. Mai 1945, der jährlich in einer Art politischer Symbiose mit den Siegesfeiern der sowjetischen Garantiemacht begangen wurde. In Berlin und zahlreichen anderen Orten fanden an diesem Tag organisierte Kundgebungen und Kranzniederlegungen statt, bei denen in der Regel Angehörige der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte oder sowjetische Ehrengäste zugegen waren. Die Schauplätze bildeten die zahlreichen sowjetischen Ehrenfriedhöfe und Denkmäler, wobei das am 8. Mai 1949 eingeweihte sowjetische Ehrenmal in BerlinTreptow zum zentralen symbolischen Ort dieser geschichtspolitischen Deutung des Kriegsendes durch die SED wurde. Wie nahezu bei allen politischen Gedenktagen in der DDR überwogen auch an diesem Gedenktag vordergründige Gegenwartsbezüge: Die DDR habe die historische Chance, die ihr mit der Befreiung 1945 gegeben wurde, genutzt. Zusammen mit den Kommunisten, die an der Seite der Roten Armee gekämpft hatten, waren die Ostdeutschen gewissermaßen auf die Seite der Sieger übergetreten und hatten die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen. In dieser geschichtspolitischen Konstruktion verblaßte die konkrete Erinnerung an den Nationalsozialismus und den von den Deutschen verschuldeten Krieg nahezu völlig. Faschismus und Zweiter Weltkrieg wurden zu einem abstrakten historischen Geschehen ohne Akteure. Wie defizitär dieser Umgang mit der eigenen Vergangenheit war, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß der SED-Führung oft das Gespür für die angemessenen symbolischen Formen des Gedenkens fehlte: Den 40. Jahrestag der Befreiung beging die DDR u.a. mit einer Großkundgebung am Treptower Ehrenmal, auf der FDJler vor der Kulisse eines „Lichtdomes" 28 aus Scheinwerfern und im Schein von Fackeln einen Treueschwur auf ihr sozialistisches Vaterland und die Freundschaft zur Sowjetunion leisteten 29 . Auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1939 nahm der „Internationale Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und Krieg" Bezug, der jährlich auf dem Ostberliner Bebelplatz durchgeführt wurde. Auch an diesem Gedenktag war die Erinnerung an den Krieg durch mehrere Bedeutungsebenen überlagert: Der 1. September war zugleich der Weltfriedenstag, an dem die SED ihre friedensstiftende Rolle und ihre jeweils aktuellen außen- und abrüstungspolitischen Schritte öffentlichkeits-
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Siehe dazu u. a. Schmollinger, Partei; ders., Reichspartei. Ein Stilmittel, das Leni Riefenstahl bei ihrer ästhetischen Inszenierung der Olympiade im nationalsozialistischen Deutschland benutzt hatte. Vgl. Neues Deutschland vom 9. 5. 1985.
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wirksam zu propagieren suchte. Darüber hinaus enthielt der Gedenkort einen weiteren Bezug zur Geschichte des NS-Regimes, insofern auf dem vormaligen Opernplatz 1933 die nationalsozialistische Bücherverbrennung stattgefunden hatte. Eine wichtige symbolische Funktion für die ostdeutsche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer übernahm auch die als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus" umgewidmete Neue Wache Unter den Linden. Die D D R beschloß 1956, den seit 1930 als „Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Weltkrieges" genutzten Schinkelbau als Mahnmal zu nutzen. Nach einer vom Politbüro der S E D beschlossenen Neugestaltung der Wache fand im Oktober 1969 die Einweihung statt. Der grundlegend veränderte Gedenkraum im Inneren des Baus enthielt nunmehr zwei Platten als symbolische Gräber des unbekannten Widerstandskämpfers und des unbekannten Soldaten. Hier wurden die sterblichen Uberreste eines 1945 auf dem Evakuierungsmarsch von SS-Leuten bei Zittau erschossenen KZ-Häftlings und eines in der Nähe der Gemeinde Groß-Krauscha gefallenen deutschen Soldaten sowie Urnen mit Erde aus den ehemaligen Konzentrationslagern und von Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges beigesetzt. O b w o h l diese Sinngebung des Ortes seine Nutzung für die Erinnerung an die Rolle und das Schicksal der deutschen Soldaten erlaubt hätte, diente er bis 1989 in erster Linie zur Selbstinszenierung des DDR-Antifaschismus, zu Protokollzwecken und als Aufmarschplatz für das militärische Zeremoniell des „Großen Wachaufzugs" der NVA 3 0 . Für die Bundesrepublik läßt sich demgegenüber kein geschlossenes Arsenal politischer Gedenktage und Erinnerungsrituale feststellen. Der am 17. Juni begangene „Tag der deutschen Einheit" enthielt bestenfalls am Rande Bezüge zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg. Wenn überhaupt wurden zu diesem Anlaß Parallelen zwischen dem 20. Juli 1944 und dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der D D R hergestellt 31 . Offizielle Gedenkveranstaltungen zum 8. Mai 1945 und eine damit verbundene öffentliche Wahrnehmung setzten im Westen erst sehr spät ein. Am ehesten bietet der in der Bundesrepublik seit 1950 begangene Volkstrauertag einen Pfad für die Analyse der Akzentverschiebungen in der westdeutschen Erinnerungskultur. Der auf Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wiederbelebte und in entnazifizierter Form durchgeführte Gedenktag an die „Toten zweier Kriege an den Fronten und in der Heimat" 3 2 bildete neben der individuellen Totenehrung auch den Anlaß für grundsätzliche geschichtspolitische Stellungnahmen von Politikern und nahmhaften Vertretern der Öffentlichkeit. Die auf den offiziellen Veranstaltungen zum Volkstrauertag gehaltenen Reden zeigen besonders in den fünfziger Jahren eine deutliche Verschiebung der Erinnerung an Krieg, Wehrmacht und Soldatentot. In ihnen dominieren christliche Symbole und Denkfiguren, verbunden mit häufig wiederkehrenden Metaphern für Trauer und Versöhnung. Theodor Heuss rekla-
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Zur Gcschichte der Neuen W a c h e siehe Stölzl (Hrsg.), Wache. Zur Kontroverse um den O r t siehe auch Halbach (Hrsg.), Totenkult. Vgl. W o l f r u m , Sedanstag. Vgl. Dienst am Frieden, S. 87.
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mierte in seiner Rede zum Volkstrauertag 1952 explizit die religiöse Sinngebung des Tages: Die Kreuze auf den Soldatenfriedhöfen seinen keine „bloß dekorativen Symbole und Fluchtpunkte gartenarchitektonischer Flächengestaltung", sondern „ewige Symbole des dargebrachten und des erlittenen Opfers" 3 3 . Der Krieg wurde in der Regel abstrakt und psychologisierend als von „unheilvollen Gewalten" geprägtes Ereignis, als „beispiellos grausames Dahinsterben von Millionen Menschen" 3 4 gedeutet. Auf geschichtspolitischem Gebiet trug der Volkstrauertag nicht unwesentlich zur Verfestigung eines Bildes der deutschen Wehrmacht bei, das durch soldatische Ehrbegriffe und den Gedanken der Pflichterfüllung bestimmt wurde: „Da war neben Niedrigem viel Anständigkeit und Opfermut, viel Tapferkeit und Ausharren und immer erneutes Eintreten für den anderen bis zum Letzten und Härtesten" 3 5 . Ebenso abstrakt wie die Erinnerung blieben auch die politischen Botschaften, die von diesem Gedenktag ausgingen. In der Regel handelte es sich dabei um unspezifische Mahnungen „zum Frieden und zur Verständigung" 3 6 sowie Warnrufe vor den sittlichen Abgründen der modernen Zivilisation. In beiden deutschen Staaten führte die politische Funktionalisierung der kollektiven Erinnerung an die Rolle der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zu Verdrängungen und Mythenbildungen. U m die mit dem Nationalsozialismus und dem Krieg schuldhaft verstrickten Deutschen in die deutschen Nachkriegsgesellschaften zu integrieren, wurden in Ost und West jeweils spezifische geschichtspolitische Deutungsmuster etabliert, die einen beträchtlichen Verlust an konkreter Erinnerung und Aufarbeitungsbereitschaft zur Folge hatten. D e r durch eine kritische Öffentlichkeit und den Generationenwechsel im Westen bewirkte Bewußtseinswandel konnte dieses problematische Erbe der unmittelbaren Nachkriegszeit keineswegs vollständig abtragen. Noch weniger gelang dies in der „geschlossenen Gesellschaft" der D D R , wo die geschichtspolitisch tonangebende S E D bestenfalls zu zögerlichen Kurskorrekturen und Zugeständnissen bereit war. Die seit Beginn der neunziger Jahre in Deutschland einsetzende erneute Diskussion um die Rolle der deutschen Wehrmacht resultiert nicht zuletzt aus den Verwerfungen einer geteilten Erinnerungsgeschichte der Deutschen nach 1945.
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Vgl. Rede von Bundespräsident T h e o d o r Heuss zum Volkstraucrtag 1952, in: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Hrsg.), W i r gedenken, S. 17. Vgl. Rede des Vorsitzenden des Deutschen Bundestages Hermann Ehlers zum Volkstrauertag 1951, ebd., S. 11. Vgl. Rede des Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge Walter Trepte zum Volkstrauertag 1967, ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 55; Rede des Schriftstellers Manfred Hausmann zum Volkstrauertag 1956, ebd., S. 41.
Peter Steinbach Widerstand und Wehrmacht
Vorbemerkung Zu den für den Außenstehenden besonders merkwürdigen Tatsachen des deutschen Geschichtsbewußtseins gehört die positive Würdigung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gerade durch die Bundeswehr. Dies ist erklärungsbedürftig. Denn unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galten Widerstandskämpfer ebenso wie Emigranten in Deutschland wenig. Erst in den fünfziger Jahren setzte ein Wandel ein, vor allem im Zusammenhang mit der deutschen Wiederbewaffnung. N u n wurde der militärische Widerstand zur ganz entscheidenden Legitimationsgrundlage der Bundeswehr. „Offiziere gegen Hitler" 1 - dies war nicht nur ein wichtiges Buch, sondern vor allem der Ausdruck einer Umwertung, die sicherlich nicht immer ein wirklichkeitsgetreues Bild der Mentalitäten von Militärs zeichnete. Das schwierige Problem war ja zu erklären, weshalb Militärs vor 1945 zur Fahne Hitlers standen und in der Widersetzlichkeit gegen Hitler einen Bruch ihres Eides und eine Verletzung ihrer Pflicht sahen und nach 1949 die Entscheidung für den Kampf gegen Hitler, von vielleicht einhundert Soldaten gefällt und mit dem Tode bezahlt, als moralisch geboten empfunden oder zumindest gedeutet wurde. Dies war ein bis dahin unvergleichlicher Vorgang, denn er berührte die politische Loyalität. Militärischer Gehorsam wurde bis dahin in der Regel situativ gerechtfertigt nur ganz wenige Beispiele einer prinzipiellen Rechtfertigung übergeordneter Verpflichtung standen den gängigen Versuchen entgegen, militärischen Gehorsam als ein sittliches Prinzip zu begründen. Aber es kommt nicht immer, um einen Satz des französischen Sozialhistorikers Marc Bloch zu zitieren, darauf an, herauszufinden, ob Jesus wirklich auferstanden ist; ebenso wichtig ist die Untersuchung der Frage, weshalb Menschen noch 2000 Jahre nach der Kreuzigung an diese Tatsache glauben. Geschichte als eine persönlich und situativ durchlebte vergangene Wirklichkeit wird nicht zuletzt in der Arbeit an einem individuellen Geschichtsbild in der rückblickenden Deutung verändert, und nicht selten dient dieses der Entwicklung von neuen Maßstäben politischer Moral und Ethik. Dies betrifft auch die Deutung des Widerstands - innerhalb und außerhalb der Bundeswehr. So ungewöhnlich es sein mochte, daß sich Soldaten während des Krieges gegen die eigene Führung wandten, so ungewöhnlich ist es, diese Auflehnung positiv in ein Geschichtsbild der Angehörigen der demokratisch kontrollierten bewaffneten Macht zu integrieren. Dieser Vorgang bedarf ebenso der Untersuchung wie die Realgeschichte, und dies um so mehr, je weniger sich die Rezeption von Realgeschichte trennen läßt. 1
Schiabrendorff, Offiziere.
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Der hier vorgelegte Beitrag bildet den Versuch, die Frage zu beantworten, inwieweit dem erfolglosen Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 in historischpolitischer und nicht zuletzt auch in politisch-pädagogischer Perspektive eine Bedeutung gegeben werden kann, die weit über das faktische Scheitern des Versuches hinaus weist, Hitler auszuschalten und den deutschen Dingen eine andere Richtung zu geben. Bei jeder Beschäftigung mit der Vergangenheit müssen sich die Nachgeborenen entschieden in ihr Bewußtsein rufen, daß die Geschichte, also die vergangene Wirklichkeit, nicht immer identisch ist mit dem Bild, das wir uns von ihr machen. Dies gilt aber auch für Zeitgenossen, die sich gern als Zeitzeugen bezeichnen und auf diese Weise eine besondere Rolle für die Erschließung der Vergangenheit spielen. Für die Geschichte des Widerstands gilt, wie für kaum einen Bereich der Zeitgeschichte, daß spätere Erinnerungsschichten frühere Erlebnisschichten überlagern und verändern können. Die Empörung über den Anschlag, die 1944 vorherrschend war, kann so schon zehn Jahre später vergessen sein. Je weiter wir uns von den Ereignissen entfernen, desto schwieriger ist es, diese Verdrängung zu verstehen - und vielleicht resultieren gerade aus diesen Verdrängungen manche der Auseinandersetzungen um die Zeitgeschichte, die eigentlich nur geschichtspolitisch bedeutsame oder ausgetragene Deutungskonflikte sind. Hat Ernst Nolte die Zeit des Nationalsozialismus einmal zutreffend durch ihre Unvergänglichkeit charakterisiert, so gilt für den Widerstand und seine Geschichte ja ein ganz anderes Phänomen. Je weiter wir uns von der Zeit des „Dritten Reiches" entfernen, um so größer scheint die Zahl derjenigen zu werden, die sich der Regimegegnerschaft zurechnen. Axel von dem Bussche, unstreitig einer der bedeutenden deutschen Regimegegner, pflegte deshalb auch immer wieder schmunzelnd zu betonen, in der Geschichte habe es drei hoffnungslos überladene Boote gegeben: Die Arche Noah, die M a y f l o w e r und den Dampfer deutscher Widerstand. Dieses Diktum der Uberladung gilt zumindest für den Bereich des militärischen Widerstands, denn die Zahl derjenigen Offiziere, die sich in den „engsten Kreis" der aktiven Konspiration begaben, in jenen Kreis, in dem man schließlich ohne Deckung und auch Rückhalt agieren mußte, war denkbar klein; diejenigen aber, die Sach- und Zielkonflikte diskutierten, die versuchten, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen, war schon größer, und die Zahl derjenigen, die im Umfeld der Verschwörer und Regimegegner Funktionen hatten, war noch einmal stärker. Hinzu kamen Veränderungen an Entschiedenheit und Zugehörigkeit im Zeitverlauf. Wir bewegen uns also auf einem sehr schwierigen und unsicheren Terrain. Der Widerstand in der Wehrmacht wuchs im Rückblick dennoch, nimmt man etwa eine durchaus problematische Quelle wie Schlabrendorffs Bericht „Offiziere gegen Hitler" als Ausgangspunkt, weniger an Zahl als vor allem an politischer und politisch-pädagogischer Bedeutung. Insbesondere seit den fünfziger Jahren rückten frühere Verbindungen, Gespräche, Andeutungen in das Bewußtsein der unmittelbar Beteiligten oder auch weitläufig durch den Problembereich Berührten und in den Blick der Nachlebenden. Denn seit den fünfziger Jahren wuchs die Wertschätzung des Widerstands, zum einen in der öffent-
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liehen Wahrnehmung, zum anderen aber auch im Zusammenhang mit der Eingliederung der Angehörigen alter Führungsgruppen in das neue politische und administrative System. Es konnte sich nun politisch und karrieremäßig durchaus positiv auswirken, wenn man dem Widerstand zugehört hatte. Norbert Frei hat jüngst zeigen können, wie die Erinnerung an den Widerstand nicht nur politisch, sondern auch karrieretaktisch instrumentalisiert wurde. Andererseits war es unabdingbar, die Konflikte zu transformieren 2 . Eine Hemmung z . B . entstand nämlich für die Rechtfertigung des Durchhaltewillens ehemaliger Offiziere im Hinblick auf die westlichen Alliierten; ganz anders lauteten die Argumente jedoch im Falle von deren Kriegsverbündeten. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Roten Armee wurden deshalb, übrigens bis heute, Entlastungsgründe konstruiert, etwa jenes Argument, man habe nicht eine Diktatur durch eine andere ersetzen, nicht den Teufel Hitler durch den Beelzebub Stalin ersetzen wollen, was logischerweise bedeutete, daß man weiter zum NS-Staat stehen mußte. In den Kriegsjahren läßt sich dieses Argument nicht finden; es wird erst anschließend verwendet. Und dies gilt auch für ein anderes gravierendes Beispiel, die Verstrickung in die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Unbestreitbar ist, daß die NS-Führung immer erwogen, als Möglichkeit ins Auge gefaßt oder sogar angestrebt hatte, im Zusammenhang mit dem Krieg zentrale rassenpolitische oder ethnische Ziele zu verfolgen. Seit 1939 standen sie neben den militärischen Zielen oder rückten sogar, wie Martin Broszat 3 plausibel zu machen versuchte, gegenüber den taktischen und strategischen Überlegungen in den Vordergrund. Dies hatte natürlich Folgen für die Bewertung militärischer Funktionen und Aktivitäten. Moralisch äußerst problematisch wurde dieser Zusammenhang, wenn sich die Verstrickungen dramatisch zuspitzten. Deutlich läßt sich dies an der Person von Arthur Nebe machen. Er hatte eine Einsatzgruppe übernommen, die weit über 45 000 Morde beging, derselbe Nebe, der am 20. Juli ein wichtiger Verbündeter des Umsturzversuches war. Regimegegner hätten ihn veranlaßt, sich dem Kommando in der Einsatzgruppe zu fügen, um nicht die Widerstandsaktionen zu gefährden, las man später bei Schlabrendorff. Dies war mit Sicherheit eine rückwärtsorientierte Argumentation, denn als N e b e die Einsatzgruppe führte, war noch gar nicht von den späteren Aktionen die Rede. Auch hier wird deutlich, wie spätere Fragen an die Erinnerung zu einer Verzerrung der vergangenen Wirklichkeit führten. U n d es lassen sich weitere Beispiele dieser Art finden. In der Zukunft werden mit Sicherheit immer häufiger die aus derartigen Interpretationsproblemen resultierenden Fragen gestellt werden. Die Diskussion hat begonnen, etwa im Hinblick auf die Entwicklung des Widerstands in der Heeresgruppe Mitte, im Hinblick auf den Kampf gegen Partisanen, im Hinblick auf die Verantwortung des Militärs auch für das Scheitern des Umsturzversuches selbst. Lebensgeschichtlich geprägte Deutungen können nur solange die Interpretation der Fakten und Quellen beeinflussen, wie Zeitzeugen ihre Deutungskompetenz durchsetzen können. Im Laufe der Generationen durch die Zeit 2 3
Frei, Vergangenheitspolitik. Broszat, Nationalsozialismus.
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verändern sich auch die Perspektiven. Deutlich wird dies an der Beantwortung weiterer Fragen aus dem Komplex „Widerstand und Wehrmacht", etwa nach der Bedeutung der Desertion oder der politischen Betätigung aus der Kriegsgefangenschaft in Ost und West heraus. Das ist nicht allein ein Frage der Widerstandsdefinition, sondern auch der generationsspezifischen Bewertung des NSStaates. Tröstlich ist nur, daß diese Beobachtung für alle Bereiche zu gelten scheint, für den Diplomatischen Dienst ebenso wie für die Justiz, die Kirchen, die Hochschulen. So ist es heute eigentlich ein Gemeinplatz festzustellen, daß das, was in den ersten Jahren der Bundesrepublik für den Diplomatischen Dienst galt, sich dann seit der Mitte der fünfziger Jahre auch für den Dienst in der Bundeswehr feststellen ließ. Außerdem muß man Unterschiede der Adressaten berücksichtigen: Zumindest nach außen war es sinnvoll, auf Wurzeln der beiden Säulen staatlicher Selbstdarstellung - Auswärtiger Dienst und bewaffnete Macht - im Widerstand zu verweisen; intern ließ sich dieses Bild nicht immer durchsetzen, wie die Erinnerungen von Diplomaten und Offizieren zeigen. An dieser Stelle ist das Thema allerdings nicht primär die Rezeption des Widerstands in der Bundeswehr nach 1955, sondern die Frage nach dem historischen „Widerstand" in der Wehrmacht. Gerade durch die Hamburger Wehrmachtsausstellung 4 ist dieser Zusammenhang seit 1995 problematisch und auch prekär geworden. Probleme erwachsen dabei zunächst aus grundlegenden Schwierigkeiten. 1. Wer nicht in der Lage ist anzuerkennen, daß nach 1939 Kriegführung und die Verübung politisch entschiedener Verbrechen eine denkbar enge Verbindung eingingen, wird Schwierigkeiten haben, die Verstrickungsproblematik zu reflektieren. Es ist unbestreitbar, daß die NS-Führung planvoll und auch situativ rassenpolitische Ziele verfolgt hat und im Zusammenhang mit der Kriegführung erreichen wollte. 2. Wer nicht anerkennen kann, daß in einer Diktatur die Grenzen zwischen K o operation und Verstrickung immer fließend sind, wer zudem nicht konzedieren will, daß im Zuge der Kriegführung die Zahl der Nichtverstrickten, der Schuldlosen drastisch abnimmt, wird immer Schwierigkeiten haben, die Verstrickung der Wehrmacht und ihrer Soldaten in den nationalsozialistischen Rassen- und Weltanschauungskrieg anzuerkennen. 3. Exemplarisch werden die angedeuteten Probleme in der Debatte über die Hamburger Ausstellung deutlich. Gewiß wurden dabei nicht immer korrekte Zuordnungen, Verbindungen und Zufälle beachtet, und nicht selten spielte auch der Wunsch eine Rolle, durch die Betonung der eigenen Zugehörigkeit ein wenig von der Reputation zu profitieren, die der Widerstand allmählich, vor allem seit den fünfziger Jahren, gewann. Diese Taktik der Identifikation läßt sich in vielen Institutionen beobachten, in den Kirchen ebenso wie in der Abwehr oder in der Wehrmacht. Sie tendiert dazu, auch das Bild des historisch realen Widerstands zu beeinflussen. Denn in dieser Argumentation, die die Regimegegner in einer Art Stellvertreterschaft für Institutionen rückt, ist die nach-
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Ausst.-Kat. Vernichtungskrieg; H e e r / N a u m a n n (Hrsg.), Vernichtungskrieg.
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trägliche Konstruktion von Zusammenhängen angelegt, die sich geschichtspolitisch fruchtbar machen läßt. Dies heißt also nicht, daß alles so war, wie man es sehen wollte. U n d das bedeutet, daß wir neben den Ereignissen auch die Deutungsgeschichte in den Blick nehmen müssen. Die Nachwirkungen dieser Deutungen und wohl auch Verdrängungen haben wir in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit einer intensiven Diskussion über das Verhältnis von Wehrmacht zum nationalsozialistischen Vernichtungs- und Rassenkrieg gespürt - hatte man lange Zeit ein Bild gepflegt, daß die Wehrmacht geradezu als Fluchtpunkt einer inneren Emigration, als Ort der Unverstricktheit sichtbar machte, so nahm die öffentliche Diskussion schließlich einen ganz anderen Verlauf. Auf diese Erörterung zu reagieren, indem man sich auf Gegenbeispiele bezog, konnte nur dazu führen, daß wiederum auf andere Beweise verwiesen wurde. Selten hat eine Ausstellungsdiskussion so deutlich gemacht, daß es nicht um den Ausstellungsgegenstand, sondern um das Verhältnis der Öffentlichkeit zu diesem ging. Die Wehrmachtsausstellung positionierte, nicht zuletzt, weil es politische Gruppen und Einzelne gab, die diese Positionierung mit allen ihnen möglichen Mitteln vorbereiteten. Dabei hätte sich das Interesse der Öffentlichkeit und deren durch Medien vermittelte Neigung miteinander verbinden lassen, nämlich zum einen die Diskussion über den „verbrecherischen Charakter" der Wehrmacht wieder aufzunehmen, die erstmals bereits im Umkreis der Nürnberger Prozesse unmittelbar nach Kriegsende stattgefunden hatte, zum anderen aber auch die Auseinandersetzung über die Verstrickung der Wehrmacht in einen verbrecherischen Krieg - und das heißt auch die Verstrickung des Soldaten in verbrecherische Befehle zu führen. Dies wäre dann eine Diskussion über Handlungsspielräume der Militärs aller Dienstgrade gewesen und hätte zugleich die Möglichkeit eröffnet, Lebens- und Systemgeschichte zu trennen. Denn diese Trennung ist, wie alle Diskussionen über die Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit zeigen, eine entscheidende Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit persönlicher Geschichte und den „großen Ereignissen". Auf eine unübertreffliche Weise hat gerade dies Richard von Weizsäcker in seinen soeben veröffentlichten Erinnerungen betont und daraus einen zwar kritischen, aber doch konstruktiven Umgang mit der Wehrmachtausstellung abgeleitet 5 . Viel entscheidender als diese Auseinandersetzung über die Grenzen des Gehorsams und die angemessene Reaktion auf rechtswidrige und gesetzlose Befehle wurde aber eine nachgezogene Diskussion, die ersichtlich im Schatten der fünfziger Jahre stand. Denn in jenen Jahren bewegte die meisten Deutschen das Problem einer Kontinuität von Wehrmacht und Bundeswehr. Das wurde zum einen durch die Wiederbewaffnungsprobleme, zum anderen aber auch durch die seitens der SED-Führung angestoßenen Erörterungen beeinflußt, die insbesondere das sogenannte Braunbuch 6 geprägt hatten. Zum anderen spiegelte sich in dieser Akzentuierung die öffentliche Auseinandersetzung der frühen fünfzi-
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Weiszäcker, Zeiten. Braunbuch.
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ger Jahre über die Kriegsverbrecher, schließlich über die Traditionsbildung der Bundeswehr in der Anfangsphase ihrer Geschichte. Heute nimmt der Widerstand gegen den Nationalsozialismus einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis ein und hat insbesondere auch für das Geschichtsbild, welches in der Bundeswehr vermittelt wird, eine große Bedeutung. Dies heißt aber unvermeidlich, daß dieser zeithistorisch wichtige Bereich in besonderer Weise in der Gefahr steht, rückwirkend die Wahrnehmung der vergangenen Wirklichkeit zu verändern. Diese Andeutung besagt mehr als die Warnung vor der Eule der Minerva. In der Tat kann der Historiker nur der rückwärtsgewandte Prophet sein, weil er weiß, was sich ereignet hat. Er vergißt zu leicht, daß er davon nur weiß, weil es sich ereignet hat. Im Hinblick auf den Widerstand ist diese Lage noch komplizierter, denn dieses Ereignis wird in der späteren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit deshalb bedeutsam, weil die Geschichte moralisch gedeutet wird und daher ethische Konsequenzen hat. Unbestreitbar ist: Wohl kein in eine Katastrophe mündendes Ereignis deutscher Geschichte, und ganz sicher kein weiteres aus der deutschen Zeitgeschichte, ist in der Weise als ein entscheidendes Datum deutscher Geschichte gedeutet worden wie der mißlungene Anschlag, den Claus Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juli 1944 auf Hitler verübt hat. Unbestreitbar ist ebenso, daß dieses Attentat endgültig schon wenige Stunden nach seiner Ausführung scheiterte und deshalb eine Wirkung entfaltete, die keiner der Verschwörer beabsichtigt hatte. Dennoch wird es immer wieder als ein Glanzpunkt deutscher Geschichte bezeichnet. Dies ist nur dann nicht überraschend, wenn man sich bewußt macht, daß die Rezeption dieses verhängnisvoll gescheiterten Bombenanschlags derjenigen vieler anderer Attentate ähnlich ist, die nicht zu ihrem Ziel geführt haben und dennoch einen festen Platz in der kollektiven Erinnerung von Nationen und Gesellschaften finden konnten. Das Attentat auf Hitler selbst wurde von den Regimegegnern nach dem von Schlabrendorff überlieferten Diktum von Henning von Tresckow vor allem symbolisch gedeutet und deshalb einer wirkungsgeschichtlichen Deutung enthoben. Es galt als Zeichen eines „anderen Deutschland", und das hieß schon wenige Jahre nach dem Ende des NS-Staates, eines neu entstehenden Deutschland, das vielleicht einmal wegen der Tat, die den Zeitgenossen nicht selten als Verrat galt, den Weg in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückfinden würde. Hier drückte sich eine Hoffnung aus, die allerdings geschichtswissenschaftlich viele Probleme aufwirft. Denn dieser Satz ist erst lange Zeit, nachdem er gesprochen wurde, überliefert worden, und er veränderte sich von Auflage zu Auflage des Erinnerungsbuches von Schlabrendorff. So ist heute geradezu spürbar, in welchem Umfang dieser Satz zur Brücke über den Epochenbruch hinweg wurde. Die Gefahr dieses Zitats liegt darin, daß aus der Hoffnung eines Einzelnen in dunkler Zeit Mitte der fünfziger Jahre rasch ein Anspruch, schließlich eine Behauptung wurde, die den Nachlebenden kaum mehr motivieren konnte, noch einmal genauer nachzufragen und den Kontext dieser apodiktischen Behauptung und der mehr als erstaunlichen Tat zu reflektieren. Denn welcher Offizier wäre bereit, in einer kritischen Phase militärischer Auseinandersetzung seinem Staat eher die Niederlage als den Sieg zu wünschen, um das Gemeinwesen vor weiterem Verderben zu bewahren? Der Konsequenz dieses
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Wunsches, der den verbrecherischen Charakter eines Systems reflektierte, das mit anderen Kameraden zusammen verteidigt wurde, wich man aus, indem man sich auf das nachfolgende Gemeinwesen konzentrierte. N u r allzu dankbar nutzte man den Ausweg, den die Behauptung bot, der militärische Widerstand vor allem habe die Existenz eines anderen und besseren Deutschland bewiesen. Dieses Zitat lud zur Identifikation mit dem Widerstand ein und erleichterte die Verdrängung aller Absetzungs-, Distanzierungs- und auch Diffamierungsversuche, die gerade im Militär nach dem Anschlag vom 20. Juli 1944 Verbreitung gefunden hatten. Erst in den fünfziger Jahren trat ein Wandel ein, zunächst in der offiziellen Erinnerung, zunehmend dann auch in den Truppenverbänden. Dennoch bleibt im Hinblick auf das Attentat, das hier im Mittelpunkt der Überlegungen stehen soll, die große Diskrepanz zwischen Ereignis, Wirkung und Erinnerung überraschend, welche das Spannungsverhältnis zwischen der tatsächlichen Bedeutung dieses Tages und einer würdigenden Deutung durch die Nachlebenden ausmacht. Dies gilt besonders angesichts der Katastrophe, die sich in Europa während des Zweiten Weltkrieges vollzogen hat. Denn angesichts dessen, was in den weiteren Monaten nach dem Anschlag folgte, muß man den beabsichtigten möglichen Erfolg fast unausweichlich zum Maßstab historischer Urteilsbildung machen. Die Umsturzbemühungen der Beteiligten hatten überdies Weiterungen: Sie mündeten bekanntlich nicht in einem völligen Fehlschlag, sondern in dem Blutbad, das die NS-Führung durch den Volksgerichtshof unter den Regimegegnern anrichtete. So ist der Anschlag mit der Ausschaltung des Kerns einer nationalsozialistischen Gegenelite verbunden, deren Angehörige ein Gutteil der Erneuerungskraft repräsentierten. Sie konnten so zugleich dem weiteren Verlauf der Dinge vor und nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht keine Wendung geben. Markierten die Ereignisse des 20. Juli 1944 aber wirklich nur eine weitere Etappe auf dem Weg in die Niederlage, machten sie tatsächlich nur die Trostlosigkeit eines unaufhaltsamen Sturzes in einen Abgrund deutlich, oder läßt sich der Fehlschlag auch anders interpretieren? Dies hat man zu allen Zeiten und immer wieder nach 1945 versucht. Deshalb sind die Stereotype dieser Argumentation gut bekannt. Sprachen die Nationalsozialisten mit Hitler in den Tagen nach dem Umsturzversuch zunächst „von ehrgeizzerfressenen und ehrlosen Verrätern", die sich gegen die „Vorsehung" gestellt hätten, so wollten manche Deutschen in den Regimegegnern bald nach 1945 vor allem die Vertreter eines „anderen Deutschland", sogar „Gerechte" im Sinne des Alten Testaments, zumindest aber Repräsentanten eines diese „aufrechten Patrioten" bevollmächtigenden Gewissens sehen. Sie seien im Einklang mit ihrer nicht nur selbstlos, sondern bald auch radikal wahrgenommenen historischen Verantwortung geradezu mit einer „Vollmacht" ausgestattet gewesen und hätten einfach angesichts der von ihnen empfundenen Verantwortung „aufstehen" müssen. Dankbar griff man deshalb eine oftmals zitierte, mit Sicherheit aber nicht authentische Äußerung von Winston Churchill 7 aus dem Herbst 1946 auf, die
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Vgl. zum Gesamtkomplex Müller/Dilks (Hrsg.), Großbritannien.
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aus einer - nur mit dem Attribut „angeblich" zu versehenden - Unterhausrede zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus stammen sollte und im Widerstand die Voraussetzung für die Rückkehr aller Deutschen in den Kreis der zivilisierten Nationen gesehen hätte 8 . Churchills Ausspruch läßt sich trotz systematischer Suche nicht zeitursprünglich belegen 9 und somit als authentisch nachweisen, aber er stellte durch ständige Wiederholung bei Gedenkveranstaltungen bald wesentlich mehr als ein Zitat dar: Er wurde fast zu einer ganz unbezweifelbaren oder doch nur herbeigeredeten Wirklichkeit. Heroisierungen geschichtlicher Ereignisse und Personen lassen sich aber niemals dauerhaft begründen. Deshalb verdunkelte eine kritische zeitgeschichtliche Forschung schon bald nach Kriegsende das so verklärend gezeichnete Bild des Widerstandes. Zeithistoriker entdeckten Anfang der sechziger Jahre zahlreiche und, demokratietheoretisch gesehen, höchst bedenkliche Aussagen der Regimegegner, betonten immer wieder die Verstrickungen mancher von ihnen in das NS-System und bezweifelten schließlich sogar generell die moralische Lauterkeit mancher ihrer Entscheidungen. Sie maßen die Regimegegner dabei letztlich aber doch nur an einem anderen Modell als dem so oft beschworenen „anderen" und „besseren" Deutschland, nämlich an dem Bild des „aufrechten Demokraten", der zu allen Zeiten fest auf dem Boden der - ohne Zweifel vorkonstititutionell gedachten - freiheitlich-demokratischen, parlamentarischen Grundordnung gestanden haben mußte 10 . Hinzu kamen die Stammtischstrategen, die natürlich, versteht sich, alles viel besser gemacht hätten als die Attentäter selbst. Ganz unterschiedliche Argumente waren zu vernehmen. Sie reichten von der Beschwörung der kameradschaftlichen Opferbereitschaft des Soldaten, auch seiner Tapferkeit, die „man" selbst bis zum Kriegsende bewiesen hätte (wobei verklärt wurde, daß viele auf diese Weise bis zum letzten Tag zu jener Fahne standen, die Stauffenberg und seine Freunde ablehnten), bis zur Kritik an der Vorbereitung und Durchführung der Aktion selbst. Und dies alles wurde gepaart mit einem kräftigen Schuß Kritik an den Offizieren, die eigentlich „nur ihre Haut zu retten versucht" hätten. Die erwähnten Positionen wurden geprägt durch das Selbstbewußtsein rückwärts gewandter Propheten, die allein aus dem Wissen um den Ausgang 8
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D a s Zitat lautete w ö r t l i c h : „In D e u t s c h l a n d lebte eine O p p o s i t i o n , die d u r c h ihre O p f e r und eine e n t n e r v e n d e internationale Politik i m m e r s c h w ä c h e r w u r d e , aber zu dem Edelsten u n d G r ö ß t e n gehört, w a s in d e r politischen Geschichte aller V ö l k e r je h e r v o r g e b r a c h t w u r d e . Diese M ä n n e r k ä m p f t e n o h n e eine H i l f e v o n innen o d e r außen - einzig getrieben v o n der U n r u h e ihres G e w i s s e n s . S o lange sie lebten, w a r e n sie f ü r uns unsichtbar und u n e r k e n n b a r , weil sie sich tarnen m u ß t e n . A b e r an den T o t e n ist der W i d e r s t a n d sichtbar g e w o r d e n . Diese T o t e n v e r m ö g e n nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. A b e r ihre Taten u n d O p f e r sind das F u n d a m e n t eines neuen A u f b a u s . W i r h o f f e n auf die Zeit, in d e r das heroische Kapitel der innerdeutschen Geschichte eine gerechte W ü r d i g u n g f i n d e n w i r d " , zit. n. R o y c e (Bearb.), 20. Juli 1 9 4 4 , S . 1 7 7 , einer Buchausgabe d e r e r w e i t e r t e n Sonderausgabe der W o c h e n z e i t u n g „Das Parlament" z u m 20. Juli 1 9 4 4 im Jahre 1952. H a n s R o t h f e l s e r w ä h n t das Zitat 1 9 4 8 noch nicht u n d setzt sich auch in den folgenden A u f l a g e n seines Buches nicht damit auseinander. Dies ist z u m i n d e s t ein H i n w e i s auf die s p ü r b a r e Z u r ü c k h a l t u n g gegenüber diesem Zitat, das meines Erachtens erstmals 1 9 5 2 in der Sonderausgabe d e r W o c h e n z e i t u n g „Das Parlament" publiziert w u r d e . Vgl. allgemein Steinbach, W i d e r s t a n d .
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einer Sache die Sicherheit ableiten wollten, den Anschlag besser als die eigentlich Handelnden geplant und durchgeführt zu haben. Gewiß ist der Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 historisch trotz seines Fehlschlages bemerkenswert. Für manche Historiker gilt dies, weil die deutsche Geschichte nur wenige markante Beispiele eines ähnlich konsequenten Übergriffs nationaler oder konservativer Kreise auf die Obrigkeit aufweist. Attentate werden in der Regel von Angehörigen unterschiedlich motivierter Gruppen verübt, die oftmals extremen Kräften zugerechnet oder diesen zugeordnet werden können und rücksichtslos ihre Gruppenziele durchsetzen wollen, aber nicht beabsichtigen, „den Bestand der Nation" - wie Ludwig Beck schon 1938 betont hatte - durch einen Anschlag zu retten. Der deutsche Widerstand war hingegen in der Tat unübersehbar „nationalkonservativ" geprägt, vor allem im Umfeld des 20. Juli 1944, und er zeichnete sich dabei durch die gelungene Integration unterschiedlicher Gruppen und Ziele aus. Die Betonung der nationalkonservativen Substanz des Widerstands führte zuweilen sogar zu neuen Überhöhungen des Widerstands, die weniger aus der Zeit seines Handelns als aus dem politisch-moralischen Impetus der Nachlebenden erklärt werden können. So schrieb etwa der angesehene Kieler Historiker Karl-Dietrich Erdmann, die Tatsache, daß „der Putsch überhaupt unternommen" wurde, habe „der ältesten und opferreichsten Widerstandsbewegung in Europa ihren historischen Rang" gegeben 11 , obwohl im Grunde keine Hoffnung mehr bestanden hätte, „hierdurch Deutschland vor dem militärischen Zusammenbruch retten" zu können. In einem einzigen Satz finden sich hier alle Elemente historiographischer Überhöhung, denn es ist fraglich, ob die Lage wirklich so hoffnungslos war, es ist fragwürdig, ob die Verhinderung des militärischen Zusammenbruchs wirklich das zentrale Ziel des Widerstands darstellte, und schließlich ist es gewiß trotz aller Sympathie für die Regimegegner nicht richtig, gar von der ältesten oder opferreichsten europäischen Widerstandsbewegung zu sprechen. Hans Rothfels, der Nestor der deutschen Zeitgeschichtsforschung, hatte wenige Jahre vor Erdmann die Bedeutung des gescheiterten Umsturzversuches zurückhaltender darin gesehen, daß das Attentat zumindest dem Ziel „denkbar nahe" 12 gekommen sei, Hitler auszuschalten. Andere Historiker wiederum hatten das Ereignis dieses Tages hervorgehoben, weil sie in der Tat Stauffenbergs den Ansatz für eine moralische Entlastung des deutschen Volkes sehen wollten. Auch hier wurde wiederum ein Deutungszusammenhang sichtbar, der den Blick auf das Ereignis verstellte, indem grundsätzliche Dimensionen der Tat und ihres Umfeldes hervorgehoben wurden, die politisch-ethische Bereiche berührten und so den Historiker mit den Herausforderungen des Gedenkredners 11
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E r d m a n n , Weltkrieg, S. 578, steht mit dieser F o r m u l i e r u n g u n v e r k e n n b a r unter dem Eind r u c k des Churchill-Zitats. Rothfels, O p p o s i t i o n . Diese N e u a u s g a b e ging auf einen 1947 in Chicago gehaltenen, ein J a h r später z u m Buch erweiterten (Hinsdale 111.) Vortrag zurück, das 1949 auch in deutscher U b e r s e t z u n g (Krefeld) erschienen war und 1958 dann in einer erweiterten Taschenbuchausgabe erschien, die innerhalb von sechs Jahren in mehr als 120000 Exemplaren verbreitet w u r d e .
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konfrontierten. Auf eine unvergleichliche Weise hat Thykidides 13 diese wohl grundsätzliche Schwierigkeit eines angemessenen Erinnerns im Anblick der Uberlebenden Perikles in der ersten großen Totenrede in den Munde gelegt. Alle Deutungen, die sich um andere vermehren ließen, stecken aber nur den Rahmen einer möglichen Beleuchtung ab, in dem es zum einen um die Bewertung des Ereignisses, zum anderen um die Beurteilung seiner Nachwirkung gehen muß. Stauffenbergs Tat und die Erinnerung an seinen Kreis haben hingegen seit den fünfziger Jahren einen unbestreitbar festen Platz in der deutschen Erinnerungskultur und Gedenkpolitik, damit auch im zunächst westdeutschen Geschichtsbewußtsein gefunden. Selbst in der D D R versuchte man, ihn, wenngleich auf eine viel problematischere Art, zu würdigen 14 . Dies gilt auch für andere Gruppen des Widerstands wie die „Weiße Rose" und den „20. Juli 1944", bei denen es uns schwer fällt, Fiktion und Wirklichkeit auseinanderzuhalten oder gar die historische Uberlieferung gegen Geschichtsbilder zu bewahren, die durch Fiktionen geschaffen worden sind und so tendenziell Imaginationen zum entscheidenden Kriterium gelungener geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktionsversuche machen. Es gibt ja nicht nur die ungeschehene Geschichte, die uns herausfordert, also das „was wäre wenn", sondern es gibt eben auch die fiktive Historie des „als ob". In den immer spürbaren Neigungen der Nachlebenden, die nicht selten Uberlebende waren, den Widerstand umzubewerten, wird ein grundlegendes Dilemma des Widerstands sichtbar. Es kann nicht darum gehen, durch den Hinweis auf die Regimegegnerschaft zu versuchen, einen positiven Posten auf dem deutschen Leistungs- oder - kirchlich gesprochen - auf dem nationalen Gnadenkonto zu verzeichnen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sich im Widerstand Handlungsalternativen verkörperten, die verdeutlichen, daß es nicht nur Anpassung, Mitmachen, Folgen, Gehorchen und Rettung der eigenen Haut gab - dann wiegen die Lasten der deutschen Geschichte noch schwerer. Widerstand im NS-Staat wird so zum Exempel anderer Verhaltensmöglichkeiten, die Menschen hatten und haben werden, die in Diktaturen leben - dies ist wohl die bleibende Bedeutung eines zeitgeschichtlichen Bereichs unserer Geschichte, die so arm ist an Beispielen der Selbstbehauptung und die sich so schwer tut mit dem Respekt vor jenen, die couragiert der Bürgergesellschaft den Geist durch beispielhaftes Verhalten einhauchen wollten. Konnte man den Widerstand nach dem Krieg hüben wie drüben auch benutzen wollen, um die im Zuge des Systemkonflikts entstandenen beiden deutschen Teilstaaten moralisch zu legitimieren, so hatte man doch wenig Erfolg damit.
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„Es ist nämlich schwer, das rechte Maß der Rede zu treffen, wo man auch die Vorstellungen, die jeder sich von der Wahrheit macht, kaum bestätigen kann: denn der wohlwollende H ö r e r , der dabei war, wird leicht finden, die Darstellung bliebe hinter seinem Wunsch und Wissen zurück, und der unkundige, es sei doch manches übertrieben, aus Neid, wenn er von Dingen hört, die seine Kraft übersteigen. Denn so weit ist das L o b erträglich, das andern gespendet wird, als jeder sich fähig dünkt, wie er's gehört hat, auch zu handeln; was darüber hinausgeht, wird aus Neid auch nicht mehr geglaubt." Thykidides, Geschichte des Peleponnesischen Krieges, II 35. Finker, Stauffenberg.
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Nach der Proklamation eines „Aufstands des Gewissens", nach der Deutung des Widerstands des 20. Juli 1944 als faktische Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland blieben schmerzende Nachfragen nicht aus: Das Wogegen war klar, das Wofür aber nicht, denn es wurde immer deutlicher, in welchem Maße der Widerstand selbst auch das Produkt deutscher Geschichte war. Tief verwurzelt in der Struktur der obrigkeitsstaatlich geprägten Gesellschaft, teilte der aus der „Vollmacht des Gewissens" so selbstgewiß legitimierte und als „Aufstand des Gewissens" gedeutete Widerstand Prägungen der deutschen politischen Kultur. U n d das gilt in besonderem Maße für den militärischen Widerstand. Dies kann aber nicht alles sein, denn nur nach den Ordnungsvorstellungen zu fragen, hieße, die jeweils individuellen Voraussetzungen eines rigiden Widerspruchs nicht erfassen zu können. Wegen seiner Verbindungen läßt sich wohl kaum ein zweites Beispiel militärischen Widerstands finden, das derart eindrucksvoll den Weg zur Breite und Vielfalt des Widerstands im „Dritten Reich" bahnen hülfe. Deshalb sei zum Abschluß ein Blick auf das geworfen, was militärischen und zivilen Widerstand verbindet. In diesem Zusammenhang lassen sich wiederum nur einige Aspekte betonen. Der eine soll die Frage des soldatischen Widerstands berühren, der andere die Kooperation von militärischen und zivilen Widerstandsgruppen. Auch dem „zivilen" Widerstandshistoriker mag es so anstehen, sich mit den spezifischen Voraussetzungen einer Rezeption des Widerstands durch funktionale Gruppen wie das Militär zu befassen. Denn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kooperierten wohl erstmals in dieser Form zivile und militärische Kreise, ohne ihr jeweiliges Selbstverständnis preiszugeben. Ohne Zweifel muß dabei dem Zivilisten zunächst das Moralgefüge des Soldaten fremd bleiben, also jene Zusammenhänge zwischen Befehl und Gehorsam, zwischen Eid und Verpflichtung, zwischen dem soldatischen Gelöbnis und der soldatischen Bereitschaft zum Einsatz des Lebens, die als spezifisch militärisch empfunden werden. Fremd sind dem Zivilisten auch die Umstände und die Voraussetzungen militärischer Tapferkeit. Aber wenn zutreffend ist, daß die Angehörigen der bewaffneten Macht seit dem Aufbau der Bundeswehr als einer Armee in einem demokratisch legitimierten, parlamentarischen Rechtsstaat die grundlegenden Wertvorstellungen der liberaldemokratischen Bürgergesellschaft teilen, darf es keine Rechtfertigung dafür geben, als „Zivilist" nicht auch über die spezifischen Voraussetzungen „militärischen Widerstands" nachzudenken, also über das Grundproblem des soldatischen Widerstands als einer besonderen Form soldatischen Handelns, das sich übergesetzlichen Normen unterwerfen muß und sich an diesen Normen auszuweisen hat. Überdies ist seit dem Anschlag auf Hitler die Differenz zwischen dem soldatischen Widerstand und dem Widerstand der Zivilisten wenn auch nicht aufgehoben, so doch weitgehend angeglichen und aufeinander bezogen worden. Soldatischer Widerstand im „Dritten Reich" zielte nicht auf den Putsch und auch nicht auf den „Staatsstreich", sondern es handelte sich um die Vorbereitung des seit langem in höheren Kreisen des Militärs um Generaloberst Beck, Oberst Oster, um den Sonderführer Hans von Dohnanyi und Generalleutnant von Hase seit 1937/38 herbeigesehnten und auch konkret vorbereiteten Umbruchs
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in der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur durch ein Attentat auf Hitler. Es richtete sich gegen den verhaßten „Führer", der wie alle Diktatoren durch die von ihm gewollten, befohlenen, gedeckten und angestoßenen Verbrechen ein ganzes Volk in Schuld verstrickt und den einzelnen der Gefahr ausgesetzt hatte, „Schaden an seiner Seele" zu nehmen. Früh kam es auch zur Verbindung zwischen militärischen und zivilen Gruppen, die das Urteil belegen, daß es niemals allein um einen Militärputsch, sondern auch um die Öffnung von Freiräumen politischer Gestaltung durch zivile Politiker ging. Der 20. Juli 1944 hätte als Abschluß einer längeren Reihe von vielfach aus Zufällen fehlgeschlagenen Attentatsversuchen und als eindeutiges Ergebnis soldatischen Widerstands diesen unabhängig von der konkreten Frontlage angestrebten Umbruch herbeigeführt, der mit dem Sturz der NS-Führung auf eine Beendigung der verbrecherischen Politik im Innern und in den Besatzungsgebieten der Deutschen abzielte. Wäre dieser Umsturz gelungen - die Hälfte aller Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges hätte überlebt. Und dennoch: „Soldatischer Widerstand" - dieser Begriff bezeichnet eigentlich eine besondere Ungewöhnlichkeit, ganz unabhängig von der deutschen Besonderheit des Widerstands gegen den NS-Staat als ein verbrecherisches Regime. „Widerstand des Soldaten" richtet sich nach landläufiger Meinung auf das soldatische Verhalten im Kampf. Der Soldat hat im Kampf standzuhalten - Widerstand ist mithin dem „Gegner im Feld" zu leisten. Widerstand im Innern, gegen die politische Führung und aus innenpolitischer Absicht kann für den Soldaten in der Regel nur dann eine akzeptable Herausforderung sein, wenn er sich nach einer militärischen Niederlage in der Auseinandersetzung mit einem Besatzungsregime befindet. Man muß sich in das Gedächtnis rufen, daß der Auftrag des Soldaten im Frieden lautet: Ausbilden, Erziehen, Üben, um seine Einsatzbereitschaft zu sichern. Im Krieg lautet dieser Auftrag hingegen - wie Johann Adolf Graf Kielmansegg einmal knapp konstatiert hat 15 - „Kämpfen", also: „unter dem Gesetz von Befehl und Gehorsam auf Befehl sterben und andere dem Tod aussetzen müssen". Widerstand im Innern ist vor allem im Falle der äußeren Gefahr für den Staat, den ein Soldat zu verteidigen hat, wohl noch weniger denk- oder vorstellbar als die bewußte Einmischung in die innenpolitischen Konfliktlagen, die dem Soldaten fremd waren, so fremd, daß bis 1918 derjenige, der unter der Fahne stand, kein aktives Wahlrecht hatte. Dies wurde selbst in Zeiten akzeptiert, die durch heftige Wahlrechtskämpfe in der Öffentlichkeit charakterisiert scheinen. Und kam es einmal zur Vermengung von Innenpolitik und soldatischem Handeln - wie im Kapp-Putsch von 1920 - dann erfolgte nicht selten ein demonstrativer Rückzug der militärisch Verantwortlichen aus der innenpolitischen Verantwortung: Truppe schieße nicht auf Truppe, mit diesen bis heute in der Forschung umstrittenen Worten entzog sich der Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt der Verantwortung für den Bestand der Weimarer Republik, die dann von Gewerkschaften aus drängender Gefahr befreit werden mußte.
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Kielmannsegg, Gedanken.
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Mit diesem Satz markierte Seeckt eine überwundene Vorstellung von der bewaffneten Macht, die seit der Aufstellung der Bundeswehr, die sich als Bürgerarmee begreift und im Laufe ihrer Geschichte zunehmend ihre Bindung an die Wehrmacht abstreifen konnte, überwunden worden ist. Die Bundeswehr verstand sich bewußt als parlamentarisch kontrollierte und politisch verantwortlich geführte Armee von Bürgern in Uniform, und damit war nicht nur ein Konzept innerer Führung gemeint, sondern auch die Vorstellung, daß die bewaffnete Macht ganz dezidiert politischer Führung untergeordnet sei. Damit ist das Problem soldatischen Widerstands endgültig gelöst, denn der Soldat als Bürger hat denselben Prinzipien zu dienen wie der Bürger, der Zivilist ist.
Höhere Verantwortung Erinnern wir uns: Im 19. Jahrhundert wurde immer fester fundiert, daß der Soldat seiner politischen Führung zu folgen hat. Grundlegendes findet sich dazu bei Clausewitz, der den Primat des Politischen reflektierte und damit ein neues Selbstbewußtsein der Träger militärischer Macht ausdrückte, die ihre politische Funktion akzeptierten und auf diese Weise die Ubereinstimmung mit der Gesellschaft suchten, der sie militärisch zu dienen hatten. Dies war die nachwirkende Bedeutung der Ära der Befreiungskriege und der Reformzeit, die entscheidende und einschneidende Änderungen für die militärische Organisation, aber auch für das Selbstverständnis der Militärs brachte. Scharnhorst, Gneisenau, Boyen - sie stehen seitdem neben dem wohl bekanntesten „zivilen" preußischen Reformer vom und zum Stein, neben Humboldt, Hardenberg und Altenstein. Auch die politische Führung vertraute seit den Befreiungskriegen offenbar dem Militär in größtem Maße, überdies wohl auch, weil der Bestand des Staates nicht selten sogar von der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der militärischen Führung abhing, etwa angesichts der napoleonischen Bündnis- und Uberwältigungspolitik. Unter diesem Gesichtspunkt ist es dann auch verständlich, wenn man hinnahm, daß im konstitutionellen Staat sogar im Falle der fundamentalen Störung der öffentlichen Ordnung die Exekutivgewalt auf das Militär übergehen konnte: Der „kleine" und vor allem der „große Belagerungszustand" 1 6 , der das Militär zur Exekutive werden ließ und die Gewaltenteilung aufhob, zeugten davon ebenso wie die Bereitschaft von Politikern, während des Ersten Weltkrieges die Militärdiktatur der Obersten Heeresleitung zu akzeptieren. „Soldatischer Ungehorsam" galt zu dieser Zeit allerdings noch als Ausdruck der Befehlsverweigerung oder gar als „Meuterei" - so war er vor allem militärstrafrechtlich zu ahnden. Daß unsere Bewertungsgrundsätze heute anders lauten, mag man daran erkennen, daß die nach Berlin umgezogene Spitze des Bundesverteidigungsministeriums im ehemaligen Amt Canaris und im Reichsmarineamt residiert, am ehemaligen Tirpitz- und heutigen Reichpietschufer, an
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Boldt, Rechtsstaat; vgl. auch ders., Konstitutionalismus.
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einer Straße mithin, die nach einem der erschossenen Seeleute benannt wurde, der wegen seiner Teilnahme an einer Meuterei 1917 hingerichtet worden war. Unterstellung unter eine politische Führung bedeutete für das Militär aber ebenso, unter Umständen auch dann einem politischen System zu dienen, wenn man es nicht liebt 1 7 . Dies war eigentlich die positive Wirkung des umstrittenen Ausspruch von Seeckts, denn wenn Truppe nicht auf Truppe schießt, dann gilt zumindest auch, daß sich die Armee nicht in die inneren Konflikte einmischen und Stellung gegen die Regierung beziehen wollte. Erst nach der Machtübernahme Hitlers wurde diese Nichteinmischung als entscheidende Voraussetzung einer zunehmenden Verstrickung der Wehrmacht in den nationalsozialistischen Staat kritisiert und damit das Zitat von Seeckt in einen anderen, allerdings nachträglich mit Bedeutung gefüllten und deshalb streng betrachtet unhistorischen Zusammenhang gerückt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang überdies daran, daß erst im Rückblick die politische Neutralität der Reichswehr gegenüber der Weimarer Republik in die Hinnahme der Herrschaft Hitlers mündete, nachdem dieser sein Werben um die bewaffnete Macht in der frühen Konsolidierungsphase der N S Diktatur abgeschlossen hatte - am 3. Februar 1933 im Bendlerblock, in dem späteren Dienstzimmer von Fromm, wo Witzleben, Hoepner, Beck am 20. Juli 1944 auf das Ergebnis der Walküre-Operation warteten und sich Beck dann in den Abendstunden auf Aufforderung Fromms selbst die Kugel zu geben versuchte, um seiner schmählichen Hinrichtung zuvorzukommen. Der Raum, in dem Hitler die Reichswehrführung Anfang Februar 1933 für sich einfing, war elf Jahre später das Sterbezimmer von Beck - das Gewicht dieses Raumes, in dem heute die Operation Walküre und ihr Scheitern dargestellt werden, läßt wohl keinen unberührt. Vor dem Hintergrund der Verschränkung von Militär und Staat im 19. Jahrhundert wird das Ungeheuerliche verständlich, das sich im Umkreis des 20. Juli 1944 ereignete. O h n e Vorbild, tief verstrickt in das Verständnis des deutschen Obrigkeitsstaates vom militärischen Auftrag der bewaffneten Macht und sozialisiert in einer Gesellschaft, die das Widerstandsrecht nicht mehr kannte, versuchten jüngere Offiziere in Abstimmung mit einigen zuverlässigen Freunden, die Uniform trugen, aber im Grunde ihres Herzens „Zivilisten" geblieben waren - Moltke, Yorck, Dohnanyi - und moralisch gerechtfertigt durch ehemalige Vorgesetzte wie General Beck das Blatt zu wenden. Das geschah nicht, um, es sei noch einmal betont, einen Putsch zu wagen, auch nicht, um einen klassischen „Staatsstreich" zu versuchen, wie man jetzt wieder lesen kann, schon gar nicht, um in letzter Minute die eigene Haut zu retten, wie die Nationalsozialisten betonten und die D D R - F ü h r u n g lange Zeit mit gewisser Resonanz im Westen propagierte. Sondern es ging den Handelnden allein darum, die „Politik wieder in ihr Recht" zu setzen, um die Gefährdung der Substanz des eigenen Staates durch die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten zu beenden und um politische Lösungen vorzubereiten, die Deutschland trotz der Forde-
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Vgl. dazu Hürten (Bearb.), Anfänge, besonders D o k u m e n t N r . 4 3 .
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rung nach der bedingungslosen Kapitulation die totale militärische Katastrophe erspart hätten. Diese Einmischung von Militärs in die Politik erfolgte auf der Grundlage von Plänen, die entwickelt worden waren, um innere Unruhen einzudämmen. Sie diente aber nicht der Festigung der Macht von Militärs, sondern erfolgte im Interesse von Zivilisten, die ihre Handlungsspielräume erhalten wollten 1 8 , um die „Majestät des Rechts" wiederherzustellen. Die Operation Walküre konnte nur auf der Grundlage eines besonderen Vertrauens der Attentäter zu den Grundlagen soldatischer Verpflichtung zu Befehl und Gehorsam konzipiert werden: Die Regimegegner setzten dabei ja gleichsam auf die Automatik von Befehl und Verpflichtung zum Gehorsam, denn mit dem Plan Walküre hofften sie, die entscheidenden militärischen Grundlagen für den Umsturz schaffen zu können, ohne alle Beteiligten über das letzte Ziel dieser Operation aufzuklären 1 9 . Wie richtig sie daran taten, gegenüber ihren Kameraden nicht die letzten Ziele aufzudecken, zeigte das Beispiel des Majors Remer, der sich weiterhin in den Dienst der NS-Führung stellte und nicht nur Umsturz verriet, sondern in entscheidender Stunde Regimegegner an ihre späteren Peiniger auslieferte. Diejenigen, die er auszuschalten half, gaben in ihren ersten Erklärungen vor, das Reich vor den Ubergriffen parteifremder Gewalten schützen zu wollen; deshalb hatten sie die alten Walküre-Pläne abgewandelt, die eigentlich auf die Niederringung innerer Unruhen von „Fremd- und Zwangsarbeitern" sowie von Kriegsgefangenen gerichtet waren. Deshalb setzten sie bei der Ausarbeitung dieser Pläne auf das Vorbild des Belagerungszustandes 2 0 . Ihre weitgehende Bereitschaft zur Unterordnung unter die nicht von Militärs geprägte neue, durch das Attentat möglich zu machende Politik wird aber daran sichtbar, daß sie für jeden Wehrkreis des Reiches nicht nur einen militärischen, sondern auch einen politischen Beauftragten ernannten, also von sich aus die Unterstellung der militärischen Macht unter politische Verantwortung anstrebten. Über die Grenzen militärischen Gehorsams ist immer wieder, seitdem es Soldaten gab, die sich in den Dienst eines Staates stellten, eindrucksvoll nachgedacht worden. Davon zeugen Tragödien und Dramen, etwa „Der Prinz von H o m burg" von Heinrich von Kleist, der Roman „Vor dem Sturm" von Theodor Fontane, nicht zuletzt auch die Essays der „Weltbühne" oder Romane der Weimarer Republik. Es gab aber nicht nur abgeleitete, sondern auch genuin militärische N o r m e n für eine Abweichung von Befehlen und eine Verleugnung von Loyalitäten. Jeder Offiziere kannte die entscheidenden Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches, vor allem den von Axel von dem Bussche 2 1 immer wieder akzentuierten „Notwehrparagraphen", und viele hatten sich innerlich wohl auch mit den berühmten Akten eines als vorbildlich gedeuteten militärischen Ungehorsams auseinandergesetzt, welche zugleich die Grenzen des soldatischen Gehorsams und damit vor allem die entscheidenden Voraussetzungen soldatischer Eigenständigkeit bezeichneten.
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S t e i n b a c h , Militärischer W i d e r s t a n d . Vgl. jetzt S t e i n b a c h , 20. Juli 1944. H o f f m a n n , Widerstand. Engert, Hitler.
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Häufiger Ausgangspunkt dieser Überlegungen war eine Ermahnung von Prinz Friedrich Carl von Preußen, der Yorck in der Poscheruner Mühle entgegengehalten hatte: „Seine Majestät hat Sie nicht deshalb zum Offizier gemacht, damit Sie einfach alle Befehle ausführen, sondern damit Sie auch wissen, wann Sie Befehle nicht ausführen müssen." Hier wird deutlich, daß keineswegs der Zusammenhang zwischen Befehl und Gehorsam das ethische Grundproblem des Soldaten darstellt, sondern vielmehr die exakte Markierung der Grenzen des Befehls als Voraussetzung der Verweigerung von Gehorsam. In diesem Sinne stellte Gehorsam allerdings nicht den Gegensatz zum Widerstand dar, sondern markierte eine höhere soldatische Verantwortung. Verweigerung des Gehorsams, etwa in der besonderen Form des „Nichteinverständnisses mit einem dienstlichen oder taktischen Befehl", konnte sogar die Befehlsverweigerung legitimieren, wenn sich herausstellte, daß die Nichtdurchführung eines Befehls militärisch angemessener war als der sogenannte „Kadavergehorsam". Eine neue Dimension der Befehlsverweigerung wurde allerdings im Zuge der weltanschaulichen Auseinandersetzung seit der Französischen Revolution erreicht: Es ging nun nicht mehr um Dynastien, sondern um Staaten und Nationen - der Offizier, der sich einem Befehl widersetzte, konnte gerade dadurch nicht selten das höhere Interesse einer Nation vertreten. Dies wurde deutlich in den Befreiungskriegen des frühen 19. Jahrhunderts, als Offiziere, die sich den Kapitulationsbefehlen der preußischen Staatsführung nicht beugen konnten und sich ihnen deshalb offen widersetzten, historisch durch spätere Entwicklungen gerechtfertigt wurden. Dies betraf einen Emigranten wie Freiherr vom und zum Stein ebenso wie einen Yorck, der sich in der Konvention von Tauroggen gegen seine Führung stellte. Hier wird eine neue Schicht der Begründung militärischen Ungehorsams sichtbar - seine Rechtfertigung aus einem höheren staatlichen Interesse heraus, das sich am „Bestand der Nation" - einem 1938 von Beck benutzten Begriff - orientierte. „Befehlsverweigerung" zielte so zunehmend auf mehr als nur auf die Verweigerung eines dienstlichen Befehls im soldatischen Alltag; zunehmend speiste sich die, häufig erst nachträgliche, Rechtfertigung militärischer Befehlsverweigerung aus der Einsicht in die begrenzte Legitimität einer politischen Führung. Unter dem Eindruck der Rassen- und Weltanschauungskämpfe, die das 20. Jahrhundert prägten und die vor allem mit der NS-Zeit verbunden sind, kommt eine weitere Grenze militärischen Gehorsams hinzu: Sie spiegelt die Verstrikkung der bewaffneten Macht in Kriegsziele, die den Rahmen der bisherigen Vorstellungen weit überschreiten konnten. Hitler hatte zunächst den Eindruck erweckt, mit dem Angriff auf Polen werde Deutschland verteidigt. Deshalb hatte er gelogen, seit 5.45 U h r werde lediglich „zurückgeschossen" - bald aber wurde allen deutlich, daß Hitler einen Hegemonialkrieg führte, der zunehmend Elemente eines Rassenkrieges aufnahm und die herkömmliche Vorstellung von der Verpflichtung des Soldaten zum Gehorsam sprengte. Nationalsozialismus und Krieg - dies hieß zunehmend: Gefährdung der eigenen Truppe durch rigorose Durchhaltebefehle, dies hieß: Ausbeutung der Bewohner in den besetzten Gebieten, dies hieß vor allem, so schwer es jenen fällt, die bis heute gegen die zeitgeschichtliche Forschung glauben, die Wehrmacht sei grundsätzlich und nicht selten völlig außerhalb des NS-Staates zu verorten:
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Verstrickung der Truppe in die rassenpolitischen Endziele der NS-Führung. Nationalsozialismus und Krieg - dies hieß: Gefährdung des Nationalstaates, zugleich Gefährdung des Ansehens der Deutschen in der Welt, dies hieß: Zerstörung der Uberlebensgrundlagen des Volkes nach der Niederlage, die bald unabweislich war, und dies hieß in der Situation des Krieges: Einschränkung von politischen Spielräumen, aber auch zunehmend Gefährdung der Seele durch Verstrickung in ein verbrecherisches Regime 2 2 . Eid und Treue, Befehl und Gehorsam wurden so, das wußte Beck bereits 1938, außer Kraft gesetzt das höhere Recht der Nation, aber auch der Wille, sich durch eine Kooperation mit der NS-Diktatur individuell gerade nicht in Schuld verstricken zu lassen, bestimmten nun die Überlegungen der Regimegegner und mündeten schließlich in die innere Bereitschaft, das - wie Henning von Tresckow es so unvergleichlich klar, tapfer, opferbereit und konsequent ausdrückte - „Nessushemd" anzuziehen. Lieber den Tod in Kauf nehmen als sich selbst und die Nation mit den rechtswidrigen oder gar verbrecherischen Befehlen zu belasten, dies war schließlich die individuelle Voraussetzung für die Bereitschaft, durch eine demonstrative Aufkündigung des soldatischen Gehorsams das Blatt grundlegend zu wenden.
Notwehr N a c h dem alten Militärstrafrecht hatten die militärischen Regimegegner alle guten Gründe auf ihrer Seite, ebenso wie jene, die sich im bürgerlichen Leben den Zumutungen des Regimes verweigerten und es mit allen ihnen jeweils zu Gebote stehenden Mitteln bekämpften. Nächstenliebe, Toleranz, Mitmenschlichkeit, Naturrecht und Anstand - die Regimegegner hatten alle guten Gründe auf ihrer Seite - gewissermaßen als ganz prinzipielle Dimensionen der Eigenverantwortung, die den großen Mut zur Eigenmächtigkeit konspirativer Konspiration erforderte, die keinerlei Deckung mehr kannte und das wohl größte Risiko verlangte, das ein Soldat einging: Durch seine Tat auch das Leben der Angehörigen zu belasten, wenn nicht zu gefährden. Diese Verantwortung konnte, wie Axel von dem Bussche immer wieder betonte, sogar gute Gründe schlichter Notwehr für sich geltend machen und so dem einzelnen helfen, die Verantwortung für sein eigenes Tun oder Unterlassen und dessen Folgen zu tragen. Widerstand ist auf diese Weise allerdings auch mehr als Eigenmächtigkeit oder Befehlsverweigerung, mehr als die Ausübung der Pflicht zur Notwehr - denn Widerstand richtet sich gegen die Führung des Staates, dem der Soldat gerade zu dienen hat. Insofern wird unsere Vorstellung vom soldatischen Widerstand durch die zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit dem NS-Staat auf eine ganz neue, aber auch auf eine ganz konkrete Grundlage gestellt. Immer, wenn vor 1933 vom Widerstand im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der Soldaten die Rede war, hatte es sich entweder um gelungene Bei22
Die Konsequenzen dieser Einsicht werden vor allem im Leben und Sterben des Ernst Jägerstetter deutlich. Vgl. Klemperer, Weg.
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spiele einer Behauptung spezifischer soldatischer Würde gehandelt, indem Zumutungen soldatischer Unehrenhaftigkeit abgewehrt werden konnten, oder es war um den gelungenen Versuch gegangen, sich selbst in der Stunde großer Gefährdung des Staates nicht einem Usurpator zu unterwerfen, sondern vielmehr nach einer höheren, nicht dem Augenblick verhafteten Existenz des Gemeinwesens zu suchen. Diese Abwehr einer Zumutung unehrenhaften Verhaltens wird deutlich im Beispiel des von der Marwitz, der sich im Siebenjährigen Krieg geweigert hatte, den Besitz des Grafen Brühl zu plündern und lieber unwiderruflich seinen Dienst quittierte, als den Ehrenkodex eines Offiziers zu verletzen, der kein Landsknecht mehr sein wollte. Theodor Fontane hat diese Geschichte eindrucksvoll überliefert, und Theodor Heuss hat in seiner großen Rede an der Freien Universität Berlin anläßlich des 10. Jahrestages des Anschlag im Jahre 1954 daran erinnert, als er den Spruch auf dem Grabstein des von der Marwitz zitierte: „wählte Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre brachte." Ungnade, dies war nicht Unehre; deshalb war es leichter, sich gegen seine persönlichen Interessen und Bindungen zu entscheiden, als Schuld auf sich zu laden.
Integrität Beim Widerstand des 20. Juli 1944 ging es aber um mehr: Es ging um die letzte Verantwortung des Soldaten für den Bestand seiner Nation und ihre moralische Integrität - und dies trotz der Unwiderruflichkeiten, die historisch eingetreten waren. Weder konnten die Regimegegner hoffen, daß die von den Alliierten proklamierte und immer wieder geforderte bedingungslose Kapitulation abzuwenden war, noch konnten sie die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen relativieren oder aus dem Gedächtnis der Völker wischen. Sie lehnten sich auf, sie zogen die Konsequenzen aus ihrer Einsicht in die als verbrecherisch empfundene nationalsozialistische Kriegs-, Rüstungs- und Kriegszielpolitik. Sie unterstellten sich fast vorbehaltlos dem Anspruch der zivilen Regimegegner und akzeptierten so den „Primat des Politischen". Sie wagten keinen Putsch, sondern sie setzten auf den politischen Neubeginn. Sie riskierten ihr Leben und fielen im Widerstand, sehenden Auges, ohne sich zu beklagen. Sie begründeten so eine neue soldatische Moral, die bewußt von den Grenzen des Gehorsams ausging, die sich an den Kriterien schulte, die im Widerstand entwickelt worden waren: Soldatischer Gehorsam darf nicht bedingungslos gefordert werden, er hat sich an den herkömmlichen Kriterien angemessenen militärischen Verhaltens auszuweisen, aber auch an höheren Normen: An den Prinzipien des Völkerrechts und den Grundlagen eines Umgangs zivilisierter Nationen, an den Prinzipien des Menschenrechts und der verfassungsmäßigen Ordnung, die in ihren unveränderlichen Teilen Menschenrechtsordnung sein will - diese Ziele teilt der soldatische Gehorsam mit der allgemeinen Verpflichtung der Bürger, die Grundlagen seiner freiheitlichen Verfassungsordnung zu verteidigen. Von grundsätzlicher Bedeutung scheint mir weiterhin die Bereitschaft der widerstehenden Offiziere zu sein, stellvertretend für diejenigen zu handeln, die eine neue politische Ordnung schaffen wollen und sollen. Insofern ist dieses
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große und bis dahin fast unvorstellbare Ereignis geeignet, in die Traditionsbildung einer demokratisch kontrollierten und so neu legitimierten bewaffneten Macht zu gleiten, wie sie die Bundeswehr verkörpert. Die Regimegegner des 20. Juli erstrebten nicht die Verteidigung ihrer Kaste, sondern sie hatten ein politisches Ziel: die Wiederherstellung des Politischen. Deshalb pflegten sie enge Verbindungen zu den Mitgliedern des Kreisauer Kreises, zum breiten Spektrum der Repräsentanten, die aus ihrem Widerstand ohne Volk vielleicht einen Widerstand aus dem Volk und vielleicht sogar mit dem Volk hätten machen können.
Primat des Politischen So betrachtet, beginnt mit dem 20. Juli die Geschichte einer Bürgerarmee, einer Armee der Bürger in Uniform. Denn es ging seitdem um die Akzeptierung ziviler Verantwortung für die Armee durch die Armee, es ging um die Verdrängung einer Vorstellung des spezifisch Militärischen, es ging um die denkbar enge Verschränkung der militärischen Macht mit politischer Führung auf der Grundlage einer Wertordnung, die sich zum Leitwert der Würde des Menschen bekennt. Mit dem 20. Juli beginnt die Geschichte einer Armee, die die Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft teilt und sich deshalb öffnet für jene Wandlungsprozesse, die Deutschland in den Kreis der westlichen liberalen Demokratien führt, die damit die Integration Deutschlands in übernationale Verteidigungsstrukturen und transnationale Bindungen erleichtert. Dies bedeutet aber auch, daß wir den 20. Juli nicht allein als ein militärgeschichtliches Ereigniss wahrnehmen. Dieser Tag spiegelt die Selbstunterwerfung der Beteiligten aus der Wehrmacht unter eine allgemeine Moral; diese bewußt und vor allem von Henning von Tresckow so eindrucksvoll reflektierte Moralität bezeichnet das Ende eines spezifisch soldatischen Widerstandsrechts. Stellvertretend für andere zu handeln auch dies war das Ziel des militärischen Widerstands. Deshalb kann man auch nicht allein vom Scheitern der Offiziere an diesem Tage sprechen - zu den Geschlagenen dieses Tages gehörte der Gesamtwiderstand, und zu den Opfern des Tages sind jene unvorstellbar vielen Menschen zu rechnen, die nach dem 20. Juli noch sterben mußten, bis dieser Zweite Weltkrieg in Europa und Asien beendet war. Deshalb ist es auch verständlich: Wenn es nach 1945 und vollends seit 1949 den beiden deutschen Regierungen darum ging, positive Erwartungen bei den Nachbarn zu wecken, eignete sich der Widerstand zur Begründung eines Anspruchs, neues Vertrauen und in gewisser Weise auch neuen Respekt zu verlangen. Denn die Annäherung an den Widerstand ist das Ergebnis eines Hineinfühlens in eine historische Konstellation, die begriffen werden muß, aus der sich aber keine Ansprüche ableiten lassen, die über diejenigen hinausgehen, die im Prozeß der Annäherung an die Vergangenheit durch Auseinandersetzung mit historischen Konstellationen resultieren. Es geht um Beziehungen zwischen Gruppen und Menschen, u m Verbindungen zwischen einzelnen, aber auch um Klärungsprozesse zwischen Gegensätzen, die im Nachvollzug zu akzeptieren
Widerstand und Wehrmacht
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sind. Diese Akzeptanz einer Methode der Gemeinsamkeit, die sich gerade im Widerstand gegen den NS-Staat bewährte, begründete zunehmend Vertrauen, weniger die Tat an sich, die in der deutschen Nachkriegszeit, aus welchen Gründen auch immer, stets umstritten blieb. Dennoch: So sehr man auch anstrebt, den Widerstand gegen den NS-Staat historisch aus den Denkhorizonten seiner eigenen Traditionen und Zeiten zu interpretieren, so wenig kann man auf diese Weise der besonderen Leistung des Widerstands gerecht werden, unterschiedliche Denkvorstellungen, ja Gegensätze zu überbrücken und bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit des Wollens und Handelns zu erreichen. Hier mag es sinnvoll sein, die Interaktionen der Regimegegner zu untersuchen. Viele kannten sich wegen ihrer Herkunft, Parteien, von Lehrgängen; andere lernten sich durch die Vermittlung Vertrauter und von Freunden kennen. Manche dieser Verbindungen verdichteten sich in charakteristischer Weise, etwa in Gestalt des Gutes Kreisau oder der Wohnung von Peter Graf Yorck in der Berliner Hortensienstraße, in Gestalt des Amtes Ausland/Abwehr am damaligen Tirpitzufer oder in der Dahlemer St.Annenkirche als der Kirche des Bekenntnispfarrers Martin Niemöller. Auch Städte können die räumliche Verdichtung der Beziehungen zwischen Regimegegnern ganz unterschiedlicher Traditionen symbolisieren. Dies macht im Zusammenhang mit dem militärischen Widerstand ohne Zweifel die Bedeutung der lange Jahrhunderte durch das Militär geprägten Stadt Potsdam aus, dem Sitz des Infanterieregiments 9, das so viele Regimegegner wie keine andere deutsche militärische Einheit aufwies. Das Herzstück des Widerstands aus dem IR 9 findet sich aber in Henning von Tresckow und Fritz von der Schulenburg, jenen Offizieren, die in unbeschreiblicher Radikalität letzte Fragen aufwarfen und Energien entfalteten, die andere mitzogen, unwiderstehlich, unwiderlegbar. Sie waren die Brücken zu anderen Bereichen des Widerstands, zu anderen Kreisen, Dienststellen und Personen so gesehen, kann es beim 20. Juli nicht um den Umsturzversuch allein gehen, sondern um den Gesamtwiderstand - verzweigt und vernetzt, hoffnungsvoll, erwartungsfroh, zum Erfolg verurteilt, zum Scheitern wohl ebenso - aber nicht geschlagen. Dies zeigt sich nach dem Fehlschlag des Attentats. Mit dem 20. Juli 1944 begann eine neue Phase der Widerstandsgeschichte: Dem Scheitern des Umsturzes folgte die Verfolgung der Beteiligten, folgte die Verhaftung vieler Regimegegner und deren Demütigung, folgte die unmittelbare Gewaltanwendung bei Verhören durch Mißhandlungen, die Verurteilung der Angeklagten, ihre Hinrichtung, schließlich die Auslöschung der sterblichen Überreste, um den Zeitgenossen und Nachlebenden jede Möglichkeit zu nehmen, sich irgendwo an einen der entschiedenen Regimegegner zu erinnern. Die Nationalsozialisten spürten, daß ihnen Menschen gegenüberstanden, die ihnen den Anspruch auf die Zukunft streitig machten. Ihr Selbstbewußtsein sollte erschüttert, ihre Ausstrahlung über den Tod hinaus im Keim erstickt werden. Die Nationalsozialisten nutzten den 20. Juli so auch, um jeden Ansatz einer neuen Führungsschicht auszurotten. Nach ihnen sollte nichts mehr kommen. So setzte bereits am 20. Juli 1944 eine Welle der Morde ein, die erst ein knappes Jahr später, in der heimtückischen Ermordung von Dietrich Bonhoeffer und anderer am 9. April 1945 und am 23. April 1945 in der Mordaktion am Lehrter
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Bahnhof, in Sichtweite der russischen Verbände, ihr Ende fand. Wer sich an den Widerstand erinnern will, darf also nicht nur von Aktionen und Visionen sprechen. Er muß auch die Erinnerung an das Scheitern von Menschen und an ihren Tod aushalten. Der 20. Juli 1944 zeigt gerade in seinem Scheitern, daß „soldatischer Widerstand" bis zur letzten Konsequenz - unter Einsatz des Lebens gegen die politische Führung militärischer Macht - geleistet werden kann. Dies erlaubt nicht, Regimegegner als „Landesverräter" zu bezeichnen, die sich zu ihrer Verantwortung bekannt haben. Die Konsequenz wäre allerdings, auch die Vorstellung zu relativieren, daß die Wehrmacht durch die Beteiligung von Offizieren am Umsturzversuch moralisch zu rehabilitieren wäre. Dies zu versuchen, bedeutet, an Argumentationsmuster der fünfziger Jahre anzuknüpfen, zugleich aber jenes politisch-pädagogische Potential auszuschlagen, welches im Zusammenhang mit der Entwicklung des Konzepts der „inneren Führung" zu einer tragenden Säule militär-ethischer Selbstbesinnung gemacht worden ist. Die Beteiligung an den Umsturzbestrebungen war die Sache einiger Ofiziere, die darauf zielten, Politik wieder in ihr Recht zu setzen oder zu ermöglichen. Daneben gibt es zahlreiche Beispiele individueller Verweigerung angesichts verbrecherischer Zumutungen. Die Geschichte des Widerstands läßt sich nicht nutzen, um die Last deutscher Vergangenheit zu mindern. Sie macht durch den Hinweis auf Alternativen zu Anpassung und Folgebereitschaft diese Last noch größer. Zugleich werden aber Grenzen des Gehorsams deutlich gemacht. In der Tat ist das ethische Grundproblem des Soldaten nicht der verantwortungslose Gehorsam, sondern die Kraft zu einer Verantwortung im Alltag des Krieges, die sich in den Grenzen von Befehl und Gehorsam verdeutlicht. U m diese Grenzen kreisen immer wieder soldatische Überlegungen. Durch eine Konfrontation ethischer Prinzipien mit historischen Erfahrungen lassen sich Konstellationen durchdenken und durchspielen, die Gewissensfragen berühren. So gesehen, ist die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen, Entwicklungen und Leistungen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus eine Grundlage der Konfrontation des Menschen mit seinen destruktiven und positiven Möglichkeiten. Diese Dimension überschreitet weit plakative Identifikationsdebatten, wie sie immer wieder im öffentlichen Raum inszeniert werden. Wer erkennt, daß jeder Krieg in sich die Gefahr birgt, aus Mitmenschen Gegenmenschen werden zu lassen, die nicht mehr als Kameraden empfunden werden, daß jede militärische Auseinandersetzung die Gefahr enthält, aus Soldaten nur noch Material werden zu lassen, der wird die Geschichte des Widerstands gegen den NS-Staat als Beispiel für die Behauptung des Individuums in den Rassenund Weltanschauungskriegen unseres 20. Jahrhunderts akzeptieren und versuchen, die Geschichte Europas im Zeitalter der Diktaturen durch den Hinweis auf ein wichtiges Kapitel deutscher Menschenrechtsgeschichte weniger zu entlasten als vielmehr erträglicher zu machen.
Ulrich de Maiziere Die Bundeswehr Neuschöpfung oder Fortsetzung der Wehrmacht
I. Der 50. Jahrestag des Kriegsendes und das 40jährige Bestehen der Bundeswehr haben seit 1955 eine lebhafte, oft emotional gesteuerte Diskussion um die Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Regime und das Verhalten der Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in Gang gebracht, die sich bis heute eher verstärkt als beruhigt hat 1 . Auch die Behandlung jüngster und älterer Vorkommnisse in der Bundeswehr, die mit Rechtsradikalismus in Zusammenhang gebracht werden, wird davon mit beeinflußt. In der Wehrmacht haben bis 1945 etwa 19 Millionen deutsche Männer Dienst getan. Die Wehrmacht erreichte jede Familie. Im Krieg brachte sie Leid in jedes Haus. Sie ist auch in Verbrechen verstrickt worden. Für viele Deutsche verkörpert sie daher stellvertretend die grenzenlose Schuld des „Dritten Reiches", deren Ausmaß sich jedem Vorstellungsvermögen zu entziehen scheint. Diese Sicht läßt außer Acht, daß das totalitäre Regime alle Instanzen des Staates, ja jeden Mann und jede Frau, erfassen und gefügig machen - mit damaligen Worten „gleichschalten" - wollte. Jedermann war betroffen, aber nicht jeder war schuldig. Aus der Sicht heutiger Forschungsergebnisse kommen manche, und gerade jüngere Historiker leicht zu verdammenden Pauschalurteilen, ohne sich in die schwierige, komplizierte Lage der Menschen jener Zeit hineinzudenken, während doch nur eine differenzierte Betrachtungsweise der mehrschichtigen Realität dieser schrecklichen 12 Jahre näher kommen kann. Folgte man den pauschalen Verdammungen - insbesondere der Charakterisierung der Wehrmacht als „verbrecherische Organisation", wären negative Konsequenzen für die Bundeswehr unausbleibbar. Die ab 1956 in Aufstellung befindlichen westdeutschen Streitkräfte konnten sich neben ungedienten jungen Männern nur aus Offizieren und Unteroffizieren der Wehrmacht rekrutieren. Letztere haben die Bundeswehr in den ersten Jahren aufgestellt und ausgebildet. Erst Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre sind die letzten Offiziere der Bundeswehr, die noch die Uniform der Wehrmacht getragen haben, in den Ruhestand gegangen. Ist nun die Bundeswehr nichts anderes als die Fortsetzung früherer deutscher Armeen, insbesondere der Wehrmacht - mit anderen Worten eine „Restauration" alter Prinzipien und früheren Gedankengutes - oder ist sie das Ergebnis
1
Erweiterte Fassung des Beitrages Neuschöpfung mit Tradition, in: Die politische Meinung H . 341 vom April 1998, S. 1 1 - 1 9 . Vgl. Thiele (Hrsg.), Wehrmachtsausstellung; Prantl (Hrsg.), Wehrmachtsverbrechen, mit anderen Verweisen.
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eines Versuches, einen neuen Anfang zu wagen in einer tiefgreifenden Militärreform, vergleichbar mit der preußischen Militärreform nach der Niederlage von 1806/07, die mit den Namen Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz und anderen verbunden ist? Wie also ist die Bundeswehr in die historische Perspektive einzuordnen? Diese Frage zu untersuchen ist das Ziel meiner Überlegungen. Ich tue das aus der Sicht eines „historisch angelernten Zeitzeugen", dessen Vorzüge, aber auch dessen Begrenzungen ich mir bewußt bin. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Jahre nach 1945 und auf die Entstehungsgeschichte der Bundeswehr, Jahre, in denen ich aktiv mitwirken durfte, und die zu den faszinierendsten und wohl auch fruchtbarsten Jahren meines Lebens gehören. Der Nationalsozialismus hatte das Deutsche Reich in eine totale militärische, politische und moralische Niederlage geführt. Deutschland wurde in allen seinen Teilen von den Siegermächten besetzt. In einer konsequenten Demobilisierung wurden die Wehrmacht mit allen ihren Institutionen aufgelöst, die militärischen Anlagen zerstört oder anderer Nutzung zugeführt, die Waffen eingezogen, alle militärischen Akten in den Besitz der Siegermächte überführt. Zahlreiche hohe Offiziere haben alliierte Gerichte verurteilt. Die Kriegsgefangenen wurden von den Siegermächten noch mehr oder weniger lange - in der Sowjetunion teils bis 1955 - zurückgehalten. Diese Maßnahmen wurden begleitet von einer planmäßigen politischen „Reeducation", die alle Formen und Erscheinungen des „Faschismus" und des „Militarismus", so wie man sie damals definierte, verdammte. Deutsche Soldaten gab es nicht mehr, die Mehrzahl der Bevölkerung wollte sie auch nicht mehr 2 . Schneller als erwartet änderte sich die Weltlage. Die expansiv orientierte und militärisch abgestützte Politik der Sowjetunion führte zu einer rasch zunehmenden Konfrontation zwischen den ehemaligen Kriegsverbündeten. Ich erinnere nur an die kommunistische Machtergreifung in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und anderen Ländern sowie an die ein Jahr andauernde Blockade von Berlin. Die nordkoreanische Invasion in Süd-Korea im Sommer 1950 war der erste Griff des Kommunismus über die bei Kriegsende in Europa und Asien erreichten Grenzen hinaus. Sie wirkte wie ein Katalysator für alle Befürchtungen vor einer sowjetischen Bedrohung. Schon 1949 war das Nordatlantische Bündnis mit zunächst 12 Mitgliedsstaaten beiderseits des Nordatlantik als Verteidigungsbündnis gegründet worden. Jetzt aber wuchs in Europa das Bedürfnis nach verstärkter Sicherheit. Die Besatzungsmächte und die Bundesregierung erkannten, daß trotz der von Bonn erbetenen und von der N A T O beschlossenen Vermehrung der alliierten Truppen in Mitteleuropa eine ausreichende Sicherheit ohne Einbeziehung deutschen Potentials nicht gewährleistet werden konnte. Die Aufstellung von militärischen Verbänden deutscher Nationalität lag also sowohl im alliierten wie im deutschen Interesse, eine seltene Übereinstimmung von Siegern und Besiegten, von Besatzern und Besetzten. Natürlich gab es auch Vorbehalte. Die Alliierten, vor allem Frankreich, wollten Sicherheit nicht nur mit Deutschland, sondern auch vor Deutschland. Die junge
2
Vgl. Meyer, Situation, bes. S. 6 0 9 - 6 5 6 .
D i e B u n d e s w e h r - N e u s c h ö p f u n g o d e r F o r t s e t z u n g der W e h r m a c h t
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Bundesrepublik Deutschland hatte andere Prioritäten. Wenn sie sich an der gemeinsamen Verteidigung beteiligen sollte und wollte, setzte das für sie die Beendigung des Besatzungsstatutes, d.h. die Rückgabe der Souveränität sowie die volle Gleichberechtigung deutscher militärischer Verbände von Anfang an voraus. Diese beiden politischen Grundbedingungen hat die Bundesregierung konsequent verfolgt und in langen schwierigen Verhandlungen schließlich auch durchgesetzt 3 . Konrad Adenauer und Theodor Blank, der Beauftragte des Bundeskanzlers und spätere erste Verteidigungsminister, haben sich hierbei besondere Verdienste erworben 4 . Es begann mit dem Versuch, auf einer von den Franzosen initiierten und am 15. Februar 1951 in Paris beginnenden Konferenz, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit einer supranationalen europäischen Armee unter einem europäischen Verteidigungskommissariat zu bilden. Im Mai 1952 wurden die entsprechenden Verträge in einer eindrucksvollen Zeremonie in Paris im Quai d'Orsay unterschrieben. Ich durfte als Zeuge daran teilnehmen. Doch die Franzosen diskreditierten ihre eigene Initiative. Im August 1954 weigerte sich die französische Nationalversammlung, die Texte zum EVG-Vertrag zu beraten, geschweige denn zu ratifizieren. Es gibt viele Gründe für das Scheitern der E V G 5 . Ich meine zurückschauend, die Zeit für eine so weitreichende Lösung war noch nicht reif. Letztlich hat es sich auch als ein Irrtum erwiesen, Streitkräfte zum Vorreiter einer politischen Einheit zu machen. Es gilt zunächst eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu institutionalisieren, ehe man auch die Armee als das stärkste Machtmittel eines Staates endgültig aus der Souveränität der nationalen Staaten entlassen und in eine supranationale Streitmacht überführen kann. Eine andere Reihenfolge widerspräche auch dem Primat der Politik. Ubergangslösungen allerdings sind dankbar und werden ja auch seit Jahren praktiziert und weiterentwickelt. Multinationalität statt Supranationalität ist der bisher beschrittene Weg, der sich offensichtlich auch bei den Krisenreaktionskräften als praktikabel erweist. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ergriffen die Briten die Initiative. In nur zwei Monaten wurde eine neue Lösung erarbeitet und in unterschriftsreife Verträge gegossen. Die sogenannten Pariser Verträge vom Oktober 1954, die im Mai 1955 in Kraft traten, schufen die außenpolitischen Voraussetzungen für die Aufstellung der Bundeswehr. Die Bundesrepublik Deutschland wurde ein souveräner Staat und zugleich gleichberechtigtes Mitglied der Nordatlantischen Allianz ( N A T O ) und der Westeuropäischen Union (WEU) 6 . Sie konnte jetzt ihre Streitkräfte nach eigenen politischen, rechtlichen und sozialen Vorstellungen im Rahmen des hierzu ergänzten Grundgesetzes aufstellen. Eine junge, aber bereits verfaßte parlamentarische Demokratie schuf sich eine eigene Armee. Zum Jahreswechsel 1955/56 begann nach lOjähriger militärloser Zeit und ohne an bestehende Strukturen gebunden
3 4 5 6
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Wiggershaus, Entscheidung; Meier-Dörnberg, Planung. Krüger, Amt. Maier, Auseinandersetzungen. T h o ß , Beitritt; Ehlert, Auseinandersetzungen.
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zu sein, die Aufstellung der Bundeswehr, die in ihren politischen und geistigen Grundlagen eine völlig neue Basis erhielt. Die Bundeswehr ist ein Kind dieser unserer Republik. Die neue Basis läßt sich zusammenfassend in vier Grundprinzipien beschreiben:
1. Die Bundeswehr
ist eine Armee in einem
Bündnis
Kein Staat europäischer Größenordnung kann heute seine nationale Sicherheit allein aus eigener Kraft gewährleisten. Dazu reichen die jeweiligen nationalen Potentiale nicht aus. Die Bundesrepublik Deutschland hat von Anfang an die Bundeswehr nicht als eine autarke, allen militärischen Optionen allein gerecht werdende Armee in einer national ausgerichteten Verteidigung konzipiert. Bundesregierung und Bundestagsmehrheit sahen vielmehr deutsche militärische Verbände als einen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung Europas, als Teil einer kollektiven Verteidigungsstreitmacht an. Alle westdeutschen Kampfverbände des Heeres, der Luftwaffe und der Marine wurden für die operative Planung und Führung den integrierten Kommandobehörden der NATO zur Verfügung gestellt. Die NATO also entwarf und führte die militärischen Operationen, nicht ein deutscher Generalstab. Allerdings bedurfte und bedarf es der nationalen Zustimmung zu den NATO-Plänen. Aber niemand in unserem Lande hatte an einen nationalen Alleingang gedacht 7 . Auch heute, nach dem Wegfall der unmittelbaren Bedrohung durch den Warschauer Pakt, wird an den Prinzipien der Einbettung in ein sich änderndes Bündnis und an der Multinationalität festgehalten. In Straßburg hat 1996 das Euro-Korps seine Einsatzbereitschaft gemeldet, und schon 1995 wurde in Münster durch den Bundeskanzler und den niederländischen Ministerpräsidenten das I. Deutsch-Niederländische Korps in Dienst gestellt, ein dänisch/deutsches/polnisches Korps ist in Vorbereitung, um nur drei herausragende Beispiele zu nennen. Multinationalität, einschließlich der militärischen Präsenz der USA in Deutschland, liegt in unserem nationalen Interesse. Sie ist ein wichtiges Instrument der Stabilität und der Entwicklung eines friedlichen Europas. 2. Die Bundeswehr ist eine Defensiv-Armee, die der Verhinderung eines Krieges oder der Wiederherstellung eines gebrochenen Friedens dient. Es war die gemeinsame Politik aller deutschen Parteien, daß von deutschem Boden nie wieder eine Aggression ausgehen sollte. Jeder Angriffskrieg und seine Vorbereitung sind im Grundgesetz verboten und unter Strafe gestellt 8 . Aber ein Staat gäbe sich selbst auf, wenn er nicht bereit wäre, einem Aggressor entgegenzutreten. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und israelische Friedenskämpfer Arnos Oz hat bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche 1992 die fast klassische Formulierung gefunden, „daß das äußerste Übel nicht der Krieg ist, sondern die Aggression". Und „daß man Aggressionen niemals aus der Welt schafft, indem man ihnen nachgibt" 9 . Das Grundgesetz hat die Bundeswehr daher ausdrücklich auf Verteidigung beschränkt. Auch die Bündnisse, denen wir angehören, dienen der kollektiven 7 8 9
Vgl. Greiner, Eingliederung. Vgl. Artikel 26 Grundgesetz. Oz, Friedenspreis, S. 53, 56.
Die Bundeswehr - Neuschöpfung oder Fortsetzung der Wehrmacht
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Verteidigung. Unsere Mitgliedschaft ist durch Artikel 24 des Grundgesetzes legitimiert. Kollektive Verteidigung schließt die Bereitschaft zum gegenseitigen Beistand gegen einen potentiellen oder tatsächlichen Aggressor ein. Von Anfang an ist die Bundesrepublik Deutschland durch die Präsenz starker alliierter Streitkräfte auf ihrem Territorium Nutznießer dieser Beistandsverpflichtung gewesen. Die Verbündeten haben uns, zusammen mit der Bundeswehr, den Frieden in Freiheit erhalten. Wir waren Importeure von Sicherheit, solange der Kalte Krieg andauerte. Heute erwarten unsere Verbündeten solidarisches Handeln von uns. Das Grundgesetz hindert uns daran nicht, wie das Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt hat 10 . Aber natürlich haben wir das Recht, bei Entscheidungen über den Einsatz von Teilen der Bundeswehr außerhalb der Verteidigung des NATO-Territoriums auch an unsere nationalen Interessen zu denken. Deshalb bedarf jeder einzelne derartige Fall einer besonderen politischen Entscheidung und der Zustimmung des Bundestages. Für die Soldaten ist die politische Zustimmung des Parlaments eine wichtige mentale Hilfe. 3. Die Bundeswehr ist eine Armee in einer Demokratie Als die zuletzt geschaffene große Institution der Exekutive unseres Staates waren die Streitkräfte dem Primat der Politik unterzuordnen. Sie sollten keine Sonderstellung innerhalb der Exekutive erhalten. Die Befehls und Kommandogewalt wurde einem zivilen Politiker übertragen. Mit ihm unterliegt auch die Truppe bis in die unterste Ebene hinein der parlamentarischen Kontrolle durch den Bundestag. Die Bundeswehr ist die erste konsequent parlamentarisch kontrollierte Armee in der deutschen Geschichte. Die Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages verstärkt dieses Prinzip. Für die innere Ordnung der Streitkräfte ging es darum, „die sittlichen Werte des deutschen Soldatentums mit der Demokratie zu verschmelzen", so Konrad Adenauer im Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag 11 . Mit anderen Worten: Es ging darum, die unverzichtbare hierarchische Ordnung und das System von Befehl und Gehorsam in ein ausgewogenes Verhältnis zu den Grundsätzen von Freiheit und Menschenwürde zu bringen. In dem Spannungsbogen von Ordnung und Freiheit, dem jede Armee unterliegt, wollte man der Freiheit die Priorität geben und sie nur einengen, wo es die Erfüllung des militärischen Auftrages gebietet. In der Sprache des Soldatengesetzes heißt das: „Der Soldat hat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger. Seine Rechte werden im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt" 12 . Dies scheint mir die kürzeste Definition des Konzepts des Staatsbürgers in Uniform zu sein. Aus ihm sind die Grundsätze für die innere Führung abgeleitet worden, die oft als ein „Markenzeichen" der Bundeswehr bezeichnet werden
10
11
12
Vgl. Urteil v o m 12. 7. 1994 betr. Adria-, A W A C S - und Somalia-Einsatz der Bundeswehr, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, 90, S. 2 8 6 - 3 9 4 . Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, 240. Sitzung, 3. 12. 1952, S. 1 1 1 4 1 A. Vgl. § 6 Soldatengesetz v o m 1 8 . 3 . 1956, B G B l I, 1956, S. 1 1 4 - 1 2 6 , hier S. 115.
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und für die sich heute vor allem die Armeen der früheren Warschauer Pakt Staaten interessieren. Ich betone noch einmal: Die Pflichten des Soldaten der Bundeswehr stehen nicht im Ermessen militärischer Vorgesetzter bis hin zum Oberbefehlshaber. Sie sind aus den militärischen Erfordernissen abgeleitet und im Soldatengesetz im einzelnen definiert. Zur Einbettung der Bundeswehr in die noch junge Demokratie gehört auch die Erkenntnis, daß die Verteidigung eines Staates zu den selbstverständlichen Pflichten aller männlichen Staatsbürger gehört. Dies war - neben wichtigen militärfachlichen Gründen - die eigentliche politische Begründung für die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht. Erstmalig in der deutschen Geschichte entstand eine Wehrpflichtarmee in einer parlamentarischen Demokratie. Man war überzeugt, dadurch die Streitkräfte fest in die Gesellschaft einzubinden, zu integrieren und damit ein Eigenleben der Armee neben dem Staat und neben der Gesellschaft verhindern zu können. Allerdings kann diese Integration nur erfolgreich sein, wenn sich nicht nur die Armee zur Gesellschaft hin öffnet, sondern auch die Gesellschaft ihrerseits die Streitkräfte als eine notwendige und normale Institution des Staates akzeptiert. Ich stehe nicht an, die Ableistung des Grundwehrdienstes als ein Opfer zu bezeichnen, ein Opfer an Zeit, an Bequemlichkeit und für viele auch ein Opfer an Geld. Der junge Wehrpflichtige geht nicht zur Bundeswehr, damit er etwas davon hat, sondern damit er etwas gibt. Natürlich sollte auch etwas Positives für ihn dabei herauskommen. Ich wünschte mir, daß die breite Öffentlichkeit mehr als bisher dieses Opfer anerkennt, dem jungen Mann dafür ihre Achtung bezeigt und ihm auch dankt. Heute steht die Wehrpflicht wieder einmal auf dem Prüfstand. Es gibt wichtige Gründe, die allgemeine Wehrpflicht beizubehalten. Es gibt auch mancherlei Überlegungen, sich in Zukunft auf eine Armee aus freiwilligen, längerdienenden Soldaten abzustützen. Doch wer dies unterstützt, muß wissen, daß man dazu auf ein grundsätzlich anderes sicherheitspolitisches Konzept übergehen muß, und daß man dabei auch kein Geld einspart, selbst wenn eine Freiwilligenarmee erheblich kleiner ist als eine Wehrpflichtarmee. Ich selbst gehöre zu den überzeugten Anhängern der Wehrpflicht. In einer europäischen Mittellage entspricht sie am besten unseren sicherheitspolitischen Interessen. Ein wichtiges Kriterium für die Akzeptanz neuer Streitkräfte in der jungen Demokratie war die Personalfrage. Es war ein Problem von eminent politischer Bedeutung. Ich werde diese Frage später eingehend behandeln. Aber ich möchte das Kapitel „Armee in der Demokratie" nicht abschließen, ohne auf zwei Reformentscheidungen hinzuweisen, die seinerzeit weitreichende Beachtung gefunden haben, heute aber bereits zur Selbstverstädnlichkeit geworden sind. Ich meine das Justizwesen und die Bundeswehrverwaltung. Dem rechtsstaatlichen Verständnis entsprach es, eine Militärgerichtsbarkeit mit Richtern, deren Urteile einer Bestätigung durch einen militärischen Gerichtsherrn bedurften, nicht wieder zuzulassen. Zwar hat der Bundestag im Jahr 1957 ein Wehrstrafgesetz verabschiedet 13 , das bestimmte typisch militärische Strafta-
13
Vgl. Wehrstrafgesetz vom 30. 3. 1957, BGBl I, 1957, 1, S. 298-305.
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ten definiert und mit Strafe bedroht, ζ. B. Fahnenflucht, Selbstverstümmelung, Bedrohung und Nötigung eines Vorgesetzten, Meuterei, Mißhandlung von Untergebenen u.a.m. Verhandlung und Urteilsfindung aber ist zivilen Strafgerichten übertragen worden. Auch die Truppendienstgerichte innerhalb des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung, die sich mit schweren Disziplinarfällen zu befassen haben, sind als unabhängige Gerichte konzipiert, in deren Urteilsfindung kein militärischer Vorgesetzter und auch nicht der Minister eingreifen können. Sehr viel größere Probleme hat die Konzeption für die Bundeswehrverwaltung bereitet. Hier trafen verschiedene Auffassungen innerhalb des Verteidigungsministeriums, aber auch förderale Interessen oft mit Leidenschaft aufeinander. Es war das politische, von Mißtrauen gegen die Soldaten nicht ganz freie Ziel einer Gruppe von Beamten und Politikern, alle Verwaltungsaufgaben aus der militärischen Kommandoebene herauszulösen und sie einer zivilen, bundeswehrgemeinsamen Wehrverwaltung mit eigenem Unterbau bis auf die Standortebene hinunter zu übertragen. Zwei nebeneinanderlaufende Stränge, Kommandogewalt und Verwaltung, sollten erst in der ministeriellen Ebene zusammengeführt werden. Dieses Konzept wurde in der Regel mit einer Entlastung der Kommandoebene von nicht militärtypischen Aufgaben begründet. Viele stützten sich dabei aber auch auf das Prinzip der Gewaltenteilung - dieses Mal Gewaltenteilung innerhalb der Streitkräfte. Ich habe nie verstanden, weshalb es innerhalb der Exekutive, und damit auch innerhalb der Streitkräfte, noch einmal eine zusätzliche Gewaltenteilung geben sollte. Das Konzept der „getrennten Stränge" bedurfte aber auch der Zustimmung der Länder. Nach Artikel 30 des GG ist die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft. Die Errichtung einer Bundeswehrverwaltung mit eigenem Unterbau bedurfte also der verfassungsändernden Zustimmung des Bundesrates. Die Länder haben sich lange gesträubt und erst dann zugestimmt, als die Zuständigkeiten einer zivilen Bundeswehrverwaltung im Artikel 87 b des Grundgesetzes klar definiert und festgelegt worden waren. Das geschilderte Konzept hat sich - mit geringfügigen Modifikationen - durchgesetzt. Die heißen Auseinandersetzungen um diese strittige Frage sind heute fast vergessen. Letztlich hat sich das Zusammenwirken der Truppenkommandeure und territorialen militärischen Kommandostellen mit den entsprechenden Behörden der Bundeswehrverwaltung gut eingespielt. Beide Seiten haben gelernt, daß sie einem gemeinsamen Ziel dienen, nämlich der Effizienz der Streitkräfte. 4. Ich komme zum vierten der Grundprinzipien: Die Bundeswehr ist eine Gesamtstreitmacht. Frei von vorgegebenen Strukturen konnte der Versuch gewagt werden, die Bundeswehr nicht als eine Summe aus drei nebeneinanderstehenden selbständigen Streitkräften Heer, Luftwaffe und Marine zu verstehen. Man sah in ihr vielmehr ein geschlossenes Ganzes, eine einheitliche Gesamtstreitmacht. Natürlich bedürfen die Einflüsse, die die Elemente Land, Luft und Wasser auf Führung, Organisation und Technik, ja auch auf das Lebensgefühl der Soldaten ausüben, der Berücksichtigung. Doch sollte alles das gemeinsam geplant und durchge-
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führt werden, was gemeinsam wahrgenommen werden kann. Man nannte das gemeinhin die „Bundeswehrlösung". Nur einige Beispiele seien genannt. Es gibt für die Bundeswehr im Gegensatz zu früheren deutschen Streitkräften in der Spitze nur eine Haushalts-, eine Rüstungs- und eine Personalabteilung. Die militärischen territorialen Aufgaben und die Bundeswehrverwaltung sind streitkräftegemeinsam organisiert. Forschung, Entwicklung und Beschaffung des Materials werden durch eine Behörde gesteuert. Ahnliches gilt für die Sicherheitspolitik, die Streitkräfteplanung, das Sanitätswesen, große Teile des Fernmeldewesens, nicht zuletzt für die Innere Führung. Manche Aufgaben werden von einer Teilstreitkräfte im Pilotdienst für die anderen Teile der Bundeswehr gemeinsam wahrgenommen. Die Bundeswehr hat damals, nicht ohne Widerstand in den eigenen Reihen, einen viel beachteten großen Schritt nach vorne getan, in machen Bereichen früher als andere Nationen. Sie ist diesem Gedanken treu geblieben und hat ihn trotz gelegentlicher Zweifel und Rückschläge konsequent weiterentwickelt. Die Bundeswehrlösung bewährt sich heute bei den Einsätzen außerhalb unserer Grenzen, wo Verbände des Heeres, der Luftwaffe und der Marine schon auf unterer Ebene auf das engste zusammenarbeiten müssen. Die vier vorgetragenen Grundprinzipien - Armee in einem Bündnis, Armee für die Verteidigung, Armee in einer Demokratie und Gesamtstreitmacht - haben das Wesen der Bundeswehr bei Planung und Aufstellung elementar bestimmt. Sie gelten auch noch heute. Sie beschreiben zugleich ihre grundlegenden Unterschiede zu den früheren deutschen Streitkräften, der Wehrmacht und ihren Vorgängern. Insoweit ist die Bundeswehr eine Neuschöpfung.
II. Aber eine Armee entsteht nicht aus dem Nichts. Sie ist wie ein Baum, dessen Wurzeln tief in die Vergangenheit hineinreichen. Schnitte man die Wurzeln ab, stürbe der Baum. Wohl aber bedürfen Baum und Wurzeln der Pflege. Abgestorbene oder kranke Wurzeln sind abzuschneiden, gesunde Wurzeln zu erhalten, neu wachsende Wurzeln zu kräftigen. Deswegen braucht jede Armee Anknüpfungspunkte an die Vergangenheit. Wir nennen es Traditionen - nicht zu verwechseln mit Konventionen. Konventionen beziehen sich auf Formen und Bräuche, Uniformen, Exerzierreglement, Abzeichen, Fahnen u. a.m. Sie können zwar Inhalte symbolisieren, sie sind auch nicht unwichtig, aber sie bleiben letztlich Äußerlichkeiten. Tradition dagegen bewahrt innere Werte. Sie dient der besseren Erfüllung des Auftrages in der Gegenwart. Sie hat eine erzieherische Bedeutung. Tradition ist deshalb auch nicht das gleiche wie Geschichte. Tradition ist vielmehr Auswahl aus der Geschichte, Auswahl in Richtung auf die heutige Aufgabe. Die Tradition der Bundeswehr hat tiefe Wurzeln, die durch die Wehrmacht hindurch weit in das vorige Jahrhundert hineinreichen. Das beweist allein die Rückbesinnung auf die preußischen Reformen unter Scharnhorst, die ich schon in meinen ersten Sätzen angesprochen habe. Damals wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt als ein
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Zeichen „die Armee und Nation inniger zu vereinen". Ebenfalls von Scharnhorst stammt der Satz: „Alle Bewohner des Staates sind geborene Verteidiger desselben" 1 4 . Konsequenterweise wurden damals z . B . die entehrende Prügelstrafe für Soldaten abgeschafft und die Offizierstellen auch für Bürgerliche geöffnet. Ganz bewußt ist der 200. Geburtstag Scharnhorsts zum Geburtstag der Bundeswehr ausgewählt worden. Eine zweite Traditionslinie knüpft an die überzeitlich gültigen, bewährten und unverzichtbaren Werte und Tugenden des Soldatentums an. Ich nenne dabei Dienen, Treue, Gehorsam, Tapferkeit, Kameradschaft, Fürsorge für den Untergebenen, beispielhaftes Verhalten der Vorgesetzten. Diese Forderungen sind ich sagte es schon - in das Soldatengesetz für die Bundeswehr übernommen und dort ausdrücklich als gesetzliche Pflichten definiert worden. Wer ungehorsam ist, wer die Kameradschaft verletzt, verstößt nicht nur gegen eine tradierte Tugend, er handelt vielmehr gegen eine gesetzliche Pflicht. Tugenden und Pflichten aber, so haben wir es bitter erfahren, erhalten ihren wahren Wert erst durch das „wofür". Der Gehorsam des Soldaten der Bundeswehr ist daher nicht „unbedingt", nicht „absolut", sondern durch das Soldatengesetz unter ausdrücklicher Einbeziehung der Menschenwürde auf die dienstlichen Notwendigkeiten eingegrenzt worden. Zudem sind alle Pflichten des Soldaten durch Eid und Gelöbnis bewußt mit den Werten Recht, Freiheit und Verteidigung verknüpft worden und damit der Beliebigkeit von Vorgesetzten und auch dem politischen Mißbrauch entzogen. So lebt Tradition weiter und lernt zugleich aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit. Eine weitere Tradition ist der in der deutschen Armee seit jeher gepflegte Führungsstil der „Auftragstaktik", verständlicher ausgedrückt, des Führens durch Aufträge. Was heißt das? Der Auftraggeber bestimmt das Ziel und ereilt dazu einen klar umrissenen Auftrag. Er stellt die erforderlichen Kräfte und Mittel zur Verfügung und informiert zugleich über die größere Absicht der übergeordneten Führung. Einzelheiten aber regelt er nur, soweit es zur Koordination zwingend ist. Der Empfänger des Auftrages ist in der Art der Durchführung weitgehend frei. Ihm bleibt ein bemerkenswerter Ermessens- und Handlungsspielraum für eigene Entscheidungen auch in rasch wechselnden Lagen, solange er sich im Rahmen seines Auftrags und der ihm bekannten Absicht der höheren Führung bewegt. Auftragstaktik ist also eine Mischung von Bindung und Freiheit. Sie wird damit unserer freiheitlichen, aber an klaren Normen orientierten gesellschaftlichen Ordnung voll gerecht. Sie ist deutsche militärische Führungstradition spätestens seit Moltke. Schwieriger zu lösen war und ist die Frage, ob und inwieweit die Tradition der Bundeswehr speziell auch an die Wehrmacht anknüpfen sollte. Es kann nicht bestritten werden, daß sich Angehörige der Wehrmachtführung mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime verstrickt haben. Ich brauche nur Namen wie Keitel, Göring, Dönitz, Reichenau und Schörner zu nennen. Wir wissen heute auch, daß Soldaten und Einheiten der Wehrmacht an völkerrechtswidrigen Taten beteiligt gewesen sind, und zwar in einem größeren Ausmaß als vie-
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Gerhard von Scharnhorst, zit. n. Hermann, Militärgeschichte, S. 149, 158.
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len das bisher bekannt war. Die Wehrmacht ist nicht ohne Schuld geblieben. Als Gesamtinstitution mit Adolf Hitler als ihrem Obersten Befehlshaber und als dessen politisch mißbrauchtes Instrument kann sie nicht traditionsbildend sein. Das aber berechtigt nicht zu undifferenzierten verdammenden Pauschalurteilen gegenüber allen denjenigen, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Hitler ist die völlige Gleichschaltung der Wehrmacht nicht gelungen. Er hat aus seinem wachsenden Mißtrauen gegen Generale und Generalstab des Heeres keinen Hehl gemacht. Für viele deutsche Männer ist das Heer ein Hort innerer Emigration geworden, w o sie bis zum Sommer 1944 dem Zugriff der Partei und der Gestapo entzogen waren. Soldaten der Wehrmacht haben eine handelnde Rolle im Widerstand gegen Adolf Hitler gespielt. Sie sind in die Tradition der Bundeswehr übernommen worden als leuchtende Beispiele für die, die ihr Gewissen höher gestellt haben als den formalen Gehorsam gegenüber einem Eid, der von dem Eidnehmer Adolf Hitler längst selbst gebrochen war. Aber neben ihnen verdienen Respekt auch die Soldaten der Wehrmacht, die aus ihrer damals begrenzten Kenntnis der Vorgänge heraus bona fide ehrenhaft gehandelt und tapfer gekämpft haben. Dies war die überwiegende Mehrheit der Soldaten. Sie haben damals geglaubt, für den Schutz und die Verteidigung des Vaterlandes zu kämpfen - manchmal mit bedrängtem Gewissen - , und dafür haben sie auch ihr Leben eingesetzt. Erst später haben sie erkennen können und müssen, daß in Wirklichkeit ihr Einsatz für eine schlechte Sache mißbraucht worden ist. Und damit komme ich auf ein Problem zurück, das ich vorhin nur kurz angemerkt habe, das aber doch längerer Ausführungen bedarf. Ich erwähnte schon, bei der Aufstellung der Bundeswehr in den 50er Jahren hat die Frage der Wiederverwendung von Wehrmachtsoldaten eine eminent politische Bedeutung gespielt. Konrad Adenauer soll nach Unterzeichnung der Pariser Verträge im Herbst 1954 in einer Pressekonferenz provokativ gefragt worden sein: „Herr Bundeskanzler, werden die Generale Adolf Hitlers auch die Generale Konrad Adenauers sein?" Nach kurzem Zögern habe er schlagfertig geantwortet: „Ich glaube, daß mir die N A T O 18jährige Generale nicht abnehmen wird." Nicht besser als durch diese Anekdote könnte die tatsächliche Situation beschrieben werden. Wenn man es zu dieser Zeit (1955) zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und in Ubereinstimmung mit den westlichen Besatzungsmächten für zwingend hielt, Streitkräfte deutscher Nationalität neu aufzustellen, konnte man das nur mit Soldaten der Wehrmacht tun. Es gab ja damals keine anderen militärisch ausgebildeten Männer in Deutschland, von dem kleinen Bundesgrenzschutz abgesehen - und auch dort hatten alle über 30jährigen Polizeibeamte einmal Wehrmachtuniform getragen. Die Regierung stand vor der Aufgabe, schon in den ersten Aufstellungsjahren mehr als 10000 Offiziere und noch mehr Unteroffiziere der Wehrmacht als neue Berufssoldaten in den Staatsdienst zu übernehmen und ihnen die militärische Führung des stärksten Machtinstruments der jungen Demokratie anzuvertrauen. Erschwerend kam hinzu: Die Personalpyramide stand auf dem Kopf. Es lebten damals in der Bundesrepublik über 1300 ehemalige Generale der Wehrmacht, von denen etwas 40 bis 45 benötigt wurden, aber es gab keinen ehemaligen Leutnant und keinen Unteroffizier unter 30 Jahren. Es handelte sich also
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nicht um die Frage, ob Wehrmachtsoldaten wieder eingestellt werden sollten, sondern es kam auf die Auswahl an 15 . Zunächst waren die Richtlinien zu erarbeiten, die dieser Auswahl zugrundegelegt werden sollten. Hierbei spielten die militärische Qualifikation im Kriege, die Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus nach einem Jahrzehnt der Besinnung ebenso eine Rolle wie die Bewährung in Kriegsgefangenschaft und in der Nachkriegszeit. Dann waren aus der Zahl der Offiziere und Unteroffiziere, die sich um Einstellung bewarben, die geeigneten auszuwählen. Es gab ja auch gescheiterte Existenzen unter den Bewerbern. Wichtiger aber noch war es, solche Offiziere, an deren Gewinnung ein besonderes Interesse bestand - und das galt eben vor allem für die jüngeren Dienstgrade - zu einer Bewerbung zu ermutigen, obwohl sie sich in den 10 Nachkriegsjahren einer soliden Ausbildung unterzogen und oft schon eine zukunftsträchtige Position in zivilen Berufen erarbeitet hatten. In diesem Zusammenhang spielte eine Institution eine entscheidende Rolle, für die es bis dahin im deutschen Staatsrecht kein Vorbild gegeben hatte und die heute fast vergessen ist. Ich meine den Personalgutachterausschuß. Er war durch ein fast einstimmig beschlossenes Bundesgesetz ins Leben gerufen worden. Die 38 Mitglieder des Ausschusses - Männer und Frauen des zivilen Bereichs aus verschiedenen politischen Richtungen und gesellschaftlichen Institutionen sowie einige wenige frühere Berufssoldaten - wurden von der Bundesregierung vorgeschlagen, vom Bundestag gewählt und vom Bundespräsidenten berufen. Der Ausschuß hatte zunächst die schon erwähnten Einstellungsrichtlinien zu erarbeiten. Seine Hauptaufgabe aber war es, alle Offiziere, die von der Regierung für eine Einstellung mit dem Dienstgrad vom Oberst an aufwärts vorgeschlagen wurden, auf ihre persönliche und damit auch politische Eignung hin zu prüfen. Auch die schon seit Jahren in der Dienststelle Blank wirkenden Mitarbeiter, einschließlich der ehemaligen Generale Heusinger und Speidel, wurden in die Prüfung einbezogen, so auch ich. Der Ausschuß hatte ungewöhnliche Vollmachten. Er war völlig unabhängig, an keine Weisung - weder vom Parlament noch von der Regierung - gebunden; er gab sich seine Geschäftsordnung selbst. Die Uberprüfung der Bewerber war geheim. Die Betroffenen erhielten keinen Einblick in die über sie eingeholten Auskünfte, konnten dazu also auch nicht Stellung nehmen. Die Ablehnung eines Bewerbers brauchte nicht begründet zu werden und eine Einspruchsmöglichkeit bestand nicht. Die Mitglieder schließlich waren zur Verschwiegenheit verpflichtet. Vor dem Bundesverfassungsgericht würde heute eine solche Regelung wohl kaum Bestand haben. Es steht fest, daß sich keine andere Personalgruppe des Öffentlichen Dienstes unseres Staates, ob Beamte, Diplomaten, Richter, Lehrer oder Professoren, einer solchen zusätzlichen, von der Administration unabhängigen, vom breiten Vertrauen des Parlaments getragenen, geheimen, für den Betroffenen unanfechtbaren Überprüfung hat unterwerfen müssen, wie die hohen Offiziere der Bundeswehr. Der Bundeswehr ist daher auch, im Gegensatz zu anderen Ver-
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V g l . M e y e r , E n t w i c k l u n g , bes. S. 1120-1160.
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waltungszweigen, jede nachträgliche Untersuchung über die politische Zuverlässigkeit hoher Offiziere erspart geblieben. U n d es hat keinen Fall gegeben, daß ein höherer Offizier später seiner Vergangenheit wegen den Dienst hätte quittieren müssen. Dieses ist letztlich ja auch der Grund dafür, daß es niemals einen Zweifel an der Loyalität der Streitkräfte gegenüber der Verfassung und der politisch legitimierten Bundesregierung, gleich welcher Zusammensetzung, gegeben hat. Übrigens hat der Ausschuß später beschlossen, alle Akten zu vernichten, so daß auch nachträglich eine Rekonstruktion oder gar Nachprüfung der damaligen Entscheidungen kaum mehr möglich ist. Auch etwaige Fehlentscheidungen und es hat meiner Meinung nach einige wenige gegeben - sind nicht mehr revidierbar 1 6 . Ich habe diese Personalfrage so ausführlich dargestellt, weil sie deutlich macht, daß im personellen Bereich ein unmittelbarer Rückgriff auf die Wehrmacht unumgänglich war und man daher durchaus von einer personellen Kontinuität aus der Wehrmacht heraus hin zur Bundeswehr sprechen kann. Als ich 1958 Brigadekommandeur wurde, stammten noch alle Kompaniechefs, alle Kompaniefeldwebel und ein Teil der Zugführer aus der Wehrmacht. Dies war oft genug Gegenstand kritischer Diskussion, vor allem im politischen Raum. Aber man muß dabei auch bedenken: Ein Jahrzehnt lang hatten die in der Bundeswehr neu zu verwendenden Wehrmachtsoldaten Zeit zur Besinnung und Bewährung gehabt. Zunächst - kürzer oder länger - hinter Stacheldraht in den Kriegsgefangenenlagern der früheren Kriegsgegner, dann in einer Tätigkeit in zivilen Berufen, die allermeist auf der untersten Stufe begonnen wurde. Ich selbst habe 1947 mit 35 Jahren eine zweijährige Lehrzeit im Buchhandel begonnen und konnte mir damals nicht vorstellen, jemals wieder Soldat zu werden. U n d schließlich haben sich die Bewerber der geschilderten strengen Auswahl unterziehen müssen, ehe sie als Soldat in den Staatsdienst der Bundesrepublik Deutschland eintraten.
III. Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Bundeswehr - Neuschöpfung oder Fortsetzung? Wenn ich jetzt eine Antwort wage, so möchte ich sagen: Ja, die Bundeswehr ist eine Neuschöpfung auf der Grundlage unserer seit 1949 gültigen, im Grundgesetz niedergelegten Verfassungsordnung, das Ergebnis einer tiefgreifenden Militärreform. Sie ist keine einfache Fortsetzung der früheren deutschen Armee. Aber dennoch steht sie nicht im luftleeren Raum. Sie stützt sich auf Wertvorstellung und Erfahrungen der Vergangenheit, angefangen von der preußischen Reform zu Beginn des vorigen Jahrhunderts bis hin zur Reichswehr und zur Wehrmacht. Ich sagte schon, es gibt keine Armee ohne Wurzeln. Aber die Wurzeln der Bundeswehr sind geprüft worden. U n d nur diejenigen wurden genutzt
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Vgl. ebd., S. 1034-1119.
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und gehegt, die den Ansprüchen unserer demokratischen Wertordnung entsprechen und für die Erfüllung der heute zu lösenden Aufgaben hilfreich sind. Die Bundeswehr besteht nun schon über 40 Jahre, sie ist älter als Wehrmacht und Reichswehr zusammen. Sie braucht sich nicht nur auf Traditionen aus der Vergangenheit zu stützen. Sie hat auch eigene Traditionen entwickelt, weil sie stolz darauf sein kann, was sie bisher geleistet hat. Zu diesen Leistungen gehört vor allem der Beitrag zur längsten Friedensperiode, die Mitteleuropa seit Jahrhunderten erlebt hat, aber auch die Bewährung in multinationalen Auslandseinsätzen außerhalb des NATO-Territoriums oder in Naturkatastrophen im In- und Ausland. Ich habe die Aufstellung der Bundeswehr als eine tiefgreifende Armeereform bewertet und dabei auf das Wirken der preußischen Reformer am Anfang des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Es ist aber meines Erachtens zu früh zu beurteilen, ob die Reform der 50er Jahre unseres Jahrhunderts die gleiche historische Bedeutung besitzt wie das Wirken Scharnhorsts und seiner Mitstreiter 150 Jahre zuvor. Ich wage heute kein abschließendes Urteil. Niemand wird bestreiten, daß im Amt Blank von Soldaten in Zusammenarbeit mit Politikern, Juristen und Wissenschaftlern neue Lösungen für das Verhältnis der Streitkräfte zu Staat und Gesellschaft und für die innere Ordnung einer Armee erarbeitet worden sind, Lösungen, die auch Realität geworden sind und Bestand hatten. Aber von ihnen gingen keine eigenen politischen Impulse auf die Gestaltung des gesamtstaatlichen Lebens aus. Im Gegenteil. Sie leiteten sich konsequent aus der seit 1949 geschaffenen politischen, verfassungsmäßigen und sozialen Ordnung ab, fügten sich in diese ein. Die Bundeswehr ist ein Kind unserer Demokratie. Uberlassen wir es den Historikern späterer Generationen aus der Distanz die historische Bedeutung dieser Periode und die Rolle der Bundeswehr in ihr zu bewerten. Die Politiker und Soldaten, die die Bundeswehr geplant, aufgestellt und bis heute geführt haben, können sich - auch wenn sie einmal in der Wehrmacht gedient haben - mit Gelassenheit diesem Urteil stellen.
Η
ans-AdolfJacobsen
Wehrmacht und Bundeswehr Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema soldatischer Traditionspflege
I m J a h r e 1998 haben Meldungen über „besondere V o r k o m m n i s s e " innerhalb der B u n d e s w e h r mit rechtsradikalem oder rechtsextremistischem Hintergrund viele G e m ü t e r in D e u t s c h l a n d beunruhigt. H i t l e r - G r u ß , Brüllen von N S - P a r o len und das Abspielen von C D ' s mit nationalsozialistischem Gedankengut lassen kaum einen Zweifel daran, daß Vertreter des Ungeistes vergangener J a h r zehnte glauben, die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland erneut herausfordern zu k ö n n e n . Allerdings dürfte der von einigen geäußerte Verdacht, die B u n d e s w e h r sei inzwischen rechtsradikal unterwandert, unbegründet sein. D i e s hat der U n t e r s u c h u n g s a u s s c h u ß des D e u t s c h e n Bundestages in seinem jüngsten B e r i c h t n o c h einmal in aller D e u t l i c h k e i t unterstrichen 1 . M i t R e c h t hat er überdies h e r v o r g e h o b e n , daß nach wie v o r die Prinzipien der Inneren F ü h rung das Selbstverständnis der heutigen deutschen Soldaten prägen, in deren M i t t e l p u n k t die Werte der freiheitlichen demokratischen G r u n d o r d n u n g , die E r z i e h u n g zum „Staatsbürger in U n i f o r m " und der D i e n s t für den Frieden in unserer Zeit stehen. J e d o c h hat die kontroverse D e b a t t e über die gegenwärtig in deutschen Städten gezeigte Wehrmachtausstellung 2 , insbesondere die damit verbundene Kritik an dem Verhalten deutscher Soldaten im Rußlandfeldzug von 1 9 4 1 - 1 9 4 4 , erkennen lassen, daß ü b e r fünfzig J a h r e nach dem E n d e des totalen Krieges die unumgängliche Auseinandersetzung mit der R o l l e der W e h r m a c h t im „Dritten R e i c h " n o c h keineswegs abgeschlossen ist und die N a c h w i r k u n g e n derselben in der B u n d e s w e h r ebenso wie in anderen Teilen der Gesellschaft gewisse Spuren hinterlassen haben. D a s kann auch das Verteidigungsministerium nicht leugnen. Bedauerlicherweise hat es die H a r d t h ö h e - aus welchen G r ü n d e n auch immer abgelehnt, sich offiziell der D i s k u s s i o n um Verantwortung und Schuld der W e h r m a c h t - verbunden mit einer unmißverständlichen A b g r e n z u n g gegenüber der B u n d e s w e h r und ihren demokratisch fundierten Prämissen - zu stellen und eine sorgfältige, differenzierte historische Expertise zu den früheren Vork o m m n i s s e n und ihrer B e w e r t u n g verfassen zu lassen, wie dies von verschiedenen Seiten vorgeschlagen w o r d e n ist. So bleiben weiterhin Mißverständnisse, Fehldeutungen und Legenden bestehen, die, soweit möglich, hätten ausgeräumt bzw. widerlegt werden müssen - nicht zuletzt auch deshalb, um dadurch man-
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Vgl. Bundesdrucksache 13/11005 vom 18. 6. 1998. Vgl u.a. Thiele (Hrsg.), Wehrmachtausstellung.
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eher Argumentation von Rechtsextremisten und ewig Gestrigen, darunter Veteranen, den Boden zu entziehen 3 .
Von der Strategie der Gewalt zur Politik der Friedenssicherung Wer im Lichte historischer Erkenntnisse und politischer Praxis die Rolle der Wehrmacht mit der der Bundeswehr im 20. Jahrhundert vergleicht, wird ohne große Schwierigkeiten die grundlegenden Unterschiede erkennen und würdigen können 4 . Die Streitkräfte in der Epoche des Imperialismus und Militarismus haben spezifische Funktionen traditioneller Macht- und Gewaltpolitik gehabt, zugleich war ihre Stellung in der Gesellschaft herausgehoben. Es waren zudem die Armeen des preußisch-deutschen Staates, die durch ihre Waffentaten die Einigung des Reiches erzwungen und entsprechendes Prestige errungen hatten. Mit ihrer Hilfe haben die deutschen Führungseliten zweimal versucht, eine Weltmachtstellung des Deutschen Reiches zu erkämpfen. Ihre „Kontinuität des Irrtums", ihre maßlose Selbstüberschätzung und ihr weithin ausgeprägtes Unvermögen, die Realitäten in dieser Welt angemessen in das eigene Kalkül miteinzubeziehen, zählten, von den - teils uferlosen, teils wahnwitzigen - amoralischen Kriegszielen einmal ganz abgesehen, zu den entscheidenden Gründen für die beiden schicksalhaften Niederlagen von 1918 und 1945 5 . Zur gleichen Zeit haben Millionen deutscher Soldaten auf allen Schlachtfeldern nicht nur Angst und Schrecken verbreitet, sondern auch unverhohlene Bewunderung wegen ihrer hohen Effizienz hervorgerufen. 1939 gehörte die deutsche Wehrmacht wohl zu den schlagkräftigsten und stärksten Heeren der Welt. Aufgrund ihrer Tradition, Erziehung, Ausbildung und des Prinzips vom „unbedingten Gehorsam" (Eid) gegenüber Hitler hatte sie sich im Laufe der Jahre zu einem der aktivsten Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Expansion entwickelt und den Krieg als ein legitimes Mittel der Politik betrachtet. Mochten anfangs auch die Ansichten zwischen der politischen Führung und der Wehrmachtspitze über Möglichkeiten und Grenzen des militärischen Einsatzes differiert haben 6 , spätestens seit 1940 traten die bis dahin offenkundigen Gegensätze in den operativen Zielsetzungen in den Hintergrund. Die von Hitler befohlenen und von der hohen Generalität gehorsamst geführten Feldzüge im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges müssen als eine der hauptsächlichen Ursachen für den permanenten Unfrieden im internationalen System angesehen werden. 1945 war die Strategie der Gewalt, des Terrors und Unterdrückung restlos gescheitert. Deutschland hatte die wohl schwerste, im wesentllichen selbstverschuldete militärische Niederlage seiner Geschichte erlitten 7 .
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Postwurfsendungen und Briefe an d. Verf., 1997. Vgl. dazu grundlegend, Anfänge, 1-4. Aus der umfassenden Literatur vgl. vor allem Hildebrand, Reich. Vgl. Müller, Heer. Vgl. Jacobsen, Imperativ.
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Zahlreiche Kriegsverbrecherprozesse haben in den darauffolgenden Jahren Verhängnis und Schuld des deutschen Soldatentums enthüllt, wenngleich das ganze Ausmaß von Verführung, Manipulation, Verstrickung und Mitverantwortung, desgleichen des oppositionellen Verhaltens einzelner Offiziersgruppen gegen das NS-Unrechtssystem auch erst durch die internationale Forschung aufgedeckt werden konnte. Was heute in der Wehrmachtausstellung gezeigt wird, freilich häufig undifferenziert und einseitig, ist seit langem bekannt. N u r haben sich bisher leider noch längst nicht alle Veteranen selbstkritisch damit beschäftigt. Freilich, die summarische Verurteilung deutscher Soldaten, beginnend nach Kriegsende, hat ebensowenig überzeugen können wie so manche politisch-psychologisch verständliche Ehrenerklärung ausländischer Staatsmänner für die ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht 8 . Derartige Pauschalurteile können im Lichte historischer Wahrheitsfindung nicht bestehen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern ist die Bundeswehr kein Machtinstrument im klassischen Sinne vergangener Jahrhunderte. Ihr Auftrag ist rein defensiv. Seit ihrer Existenz hat sie einen überzeugenden Beitrag zur gemeinsamen Wahrung des Friedens und der Freiheit in Europa geleistet. Desgleichen haben ihre mannigfachen sozialen und peace-keeping Einsätze - letztere im Rahmen internationaler Mandate - bewiesen, in welchem Umfang sich das Selbstverständnis deutscher Soldaten gewandelt hat. Diese Tatsache ist sicherlich auch auf Veränderungen des internationalen Systems (Bipolarität, Teilung Europas und Deutschlands im Schatten der Atomwaffen), auf die erfolgreiche demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik und darauf zurückzuführen, daß eine umfassende neue Wehrgesetzgebung die notwendigen Voraussetzungen für eine Armee in der Demokratie zur Friedenssicherung geschaffen hat. Hinzu kommt, daß die Militärmacht Deutschland Teil des defensiven N A T O Bündnisses ist (kollektive Verteidigung). Fundament und Garantie der Sicherheit bleibt für sie das Eingebundensein in die westliche Verteidigungsgemeinschaft. Im übrigen hat sie als Mitglied derselben ihren Einfluß regional ausdehnen können 9 .
Traditionsbildung im Widerstreit Zu den vielen Problemen, mit denen sich die Bundeswehr seit den fünfziger Jahren konfrontiert sah und die es im Geiste von Verfassung, Gesetzen und Völkerrecht zu lösen galt, zählte jenes, ob, in welcher Form und wozu überhaupt „überlieferungswürdige Werte" aus der deutschen Geschichte in der Truppe bewahrt und weitergegeben werden sollte. Gemeint waren damit weniger bestimmte Konventionen (z.B. soldatisches Brauchtum oder Symbole), sondern vielmehr in erster Linie Traditionen, die sittliche Maßstäbe setzen, Orientierung im gesellschaftlichen Umfeld bieten und den Soldaten besser zur gewissenhaften Pflichterfüllung motivieren konnten. O b dies in der Praxis des
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Vgl. die Erklärungen der Präsidenten Eisenhower (1951) und Mitterand (1995). Siehe auch Anfänge, 1. Vgl. allgemein Jacobsen/Heuer/Rautenberg, Friedenssicherung.
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Alltags dann allerdings wie erhofft gelungen ist, diese Frage kann erst nach relevanten langzeitigen Wirkungsanalysen beantwortet werden, die es jedoch in der gewünschten Form bislang nicht gibt. Auf jeden Fall war dies kein leichtes Unterfangen - vor allem angesichts der tiefen Brüche in der Vergangenheit und des historischen Spannungsverhältnisses von freiheitlicher und soldatischer Ordnung. Es war verständlich, daß die Diskussion darüber innerhalb und außerhalb der Bundeswehr recht kontrovers geführt worden ist. Das Für und Wider, das hier nicht im einzelnen erörtert werden kann, bis hin zum Streit über die Kasernennamen, den Zapfenstreich und das öffentliche Gelöbnis haben die Geister stets von neuem bewegt. So auch im Zusammenhang mit den Richtlinien zum „Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr" 1965 und 1982. Unstrittig und zu begrüßen war in diesen die Forderung, eine bundeswehreigene Tradition zu bilden, die dem „Staatsbürger in Uniform" und dem Partner im westlichen Bündnis zum Schutze von Freiheit und Recht entsprach 10 . Viel komplizierter und widersprüchlicher blieb es indessen, Leistungen und menschliche Bewährung der Soldaten in Krieg und Frieden während der nationalsozialistischen Herrschaft gerecht zu würdigen und Leitbilder für die Traditionspflege als Teil der militärischen Erziehung in der Bundeswehr auszuwählen. Schon 1957 hatte der Kommandeur der Schule für Innere Führung in Koblenz, Oberst Weber, den Historikern vor Ort die Weisung erteilt, Bilder für den Treppen- und Wandschmuck als eine Art „Ahnengalerie" deutschen Soldatentums vorzuschlagen. Für die Jahrhunderte und Jahrzehnte vor dem 30. Januar 1933 war diese Aufgabe relativ leicht zu lösen, aber bei manchem Porträt von Offizieren der deutschen Wehrmacht war dies weniger der Fall, zumal noch längst nicht für alle die dafür erforderlichen Biographien zur Verfügung standen, um die jeweilige Persönlichkeit für die Gegenwart gebührend bewerten zu können. Bei der Luftwaffe kamen eigentlich nur jüngere „Vorbilder" (Fliegerhelden) in Betracht. Bei der Marine fand wohl Großadmiral Dönitz bei seinen ehemaligen Untergebenen Zustimmung, aber sein Bild wurde nicht aufgehängt. Die Gründe dafür dürften inzwischen hinlänglich bekannt sein. Und was das Heer anbetraf, so einigten sich Lehroffiziere und Dozenten zwar auf die wichtigsten Repräsentanten des militärischen Widerstandes gegen das NSRegime, die Liste der Heeresgeneralität aber wurde mehrfach geändert, bis ein Konsens erzielt wurde 11 . Als Kriterien dafür kamen vor allem gelebte Humanitas gegenüber anderen, vorbildliche Verhaltensweisen als Truppenführer ohne nennenswerte politische Belastung und menschliche Bewährung in Betracht. Auch in den späteren Jahren gab es immer wieder große Meinungsverschiedenheiten in der Bundeswehr bei der Auswahl von sogenannten Leitbildern. Da es das Verteidigungsministerium peinlich vermied, Namen von „Vorbildern" im Sinne der Traditionsrichtlinien zu benennen und es den Kommandeuren bzw. Einheitsführern überließ zu entscheiden, wer für sie „traditionswürdig" war, kam es häufig zu Friktionen.
Vgl. Abenheim, Bundeswehr; Harder/Wiggershaus (Hrsg.), Tradition. " A u f z . d. Verf. aus dem Jahr 1 9 5 7 („Erster Dozent der Bundeswehr") an der Schule der Inneren Führung. 10
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Im ersten Erlaß, der sehr allgemein gehalten war, wurden zwar als Maßstab für die „Traditionswürdigkeit" freiheitlich-demokratische Werte gesetzt, im Hinblick auf die Beurteilung der Wehrmacht jedoch klarstellende Aussagen vermieden. Aufgefordert wurde darin u.a. zur Pflege kameradschaftlicher Beziehungen zu den ehemaligen Soldaten des „Dritten Reiches". Im übrigen werde die Bundeswehr deren soldatische Leistungen und ihr Opfer zu würdigen wissen 12 . Der zweite Erlaß w a r in diesem Punkt schon etwas präziser formuliert. Jetzt wurde qualifiziert: Im Nationalsozialismus seien die Streitkräfte „teils schuldhaft verstrickt", teils „schuldlos" mißbraucht worden. Das Unrechtssystem des Nationalsozialismus könne keine Tradition begründen 1 3 . Aber trotz der Fortschritte in der kritischen Erforschung der deutschen Militärgeschichte von 1933—1945 und der dadurch gewonnenen Einsicht in das vielfach fatale Wirken der Wehrmacht in dieser Zeit hat sich die politische Führung der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Traditionspflege bis heute nicht zu einem offiziellen Verdikt der Wehrmacht als Organ der NS-Herrschaft durchringen können. Allerdings ist Mitte der achtziger Jahre ein solcher Versuch unternommen worden. Der 7. Beirat für Fragen der Inneren Führung hatte damals in Zusammenarbeit mit Fü S I 4 des Bundesministers der Verteidigung nach intensiven Beratungen einen Entwurf für einen neuen, d. h. dritten Traditionserlaß ausgearbeitet, in dem der strittige Passus etwa sinngemäß lautete: Die Wehrmacht kann nicht Teil der Tradition der Bundeswehr sein. Ihre Soldaten sind indoktriniert, manipuliert, tragisch verstrickt, aber auch schuldig geworden. Dies schließt nicht aus, daß die meisten von ihnen ehrenhaft gekämpft und ihre Pflicht erfüllt haben. Ihnen ist Respekt zu zollen. Die Gewissenstreue der Männer, die im militärischen Widerstand ihr Leben für die Rettung des Vaterlandes und zur Befreiung von der NS-Diktatur geopfert haben, gilt es in der Bundeswehr zu bewahren. Obgleich Verteidigungsminister Manfred Wörner dem neuen Entwurf zugestimmt hatte, hat er es doch nicht für opportun gehalten, diese Fassung vor der Bundestagswahl 1987 zu veröffentlichen. Vieles spricht dafür, daß er dies mit Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Soldatenverbände und damit auf ein beachtliches Wählerpotential getan hat. Nach seiner Ernennung zum Generalsekretär der N A T O war, wie es scheint, sein Nachfolger im Amt nicht gewillt, dieses „heiße Eisen" noch einmal anzupacken.
Wehrmacht im Rußlandfeldzug Was aber läßt sich im Lichte moderner zeitgeschichtlicher Forschung über das Verhalten der deutschen Wehrmacht in Rußland (1941-1944) - und darum geht es in erster Linie - einigermaßen gesichert aussagen, um das Ergebnis im Zusammenhang mit der Traditionspflege in der Bundeswehr bewerten zu können? Was die Millionen deutscher Soldaten während der Feldzüge im Osten (einschließlich in Polen und auf dem Balkan) de facto erlebt, gewußt bzw. mitbe12 13
Vgl. Bundesdrucksache 13/11005 vom 18. 6. 1998. Ebd.; für das Nachfolgende Tagebuchnotizen d. Verf. von 1986/87.
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wirkt haben, soweit es die zahllosen Verbrechen anbetrifft, die von Deutschen und im Namen Deutschlands verübt worden sind, läßt sich heute kaum noch mit Gewißheit sagen. Fraglos waren jedoch Teile der Wehrmacht (vornehmlich des Heeres) weitaus mehr an NS-Verbrechen direkt oder indirekt beteiligt gewesen als es von Memoirenschreibern und in Berichten von Veteranen nach 1945 zugegeben worden ist - ganz zu schweigen von den Tätern. Es gab darüber hinaus viele Mitwisser und solche, die die Mordtaten stillschweigend oder zähneknirschend zur Kenntnis genommen haben, ohne einzuschreiten und zu versuchen, das Schlimmste zu verhüten. Nicht wenige haben Meldung nach oben erstattet, sich jedoch dann dem Unausweichlichen gefügt 14 , als von ihnen Gehorsam und die Konzentration auf die Kampfhandlungen gefordert wurde. In diesem Zusammenhang von der Wehrmacht als Ganzem zu sprechen, dürfte indessen eine unzulässige Verallgemeinerung sein. Die in jüngster Zeit häufig recht apodiktisch formulierten Pauschalurteile sind weder quellenmäßig hinreichend zu begründen, noch den Realitäten des totalen ideologischen Krieges angemessen, zumal bei diesen die zahlreichen bewegenden Zeugnisse von Humanitas, soldatischer „verdammter Pflichterfüllung" und militärischer Opposition nur unzureichend berücksichtigt werden. Jedoch dürfte ein anderes generelles Urteil nicht mehr zu bestreiten sein, dem sich bisher viele Ehemalige - bewußt oder unbewußt, zum Teil verdrängt - entzogen haben. Die deutsche Wehrmacht war, wie schon erwähnt, eines der ausschlaggebenden Instrumente der NS-Kriegführung, d.h. einer Doktrin und Politik, deren Ziele es waren, Lebensraum zu erobern, die „Rassenfeinde" zu vernichten und Europa eine totalitäre Herrschaft zu oktroyieren. Während sie selbst vorwiegend militärische Aufgaben zur Ausschaltung der feindlichen Streitkräfte übernahm, und ihre Führung ( O K W / O K H ) die ideologischen Weisungen Hitlers in Befehlsform faßten, waren es in erster Linie die Sondereinheiten Himmlers, die mittels Terror und Mord den revolutionär-rassistischen Auftrag im Hinterland erfüllten. Aber - und dies muß mit allem Nachdruck betont werden - beide soziale Institutionen haben gewissermaßen „arbeitsteilig" den gleichen Krieg mit den gleichen Zielen geführt - wenn auch an verschiedenen Fronten und mit den ihnen befohlenen Methoden bzw. Mitteln. Sie alle sind in unterschiedlicher Weise und abgestuft entsprechend der hierarchischen Ordnung in der Truppe für das Geschehen von einst mitverantwortlich. Die meisten Soldaten, im militärischen Gehorsam diszipliniert, durch den Eid an Hitler gebunden und seit 1941 durch ein erbarmungsloses Ringen physisch und psychisch bis zum Äußersten herausgefordert, waren indoktriniert und tragisch verstrickt. Soweit sie an Verbrechen mitgewirkt oder diese geduldet und entsprechende Befehle erteilt haben, sind sie schuldig geworden. Desgleichen diejenigen, die für das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener Verantwortung tragen 1 5 . Heute wissen wir, daß sie allesamt nicht nur Opfer einer gewissenlosen politischen Führung, sondern,
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Vgl. Thiele (Hrsg.), Wehrmachtsausstellung; zudem beispielhaft Stahlberg, Pflicht, S. 2 2 8 ff. Vgl. J a c o b s e n , Kommissarbefehl, S. 4 4 9 f . und die Beiträge O t t o und Osterloh in diesem Band.
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objektiv gesehen, auch im historischen Sinne Mittäter waren, was nicht als eine juristische Mittäterschaft aufgefaßt oder interpretiert werden darf. Es war nicht zuletzt ihrem Kampfgeist, ihren Leistungen und bestimmten pseudolegitimierten Unterstützungsmaßnahmen bei den Vernichtungsaktionen von SS und Polizei mit ihren Handlangern aus anderen Ländern zu verdanken, daß die NSMachthaber die rassische „Neuordnung" des Kontinents mit allen jenen Schreckenstaten des Inhumanen einleiten konnten, die Deutschland mit einer schweren historischen Hypothek belastet haben. Wenn im Jahre 1998 in der deutschen Presse hin und wieder Todesanzeigen von deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht wurden, verbunden mit dem harten Vorwurf, daß der Gefallene zwar sein Leben zur Verteidigung seines Vaterlandes geopfert hätte, die Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht bereit sei, seine Ehre zu schützen, so mag dies aus subjektiver Sicht vielleicht noch verständlich sein. Aber aus unserer Erkenntnis ist festzuhalten und richtigzustellen: Die deutschen Soldaten haben eben nicht ihr Vaterland verteidigt, sondern sind zu ganz anderen elenden Zwecken, wie skizziert, mißbraucht worden. Außerdem kann die Bundesrepublik Deutschland hierfür nicht nachträglich in Haftung genommen werden. Sie hat jedoch ihre Ehrfurcht vor den Gefallenen und Opfern des Krieges stets von neuem betont. Vielleicht hat seinerzeit nur eine Minderheit das fast beispiellos zu nennende Dilemma der Wehrmacht erkannt oder erkennen können, daß nämlich die Soldaten unter den damaligen Bedingungen glaubten, mutig für den Sieg kämpfen zu müssen, während sie gleichzeitig für die Niederlage zu beten hatten. Tief beeindruckende Zeugnisse in Briefen aus dem Felde und Tagebucheintragungen haben dies bewiesen. Es wird höchste Zeit, endlich ehrlich zu sein und sich zur ganzen Wahrheit zu bekennen - ohne Wenn und Aber. Dies kann freilich nur demjenigen gelingen, der bei der Beurteilung seines eigenen Verhaltens im Kriege nicht den unlösbaren Gesamtzusammenhang von Politik und Kriegführung im Sinne von Clausewitz aus den Augen verliert und der ebenso willens wie fähig ist, das Böse beim Namen zu nennen, das Bessere nicht zu verschweigen und den Menschen ihre Ehre zu geben. Aus dem Dargelegten wird deutlich, warum die Wehrmacht als Ganzes kein Teil der Tradition der Bundeswehr sein kann. Das heißt nicht, den Millionen von Soldaten und zahlreichen Verbänden den erforderlichen tiefen Respekt zu versagen, die einen schweren Leidensweg beschreiten mußten und die im Kriege überzeugt waren, diesen aufrecht und tapfer gemeistert zu haben. Die Frage, wer von ihnen als „Leitbild" im Sinne der Traditionspflege ausgewählt werden könnte, ist nicht leicht zu beantworten. Zu zeitgebunden waren die Handlungsweisen. Nicht nur die junge Generation wird es schwer haben, diese zu begreifen und diese möglicherweise als „vorbildlich" für sich selbst und als einen denkbaren Motivationsschub für ihre konkrete Truppenpraxis zu bezeichnen, sondern auch die meisten Alteren werden ihr Tun und Lassen in den Jahren des übersteigerten Nationalismus wahrscheinlich kaum noch nachvollziehen können. So wären alle gut beraten, dieses historische Erbe deutschen Soldatentums als Stachel steter heilsamer Unruhe für ihr Verhalten in Gegenwart und Zukunft zu nutzen. Hierfür können die Erkenntnisse deutscher
Wehrmacht und Bundeswehr
1191
Wehrgeschichte und die Prinzipien der Inneren Führung (s.o.) grundlegend sein, desgleichen für die Frage nach den Kriterien für die Traditionspflege in der Bundeswehr.
Armee in der Demokratie Die Führungseliten in der Bundesrepublik Deutschland haben bekanntlich nach 1945 die einzig richtigen und sinnvollen Konsequenzen aus der Geschichte des NS-Totalitarismus gezogen. Für sie war der Grundsatz verbindlich, daß der Krieg nicht mehr als die Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel gelten dürfe. Der Imperativ deutscher Politik mußte lauten: Verzicht auf Anwendung und Androhung von Gewalt, was eine nationale oder multinationale Selbstverteidigung im Falle der Gefahr nicht ausschloß. Gleichzeitig wurden alle politischen und rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um den Soldaten der Bundeswehr - im Gegensatz zu dem der Reichswehr und der Wehrmacht - zu befähigen, sich mit der demokratischen Ordnung zu identifizieren und für Frieden und Freiheit einzutreten (Innere Führung) 1 6 . Am Ende des Jahrhunderts steht die Bundeswehr vor neuen schwerwiegenden Herausforderungen, darunter durch die des Rechtsextremismus. Denen wird sie sich gewachsen zeigen müssen. Eine ihrer Aufgaben wird es bleiben, mit aller Entschiedenheit den Anfängen zu wehren. Mit Rat und Tat ist die demokratische Kultur zu bewahren und sind die Menschenrechte zu schützen. Auch die Bundeswehr hat ihren Beitrag zur Festigung des antitotalitären Konsenses in der deutschen Gesellschaft zu leisten. Gelingt ihr das in überzeugender Weise, dann dürfte dies eine der folgerichtigsten und zukunftsweisenden Antworten auf Irrwege und Verfehlungen des deutschen Militärs in der jüngsten Vergangenheit sein.
"" Vgl. Anfänge, 1—4; J a c o b s e n / H e u e r / R a u t e n b e r g , Friedenssicherung.
Epilog
Hans-Erich
Volkmann
Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht
I. Von der politischen Gesamtverantwortlichkeit Die Reaktion der Deutschen am 8. Mai 1945 fiel regional und gruppenspezifisch unterschiedlich aus. In den von den Westalliierten okkupierten Gebieten atmete die einheimische Bevölkerung über das Ende des Krieges überwiegend erleichtert auf: Keine Luftangriffe mehr auf Industrie- und Wohngebiete, zuletzt auch auf Zivilisten auf der Landstraße und Bauern auf dem Acker. Statt dessen erwartete man die baldige Rückkehr der überlebenden Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft. Man registrierte durchweg befreit das Kriegsende, anders als in den sowjetisch besetzten Territorien, wo die Freude darüber bei weiten Kreisen dem Erschrecken über das Verhalten der Roten Armee und der bangen Sorge vor einer kommunistischen Zukunft wich. Während sich bereits die SBZ-Organe, nicht zuletzt unter dem Druck der sowjetischen Militäradministration und der Kommunistischen Partei, bewußt antifaschistisch und -militaristisch gebärdeten und die zumindest zum Teil schon lancierten öffentlichen Bekundungen dezidiert gegen NS-Regime und Wehrmacht Position bezogen, sah dies in den übrigen Besatzungszonen anders aus. Die vielfältige Verwobenheit großer deutscher Bevölkerungsteile mit dem NSSysteme und der Wehrmacht ließen sichtbare Bekundungen der Genugtuung über den politischen Zusammenbruch in der westdeutschen Gesellschaft nur sporadisch und als Sekundärerscheinung zutagetreten. Obwohl schon die Lizenzpresse in den Zonen der Westalliierten aufgrund der Nürnberger Militärgerichtsverfahren die Öffentlichkeit mit der Tatsache konfrontierte, daß die Wehrmacht ein willfähriges Organ verbrecherischer nationalsozialistischer Kriegspolitik gewesen war, wurde dies kaum rezipiert oder gar akzeptiert in Anbetracht der Tatsache, daß im Grunde jede Familie Wehrmachtangehörige gestellt hatte, und sich deshalb dem Gedanken verschloß, daß ihre Verwundeten, Vermißten, Toten oder kriegsgefangenen Angehörigen nicht im Dienst des Vaterlandes ihr Leben zu Markte getragen hatten, sondern zugunsten einer Idee von Rassenwahn und Weltherrschaft. Es überwog diesbezüglich ein ausgesprochen lethargisches Verhalten. Für Flüchtlinge und Vertriebene bedeutete der Kriegsausgang den Verlust ihrer Heimat, Habe und beruflichen Existenz auf unabsehbare Zeit. Für die hohe Zahl engagierter Anhänger und Funktionsträger der NSDAP und ihrer Organisationen war nicht nur die Welt ihrer politischen - oft auch wissenschaftlichen - Uberzeugung und ihrer beruflichen Erfüllung eingestürzt. Sie hatten zudem zu erwarten, von den Siegermächten für ihr Tun und Lassen während des „Dritten Reiches" zur Rechenschaft gezogen zu werden. In ähnlicher Lage befanden sich viele ehemalige Soldaten, insbesondere die (höheren) Offiziere. Durch die bedingungslose Kapitulation und den bislang ein-
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Hans-Erich Volkmann
maligen Vorgang der Internierung einer Millionen zählenden Massenarmee nach ihrem Empfinden gedemütigt und durch die vollständige Auflösung der Streitkräfte und des Staates - ein weiteres Unikum in der modernen europäischen Geschichte - um den vermeintlich verdienten Lohn des Vaterlandes für den Einsatz von Leib und Leben gebracht, bedeutete für sie der 8. Mai 1945 schlichtweg die persönliche und berufliche Katastrophe. „Katastrophe" - das wird die zentrale Begrifflichkeit, mittels derer sich ausnehmend wenige Zeitgenossen reflektierend dem Desaster nationalsozialistischer Politik und Kriegführung zu nähern suchten. Dieser Begriff der Katastrophe macht das Unvermögen offenkundig, das schier Unfaßbare beschreiben, erklären und letztlich dann auch verstehen zu können - oder zu wollen. Er verstellte den Weg zu historisierender Analyse der Ursachen der Möglichkeit des 30. Januar 1933 und zum Erkennen der Wirkungskräfte und Verantwortlichkeiten in der Folge bis 1945, weil er für eine „unglückliche Wendung im menschlichen Leben" oder „für ein verheerendes Naturereignis" steht 1 . Die Nürnberger Urteile und die von einer zum Teil aus der Militärgerichtsbarkeit hervorgegangenen Justiz nur sporadisch und widerstrebend angestrengten Prozesse gegen Verbrechen bezichtigte Wehrmachtangehörige dienten der Kriegsgeneration, auch in SBZ und DDR, als Alibi zur Selbstentschuldung. Die Verurteilung weniger Missetäter qualifizierte die Mehrheit der ehemaligen Offiziere und Soldaten als eigenen Freispruch. Nicht ohne Genugtuung nahm ein Gutteil der Deutschen die Aburteilung exemplarischer Persönlichkeiten aus Politik, Partei, Wirtschaft und Wehrmacht als Inkarnation des Nationalsozialismus zur Kenntnis, um spätestens nach dem weitgehend unwirksamen Prozedere der Entnazifizierung die eigene Teilhabe an der Verantwortlichkeit des Geschehens der kollektiven Vergeßlichkeit anheimfallen zu lassen. Spätere Kriegsverbrecherprozesse provozierten öffentlichen Unmut, wurden, wenn von Gerichten der Westalliierten durchgeführt, mit dem Odium der Siegerjustiz behaftet. Wo sie sich gegen ehemalige Wehrmachtangehörige richteten, wiesen deren Interessenverbände darauf hin, daß sich unter solchen Begleitumständen wohl schwerlich die ehemaligen Soldaten würden reaktivieren lassen, die man zum Aufbau der Bundeswehr ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre benötigte. Sie setzten die Bundesregierung unter politischen Druck und rangen Konrad Adenauer eine Ehrenerklärung für die Wehrmachtangehörigen ab - die dieser allerdings nur für solche Soldaten, die ehrenhaft gekämpft hatten, abgab. Als Folge der von großen Teilen der deutschen Bevölkerung verweigerten Selbstreflexion über ihr Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit geriet in Westdeutschland folgerichtig die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zur politisch nicht zu verhindernden „Machtergreifung". Diese führte zum vermeintlich nicht abwendbaren, weil schicksalhaften „Kriegsausbruch" und letztlich zur so apostrophierten „Katastrophe" des 8. Mai 1945. Wenn im Verlauf der späteren historiographischen Diskussion von der „moral i s c h e ^ ) Katastrophe" gesprochen wird, daß Hitler die Deutschen „vor allem aus der Gemeinschaft der zivilisierten Völker hinausgeführt" habe, dann stützt
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Brockhaus, 2, S. 614.
Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht
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dies eine zweite These zur Selbstentlastung, nämlich die vom „verführten Volk", die als gedachtes Erklärungsmuster für die auch von Wehrmachtseite verantworteten und verübten rassisch motivierten Vernichtungsaktionen, insbesondere gegenüber Juden im Zuge der Partisanenkriegführung, allerdings völlig unzureichend ist 2 . Immerhin, wer von moralischer Katastrophe spricht, macht deutlich, daß die Tinte, mit der die Wehrmachtgeneralität und -admiralität in Reims und Karlshorst die Kapitulationsurkunden unterzeichneten, von anderer Qualität war, als die 1918 im Wald von Compiegne benutzte. Damals wurde der Waffenstillstand als Vorstufe zur Beendigung des Ersten Weltkrieges besiegelt. Alle sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen zog die aus eigenem Recht konstituierte Reichsregierung, die auch die Belange Deutschlands auf der Friedenskonferenz vertrat. Im Mai 1945 quittierte man die totale militärische Niederlage. Daß die Siegermächte die seitens der militärischen Führungsrepräsentanz geleisteten Signaturen als Vollmacht nicht nur zur Auflösung der Wehrmacht, sondern darüber hinaus aller politischen Instanzen und nahezu aller gesellschaftlichen Korporationen wertete und danach handelte, daß sie darauf verzichtete, der amtierenden Reichsregierung den Akt gouvernementaler Selbstauflösung vollziehen zu lassen, markiert den hohen Stellenwert, den sie dem Krieg und der Wehrmacht im „Dritten Reich" beimaßen: Die militärische Spitze handelte stellvertretend für die - nicht als rechtmäßig anerkannte, weil von Hitler inthronisierte - politische. Die drei alliierten Sieger postulierten auf diese Weise die omnipotente Mitverantwortlichkeit der Wehrmachtführung für Politik und Kriegführung - die Verbrechen eingeschlossen - des NS-Regimes. Sie trugen damit der Realität zwischen 1933 und 1945 Rechnung. Nach den Märzwahlen 1933 gingen Reichsregierung und Reichswehr/Wehrmacht eine bis 1945 unaufgelöste institutionelle Verbindung ein und verantworteten die Politik des „Dritten Reiches" nach innen und außen gemeinsam. Anders als in der Weimarer Republik, als zu Ministern ernannte Soldaten ihren militärischen Status verloren, wurden die beiden Offiziere im Ministerrang, Werner von Blomberg und Hermann Göring, per Gesetz ausdrücklich reaktiviert. Hohe Militärs übernahmen wichtige Ressorts: Blomberg als Reichswehr- bzw. -kriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, seit 1935 Göring als Preußischer Innenminister, später Ministerpräsident, als Reichsminister für die Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Mit ihm stellte die Wehrmacht den zweiten Mann im Staate und designierten Nachfolger Hitlers. Seit 1936 bekleidete Göring das Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan und avancierte damit zum obersten Wirtschaftsführer. General Milch wirkte als Staatssekretär in Görings Ministerium, später in Speers Rüstungsministerium als dessen Stellvertreter. Nach dem Tod Hindenburgs figurierte der „Führer und Reichskanzler" Adolf Hitler als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht, um später auch den Oberbefehl über das Heer zu übernehmen. Anfang 1938, nach der Entlassung Blombergs und anderer alter Reichswehrgenerale, verpflichtete Hitler die Wehrmacht stärker auf seine Person und auf
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Kielmansegg, Schatten, S. 1.
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Hans-Erich Volkmann
die Partei. Offiziell wurde das Reichskriegsministerium zum Oberkommando der Wehrmacht und damit zu einem Stab Hitlers umstrukturiert. Immerhin aber übernahm an dessen Spitze General Keitel die Aufgaben Blombergs als Minister. Die Oberbefehlshaber der Marine, Raeder, und des Heeres, von Brauchitsch, erhielten Kabinettsrang und wurden in die gesamtpolitische Mitverantwortung des NS-Regimes eingebunden, und zwar formaljuristisch wie de facto. Daß seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die Regierungspolitik nicht mehr im Kabinett formuliert und koordiniert wurde, schränkt diese Feststellung insofern nicht ein, als die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte unmittelbares Vortragsrecht bei Hitler besaßen. Nachdem dieser den Oberbefehl über das Heer selbst übernommen hatte, galt das auch für dessen Generalstabschef. Nachdem Hitler in seinem Testament Großadmiral Karl Dönitz in seiner Nachfolge als Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber aller drei Wehrmachtteile eingesetzt hatte, ruhte das politische und militärische Schicksal Deutschlands in den Händen eines Soldaten, den niemals Skrupel bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Unrechtspolitik befallen und der im Eifer ihrer militärischen Umsetzung sinnlosen Heldentod zum Ethos erklärt hatte. Im „Dritten Reich" war, was das Verhältnis von Regierung und Wehrmacht anbelangt, die Trennung zwischen der legislativen Regierung (Ermächtigungsgesetz) und der Exekutive aufgehoben. Hatte Hitler niemals einen Zweifel am Primat der von ihm, dem Zivilisten, bestimmten, allerdings mit militärischen Mitteln durchzusetzenden Politik gelassen, so gelangte nun zwar die Politik in die Verantwortlichkeit eines Militärs, jedoch in der Erwartung der Fortsetzung der seit 1933 von Hitler gesteckten politischen Ziele. Politische und militärische Führung waren seit der Ernennung Werner von Blombergs zum Reichswehrminister eine bis zum 8. Mai 1945 reichende institutionelle symbiontische Beziehung insofern eingegangen, als Politik und Krieg nach dem Verständnis Hitlers identisch waren 3 . Und die Wehrmacht führte des Führers Kriege bedingungslos durch. Die Wehrmacht bildete, wie Manfred Messerschmidt es formuliert hat, neben der N S D A P die zweite Säule des NS-Staates, die aufgrund weitgehender Übereinstimmung in bedeutsamen Politikfeldern auch trug. Zugegebenermaßen pflegte ein Gutteil des aus Kaiserheer und Reichswehr überkommenen Offizierkorps national-konservative und völkische Uberzeugungen, in denen die Bismarcksche großdeutsche Reichsidee ebenso ihren Platz hatte wie im Blick auf Versailles Revisions- und zwischen 1914 und 1918 bekundetes europäisches Expansions- und Weltmachtstreben. Ungeachtet der spezifisch rassischen Komponente nationalsozialistischer Politik traf man sich hier in prinzipieller Gemeinsamkeit. Eines darf bei der Erörterung des Verhältnisses zwischen Wehrmacht und Hitler nicht außer Betracht bleiben: Der „Führer" verkörperte den autoritären Staat, nach dem die Konservativen gegen Ende der zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre an Stelle des ungeliebten Parlamentarismus immer nachdrücklicher und lauter gerufen hatten. Es war nicht zuletzt der in militärischen Kreisen höchst angesehene Generaloberst von Seeckt, der sich zum Sprecher eines sol-
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Vgl. dazu Salewski/Krüger, Verantwortung.
Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht
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chen Anliegens machte und sich nicht scheute, im Vorgriff auf die zukünftige Entwicklung der Errichtung einer Diktatur argumentativ Hilfestellung zu leisten: Wenn sich schon das zur Übernahme politischer Verantwortung untaugliche Parlament auf den Grundsatz berufe, alle Gewalt gehe vom Volke aus, dann gelte dies auch für die Despotie, „die sich auf den stärkeren Teil des Volkes stützen muß, um zu herrschen, freilich nicht auf den an Zahl nach stärksten, aber an Kraft und Wert". Daß eine solche Definition die von ihm damals bereits so bezeichnete Wehrmacht mit einschloß, bedarf nicht der besonderen Hervorhebung 4 . Nichts fiel - laut Seeckt - einem Heer schwerer, als in Friedenszeiten in einem „dauernden Vorbereitungs- und Erwartungszustand" zu leben. „Im Wesen dieses Heeres und gerade eines guten liegt eine gewisse Ungeduld, ein begreiflicher und natürlicher Betätigungsdrang, ohne daß ihm damit das Recht zufiele, auf die Verwirklichung solcher Wünsche zu drängen" 5 . Indem Hitler unmittelbar nach Regierungsantritt der höchsten Generalität seine Eroberungspläne auf den Tisch legte, konnte gar kein Zweifel mehr darüber aufkommen, daß diesem Betätigungsdrang Rechnung getragen würde, ohne daß das Militär hätte drängen müssen. Es mag mit diesen wenigen Sätzen zur Beschreibung des Verhältnisses von Wehrmacht und Hitler-Regime in Anbetracht dessen sein Bewenden haben, daß in den Schriften von Manfred Messerschmidt und Klaus-Jürgen Müller dies grundlegend beschrieben ist. Hans Mommsen hat auf dem Historikertag 1998 sinngemäß geäußert, der Nationalsozialismus verdanke seine Existenz und seine Erfolge nicht in erster Linie seinen hundertprozentigen Anhängern, sondern seinen die Mehrheit bildenden 50-25prozentigen. So gesehen spiegelte die Wehrmacht die gesamtgesellschaftliche politische Befindlichkeit wider. Diese Feststellung gilt auch hinsichtlich ideologischer Affinitäten zum Nationalsozialismus. In dem Maße, wie sich die deutsche Gesamtbevölkerung mit diesem identifizierte, tat dies auch die Wehrmacht als Massenarmee. Und da es in den deutschen Eliten an Parteigängern der N S D A P nicht mangelte, bildete auch das Offizierkorps diesbezüglich keine Ausnahme. Blomberg, Reichenau und Hermann Foertsch im Reichswehr- bzw. -kriegsministerium haben das ihre entscheidend dazu beigetragen, daß die Reichswehr/Wehrmacht ab 1933 konsequent auf den Nationalsozialismus ausgerichtet und eingeschworen wurde. Göring, Keitel, Jodl und Dönitz waren verläßliche Paladine ihres „Führers". Die Reihe der Nationalsozialisten im Wehrmachtoffizierkorps ist lang und reicht von Brauchitsch über Dietl zu den Brüdern Kübler und zu Schörner um nur wenige zu nennen - bis zum Frontleutnant. Daß die Parteimitgliedschaft von Wehrmachtangehörigen bis 1944 ruhen mußte, tat der praktizierten Gesinnung keinen Abbruch. Klaus von Bismarck, späteres Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages, langjähriger Intendant des Westdeutschen Rundfunks und Präsident des Goethe-Instituts, weiß davon aus Erfahrung als Reserveoffizier im Krieg gegen die Sowjetunion zu berichten, dem es „von Beginn dieses Feldzuges an" dämmerte, „daß und wie die Wehrmacht Instrument eines totalitären Staates nicht 4 5
Seeckt, Zukunft, S. 119. Ebd., S. 139.
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mehr wurde - sondern durch die Infektion der Gesinnung von immer mehr Offizieren bereits war"6. Wer sein Umfeld im Ostkrieg aufmerksamen Auges und wachen Sinnes wahrnahm, konnte sich offensichtlich einer solchen Erkenntnis nicht verschließen. Hitler hat es nicht versäumt, die obersten Militärs von Blomberg über Göring, Keitel und Jodl zu Dönitz sowie andere durch Verleihung des Goldenen Parteiabzeichens mit den Insignien der Verbundenheit zur NSDAP als staatstragender politischer Kraft unterhalb des „Führers" auszustatten und damit auch demonstrativ und äußerlich erkennbar in die politische Gesamtverantwortlichkeit zu involvieren. Diese Teilhabe an der Verantwortung kam den Intentionen der Wehrmacht insofern entgegen, als sich das staatliche und gesellschaftliche wie wirtschaftliche Leben in Vorbereitung und Durchführung eines totalen Krieges an dem militärisch Notwendigen auszurichten hatte. Daß Göring als Wirtschaftsdiktator scheiterte, lag nicht nur in seiner ökonomischen Inkompetenz begründet, sondern auch im Konkurrenzdenken der Teilstreitkräfte, das die Einrichtung eines zentralen militärischen Organs zur Durchsetzung rüstungsökonomischer Prioritäten und entsprechender Koordination in der Wirtschaft verhinderte. Falscher Ehrgeiz und Egoismus der Oberbefehlshaber führten in Wirtschaft, Rüstung und Technik zu Partikularismus, wo gesamtmilitärische Verantwortung und Planung gefordert waren, und erleichterten Hitler sein Spiel von divide et impera und brachte ihn auch im rüstungsökonomischen Bereich in die Position des alles Entscheidenden. So war es letztlich der Zivilist Speer, dem es gelang, getragen vom Vertrauen des „Führers", die gesamtökonomische Verantwortung an sich zu ziehen, um in Zusammenarbeit mit dem durch materiellen Anreiz gewonnenen industriellen Management den im Verlauf des Krieges zunehmend von Hitler artikulierten kriegsorientierten Bedürfnissen Rechnung zu tragen. In der letzten Kriegsphase, als eine zentrale Wirtschaftssteuerung nicht mehr möglich war, teilten sich dann immer mehr regionale Wehrmachtdienststellen und Wirtschaftsführer mit den Gauleitern und anderen Parteiinstanzen die diesbezügliche Verantwortung.
II. Von Unrecht und Verbrechen Ein fatales Maß an Verantwortungslosigkeit muß der militärischen Kriegsgerichtsbarkeit bescheinigt werden, die ja einen inkorporierten Teil der Wehrmacht bildete. Sie demonstrierte einen Mangel an Rechtsempfinden, das in der deutschen Justizgeschichte seinesgleichen sucht. So wurde Rechtlosigkeit zum Gesetz erklärt, und es fielen ihr nicht nur die vor ihre Schranken gezerrten Bewohner der okkupierten Gebiete, sondern beschuldigte deutsche Soldaten zum Opfer. Noch nach der Kapitulation verhängte und vollstreckte sie Todesurteile. Wir können heute von Willkürjustiz sprechen, nachdem eine moderne Rechtsauffassung den Kriegsgerichten die Rechtmäßigkeit mangels richterlicher Unabhängigkeit abspricht. Die Gerichtsherren, die Urteile bestätigen und verwer6
Klaus von Bismarck, Rede anläßlich der E r ö f f n u n g der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", in: Krieg, S. 14-20, hier S. 16/17.
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fen konnten, hatten niemals eine Robe getragen, sondern amtierten als hohe Offiziere. Im Wissen um das von ihnen praktizierte Unrecht fanden die Urteile der Kriegsgerichte im Unterschied zu denen des Reichskriegsgerichts oder anderer oberer Gerichte keinen amtlichen dokumentarischen Niederschlag. Die von den Kriegsgerichten gezogene Blutspur läßt sich nur noch schwer verfolgen. Das Bundessozialgericht kam auf etwa 30000 von Wehrmachtgerichten gefällte Todesurteile gegenüber deutschen Soldaten. Dazu kommen noch einmal 20000 gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen. Insgesamt wurden rund 20000 vollstreckt. „Die Wehrmacht", so urteilte das Bundessozialgericht, „und ihre Gerichte sollten dazu beitragen, den völkerrechtswidrigen Krieg zu führen. Die Anwendung . . . der Todesstrafe wurde nicht mehr individuell durch Gerichte, sondern durch Führererlaß generell als angemessen festgelegt . . . Im Bereich der Wehrmacht hatte es somit keine unabhängige Justiz gegeben" 7 . Zwischenzeitlich gelten alle von Kriegsgerichten verhängten Todesurteile aufgrund rechtsstaatlicher Wertmaßstäbe und gesetzlich verankert als Unrecht. Der national-konservativ eingestellte, später als Widerstandskämpfer hingerichtete Diplomat Ulrich von Hasseil, der deutschen hegemonialen Ansprüchen insbesondere gegenüber Südosteuropa durchaus positiv gegenüberstand, erfuhr Anfang April 1941 im Hause des demissionierten Generalobersten Beck vom Kommissarbefehl und vom „Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet .Barbarossa' und über besondere Maßnahmen der Truppe", beide vom O K W verfügt, und wertete sie als die „systematische Umwandlung der Militärjustiz gegenüber der Bevölkerung in eine unkontrollierte, auf jedes Gesetz ulkende Karikatur" 8 . Natürlich hat es in der Militärjustiz auch Einzelpersönlichkeiten gegeben, die sich sorgsam bemühten, nach alten Rechtsgrundsätzen und in Verantwortung vor ihrem Gewissen zu urteilen, insbesondere in den westlichen Okkupationsgebieten. Hier ist an den für die Verfahren gegen Einheimische verantwortlichen Militärrichter Ernst Roskothen beim Stadtkommandanten von Paris zu denken, der in Frankreich während des Krieges Respekt und Hochachtung genoß und dort auch danach noch in hohem Ansehen stand. Auch wenn der von der Partei geführten Hitlerjugend die Ausrichtung der schulischen Jugend auf das NS-Regime und die vormilitärische Ausbildung zukamen, so darf doch die Rolle der Wehrmacht für die sogenannte Wehrertüchtigung im allgemeinen, insbesondere aber im Bildungs- und Erziehungswesen nicht unterschätzt werden. Sie zeichnete bis hinein in die Lehrpläne der Schulen mit verantwortlich. Eigenverantwortlich unterstand ihr politische Bildung und ideologische Schulung in den Streitkräften, ehe in der letzten Kriegsphase Parteiorgane ihren Einfluß geltend zu machen suchten und wußten. Erinnert sei auch an einen latenten Antisemitismus in der Wehrmacht, wie er beispielhaft durch einschlägige Äußerungen in der politischen Spannweite zwi-
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Zic. n. G r i t s c h n e d e r , R i c h t e r , S. 10/11. D i e P u b l i k a t i o n erschien in d e m r e n o m m i e r t e n j u r i s t i s c h e n u n d historischen Fachverlag C . H . B e c k . E h e m a l i g e W e h n n a c h t r i c h t e r sind gegen dieses U r t e i l S t u r m gelaufen, so S c h w i n g e , W e h r m a c h t g e r i c h t s b a r k e i t . H i l l e r v. G a e r t r i n g e n ( H r s g . ) , H a s s e l l - T a g e b ü c h e r , S. 248, A u f z . v. 4 . 5 . 1 9 4 1 .
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sehen dem national-konservativen Werner Freiherr von Fritsch und dem überzeugten Nationalsozialisten Karl Dönitz nachzuweisen ist. Er unterschied sich in der verbalen Artikulation nicht vom gesamtgesellschaftlichen, erlangte aber nicht nur durch Gestapo, SS und andere Parteiorganisationen seine verbrecherische Dimension, sondern auch durch entsprechende Befehle Hitlers, aber auch der obersten Wehrmachtführung und hoher militärischer Befehlshaber, durch zumeist widerspruchslose Akzeptanz seitens des Offizierkorps und der übrigen Wehrmachtangehörigen, aber auch durch tätige Umsetzung. Daß das für die politische Schulung zuständige O K W noch vor Kriegsbeginn auf niedrigstem Niveau innerhalb der Streitkräfte eine aggressive antisemitische Hetze betrieb, die sich nicht nur auf das Judentum in Deutschland bezog, sondern bereits den Kampf gegen das Weltjudentum auch in anderen Staaten avisierte, verdeutlicht den rassenideologischen Gleichklang zwischen Hitler und der höchsten militärischen Führung, wie er später dann auch seine schriftliche Fixierung in Kommissarbefehl, Gerichtsbarkeitserlaß und den Vereinbarungen zwischen Wehrmacht und SS zur Sicherung des militärischen Hinterlandes fand 9 . Die Historiker sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, das Gros der Wehrmachtsoldaten habe für eine vermeintlich gute Sache ehrenhaft gekämpft und den verbrecherischen Charakter Hitlerscher Kriegführung prinzipiell nicht erkannt und erkennen können und sei an Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht beteiligt gewesen. Dasselbe gelte für den normalen Truppenoffizier. Sicher ist, daß sich, von einzelnen Ausschreitungen abgesehen, Kriegführung und Besatzung in den nordischen und westeuropäischen Ländern im großen Ganzen im Rahmen der Haager Landkriegsordnung bewegten. Ganz anders im Osten. Der Sündenfall der Wehrmachtführung begann mit dem vor dem Uberfall auf Polen zwischen dem Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, und Reinhard Heydrich unterzeichneten Papier, aufgrund dessen sogenannte Einsatzgruppen aus SS, Sicherheitspolizei und S D die „Bekämpfung aller reichsund deutschfeindlichen Elemente . . . rückwärts der fechtenden Truppe" übernehmen sollten 1 0 , wie es verklausuliert hieß. Aus dem Vorgehen im Reich selbst wußte die Wehrmachtführung sehr wohl, daß unter dieser Bezeichnung auch die Juden firmierten und um das, was diese im eroberten Polen erwartete. Es handelte sich bei der genannten Vereinbarung um einen Interessenausgleich: einerseits scheute sich Hitler damals noch, die Soldaten zu reinen Mordgesellen zu degradieren. Andererseits zeigte sich die Wehrmacht ihrerseits bemüht, die vorgesehenen rassenpolitischen Säuberungen nicht zu konterkarieren, wohl aber sich dafür der Verantwortung als Okkupationsmacht zu entledigen und diese auf die Schergen Himmlers umzuschichten. Die höchsten Truppenkommandeure wußten nämlich, um was es ging: Hatte Hitler doch den Heeresgruppen- und Armeeführern auf dem Obersalzberg bei einem Mittagessen eingeprägt, daß es mit einem militärischen Sieg über Polen durchaus nicht sein Bewenden habe, sondern es komme darüber hinaus auf „die Beseitigung der
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Vgl. dazu Schulungshefte für den Unterricht über nationalsozialistische Weltanschauung und nationalpolitische Zielsetzung 1 (1939) 5, hrsg. v. O K W . Enzyklopädie des H o l o c a u s t I, S. 3 9 4 - 3 9 5 .
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lebendigen Kräfte" 1 1 an, „die auf immer neuen Wegen angestrebt werden" müsse 1 2 . D a das deutsche Achtzigmillionen- „Volk ohne Raum" ein Recht auf das polnische Territorium habe, müsse der Soldat sein „Herz verschließen gegen Mitleid". Er fordere „brutales Vorgehen . . . , größte Härte" 1 3 . U b e r das, was es mit dem Einmarsch in Polen auf sich haben würde, konnte also bei den verantwortlichen Militärs kein Zweifel herrschen. Nach der Haager Landkriegsordnung obliegt dem Militär die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Ordnung in okkupiertem Gebiet, wenn nur irgend möglich, unter Beachtung und Anwendung dort geltender Gesetze und Bestimmungen. Zudem hat es den Schutz der Zivilbevölkerung und deren privaten Vermögens zu garantieren, religiöse Uberzeugungen und Handlungen zu respektieren. Außerdem darf die Bevölkerung nicht zu unmittelbar kriegerischen Zwecken dienenden Arbeiten herangezogen werden. Im Wissen darum kam es in Polen noch zu ernsthaften Spannungen zwischen einem Heer, dessen Offizierkorps sich noch zu einem Gutteil dem tradierten Ethos rein militärischer Kriegführung verpflichtet wußte, und der militärischen Führungsspitze. Einzelbeispiele mögen dies verdeutlichen: Die Beschwerden des Oberbefehlshabers der deutschen Truppen in Polen, General Blaskowitz, über die Greueltaten der SS wies Hitler als kindisch und mit dem Hinweis zurück, mit den Methoden einer Heilsarmee lasse sich kein Krieg gewinnen. Selbst Abwehrchef Canaris trat wegen der täglichen Erschießungen an den Chef des O K W , Keitel, heran, der die Maßnahmen allerdings voll deckte. Als General Blaskowitz dem Oberbefehlshaber des Heeres, von Brauchitsch, persönlich zu Beginn des Jahres 1940 in dieser Angelegenheit vortrug, weigerte sich dieser, die Beschwerde an Hitler weiterzugeben. Statt dessen reagierte er mit einem Befehl an das Heer, in dem er um Verständnis für die volkspolitisch motivierten Maßnahmen zur Sicherung des deutschen Lebensraumes warb. Blaskowitz verlor sein Kommando an General Küchler, der den sogenannten Volkstumskampf zur zweiten Front deklarierte und sich entsprechende Kritik seitens seiner U n tergebenen verbat. So blieb die Wehrmacht in Ghettoisierung, in Folter und die im ersten Anlauf vorgenommene Liquidierung von rund 15 000 Juden und polnischen Intellektuellen eingebunden, da sie für Unterkünfte, Versorgung und Kraftfahrzeuge der Einsatzgruppen zuständig war und die entsprechenden Aktionen folglich mit ihr abgestimmt werden mußten. Hatten hohe Offiziere im Polenfeldzug noch Versuche unternommen, ihrem soldatischen Selbstverständnis und Pflichtbewußtsein Rechnung zu tragen, so sah dies hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung des Krieges gegen die Sowjetunion schon ganz anders aus. Für Hitler hatten die rassistischen Maßnahmen in Polen nur als Probelauf für den großen und eigentlichen Krieg im Osten gegolten. Die in der nationalsozialistischen Programmatik verankerte, rational nicht erklärbare Identifikation des Bolschewismus mit dem vermeint-
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Domarus (Hrsg.), Hitler, 3, S. 1238. Halder, K T B , 1,S. 25. Domarus (Hrsg.), Hitler, 3, S. 1238.
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lieh die Weltrevolution vorantreibenden internationalen Judentum verlieh diesem Krieg eine neue Dimension des Schreckens. Dies umso mehr, als nach den ersten militärischen Rückschlägen die Soldaten der Roten Armee zur europabedrohenden mongolischen Inkarnation des Bösen, zu Untermenschen stilisiert wurden, denen ein Anspruch auf Behandlung nach völkerrechtlichen Grundsätzen aberkannt wurde und die nun dem Rassenwahn zum Opfer fielen. Die Grundlage hierfür bildete der berüchtigte Kommissarbefehl, den das O K W im Zusammenwirken mit dem Generalstab des Heeres formuliert hatte, und dessen Verfasser des völkerrechtswidrigen Inhalts durchaus eingedenk waren. Sie suchten dies dadurch zu kaschieren, daß sie den Befehl gleichsam als präventive Reaktion auf den vermeintlich zu erwartenden Verstoß der politischen Kommissare gegen Menschlichkeit und Völkerrecht begründeten. Der Kommissarbefehl ging der höchsten Generalität und Admiralität schriftlich zu und wurde allen anderen Befehlshabern und Kommandeuren mündlich bekanntgegeben. Ihm zufolge wurde den politischen Kommissaren der Roten Armee der Status des Soldaten nicht zuerkannt, was ihre Liquidierung rechtfertigte. Uber seiner Befolgung liegt ein Grauschleier des Vertuschens und des Vergessens. Die Zahl der Meldungen über „Erschießen", „Erledigen", „Behandeln" und „Umlegen" von Kommissaren spricht allerdings dafür, daß er in der Regel umgesetzt wurde, die die Ausnahme zuläßt, nicht umgekehrt. Richard von Weizsäcker und Klaus von Bismarck bezeugen z.B., daß in ihren Regimentern der Kommissarbefehl strikt mißachtet wurde. Es darf auch nicht übersehen werden, daß in der Wehrmacht Stimmen laut wurden, die gegen den Befehl wie gegen den Gerichtsbarkeitserlaß Bedenken erhoben, und dies bereits im Vorfeld des sogenannten Rußlandfeldzuges. In potentiellen Widerstandskreisen war sogar die Frage erörtert worden, ob das geplante und befohlene brutale und womöglich unkontrollierte Vorgehen der Wehrmacht beim bevorstehenden Einmarsch in die Sowjetunion nicht hinlänglich provokant genug sei, „um der militärischen Führung über den Geist des Regimes, für das sie fechten [sie], die Augen zu öffnen". Doch war der Erwartungspegel sehr niedrig. Ulrich von Hasseil notierte resigniert in seinem Tagebuch: „Brauchitsch und Halder haben sich nun bereits auf das Hitlersche Manöver eingelassen, das Odium der Mordbrennerei von der bisher allein belasteten SS auf das Heer zu übertragen; sie haben die Verantwortung übernommen" 1 4 . Hitler mußte ein Interesse daran haben, die Wehrmacht als Institution in sein Unrechtssystem zu involvieren, um sie aus Furcht vor den möglichen Folgen ihrer Unrechtstaten, anders als 1918, immun gegen Waffenstillstands- und Friedensanwandlungen werden zu lassen. Als das O K W Ende August 1941 auch die Politruks liquidiert sehen wollte, wuchs bei den Befehlshabern der Widerstand. Bemerkenswert ist allerdings und letztlich auch typisch, daß eine beispielsweise vom General der Panzertruppe Rudolf Schmidt verfaßte Denkschrift über die Auswirkungen des Kommissarbefehls nicht auf humanitäre oder völkerrechtliche Aspekte abhebt, sondern auf die dem Uberlebenswillen der Kommissare entspringende wachsende Widerstandskraft der Roten Armee, weshalb Schmidt aus praktischen
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Hiller v. Gaertringen (Hrsg.), Hassell-Tagebücher, S. 257, Aufz. 15. 6. 1941.
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militärischen Erwägungen zur Lockerung des Kommissarbefehls riet. Hitler wischte die Argumente vom Tisch. Spätere Aufweichungserscheinungen hat er allerdings verärgert hingenommen. Bedeutsam ist aber, daß es keinen Fall gibt, in dem versucht worden wäre, die Durchführung des Kommissarbefehls zu erzwingen oder seine Nichtbefolgung kriegsgerichtlich zu ahnden. Auch den sowjetischen Kriegsgefangenen wurde mit rassistischer Begründung der völkerrechtlich fixierte Schutz versagt, was für Millionen das Todesurteil bedeutete. Daß zigtausende sowjetische Kriegsgefangene wegen „Schlappmachens" oft vor den Augen der einheimischen Bevölkerung liquidiert wurden, ist trotz einschlägiger Befehle von Teilnehmern am Ostfeldzug immer wieder ebenso bestritten worden, wie das Wissen darum. Da ist es gut, über honorige Zeitzeugen zu verfügen, die dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und den Unkundigen mit den Tatsachen konfrontieren. Wir lassen noch einmal Klaus von Bismarck zu Wort kommen, der in der Nähe von Pleskau auf dem Weg ins Hauptquartier des Kommandierenden Generals des 8. Armeekorps, Ernst Busch, „neben der .Rollbahn' eine merkwürdige Reihe von Schneehaufen" bemerkte. „Ich untersuchte sie und stellte fest, daß es wohl an die hundert Leichen sowjetischer Kriegsgefangener waren. Alle hatten eine Schußverletzung am Hinterkopf. Für mich war alsbald klar: Hier hat eine Begleitmannschaft deutscher Soldaten (mit dem deutschen ,Hoheitsvogel' auf dem Ärmel oder auf der Brust) immer wieder die erschöpft Zurückbleibenden erschossen, um den Rest voranzutreiben". Nachfragen bei Busch und später bei dem Vetter seiner Frau, Henning von Tresckow, dem Ia der Heeresgruppe Mitte, vermittelten von Bismarck den Eindruck, daß dies gängige Praxis war 1 5 . Hier kam der Wehrmacht kriegsrechtliche Verantwortung zu, die sie großenteils mißachtete oder an SS und Gestapo abtrat, die selbst noch in Lagern auf dem Boden des Reiches Selektionen und Liquidierungen hier oder in KZ's vornahmen. Während des Kalten Krieges ist in der politischen Öffentlichkeit, aber auch von Seiten ehemaliger Wehrmachtangehöriger immer wieder auf die Greueltaten von Rotarmisten gegenüber deutschen Kriegsgefangenen hingewiesen worden, die in der Tat nicht zu bestreiten sind. Der sogenannte Russenschreck war vielen Soldaten so in die Glieder gefahren, daß etliche den Tod an der Front der sowjetischen Gefangenschaft vorzogen. Der im Sanitätsdienst gewesene Theologe Helmut Gollwitzer hat von völkerrechtswidriger Behandlung deutscher Kriegsgefangener beispielhaft und beredt berichtet: „Immer wieder waren zu uns auf den Hauptverbandsplatz welche gekommen, die nach kurzer Gefangenschaft . . . schreckliche Vorfälle berichteten. An der Weichsel verband ich einen mit einem Schädelsteckschuß, den ein russischer Kommissar mit dem Rest seiner Kompanie im Panzergraben aufgestellt und niedergeschossen hatte. Oder ich dachte an die Gruppe nackter Leichen im Donetz, Leichen deutscher Soldaten, die die Russen im Winter in den Fluß getrieben hatten. Und ich dachte dabei freilich auch an jenes russi-
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Bismarck, Rede, in: Krieg S. 17/18.
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sehe Lazarett am Donetz, aus dem nach Einnahme der Stadt ein deutscher Offizier die wohlversorgten deutschen Gefangenen hatte herausholen und die russischen Verwundeten alle hatte niedermachen lassen". Gollwitzer betrachtet also beide Seiten der Medaille, und das ist bedeutsam, wenn man nicht die deutschen Täter zu Opfern machen, Ursache und Wirkungen verwechseln will. U n d so konstatiert er zu Recht: „Der Russenschreck war ein Gemisch aus Furcht vor östlicher Grausamkeit und Furcht vor wohlbegründeter russischer Rache" 1 6 . Letztlich ist auf die Partisanenkriegführung hinzuweisen. Zugegebenermaßen befand sich die Wehrmacht in Form der Sicherungskräfte vor allem auf sowjetischem Territorium wegen mangelnder Ausbildung, fehlender Ausrüstung und auch psychologisch gegenüber den Partisanen in, wie immer deutlicher wurde, aussichtsloser Lage. Vergeltungsmaßnahmen und Geiselerschießungen wurden in Grenzen durch das Kriegsvölkerrecht toleriert. Wie in Polen, so fand auch auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz in Fragen der sogenannten Sicherheit eine Aufteilung der Verantwortlichkeit zwischen Wehrmacht und SS mit deren Einsatzgruppen und -kommandos statt, die der Wehrmacht auch hier logistisch unterstanden (über den jeweiligen lc-Offizier) und ihr berichtspflichtig waren. Dessen ungeachtet ging die Wehrmacht aber gegen die Partisanen unmittelbar vor. Gemäß der von Hitler geprägten Formel, Partisan gleich Jude, ließ sich die Wehrmacht in das Verbrechen des rassischen Vernichtungskrieges hineinziehen. Die Partisanenkriegführung artete in Exzesse gegen die Zivilbevölkerung unter Einschluß von Frauen und Kindern sowohl in Italien wie in Südosteuropa aus, pervertierte aber auf dem Balkan und auf sowjetischem Territorium zur politisch gewollten rassischen Ausmerze, an der sich die Wehrmacht durch entsprechende eindeutige Befehle 17 und durch Beteiligung an Mordaktionen mitschuldig machte. Erstes Gegensteuern läßt sich auch hier wie beim Kommissarbefehl erst dann registrieren, als einsichtigen Befehlshabern deutlich wurde, daß man auf diese Weise dem Partisanenproblem nicht beikam, sondern daß es im Gegenteil zu eskalieren drohte. Von dieser Einsicht geleitet, erachtete ζ. B. der Kommandierende General der Sicherungstruppen und Befehlshaber im Heeresgebiet Mitte, Max von Schenckendorff, Terror, Niederbrennen von Ortschaften und Liquidierung von Einwohnern, auch und gerade von Frauen und Kindern, als militärisch gesehen kontraproduktiv. Selbst Generalfeldmarschall von Reichenau hielt eine Uberprüfung des bisherigen Vorgehens in der Ukraine für notwendig. Aber niemand legte den Hardlinern das Handwerk, zumal sie der Rückendeckung Hitlers sicher waren. Der Gerichtsbarkeitserlaß, demzufolge wie auch immer verdächtige Einwohner der Okkupationsgebiete im Osten nicht vor ein Kriegsgericht gestellt werden mußten, sondern auf Gedeih und Verderb der Truppe ausgeliefert waren, machte sie praktisch vogelfrei. Je unbeherrschbarer die Situation im militärischen Hinterland und im Okkupationsgebiet im Osten wurde, um so brutalere Formen nahmen die Sicherungsmaßnahmen an. Durch Hitler und das O K W ermutigt, um den militärischen Erfolg bemüht, aber auch um der 16 17
Gollwitzer, Bericht, hier zit. n. der ungekürzten Volksausgabe 1956, S. 17/18. Vgl. dazu beispielhaft den berüchtigten Reichenau-Befehl.
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Sicherheit der Truppe willen, verwischten sich die Grenzen des arbeitsteiligen Prozesses zwischen Wehrmacht und SS, wie er zwischen Wagner und Heydrich festgelegt worden war, allmählich (neue Regelung August 1942). Die Wehrmacht fühlte sich ermutigt und verpflichtet, sich am Genozid zu beteiligen und vertat die Chance, die von mäßigenden politischen Kräften und Militärs offeriert wurde, die Bevölkerung der okkupierten Gebiete für sich zu gewinnen, die zwischen den Fronten stand, und letztlich den Partisanen näher als den deutschen Besatzern. Timm C . Richter hat in seinem Beitrag zu diesem Sammelband mit Recht darauf verwiesen, daß die Wehrmacht nicht „als monolitischer Block" Krieg im Osten führte und daß nicht jeder Soldat automatisch zum Verbrecher geworden ist. Er belegt dies eindringlich und beispielhaft anhand eines Berichtes des Majors i. G. v. Gersdorff über eine Inspektion im Bereich der Heeresgruppe Mitte. Ihm entnehmen wir zweierlei: Einmal eine weit verbreitete Ablehnung des Kommissarbefehls im dortigen Frontoffizierkorps. Das sagt nichts darüber aus, ob und in welcher Konsequenz er - insbesondere im rückwärtigen Heeresgebiet - befolgt wurde. Und zum anderen eine lebhafte Diskussion über die Judenerschießungen unter dem Eindruck, „daß die vorhandenen Tatsachen in vollem Umfang bekannt geworden sind, und daß im Offizierkorps der Front weit mehr darüber gesprochen wird, als anzunehmen war" 1 8 . Zumindest vom Sachverhalt weitverbreiteter Mitwisserschaft, auch an der Front im Osten, kann also ausgegangen werden.
III. Von juristischer Ahndung und dem Prinzip individueller Verantwortlichkeit Weder Reichsregierung noch Wehrmacht sind in Nürnberg zu verbrecherischen Organisationen deklariert worden. Das hat dazu geführt, daß in der oftmals erhitzten, besonders durch die Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung angefachten Debatte über die Verantwortlichkeit der Wehrmacht während der NS-Zeit, immer wieder der Vorwurf laut wird, man differenziere nicht zwischen dem einzelnen Soldaten, der militärischen Führung und der Wehrmacht als Institution. In Anbetracht einer Wehrpflichtarmee, in der 16 bis 17 Millionen Uniformierte die deutsche Gesamtgesellschaft repräsentiert hätten, von denen die meisten im guten Glauben an eine gerechte Sache ehrenhaft für die Verteidigung des Vaterlandes eingetreten, unwissend über und unbeteiligt an Kriegsverbrechen gewesen seien, könne man schlichterdings von der Wehrmacht nicht reden, insbesondere nicht von der nationalsozialistischen, die es als korporiertes Ganzes schon in Anbetracht der - eingestandenermaßen kleinen Gruppe - der aus ihr hervorgegangenen Widerständler nicht gegeben habe. Erachte man aber die Wehrmacht dennoch als geschlossene Institution, dann müsse von einer aus Tradition unpolitischen Einrichtung ausgegangen werden, die Kritikern und Gegnern des Nationalsozialismus, so bei-
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Vgl. dazu den Beitrag Richter in diesem Band.
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spielhaft Gottfried Benn, Ernst Jünger oder Hellmuth Gollwitzer, immer wieder Zuflucht geboten habe. Abgesehen vom ideologischen Fanatismus und der Beteiligung an Kriegsverbrechen einzelner ihrer Mitglieder müsse man also eher von einer „sauberen Wehrmacht" sprechen. Im demokratischen Rechtsstaat hat jeder ehemalige Wehrmachtsoldat unter dem Aspekt von Redlichkeit und Rechtsfindung einen Anspruch darauf, in Sachen Verantwortlichkeit und Schuld nach dem Individualprinzip bemessen zu werden. Gleichwohl kann, ja muß von der Wehrmacht gesprochen werden. Muß man tatsächlich in Erinnerung bringen, daß sie - wie jede Armee - ein staatliches Exekutivorgan mit klaren, auf nationaler Gesetzgebung beruhenden Aufgaben im Innern und durch Völker- und Kriegsrecht begrenzte Handlungsspielräume nach außen darstellte? Daß jeder Soldat vom Generalfeldmarschall bis zum gemeinen Mann diese Ordnungsmacht in einem klar umrissenen Verantwortungsbereich repräsentierte und in ihrem und im Namen seines Staates Befugnisse ausübte? Daß er dort, wo er sie übertrat, sie mißbrauchte aufgrund auch im „Dritten Reich" gültiger und ihm vermittelter militärischer und allgemein verbindlicher Rechtsnormen - auch internationaler - von Vorgesetzten oder Militärgerichten hätte zur Rechenschaft gezogen werden müssen? Es lag an jedem Soldaten jeden Ranges, ja er war dazu verpflichtet, an seiner Stelle durch Verweigern, Melden oder Einschreiten für die Aufrechterhaltung der innermilitärischen wie völkerrechtlich fixierten Rechtsordnung dort Sorge zu tragen, wo rechtswidriges Handeln befohlen wurde und erfolgte. Hitler, das OKW und hohe Truppenbefehlshaber haben dies durch einschlägige Befehle zu unterbinden versucht, was der Auflösung jeglicher militärischer Rechtsordnung gleichkam und den einzelnen Wehrmachtangehörigen seinem Gewissen überließ, wenn er denn davon Gebrauch zu machen wußte. Mehr noch: Mit der vorweggenommenen Generalamnestie für Verbrechen an Kommissaren, Kriegsgefangenen und Zivilisten im Osten unter der Voraussetzung, daß die Truppe nicht der militärischen Führung entglitt, wurde Unrecht zum Rechtsprinzip erhoben, und so wundert es nicht, daß es den Angehörigen der Wehrmacht nach dem Kriege an dem zu erwartenden Schuldbewußtsein gebrach. Die militärische Elite hat in unterschiedlicher Form und Intensität an der gesamtpolitischen Verantwortlichkeit des NS-Regimes partizipiert; Göring gemäß seiner herausgehobenen parteipolitischen Position in besonderer und gestaltender Weise, die oberste Wehrmachtführung, ergänzt durch die nicht ministrierten hohen Befehlshaber und andere Generale und Admirale, insbesondere in den Stäben der Teilstreitkräfte, in beratender Funktion aber auch durch praktische Umsetzung der von Hitler vorgegebenen politischen und militärischen Richtlinien in Befehle und Taten. Die oberste Wehrmachtführung wurde daher zu Recht aufgrund einzelpersönlicher Verantwortlichkeit in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verletzung internationaler Verträge sowie wegen Vorbereitung und Führen von Angriffskriegen verurteilt. Ohne ihre zustimmende und duldende Teilhabe an einer Politik, die den Krieg zur einzig sinnstiftenden Idee staatlichen und völkischen Daseins stilisiert hatte, wäre vor allem die rassistisch bestimmte Expansions- und Vernichtungspolitik Hitlers im Osten „akademisch" geblieben.
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Unter Verbrechen gegen den Frieden wurden die den Vertrag von Versailles verletzenden Rüstungsanstrengungen, die Vorbereitung und Anzettelung von Kriegen ohne die völkerrechtlich verlangte Vermittlung von Drittstaaten und ohne Kriegserklärung subsumiert. Göring wurde insbesondere die Zwangsarbeit der Bevölkerung aus besetzten Gebieten, von Kriegsgefangenen und Konzentrationslagerhäftlingen zur Last gelegt sowie die Beteiligung an der Vernichtung der Juden. Als Grundlage der Verurteilung Keitels und Jodls wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienten die Weisungen und Befehle zur völkerrechtswidrigen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und die Vergeltungsmaßnahmen unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Partisanenbekämpfung. D e r letzte Nürnberger sogenannte Generalsprozeß endete in den Spättagen des O k t o b e r 1948. Vor ihm hatten sich drei Feldmarschälle, zehn Generale und ein Generaladmiral zu verantworten, von denen sich der ehemalige Befehlshaber in den Niederlanden, Generaloberst Johannes Blaskowitz, der Verhandlung durch Selbstmord entzog. In Anbetracht ihrer Stellung und des vorausgegangenen Freispruchs der Wehrmacht vom Anklagepunkt der verbrecherischen Organisation ließen die Richter Verbrechen gegen den Frieden und Verschwörung als Belastungspunkte nicht gelten, verurteilten aber den stellvertretenden Chef des Wehrmachtführungsstabes, General Walter Warlimont, den Chef des N S - F ü h rungsstabes im O K W , General Hermann Reinecke, zu lebenslanger Haft; den Befehlshaber der Herresgruppe Nord, Generalfeldmarschall Georg Karl Friedrich Wilhelm von Küchler, den Oberbefehlshaber der 15. Armee, Generaloberst Hans von Salmuth, sowie den Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes der Heeresgruppe A, General Karl von Roques, zu zwanzig Jahren Gefängnis; den Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee, Generaloberst Herrmann Hoth, den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generaloberst GeorgHans Reinhardt, den Oberbefehlshaber der Herresgruppe Süd, General O t t o Woehler, den Chef der Rechtsabteilung des O K W , Generaloberstabsrichter Rudolf Lehmann, und den Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generaloberst Karl Hollidt, sowie den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, zwischen fünfzehn und drei Jahren Freiheitsentzug. Sie wurden der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Kriegsgefangenen, Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung durch Tötungen und Deportationen und des weiteren der Ausraubung und Verwüstung okkupierter Länder für überführt und schuldig befunden. Immerhin kamen der Oberbefehlshaber der Luftflotte 3, Generalfeldmarschall Hugo Sperrle, und der Chef der Seestreitkräfte in Norwegen und Kommandeur der Marinegruppe Nord, Generaladmiral O t t o Schniewind, mit Freispruch davon, was das Bemühen des Militärtribunals unterstrich, die Meßlatte der Beschuldigungen hoch zu hängen und vom Prinzip kollektiver Beschuldigungen demonstrativ abzurücken 1 9 .
"
Vgl. dazu neuerdings H a n s - G ü n t e r Richardi, Generale als willige Werkzeuge Hitlers, in: SZ N r . 247, 27. 10. 1998, S. 13.
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Der ehemalige Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Volker Rühe, stellte im N o v e m b e r 1995 in politischer W ü r d i g u n g historischer Sachverhalte fest: „Die Wehrmacht w a r als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen" 2 0 . Ihr w u r d e also in corpore Mitverantwortlichkeit zugewiesen.
IV. Auf der Suche nach Motiven verantwortungslosen Handelns - Mangelnder Mut, Angst vor Strafe Die Historiker haben auf der Spurensuche nach Motiven für die Willfährigkeit, mit der die Wehrmacht Hitlers verbrecherischen Absichten Rechnung trug, keine lediglich in eine bestimmte Richtung führende Fährte der Erklärung aufzunehmen vermocht. Fragen bleiben über Fragen, und es herrscht Erklärungsbedarf vor allem dort, w o es u m die rein militärische Verantwortung im Verlauf des Zweiten Weltkrieges geht, w o b e i w i r uns der Beschränkung auf Beispielhaftes befleißigen: Warum, so fragten sich bereits kritische Zeitgenossen in der Heimat, drängte die Wehrmachtführung nicht auf das rasche Ende eines Krieges, als er allen einsichtigen Militärs als verloren hätte gelten müssen, und w a r u m befolgte sie Hitlers Befehle z u m Kämpfen bis z u m letzten M a n n und Blutstropfen, denen die Absicht zugrundelag, das deutsche Volk mit sich in den Untergang zu reißen? Die von ehemaligen Wehrmachtangehörigen oft geäußerte A n t w o r t , der Ausgang des Rußlandfeldzuges sei vor den Toren M o s k a u s - selbst in Anbetracht des gescheiterten Blitzkriegskonzepts zur N i e d e r w e r f u n g der Sowjetunion noch völlig offen, die Kriegswende nach Stalingrad noch nicht erkennbar gewesen, bescheinigt der Wehrmachtgeneralität ein unglaubliches M a ß an mangelnder Professionalität, w o die Rede von Verantwortung sein müßte. Schließlich trugen sie die Verantwortung dafür, daß es soweit hatte k o m m e n können, weil sie sich mit ihren militärischen Vorstellungen von der Durchführung des sogenannten Rußlandfeldzuges bei Hitler nicht durchgesetzt hatten. M a n m u ß von professioneller Verantwortungslosigkeit und Paladinentreue sprechen, wenn man sich verdeutlichen will, w a r u m die verantwortliche Generalität sich in die Stalingradsituation hat manövrieren lassen; von der völligen Fehleinschätzung der militärischen Lage und Möglichkeiten Görings und der bekannt unzulänglichen Qualifikation eines Generalobersten namens Paulus auf seinem Posten ganz zu schweigen. Vielleicht sollte man im Zusammenhang mit militärischer Verantwortlichkeit einmal über das Wort Zivilcourage nachdenken, die ja ursprünglich den Bürger auszeichnete, der sich und seine Interessen gegenüber einer militarisierten Obrigkeit durchzusetzen den M u t hatte. Kommt es von
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Rede des Bundesministers der Verteidigung, Volker Rühe, anläßlich der 35. Kommandeurtagung der Bundeswehr am 17. 11. 1995 in München, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1995) 97, S. 9 4 4 - 9 4 9 , hier S. 945.
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ungefähr, daß der deutsche Sprachschatz keine Vokabel kennt, mit der sich der Selbstbehauptungswille des Militärs gegenüber einer willkürlichen Staatsgewalt bezeichnen läßt? Von welch professioneller Instinktlosigkeit mußte eine Generalität sein, die in Anbetracht des Menetekels von Stalingrad nicht erkannte oder erkennen wollte, was aufmerksame Beobachter der militärischen Szenerie in der Heimat befürchteten, daß nämlich der Kriegsgott die Fronten gewechselt hatte. Sollten in verantwortlichen militärischen Kreisen nicht Überlegungen angestellt worden sein, wie sie beispielsweise einem nationalkonservativen G y m nasiallehrer in Frankfurt a. M. Ende September 1942 durch den Kopf gingen? E r schrieb immerhin unter den Augen der Zensur einem ehemaligen Berliner Kollegen, als sich die Wehrmacht bei der Eroberung Stalingrads festgefahren hatte: „In Rußland geht es nur schrittweise vorwärts; mag auch Stalingrad schließlich noch fallen, wer kann denn noch glauben, daß wir dort noch vor dem Einbruch des Winters noch weiterkommen . . . , und bis es dort weitergehen kann, vergehen mindestens sechs Monate. In der Zwischenzeit verstärken sich die Amerikaner weiter. Und weiter werden deutsche Städte, besonders hier im Westen, ,ausradiert' werden . . . Alle Sieges- und Sondermeldungen über versenkte Bruttoregistertonnen und dergleichen erinnern doch nur zu peinlich an die böse Zeit Frühjahr und Sommer 1918" 2 1 . Nach dem Verlust einer ganzen Armee im Kessel von Stalingrad brach an der Heimatfront zwar nicht die Moral zusammen, auch nicht die Disziplin im Gehorsam gegenüber dem Despoten und seinen Handlangern, wohl aber bei nüchtern denkenden Volksgenossen die Zuversicht auf ein siegreiches Ende, ja sogar auf einen Waffenstillstand. Die schreckliche Vision von Deutschland als Trümmerfeld nahm zumindest in den Städten immer konkretere Formen an. „Die Angriffe aufs Industriegebiet am Niederrhein und in Westfalen sind hier das Gespräch", schrieb Schumann an seinen Briefpartner. „Und ein Ende ist gar nicht abzusehen. E R [Hitler] gibt nicht nach, kann nicht nachgeben, es wäre gleichbedeutend mit Selbstmord". Wenn es überhaupt gelingen konnte, aus der Aussichtslosigkeit des Krieges herauszufinden, dann durch verantwortliche Wehrmachtoffiziere. Würden sie den Mut aufbringen, den das kaiserliche Offizierkorps durch ihre Sprecher Hindenburg und Ludendorff in aussichtsloser militärischer Lage bewiesen hatte? Ein entsprechender Hoffnungsschimmer verblaßte rasch in Anbetracht des Bildes, das realistische Zeitgenossen von der Generalität der Wehrmacht hatten. Was blieb, war das resignierte sich Hineinfinden in eine unabänderliche Situation. „Niemand ist da, der ihm [Hitler] das Heft aus der Hand nehmen könnte, auch nicht in der Generalität, denn auch da gibt es zu viele, die durch dick und dünn mit ihm gehen. Möglich wäre es ohnehin auch nur um den Preis einer neuen und gigantisch vergrößerten Dolchstoßlegende, die unser ganzes künftiges nationales Dasein (soweit von einem solchen überhaupt noch die Rede sein kann) vergiften würde" 2 2 .
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Brief O t t o Schumanns, 27. 9. 1942, an Martin Havenstein, in: Hammerstein (Hrsg.), Bildung, S. 1 7 7 - 1 8 0 , h i e r S . 178. Brief Schumanns, 27. 6. 1943, an Havenstein, in: ebd., S. 1 9 2 - 1 9 5 , hier S. 193.
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Das Sinnieren der beiden Schulmänner über die mögliche Beendigung des Krieges kreiste immer wieder um die deutschen Generalität, deren moralischer Wert allerdings einem nicht aufzuhaltenden Kursverfall unterlag. Der Sturz Mussolinis und der Verlust des italienischen Verbündeten hätte noch einmal eine Zäsur des Krieges bedeuten können. Aber glauben tat daran niemand mehr. Die Forschung vermag es nicht zu quantifizieren, aber immer mehr Quellen erschließen sich, die verdeutlichen, in welch hohem Maße sich die Wehrmachtgeneralität um ihren moralischen Kredit gebracht hat. „Generalfeldmarschälle zwar in rauhen Mengen; aber just die haben sich doch bisher als Männer von einer geradezu erschütternden charakterlichen Impotenz gezeigt, wahrhaftig, man kann's kaum anders bezeichnen. Das sind die Männer, die eine Tradition zu hüten hatten, in der unter anderem der Name Yorck verzeichnet steht. Von dieser Seite ist nichts zu erhoffen". Eine solche Erkenntnis fiel schwer und war daher auch immer wieder, wenn auch nur leichten, Zweifeln ausgesetzt: „Oder sollte doch im Offizierkorps nicht alle Zivilcourage, nicht alles Verantwortungsgefühl ausgestorben sein" 23 . Man komme hier nicht mit dem Argument eines geleisteten Eides auf den Führer, hinter dessen Rechtmäßigkeit im übrigen immer mehr Juristen große Fragezeichen setzen. Schließlich waren Hindenburg und Ludendorff ihrem Monarchen in gleich enger Weise eidlich verpflichtet gewesen wie die Generalität des „Dritten Reiches" ihrem „Führer". Sie opferten Kaiser und Monarchie. Warum wurden unter sich rapide erhöhenden Verlustraten sinnlose Abwehrkämpfe gefochten? Das Argument der Verzögerung des bolschewistischen Vormarsches zur Rettung der Flüchtlingstrecks ist längst seiner Stichhaltigkeit beraubt. Das Wohl der Flüchtlinge blieb grundsätzlich erklärten militärisch-operativen und logistischen Notwendigkeiten untergeordnet, was davon abweichende Ausnahmen im speziellen Fall nicht ausschließt. Entsprechend wurden den panikartig ihre Heimat Verlassenden mögliche Fluchtwege versperrt. Im Ernstfalle drängte man Flüchtlingstrecks rücksichtslos von den Straßen. Hitlersche Weisungen zur Verhinderung von Evakuierungen aus zu Festungen erklärten Städten befolgten die zuständigen Befehlshaber ebenso, wie zum Beispiel im Räume Danzig aussichtlose militärische Halteversuche absoluten Vorrang vor der Rettung der Zivilbevölkerung besaßen, und die vielgerühmten Rettungsaktionen der Marine in der Ostsee erfolgten auch erst dann, als die Aussichtslosigkeit militärischen Einsatzes allzu offenkundig war. Ein Gutteil der Wehrmachtangehörigen an der Ostfront war sich bewußt, in welch exzessivem Maße man sich außerhalb des Völkerrechts bewegte und bewegt hatte, als die Information durchsickerte, die potentiellen Siegermächte würden die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft ziehen. Sollte dies nicht auch ein Grund gewesen sein, der es lohnenswert machte, sich im Namen des Vaterlandes seiner Haut letztlich auch mit Kindersoldaten und alten Volkssturmmännern zu wehren in der verzweifelten Hoffnung, durch ein wie auch
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Brief Schumanns, 2. 8. 1943, an Havenstein, in: ebd., S. 197-203, hier S. 198, 202.
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immer geartetes technisches Wunder (Raketen, Giftgas u. ä.) oder durch einen allgemein militärisch-politischen Umschwung (mit Churchill gegen Stalin) noch einmal davonzukommen? Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß Hitler erst recht in den letzten Kriegsmonaten, insbesondere nach dem 20. Juli 1944, bei Befehlsverweigerung im Zusammenhang mit der Reichsverteidigung und dann sogar der planmäßigen Selbstzerstörung Deutschlands kein Pardon kannte. So konstatierte denn auch das Nürnberger Tribunal im sogenannten Generalsprozeß, den Angeklagten habe es aus Furcht vor Strafe am notwendigen Mut gefehlt, sich Hitlers Politik des verordneten staatlichen und völkischen Suizids entgegenzustellen. Bemerkenswert erscheint, daß die Richter dies nicht als Entschuldigung gelten ließen, sondern daß sie unterstellten, daß die unterhalb der Ebene der O K W - F ü h rung angesiedelte Generalität und Admiralität sich „offen und männlich" dem Diktator hätten entgegenstellen müssen. Was wäre denn wirklich geschehen, diese hypothetische Frage muß erlaubt sein, wenn sich die hohe Generalität in Geschlossenheit so verhalten hätte wie der Generalmajor Gerhard Graf von Schwerin, der die der Einäscherung gleichkommende Verteidigung Aachens ebenso ablehnte wie der Stadtkommandant von Paris, General Dietrich von Choltitz, die Zerstörung der französischen Metropole? Für das „In Treue Fest Zum Führer", das sich in der nahezu generellen Befolgung des Nero-Befehls ebenso manifestierte wie in der militärisch nicht zu rechtfertigenden letzten großen Verteidigungsschlacht um die Seelower Höhen mag auch die vom Nürnberger Tribunal festgehaltene Furcht vor Nachteilen eine Rolle gespielt haben. Sollte es nicht bei einzelnen Feldmarschällen und Generalen einen Zusammenhang gegeben haben zwischen verbissenem Aufbäumen gegen die Niederlage und den Dotationen in Form monatlicher erklecklicher finanzieller Zuwendungen auf die Gehaltskonten sowie erhaltener bzw. versprochener und erhoffter Ländereien im Osten und auch westlich der Elbe? Als der Generalstabschef des Heeres, Heinz Guderian, Anfang 1945 für einen Sonderwaffenstillstand mit den Westalliierten plädierte, um die Ostfront stabilisieren und womöglich die Rote Armee zurückwerfen zu können, mag er an seine Dotationswünsche im Warthegau gedacht haben, deren Dimension Hitler die Zornesröte ins Gesicht getrieben hatte. Wie hielt der später als Widerstandskämpfer hingerichtete frühere Botschafter (bis 1938) in R o m (Quirinal) Ulrich von Hasseil bereits im Frühjahr 1943 in seinem Tagebuch fest? „Je länger der Krieg dauert, desto geringer wird meine Meinung von den Generälen. Sie haben wohl technisches Können und physischen Mut, aber wenig Zivilcourage, gar keinen Uberblick oder Weltblick und keinerlei innere, auf wirklicher Kultur beruhende geistige Selbständigkeit und Widerstandskraft, daher sind sie einem Manne wie Hitler völlig unterlegen und ausgeliefert. Der Mehrzahl sind außerdem die Karriere in niedrigem Sinne, die Dotationen und der Marschallstab wichtiger als die großen, auf dem Spiele stehenden sachlichen Gesichtspunkte und sittlichen Werte" 2 4 .
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- Befehl, Gehorsam und Pflicht Warum verletzte die Wehrmacht wie im Ersten Weltkrieg völkerrechtswidrig und der damaligen Folgen eingedenk die territoriale Integrität Belgiens und der Niederlande abermals? Warum ließ sie sich zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ohne Kriegserklärung gegenüber der Sowjetunion hinreißen? Es lagen ja keinerlei Beweise für mögliche Angriffsabsichten der Roten Armee in absehbarer Zeit vor 2 5 , und sie wußte, daß diese zu einem Präventivkrieg derzeit nicht imstande war. Der frühere Oberleutnant im Artillerieregiment 23 (Potsdam) und spätere Professor für Politikwissenschaft und Sozialphilosophie Iring Fetscher äußerte die Uberzeugung, jeder gutwillige und einigermaßen informierte Wehrmachtoffizier habe erkennen können, „daß der Uberfall auf die beiden neutralen Staaten Niederlande und Belgien ein Verstoß gegen internationales Recht war, erst recht, daß der Angriff auf Polen, mit dem die Reichsregierung eben erst einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, völkerrechtswidrig war, ebenso wie im Sommer 1941 der Überfall auf die Sowjetunion". Keinem denkenden Offizier könne der verbrecherische Charakter des Rußlandfeldzuges als Eroberungs- und Vernichtungskrieg verborgen geblieben sein 26 . Diese Aussage wird unterstützt durch die des damaligen Regimentsadjutanten Klaus von Bismarck, der, als ihm unmittelbar vor dem Uberfall auf die UdSSR der Kommissarbefehl in die Hand kam, mit anderen Regimentskameraden für sich beschloß, ihm nicht Folge zu leisten 27 . Bezüglich der Angriffe auf Polen und Frankreich liegen die revisionistischen und revanchistischen Motive in Reaktion auf den als schmählich empfundenen Versailler Friedensvertrag zutage. Hinsichtlich der Sowjetunion mag man einen latenten Antibolschewismus anführen, der aber einer geheimen Rüstungskollaboration in der Weimarer Republik nicht im Wege gestanden hatte. Warum ging die Wehrmacht völkerrechtswidrig und entgegen den selbst erlassenen zehn Geboten an der Front im Okkupationsgebiet mit uniformierten Kriegsgefangenen, der Zivilbevölkerung, Frauen und Kindern sowie Juden um? Wir haben den latenten Antisemitismus bereits erwähnt, der u. a. aber auch in der französischen Armee anzutreffen war. Erinnert sei an die Dreyfus-Affäre. Aber warum beteiligte sich die Wehrmacht am rassenideologisch begründeten systematischen Genozid infolge der Auseinandersetzung mit Partisanen? Auf der Suche nach Erklärungen für die völkerrechtswidrige und verbrecherische deutsche Kriegführung während des Zweiten Weltkrieges wird man in den Akten keine befriedigende Antwort erhalten. Bei Kriegsende haben bekannte Persönlichkeiten auf Erfahrung beruhende oder vor historischem Hintergrund Deutungsmuster entworfen, in denen die Phänomene Befehl, Pflicht und Gehorsam besonders deutlich sichtbar gemacht sind.
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Vgl. dazu H a n s - E r i c h Volkmann, D i e Legende vom Präventivkrieg, in: D i e Z E I T N r . 25, 13. 6. 1997, S. 44. Iring Fetscher, Rede anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg ...", Potsdam, 2 7 . 6 . 1 9 9 5 , in: Krieg, S. 2 2 - 2 9 , hier S. 22/23. Bismarck, Rede, in: Krieg, S. 17.
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„Befehl" - das war und ist ein weiterer zentraler Begriff in der Selbstentlastungsterminologie ehemaliger Wehrmachtangehöriger, wenn es um Verantwortlichkeit ging und geht. Nun beruhen Funktionstüchtigkeit und Disziplin jeder Armee unwidersprochen auf dem fundamentalen Prinzip von Befehl und Gehorsam. Unrechte Befehle mußten jedoch auch in der Wehrmacht nicht befolgt werden. Dies galt vom Oberbefehlshaber bis zum Rekruten. Immer wieder haben sich in Nachkriegsprozessen angeklagte ehemalige Soldaten auf Befehlsnotstand, z.B. bei Judenerschießungen oder spontanen Racheakten gegenüber der Zivilbevölkerung im Partisanengebiet, berufen. Aber Befehlsverweigerung war in diesen Fällen in der Regel nicht mit der Gefährdung von Leib und Leben verbunden, zumindest mangelt es bislang dafür an einschlägigen Beweisen. Der in der NS-Zeit weitgehend in der inneren Emigration lebende, aber durchaus Kontakt zu nationalsozialistischen höheren Funktionsträgern haltende Schriftsteller Ernst Wiechert äußerte sich unmittelbar nach Kriegsende zu Befehl und Gehorsam als einer in Deutschland wohl besonders schwer auflösbaren Melange. Dabei brachte er durchaus Verständnis auf für diejenigen Soldaten, die in gutem Glauben ihre Pflicht getan hatten. „Viele glaubten, daß es um das Vaterland gehe, und sie wußten nicht, daß es um die Partei ging. Aber viele glaubten nicht einmal dieses. Viele wußten, daß es um eine ungerechte Sache ging, und sie haßten den, der sie schickte. Aber sie glaubten, daß es Soldatenpflicht sei, zu gehorchen, und sie gehorchten". Wiechert wußte um die Dichotomie der Seele auch solcher Soldaten der Wehrmacht, die Unrechte Befehle erkannten, denen aber die Kraft fehlte, sich ihrer Durchführung zu widersetzen oder zu entziehen, die sich im inneren Konflikt zwischen Gewissen und Gehorsam für die soldatische Pflicht entschieden hatten. „Sie trugen eine Last, von der niemand weiß, und sie wagten nicht, sie abzuwerfen. Ihre Hände blieben rein, auch wenn das Blut sie rötete. In den Gewittern der Schlachten waren sie so grenzenlos allein und verlassen, daß der Tod ihnen eine Erlösung war. Sie nahmen auch den Tod auf sich, wie sie die Mitschuld auf sich genommen hatten" 2 8 . Zu denken ist auch an all diejenigen, die sich im Wissen um eine ungerechte Sache der sogenannten Pflicht durch Wehrdienstverweigerung, durch Desertion im Bewußtsein der ihnen dabei drohenden Gefahr für Leib und Leben entzogen. Und schließlich gab es auch die Soldaten, die in Erkenntnis der Sinnlosigkeit des mörderischen Krieges Hitlers Durchhalteparolen ebenso mißachteten, wie sie das Kämpfen bis zur letzten Patrone als falsches Heldentum entlarvten und sich auf die Kunst des Uberlebens verlegten - in lautloser Opposition 29 . Die durch die Goldhagen-Debatte öffentlich bewußt gemachte Frage nach der Wirkungskraft des deutschen Antisemitismus wurde durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über östliche Okkupationspolitik und Partisanenbekämpfung auf die Wehrmacht fokussiert. Eine emotionalisierte und politisierte kontroverse Diskussion, hier speziell über die Mitverant28 29
Wiechert, Rede, S. 28, 29. Vgl. dazu Linharz (Hrsg.), Friede.
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wortlichkeit der Wehrmacht für den Holocaust im östlichen rassischen Vernichtungskrieg, bedarf der wissenschaftlichen Versachlichung. Die die Wehrmacht belastenden Schlüsseldokumente liegen zweifelsfrei auf dem Tisch. Es bedarf der phänomenalen Erklärung, wobei davon auszugehen ist, daß sie nur bruchstückhaft ausfallen kann und damit unbefriedigend bleiben muß. Der Freiburger Historiker Gerhard Teilenbach warf schon frühzeitig die Frage auf, warum ein anderen Völkern vergleichbarer punktueller Antisemitismus bei den Deutschen zwischen 1933 und 1945 eine derart verbrecherische Dimension erlangen konnte? Warum fanden sich so viele willige Vollstrecker, und warum meldete sich so wenig Widerstand? Eine Teilantwort glaubte er in einer spezifischen Schwäche des deutschen Volkscharakters gefunden zu haben, nämlich im weit verbreiteten Geltungsdrang, dem der Nationalsozialismus durch eine Semimilitarisierung mittels der Parteiorganisationen ebenso entgegenkam wie durch den Aufbau einer modernen Wehrmacht. In einer Wehrpflichtarmee mußte diese Eigenschaft zum tragen kommen. „Man sah sich gar zu gern ausgezeichnet durch Orden, Ehren- und Rangabzeichen, fühlte sich gehoben durch Beförderungen in der Partei oder in der Armee. Vor allem aber war die Lust am Kommandieren groß, der Unteroffizierston drang in grotesker Weise in rein zivile Bereiche". Als die eigentliche Volkskrankheit machte Tellenbach neben der Lust am Kommandieren das ebenso große Bedürfnis aus, kommandiert zu werden. Tellenbach klagte Eigenschaften ein, die den Deutschen ganz allgemein und dem Militär insbesondere abhanden gekommen waren, um sich verbrecherischen Befehlen zu entziehen: „Selbständigkeit des Urteils, Verantwortungsfreudigkeit, sittliche Autonomie. Man tat seine .Pflicht'. Pflichterfüllung war die Tugend des einfachen Soldaten oder Arbeiters genauso wie die des Wirtschaftsführers oder Generals. Und Pflicht war nicht das, was das eigene Gewissen verlangte, nicht, was in einsamer Selbsterforschung als göttliches Gebot oder auf anderer Ebene als Forderung der deutschen Bestimmung erkannt war ..., sondern Pflicht war der ,Befehl von oben' . . . Man mochte nicht nur ohne Befehl, erst recht nicht gegen Befehle handeln. Zweifel an den Befehlen wurden nicht nur von den Führern verfolgt, sondern auch von den Geführten als Sakrileg, als Anschlag auf den neu gefundenen Lebenssinn beargwöhnt" 3 0 . Die Frage, wie konnte es eigentlich dahin kommen, hat am Ende des Krieges und unmittelbar danach auch den renommierten Historiker Friedrich Meinecke umgetrieben. Auch er unternahm den Versuch, in historischem Kontext das bis zuletzt unauflöslich interdependente Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat als „Militarismus und Hitlerismus" erklärbar zu machen: Im Grunde war der Offizier des „Dritten Reiches" nach seiner Auffassung das Produkt des preußischen Militarismus seit den Tagen Wilhelms I., als ein Typ des Offiziers geprägt wurde, für den Hingabe an seinen Beruf höchste Lebensaufgabe bedeutete. „Hier wurde der Mensch eben dressiert, daß heißt nach einem rationalen
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Teilenbach, Not, S. 19, 22.
Z u r V e r a n t w o r t l i c h k e i t der W e h r m a c h t
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Schema umgebildet zu jenem Wesen, das blindlings sein Leben für einen von ihm nicht gesetzten Zweck zu opfern lernen sollte". Genau diese Grundauffassung vertrat der spätere Große Generalstab. Er zeichnete sich aus durch unreflektierte Hingabe an den beruflichen Auftrag und an den Obersten Kriegsherren, der ihn erteilte. Diesen Auftrag suchte man durch „Wissenschaftlichkeit, Rationalität und Energie" zu erfüllen. Verkörpert wurde der Offizier des Generalstabes, im Prinzip aber das gesamte Offizierkorps, durch einen Menschentypus, der sich durch Rationalität in Form technischer Perfektion und Irrationalität aus Ehrgeiz, Pflichtgefühl und Vaterlandsliebe auszeichnete, dem es allerdings „an der nötigen Ergänzung durch politisches Denken" gebrach. Den Technikern des Krieges, wie Meinecke es formulierte, fehlte es zunehmend an Interesse und Einsicht für die Dinge außerhalb ihrer Berufswelt, es fehlte ihnen das „volle Verständnis für das ganze des geschichtlichen Lebens", was sie befähigt hätte, verhängnisvolle Entwicklungen als solche einzuschätzen. Offensichtlich hat die tief im Denken der deutschen Klassik wurzelnde national-konservative und national-liberale deutsche Historikerschaft im zeitgeschichtlichen Zeugenstand das Geschehen der Jahre 1933 bis 1945 nahezu übereinstimmend auf das zunehmende kulturelle Defizit zugunsten einer Faszination für die moderne Technik zurückgeführt. Ganz im Sinne seines Doktorvaters Friedrich Meinecke äußerte der konservative Göttinger Historiker Siegfried A. Kaehler - Leutnant des Ersten Weltkrieges - wenige Tage nach der bedingungslosen Kapitulation Genugtuung darüber, daß die Hauptverbrecher des deutschen Heeres, „die Hitlerhörigen und soldatischen Narren", den verantwortlich mitverschuldeten Untergang Deutschlands mit ihrer Unterschrift selbst hätten besiegeln müssen. Deutschland sei nun zum „podium generis humani geworden wie einst das Judentum, an dessen ,Gebanntheit' der hybride Nazismus sich vergreifen zu können glaubte und nun vom rückfallenden Bumerang erschlagen worden ist. - Das gebildete Deutschland des 19. Jahrhunderts ist nicht zum Opfer der Unbildung seiner Arbeitermassen geworden, sondern zum Opfer der Halbbildung der Techniker', sowohl im Bürgerlichen wie im Soldatischen" 3 1 . Das beschriebene berufsspezifisch militärische und von technischer Faszination geprägte Denken und Verhalten hatte sich im Hunderttausend-Mann-Heer der Reichswehr fortgesetzt und sich auf die daraus hervorgehende Wehrmacht übertragen. So konnte es dazu kommen, daß die Reichswehr sich in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen, des Zerfalls der Demokratie und der Polarisierung zwischen Rechts und Links auf die Seite Hitlers schlug, zumal er am überzeugendsten ihre nationalen Anliegen artikulierte. Und als Beleg führt Meinecke die Feststellung eines ihm vertrauten damaligen Obersten, späteren Generals an: „Die Reichswehr wird immer da stehen, wo die stärksten nationalen Belange sind". Hitler avancierte, als er von ihrem hochverehrten Feldmarschall und Reichspräsidenten von Hindenburg, dem Fluchtpunkt soldatischvaterländischen Selbstverständnisses, in Amt und Würden gebracht wurde,
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Brief Kaehlers, 20. 5. 1945, an Peter Rassow, in: Bußmann/Grünthal (Hrsg.), Siegfried A. Kaehler, S. 301-302, hier S. 302.
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zum nahezu unbestrittenen Hoffnungsträger des Militärs im Blick auf nationalpolitische Restitution nach innen und außen. „Die Urteilslosigkeit dieser Reichswehr im Bezug auf den nationalen Wert der Hitlerbewegung hing wieder eng zusammen mit den Einseitigkeiten des preußisch-deutschen Militarismus, mit seinem hochentwickelten technischen Geiste, seiner Fachdressur". Und so bewahrheitete sich das, was Reichswehrminister Groener einmal geäußert hatte: „Es ist ganz falsch zu fragen, wo die Reichswehr steht. Die Reichswehr tut, was ihr befohlen wird, und damit Basta" 3 2 . Dabei gab es in der Weimarer Republik eine lebhafte Diskussion zum Problem von Befehl und Gehorsam, zuletzt in zwei Streitschriften aus dem Jahre 1932 zwischen den ehemaligen Generalen von Fran$ois („Gehorsam und Verantwortungspflicht") und Ludendorff („Über Unbotmäßigkeit im Kriege"), die sehr hohe Auflagen erlebten. Das Thema war immerhin so bedeutsam, daß der Marburger Rechtsprofessor Erich Schwinge es zum Gegenstand seiner Festrede anläßlich der Wiederkehr des Jahrestages der Gründung seiner Universität wählte. Schwinge postuliert, daß untere und mittlere Chargen des Militärs aus Gründen der Aufrechterhaltung der Manneszucht prinzipiell zu Gehorsam verpflichtet sind, spätestens dann, wenn sie ihre Bedenken geäußert haben, der Befehl aber aufrechterhalten bleibt. Was die höhere militärische Führung anbelangt, so verweist er auf das Ergebnis des Disputs zwischen Frangois und Ludendorff, wonach die Befehlsverweigerung in Fällen „ernstester Bedrohung von Volk und Staat" straffrei gestattet ist. Eine gesetzliche Kodifizierung des Spannungsverhältnisses zwischen Befehl und Gehorsam resultierte aus dieser Erkenntnis nicht, wohl aber hatte die Rechtsprechung nach allgemeinen Normen des Strafrechts den Rechtfertigungsgrund des „übergesetzlichen Notstands" formuliert. Die Schwierigkeit für den Soldaten jeglichen Ranges ergab sich nun daraus, daß die gesamte Diskussion sich beispielhaft auf operatives und taktisches Geschehen bezog, was die grundsätzliche Abstraktion erschwerte, die der militärischen Führung aber abverlangt werden mußte. Nach einem Gerichtsurteil des Jahres 1927 stand fest: „Nicht rechtswidrig handelt, wer ein geringerwertiges Rechtsgut verletzt oder gefährdet, wenn nur dadurch ein höherwertiges Rechtsgut gerettet werden kann". Schwinge konkretisiert dies: „Auf den Fall der Befehlsabweichung angewandt bedeutet dieser Rechtssatz, daß eine Bestrafung wegen Ungehorsams ausgeschlossen ist, wenn die U n botmäßigkeit durch die Rücksichtnahme auf höherwertige Gegeninteressen erzwungen wurde". U m zu verdeutlichen, wie er dies verstanden wissen wollte, ließ Schwinge den General von Borstell sprechen, der 1815 wegen Befehlsverweigerung angeklagt, seinem Vorgesetzten gegenüber geäußert hatte: „Die Pflicht des militärischen Gehorsams hat . . . ihre Grenzen; sie steht den
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Meinecke, Katastrophe. Zitate nach Volkmann, Historiker, S. 8 8 9 - 8 9 0 .
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höheren Verpflichtungen gegen Gott, den König und die Ehre, oder dem Gewissen, bestimmt untergeordnet" 3 3 . Diesen Grundsatz muß der spätere Militärrichter Schwinge völlig vergessen haben.
- Die moralische
Kategorie
Das Beziehungsgeflecht zwischen Wehrmacht und Hitler weist auch allzu menschliche, ganz persönliche Verknüpfungspunkte auf, so das Motiv von Dankbarkeit und Treue, das nicht unterschätzt werden darf. Es wird deutlich, daß die Einbeziehung des irrationalen, des psychologischen und selbst moralischen Moments jenseits aller den Akten zu entnehmender Erkenntnis als Deutungskriterium soldatischen Verhaltens, Handelns und Unterlassens während des „Dritten Reiches" für den Historiker unverzichtbar ist. Schon Meinecke hat auf die Chancen des Avancements der Soldaten des Hunderttausend-MannHeeres bei dessen Ausweitung zur Wehrpflicht- und Massenarmee und zur Wiedereinstellung ehemaliger Offiziere und Unteroffiziere hingewiesen. Und in der Tat, wann hat es in einer deutschen Friedensarmee einen den Jahren 1933 bis 1938/39 vergleichbaren Beförderungsschub gegeben? Bereits nach der Besetzung des Rheinlandes erhielt z.B. Blomberg den Marschallstab. Und so war denn, von wenigen kritischen Stimmen abgesehen, die große Mehrheit der Offiziere mit der Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers höchst zufrieden. Dies bezeugt der einstige Reichswehr- und spätere -kriegsminister Generalfeldmarschall von Blomberg, wenn er für das Nürnberger Militärtribunal festhielt, keiner der höheren Offiziere habe bis 1938 ernstlich Grund verspürt, zu Hitler in Gegnerschaft zu treten, zumal sie zu wachsendem Ansehen und Beförderungen gelangt seien. Erst während der sogenannten Sudetenkrise formierte sich entschlossener Widerstand gegen Hitler, der u. a. mit dem Namen des Generals Beck verbunden ist. Ihm wurde allerdings durch das Einlenken der Westmächte im Münchener Abkommen der legitimatorische Boden entzogen. Als der bereits erwähnte Göttinger Historiker Kaehler unmittelbar nach Kriegsende den mit ihm freundschaftlich verbundenen ehemaligen Adjutanten Hitlers und späteren General Friedrich Hoßbach fragte, warum die Wehrmachtführung nicht die Blomberg-Fritsch-Krise mit der Entlassung beider und 16 anderer Generale Anfang 1938 zum Anlaß einer Solidaritätserklärung genommen hätten, meinte dieser, „weil durch den Aufbau der Wehrmacht alle Grade des Berufssoldatentums sowohl durch die Aussicht auf sinnvolle Betätigung wie auf Befriedigung ihres militärischen Ehrgeizes derartig für das System gewonnen, andererseits schon so stark aus der Überlieferung soldatischer Verantwortlichkeit alter preußischer Prägung herausgewachsen gewesen wären" 3 4 . Kaehler notierte resigniert, daß wohl „der soldatische Ehrgeiz im letzten Halb-
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Schwinge, Gehorsam. Zitate in der Reihenfolge S. 8, 9/10, 4. Brief Kaehlers, 26. 5. 1945, an seine Geschwister Martin, Anna und Walter, in: Bußmann/ Grünthal (Hrsg.), Siegfried A. Kaehler, S. 3 0 2 - 3 1 0 , hier S. 306.
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Jahrhundert, d.h. also seit dem Regierungsbeginn Wilhelms II., sich von jeder sittlichen Bindung freigemacht" habe 3 5 . E r führt damit die Kategorie des U n rechtsbewußtseins und der Moral in die Debatte u m die Verantwortlichkeit der Wehrmacht im „Dritten R e i c h " ein. D e r renommierte amerikanische Historiker Gerhard L. Weinberg hat auf der 1997 v o m Militärgeschichtlichen Forschungsamt ausgerichteten Tagung über die Wehrmacht die bedenkenswerte These vertreten, die deutsche Armee sei in G e w ö h n u n g an stille und offene O b s t r u k t i o n gegenüber Weimar und Versailles einem schleichenden Verlust an Rechtsbewußtsein erlegen, so daß es ihr ab 1933 und in Sonderheit während des Zweiten Weltkrieges an der notwendigen Immunität fehlte, u m unsittliche Begehren seitens Hitlers und seiner Paladine abwehren zu können. Geht man dieser These einmal nach, dann ist zu verweisen auf die Ablehnung der Republik an sich mit dem Versuch, mittels des hauptsächlich von Freikorps getragenen, aber von den regulären Truppen weitgehend mit Sympathie begleiteten Kapp-Putsches dieselbe zu Fall zu bringen; auf die Ablehnung des Versailler Friedensvertrages mit der daraus resultierenden deutsch-sowjetischen geheimen Rüstungskooperation, der geheimen Marinerüstung und der schwarzen Reichswehr. Dies fand 1933 seine Fortsetzung als aktive Beteiligung bei der A u f l ö s u n g der überkommenen Rechtsordnung und hatte seinen ersten Kulminationspunkt in der Komplizenschaft bei den Mordaktionen gegen die S A und einzelne den Nationalsozialisten unliebsame Persönlichkeiten bis in die Reihen der Reichswehr selbst. Hier hat die Reichswehr/ Wehrmacht im Bestreben, einziger Waffenträger der N a t i o n zu sein, aus Eigensucht ihren moralischen Kredit verspielt. Hitler hätte sie bei den später einsetzenden Judenverfolgungen hochnotpeinlich an die Komplizenschaft im Zusammenhang mit dem sogenannten R ö h m - P u t s c h erinnern können. U n d so stand sie bei den J u d e n p o g r o m e n 1938 in schweigender D u l d u n g zunächst abseits, u m sich später während des Krieges selbst am H o l o c a u s t zu beteiligen. Wir wollen diese Überlegungen nicht weiter vertiefen. In der ersten Zeile des ersten Artikels der lizensierten Zeitschrift O s t und West lesen wir: „ I m K r a m p f des Tausendjährigen Reiches sanken Lebensgefühl und Rechtsgefühl der N a t i o n unter den G e f r i e r p u n k t " 3 6 . Dies traf auch für die Institution Wehrmacht zu. Wie viele Soldaten und Offiziere an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sind, wird sich niemals mehr klären lassen. Glaubt man den Aussagen seriöser Zeitzeugen, dann war ihre Zahl erheblich größer, als weiland angenommen. Iring Fetscher, der als Offizier am Rußlandfeldzug teilnahm, läßt dies - differenzierend - erahnen, wenn er aus Anlaß der E r ö f f n u n g der Ausstellung „Vernichtungskrieg" in P o t s d a m äußerte: „ E s ist zwar auch wahr, daß die große Mehrheit der einfachen Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere der Wehrmacht an diesen Verbrechen selbst nicht aktiv beteiligt war und von ihnen nichts oder nur wenig wußte, aber die Anzahl der K o m m a n d e u r e v o m O K W bis herab z u m Bataillon, die bei der Tötung von J u d e n , von russischen und ukrainischen, serbischen und anderen
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Beide Zitate ebd. Schroeder, Heinrich Mann, S. 9.
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Zivilpersonen .mitgemacht' und Befehle hierzu gegeben hat, ist noch immer erschreckend hoch [genug]" 3 7 . Wie hoch oder niedrig die Zahl der Mittäter auch gewesen sein mag, sie waren Werkzeuge derjenigen, die die eigentliche Verantwortung für die Wehrmacht trugen: die Repräsentanten der militärischen Führung, die bezeichnenderweise auch als Hauptkriegsverbrecher auf derselben Ebene wie die politische Führung abgeurteilt wurden. Formal betrachtet war es Hitler, dem die alleinige Verantwortung für den Krieg und das Kriegsgeschehen zufiel und der diese Alleinverantwortung auch für sich reklamierte. Er war oberster Politiker und oberster Befehlshaber zugleich, der massiv in das operative und taktische Geschehen der Truppe eingriff. Er war selbst Teil der Wehrmacht und dokumentierte dies dadurch, daß er seit Kriegsbeginn bis Ende den grauen Rock nicht mehr ablegte. Daß die Wehrmachtgeneralität sich die militärische Verantwortlichkeit aus der Hand nehmen ließ, darin liegt ihr professionelles und moralisches Versagen, ihre Unverantwortlichkeit begründet. Während des Ersten Weltkrieges hatten Hindenburg und Ludendorff aus moralischer Verpflichtung ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung angemeldet und in hypertropher Anmaßung bis zur politischen Bevormundung der Reichsregierung auch durchgesetzt. Spätestens ab 1938 war das Pendel nach der anderen Seite ausgeschlagen. Jetzt beschränkte sich die Wehrmachtführung auf reines Ressortdenken und willfährige Befehlsausgabe, entzog sich der politischen Verantwortung und selbst der militärischen, die ihr und dem höheren Offizierkorps im Kriege oblag. Die Soldaten im Widerstand wußten dies, und Graf Stauffenberg hatte es bereits 1939 in einem Brief an den Stabschef beim Oberkommandierenden der Heeresgruppe 2, Generalmajor Georg von Sodenstern, ganz im Sinne Ludendorffs formuliert: Ungeachtet aller politischen Instanzen komme dem Soldaten Verantwortung zu. Im Krieg gebühre ihm über den rein militärischen Bereich hinaus „die Führung der bewaffneten Nation". Stauffenberg hat die Funktion des Soldaten so definiert, wie er sie begriff: „Soldatsein . . . heißt Diener des Staates, Teil des Staates sein und mit all der darin inbegriffenen Gesamtverantwortung . . . Wir müssen um unser Volk, um den Staat selbst kämpfen, im Bewußtsein, daß das Soldatentum und damit sein Träger, das Offizierkorps, den wesentlichsten Träger des Staates und die eigentliche Verkörperung der Nation darstellt" 3 8 . Im Wissen um diese Verantwortung wagte Stauffenberg den Widerstand und das Attentat. Entgegen dieser aus soldatischem Selbstverständnis und - im wörtlichen Sinne - Gewissenhaftigkeit entsprungenen Verantwortung begriffen Vertreter der höchsten Generalität die ihre lediglich als Verpflichtung gegenüber dem Diktator und lieferten wie Keitel, Rundstedt und Guderian als Mitglieder des Ehrenhofs des Heeres folgerichtig Hunderte der Beteiligung am Widerstand bezichtigte Kameraden dem Volksgerichtshof aus. Die Zeugnisse dafür werden dichter, daß der militärische Widerstand sich nicht nur aus einer sich rasch verschlechternden und immer aussichtsloser erschei-
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Iring Fetscher, Rede, in: Krieg, S. 2 2 - 2 9 , hier S. 22/23. Peter Hoffmann, Moskauer Zeugnis, in: Rheinischer Merkur N r . 29, 17. 7. 1998. Zitat aus Archivmaterial, das Boris Jelzin Bundeskanzler Helmut Kohl übergeben hat.
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nenden Kriegslage heraus formierte. Tresckow und Stauffenberg besaßen wie andere detaillierte Kenntnis vom Ausmaß der verbrecherischen Dimension des Krieges im Osten von Jugoslawien bis Griechenland, von Polen über das Baltikum bis in die okkupierten sowjetischen Territorien. Jüngst zugänglich gewordene Beuteakten der Roten Armee bestätigen, daß Graf Stauffenberg sich aus ethischer Verpflichtung zum Widerstand entschloß. Die Widerständler probten den Aufstand des Gewissens. Wer Anknüpfungspunkte für militärische Tradition sucht, bei ihnen kann er sie finden. Wenn von der Verantwortung der Wehrmacht im Blick auf den Zweiten Weltkrieg die Rede ist, geht es um zweierlei Verantwortung: Zum einen um die der höchsten militärischen Führung im O K W und an der Spitze der Teilstreitkräfte sowie der Generalität und Admiralität auf der Ebene der Befehlshaber für den Kriegskurs des NS-Regimes ganz allgemein und für den Charakter der Kriegführung als solche. Darüber ist, soweit die Betroffenen sich nicht durch Selbstmord dem entzogen, zumeist gerichtlich befunden worden. Das andere ist die persönliche Verantwortlichkeit jedes einzelnen Offiziers und Soldaten für sein ganz persönliches Tun im Krieg. Hier ist die Dunkelziffer über Vergehen und Verbrechen immer noch sehr hoch, sie wird es wohl auch bleiben. Dessen ungeachtet muß für die Mehrheit aller Wehrmachtangehörigen gelten, daß sie in gutem Glauben und ohne Verfehlungen ihre soldatische Pflicht erfüllt haben. Zur Verantwortung und Pflicht des Historikers zählt es, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, auch wenn dies schmerzlich ist. Es gilt das Wort von Roman Herzog: „Sich dem bösen Teil der Geschichte nicht zu stellen, halte ich für die sublimste Art intellektueller Feigheit" 3 9 .
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Rede des Bundespräsidenten R o m a n H e r z o g s , 8. 11. 1998, zum Gedenken an die Pogromnacht des 9. N o v e m b e r 1938, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1998), S. 917-919, hier S. 917.
Abkürzungsverzeichnis
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Abteilung Akten zur deutschen auswärtigen Politik Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere Archiv für Sozialgeschichte Aktiengesellschaft Amtsgruppe Seelsorge im O K H / A H A Allgemeines Heeresamt Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München Armeekorps Allgemeines Marinehauptamt American Military Government Antifaschismus, antifaschistisch Armeeoberkommando Arbeitskommando Allgemeine Schweizerische Militärzeitung Avtonomnaja Sovetskaja Socialisticeskaja Respublik; (Autonome Sowjetrepublik) Aufzeichnung Ausstellungskatalog Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Allgemeines Wehrmachtamt Airborne early warning and control system Bundesarchiv, Koblenz, Berlin Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. Br. Schweizer Bundesarchiv, Bern Bataillon Bundesarchiv-Zentralnachweisstelle British Broadcasting Corporation Befehlshaber des Ersatzheeres Befehlshaber der Ordnungspolizei Bund Deutscher Offiziere Befehlshaber der Sicherheitspolizei Befehlshaber der U - B o o t e Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Bayerische Motorenwerke Bundesrepublik Deutschland Bruttoregistertonne
1224 BSGE BSSR BStU BVerfGE BVG CChlDK
auch: CIDK CD CDS CDU CdZ CGK CGK ChHRü CK CK
CSPD CSSA CSSD DDR DMI DNVP DR DVdl EDV EG EK Ek EM EVG FAZ FDJ FDP FDR-Bibliothek FdS FdU FdZ FG Flak
Abkürzungsverzeichnis Entscheidungen des Bundessozialgerichts, hrsg. von seinen Richtern Belorusskaja Socialisticeskaja Respublika (Weißrussische Sowjetrepublik) Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von seinen Richtern Bundesversorgungsgesetz Centr Chranenija Istoriko-dokumental'nych Kollekcij (Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen), Moskau Centr istoriko-dokumental'nych koeelcij (Zentrum für historische Dokumentensammlungen), Moskau Compact-Disk Chef der Sicherheitspolizei und des SD Christlich-Demokratische Union Chef der Zivilverwaltung Crezvycajnaja gosudarstvennaja komissija (Staatliche außerordentliche Kommission) Chef der Heeresrüstung Crezvycajnaja Komissija po bor'be s kontrevoljuciej i sabotazem (Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage) Zentraler Stab für den Partisanenkampf CSSA Moskau Chef Sipo und SD Deutsche Demokratische Republik Deutsches Marine-Institut Deutschnationale Volkspartei Deutsches Recht Deutsche Verwaltung des Inneren Elektronische Datenverarbeitung Einsatzgruppe Einsatzkommando Einsatzkommando Einsatzmeldung Europäische Verteidigungsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Franklin-D.-Roosevelt-Bibliothek Führer der Schnellboote Führer der U-Boote Führer der Zerstörer Feldgendarmerie Fliegerabwehrkanone
Abkürzungsverzeichnis Flug-Malsi FPPL Fst F U Berlin Fü S g. Kdos. GABO GAMO GARB GARF GBA Gbl GDK Gen. GenKdo GenStdH GeStaPo, Gestapo GFM GFP GG gKdos, Gkdos, geh. Kdos. GOKO GPU GPU GSSD Gst GStA GuG GULAG GUPVI
GUS GVB1 Η Gr Η Rüst H.Dv.
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Flugaufzeichnungsgerät Frontovoj priemno-peresyl'nyj lager' (Front-Aufnahme- und Durchgangslager) Försvarsstaben Freie Universität Berlin Führungsstab Geheime Kommandosache Gosudarstvennyj Archiv Brestskoj Oblasti (Staatsarchiv der Oblast' Brest), Brest Gosudarstvennyj Archiv Minskoj Oblasti (Staatsarchiv der Oblast' Minsk), Minsk Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Belarus' (Staatsarchiv der Republik Belarus'), Minsk Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Archiv der Russischen Föderation), Moskau Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz Gesetzblatt Große Deutsche Kunstausstellung General Generalkommando Generalstab des Heeres Geheime Staatspolizei Generalfeldmarschall Geheime Feldpolizei der Wehrmacht Grundgesetz Geheime Kommandosache Gosudarstvennyi Komitet Oborony (Staatskomitee für Verteidigung) Gosudarstvennoe Politiceskoe Upravlenie (Staatliche Politische Verwaltung) Gosudarstvennoe Politiceskoe Upravlenie (Staatliche Politische Verwaltung) Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland Generalstab Geheimes Staatsarchiv Geschichte und Gesellschaft Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung für Lager) Glavnoe upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych (Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten) Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Gesetz- und Verordnungsblatt Heeresgruppe Heeresrüstung Heeresdienstvorschrift
1226 HA HBI HDv Hiwi HJ HKL ΗΡΑ HRA HSSPF HVA HZ ID, InfDiv IfZ IKRK IM IML IMT In IR ITK ITL JfGO JgΚ. M. Kap. KdO KdoStab Kdr. KdS KGB Kgf., Kr. Gef. KKrVAHT KL KMBA K o m m avd KOP Korück KP Kp. KPD KPdSU KPR KrA
Abkürzungsverzeichnis Hauptabteilung im MfS Heeresbildungsinspektion Heeresdienstvorschrift Hilfswilliger Hitlerjugend Hauptkampflinie Heerespersonalamt Heeresrüstungsabteilung Höherer SS- und Polizeiführer Hauptverwaltung für Ausbildung Historische Zeitschrift Infanterie-Division Institut für Zeitgeschichte, München Internatiales Komitee des Roten Kreuzes Informeller Mitarbeiter des MfS Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin (Ost) International Military Tribunal (Internationaler Militärgerichtshof) Inspektion Infanterie-Regiment Ispravitel'no trudovaja Kolonija (Besserungsarbeitskolonie) Ispravitel'no trudovoi Lager (Besserungsarbeitslager) Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Jahrgang Kriegsmaler Kapitel Kommandeur der Ordnungspolizei Kommandostab Kommandeur Kommandeur der Sicherheitspolizei Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti (Komitee für Staatssicherheit) Kriegsgefangene Kungl. Krigsvetenskapsakademiens handlingar och tidskrift Konzentrationslager Katholisches Militärbischofsamt Kommunikationsavdelningen Korpus Ochrony Pogranicza (Grenzschutzkorps) Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes Kommunistische Partei Kompanie Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Rußlands Krigsarkivet, Stockholm
Abkürzungsverzeichnis KSSVO KSTN KStVO KTB KTR K-Verband KVP KZ L. Dv. LDP LG LKA LKW Lt. Lw LwH LwOH M.T.S. MAP Mdl Mefo MfS MG MGB MGFA MR MStGB MVD NARA NARB NATO NDH NDPD NF NJW NKFD NKGB NKO
1227
Kriegssonderstafrechtsverordnung Kriegsstärkenachweis Kriegsstrafverfahrensordnung Kriegstagebuch Katorga = Verbannung; Katorane = Verbannte; Zeki (Zakljucennyj) = Häftling Kampf-Verband Kasernierte Volkspolizei Konzentrationslager Luftwaffendienstvorschrift Liberal-Demokratische Partei Landgericht Landeskriminalamt Lastkraftwagen Leutnant Luftwaffe Luftwaffenhelfer Luftwaffenoberhelfer Maschinentraktorstationen ehem. Militärarchiv der DDR, Potsdam Ministerium des Innern Metallurgische Forschungsgesellschaft Ministerium für Staatssicherheit Maschinengewehr Ministerstvo gosudarstvennoj bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit) Militärgeschichtliches Forschungsamt Marinerundschau Militärstrafgesetzbuch Ministerstvo vnutrennich del SSSR (Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR) National Archives and Records Administration, Washington D. C. Nacional'nyj Archiv Respubliki Belarus' (Nationalarchiv der Republik Belarus'), Minsk North Atlantic Treaty Organisation (Nordatlantikpakt) Nezavisna Drzava Hrvatska (Unabhängiger Staat Kroatien) Nationaldemokratische Partei Deutschlands Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nationalkomitee „Freies Deutschland" Narodnyj Komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti (Volkskommissariat für Staatssicherheit) Narodnyj Komissariat oborony (Volkskommissariat für Verteidigung)
1228 NKVD, NKWD NOKW NPL NS NSDAP NSFO NSLB NVA NZ NZZ O B , Ο. B. ObdH O b d M , Ob. d. M. OD Offz.Erg.Jg. Oflag OGPU OKH O K L , Ο. K. L. OKM OKW OMGUS O p (H) O p Abt O K H OSO OT PALMACH PK PKW PolBtl POW, POW's, PoW PPV PRO RA RAD RADwJ RAF RAM RB RB RCChlDNI
Abkürzungsverzeichnis Narodnyj Komissariat Vnutrennych Del (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) Nürnberger OKW-Dokumente N e u e Politische Literatur nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Führungsoffizier Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationale Volksarmee Neue Zeitung Neue Züricher Zeitung Oberbefehlshaber Oberbefehlshaber des Heeres Oberbefehlshaber der Marine Ordnungsdienst Offizierergänzungsjahrgang Kriegsgefangenen-Offizierslager Ob'edinennoe Gosudarstvennoe Politiceskoe Upravlenie (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung) Oberkommando des Heeres Oberkommando der Luftwaffe Oberkommando der Kriegsmarine Oberkommando der Wehrmacht Office of Military Government, United States Operationsabteilung (Heer) Operationsabteilung im Generalstab des Heeres Osoboe sovescanie (Sondertribunal) Organisation Todt Plugoth Machatz (commando strike-force) Propaganda-Kompanie Personenkraftwagen Polizei-Bataillon Prisoners of War Priemnyj punkt voennoplennych (Aufnahmepunkt für Kriegsgefangene) Public Record Office, London Riksarkivet, Stockholm Reichsarbeitsdienst Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend Royal Air Force Reichsaußenminister Rabocij batal'on (Arbeitsbataillon) Respubliki Belarus' (Republik Belarus') Rossiskij centr chranenija i izucenija dokumentov novejsoj istorii (Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte), Moskau
Abkürzungsverzeichnis REM RFSS RGBl Rgt. RI RKM RKO RLM RM RM RMEL RNZ RSFSR
RSHA RüKdo RuMi RVG SA SAL SAPMO-BA SBZ Schuma-Batl. (-Btl.) SD Sdf. SED SichDiv Sipo, SiPo Sk SKL, Ski SM A D SMERS SNK Sowi SPV SPW SS SSPF SSSR StA Stalag Stapo SZ
1229
Reichserziehungsministerium Reichsführer SS Reichsgesetzblatt Regiment Rhode Island Reichskriegsminister, -ministerium Reichskommissariat Ostland Reichsluftfahrtministerium Reichmark Reichsmarschall Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Rhein-Neckar-Zeitung Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialisticeskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) Reichssicherheitshauptamt Rüstungskommando Rußland Mitte Reichsversorgungsgesetz Sturmabteilung Staatsarchiv Litauen, Vilnius, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin Sowjetisch Besetzte Zone Schutzmannschaftsbataillon Sicherheitsdienst Sonderführer Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sicherungsdivision Sicherheitspolizei Sonderkommando Seekriegsleitung Sowjetische Militäradministration für Deutschland Akronym: Smert' spionam = Tod den Spionen Sovet narodnych Komissarov (Rat der Volkskommissare) Sozialwissenschaft sbornyj punkt voennoplennych (Sammelpunkt für Kriegsgefangene) Schützenpanzerwagen Schutzstaffel SS- und Polizeiführer = UdSSR Staatsarchiv Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager Staatspolizei Süddeutsche Zeitung
1230 TB TDA
TH to TSK Tsp. U-Boot UdSSR UMVD Und avd UNO UPVI USA USAF USHMMA USPMGO USVITLag Utr avd VdK VfWf VfZG WaA WASt
WEU WFA WFSt WK WPA WPr WR WR WVHA YIVO ZAKdR ZAMO, C A M O
Abkürzungsverzeichnis Tagebuch Tautos Darbo Apsaugos (Btl. zum Schutz der nationalen Errungenschaften, litauischer Hilfspolizeidienst) Technische Hochschule Tonne Teilstreikraft Der Tagesspiegel, Berlin Unterseeboot Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Upravlenie Ministerstva vnutrennich del (Verwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten) Underrättelseavdelningen United Nations Organisation (Vereinte Nationen) Upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych (Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte) United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) US Air Force United States Holocaust Memorial Museum Archives United States Provost Marshal Generals Office, Washington D.C. Upravlenie severo-vostocnymi ispravitel'no-trudovymi lagerjami (Verwaltung nordöstlicher ITL) Utrikesavdelningen Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschlands Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Heeres-Waffenamt Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (Wehrmachtauskunftsstelle) Westeuropäische Union Wehrmachtführungsamt Wehrmachtführungsstab Wehrkreis Wehrpolitisches Amt der NSDAP Wehrmachtpropaganda Wehrwissenschaftliche Rundschau Weißruthenien SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt Yidischer Visenschaftlikher Institut (Institute for Jewish Research), New York Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht Central'nyj Archiv Ministerstva Oborony (Archiv des Russischen Verteidigungsministeriums)
Abkürzungsverzeichnis Zentrale Stelle, ZSt (L) ZfG ZfMG ZfWR ZfWR ZK ZSA
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Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Militärgeschichte Zeitschrift für Wehrrecht Zeitschrift für Wehrrecht Zentralkomitee Zentrales Staatsarchiv, Kiew, Minsk
Kurzbezeichnungen für Abteilungen in den Führungsstäben des Heeres Ia Ib Ic Id IIa IIb III IVa IVb IVc IVd IVWi V
Führungs-Abteilung Quartiermeister-Abteilung Feindaufklärung und Abwehr; geistige Betreuung Ausbildung 1. Adjutant (Offizier-Personalien) 2. Adjutant (Unteroffiziere und Mannschaften) Gericht Intendant (Rechnungswesen, allgemeine Verwaltung) Arzt Veterinär Geistlicher (ev.: evangelisch; kath.: katholisch) Wehrwirtschaftsoffizier Kraftfahrwesen
Kurzbezeichnungen für Referate in der 1. Ski (Operationsabteilung) Ia Ib Ic Ie Ik Iop Iu
Operationsführung Strategische Fragen und Kriegstagebuchführung Außenpolitische Fragen der Seekriegführung (Politik, Völkerrecht und Propaganda) Minenkriegführung Außerheimischer Kreuzerkrieg Operationen der Uberwasserstreitkräfte, operative Planung U-Boot-Kriegführung
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Personenregister Der Name Hitler wurde nicht aufgenommen A Abakumov, V. 1025 Abendroth, Wolfgang 1002 Abusch, Alexander 1104 Ackermann, Anton 614, 1105 Adalbert, Prinz von Preußen 245 Adam, Luitpold 638, 640f., 643, 648-651, 654 f., 667 Adam, Wilhelm 213, 322, 336, 1107, 1122, 1135 Adamberger, Toni 563 Adams, John T. 980 Adaridi, Generalleutnant 129 Adenauer, Konrad 350, 971 f., 1115, 1142 f., 1173, 1175, 1180, 1196 Adlercreutz, Carlos 161 Aeffner, Walter 367 Ahrens, Max 664 Aichner, Simon 513 Albedyll, Silvius von 149 Alfieri, Edoardo Dino 811 f. Almonds, Gabriel 999 Altendorf, Werner 692, 717 Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr von Stein zum 1162 Alvensleben, Udo von 540 Amersdorffer, Μ . A. 665 Andersch, Alfred 610, 1003 Anderson, Ivar 152 Andres, Stefan 708 Angres 641 Antonescu, Ion 179, 217 Ardenne, Manfred von 1032 Ardizzone, Edward 664 Arendsee, Martha 619 Arnold, Hap 304 Aßmann, Günther 1122 Aßmann, Kurt 248 Β Bach-Zelewski, Erich von dem 753, 846, 852, 855-857, 868, 870, 872-875, 877, 942 Bader, Paul 901,904, 906 Badoglio, Pietro 805, 961 Balck, Wilhelm 177 Bamler, Rudolf 1120, 1130 Baranov, Vassilij 805 Barbie, Klaus 5 Bartel, Walter 1109 f. Bastian, Max 481, 483
Baumann, Hans 692-694, 717 Baumbach, Werner 648 Bayer, Friedrich 860 Bebel, August 1100 Becher,Johannes R. 619, 711, 715-718, 1105 f. Becher, Wilhelm 661 Bechler, Bernhard 1126, 1128 Bechler, Margret 631 Bechly, Gerhard 1122 Bechtolsheim, Gustav von 832, 847, 867-869, 958 f. Beck, Ludwig 9, 44 f., 70, 76, 82 f., 93, 102, 138, 207, 319, 321-323, 334, 411 f., 426, 612,617, 1073, 1158, 1160, 1163, 1165f., 1201,1219 Becker, Alfred 557, 564 Beckmann, Max 636 Behschnitt, Walter 77 f. Beier, Toni 563 Benkert 641 Benn, Gottfried 532, 700, 703 f., 1208 Benzler, Felix 906 Berenzon, Generalmajor 1033 Berger, Gottlob 227, 665, 916 Berger, Karl 557 Bergh, Ernst van den 41 Berija, Lavrentij P. 1016 Berndt, Alfred-Ingemar 686 Bethmann-Hollweg, Theobald von 63 Beumelburg, Werner 371 Bey, Erich 257 Biakek, Robert 1118 Bindschedler, Rudolf L. 127, 131 Bircher, Eugen 124, 139, 142 Bischoffshausen, Oberst von 862-864, 901 Biscuola, Livio 813 Bismarck, Klaus von 1199 f., 1204 f., 1214 Bismarck, Otto von 43, 312 f., 471, 1198 Björkman, Leif 147 Blank, Theodor 1173, 1181, 1183 Blaskowitz, Johannes 1203, 1209 Blechschmidt, Paul 1133 Bley, Wulf 690 f., 693, 697 Blobel, Paul 936 Bloch, Marc 1150 Bloem, Walter 371 Blomberg, Werner von 43 f., 47, 49, 51 f., 54, 56, 58-60, 70, 79, 81 f., 97 f , 138,287,298, 300, 319, 340, 371, 411 f., 420f., 4 2 3 ^ 2 5 ,
Personenregister 427, 4 2 9 ^ 3 1 , 438, 441, 443-^45, 503 f., 506, 513, 517, 740, 745, 9 4 9 f , 1197, 1199 f., 1219 Blücher, Gebhart Leberecht von 250, 333 Blumentritt, Günther 175, 317 Bock, Fedor von 325, 377, 624, 840 Bodenschatz, Karl 557 Boehme, Franz 901-906, 916 Boeselager, Philipp von 857 Böhme, Franz 241 f., 959 Bojunga, Helmut 444 f. Bolz, Lothar 1142, 1144 Bonhoeffer, Dietrich 1169 Borel,Jules 127, 130 Bormann, Martin 227, 230, 379-381, 424, 433, 457, 521, 629, 810, 812, 953 Borning, Walter 1130 Borstell, General von 1218 Borufka, Helmut 1126 Bouhler, Philipp 944 f. Boyen, Hermann von 40, 1162 Bracher, Karl Dietrich 996 Brack, Viktor 944 f. Bradfisch, Otto 936 Braemer, Walter 847 f., 959 Brähmer, Walter 867, 869 Brand, Oberstleutnant 53 Brandt, Rudolf 207 Brauchitsch, von, Oberstleutnant 397 Brauchitsch, Walther von 60,69-71, 83,324, 341, 375, 389, 395, 448f., 504, 599, 688, 748 f., 837, 8 3 9 - 8 4 1 , 8 7 4 , 9 2 5 , 9 5 2 , 1 1 9 8 f., 1203 f. Braun, Wernher von 387 Bresnev, Leonid 176 Brecht, Bertolt 711-713, 718, 1105 Bredel, Willi 715, 1105 Bredow, Ferdinand von 58 Bredow, Kurt von 43, 50, 81 Breyer, Hans-Joachim 781 Brooks, C y r u s 997, 1000, 1006 Brühl, Heinrich Graf von 1167 Brüning, Heinrich 76, 80, 371, 488,1004 Buchardt, Friedrich 942 Bucher, Rudolf 143 Buchheim, Lothar-Günther 643 Büge, Emil 754 f. Bulanov, Oberst 1028 Bulganin, Michail 1135 Bülow, von 799 Bürckel, Josef 747 Burgdorf, Wilhelm 241, 372, 631 Busch, Ernst 623, 860, 863 f., 1063, 1205 Büsch, Otto 354 Bussche, Axel von dem 1151, 1164, 1166
1299
Bussche-Ippenburg, Erich von dem 77 Butler, R. A. 1007 C Canaris, Wilhelm 61, 82, 206, 767, 787, 838, 858, 1162, 1203 Caprivi, Leopold von 68 Carl, Gebietskommissar 869 Carter, J i m m y 176 Cartillieri, Richard 914 Cerbov 1030 Cervantes, Miguel 196 Chamberlain, Neville 301, 321 Chaucer, Geoffrey 985 Choltitz, Dietrich von 1213 Christiansen, Friedrich 288 Chruscev, Nikita Sergevic 1025,1125 Churchill, Sir Winston Leonard Spencer 96, 105, 191, 211, 214, 219f., 222, 264, 307f., 310f., 318, 1156, 1158, 1213 Claudius, Matthias 716 f. Clausewitz, Carl von 195, 205, 241, 311-313, 353, 1111, 1162, 1172,1190 Colell, Ursula 559 f., 564, 569 Conrad, Bernt 1078 Cuenoud, Bernard 143 Cuikov, Vasilij Ivanovic 1112 D Daladier, Edouard 321 Daluege, Kurt 841, 864-866, 936 Danckelmann, Heinrich 901, 903 Dangic, Jezdimir 905 Daniels, Alexander Edler von 614f., 617f., 620 Däniker, Gustav 124, 129, 131 Dannecker, Theodor 928 Dargel 379 Davison, Edward 974-979, 983 f., 987 Dehner, Ernst 913 Deichmann, Paul 287 f. Delbrück, Hans 313 Deubel, Werner 695, 717 Dickel, Friedrich 1121 Diebitsch-Sahelkanskij, Iwan Iwanowitsch Graf von 621 Dietl, Eduard 1199 Dietrich, O t t o 568 Dietz, Heinrich 475 Dirks, Carl 76 Dirlewanger, Oskar 596, 753, 828, 832 Dix, O t t o 636 Djilas, Milovan 309, 906 f., 915 Dobrynin, Generalmajor 1022 Doehring, Bruno 488
1300
Personenregister
Doehring, Johannes 488 Dohnanyi, Hans von 1160, 1163 Dohrmann, Franz 488 f., 497, 517, 556 Dölling, Rudolf 1121, 1127 Dollmann, Friedrich 133, 428 Dollwetzel, Heinrich 1121 Dönitz, Karl 21, 175, 179, 198,201,211, 215-217, 226-230, 236, 238, 243, 245, 250-256,258-264,270,275-279,281,315, 326, 340, 511,963,1061,1065,1179, 1187, 1198-1200, 1202 Dornberger, Walter 389 Dostler, Anton 1063 Douglas, Archibald 149 Drechsler, Heinrich 932 Druffel, Ernst von 813 Dubois, Charles 126 f. Dudow, Slatan 712 Dwinger, Edwin Erich 688-690, 696, 698, 713, 717 Ε Eber, Elk (Emil) 647, 649 f. Eberhard, Kurt 844 Ebert, Friedrich 75, 77, 81, 968 Eckstein, Otto 325 Ehlers, Hermann 1149 Ehrensvärd, Carl August 149 f. Ehrlicher, Gustav 441, 444 Ehrlinger, Erich 864 Ehrmann, Henry 979 f., 988 Eichhorst, Franz 661 Eichler, Horst 862 Eichmann, Adolf 928-930 Eicke, Theodor 407 Einsiedel, Heinrich Graf von 614 Eisenblätter, Erich 764 f. Eisenhower, Dwight D. 219-221, 335, 350, 1004, 1060, 1186 Eisler, Gerhart 1104 Emendörfer, Max 615, 620 f. Endres, Franz Carl 354 Enell, Harald 150 f., 162 Engel, Gerhard 429, 866, 868 Epp, Franz Ritter von 424 Erdmann, Karl-Dietrich 1158 Erler, Fritz 646 Ertl, Hans 654, 662 Esau, Abraham 402 Eschenburg, Theodor 50
F Falkenhausen, Alexander Freiherr von 149 f., 751 f.
Falkenhorst, Margareta von 153 Falkenhorst, Nicolaus von 153 Faulhaber, Michael 522 Faulk, Henry 982 f., 986, 988 Feder 939 Fellgiebel, Erich 206 Felmy, Helmuth 287f., 294, 301 Fetscher, Iring 1214, 1220 Filbert, Alfred 930 Filbinger, Hanns Karl 483 Finck, Werner 699 f. Finnberg, Emil Albert Heinrich 933 f. Fischer, Alois 1088 Fischer, Fritz 3 Fischer, Kurt 1119 Fleißner, Werner 1131 Florin, Wilhelm 614 Foerster, Friedrich Wilhelm 354 Foertsch, Hermann 49, 60, 639, 909, 1199 Fontane, Theodor 1164, 1167 Forshell, Anders 150 f., 163 Forst, Martin 648 Forster, Albert 237, 747 Förster, H u g o 259 Fraenkel, Ernst 573 Francetic, Jure 916 Frangois, Hermann von 1218 Fran^ois-Poncet, Andre 421 Frank, Hans 370, 747, 929 Frank, Wolfgang 554, 559, 563, 570 f. Frankenberg, Egbert von 1107 Franz, Anselm 388 Fräßdorf, Otto 1121 Fredborg, Arvid 157 f. Frick, Wilhelm 49, 550, 936 Fricke, Kurt 248 Friedeburg, Hans-Georg von 481 Friedel, Fritz 641 Friedländer, Philipp 130 Friedrich Carl, Prinz von Preußen 1165 Friedrich der Große 6, 199, 334 f. Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 486 Friesen, Friedrich 551, 558-560, 564 Frießner, Hans 436, 450 f. Frisius, Friedrich 253 Fritsch, Werner Freiherr von 43, 48, 55, 57, 59f., 70,76, 8 2 , 9 7 , 1 3 8 , 3 0 0 , 3 2 2 , 3 8 9 , 4 1 2 , 423,426f., 429f., 438, 503-505,950,1073, 1202, 1219 Frohwein, Hans 809 Fromm, Fritz 206, 322, 372, 389, 629, 843, 1163 Fuller, John F. C. 843 Funk, Walther 635
Personenregister G Galen, Clemens August Graf von 516 Galland, Adolf 398 Gambetta, Leon 44 Gamelin, Maurice Gustave 90 Gavrilov 1034 Gehlen, Reinhard 204, 226 Gemm, W. 664 Georg VI. 158 Gerhardinger, Constantin 637 Gersdorff, Rudolf Christoph Freiherr von 848,1207 Gerstein, Kurt 157, 161 Geyer, Hermann 325 Geyr von Schweppenburg, Leo 313 Gilkey, Gordon W. 640, 643 f., 655, 667 Gladisch, Walter 839 Glaise-Horstenau, Edmund von 752, 905, 907f., 910-913, 915f„ 920 Gneisenau, August Wilhelm Graf Neidhardt von 40, 48, 250, 274, 695, 1072, 1111, 1162, 1172 Godt, Eberhard 255 Goebbels, Joseph 48, 55 f., 59, 68, 134, 162, 200, 210, 212, 224-226, 234-236, 251 f., 433, 555, 577 f., 617, 622, 632, 637, 659, 662, 687, 700, 851, 855, 946, 1058, 1107, 1113 Goes, Albrecht 490, 497 Goethe, Johann Wolfgang von 182 Göhringer, Emanuel 1128 Goldschagg, Edmund 1060 Golikov, Filipp Ivanovic 110 Gollwitzer, Helmut 1205 f., 1208 Goltz, Colmar von der 336 Göring, Hermann 49, 51, 56, 60, 82,134, 195, 247, 251, 262, 272, 283, 288, 295f., 298-300,303,315, 319,338-340,385,392, 394, 396, 398, 438, 457, 504, 508 f., 557, 561,699, 792, 849, 851, 855, 858,925,927, 929, 1061, 1113, 1179,1197, 1199 f., 1208-1210 Gottberg, Curt von 817, 828, 939-942 Grafström, Sven 159 f. Grässli, Legationssekretär 124 Greifenberg, Hans von 136 Greiser, Arthur 747 Groener, Wilhelm 44,75 f., 80,319,488,968, 1217 Groscourth, Helmuth 374, 952 Gross, E. 664 Gross, Walter 812 Grosz, George 636 Grotewohl, Otto 1135 Grothmann, Werner 940
1301
Guderian, Heinz 17, 72, 84, 99 f., 102, 133, 175, 183, 188 ff., 224-228, 230-233, 235 f., 240 f., 335 f., 627-629, 1133, 1213, 1221 Guisan, Henri 143 Gunsilius, Wilhem 863 Günther, Christian 152 Guse, Günther 320 Gustaf V. 156, 158 Gutterer, Leopold 928 Η Habe, Hans 1060, 1068 f. Hadermann, Ernst 621 Haffner, Sebastian 1009 Hageby, Bengt Lind af 168 Hähling, Kurt 1122 Halder, Franz 14, 16 f., 45, 83, 136, 175 f., 207, 213, 324-327, 335 f., 341 f., 375-377, 423, 546, 839, 846, 849, 851-853, 1068, 1204 Haller, Johannes 62 Hamann, Joachim 931, 936 Hammerstein-Equord, Kurt Freiherr von 48 Handel-Mazetti, Eduard von 663 Hankey, Maurice 318 Hardenberg, Karl August von 1162 Harlan, Veit 695 Harriman, Averall 219 Hart, Basil Liddell 94, 96, 98-102 Hase, Paul von 1160 Haselmayr, Friedrich 424 f. Hasseil, Ulrich von 206 f., 1201, 1204, 1213 Hathaway, Henry 99 Hausamann, Hans 133f., 136 Haushofer, Carl 313 Hausleiter, Leutnant 381 Hausmann, Manfred 1149 Hausser, Paul 407 f. Havenstein, Martin 1211 f. Hedenstierna, Harry 151 Hein, Alfred 563 Heinkel, Ernst 387, 401 Heini, Alfons 401 Heinrici, Gotthard 374 Hengl, Georg Ritter von 375, 379 Hengstenberg, Rudolf 651 f., 658 Henlein, Konrad 746 f. Henzel, Rudolf 649, 653 Hermlin, Stephan 1105 f. Herstein, Franz 1027 Hertel, Walter 393 Herzog, Roman 1222 Heß, Rudolf 134, 425, 428, 447 Hesse, Kurt 449, 686 f., 696, 717
1302
Personenregister
Hetz, Karl 614 Heusinger, Alfred 47, 852, 1181 Heuss, Theodor 1069-1074, 1076, 1148 f., 1167 Hewel, Wakher 216 Heydrich, Reinhard 748 f., 755-758, 761, 800, 841, 845, 857, 859, 862, 925-931, 933-935, 938, 946, 1202, 1207 Heye, Hellmut 250, 256 Heye, Wilhelm 79, 320 Heym, Stefan 1105 Hilferding, Rudolf 1100 Hilger, Gustav 804 Himer, Kurt 428 Himmler, Heinrich 138, 141, 164, 167, 207, 228, 237, 240, 262, 372f., 379f., 4 0 8 ^ 1 3 , 415-417, 423, 487, 702, 724 f., 746, 750 f., 753, 817, 841, 845, 852, 855 f., 859, 864, 866, 873, 916-918, 924f., 932-937, 940f„ 943-947, 950, 952 f., 959 f., 962 f., 1113, 1189,1202 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und 48 f., 55, 59, 63, 80 f., 98, 314, 336, 489, 496,514, 739-741, 1071, 1197, 1211 f., 1217, 1221 Hipper, Franz 245 Hippler, Franz 513 Hirsacker, Heinz 259 Hoegner, Wilhelm 1005 Hoepner, Erich 284, 317, 629, 1163 Hofe, Günter 1135 H o f f m a n n , Heinz 1121, 1127, 1130, 1135 Hoffmann, Paul 904, 910 Höfler, Heinrich 517 f. Hollidt, Karl 1209 Holz, Karl 380 Homann, Heinrich 1107, 1130 Honecker, Erich 1124, 1130 Horn, Walter 643, 645, 648, 650, 657, 663 Hoßbach, Friedrich 61, 234 f., 1219 Hotblack, F. E. 94 Hoth, Hermann 848, 852, 958, 1096, 1209 Hubig, Hermann 1087 f. Hüffmeier, Friedrich 254 Hugenberg, Alfred 48 f., 52, 54 Humboldt, Alexander von 558, 1104, 1162 Huntington, Samuel N . 351, 995 I Imhoff 236, 238 Impulevicius, Antanas 865
J
Jäger, Karl 862-864, 931 Jägerstetter, Ernst 1166
Jakir, Iona Emmanuilovic 108 Janowitz, Morris 98, 351 Jaspers, Karl 1073-1075 Jeckeln, Friedrich 865, 868, 932-935, 942 Jedicke 865, 868 Jefferson, Thomas 999 Jeschonnek, Hans 287, 296, 301-304, 319, 321,397 Jeschonnek, Kurt 283, 304 Jodl, Alfred 60, 167, 199, 205,214f., 217, 226,300,321,323, 336, 378,389, 821, 839, 854, 856, 864, 909, 925, 950, 1061, 1068, 1074, 1092, 1103, 1113, 1199 f., 1209 Joeppen, Feldprobst 514 Johann, Α. E. 688, 696,717 Johne, Fritz 1121 Johst, Hanns 558, 685 Jordan, Olaf 652, 664 Jost, Heinz 930, 939 Joyce, James 985 Juhlin-Dannfelt, Curt 150, 153, 161-168 Junck, Werner 288 Jung, Wolfgang 500 Junge, Wolf 201 Jünger, Ernst 371, 532, 555, 701-703, 707, 751, 1208 Junkevicius 866 Just, Emil 867 Jüttner, Hans 841
Κ Kaehler, Siegfried A. 48, 60, 62, 1217, 1219 Kaekow, Günter 1118 Kahler, O t t o 254 Kaltenbrunner, Emst 630 Kaminski, Mieczylaw 753 Karb 641 Kardorff, Ursula von 727 f. Karmanov 1033 Kasche, Siegfried 908, 910f., 913, 915-917, 920 Kaulbars, Vladimir von 164 Kautsky, Karl 1100 Kehr, Eckart 354 Kehrl, Hans 400 Keitel, Bodewin 371 Keitel, Wilhelm 44, 60, 134, 136, 175, 192, 201, 215, 226, 232 f., 237, 243, 300, 323, 335,372,378, 389,429,432,624, 631, 701, 720, 748 f., 751, 753, 767, 787, 809, 840, 843, 854, 856, 902, 925, 957, 992, 1061, 1068, 1074, 1092, 1103, 1109, 1113, 1179, 1198-1200, 1203, 1209, 1221 Kessel, von 235
Personenregister Kesselring, Albert 175, 229, 240, 287 f., 293, 295,299, 305, 334, 371, 822, 825, 832, 961 Kessler, Philipp 401 Kiaulehn, Walther 658, 660 Kielmansegg, Johann Adolf Graf 1161 Kießling, Günther 537 Kirgasse, Kapitän zur See 257 Kirschner, Joachim 913 f. Kitzinger 853 Klatt, Gerhard 1027 Klein, Albert 554 Kleist, Ewald 623 Kleist, Ewald von 186, 188 Kleist, Heinrich von 1164 Klemm, Herbert 261 Klepper, Jochen 532, 545, 701, 706 Kluckhohn 938 Kluge, Günter von 257 Kluge, Hans-Günther von 225, 336, 623 Kniest, Erich 1078 Knoblauch 852 Koch, Erich 237, 747, 925 Köckritz, Major von 830 Koeppler, Heinz 982-986, 988 Kogon, Eugen 755 Köhn, Fritz 1121 Köhntopp, Walther 256, 260 Koller, Ernst 137 f. Koller, Karl 305, 399 König, Dr. Oberstabsarzt 790 Koppenberg, Heinrich 388 Korfes, Otto 614, 617 f., 621 f, 631, 1111, 1122,1130 Körner, Christian Gottfried 558 Körner, Minna 561 Körner, Theodor 550f., 557-561, 563, 565 Körner, Wilhelm 928 Korten, Günther 303, 305 Koslowski, Oberstleutnant von 495 Krancke, Theodor 250, 254, 257 Kraunaitis 866 Krebs, Hans 235 Krevenko, Ivan 798 Kriwoschkin, Lydia 761 Krosigk, Lutz Graf Schwerin von 48 Kruglov, Sergej Nikiforovic 117, 1019f., 1032 Krupp, Gustav 1114 Kube, Wilhelm 867 f., 872, 943 f. Kübler, Ludwig 914, 1199 Küchler, Georg Karl Friedrich Wilhelm von 838, 952, 1087, 1203, 1209 Kuczynski, Jürgen 1108 Kühn, Ernst 911
1303
Kuhn, Luitpold 772, 774-776 Kumlin, Ragnar 152 Kumming, Eugen 1063, 1066 Kuntzen, Adolf 443, 445 Kunze, Wilhelm 1122 Kurzbach-Seydlitz, Walter von 114 Kusch, Oskar 259, 483 Kviecinskas 865 L L'Estocq, Christoph von 367, 3 70 f. Lahousen, Erwin 767, 1064 Lamprecht, Adolf 649 Lange, Rudolf 932-934 Lasch, Otto 236, 240 Lattmann, Martin 614, 617f., 631, 1122, 1130 Lautenbach, Hans 261 Lawrence, D. H. 985 Lazarsfeld, Paul F. 351 Lechthaler, Major 865 f. 870 Lee, Robert E. 176 Leeb, Wilhelm Ritter von 66, 72, 136, 624, 863 f., 956, 1209 Lehmann, Rudolf 476, 1209 Leibi, Wilhelm 655, 664 Lemmie, Adolf 1064 Lenin, Wladimir Iljitsch 106 f., 1021, 1100 Lenski, Arno von 1122, 1126, 1132 Lenski, Erica von 631 Leuschner, Wilhelm 1134 Leutze, Emanuel 656 Levine, Paul A. 156 Lewerenz, Hermann 621, 631 Ley, Robert 373 Leykauf, Hans 847 Liddell Hart, Basil 17, 88 f., 176, 313, 843 Liebknecht, Karl 1100 Liebmann, Curt 50, 52, 55-57, 81, 322, 426 Lier, Alfred 641 Lieth-Thomsen, Hermann von der 284 Lindemann, Fritz 630 Lindemann, Georg 242, 937 Link, Heinrich 493 f., 500 f., 521 Lippisch, Alexander 388 Lipus, Rudolf 643, 661 Liska, Hans 642, 660 f. List, Wilhelm 133, 136, 207, 336, 909 Litzmann, Karl 702 Ljotic, Dimitre 920 Loch, Herbert 1087 Loerzer, Loerzer 301 Loewenfeld, Wilfried von 76 Lohr, Alexander 288 Lohr, Alexander 908-910, 916
1304
Personenregister
Lohse, Hinrich 847 f., 866-869, 872, 925, 940, 959 Lorenz, Konrad 1032 Loritz, Hans 777 Lossberg, Fritz von 95 Low, David 1071 Luck, Hans von 99 Ludendorff, Erich 43, 75,314,333, 336,352, 375, 496, 739, 747, 1071, 1211 f., 1218, 1221 Ludwig, Günther 1122 Lusser, Robert 395 Lüters, Rudolf 901, 911 f. Lüth, Wolfgang 569 Luther, Martin 716f., 928 Lüthi, William 141 Luxemburg, Rosa 1100 Μ Mackensen, August von 73, 1069 Mader, Otto 388 Mahans, Alfred Thayer 315 Mann, Heinrich 1106 Mann, Thomas 539, 1106 Mansfeld, Karl 696 Manstein, Erich von 17, 57, 84, 99,136, 175, 186, 190f., 200, 256, 319, 323, 335,426, 616, 623, 848, 852, 950, 958, 1135 Manteuffel, Hasso von 335, 491, 493 Mareks, Erich 324 Maron, Karl 1121 Marschall, Wilhelm 258 Marshall, George C. 995 Marshall, S. L. A. 98 Marwitz, Johann Friedrich Adolph von der 1167 Marx, Karl 195 Marx, Wilhelm 79 Mason, James 99 Masson, Roger 125, 132f. Matejko, Theo 659, 661 Maurer, Walter 126, 138 Maus, Karl 491 Mawick, Franz Max 143 McArthur, Douglas 335 Mechlis, Lev Zacharovic 113 Meckel, Hans 260 Meinecke, Friedrich 6, 62, 349, 1216 f. 1219 Meisel, Wilhelm 250 Meißner, Otto 49 Mellenthin, Friedrich 177 Mellenthin, Horst von 81 Melzheimer, Anton 259 Menges, Otto Wilhelm von 136 Menzel, Herybert 691 f., 697-699, 717
Messerschmitt, Willy 399 Metzsch, Generalleutnant a.D. von 560 Meyer, Kurt 1081 Meyszner, August 921 Miescher, Rudolf 126, 128 Mihailovic, Draza 904 f., 908f., 911, 914, 919 Milch, Erhard 60, 206, 283, 288, 295f., 393, 395, 398, 1065, 1197 Milton, John 985 Mitterand, Fran$ois 1186 Model, Walter 226,229 f., 240,336,623,1063 Mollenhauer, Mathilda 728 Molotov, Vjaceslav Michajlovi9 309 Moltke, Helmuth James Graf von 838, 1163 Moltke, Helmuth Karl Bernhard Graf von 43, 191, 206, 312, 333,1072, 1179 Montgomery, Bernard Law 219, 222, 311 Mosley, Oswald 843 Müller, Eberhard 495 f. Müller, Eugen 840, 844 Müller, Heinrich 763, 766 f., 800, 930 Müller, Vincenz 1107, 1122, 1126-1128 Müllern, Gunnar 127 Müller-Schwefe, Hans-Rudolf 491 Munschke, Ewald 1121, 1127, 1137 Mussolini, Benito 214, 310, 804f., 807, 809-813, 1212 Ν Napiersky, Herbert 717 Napoleon Bonaparte 40, 175, 312, 709 Nebe, Arthur 846, 867, 937, 1152 Nebel, Gerhard 705-708 Neubacher, Hermann 912, 914, 917, 920 f. Neurath, Konstantin Freiherr von 60,242 f., 513 Niehoff, Hermann 240 Niekisch, Ernst 1104-1106 Niemöller, Martin 1169 Nolte, Ernst 7 Norden, Albert 1104 Noske, Gustav 356, 488 Ο Oberg, Carl-Albrecht 257, 832 Oestrich, Herrmann 388 Ohain, Hans Joachim Pabst von 387 f. Ohlendorf, Otto 930, 937, 1064 Olbricht, Friedrich 629 Orgel-Purpur, Liselotte 728 Oshima, Hiroshi 216, 271, 927 Oster, Hans 1160 Osterkamp, Theodor 288 Osterreich, Kurt von 788 Oz, Arnos 1174
Personenregister Ρ Padua, Paul Mathias 655 f., 658, 664 Pafferott, F. K. 379 Pannwitz, Helmuth von 652 Papen, Franz von 48, 54, 80 Patton, George S., jr. 335 Paulus, Friedrich 336, 617f., 631 f., 1123, 1128,1210 Pavelic, Ante 906-908, 915, 918, 920 f. Penzoldt, Ernst 706 f., 709 f., 718 Peric, Stijepan 917 Perikles, athen. Staatsmann 1159 Petain, Henri Philippe 217 Petersen, Karl 258 Petersen, Rudolf 258 Petersen, Wilhelm 642, 663 Petershagen, Rudolf 1135 Pflugbeil, Kurt 288, 305, 954 Phleps, Artur 911, 918 Pieck, Wilhelm 614, 619, 629, 1102 f. Pifrader, Humbert 937 Plechavicius, General 876 Pleiger, Paul 200 Pleyer, Wilhelm 686, 691, 698, 717 Poensgen, Ernst 1114 Popitz, Johannes 443 Popp, Fritz 772 Prey sing, Konrad Graf von 516 Priebke, Erich 5 Prien, Günther 551-554, 556-559, 563 f., 569-571 Priestley, John Β. 4 0 6 , 4 1 8 Prisi, Friedrich 131, 139 Prützmann, Hans-Adolf 864, 868 Pury, A y m o n de 126 f.
Q Quidde, Ludwig 354
R Rabenau, Friedrich von 70 Raeder, Erich 51, 57, 60, 67, 69, 71, 82, 211, 245, 247-249, 261,267, 269 f., 273-275, 294, 315, 503, 511, 1061, 1065, 1198 Raegener, Adolf 369 Rainer, Friedrich 914 Ramcke, Bernhard 260 Rappe, Axel 153 Rarkowski, Franz Justus 512-517, 520, 524 Rassow, Peter 48, 1217 Rastikis, General 876 Reche, Reinhard 256 Rehdans, Walter 476 Reibert, Wilhelm 1116 Reichenau, Walter von 21 f., 50f., 56, 71, 81,
1305
319, 368,371,424, 429, 501, 834, 848, 853, 871,958, 1179, 1199, 1206 Reichpietsch, Max 1162 Reif, Ingenieur 789 Rein, Heinz 1106 Reinecke, Hermann 767, 788, 1209 Reinefarth, Heinz 753 Reinhardt, Walther 334, 336 Reinhardt, Georg-Hans 235, 1209 Remarque, Erich Maria 371 Remer, Otto Ernst 1146, 1164 Rendulic, Lothar 229 f., 232, 241, 432, 752, 901, 913, 918 Renn, Ludwig 371, 1106 Rentzsch, Hermann 1133 Reyher, Friedrich 631 Reymann, Hellmuth 232, 242 Ribbentrop, Joachim von 134, 136, 217, 795, 838 Richert, Arvid 163 Richter, Hans Werner 1008 Richter, Heinrich 443, 566 Richthofen, Ilse von 562 Richthofen, Kunigunde von 561 f. Richthofen, Manfred von 285, 551, 557, 559-561, 563-565, 567, 570 Richthofen, Wolfram Freiherr von 283,287, 297, 303, 305 Ried, Hadrian 772 f. Riefenstahl, Leni 1147 Rieser, J. G. 136 Ring, Friedrich 1122 Ritter, Gerhard 6, 40, 136, 353 Rizek, Emil 639, 645 Röchling, Hermann 1114 Rode, Ernst 852 Rödl, Arthur 765 Röhm, Ernst 56, 59, 423 f., 740, 1220 Rommel, Erwin 99, 102,159, 176, 206, 211, 217f„ 225, 257, 316, 326f., 335, 372, 376, 623, 642, 961, 1133 Rommel, Manfred 462 Roosevelt, Franklin D. 211, 264, 308-310 Roques, Franz von 860 f. Roques, Karl von 846 f., 853, 1209 Rosenberg, Alfred 424, 432 f., 642 f., 646 f., 649,688, 749, 795, 812, 856, 860, 866,927, 944 Rösing, Hans-Rudolf 253 Rosinski, Herbert 92 f., 95, 100 Roskothen, Ernst 1201 Rothfels, Hans 1157 f. Rübe, Irmgard 729 Rübenach, Paul Feiherr Eitz von 60 Rudioff, von 443
1306
Personenregister
Rühe, Volker 1210 Ruhfus, Heinrich 253 Rühle, O t t o 1135 Rundstedt, Gerd von 43, 46, 71 f., 149, 193, 206, 213, 217f., 226, 229, 257, 327, 334, 623, 747, 749,1221 Runte, B. 652 Ruoff, Richard 369 Rust, Bernhard 439 f., 442 f., 445-447,449, 451,453,457 S Sack, Karl 478 Saemisch, Friedrich Ernst 54 Salmuth, Hans von 1209 Sandeberg, Edward af 163, 166 Sauckel, Fritz 800, 856, 1063 Saucken, Dietrich von 235 Sauter, Wilhelm 658 f. Scerbakow, Alexander 621 Schacht, Hjalmar 60, 83, 1066 Schäffer, Fritz 48 f. Scharnhorst, Gerhard von 40, 333, 335, 355, 417, 1111, 1162, 1172, 1178f., 1183 Schauwecker, Franz 690, 694, 696, 717 Scheffler, Felix 1133 Scheibe, Emil 665 Scheitlin, David 126 f. Schellenberg, Walter 930 Schemmel, Nikolaus 772 f., 779, 781 Schenckendorff, Max von 32, 817, 846, 849 f., 853, 867, 873, 875, 877, 955, 960, 1206 Scherf, Walter 4 Scheu, Just 688, 691,717 Schirach, Baidur von 458, 685 Schirlitz, Ernst 253 Schlabrendorff, Fabian von 1151 f., 1155 Schlegel, Feldprobst 561 Schleicher, Kurt von 43, 47, 58, 68, 75, 80f., 523, 909 Schlieben, Karl Wilhelm von 251 Schlieffen, Alfred Graf von 14,44,48, 83,94, 102, 182, 191,313, 321, 1072 Schlösser, Rainer 685 Schmenkel, Fritz 1133 Schmettow, Rudolf Graf von 254 Schmidt, Rudolf 127 f., 133, 1204 Schmitt, Carl 62 f., 586 Schmundt, Rudolf 370-372, 382, 618, 622-624, 627, 631, 863 f., 962 Schniewind, O t t o 1209 Schörner, Ferdinand 229 f., 234 f., 242, 382, 432, 1179, 1199 Schreiber, Richard 641
Schreiner, Albert 1104 Schulenburg, Fritz von der 1169 Schulte-Holthaus 232 Schulze-Boysen, Harro 1133 Schumann, Gerhard 689 f., 693, 717 Schumann, O t t o 1211 f. Schutzbar-Milchling, Baronin 57 Schwarz van Berk, Hans 555 Schwarz, Falk 690, 705 Schwarz, Rudolf 492, 555 Schweizer, Richard Waldemar 862 Schwerin, Gerhard Graf von 229, 1213 Schwerin, Hans Hugold von 164 Schwinge, Erich 475 f., 483,604, 1099,1201, 1218 Seeckt, Hans von 42, 70, 75, 77, 79, 94, 98, 102, 182, 286, 352, 356f., 488, 522, 1161-1163, 1198 f. Segerstedt, Torgny 156 Seghers, Anna 1106 Seldte, Frranz 54 Seuß, Richard 253 f. Seydlitz-Kurzbach, Walther von 381, 614-618, 620-625, 628, 630-632 Seyß-Inquart, Arthur 380, 747 Seyß-Inquart, Richard 1020 Shils, Edward 98 Siegert, Wilhelm 285 Siemens, Ernst von 1114 Simkus, Kazys 865 Simon, Gustav 236 Sköld, Per Edvin 161 Smetona, Antanas 859 f., 876 Sodenstern, Georg von 1221 Späte, Wolfgang 398 Speer, Albert 192,200,226 f., 232 f., 236,239, 273, 277f., 281, 343, 377, 395f., 401, 685, 1197, 1200 Speidel, Hans 701, 1181 Sperl, Marianne 728 Sperl-Brogelli, Irmela 728 Sperrle, H u g o 283, 287 f., 294, 305, 1209 Spieckermans, Anna 722 Spiess, Johannes 555 Spindler, Arno 555 f. Sprockhoff, Ernst 560, 563 Staeger, Ferdinand 650 Stahlecker, Franz Walther 846, 862-864, 867, 931-934, 937f. Stalin j o s e f 8, 68, 89 f., 105 f., 108-121, 211, 308 f., 617, 627, 632, 845, 953, 958, 967, 1016, 1025-1027, 1029, 1032, 1035, 1108, 1152,1213 Stauffenberg, Claus Graf Schenk von 97, 373, 629 f., 1134, 1155, 1157-1159, 1221
Personenregister
1307
Stechbarth, Horst 1131, 1136f. Steidle, Luitpold 614, 1107, 1111, 1130 Steiger, Eduard von 139 Stein, Heinrich Friedrich Freiherr vom und z u m 1162, 1165 Steindamm, Oberstleutnant 765 Steiner, Felix 873 Stemmermann, Wilhelm 621 Stoltenberg, Gerhard 1188 Stoph, Willi 1123, 1127, 1137 Strauch, Eduard 868, 941, 943 Straumann, Peter 137f. Streckenbach, Bruno 928, 930 Streletz, Fritz 1131 Stresemann, Gustav 78 f. Strobl, Hans 662 Student, Kurt 288 Stülpnagel, Carl-Heinrich von 701, 751 f. Stülpnagel, Joachim von 77, 81, 83 Stülpnagel, Otto von 751 f. Stumpff, Hans-Jürgen 287f., 293, 295f. Stürtz, Emil 237 Suhren, Gerd 250, 256 Suhrkamp, Peter 705 Sutherland, Graham 661, 667
Tucholski, Kurt 19 Tuka, Vojtech 217 Tulpanow, Sergej 716 Turner, Harald 901
Τ Taylor, Telford 1074 Teilenbach, Gerhard 1215 f. Thilo, Karl-Wilhelm 227, 232, 239 f. Thomas, Georg 272, 335, 753, 837f., 847, 927 f. Thomsen 551 Thörnell, Olof 153 Thumann, Anton 765 T h y k i d i d e s 1159 Tiedemann, Karl von 956 Timosenko, Semen Konstantinovic 112 Tippeiskirch, Kurt von 136 Tippeiskirch, Werner von 199 Tirpitz, Alfred von 245, 267, 269, 274, 315, 1162 Tiso, Josef 217 Tito, Josip Broz 89, 831, 906 f., 910-914, 916 Todt, Fritz 273, 639 Trampedach, Friedrich 943 f. Trepte, Walter 1149 Tresckow, Henning von 149f., 370, 1155, 1166, 1168 f., 1205, 1221 Tress 641 Tschech, Will 662 Tschierschky, Karl 938 Tschitschke, Gerhard 1118 Tschuikow, Wassili 1135 Tuchacevskij, Michail Nikolaevic 108
W Wagener, Carl 240 Wagener, Hildegard 727, 729 Wagner, Eduard 7 4 5 , 7 4 7 - 7 4 9 , 7 5 9 , 7 9 2 , 8 3 9 , 841, 850, 857, 927, 1202, 1207 Wagner, Herbert 388 Waibel, Hauptmann 125 Waldhausen, Hans 47 Walter, Hellmuth 387 Wandt, Heinrich 371 Wanner, Theodor 158 Warlimont, Walter 206,210, 215f., 319, 389, 851 f., 857, 1209 Warnecke, Rudolf 663 Warzecha, Walter 477 Wattenwyl, Karl von 137f. Watteville, H. G. de 93, 96 Watzdorf, Bernhard 1130 Weber, A r t u r l 187 Weddigen, Eduard 566 f. Weddigen, Friedrich Otto 555 Weddigen, Otto 551, 554f., 557, 559f., 564, 566 f., 569 Wedel, Hasso von 659 Weichs, Maximilian Freiherr von 623, 909, 914 Weidling, Helmuth 243 Weinert, Erich 614, 628, 715f., 1102, 1106 Weisenborn, Günter 590
U Udet, Ernst 288, 295f., 300f., 338, 392f., 397,711 Uhse, Bodo 715 Ulbricht, Walter 614, 1108-1110, 1125, 1135, 1144 Unruh, Walther von 377 V Viedt, Horst 633, 1134 Vogt, Herrmann 1133 Volckamer von Kirchensittenbach, Friedrich Jobst von 451 Voldemaras, Augustin 859 von der Vring, Georg 532 Vormann, Nikolaus von 621 Voss, Hans 215 f. Voß, Hans-Erich 260 Vring, Georg von der 703 f., 707, 709, 711, 718
1308
Personenregister
Weiskopf, Franz Carl 1106 Weiß, Walter 235 Weizsäcker, Ernst Freiherr von 320, 838, 906, 908 f., 920 Weizsäcker, Richard von 29, 230, 367, 370, 1143, 1154, 1204 Wekherlin, Wilhelm L u d w i g von 582 Welz, Helmut 1107, 1135 Wemmer 444 Wenck, Walther 235 Werdt, Hans von 124f., 128f., 137f., 140f. Werner, Max 96 Werner, Rudolf G. 649 Werthmann, Georg 506-512, 516-520 Wessel, Horst 138, 553 Wessel, Wilhelm 642, 659, 666 Westhoff, Adolf 783 Westman, Karl Gustaf 156 Westphalen, Otto 256 Westrem z u m Gutacker, Reinhard von 781 Wever, Walter 283, 287 f., 290, 293, 295, 297 f. Weygand, Maxime 196 Whitmann, Walt 539 Widmann, Berthold 839 Wiechert, Ernst 1215 Wied, Prinz Victor zu 153 Wienstein, Ministerialrat 59 Wierss, Kurt 126, 131 Wieschenberg, Franz 536 f., 543 Wieschenberg, Hilde 729 f. Wilberg, Helmuth 283, 286-288, 291 Wilck, Gerhard 229 Wilhelm I. 1216 Wilhelm II. 46, 61, 313, 372, 1219 Wilke, SS-Hauptsturmführer 875, 941
Willrich, Wolf (Wolfgang) 636, 642f., 648, 653,701 Wimmer, Wilhelm 288, 296, 300 Winter, Fritz 667 f. Witt, Hermann 253 f. Wittek, Erhard 694-696 Witzleben, Erwin von 1163 Witzleben, Job von 1130 Woehler, Otto 1209 Wöhler, Otto 229, 232, 845, 852, 937 Wolf, Friedrich 619, 686, 715, 1106 Wolff, Karl 841 Wörner, Manfred 1188 Woweries, Franz Hermann 687, 717 Wulz, Hans 1126 Wurtzbacher, Ludwig 80 W y n n e , G. C . 95 Y Yorck von Wartenburg, Johann David Ludwig Graf 621, 1163, 1165, 1169, 1212 Ζ Zajcev 1033 Zeise, Dr. 951 Zeitzier, Kurt 84, 213 Zenker, Hans 76, 294 Zenner, Karl 867, 869, 939, 943 Ziehlberg, Gustav Heistermann von 839 Ziethen, Hans Joachim von 78 Zschesch, Kapitänleutnant Peter 260 Zuckmayer, Carl 371, 711 Zukauskas, General 876 Zukov, Georgij Konstanrinovic 108, 111, 374 Zweig, Arnold 371, 711, 714, 1106
Bildquellenverzeichnis
Institutionen Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin: Abb. 28 Bayerisches Armeemuseum, Ingolstadt (Fotos: Thomas Berg): Abb. 33, 43 Bibliothek für Zeitgeschichte, Stuttgart: Abb. 1 Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. Br.: Abb. 5 Bundesrepublik Deutschland (Fotos: Thomas Berg): Abb. 2, 7, 10, 12, 13 (© VG Bild-Kunst, Bonn 1998), 14 (© VG Bild-Kunst, Bonn 1998), 16,17,21, 22, 23, 38, 40 (© VG Bild-Kunst, Bonn 1998), 41, 42, 44 Heeresgeschichtliches Museum, Wien: Abb. 34 Imperial War Museum, London: Abb. 30, 37 Kunstmuseum Düsseldorf (Foto: Horst Kolberg): Abb. 20 U.S. Center of Military History, Washington D.C.: Abb. 29
Publikationen (Repros: Heinz Ruppert) Ausst. Kat. Große Deutsche Kunstausstellung, 1944: Abb. 8 Die Kunst im Deutschen Reich, 1941: Abb. 11, 19 Signal, 1943: Abb. 26 SS-Leihhefte, 1943: Abb. 36 (© VG Bild-Kunst, Bonn 1998) Walter Tröge (Hrsg.), Feuer und Farbe. 155 Bilder vom Kriege, Wien 1943: Abb. 3, 4, 6, 9, 15, 18, 27, 31, 32, 39 Die Wehrmacht, 1943: Abb. 25 Wilhelm Wessel, Mit Rommel in der Wüste, Essen 1943: Abb. 24, 45
Private Leihgeber Abb. 35
Trotz sorgfältiger Nachforschungen konnten nicht alle Rechtsinhaber ermittelt werden.
Verzeichnis der Autoren
Göran Andolf, Dr. phil., geb. 1939, freier Mitarbeiter am National Defence College, Department of Strategie Studies, Stockholm Veröffentlichungen u. a.: Historien pä gymnasiet. Undervisning och läroböcker 1820-1965, Diss. Malmö 1972; Vinterkriget, in: Svenska frivilliga i Finland 1939-1944, Stockholm 1989; Svenska Arbetskiren i Finland, in: ebd., S. 227-232. Kurt Arlt, Diplomhistoriker, geb. 1943, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Sowjetische (russische) Truppen in Deutschland (1945-1994), in: Torsten Diedrich u.a. (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 593-632; Zum Engagement der NVA in der „Dritten Welt", in: Bruno Thoß (Hrsg.), Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit. Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945-1995, München 1995, S. 669-683. Detlef Bald, Dr., geb. 1941, bis 1996 Leiter des Bereichs Militär und Gesellschaft am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, selbständiger Publizist Veröffentlichungen u.a.: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994; Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr in der Bonner Republik, Baden-Baden 1994. Dieter Beese, Dr., geb. 1955, Lehrbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschlands für Ethik im Polizeiberuf an der Polizei-Führungsakademie Veröffentlichungen u.a.: Seelsorger in Uniform. Evangelische Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1995; Polizeiarbeit heute - Berufsethische Notizen aus der Polizei, Bochum 1997. Ruth Bettina Birn, Dr., geb. 1952, Chief Historian, War Crimes and Crimes Against Humanity Section, Department of Justice Ottawa, Canada Veröffentlichungen u.a.: Die Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen und deren politische und moralische Folgen für die beiden Deutschland, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München, Zürich 1995, S. 393-418; Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986. Bernhard Chiari, Dr., geb. 1965, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erlangen, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte Veröffentlichungen u.a.: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf 1998.
Verzeichnis der Autoren
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James Corum, Dr., geb. 1953, Professor of Comparative Military Studies an der US-Air Force School of Advanced Air Power Studies Veröffentlichungen u. a.: The Roots of Blitzkrieg: Hans von Seeckt and German Military Reform, Kansas 1992; The Luftwaffe: Creating the Operational Air War 1918-1940, Kansas 1997. Martin van Creveld, Dr., geb. 1946, Appointed full Professor, History Department, Hebrew University, Jerusalem Veröffentlichungen u.a.: Die Zukunft des Krieges, München 1998. The Sword and the Olive: a Critical History of the Israel Defense Force, New York 1998. Jürgen Danyel, Dr., geb. 1959, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Veröffentlichungen u. a.: Als Hrsg.: Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995; zus. mit Arnd Bauerkämper (Hrsg.), Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, Berlin 1997. Wilhelm Deist, Dr., geb. 1931, Direktor und Professor i.R., ehem. Leitender Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Honorarprofessor am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u.a.: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußischdeutschen Militärgeschichte, München 1991; Die Armee des autoritären Nationalstaates, in: Ernst Willi Hansen u. a. (Hrsg.), Politischer Wandel, organisierte Gewalt und Nationale Sicherheit, München 1995, S. 95-108. Jörg Echternkamp, Dr., geb. 1963, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840), Frankfurt/M., New York 1998; Die Inszenierung des Krieges in Europa. Kriegsbilder zwischen Protest und Propaganda, in: Das gemeinsame Haus. Ein Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte, hrsg. i. A. d. Hamburgischen Museums für Völkerkunde, erscheint demnächst. Heidrun Ehrke-Rotermund, Dr., Μ. Α., geb. 1941, Literaturwissenschaftlerin Veröffentlichungen u.a.: Der nationalsozialistische Kriegsroman - eine Erbschaft aus der Zeit der Weimarer Republik, in: Literatur für Leser. Zeitschrift für Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis (1984) 4, S. 241-243; zus. m. Erwin Rotermund: Literatur in „Dritten Reich", in: Viktor Zmegac (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd III/1: 1918-1945, Weinheim 2 1994, S. 318-384. Jürgen Förster, Dr., geb. 1940, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Stalingrad. Risse im Bündnis 1942/43, Freiburg i. Br. 1975; Vom Führerheer der Republik zur nationalsozialistischen Volksarmee, in: Jost Dülffer u. a. (Hrsg.), Deutschland in Europa. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Berlin 1990, S. 311-328.
1312
Verzeichnis der Autoren
Karl-Heinz Frieser, Dr., geb. 1949, Oberstleutnant, Historiker-Stabsoffizier am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u. a.: Krieg hinter Stacheldraht. Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und das Nationalkomitee „Freies Deutschland", Mainz 1991; Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1996. Hans Rudolf Fuhrer, Dr., geb. 1941, Dozent für Militärgeschichte der Militärischen Führungsschule an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Veröffentlichungen u. a.: Spionage gegen die Schweiz. Die geheimen deutschen Nachrichtendienste gegen die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Frauenfeld 1982; Das Schweizer Wehrpflichtsystem im Wandel, in: Roland G. Foerster (Hrsg.), Die Wehrpfllicht: Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München 1994, S. 193-206. Johannes Güsgen, Dr., geb. 1949, Geschäftsleitung Deutscher Orden Veröffentlichungen u. a.: Die katholische Militärseelsorge in Deutschland zwischen 1920 und 1945. Ihre Entwicklung in der Reichswehr der Weimarer Republik und der Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschlands unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rolle bei den Reichskonkordatsverhandlungen, Köln, Wien 1989. Norbert Haase, Dr., geb. 1960, Leiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Dresden Veröffentlichungen u.a.: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Berlin 1993; „Gefahr für die Manneszucht". Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939-1945), Hannover 1996. Gerhart Hass, Prof. Dr. sc., geb. 1931, ehem. Forschungsgruppenleiter an der Akadmie der Wissenschaften der DDR Veröffentlichungen u.a.: Von München bis Pearl Harbor. Zur Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1938-1941, Berlin 1965; 23. August 1939. Der Hitler-Stalin-Pakt. Dokumentation, Berlin 1990. Paul Heider, Prof. em., Dr. sc., geb. 1931, ehem. Direktor des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR Veröffentlichungen u.a.: Zum Rußlandbild im Nationalkomitee „Freies Deutschland" und Bund der Offiziere, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 165-199; Deutschland nach Hitler, in: Ernst Willi Hansen u.a. (Hrsg.), Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit, München 1995, S. 347-367. Gerhard Hirschfeld, Dr., geb. 1946, Vorstand und Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, Professor an der Universität Stuttgart Veröffentlichungen u. a.: Nazi Rule and Dutch Collaboration: The Netherlands under German Occupation, Oxford, N e w York 1988; Zwischen Kollaboration und Widerstand. Europa unter deutscher Besatzung, in: Weltgeschichte, Brockhaus Bibl., Bd. 5, Mannheim 1998, S. 633-643.
Verzeichnis der Autoren
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Eberhard Jäckel, Dr., geb. 1929, Professor em. an der Universität Stuttgart Veröffentlichungen u.a.: Hitlers Herrschaft, 1986; Das deutsche Jahrhundert, 1996. Hans-Adolf Jacobsen, Dr., Dr. h. c., geb. 1925, Professor em. des Seminars für politische Wissenschaft, Universität Bonn Veröffentlichungen u.a.: NS-Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a. M., 1968; Vom Imperativ des Friedens, Düsseldorf 1995. Karl-Heinz Janßen, Dr. phil., geb. 1930, Redakteur bei der Wochenzeitung „DIE ZEIT" Veröffentlichungen u. a.: Zus. m. Fritz Tobias, Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch-Krise 1938, München 1994; Die Zeit in der ZEIT 50 Jahre einer Wochenzeitung, Berlin 1995. Stefan Karner, Dr., geb. 1952, Professor an der Universität Graz, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Totalitarismusforschung Veröffentlichungen u.a.: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, Wien, München 1995; Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien 1939-1997, Klagenfurt 1998. Franz-Werner Kersting, Dr., geb. 1955, Privatdozent, Historiker am Westfälichen Institut für Regionalgeschichte in Münster und an der UniversitätGesamthochschule Siegen Veröffentlichungen u.a.: Mithrsg.: Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993; als Hrsg.: Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim, München 1998. Peter Klein, Μ. Α., geb. 1962, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin Veröffentlichungen u.a.: Die Wannsee-Konferenz. Analyse und Dokumentation, Berlin 1996; als Hrsg., Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1998. Lutz Klinkhammer, Dr., geb. 1960, Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Köln Veröffentlichungen u.a.: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salo, 1943-1945, Tübingen 1993; Stragi naziste in Italia. La guerra Vontro i civili (1943-1944), Rom 1997. Bernhard R. Kroener, Dr., geb. 1948, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam Veröffentlichungen u. a.: Zus. m. Ralf Prove (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996; Auf dem Weg zu einer „nationalsozialistischen Volksarmee", in: Martin Broszat u.a. (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 651-682.
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Verzeichnis der Autoren
Thomas Kühne, Dr., geb. 1958, Habilitationsstipendiat der D F G , Universität Bielefeld Veröffentlichungen u.a.: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914, Düsseldorf 1994; als Hrsg., Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M., New York 1996. Birthe Kundrus, Dr. geb. 1963, Assistentin an der Universität Oldenburg, DFG-Stipendiatin Veröffentlichungen u. a.: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; Frauen und Nationalsozialismus. Überlegungen zum Stand der Forschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 481-499. Klaus Latzel, Dr., geb. 1955, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Georg Simmel-Edition Veröffentlichungen u.a.: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: M G M 56 (1997), S. 1-30; Deutsche Soldaten nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn u.a. 1998. Ulrich de Maiziere, geb. 1912, General a.D., Generalinspekteur der Bundeswehr 1966-1972 Veröffentlichungen u.a.: Führen im Frieden, München 1974; In der Pflicht. Lebensbericht, Herford, Bonn 1989. Rolf-Dieter Müller, Dr. , geb. 1948, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt a. M. 1991; Der Manager der Kriegswirtschaft Hans Kehrl: Ein Unternehmer in der Politik des „Dritten Reiches", Essen 1998. Klaus-Jürgen Müller, Dr., geb. 1930, Professor i.R. für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Veröffentlichungen u.a.: Das Heer und Hitler, Stuttgart 1969, 2 1989; Militär, Politik und Gesellschaft in Deutschland 1933-1945. Studien zum Verhältnis von Armee und NS-System, Paderborn 1981, engl. Ausg. Manchester 1987. Williamson Murray, Dr. Dr., geb. 1942, Professor an der Marine Corps University, Quantico, USA Veröffentlichungen u.a.: The Change in the European Balance of Power, 1938-1939. The Path to Ruin, Princeton 1984; Luftwaffe, Baltimore 1985. Sönke Neitzel, Dr., geb. 1968, Privatdozent am Historischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz Veröffentlichungen u.a.: Der Einsatz der deutschen Luftwaffe über dem Atlantik und der Nordsee 1939-1945, Bonn 1995; Der Kampf um die deutschen
Verzeichnis der Autoren
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Atlantik- und Kanalfestungen und sein Einfluß auf den alliierten Nachschub während der Befreiung Frankreichs 1944/45, in: M G M 55 (1996), S. 381-430. Jörg Osterloh, Μ. Α., geb. 1967, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität in Dresden Veröffentlichungen u.a.: Sowjetische Kriegsgefangene 1941-1945 im Spiegel nationaler und internationaler Untersuchungen. Forschungsüberblick und Bibliographie, Dresden 2 1996; Ein ganz normales Lager. Das KriegsgefangenenMannschaftsstammlager 304 (IV H ) Zeithain bei Riesa/Sa. 1941-1945, Leipzig 2 1997. Reinhard Otto, Dr., geb. 1950, Oberstudienrat Veröffentlichungen u. a.: Zus. m. Karl Hüser, Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941-1945, Bielefeld 1992, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im Reichsgebiet 1941/42, Stuttgart 1998. Wolfgang Petter, Dr., geb. 1942, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Die überseeische Stützpunktpolitik der preußischdeutschen Kriegsmarine 1859-1883, phil. Diss Freiburg 1975; La bataille de Verdun: aspect allemand, in: Guy Pedroncini (Hrsg.), La bataille de Verdun, Paris 1977, S. 97-105. Timm C. Richter, Μ. Α., geb. 1970, Doktorand Veröffentlichungen u.a.: „Herrenmensch" und „Bandit". Deutsche Kriegsführung und Besatzungspolitik als Kontext des sowjetischen Partisanenkrieges, Münster 1998. Michael Salewski, Dr., geb. 1938, Professor am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Veröffentlichungen u. a.: Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996; Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1998. Ralf Schabel, Dr., geb. 1958, Oberstudienrat am Illertal-Gymnasium in Vöhringen Veröffentlichungen u. a.: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994. Rene Schilling, Μ. Α., geb. 1965, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld Veröffentlichungen u. a.: Die soziale Konstruktion heroischer Männlichkeit im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Theodor Körner, in: Karen Hagemann/Ralf Pröve (Hrsg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär und Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1998, S. 121-144; in Vorbereitung: Heroische Männlichkeit. Zur sozialen Konstruktion des Kriegshelden in Deutschland 1813-1945: Friesen, Körner, Richthofen, Weddigen, Langemarck (Arbeitstitel), Diss.
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Verzeichnis der Autoren
Klaus Schmider, Μ. Α., geb. 1966, Doktorand Veröffentlichungen u. a.: N o Quiet on the Eastern Front: The Suvrov debate in the 1990's, in: The Journal of Slavic Military Studies, 10 (1997) 2, S. 19-41; The Mediterranean in 1940/41: Crossroads of lost opportunities?, in: War & Society, 15 (1997) 2, S. 181-194. Wolfgang Schmidt, Dr., Μ. Α., geb. 1958, Oberstleutnant, Historiker-Stabsoffizier am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u. a.: Eine Stadt und ihr Militär. Regensburg als bayerische Garnisonsstadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Regensburg 1993; Die Juden in der Bayerischen Armee, in: Deutsche Jüdische Soldaten, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Hamburg, Berlin, Bonn 1996, S. 6 3 - 8 5 . Rolf Schörken, Dr., geb. 1928, Professor em. für Didaktik der Geschichte und politische Bildung an der Universität Duisburg Veröffentlichungen u.a.: Luftwaffenhelfer und Drittes Reich, Stuttgart 1984; Jugend 1945, Frankfurt a. M. 2 1995. Gerhard Schreiber, Dr., geb. 1940, ehemaliger Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, heute freischaffender Historiker Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter - Opfer Strafverfolgung, München 1996; Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten - verachtet - vergessen, München 1990. Guntram Schulze-Wegner, Dr., geb. 1965, Journalist, Marineoffizier d. R. Veröffentlichungen u.a.: Die deutsche Kriegsmarine-Rüstung 1942-1945, Hamburg, Berlin, Bonn 1997; Deutschland zur See. 150 Jahre Marine-Geschichte, Hamburg, Berlin, Bonn 1998. Heinrich Schwendemann, Dr., geb. 1956, Hochschulassistent Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u.a.: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939 bis 1941, Berlin 1993; zus. m. Peter Börschel/Kirsten Steiner/Eckhard Wirbelauer, Geschichte. Ein Tutorium, Freiburg 1997. Arthur L. Smith, jr., geb. 1927, Professor em. of History an der California State University Veröffentlichungen u. a.: Hitler's Gold. The Story of the Nazi War Loot, O x ford 1989,1996; Kampf um Deutschlands Zukunft: Die Umerziehung von Hitlers Soldaten, Bonn 1997. Knut Stang, Dr., geb. 1963, Lehrbeauftragter Veröffentlichungen u. a.: Das zerbrechende Schiff: Seekriegsstrategien- und Rüstungsplanung der deutschen Reichs- und Kriegsmarine 1918-1939, Frankfurt a.M. 1995; Kollaboration und Massenmord, Frankfurt a.M. 1996.
Verzeichnis der Autoren
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Peter Steinbach, Dr., geb. 1948, Professor an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Politische Wissenschaft Veröffentlichungen u.a.: Die Zähmung des politischen Massenmarktes, 3 Bde, Passau 1991; Widerstand im Widerstreit, Paderborn 1994. Hew Strachau, Dr., geb. 1949, Professor of Modern History an der University of Glasgow Veröffentlichungen u.a.: European Armies and the Conduct of War, London 1983; The Politics of the British Army, Oxford 1997. Hans-Ulrich Thamer, Dr., geb. 1943, Professor und Direktor des Historischen Seminars an der Universität Münster Veröffentlichungen u.a: Verführung u. Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986; Mithrsg., Zwischen Loyalität und Resistenz. Soziale Konflikte und politische Repression während der NS-Herrschaft in Westfalen, Münster 1996. Hans Umbreit, Dr., geb. 1937, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Deutsche Militärverwaltungen 1938/39. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei und Polens, Stuttgart 1977; Unite et diversite de l'occupation nazie, in: Relations Internationales, Nr. 80, Hiver 1994, S. 415-427. Hans-Erich Volkmann, Dr., geb. 1938, Direktor und Professor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u.a.: Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. 177-370; als Hrsg., Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München, Zürich 1995. Bernd Wegner, Dr., geb. 1949, Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Veröffentlichungen u.a.: Hitlers Politische Soldaten: die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn 5 1997; Der Krieg gegen die Sowjetunion 1942/43, in: Horst Boog u.a., Der globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative, 1941-1943, Stuttgart 1990. Gerhard L. Weinberg, Dr., geb. 1928, ehem. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der University of North Carolina, Chapel Hill Veröffentlichungen u. a.: Eine Welt in Waffen: Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1995; The Foreign Policy of Hitlers Germany, 2 Bde, Chicago 1970/1980. Rüdiger Wenzke, Dr., geb. 1955, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Veröffentlichungen u.a.: Die N V A und der Prager Frühling, Berlin 1995; zus. m. Torsten Diedrich u. Hans Ehlert (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der D D R , Berlin 1998.
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Verzeichnis der Autoren
Traugott Wulfhorst, Dr., geb. 1927, Richter am Bundessozialgericht a.D. Veröffentlichungen u. a.: Soziale Entschädigung - Politik und Gesellschaft, Baden-Baden 1994. Benjamin Ziemann, Dr., geb. 1964, wissenschaftlicher Assistent am Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung an der Ruhr-Universtität in Bochum Veröffentlichungen u.a.: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997; Die Eskalation des Tötens in den beiden Weltkriegen, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien 1998, S. 411-429.