Die Wahrheit Der Niederlandischen Malerei: Eine Archaologie Der Gegenwartskunst 3770566319, 9783770566310

Does contemporary art have a history? This study attempts to look behind the foundational myths of modernism and contemp

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German Pages 496 [494] Year 2021

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Die Wahrheit Der Niederlandischen Malerei: Eine Archaologie Der Gegenwartskunst
 3770566319, 9783770566310

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Die Wahrheit der Niederländischen Malerei

Publiziert mit Unterstützung der Universität für angewandte Kunst Wien.

Umschlagabbildung: Hieronymus Bosch, Der Gaukler, ca. 1502. Einbandgestaltung: Sara De Bondt unter Verwendung einer Fotografie nach einer Arbeit von Bernadette Corporation. Foto: © Stedelijk Museum / Photo: GJ. van Rooij.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Sara De Bondt, Gent Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6631-0 (hardback) ISBN 978-3-8467-6631-6 (e-book)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix 1. Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Die Kunstwerdung der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2. Ästhetik der Wahrheit oder Philosophie der Malerei? . . . . . . . . . . 7 1.3. Die symbolischen Voraussetzungen einer Wahrheit der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.4. Die Fragwürdigkeit der Wahrheit in der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Einführung II: Die Aktualität der Niederländischen Malerei . . . . . . . 27 2.1. Das altniederländische Bild-, Malerei- und Kunstverständnis . . . 27 2.2. Repräsentation, Realismus, Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3. Antagonistisches, analytisches und synthetisches Bild . . . . . . . . . 38 2.4. Ausblick: Das Dispositiv der Malerei entfaltet sich . . . . . . . . . . . . . 46 3. Das Bild als Schwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1. Was ist ein Bild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.2. Die Aktualisierung des Heiligen und der devotionale Sinn der Malerei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Jan van Eyck, Robert Campin, Rogier van der Weyden 3.3. Arbeit mit und an der Schwelle: „Die Geburt der Gegenwart“ . . . 67 Jan van Eyck, Petrus Christus 3.4. Aktualisierung als Virtualisierung: Die Möglichkeit der Malerei als Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Petrus Christus, Hugo van der Goes 4. Wahrheit und Lüge im antagonistischen Bild  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.1. Antwerpen nach 1500: Radikal veränderte Bedingungen der Kunstproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2. Antagonistische Bildstrategien: Von der Schwelle zum Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Hieronymus Bosch, Quinten Metsys, Marinus van Reymerswaele, Jan Sanders van Hemessen, Der Braunschweiger Monogrammist 4.3. Die Erfindung des Realismus als Reflexion antagonistischer Seinsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Pieter Aertsen, Joachim Bueckelaer

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Inhalt

4.4. Antagonismus und Allegorese: Konfliktbewältigung vs. Unversöhnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Pieter Bruegel d. Ä., Crispin van den Broeck, Pieter van der Borcht 5. Die Ewigkeit des Augenblicks und das analytische Bild . . . . . . . . . . . . 153 5.1. Das letzte antagonistische Bild und die gesellschaftliche Neugründung in der holländischen Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Adriaen van de Venne 5.2. Bild und Analysis: Elemente, Relationen und Formen . . . . . . . . . . 164 Hendrik Goltzius, Hercules Segers 5.3. Die Analytik der Räume und der Gegenstände in Haarlem . . . . . 171 Jan van Goyen, Pieter Claesz – Osias Beert, Clara Peeters, Jacques de Geyn II. –, Pieter Saenredam 5.4. Zustand, Situation, Handlung: Die Analytik des Sozialen. Von Haarlem nach Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.4.1. Das Situative als Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Willem Buytewech, Frans Hals, Judith Leyster, Adriaen Brouwer, Adriaen van Ostade, Albert Eckhout 5.4.2. Auf dem Weg zur Handlung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Rembrandt van Rijn, Bartholomaeus van der Helst 5.5. Die Analytik der Gegenstände, der Räume und der Situationen: Der Augenblick von Delft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5.5.1. Die Absorption des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Carl Fabritius, Pieter de Hooch, Johannes Vermeer 5.5.2. Soziale Differenz im analytischen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Jan Steen, Gabriel Metsu, Jacob Ochtervelt 5.5.3. Allegorie der Verdichtung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Johannes Vermeer 6. Der Augenblick der Ewigkeit und das synthetische Bild  . . . . . . . . . . . 295 6.1. Rekonstruktion der Gesellschaft aus Malerei: Das Antwerpen der Reconquista  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 6.2. Bild und Synthesis: Kraft und Kräfteverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.3. Die Grammatik des synthetischen Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Jan Brueghel d. Ä. 6.4. Verklärung und Gewalt. Die Pragmatik des synthetischen Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Peter Paul Rubens 6.4.1. Der nackte männliche Körper als Mythem . . . . . . . . . . . . . . 328

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6.4.2. Von der Überwindung der irdischen Gewalt zu deren triumphaler Verherrlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.5. Platz schaffen. Die unaufhebbare Differenzialität des synthetischen Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Peter Paul Rubens, Jacob Jordaens, Adriaen Brouwer, Michaelina Wautier, David Teniers d. J. 7. Die Transformation der Niederländischen Malerei und die Emergenz moderner Kunst  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 7.1. Ein Nachleben zwischen imaginärer Überwindung und symbolischer Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 7.2. Die praktische Dimension der Aneignung: Erneuerung und Dynamisierung als Kunst  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 7.2.1. Das Neue der Erneuerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Jacques-Louis David und die Malerei der Moderne 7.2.2. Dynamisierung durch die Projektideen . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Modernismus, Avantgarde und Realismus 7.3. Die diskursive Dimension der Aneignung: Ausblendung und Überbietung in der Kunstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 7.3.1. Die spekulative Idee der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 7.3.2. Die ‚Urszenen‘ der modernen Kunstkritik und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Lessing, Diderot, Rousseau 7.4. Das Unbestimmte bestimmen: Kunstkritische Perspektiven auf eine mögliche Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Nachwort: Philosophie und Malerei – das spekulative Bild . . . . . . . . . 437 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

Vorwort Kunst in der Moderne muss wahr sein. Als ein Erbe der idealistischen Kunstphilosophien lassen sich alle konkreten Ansprüche an Autonomie und Freiheit, Authentizität oder Originalität nur vor dem Horizont einer gemeinsamen Vorstellung von Wahrheit erheben. Cézanne kündigte an, uns die Wahrheit in der Malerei zu sagen; dieser Ankündigung folgten philosophische Definitionsversuche, die in der Kunst ein Entbergen der Wahrheit des Seins, die Emanation von Sinn, die Rettung vor jeder Entfremdung oder gar die objektive Wahrheit der geschichtlichen Tendenz erkennen wollten.1 Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Frage, wie die Wahrheit zu einem solch entscheidenden ästhetischen Kriterium und somit zur eigentlichen Bestimmung von Kunst in der Moderne werden konnte. Dies ist sowohl historisch unplausibel – die Ästhetik als philosophische Disziplin entsteht im 18. Jahrhundert gerade durch eine Zurückweisung onto-theologischer, wissenschaftlicher oder politischer Wahrheitsbegriffe – als auch aktuell äußerst umstritten. Doch aller postmodernen Ernüchterung zum Trotz können die Versuche einer Rückkehr zu einer reinen Erfahrungsästhetik im Kantischen Sinn oder zu einer materialistischen Rhetorik des Poetischen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Theorien selbst, in ihrem jeweiligen Bezug auf den Allgemeinbegriff von Kunst wahrheitsästhetische Aspekte stets mit voraussetzen. Umso mehr gilt dies für die prononcierten Formen heutiger künstlerischer Praktiken, ob sie nun aktivistisch, performativ, konzeptuell oder objektontologisch gefasst sind; sie scheinen mir sinnvoll nur durch einen wahrheitsästhetischen Anspruch fassbar zu sein, den zu überwinden sie bemüht sind. Doch wie findet die Wahrheit ihren Weg in die Kunst? Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung stellt die Annahme dar, dass wir es hierbei nicht einfach mit einer höchst ideologischen Erfindung der idealistischen Philosophie zwischen Schiller, Schelling und Hegel zu tun haben, die wir leicht abstreifen könnten um eine anti-idealistische Bestimmung von Kunst zu erreichen. Entscheidend ist vielmehr, dass im Idealismus der Allgemeinbegriff von Kunst wahrheitsästhetisch gefasst wird. Dieser Allgemeinbegriff – die Rede von der Kunst – lässt sich nicht mehr als Summe partikularer Bestimmungen fassen; er stellt etwas fundamental Neues und den eigentlich produktiven Faktor jeder künstlerischen Produktion seither dar. Dementsprechend können moderne Kunst und Gegenwartskunst weder nach immanenten: materiellen, kulturellen, 1 Ich habe hier die unterschiedlichen wahrheitsästhetischen Bestimmungen bei Martin Heidegger, Hans Georg Gadamer, Theodor W. Adorno und Georg Lukács im Sinn.

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Vorwort

medialen oder performativen Aspekten erfasst noch am rein ideellen, begrifflichen, transzendenten oder ahistorischen Maßstab bemessen werden; vielmehr sind beide Seiten für das moderne Kunstverständnis unverzichtbar. Jede empirische Praxis braucht eine Ausrichtung am transzendentalen Begriff; und jeder spekulative Begriff von Kunst muss sich an konkreter, praktischer Beanspruchung bewähren. Die Wahrheit der Kunst kann daher weder in ihrer Materialität noch in ihrer Idealität liegen, sondern nur in der Spannung, die sie jeweils zwischen ihrer empirisch-materiellen Praxis und dem spekulativtranszendentalen Begriff von Kunst herzustellen in der Lage ist. Die Wahrheit liegt genau in dieser Differenz, und die Geschichtlichkeit eines künstlerischen „Materialstandes“ (Adorno) wäre daran festzumachen, in welcher Form es jedweder materialen, performativen oder medialen Bestimmung gelingt als Kunst Sinn zu beanspruchen. Die leitende Forschungsfrage meiner Untersuchung betriff daher zum einen, wie man – post-idealistisch – den wahrheitsästhetisch gefassten Allgemeinbegriff von Kunst systematisch im Zusammenhang mit den strukturellen und symbolischen Bedingungen der Moderne insgesamt besser verstehen kann und andererseits, wie man dieses spezifisch moderne Verständnis von Kunst historisch-genealogisch herleiten kann. Dies wiederum kann weder als rein praktische noch als rein begriffliche Geschichte geschehen, sondern nur als konkrete Problemgeschichte aus einem historisch spezifischen Spannungsfeld heraus, in dem die Frage nach der Kunst und ihrer Wahrheit zu einem existenziellen Anliegen von Selbstbestimmung und Selbstbehauptung einzelner künstlerischer Positionen geworden war. Diese Problemlage scheint mir auf exemplarische Weise zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert in den Niederlanden gegeben gewesen zu sein. Hier entstand nicht nur eine aus sich vielfach überlagernden ökonomischen, politischen und religiösen Konflikten hervorgehende historische Dynamik, die für jedes künstlerische Selbstverständnis völlig neue Bedingungen und Herausforderungen schuf, sondern auch ein spezifisches Verständnis des Bildes, der Malerei und der Kunst insgesamt, das sich deutlich vom humanistischen der italienischen Renaissance abhebt. Es betrifft in seinem Kern das Gemälde oder Tableau selbst als Vorstellung eines Werks, das als konkretes Objekt nicht definitiv aufgestellt werden kann, sondern zunehmend gezeigt oder ausgestellt werden muss, und somit durch Konversation verhandelt, aber auch getauscht und gehandelt werden kann. Die Unbestimmtheit von Funktion, Wert und Bedeutung wird unhintergehbar für die einzelnen Gemälde bzw. Werke. Es lässt sich sogar behaupten, dass die Idee des Werks erst vor dem Hintergrund dieser kategorialen Unbestimmtheit auftritt. Diese Unbestimmtheit ermöglicht die Auseinandersetzung um die Malerei als Kunst; sie tritt in Form eines ‚Spiels‘ zwischen den Künstlern bzw. Künstlerinnen und ihrem

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Publikum auf. Ein Bild von Hieronymus Bosch (Abb. 2) zeigt genau eine solche spielerische Verhandlung zwischen der Figur des Künstlers als eines Gauklers und seinem Publikum, mit dem er über das Tableau hinweg kommuniziert bzw. interagiert. Das platonische Vorurteil der Malerei gegenüber verwandelt sich in die positive Bestimmung ihrer Möglichkeit als Kunst.2 Hierbei handelt es sich jedoch keineswegs um eine gelingende Kommunikation, sondern um eine, die in ihren intersubjektiven wie interobjektiven – auf das Tableau bezogenen – Dimensionen mit ihren Verfehlungen, mit Täuschung und Enttäuschung rechnet. Es ist dieses Muster, das uns noch heute bei jedem Ausstellungsbesuch begegnet; ein solcher ist sogar nur dann als Erfahrung von Kunst interessant, wenn er sich in dieses Muster einschreiben lässt und darin das spezifische Moment einer Unbestimmtheit auftritt, das als notwendige Bedingung jeder Wahrheit der Kunst gelten kann. Gerade dieses Unbestimmte wird im 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der Frage, was Kunst sei. Bei Marivaux findet sich die Unbestimmtheit („Je ne sais quoi“) noch gegen die Wahrheit gerichtet; bei Schelling wird sie zum entscheidenden, andere Wahrheitsformen übertreffenden Kriterium einer spezifischen Wahrheit der Kunst. Entscheidend für meinen Rekonstruktionsversuch ist die Verknüpfung, die der Prozess der Kunstwerdung der Malerei in den Niederlanden mit dem akuten Problem ihrer Wahrheit eingeht. Nicht weil man sich der Wahrheit in der Malerei sicher gewesen wäre, sondern weil sie so radikal auf dem Spiel stand, wurde sie zu einem spezifisch malerisch-künstlerischen Einsatz. Innerhalb der fundamentalen religiösen, politischen und ökonomischen Konflikte der Zeit musste immer erst ein symbolischer Ort beansprucht werden, von dem aus die je eigene künstlerische Produktion Sinn, Funktion und Wert zu generieren in der Lage war. In diesem Sinne sind die historischen Niederlande gleichsam das Experimentierfeld der Moderne geworden. Von dieser Diagnose ausgehend soll im Folgenden ein möglichst detailreiches Panorama der Niederländischen Malerei entworfen werden, innerhalb dessen spezifische Ideen des Bildes, der Malerei und der Kunst auftreten. Auf Basis der grundlegenden Bildidee der altniederländischen Malerei, des Bildes als Schwelle, kommt es im 16. und 17. Jahrhundert zu einer forcierten Entwicklung eines Bilddenkens, dem ich mich in Form von weiteren spekulativen Bildbegriffen 2 Hieronymus Bosch, Der Gaukler, ca. 1502, St.-Germain-en-Laye, Musée Municipal, 53 × 65 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gaukler_(Bosch)#/media/Datei:Hieronymus_Bosch_ 051.jpg; es existieren mehrere Versionen. Hierzu: Jürgen Müller, „Nie wieder Hütchenspiel! Deutung eines Rätselbildes“, in: FAZ, 12. 3. 2018. Müller sieht in der sprachlichen Verwandtschaft von Tisch und Tableau im Niederländischen ein Indiz, das Bild als Allegorie der Malerei zu lesen, vor dem Hintergrund der platonischen Definition des Künstlers als Gauklers und Trickbetrügers.

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Vorwort

anzunähern versuche. Leitend für dieses Vorgehen war die Annahme, dass es genau solche Bildbegriffe bzw. Bildideen sind, die die Vorstellungsweisen der Moderne, worum es bei Malerei als Kunst gehen könnte, entscheidend prägen werden. Das Bild wird zur empirisch-transzendentalen Schnittstelle, an der die Wahrheit in ihrer raum-zeitlichen Besonderheit in Erscheinung treten kann. Im Unterschied zum perspektivischen Bildverständnis Albertis geht es im Bild als Schwelle etwa um die Symbolisierung des konkreten Umfelds des Bildes in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht; nicht um eine objektive, quasi wissenschaftliche Distanz zu den dargestellten Gegenständen, sondern um deren bedeutungsvolle bzw. wahrhafte Nähe und Aktualität, wodurch der Akt der Bildbetrachtung selbst im Bild stets mit konzipiert werden kann. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, im Kontext der massiven politischen, religiösen und sozialen Spannungen, die mit der Verlagerung des ökonomischen Zentrums von Brügge und Gent nach Antwerpen einhergehen, wird die Idee eines antagonistischen Bildes formuliert, das sich als konkreter Einsatz innerhalb der verschiedenen Konflikt-Szenarien verstehen lässt. Die Malerei bildet hier keine Welt ab, und sie repräsentiert keine vorgegebenen Auffassungen; sie positioniert sich vielmehr selbst aktiv im Rahmen der akuten gesellschaftlichen Konfliktfelder zwischen Arm und Reich, religiösen und ökonomischen Wertsphären, der wahren und der falschen Religion, dem Einzelnen und der Masse, der städtischen und der ländlichen Bevölkerung, Männern und Frauen, lokalen und globalen Bezugspunkten. Keine versöhnende Aufhebung ist hier in Sicht; die Malerei ruft vielmehr die Gegensätze erst auf und entwirft sich selbst in einer engagierten, ebenso behauptenden wie reflexiven Form. Ihr Realismus lässt sich nicht mehr aus den diversen Nachahmungstheorien herleiten, sondern einzig aus dem Anspruch, das soziale Feld zu durchqueren und nach Orientierungen zwischen Wahrheit und Lüge zu suchen. In der zunehmenden Spaltung der niederländischen Gesellschaft nach 1585 in eine calvinistisch, kapitalistisch und kolonialistisch geprägte Republik auf der einen Seite und einen von einer breiten Bildkultur getragenen Modellstaat im Rahmen der universalen, gegenreformatorisch-dynastischen Reichsidee auf der anderen Seite entstehen weitere, zueinander komplementäre Vorstellungen von Bild, Malerei und Kunst, in denen der Antagonismus jeweils überwunden werden soll. Hierbei kommt es sowohl zu einer Zuspitzung der jeweiligen Bildidee als auch zu einer Auslagerung der polaren Gegenbilder auf die jeweils andere Seite. Gerade in dieser Gespaltenheit werden sich diese Bildideen, das analytische und das synthetische Bild, als bestimmend für die Moderne erweisen. Von dieser für die holländische und die flämische Malerei grundlegenden Unterscheidung ausgehend, soll die Genese der wiederum zumeist strikt antagonistisch angelegten Wahrheitsnarrative der modernen Kunstkritik

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zwischen Autonomie und Heteronomie, Beschreibung und Erzählung, Absorption und Theatralität, Präsenz und Spektakel, Negation und Affirmation in ihrem historischen und systematischen Zusammenhang ersichtlich werden. Die entstehende Kunstkritik des 18. Jahrhunderts entwickelt sich nicht nur entlang dieser grundlegenden Spaltung, indem sie Vorstellungen einer wahren und einer falschen Kunst generiert; gleichzeitig ignoriert sie nahezu vollkommen die Idee des Bildes als empirisch-transzendentaler Schnittstelle und somit als entscheidenden Einsatz von Malerei als Kunst. Sie wird derart zum Schauplatz einer exemplarischen Verfehlung der je eigenen Bedingungen und Voraussetzungen, was sich auf durchaus bedrückende Weise bis in die Gegenwart hinein fortschreibt.3 Auch gegen den modernen Mythos eines bloß mimetischen Verständnisses der vormodernen Malerei – der den impliziten Triumphalismus einer Überwindung der alten, nachäffenden durch eine neue, konzeptuell souveräne Kunst begründet – soll vor allem gezeigt werden, wie komplex und wie modern die malerischen Praktiken und das in ihnen fassbare Bild-Denken in den historischen Niederlanden bereits sind. Anhand der spezifischen Verschränkung von repräsentativen, reflexiven und realistischen Aspekten lassen sich die unterschiedlichen Varianten dieses Bild-Denkens bei den frühmodernen Malern (und den wenigen, historisch fassbaren Malerinnen) als Versuche verstehen, die je eigene Arbeit und das damit verbundene Subjektivitätskalkül zunehmend und keineswegs stets willentlich innerhalb eines spezifischen neuen Symbolisierungsmodus, der Malerei als Kunst zu begreifen. Damit sind spezifische Auffassungen von Kunst entwickelt worden, die weder in einer autonomen Bestimmung der Malerei als eines selbstbestimmten bzw. selbstgenügsamen Mediums aufgehen noch durch die Moderne historisch überwunden wären. Ganz im Gegenteil erweisen sie sich gerade in ihrer insistierenden Problematik, die einer spezifischen historischen Konstellation entwachsen ist, noch heute als unverzichtbar für jede Auseinandersetzung mit Malerei und mit Kunst generell. Es geht hier um ein anderes Nachleben als dasjenige der Antike, nämlich um die Transformation der Niederländischen Malerei in den diskursiven, medialen und institutionellen Raum der Moderne. Der Impuls, den die Niederländische Malerei im Prozess ihrer Kunstwerdung auslöste betrifft daher nicht nur die Frage ihrer konkreten Rezeption als malerische Praxis, sondern ihre permanente Präsenz als Gegenstand von Ausstellung, Markt und diskursiver Verhandlung. Erst in diesem Kontext wird die zunehmende Schwierigkeit spürbar, die Kunstwerdung der Malerei einzuhegen 3 Es ist diese Verfehlung, die eine rekonstruktive Archäologie der Vorgeschichte moderner Kunst und der Narrative der modernen Kunstkritik notwendig macht.

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Vorwort

und abzuschließen. Kein konkretes Werk kann diesen Anspruch im Kontext ständiger Beobachtung, Bewertung und Diskussion dauerhaft erfüllen. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts scheint dieser Impuls über sein Ziel hinauszuschießen; lange vor Duchamp tauchen Vorstellungen auf, die nicht einfach mehr die Handwerklichkeit von Malerei nobilitieren wollen, sondern auf die gänzliche Überwindung ihrer materiellen Basis im Tableau zielen – sei es in ideeller, imaginativer, praktischer, spielerischer oder auch in textueller Form.4 Jeweils geht es um ein empirisches Ende der Malerei in der transzendentalen Unbestimmtheit von Kunst. Dieses Ende markiert als Anfang das eigentlich produktive Moment der Malerei als Kunst in der Moderne. Hierin wurzelt die ebenso prekäre wie paradoxale Zeitlichkeit der Malerei, denn ihr transformativer Impuls schreibt die Zukunft ihrer Kunstwerdung als ein letztlich unmögliches Ankommen immer schon in ihre Geschichte ein. Ihre Geschichte setzt also ihre Zukunft immer schon voraus, weswegen sie bis heute in auffallend schillernder Form, gleichzeitig obsolet und aktuell, negativ und affirmativ, unbedingt und kompromittiert, materiell und ideell erscheinen kann. Somit begründet die Unbestimmtheit von Kunst in der Moderne die fundamentale Umstrittenheit der Malerei und macht den Streit um sie zu ihrer eigentlichen, modernen Manifestation. Die Rekonstruktion der Geschichte der Niederländischen Malerei als eine ‚Archäologie‘ moderner Kunst und somit von Kunst überhaupt kann sich deshalb nicht als reine Kunstgeschichte verstehen, sondern nur als Problemgeschichte ihrer Kunstwerdung, die die Kunstgeschichte ebenso wie die Kunstkritik als diskursive Disziplinen immer schon mit betrifft. Es kann sich hierbei auch um kein ‚präformatives‘ Entfaltungs-Narrativ einer spezifischen Sache – der Malerei oder der Kunst – handeln, denn diese Sachen entstehen erst ‚epigenetisch‘ im Prozess kontinuierlicher Differenzierung und Dynamisierung.5 Dementsprechend lässt sich die Niederländische Malerei in ihrer anhaltenden Historizität und Aktualität nur in Form eines dynamischen Dispositivs konzipieren, innerhalb dessen die einzelnen Praktiken Vorstellungen ihres Sinns, ihres Wertes und ihrer Funktion selbst immer erst hervorbringen müssen. Mehr und mehr werden die Allgemeinbegriffe von Malerei und von Kunst zum Schauplatz und zum diskursiven Austragungsort solcher Vorstellungen. Allerdings steht keineswegs im Vorhinein fest, dass die religiösen, 4 Zu Beispielen im Anschluss an Lessings berühmten „Raffael ohne Hände“ siehe: Einfüh­ rung II. Anm. 1. 5 Zur Unterscheidung von präformativen und epigenetischen Erklärungsweisen in der Biologie und deren philosophischer Aneignung siehe: Catherine Malabou, Before Tomorrow. Epigenesis and Rationality, Cambridge, UK (Polity Press), 2016.

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politischen und ökonomischen Symbolisierungsversuche sich irgendwann in Kunst transformieren werden; auch kann die Malerei – insbesondere in der Tradition des synthetischen Bildes – als Teil einer spezifischen Bild-Kultur symbolisiert werden, vor allem, seit es durch die modernen Reproduktionstechniken im 19. Jahrhundert zu einer immer stärkeren Trennung von Bild und Malerei kommt. Entscheidend für die Niederländische Malerei scheint mir deshalb zu sein, dass sie sich weder ausschließlich als Kunst noch als Kultur begreifen lässt, sondern die Differenzierung dieser Begriffe als unterschiedliche Modalitäten der Symbolisierung selbst mit hervorgebracht hat. Ebenso steht dem empirisch-archäologischen Ansinnen dieses Buches auf der methodischen Ebene ein spezifisch theoretischer Anspruch zur Seite, allerdings nicht unbedingt im Sinne einer klassischen philosophischen Ästhetik. Dieser Anspruch besteht weder in einer unmittelbaren Fortschreibung der Wahrheitsästhetiken noch in deren finaler Überwindung. Vielmehr lässt sich eine Philosophie der Malerei aus meiner Sicht nur begründen, wenn die spezifische Wahrheit der Malerei und der Kunst adressiert werden kann. Hierfür scheint mir vor allem entscheidend, dass Phänomene und System gerade nicht zur Deckung gelangen;6 Praktisch-Empirisches und BegrifflichTranszendentales müssen als kategorisch different und doch dynamisch im Sinne konstitutiver Austauschverhältnisse als aufeinander bezogen begriffen werden. Kein begriffliches System ist vorgegeben, in das man die konkreten malerischen Praktiken nur einschreiben müsste; und die Praktiken realisieren sich keineswegs in technischen Malweisen und im Rahmen vorgegebener Schemata von Gestaltung und Bedeutung; sie sind nun notwendigerweise auf ein Ideelles hin ausgerichtet. Dieses Ideelle betrifft jedoch nicht mehr die Wesensform von Gegenständen oder Körpern im platonischen Sinne; vielmehr zielt es auf Vorstellungsweisen des Bildes, der Malerei und der Kunst, wodurch der je eigenen Praxis erst Sinn unterstellt werden kann. Vor diesem Hintergrund wird das Konzeptuelle als eine Form von Praxis, wie wir es im Rahmen von Moderne und Avantgarde kennen, überhaupt erst vorstellbar. Doch auch im Konzeptuellen ist letztlich die Differenz von Praxis und Begriff nicht auflösbar; es kennzeichnet im besten Fall einen Grenzwert einer letztlich unerreichbaren Annäherung. Deshalb sind sowohl die historische Empirie als auch der spekulative Einsatz in Hinblick auf Bildideen, Kunstbegriffe und Wahrheitsansprüche unverzichtbar. Dies macht es jedoch nicht einfach, einen konkreten For­schungsstand für 6 Siehe: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.), Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik, Hamburg (Felix Meiner) 2016.

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mein methodisches Unterfangen zu benennen. Das genealogische Interesse verdankt sich in erster Linie Michel Foucault, dessen „Archäologie der Humanwissenschaften“ für mich immer schon die Frage nach einer entsprechenden Rekonstruktion des modernen Kunstbegriffs aufrief,7 aber auch der marxistischen Diskussion um den „Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus“, insbesondere der darin verankerten Kritik am liberalen, alle traditionellen Fesseln abwerfenden Subjekt-Verständnis, wie es die Legenden der modernen Kunstkritik bis heute heimsucht. Diese Kritik findet sich exemplarisch in Ellen Woods Studie über die Ursprünge des Kapitalismus.8 An spekulativen Bildbegriffen anzusetzen bzw. überhaupt das Bild als zentralen konzeptuellen Einsatz im Denken frühneuzeitlicher Malerei und Kunst zu sehen, ist wiederum nicht ohne Hinweis auf die Filmtheorie von Gilles Deleuze zu verstehen. Meine Bildbegriffe lassen sich deshalb problemlos als Analogiebildungen zum Zeitbild und zum Bewegungsbild, zu Wahrnehmungs-, Affekt- und Aktionsbild lesen.9 Die Zuversicht, mich aus der Perspektive einer kritischen Auseinandersetzung um zeitgenössische Kunst heraus mit der Geschichte der Niederländischen Malerei und ihrer kunsthistorischen bzw. kunstkritischen Erfassung zu beschäftigen, verdankt sich der Lektüre von Victor I. Stoichitas bahnbrechendem Werk „Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei“,10 anhand dessen mir klar wurde, wie sehr noch die zeitgenössischen künstlerischen Praktiken von der Niederländischen Malerei geprägt sind. Gegenüber Stoichitas strikt „intertextuellem“ Ansatz hoffe ich, stärker die dynamisierenden Faktoren der Kunstwerdung von Malerei ins Auge fassen und damit die historischen und sozialen Bedingungen, die institutionellen und diskursiven Gegebenheiten und schließlich die besonderen künstlerischen Positionierungen in der Malerei adressieren zu können, die mir um ein Vielfaches komplexer und interessanter zu sein scheinen als es die zeitgenössische Kunstliteratur wahrhaben wollte. Generell hat sich die Kunstgeschichte seit den 1970er-Jahren in sozial-, wirtschafts- und ideengeschichtlicher Perspektive vermehrt auf die Niederländische Malerei und hierbei insbesondere auf die Rolle Antwerpens im globalen Kontext konzentriert. Dank der Arbeiten von 7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Ein Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974. 8 Ellen M. Wood, The Origins of Capitalism. A longer View, London, New York (Verso) 2002; Paul Sweezy, Maurice Dobb u.a. (Hg.), Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Frankfurt am Main (Syndicat) 1987. 9 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996; Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996. 10 Victor  I Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München (Fink) 1998.

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Svetlana Alpers, Hans Belting, Margaret D. Carroll, David Freedberg, Daniela Hammer-Tugendhat, Charlotte Houghton, Elisabeth  A.  Honig, Larry Silver, Todd Richardson oder Filip Vermeylen, um nur einige wenige hervorzuheben, ist heute ein komplexes Bild der Niederländischen Malerei verfügbar. Mir geht es darum, diese Forschung in ihrer modernitätstheoretischen Bedeutung zu erfassen und in die aktuellen kunstkritischen bzw. philosophischen Diskussionen einzubringen. Dies scheint mir insbesondere für das Selbstverständnis der modernen Kunstkritik in ihren modernistischen, avantgardistischen und realistischen Spielarten brisant zu sein. Hinsichtlich der Auseinandersetzung um eine Genealogie des Realismus in der Malerei bin ich insbesondere dem Austausch mit Andrew Hemingway verpflichtet. Für die Diskussion der modernistischen Kunstkritik und ihrer Verwurzeltheit in den idealistischen Wahrheitsästhetiken hat mir die Lektüre von Robert Pippins „After the Beautiful. Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism“ wichtige Anregungen geboten,11 auch wenn ich weder die philosophischen noch die kunstkritischen Konsequenzen seiner Argumentation teile. Pippins These, dass sich der Hegel’sche Wahrheitsanspruch an die Kunst in der modernen Malerei und ihrer kunstkritischen Rekonstruktion bei Michael Fried und T. J. Clark einlöse, erscheint mir zutiefst fragwürdig. Das Hegel’sche Erbe muss vielmehr in seiner eigenen Historizität ebenso wie in seiner Unabgeschlossenheit bzw. Unabgegoltenheit bis heute verstanden werden. Hierfür sind sowohl die philologische Diskussion um die Editionen von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik durch Annemarie Gethmann-Siefert als auch die spekulative Aneignung der Hegel’schen Philosophie durch Slavoj Žižek relevant.12 In der Diskussion um das Verhältnis von Wahrheits- und Erfahrungsästhetik im Anschluss an Rüdiger Bubner nehme ich dementsprechend keine anti-, sondern eine post-idealistische Position ein, deren Wahrheitsbegriff sich am besten in Gerhard Gamms Formulierung einer „Wahrheit als Differenz“ ausdrückt.13 Sie 11 Robert  B.  Pippin, After the Beautiful. Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism, Chicago, London (The University of Chicago Press) 2014. 12 Etwa: Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon, Karsten Berr (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005; Annemarie Gethmann-Siefert, Alain Patrick Olivier (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Vorlesungsmitschrift Adolf Heimann (1828/29), Paderborn (Fink) 2017. Slavoj Žižek,Weniger als nichts: Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin (Suhrkamp) 2016. 13 Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989; Andrea Kern, Schöne Lust: Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2000; Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003; Gerhard Gamm, Wahrheit als Differenz, Bodenheim (Hain) 1997.

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Vorwort

scheint mir hervorragend den Kern meiner theoretischen Begrifflichkeit, ein Post-Lacanianisches Verständnis des Symbolischen, zu kennzeichnen. Denn die historisch-strukturelle Rekonstruktion von empirisch-transzendentalen Austauschverhältnissen als den Bedingungen und Voraussetzungen der modernen Wahrheitsästhetik soll im Rahmen einer Theorie des Symbolischen versucht werden. Erst innerhalb der spezifischen symbolischen Ordnung der Moderne mit ihren konstitutiven Aufteilungen zwischen Politik und Ökonomie, Wissenschaft und Kunst, Gesellschaft und Geschichte kann Malerei als Kunst und somit als spezifisch wahrheitsfähig begriffen werden.14 Die wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb dieses symbolischen Gefüges bedingen die Möglichkeit, Wahrheit zu generieren, allerdings zu den Bedingungen dieser Aufteilungen. Die Wahrheit der Kunst bleibt somit der Wahrheit der Wissenschaft, der Politik, der Ökonomie stets verbunden, wenn auch durch negative Abgrenzungsakte vermittelt. Hinzu kommt für alle spezifisch modernen symbolischen Formen die kategorische, empirisch-transzendentale Spaltung in ihrem Inneren, die keine Aufhebung kennt. Die Kategorie des Symbolischen erlaubt, Wahrheit und historische Bedingtheit im konstitutiven Bezug aufeinander zu thematisieren, und somit weder Relativität noch Absolutheit, weder Positivität noch Negativität als jeweils reine Bestimmungen von Wahrheit beanspruchen zu müssen. Der philosophischen Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer solchen, von kontradiktorischen Bestimmungen ausgehenden Vorstellung von Wahrheit – relativer, kontingenter, historischer Wahrheit – steht hier die taktisch-politische Frage nach dem Umgang mit dem kategorisch Unbestimmten und Umstrittenen von Malerei und Kunst als spezifisch modernen Wahrheitsformen zur Seite. Entscheidend scheint mir hierfür zu sein, dass, auch wenn wir den heroischen, fundamentalästhetischen Wahrheitsansprüchen einer ebenso idealistischen wie imaginären Moderne gegenüber etwas skeptisch geworden sein mögen, sich doch nur aus ihnen heraus weiterhin sinnvoll über Malerei und bzw. als Kunst diskutieren lässt.15 Dementsprechend beginnt dieses Buch mit zwei Einführungen, einer, die mehr die philosophisch-symboltheoretischen Aspekte ins Auge fasst und einer, die sich an den archäologischen Fragen ausrichtet. Die vier Hauptkapitel, die dem Bild als Schwelle, dem antagonistischen, dem analytischen und dem 14 Zu meiner post-Lacanianischen Verwendung des Begriffs der „symbolischen Ordnung“ siehe vom Vf.: „Traumatic or Utopian Other? Conditions of Emancipation: Phantasy, Reality, and Depression“, in: Filozofski vestnik, Vol. 38 No. 3 (2017), S. 79–90. https://ojs. zrc-sazu.si/filozofski-vestnik/article/view/6695. 15 Da diese Begriffe im Rahmen der modernen symbolischen Ordnung unmittelbar mit Wissenschaft und Politik, Ökonomie und Religion, Gesellschaft und Geschichte verbunden sind, betrifft jedes Sprechen über Malerei, zumindest implizit, diese anderen symbolischen Formen immer schon mit.

Vorwort

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synthetischen Bild gewidmet sind, entfalten den archäologischen Ansatz, wobei die philosophische Dimension stets mit gedacht wird, bevor dann in den beiden Schlusskapiteln das Nachleben der Niederländischen Malerei in seiner praktischen wie diskursiven Dimension skizziert und die kunstkritischen und die philosophischen Aspekte in ihren politisch-taktischen Konsequenzen diskutiert werden. Die einzelnen, eher philosophischen, kunstkritischen oder kunsthistorischen Kapitel dieses Buches können je nach Interesse auch separat gelesen werden. Sie sind jedoch im ständigen Austausch miteinander entwickelt und nur darin möglich geworden. Besonderer Dank geht an Kathrin Busch, die mir an entscheidenden Stellen des Projekts mit Hinweisen und kritischer Reflexion weitergeholfen hat; ferner an Antonia Birnbaum, Daniela Hammer-Tugendhat, Andrew Hemingway, Isabelle Graw, Hannes Loichinger und Hans-Jürgen Hafner. Sie alle sind mir mit konstruktiver Kritik und wertvollen Hinweisen zur Seite gestanden. Alexander Alberro und John Miller haben mir ermöglicht, einen ersten Entwurf am Barnard College in New York vorzustellen. Einzelne Aspekte konnte ich auch an der Zeppelin Universität Friedrichshafen auf Einladung von Karen van den Berg, an der Freien Universität Berlin auf Einladung von Elke Werner, an der Kunsthochschule Mainz auf Einladung von Linda Hentschel und am German Department der University of California in Berkeley auf Einladung von Marita Tatari präsentieren; kurz vor seiner Fertigstellung war es mir möglich, das gesamte Projekt in einem dreitägigen Seminar bei Jürgen Bock an der Maumaus in Lissabon zur Diskussion stellen. Danken möchte ich auch all jenen, die über Jahre hinweg an meinen Seminaren an der Universität für Angewandte Kunst in Wien teilgenommen haben, und mir damit geholfen haben, die entscheidenden Argumente dieses Buches immer wieder zu testen und zu revidieren. Ebenso bin ich dem bewährten Lektorat von Anna Spohn und Ralf Eckschmidt verpflichtet sowie der großen organisatorischen Unterstützung durch Martina Dragschitz. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Sara de Bondt für die Gestaltung des Covers, bei Bernadette Van-Huy für die Bildvorlage und nicht zuletzt beim Rektor der Universität für Angewandte Kunst, Gerald Bast, für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ohne die jahrzehntelange Diskussion mit Künstlern und Künstlerinnen über Malerei und Kunst hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Sie wissen, wer sie sind. Schließlich würde es dieses Buch ohne den Austausch mit Megan Francis Sullivan – insbesondere hinsichtlich der Balance von Geschichte und Gegenwart – nicht geben. In der gemeinsamen Zeit in Antwerpen im Spätsommer 2015 hat es seinen Ausgang genommen.

Abb. 1 Robert Campin (Meister von Flémalle) und Werkstatt, „Mérode-Triptychon“ oder „Verkündigungs-Triptychon“, 1427–1432, New York, The Cloisters, 64,5 × 117,8 cm. Linke Seitentafel: 64.4 × 27.3 cm.

Kapitel 1

Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit 1.1.

Die Kunstwerdung der Malerei

Kunst ist moderne und zeitgenössische Kunst. Es gibt keineswegs eine alte und eine moderne Kunst; vielmehr ist Kunst überall, wo sie als Kunst auftritt, bereits modern bzw. zeitgenössisch, eben weil ihr Begriff konstitutiv mit der Moderne verbunden ist. Gibt es also keine Kunst, bevor ihr Begriff fassbar wird?1 Im strengen Sinne sicherlich nicht; erst ein retroaktives, geschichtsphilosophisches Element im Kern des modernen Kunstbegriffs lässt vormoderne Gegenstände und Praktiken als Kunst erscheinen. Wenn etwa die altgriechische Tragödie lange Zeit als Inbegriff der Kunst und als höchste Form ihrer Bestimmung verstanden wurde, dann zweifellos nur vor dem Hintergrund einer solchen retroaktiven Zuschreibung, denn in der Antike bleibt die Tragödie im rituellen Rahmen und ist daher nicht Kunst im modernen Sinn.2 Auch die alte Kunst ist daher moderne Kunst, sobald wir sie als Kunst auffassen. Etwas als Kunst aufzufassen wiederum heißt, Gegenstände und Praktiken in Zusammenhang mit einem Begriff von Kunst zu bringen, wie er erst am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist bzw. seine entscheidende semantische Ausprägung im Sinne einer weitgehend eigenständigen symbolischen Ausdruckskategorie erfahren hat, die sich von ähnlichen Kategorien wie Wissenschaft und Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Religion und Recht abgrenzen lässt. Als solche ist der Begriff der Kunst ein entscheidender Bestandteil des modernen Symbolischen und mit jenen anderen Kategorien auf vielfältige Art verknüpft. Er kann daraus nicht herausgelöst werden, weder im Sinne einer tatsächlich autonomen Bestimmung noch im Sinne einer Überwindung

1 Ich formuliere diese Frage im Anschluss an die Frage, ob es eine Philosophie vor dem Begriff der Philosophie gäbe. Hierzu siehe: André Laks, The Concept of Presocratic Philosophy. Its Origin, Development, and Significance, Princeton, Oxford (Princeton University Press), 2018. Den Begriff der Kunst gibt es bereits seit der Antike, doch erfährt er im Laufe des 18. Jahrhunderts eine massive Bedeutungsverschiebung, die unser heutiges Verständnis entscheidend geprägt hat. Hatte etwa der altgriechische Begriff der téchne noch Technik wie Kunst umfasst, so werden diese beiden Dimensionen des Begriffs in der Moderne zu Gegensätzen. 2 Siehe: Marion Giebel, Sophokles: Antigone. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart (Reclam) 2003, S. 24f: „Die griechische Tragödie ist ein religiöses Drama.“



  

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Kapitel 1

oder Abschaffung. Denn Kunst schreibt sich selbst in den Rhetoriken ihrer ‚Liquidierung‘ noch fort. Die entscheidende Frage dieser Untersuchung lautet daher: Wie kann etwas Kunst werden? Und was leistet dieses etwas als Kunst in der Moderne und in der Gegenwart? Seit dem Idealismus wird die Antwort auf diese Fragen im Wesentlichen wahrheitsästhetisch gefasst. Indem etwas einen Wahrheitsanspruch als Kunst erhebt, erweist sich seine Modernität, selbst dort, wo diese Wahrheit als zeitlos, uralt oder ursprünglich begriffen wird.3 Denn die Wahrheit des Zeitlosen, Uralten oder Ursprünglichen kann nur im Aktuellen liegen, von dem aus sie behauptet wird; und umgekehrt benötigt das Aktuelle eine wahrheitsbezogene – geschichtsphilosophische, ästhetische oder politische – Dimension, ansonsten bliebe es einfach akzidentiell. Die Wahrheit der Kunst liegt also kategorisch in der Zeit. Sie muss aktualisiert werden und verfehlt gerade darin ihren überzeitlichen Anspruch als Wahrheit wie als Kunst. Je weniger kanonische Wahrheit verfügbar ist, desto dringlicher muss Kunst aktuell sein; je aktueller sie wird, desto mehr wird allerdings ihr überzeitlicher bzw. kanonischer Geltungsanspruch vermisst. Die Thematisierung ihres Inder-Zeit-Seins, ihrer spezifischen Historizität als Modernität ist also unabdingbar, um ihrer symbolischen Form gerecht werden zu können.4 Zwei grundlegende Bedingungen scheinen mir nun für die Historizität der Kunst als einer Wahrheit in der Zeit gegeben: zum einen eine strukturelle Negativität, die man mit Georg Lukács als „transzendentale Obdachlosigkeit“ oder allgemein als ein Scheitern jeder substanziell metaphysischen, politischen oder kulturellen Verankerung der Moderne beschreiben kann. Kunst lebt also wesentlich davon, dass ihr sowohl transzendent als auch innerweltlich unmittelbar ein Grund fehlt, von dem aus sie begründet werden könnte.5 Dort, wo ein solcher Begründungsakt gelänge, gäbe es keine Kunst mehr. Kunst symbolisiert zuallererst eine solche Abwesenheit oder Negativität; sie verkörpert Wahrheit genau dort, wo keine zu finden ist. Wahrheitsästhetiken 3 Keineswegs verfehlt die „Wahrheitsästhetik mithin die Kunst als Kunst“. In diesem Sinne: Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg (Junius) 2013, S. 42. Ganz im Gegenteil begründet die Wahrheitsästhetik die Kunst als Kunst. 4 Moderne Kunst überwindet daher die alte nicht; sie bringt sie vielmehr erst als solche zur Erscheinung. Moderne Kunst ist in diesem Sinne selbst immer schon potenziell veraltet, der je eigenen Überwindung ausgesetzt. 5 Die Grundlosigkeit der modernen Welt im Sinne einer links-heideggerianischen, postmarxistischen politischen Philosophie beschreibt Oliver Marchart als „post-foundational“, im Deutschen leicht irreführend als „post-fundamentalistisch“ wiedergegeben. Siehe: Oliver Marchart, Die Politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin (Suhrkamp) 2010.

Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit

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entstehen deshalb in dem Moment, in dem – nach 1794 – das Scheitern der revolutionären Gründungsabsicht erstmals erfahrbar geworden war.6 Zum anderen gibt es eine strukturelle Positivität, die sich als das diskursive, institutionelle, mediale und marktförmige Geflecht der modernen Welt verstehen ließe. Hier lässt sich tatsächlich eine positiv bestimmbare Wahrheit der Kunst fassen, allerdings nur im Durchgang durch dieses Geflecht und um den Preis der daran geknüpften Bedingungen. Wahrheit stellt hier den Zielhorizont der unterschiedlichen Prozeduren dar, deren wesentlicher Zweck darin besteht, die einzelnen, in subjektiven Ansprüchen gründenden Werke oder Praktiken auszuwählen, zu prüfen und derart allgemeine Werte zu generieren bzw. sicherzustellen. Die Positivität dieser Werte – ihre Geltung als Wahrheit – bleibt jedoch kategorisch vorbehaltlich. Jeder noch so kanonisierte Wahrheits-Anspruch kann jederzeit wieder durch eine weitere, subjektive Behauptung in Frage gestellt werden, und es ist auch keineswegs gegeben, dass die jeweils ausgewählten Werte in der rezeptiven Aneignung auch tatsächlich akzeptiert werden. Die diskursiven, institutionellen, medialen und marktförmigen Verfahren stellen daher zunehmend das soziale Feld dar, in dem produktions- wie rezeptionsbezogene Erfahrungen gemacht, ausgetauscht und verhandelt werden. Wahrheit bleibt hier konstitutiv auf Erfahrung bezogen, während umgekehrt auch die Erfahrungen keineswegs rein empirisch zu verstehen, sondern immer schon auf einen gemeinsamen Horizont von Wahrheit bezogen sind. Dieser Horizont von Wahrheit ist selbst wiederum durch die Struktur der modernen symbolischen Ordnung bedingt. Er erlaubt und fordert, die spezifisch ästhetischen oder künstlerischen Erfahrungen im Unterschied zu politischen, ökonomischen, psychologischen oder sozialen Erfahrungen ebenso zu positionieren wie die Subjektivität jeder produktiven wie rezeptiven Erfahrung in Relation zum diskursiven, institutionellen, medialen und marktförmigen Gefüge der modernen Welt zu platzieren. Die Positivität dieser Wahrheitsform ist somit konstitutiv relativ. Wie kann dieser komplexen symbolischen Struktur des modernen Kunstbegriffs Rechnung getragen werden – sowohl der strukturellen Negativität der Wahrheit als einem ontologisch-politischen Gründungsereignis gegenüber als auch hinsichtlich der zutiefst vermittelten und darin relativen Positivität einer Erfahrungs-Wahrheit? Zweifellos nicht, indem das Problem reduziert und versucht wird, das historisch Spezifische dieser strukturellen Bestimmungen und ihren intrinsischen Zusammenhang loszuwerden. Aus dieser Perspektive erscheint es weder sinnvoll, hartnäckig an einem absoluten, 6 Ich beschreibe diesen Moment an anderer Stelle als „Schillerean Moment“, siehe vom Vf., „Art and the Non-Existence of Public Space“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, 2019.

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Kapitel 1

positiven oder negativen Wahrheitsanspruch der Kunst festzuhalten noch sich mit den reinen Erfahrungs-Wahrheiten des institutionellen, diskursiven, medialen und marktförmigen Geflechts, das heißt mit dem Kunstbetrieb wie wir ihn kennen, zufrieden zu geben.7 Die Negativität einer BegründungsWahrheit und die Positivität der Erfahrungs-Wahrheit sind vielmehr immer schon aufeinander bezogen; sie bedingen einander wechselseitig in ihrer Differenz. Negativität heißt nichts anderes, als dass die Unmöglichkeit einer rein zeitlos-ontologischen Bestimmung von Kunst zur Bedingung der Möglichkeit von Wahrheitsästhetiken werden konnte; Positivität kennzeichnet die vielen Möglichkeiten an Erfahrung, die die modernen institutionellen, marktförmigen, medialen und diskursiven Strukturen bieten, die wiederum in der Unmöglichkeit der Erfahrung wurzeln, in reiner Empirie bzw. Aktualität aufzugehen. Daher fordert die Negativität der Begründungs-Wahrheit ebenso eine bestimmte Form der Erfahrung wie die Erfahrungs-Wahrheit eine transzendentale Ausrichtung braucht. Kunst ist der symbolische Raum dieses Verhältnisses, eine jener entscheidenden symbolischen „empirischtranszendentalen Dubletten“ der Moderne,8 die ihre Möglichkeit im Unmöglichen, ihr Bestimmtes im Unbestimmten finden.9 In diesem Sinn gibt es also zweifellos Bedingungen der Kunst.10 Gerade ihr Unbedingtes ist historisch und gesellschaftlich immer schon markiert. Gleichzeitig geht es jedoch in dieser Bedingtheit nicht auf und widersteht somit jeder voluntaristisch verstandenen Verfüg- oder Veränderbarkeit. Denn Geschichte und Gesellschaft sind selbst Formen des modernen Symbolischen; erst im Austausch mit ihnen kann Kunst die ihr eigene Symbolisierungsleistung erbringen, nämlich das Unbedingte der Zeitlosigkeit ihrer Geltung in den Horizont von Geschichte und Gesellschaft, 7 Warum also nicht gleich den Begriff Kunst aufgeben und sich wichtigeren Dingen widmen, wie man es immer wieder hört? Weil auch diese wichtigeren Dinge, etwa als Politik, als Wissenschaft, als Ökonomie oder auch Religion, mit dem Begriff der Kunst symbolisch verbunden sind. Und wir deshalb am Beispiel des Begriffs der Kunst etwas über die symbolische Dimension jener anderen Register verstehen lernen. 8 Foucault spricht vom Menschen als einer „empirisch-transzendentalen Dublette“, siehe: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1978, S. 384–389. 9 Ihr Ontologisches ist dem Symbolischen nicht entgegengesetzt oder als Reales vorgeordnet. Es kann nur durch das Symbolische hindurch ontologisch sein bzw. sich in einer Art von ontisch-ontologischer Differenz, der Differenz von Zeitlosigkeit und Aktualität, Wahrheit und Erfahrung ausdrücken. 10 Vgl. Jean-Luc Nancy, „Philosophy without Conditions“, in: Peter Hallward (ed.), Think Again: Alain Badiou and the Future of Philosophy, London, New York (Continuum) 2004, S. 39–49.

Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit

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und somit in der Zeit, einzuschreiben.11 Nur in dieser symbolischen Verstrickung repräsentiert Kunst sowohl die abwesende, absolute Wahrheit als auch die Fülle an relativen und tendenziell beliebigen Erfahrungen. Sie zeigt somit keineswegs einen Ausweg aus dem Dilemma moderner Wert-, Geltungsoder Kanon-Fragen an; sie indiziert nur die Radikalität des Problems. Die konkreten Formen, Werke und Praktiken der modernen Kunst werden üblicherweise im Rahmen bestimmter historischer Narrative – im Wesentlichen als Modernismus, Avantgarde oder Realismus – gelesen, in denen dieses radikale Problem einer Wahrheit in der Zeit und somit die strukturelle Bedingtheit des Unbedingten der Kunst zum Verschwinden gebracht wird. Hier scheint moderne und zeitgenössische Kunst gerade in ihrer jeweiligen Zeitlichkeit – als augenblickliche Erfüllung, im Akt der Überschreitung oder in einer Form von transformativer bzw. transhistorischer Entwicklung – tatsächlich zu gelingen. Die Zeit erfüllt sich in diesen Bestimmungen; sie enthüllt die Wahrheit und beseitigt somit das Problem sowohl ihrer Negativität als auch ihrer Vermitteltheit. Das heißt, die radikale Kontingenz der Wahrheit in der Zeit wird eingehegt und stillgestellt. Überdies handelt es sich zumeist um heroische Narrative, die vom Tathandeln einzelner exemplarischer Subjekte ausgehen, deren Einsatz und Einfluss man nur getreulich nachzuzeichnen bräuchte, um der Idee der Moderne als Überwindungsgeschichte des Alten und der Beseitigung aller einschränkenden Fesseln auf dem Weg zu einer Selbstbestimmung in reiner Freiheit auf die Spur zu kommen. Doch die Moderne ist keineswegs eine Erfolgsgeschichte des Imaginären, die nur konsequent genug befolgt werden müsste.12 Sie gelingt nicht, auch nicht in ihren exemplarisch herausgehobenen Subjekten. Entscheidend ist vielmehr, dass der individualistisch-imaginäre Anspruch im besten Fall symptomhaft den symbolischen und sozialgeschichtlichen Prozess repräsentiert, innerhalb dessen sich Kunst als exemplarisches – ebenso ontologisches wie politisches, kulturelles wie soziales – Problem der Moderne stellt. In und an diesem Symptomhaften der imaginären Überwindungs-Narrative zeigen sich jedoch Spuren einer anderen Geschichte, die mehr von einer symbolischen Moderne erahnen lassen.13 Eine symbolische Moderne wäre nicht im Sinne tatsächlich 11

Wir haben es hier also weder mit einem rein subjektiven noch einem rein objektiven Zeitbegriff zu tun, sondern mit einer geschichtlich-gesellschaftlichen Form der Zeit, aus der heraus erst subjektive und objektive Zeit unterscheidbar werden. 12 Sie ist vielleicht und hoffentlich auch keine reine Desaster-Geschichte. 13 Zum Begriff der symbolischen Moderne siehe vom Vf., Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Wien (Turia + Kant) 2017, S. 40–43.

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Kapitel 1

erreichter Ansprüche an das Gelingen von Kunst zu erzählen, sondern als eine Geschichte der konstitutiven Abdriften von den Ansprüchen an Wahrheit und Erfahrung, Zeitlosigkeit und Aktualität, Möglichkeit und Unmöglichkeit zu rekonstruieren. Das heißt nicht, dass Kunst nur im Scheitern gelingen kann, sondern dass sie im strengen Sinn gar nicht gelingen kann, und ihr Scheitern jenen Horizont an Möglichkeit kennzeichnet, innerhalb dessen sie einzig der doppelten – negativen wie positiven – Bestimmtheit der Wahrheit in der Zeit gerecht zu werden vermag. Nur darin kann die Kontingenz angenommen und in einer genealogischen Perspektive dargestellt werden, in der sie nicht imaginär überwunden wird, sondern in ihrer spezifischen Form von Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit sichtbar wird, und zwar an jenen Schnittstellen, an denen die symbolischen Kategorien von Geschichte und Gesellschaft – als Erfahrungszeit und Erfahrungsraum – überhaupt erst hervorgebracht werden. Wie also wird etwas geschichtlich und gesellschaftlich zur Kunst? Die These dieses Buches wird sein, dass die Malerei ein solches Etwas darstellt und dass sie als exemplarisches Medium einer Erfahrung der Wahrheit in der Zeit aufgefasst werden kann. Malerei ist nicht nur das transitorische Element schlechthin, an dem sich die Kunstwerdung bestimmter Gegenstände, Praktiken und Bildauffassungen zeigen lässt. In der besonderen Form ihrer Geschichtlichkeit als ein Allgemeinbegriff – die Malerei – werden sowohl die strukturell negativen als auch die strukturell positiven, vielfach vermittelten Momente einer symbolischen Moderne fassbar. Gerade in ihrer fundamentalen Unbestimmtheit und Umstrittenheit, nicht nur hinsichtlich ihrer Geltung, Bedeutung oder Aktualität, sondern ob sie als ein solcher Allgemeinbegriff überhaupt existiert, ist sie zum Gradmesser dessen geworden, was im Namen der Kunst möglich ist bzw. modern und zeitgenössisch sein kann. Hatte die einst populäre These vom Ende der Malerei – im Gefolge von Hegels These vom Ende der Kunst – noch eine imaginäre Lesart im Sinne einer Einhegung der Zeit im teleologischen Verständnis impliziert – in dem Sinn, dass die Malerei tatsächlich an ihr Ende gekommen sei –, so soll hier eine symbolische Lesart erprobt werden, in der das Ende der Malerei genau jene strukturelle Negativität repräsentiert, die durch die Malerei als Kunst bearbeitbar bleibt. Denn die Transformation der Malerei in Kunst geschieht nicht nur durch das Gefüge ihrer diskursiven, institutionellen, medialen und marktförmigen Bedingungen hindurch; dieser Prozess generiert als eine fortwährende Überwindungsgeschichte erst jene Vorstellung von einem möglichen Ende der Malerei als eine ihr inhärente Negativität, die unmittelbar mit den Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten gesellschaftlicher oder kultureller Repräsentation bzw. Gründung in Zusammenhang steht.

Einführung I: Die Wahrheit in der Zeit

1.2.

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Ästhetik der Wahrheit oder Philosophie der Malerei?

Wahrheit scheint im alltäglichen Sprachgebrauch keine besondere ästhetische oder künstlerische Kategorie zu sein. Auf die Malerei bezogen wird sie meist nur in dem trivialen Sinn hinsichtlich der richtigen Darstellung von Objekten auf einer Bildfläche diskutiert. Doch je besser eine solche Darstellung gelingt, desto trügerischer wird das Bild als Ganzes, und deshalb sind Maler traditionell eher als Fälscher, als Experten des Betrugs und nicht als Enthüller der Wahrheit betrachtet worden. Das ändert sich in der Moderne dramatisch. Heute muss ein Gemälde wie jedes Kunstwerk eine Anmutung von Wahrheit haben, ansonsten kann ihm kaum ein Wert zugesprochen werden. Innere Wahrhaftigkeit und äußere Einsicht in das Wesen der Dinge werden hierbei als miteinander korrelierend begriffen, und in dieser Hinsicht unterscheiden sich die einzelnen Stränge der modernen Kunst – wie sie in den kunstkritischen Narrativen von Modernismus, Avantgarde und Realismus fassbar werden – kaum voneinander. Moderne Kunst scheint im Gesamten von einer Ästhetik der Wahrheit beherrscht zu werden, und dieser besondere Anspruch reproduziert sich noch im postmodernen und zeitgenössischen Denken.14 Bezeichnend ist, dass keine der im Laufe des 18. Jahrhunderts entstandenen ästhetischen Kategorien: das Schöne und das Erhabene, das Malerische und das Groteske, das Anmutige oder das Anrührende geeignet zu sein scheint, um ihre spezifischen Werte und Leistungen anzuerkennen. Vielmehr sind es existenzielle Ideale wie Autonomie und Freiheit, Authentizität und Originalität, Souveränität oder Totalität, in denen sich die zentralen Werthorizonte der modernen und zeitgenössischen Kunst ausdrücken. Diese Ideale, die im Wesentlichen im politischen Diskurs des 16. bis 18. Jahrhunderts verwurzelt sind, kennzeichnen gerade keine ästhetischen oder sinnlich-empirischen Erscheinungsweisen; sie verweisen jedoch auf einen gemeinsamen Horizont von Wahrheit. Ihre Karriere als entscheidende Kategorien für die Beurteilung von Kunst kann deshalb nur im Sinne einer grundlegenden Verschiebung im Verständnis des Ästhetischen von der sinnlichen Wahrnehmung hin zum 14 Ich bezweifle grundlegend die Annahme rein erfahrungstheoretischer Argumentation, dass wir es in der zeitgenössischen Kunst seit den 1960er-Jahren mit etwas fundamental Neuem zu tun hätten, das eine kategorische Abkehr von den idealistischen Kategorien des Werks und der besonderen Autorschaft im Namen einer rezeptiven Erfahrung erforderte. Siehe: Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, und die daran anschließende Diskussion bei Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main, 2003, und bei Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg (Junius) 2013.

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Kapitel 1

symbolischen Ausdruck, von einer reflexiven Erfahrung zu einer spekulativen Philosophie von Kunst verstanden werden. An der Kunst der Moderne und der Gegenwart ist daher kaum etwas ästhetisch, zumindest nicht im Verständnis des 18. Jahrhunderts.15 Wie aber können Gemälde oder Kunstwerke16 im Allgemeinen als wahr begriffen werden? Und wie können wir uns dementsprechend eine Ästhetik der Wahr­ heit vorstellen? Ist Wahrheit nicht im Wesentlichen eine wissenschaftliche, religiöse oder philosophische Kategorie? Und war nicht das Argument im 18. Jahrhundert, dass es einen bestimmten Bereich im kulturellen Leben gibt, der gerade nicht von der Wahrheit regiert wird, sondern von etwas kategorial Undefiniertem – etwa Pierre Marivaux’ je ne sais quoi –, und dass dieser Bereich der wahre Bereich der Kunst sei? Das heißt, in den Überlegungen der Frühaufklärung zur Kunst im Allgemeinen wird Kunst als etwas definiert, das sich der religiösen, wissenschaftlichen und philosophischen Wahrheit entzieht, und es ist dieser Entzug, der sie erst als Kunst definiert. Wie konnte sich dieser Bereich des Unbestimmten, bezogen auf die ‚niedrigeren‘ Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung und des subjektiven Geschmacks, in das höchste Potential des menschlichen Geistes verwandeln, den unmittelbaren Ausdruck und die Verkörperung des Absoluten, als welche Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im „System des Transzendentalen Idealismus“ (1800) die Kunst auffasst? Interessanterweise gibt es hier keinen wirklichen Widerspruch, denn gerade die Domäne des Unbestimmten – des NichtDefinierbaren oder Unbewussten – legt den Boden für ein ‚höheres‘ Wahrheitsverständnis, eine spezifisch künstlerische Wahrheit, die sogar jeden religiösen, wissenschaftlichen oder philosophischen Wahrheitsanspruch im Sinne einer „intellektuellen Anschauung“ zu übertreffen in der Lage ist.17 Hier werden unterschiedliche Wahrheitsauffassungen sichtbar, die gleichzeitig verschiedenen kulturellen Ausdrucksweisen – Wissenschaft, Kunst oder Philosophie – zugeordnet werden, und somit die grundlegende Frage aufwerfen, was Wahrheit unter den Bedingungen der Moderne überhaupt sein kann. Gleichzeitig wird hier ein radikal wahrheitsästhetischer Anspruch spürbar, der nicht nur die idealistische Kunstphilosophie betrifft, sondern für jede Vorstellung von Kunst seither bedeutsam geworden ist. Denn der typisch 15 Auch keine Ästhetik der Hässlichkeit wird dem wahrheitsästhetischen Anspruch moderner Kunst gerecht. 16 Die Wahrheitsfähigkeit von Bildern in der philosophischen Tradition diskutiert Ludger Schwarte, Pikturale Evidenz. Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn (Fink) 2015. 17 Zu Schelling siehe: Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 2011, insbesondere S. 233–264; dort die ältere Literatur.

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moderne Singular- und Allgemeinbegriff von Kunst trägt sowohl diesen hohen Anspruch als auch den Bezug zu den anderen kulturellen Ausdrucksweisen als symbolische Markierung immer schon in sich. In ihm verschmelzen gleichsam Kunstbegriff und Wahrheitsästhetik; und indem er jede Vorstellung von moderner bzw. zeitgenössischer Kunst durchdringt bzw. diese überhaupt erst möglich macht, schreibt er sich bis in die Gegenwart fort. Gegenüber allen Versuchen einer rein empirischen Bestimmung von moderner und zeitgenössischer Kunst – und den damit häufig einhergehenden lösungsgewissen Beschwörungen, den Idealismus im Namen etwa von Performativität, Prozessualität, Textualität, Materialität oder Medialität bereits überwunden zu haben – wird es darum gehen, den wahrheitsästhetischen Impuls des Idealismus selbst als wesentliches, transzendentales Moment der Modernität in einer ebenso genealogischen wie symbolischen Perspektive zu verstehen. Erst aus einer solchen doppelten Perspektive heraus wird es möglich sein, Kunst und Wahrheit weder als intrinsisch verschmolzen noch als strikt getrennt aufzufassen und von hier aus die taktisch-politischen Fragen nach einem möglichen Umgang mit ihrer Verhältnismäßigkeit zu umreißen. Eine Philosophie der Malerei, wie sie dieses Buch anstrebt, steht mithin auf dem historischen Boden der Wahrheitsästhetiken. Diese sollen weniger dekonstruiert als in ihrer insistierenden Bedeutung und in ihrem symboltheoretischen Zusammenhang rekonstruiert werden. Deshalb bleibt Jacques Derrida, der in seinem Buch „Die Wahrheit in der Malerei“ (1978)18 die wahrheitsästhetischen Diskurse der Moderne auf interessante Weise zugespitzt hat, für unseren Ansatz zwar ein wichtiger Stichwortgeber, der jedoch gleichzeitig den Kern der Problematik weitgehend verstellt. Denn Derrida untersucht in erster Linie die titelgebende Phrase seines Werks und ihre möglichen „idiomatischen“ Lesarten.19 In einer Reihe von Textassemblagen, Aphorismen und Abschweifungen führt er den Leser virtuos durch die literarischen Supplemente der Malerei in Form von Passepartout, Parergon, Spur und Rahmen, und verschaltet diese mit philosophischen Fragmenten der ästhetischen Theorie 18 Jacques Derrida, La vérité en peinture, Paris (Flammarion) 1978; deutsche Übersetzung: Die Wahrheit in der Malerei, Wien (Passagen) 1987. 19 Als idiomatisch begreift die Linguistik sowohl die Spracheigentümlichkeiten einer bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppe, ähnlich einem Dialekt, als auch die besondere Eigenschaft von Phrasen oder anderen Wortkombinationen, deren Bedeutung sich im Gesamten nicht aus der Bedeutung der einzelnen Bestandteile bzw. Wörter ableiten lässt. Für Derrida lässt sich dementsprechend die Frage stellen, ob Idiom eher im Sinn einer spezifisch eigenen, lokalen Sprechweise der Malerei zu verstehen sei oder als bestimmter Modus innerhalb einer Sprechweise. Die Uneindeutigkeit scheint Programm zu sein.

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seit Kant und Hegel. Das Buch gipfelt in einem kritischen Vergleich der Lesarten von Martin Heidegger und Meyer Schapiro in Bezug auf Vincent van Goghs Gemälde „Ein Paar Schuhe“ von 1886. Derrida lehnt hierbei sowohl den fundamentalontologischen als auch den kunst- bzw. sozialhistorischen Ansatz der jeweiligen Verstrickung in realistisches und repräsentatives Denken wegen ab.20 Stattdessen betont er – indem er die entscheidende Unzulänglichkeit eines jeden interpretativen Ansatzes zur Malerei zu belegen sucht – die kategoriale Untrennbarkeit von Idiom und Bedeutung, Form und Inhalt, materialer und ideeller Bestimmung der Malerei. Ausgehend von einem Satz Paul Cézannes, der gänzlich zusammenhanglos in einem Brief an Emile Bernard aus dem Jahr 1905 auftaucht und deklamatorisch verkündet: „Ich schulde Ihnen die Wahrheit in der Malerei, und ich werde sie Ihnen sagen“, demonstriert Derrida seinen eigenen Ansatz – mehr als dass er ihn argumentativ entfaltet – einer intrinsischen Verflechtung von Begriff und Sache der Malerei. Das heißt, er liest Cézannes Satz linguistisch und somit weitgehend referenzlos; er wägt seine mikro-semantischen, mikro-pragmatischen und sogar mikro-phonetischen Dimensionen ab und behandelt ihn derart selbst als ein Kunstwerk.21 Die Malerei wird hier in ihrer Intertextualität als eine Art von exzessiver écriture angesprochen, die sich vor allem auf die Grundform des Wortes, das Lemma, der Malerei selbst und ihre eigentümlichen, idiomatischen Anwendungen in der künstlerischen, literarischen, kunsthistorischen und philosophischen Sprache konzentriert. So wird die neologistische Wortprägung pointure zum Fluchtpunkt dieser mäandernden Bahn und zum Indikator für die fundamentale différance von Wahrheit wie von Malerei. Die Frage nach den historischen Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit wird in Derridas Buch nicht gestellt. Es verurteilt sogar allzu viel Historizität22 in Bezug auf die Malerei. Warum die Malerei zu einer Art von Schrift oder einem diskursiven Idiom werden, warum und wann sie ihre handwerklichen Wurzeln überwinden und sich sogar zur führenden Kunstgattung in Bezug auf die Substanzialisierung der Kunst im Allgemeinen transformieren konnte, und warum die Frage nach der Wahrheit in Bezug auf die Malerei überhaupt aufkam – alle diese Fragen scheinen ihm wenig wichtig zu sein. Auch zeigt Derridas Buch keinerlei Interesse daran, warum und wie Maler wie Cézanne und van Gogh ihren jeweiligen Wahrheitsanspruch artikulieren konnten, 20 Hierzu siehe: Chin-Yi Chung, „Metaphysics and Representation: Derrida’s Views on the Truth in Painting“, in: Rupkatha Journal on Interdisciplinary Studies in Humanities, Volume  2, Number  1, March  2010, http://rupkatha.com/metaphysics-representationderridas-views-truth-painting/. 21 Explizit sagt Derrida, dass er Kants „Kritik der Urteilskraft“ als Kunstwerk lese. 22 Jacques Derrida, 1987 (Anm. 18), S. 37.

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wie sich diese Ansprüche auf ihre malerische Praxis beziehen und wie diese malerische Praxis historisch verortet sein könnte.23 Über die Malerei als Malerei wird daher kaum etwas gesagt, weder formal oder in Bezug auf einzelne Genrekonventionen noch in Relation zu ihren materiellen, sozialen und kulturellen Kontexten. Sicherlich sollte man von einem Philosophen keine kunsthistorische Feldarbeit erwarten; beunruhigend für das philosophische Projekt selbst ist jedoch die Tatsache, dass die kategorische Auslassung der Malerei als Malerei innerhalb dieses Diskurses die différance in eine neue Form der Normativität jenseits von Malerei und Wahrheit, in etwas Wahreres als Wahrheit und etwas Künstlerisches als Malerei, verwandelt. In ihrer besonderen literarischen Form vermischt sie künstlerische und philosophische Wahrheitsansprüche und verschiebt diese derart hin auf einen Fluchtpunkt, von dem aus die eigentliche und eigentümliche Problematik des Verhältnisses von Malerei und Wahrheit wieder verschwindet.24 Dennoch bleibt Derridas Anregung am Begriff der Malerei anzusetzen fruchtbar, allerdings nur solange das Verhältnis von Begriff und Sache nicht eingeebnet wird, und diese Differenz sowohl in ihrer empirisch-transzendentalen als auch in ihrer historischen Dimension gedacht wird. Erst von hier aus kann eine historische Rekonstruktion der Entstehung bzw. der Kunstwerdung der Malerei in ihrer besonderen modernen Form als zentraler Austragungsort einer Ästhetik der Wahrheit vorgenommen werden, nicht nur um die Ansprüche moderner Künstler und Künstlerinnen und der ihnen folgenden modernistischen Kunstkritik zu verstehen, sondern auch den philosophischen Anspruch auf den modernen Horizont der Wahrheit selbst. Historizität und Wahrheit erscheinen in dieser Perspektive nicht als Gegensätze, sondern 23 Deshalb heißt dieses Buch auch nicht „Die Wahrheit in der Niederländischen Malerei“, weil es die Wahrheitsfrage der Niederländischen Malerei diskutiert, aus der das wahrheitsästhetische Problem der Moderne erst hervorging. 24 Maurice Merleau-Ponty hatte hier eine andere Perspektive geboten, indem er nicht am Wahrheitsanspruch, sondern am radikalen Zweifel Cézannes ansetzte, ein Zweifel, der zwar das eigentlich wahrheitstreibende Element darstellt, gleichzeitig aber die Praxis der Malerei selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellte, und zwar im Verhältnis von äußerer und innerer Natur, die in der Realisierung zur Deckung kommen sollten. MerleauPonty kann wohl die einzig kohärente Version einer Philosophie der Malerei im Sinne einer produktionsbezogenen Erfahrungsästhetik zugesprochen werden kann. Bei ihm wird die Malerei zu einem eminent philosophischen Verfahren, allerdings nur in der einen Dimension der malerischen Praxis selbst, in der sich die leibliche „Verflechtung“ der Welt realisiert. Die Tableau- und Kunstbezogenen, bildhaften, inhaltlichen, genremäßigen oder sozial-kontextuellen Aspekte fallen weitgehend auch aus dieser Perspektive der Malerei als Philosophie. Siehe: Maurice Merleau-Ponty, „Der Zweifel Cézannes“ (1945), in: Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg (Felix Meiner) 2003, S. 3–28.

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als einander wechselseitig bedingende Kategorien innerhalb des modernen Symbolischen. Die besonderen sozialhistorischen Bedingungen der Malerei in der Moderne implizieren daher keineswegs einen Relativismus; sie machen vielmehr verständlich, wie und warum Malerei als Wahrheit in einer fundamentalästhetisch-ontologischen Dimension begriffen werden konnte. Es geht nicht um ein hermeneutisches Verstehen der Wahrheit der Malerei in ihrer Geschichtlichkeit, sondern um die Rekonstruktion der strukturellen, sozialen und symbolischen Bedingungen, aus denen heraus sich die Malerei als ein Ort der Wahrheit etablieren konnte. Denn kein konkretes Gemälde kann im adjektivischen Sinne wahr sein. Die Wahrheit schreibt keinem Kunstwerk erfahrbare Eigenschaften zu, aber sie zeigt den substanziellen Bedeutungsund Werthorizont an und definiert damit den Status eines jeden Objekts als Kunst. Die Singularisierung und Substanzialisierung des Begriffs Malerei, die Spannung zwischen den Begriffen der Malerei und der Kunst und schließlich zwischen einer Praxis und dem jeweiligen Begriff, den sie zu beanspruchen sucht, sind zu den unabdingbaren Voraussetzungen von moderner und zeitgenössischer Kunst geworden. Methodisch muss mithin das symbolische Feld dieser Spannungen, das den Horizont von deren Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten absteckt, adressiert werden. 1.3.

Die symbolischen Voraussetzungen einer Wahrheit der Malerei

In diesem Sinn erhebt eine Philosophie der Malerei, wie sie in diesem Buch versucht wird, keinen weiteren wahrheitsästhetischen Anspruch. Sie reflektiert vielmehr die Bedingungen der Möglichkeit solcher Ansprüche, ohne sich ihnen dabei gänzlich entziehen zu können. Denn jede Kritik der Wahrheit kann nur im Namen einer anderen Wahrheit geschehen.25 Wahrheit ist immer mit im Spiel und nicht im Rekurs auf einen empirischen Kunstbegriff, wurzelnd in reiner ästhetischer Erfahrung – einer imaginären „Rückkehr zu Kant“26 – zu 25 „Ohne die Wahrheit als regulativen Horizont“, schreibt Ernst Tugendhat in Bezug auf Heidegger, „kann sich die Offenheit nicht in ihrer Schwebe halten und geht in eine neue, nun aber vorkritische Unmittelbarkeit zurück“. Siehe: Ernst Tugendhat, Der Wahrheits­ begriff bei Husserl und Heidegger, Berlin (De Gruyter) 1984, S. 405. Auch angesichts von Interessen und Praktiken, vom „Interesse an der Unwahrheit“, wie von Marx und Freud herausgestellt, bleibt Philosophie notwendigerweise auf Wahrheit bezogen. Ebenda, S. 1–5. 26 In diesem Sinne: Rüdiger Bubner, 1989 (Anm.  14); auch Paul de Man favorisiert Kant gegenüber Schiller, ohne jedoch eine Rückkehr für möglich zu halten. Siehe: Paul de Man, „Kant and Schiller“, in: Paul de Man, Aesthetic Ideology, Minneapolis/London (University of Minnesota Press) 1996, S. 129–162.

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umgehen. Ein philosophischer Anspruch, den die Frage nach der Wahrheit der Kunst impliziert, lässt sich nur behaupten, wenn er die Möglichkeit der Wahrheitsästhetiken als historische Phänomene ebenso zu denken erlaubt wie die Unmöglichkeit ihrer letztendlichen, buchstäblichen Realisierung. Er muss sich kategorisch von jeder als wesentlich gedachten Verschmelzung von Wahrheit und Kunst, wie sie den Wahrheitsästhetiken zu Grunde liegt, abgrenzen, und den Bezug dieser Kategorien aufeinander strikt historisch, gesellschaftlich, relational und different denken. Allerdings kann dieses Historische und Gesellschaftliche, Relationale und Differente nicht als Absage an jeden künstlerischen Wahrheitsanspruch – und derart als purer Relativismus oder Pluralismus – verstanden werden, sondern als dessen grundlegende Voraussetzung. Die eigentlich virulente Frage betrifft somit die logischen ebenso wie die historisch-gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen einer Wahrheit der Kunst im Kontext ontologischer und politischer Fragestellungen. Diese Konstitutionsbedingungen sind nur vor dem Hintergrund einer besonderen symbolischen Ordnung der Moderne vorzustellen, aus der heraus erst die Transformation von Malerei in Kunst und die Verknüpfung von Malerei, Kunst und Wahrheit denkbar wurde. Wie aber sind die symbolische Ordnung der Moderne und die sich in ihrem Rahmen ausbildenden Kunst- und Wahrheitsbegriffe zu verstehen? Als symbolische Ordnung lässt sich der Zusammenhang von sozialen und kulturellen Formen begreifen, wie sie für eine bestimmte Epoche typisch sind.27 Kennzeichnend für die Moderne ist, dass diese unterschiedlichen Formen nicht durch ein einziges Gesetz oder den einen dominanten Modus – die Religion oder einen kosmologischen Mythos – geprägt sind, sondern durch ein Ringen um eine solche Dominanz, in dem sich die einzelnen sozialen wie 27 Ernst Cassirer meint mit symbolischen Formen in erster Linie kulturell-geistige Entitäten; Claude Lévi-Strauss sieht das Symbolische in erster Linie in sozialen Formen und Regeln zu Tage treten. Der Begriff der symbolischen Ordnung stammt von Jacques Lacan, der damit den Zusammenhang psycho-sozialer mit kulturellen, vor allem sprachlichen Strukturen meint. Keiner dieser theoretischen Ansätze thematisiert jedoch die spezifische symbolische Ordnung der Moderne. Siehe: Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Hamburg (Felix Meiner), 2010; Claude Lévi-Strauss, „Einführung in das Denken von Marcel Mauss“, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Band I, Frankfurt am Main (Ullstein) 1978, S. 7–41; Jacques Lacan, „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“ in: Jacques Lacan, Schriften. Band I, Wien, Berlin (Turia + Kant) 2017, S. 278–380. Zu meiner eigenen Auseinandersetzung um einen spezifischen Begriff der symbolischen Ordnung der Moderne siehe: vom Vf., Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Wien, Berlin (Turia + Kant) 2017; sowie: „Traumatic or Utopian Other? Conditions of Emancipation: Phantasy, Reality, and Depression“, in: Filozofski vestnik, Vol. 38 No. 3 (2017), S. 79–90.

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kulturellen Formen erst voneinander abgrenzen und differenzieren. Dieser Differenzierungs- und Dynamisierungsprozess wird insbesondere durch innerweltlich-absolute Wahrheitsansprüche angetrieben, die im Namen von Autonomie, Freiheit, Authentizität, Originalität, Souveränität oder Totalität vorgebracht und zunehmend den einzelnen kulturellen Formen wie Wissenschaft, Kunst, Politik, Recht und Ökonomie oder den sozialen Formen von Individuum, Familie, Gesellschaft, Klasse oder Nation zugeordnet werden. Entscheidend ist, dass sich keiner dieser Ansprüche letztlich durchsetzen kann und dass ihnen selbst konstitutiv ein Akt der Abgrenzung und der Kritik innewohnt, der ihre volle Realisierung als eine neue normative Ordnung verhindert.28 Was sich anstelle dessen realisiert, das sind jene von den Sozialwissenschaften als typisch moderne soziale und kulturelle „Felder“ beschriebenen, einander vielfältig überlagernde Strukturen,29 die sich im Namen der zunehmend singularisierten Allgemeinbegriffe ausbilden. Innerhalb der einzelnen Felder – des Politikfeldes, des Kunstfeldes oder des Wissenschaftsfeldes – wird um hohe Standards an Autonomie oder Authentizität gerungen, die jeweils durch institutionelle, diskursive, mediale oder marktförmige Vermittlungsebenen gewährleistet werden sollen. Gleichzeitig bleiben jedoch die Abhängigkeiten voneinander, gerade auch in den Abgrenzungsakten selbst, erhalten.30 Der Unmöglichkeit einer unbestreitbaren Norm bzw. absoluten Geltung stehen somit die vielen Möglichkeiten in den einzelnen sozialen und kulturellen Feldern gegenüber. Die sich darin ausdrückende Negativität hinsichtlich einer ontologisch-politischen Gründung wird zur Bedingung aller konkreten Positivitäten. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Dimension des Symbolischen. Deshalb lassen sich innerweltlich-absolute Wahrheitsansprüche nicht einfach als säkularisierte Formen vormaliger Transzendenz betrachten.31 Entscheidend für sie ist vielmehr, dass sie weder im Himmel verankert noch durch 28 Deswegen erscheint mir die Unterscheidung zwischen einer normativen und einer symbolischen Ordnung als grundlegend. 29 Zum Feldbegriff in den Sozialwissenschaften siehe vor allem Pierre Bourdieu, Zur Sozio­ logie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1929; zum Feldbegriff in den Politikwissenschaften: Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983. 30 Die einzelnen Praktiken richten sich an den Allgemeinbegriffen aus; sie werden institutionell und diskursiv gefiltert, und versuchen doch immer wieder auch, das institutionelle und diskursive Geflecht in Frage zu stellen, wodurch sie die immer weitere Differenzierung und Dynamisierung im globalen Maßstab antreiben. 31 Im Anschluss an Carl Schmitts berühmte These, dass „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe“ seien. Siehe Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin (Duncker &

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strikt funktionale, innerweltlich-empirische Beziehungen definiert sind. Ihre Besonderheit entfaltet sich erst im Rahmen eines empirisch-transzendentalen Bezugs, der die einzelnen sozialen und kulturellen Formen und Felder als Teil eines symbolischen Zusammenhangs, als moderne symbolische Ordnung mit ihren spezifischen Differenzierungen und Dynamisierungen zu verstehen erlaubt. Das heißt, die Frage nach der Wahrheit der Wissenschaft, der Kunst oder der Politik erhellt sich nicht ausschließlich aus der Abgrenzung zu Mythos und Religion und einer damit erlangten säkularen und subtraktiv verstandenen Autonomie, sondern immer erst aus dem Verhältnis der symbolischen Formen zueinander.32 Diese Verhältnisse sind wiederum durch vielfach komplementäre Aspekte in der Differenzierung etwa zwischen Wissenschaft und Kunst, Ökonomie und Politik oder Individuum und Gesellschaft hinsichtlich ihrer jeweiligen Verfahrensweisen geprägt.33 Erst auf Grund dieser Differenzierung wird etwa Wahrheit als künstlerische Kategorie denkbar, als andere Wahrheit eben im Verhältnis zur Wissenschaft, zur Ökonomie, zur Politik. Dort wird Wahrheit strikt relational durch Kohärenz, Korrespondenz oder Konsens definiert, während sie hier jede Relationalität hin auf das Absolute eines Sinnhorizonts zu überwinden sucht. Gerade indem eine solche andere Wahrheit der Kunst die Wahrheit des Ganzen im Gegensatz zum funktionalen und darin fragmentierten Wahrheitsverständnis in Wissenschaft, Ökonomie und Recht zu verkörpern beansprucht, bleibt jedoch auch sie der Logik der komplementären Differenzierung verhaftet. Daran lässt sich sehen, Humblot), 1996, S.  43; zur Kritik daran: Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbst­ behauptung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985. 32 Zweifellos wäre es interessant, die spezifisch modernen Formen von Differenzierung und Dynamisierung mit denen der Antike zu vergleichen. Zur antiken Differenzierung siehe etwa: Jaap Mansfeld, „Myth, Science, Philosophy“, in: Jaap Mansfeld, Studies in the Historiography of Greek Philosophy, Maastricht (Van Gorcum), 1990, S. 12–21; sowie André Láks, 2018 (Anm. 1). 33 Fragen wie „Was ist Feuer?“ oder „Was ist Leben?“, auf die man substanzielle Antworten erwarten könnte, werden im Rahmen einer wissenschaftlichen Argumentation als nicht mehr sinnvoll erachtet. Sie verlieren in der Moderne – im Vergleich zum sokratischen Projekt eines kontinuierlichen und unabschließbaren Prozesses der Selbsterkenntnis, der genau von solchen „Was ist …?“ – Fragen getrieben wird – ihr epistemisches Potenzial und werden durch funktionale Erklärungen der Verbrennungsprozesse oder der Vererbung ersetzt. Substanzfragen stehen jedoch am Beginn eines jeden wissenschaftlichen Prozesses; sie bleiben als motivationaler Horizont erhalten und begründen letztlich auch die innere Differenzierung der Wissenschaften, das heißt die Ausbildung besonderer Disziplinen wie Physik, Biologie oder Soziologie. Gleichzeitig werden sie den Geisteswissenschaften, der Kunst, der Politik oder der Philosophie zugewiesen, in denen sie sich großer Beliebtheit erfreuen. Siehe vom Vf., Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books), 2007.

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wie sehr wissenschaftlich-funktionales und künstlerisch-philosophisches Wahrheitsverständnis sich wechselseitig bedingen und gerade in der Abgrenzung voneinander auch aufeinander bezogen bleiben. Beide Seiten versuchen sich jeweils zu totalisieren, das Absolute als wertfreie Objektivität oder eben als intrinsisch werthaltigen, subjektiven Sinn zu verkörpern, und unterminieren derart – als Spaltungsprodukte des Symbolischen – doch gleichzeitig stets auch die je eigenen Ansprüche.34 Die Wahrheit der Kunst kann bloß als differenzielle oder gespaltene Form von Wahrheit verstanden werden, die die angestrebte Totalität repräsentiert und genau darin verfehlt, und sich gleichzeitig als regulative Idee für subjektive: imaginäre, perspektivische und konkurrierende Wahrheitsansprüche anbietet. Genau in dieser Verfehlung einer wahrhaft ontologischen Bestimmung liegt die Möglichkeit von moderner und zeitgenössischer Kunst als fundamentalästhetischen Erscheinungsformen begründet.35 Jeder positive Wahrheitsanspruch im Namen von Kunst steht jedoch nicht nur mit den Wahrheitsansprüchen in Wissenschaft, Ökonomie oder Politik in einem symbolischen Zusammenhang, der seine Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Er verlangt darüber hinaus Verfahren zur Absicherung der je eigenen Ambitionen und zur gesellschaftlichen Durchsetzung von Wert, Geltung und Wahrheit. Das sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend entfaltende mediale und marktförmige, diskursive und institutionelle Geflecht – Ausstellungen auf der einen Seite, kunstkritische, kunsthistorische und ästhetische Publikationen auf der anderen – lässt sich als ein solcher Zusammenhang von wertsicherstellenden Verfahren begreifen. Sie bilden die strukturelle Voraussetzung für jede Vorstellung moderner und zeitgenössischer Kunst. Bedeutsam ist hier vor allem der Ausstellungswert,36 wie er im Wechselspiel zwischen Auswahl und Ausstellung einerseits, diskursiver und materieller Aneignung andererseits aufscheint. Entscheidend für dieses symbolische Szenario insgesamt 34

In den Wissenschaften verbleibt gleichsam stets ein subjektiver Rest – die Kategorie der Wertfreiheit muss individuell behauptet werden –, in Kunst und Philosophie hingegen kontaminiert die unhintergehbare Subjektivität der symbolischen Aussageposition jeden Anspruch an Wahrheit, Objektivität oder ein Absolutes. Siehe vom Vf., „Das Wissen der Spaltung. Über die symbolischen Bedingungen des künstlerischen Wissens“, in: Kathrin Busch, Christina Dörfling, Kathrin Peters, Ildikó Szántó (Hg.), Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn (Fink), 2018, S. 17–30. 35 Der Begriff „fundamentalästhetisch“ versucht hier, Heideggers explizite Kritik an den Subjektivitätsbedingungen der Ästhetik im Namen einer Ontologie der Kunst, die im Sinne einer Seins-Geschichte noch die Voraussetzungen der Philosophie zu beleuchten imstande sein soll, selbst als ästhetisch auszuweisen. 36 Zu Walter Benjamins Begriff des Ausstellungswerts siehe: Walter Benjamin, Das Kunst­ werk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977.

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scheint mir zu sein, dass über den Wert, die Bedeutung und die Funktion der ausgestellten Gegenstände noch nicht entschieden ist. Auch hier bedingt eine grundsätzliche Negativität jede mögliche Positivität. Gerade weil Evidenz und Wahrheit nicht gegeben sind, müssen sie sich erst im Zuge einer Aneignung erweisen und sie verweisen somit konstitutiv auf eine Zukunft, in der sie sich realisiert haben werden. Sie liegen kategorisch in der Zeit. In gewissem Sinn wird die Frage nach Wahrheit, Wert und Geltung spezifischer ästhetischer Gegenstände damit überhaupt erst virulent. Dies zeigt sich deutlich im Vergleich mit vormodernen Repräsentationsformen: In gotischen Kathedralen oder noch in der Sixtinischen Kapelle stellt sich die Wahrheitsfrage der Kunst gar nicht; Wahrheit ist innerhalb des religiösen Symbolisierungssystems immer schon vorgegeben und erscheint daher tatsächlich als unmittelbar evident. Es gibt hier keinen Raum für Zweifel, Abwägung oder Kritik, sondern in der Tat nur ein reines, überwältigtes Staunen angesichts einer ‚Kunst‘, die vom göttlichen Geist selbst zu stammen scheint. Zweifel, Abwägung und Kritik sind jedoch konstitutiv für den medialen, symbolischen und sozialen Modus der Ausstellung. Mehr als ein bloßer Präsentationsort lässt sich die Ausstellung als ein symbolischer Raum auffassen, an dem sich die Wahrheits-, Wert- und Geltungsproblematik der Moderne in seiner kategorischen Verzeitlichung exemplarisch zeigt. Was wir seither als Kunst verstehen – und erst das ist im strengen Sinn Kunst, die Kunst im Sinne eines singularisierten, generalisierten und substan­ zialisierten Begriffs – muss gewissermaßen durch diesen Filter des Ausstellungswerts hindurch. Praktiken, Werke und Ideen können darin wechselseitig vermittelt werden, ohne jedoch tatsächlich zu kanonischer Geltung kommen zu können. Erst als ausgestellte und kritisch-diskursiv, marktbezogen oder auch populistisch-medial verhandelte Sache werden besondere Artefakte zur Kunst im modernen Sinn. Moderne Kunst und Gegenwartskunst sind daher in erster Linie ausgestellte Kunst. Dies betrifft insbesondere diejenigen Gattungen oder Medien, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im Zuge der Etablierung des Systems der Schönen Künste als Leitmedien der Substanzialisierung von Kunst einrichten konnten: Malerei und Skulptur, für die in den antiken und mittelalterlichen Systemen der neun Musen oder der sieben freien Künste noch gar kein Platz vorgesehen gewesen war. In ihren modernen Formen als Tableau bzw. als kontextunabhängige, transportable und meist auch nicht allzu große Skulptur erweist sich die besondere Ausstellungstauglichkeit dieser beiden Medien. Die Loslösung von unmittelbarer Funktionalität im Sinne von Religion oder Politik findet in der Ausstellung somit einen medialen, symbolischen und sozialen Raum, in dem die zunehmende Offenheit bezüglich von Wert, Funktion und Bedeutung als Grundlage eines neuen symbolischen Wertsystems verstanden

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werden kann, eines Wertsystems, das ohne festen Wert auskommt, das Wert kategorisch nur als umstritten kennt.37 Vor allem um die Malerei kommt es seither zu erbitterten Debatten zwischen hohem Kunstanspruch und ihrem Ausgeliefertsein an den Kommerz, ihrer Zeitlosigkeit und ihrer Aktualität bzw. Obsoleszenz, zwischen ihrem Triumph und ihrer Überwindung. Und schließlich gibt es noch eine dritte Ebene der Spaltung im Rahmen des modernen Symbolischen, die jeden künstlerischen Wahrheitsanspruch mit bedingt. Kunst ringt nicht nur mit anderen symbolischen Formen um die eigentliche, substanzielle Wahrheit der Moderne, und sie versucht auch nicht nur, ihre eigenen Standards durch ein institutionelles und diskursives Netzwerk abzusichern; darüber hinaus grenzt sie sich gerade in ihrem unbedingten Wahrheitsanspruch auch kategorial von einem anderen Bereich ab, dem solche Ambitionen grundsätzlich versagt werden. Interessanterweise ist es gerade dieser Bereich, in dem die spezifischen ästhetischen Kategorien des 18. Jahrhunderts nicht nur überlebt haben, sondern erst eigentlich zur Blüte gekommen sind. In den Pop- und Medienkulturen, in der Fotografie, im Design, in den Film- und Sound-Künsten finden Schönheit und Anmut, Schock und Ehrfurcht, das Erhabene, Groteske und das Empfindsam-Rührende auf vielfach spektakuläre und theatralische Weise ihren Ausdruck. Der illusionäre Schein von Immersion und Unmittelbarkeit scheint ihr ‚wahres‘ Element zu sein, und eine Ästhetik der Beeindruckung ihre unverzichtbare Methode. Innerhalb dieser Künste, und die Verwendung der Pluralform des Begriffs erscheint hier angemessen, werden Wahrheitsansprüche üblicherweise erst gar nicht erhoben. Aus der Sicht der singularen, substanziellen oder ‚hohen‘ Kunst und des kritischen Diskurses 37

Liberale Ideologie hat stets versucht, den Ausstellungswert als eine Art von regulativem Mechanismus zu beschreiben, der schließlich die reale und substanzielle Dimension der Wahrheit herauszufiltern in der Lage sei. Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Eigeninteressen beeinflussen und dominieren diese Form der Öffentlichkeit; Ausgrenzung ist in ihr kategorisch, gerade weil das zu Grunde liegende Prinzip dasjenige zueinander kompetitiver Subjektivitäten ist, dem keine übergeordnete Regel vorgesetzt werden kann. Deshalb wäre es nur naiv, davon langfristig echte Wahrheitseffekte zu erwarten. Kulturelle und institutionelle Politiken versuchen, diese konstitutiven Unsicherheiten und ungleichen Entwicklungen zu zähmen, jedoch ebenso nur mit mäßigem Erfolg, fungieren sie doch selbst nach demselben Prinzip. Deshalb wird im kritischen Diskurs oft eine Wahrheit außerhalb der Reichweite des institutionellen und diskursiven Geflechts aufgerufen. Diese Versuche bleiben jedoch im Widerspruch befangen, dass sie, um sich artikulieren zu können, immer schon an diesem Geflecht des Ausstellungswerts teilnehmen müssen. Anstatt also institutionelle oder diskursive Gegebenheiten als Hindernisse für eine echte Wahrheit zu betrachten, könnte es daher sinnvoll sein, sie als die materiellen und strukturellen Bedingungen jeder Kunst und jeder Wahrheit zu betrachten.

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werden diese Künste häufig als ‚niedrig‘ in ihren Ambitionen, betrügerisch in ihren Illusionen und damit kategorisch unfähig für einen echten Wahrheitsanspruch angesehen.38 Entscheidend für unseren argumentativen Zusammenhang ist nicht, ob solche Zuschreibungen tatsächlich zutreffen oder es sich hierbei nicht eher um Vorurteile handelt, sondern dass sie konstitutiv für die Wahrheits-, Wert- und Geltungsbehauptungen von Kunst sind. Zwar finden heute zweifellos viele Interaktionen zwischen ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ statt, zumindest seit die Postmoderne das gesamte kulturelle Feld dominiert, und doch können die Abgrenzungsakte nicht wirklich überwunden werden. Das referenzielle Sich-Beziehen der Kunst auf die Popkultur, wie es im heutigen Ausstellungsbetrieb zur Selbstverständlichkeit geworden ist, setzt diese Differenz immer noch voraus. Hier wird deutlich, dass Spaltungen auf der symbolischen Ebene nicht einfach durch konkrete, entdifferenzierende Maßnahmen behoben werden können. Die Kunst wird daher in ihrem symbolischen Anspruch, die Wahrheit darzustellen, strukturell durch eine dreifache Spaltung des symbolischen Raumes bestimmt. Sie kann ihre angestrebte Autonomie, Freiheit, Authentizität, Originalität, Souveränität oder Totalität nicht erreichen, gerade weil sie strukturell an andere symbolische Formen wie Wissenschaft, Politik oder Philosophie, an das institutionelle und diskursive Geflecht und an die ‚niedrigen‘ Künste gebunden bleibt. Deshalb kann die Wahrheit in der Kunst nie tatsächlich einfach wahr, selbstgenügsam oder selbstverständlich sein; sie kann auch nicht im Sinne Hans-Georg Gadamers als neuplatonisch verstandene Emanation ihres Wesens freigelegt oder wiedergewonnen werden.39 Genauso wenig ist eine einfache Überwindung eines jeden Wahrheitsanspruchs oder eine Rückkehr zu einem Zustand vor der modernen Wahrheitsästhetik – definiert durch reine Erfahrung oder Heteronomie – vorstellbar, zumindest solange überhaupt noch von Kunst gesprochen werden soll.40 Die Wahrheit der 38 Das mag aus der Sicht der ambitionierten Praktiker und Praktikerinnen in Pop, Design und Film, die tatsächlich schon mehrfach Wahrheitsansprüche erhoben haben, ganz anders aussehen; unter ihnen wird ein umgekehrter Verdacht kultiviert, dass die Kunst den wahren Betrug verkörpern könnte. 39 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme­ neutik, Tübingen (Mohr Siebeck) 2010, S. 87–106. Bei Gadamer impliziert der „Standpunkt der Kunst“ gegenüber dem „Standpunkt des Geschmacks“ eine „Erweiterung des Erfahrungsbegriffs“, die – über jede subjektive ästhetische Aneignung hinaus – auf den „Wahrheitsgehalt“ zielt, „der in aller Erfahrung von Kunst“ liege. 40 Transformationen vollziehen sich im Rahmen symbolischer Strukturen, deren Transparenz ebenso wenig gegeben ist wie jede Form der Verfügbarkeit durch intentionale Beanspruchung. Das Symbolische treibt nach seinen eigenen Strukturgesetzen. Die Auswirkungen des individuell-imaginären Einsatzes darauf sind stets unabsehbar, jedoch

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Kunst bleibt konstitutiv gefangen im Paradox zwischen absolutem Anspruch und kategorischer Relativität, zwischen Historizität und Ontologie, Negativität und Positivität. Aus diesem Grund muss das in den Spaltungen sichtbar werdende Paradox – die Tatsache nämlich, dass nur auf dem unsicheren Boden der relationalen oder gespaltenen Bedingungen des Symbolischen sich das Absolute als Problem einer bestimmten Position darin stellt – selbst als Voraussetzung jeder taktischen Positionierung thematisiert werden. 1.4.

Die Fragwürdigkeit der Wahrheit in der Malerei

Mithin kann Wahrheit als künstlerische oder ästhetische Option weder definitiv realisiert bzw. durchgesetzt noch vollkommen abgeschafft oder überwunden werden. Sie fungiert notwendigerweise im vielfach gespaltenen symbolischen Raum der Moderne.41 Diese gespaltenen Bedingungen lassen sich jedoch adressieren, zumindest dahingehend, dass die historische Unmöglichkeit einer unmittelbaren Wahrheit zum Ausgangspunkt konkreter Möglichkeiten, Wahrheit zu denken und zu verkörpern begriffen wird. Die Erfahrung wäre als der symbolische Ort solcher Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, und in diesem Sinne als Ausgangspunkt jeder besonderen Form von Wahrheit zu begreifen.42 Denn obwohl die Wahrheit der Kunst nicht konkret erfahrbar ist, hat sie Erfahrung auf Seiten der Autorschaft ebenso wie keineswegs vergeblich, konstituieren diese Einsätze doch erst die einzelnen symbolischen Formen. Als solche lassen sich Politik, Kunst, Wissenschaft und Philosophie überhaupt erst voneinander unterscheiden; ihre jeweilige Spezifik wird durch das Symbolische nicht nur begrenzt, sondern zuallererst ermöglicht. 41 Es geht also um die Wahrheit der Differenz als Spaltung. Der Status des Differenten als Relation kennzeichnet hier die eigentlich begriffliche – philosophische wie psychoanalytische – Herausforderung, denn Spaltung ist Beziehung als Nicht-Beziehung. Hegelianisch gesprochen ist es also die Beziehung von Beziehung und Nicht-Beziehung um die es hier geht. Spaltung ist in diesem Sinne nicht überwindbar im Sinne eines neuen übergreifenden Narrativs, weil unter den Bedingungen der Moderne genau ein solches Narrativ die Spaltung immer auch mit hervorbringt. Der idealistische Spaltungsbegriff setzt – von Hölderlin bis Japsers – ein Ungespaltenes ebenso voraus wie einen Versöhnungsanspruch; beim psychoanalytischen Spaltungsbegriff ist dies nicht so. Zur Wahrheit als Differenz siehe: Gerhard Gamm, Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne, Frankfurt am Main (Athenäum) 1986; zu idealistischen Spaltungsbegriffen: Friedrich Hölderlin, „Urteil und Sein“ (1797), hierzu: Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789– 1795), Stuttgart (Klett-Cotta) 1991; Karl Jaspers, Die Psychologie der Weltanschauungen, Berlin (Springer) 1929; zu psychoanalytischen Spaltungsbegriffen, insbesondere bei Melanie Klein, Ronald Fairbairn und Jacques Lacan siehe vom Vf., 2017 (Anm. 13), S. 79–90. 42 Zu Derridas Erfahrung der Unmöglichkeit: Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996, S.  33; sowie: Gerhard

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auf Seiten der Rezeption zur Voraussetzung. Gerade in seiner intrinsischen Negativität – dem kategorischen Mangel an Wert, Funktion und Bedeutung – macht der Ausstellungswert Erfahrung notwendig, allerdings nicht im Sinne einer gelingenden Vermittlung von künstlerischer Absicht und rein rezeptiver ästhetischer Erfahrung. Vielmehr prallen in ihm unterschiedliche Erwartungen an Kunst aufeinander, die selbst wiederum an eine Vielzahl anderer, alltäglicher, psychologischer, sozialer oder politischer Erfahrungen geknüpft sind. Die Erfahrung der Wahrheit besteht also vor allem darin, dass man diese nicht hat und dass entscheidende Aspekte der Lebenswelt sich nicht mehr wie von selbst verstehen. Erfahrung impliziert immer schon Enttäuschung hinsichtlich der je eigenen Erwartungen an Kunst wie an Leben. In diesem Sinne lässt sich der Ausstellungswert als zentrale Arena der Auseinandersetzungen um die Erfahrung von und mit Kunst verstehen; er generiert zuallererst Erwartungen bzw. Wahrheitsansprüche und kann derart als unhintergehbare Voraussetzung der idealistischen Kunstphilosophie gelten. Wahrheit der Kunst und ästhetische Erfahrung stehen einander also keineswegs als strikte Alternativen gegenüber. Es geht vielmehr um eine Vielfalt an politischen, philosophischen, sozialen und psychologischen Erfahrungen, die im medialen, sozialen und symbolischen Raum der Ausstellung aufeinandertreffen und aus denen sich überhaupt erst ästhetische Erfahrung und künstlerische Wahrheit destillieren lassen. Genau an einer solchen ‚Destillation‘ lässt sich auch der historische Gründungsakt der modernen Wahrheitsästhetiken bei Friedrich Schiller in seiner Kritik am vermeintlichen Subjektivismus der Kant’schen Ästhetik festmachen.43 Denn Immanuel Kant hatte zwar die entstehenden Wahrheitsästhetiken mit einer Fülle von Argumenten versorgt, ohne sie selbst jedoch in ein explizites Konzept über ein substanzielles Verhältnis von Kunst und Wahrheit zu integrieren.44 Erst im postrevolutionären Kontext, Unterthurner, Foucaults Archäologie und Kritik der Erfahrung. Wahnsinn – Literatur– Phänomenologie, Wien, Berlin (Turia + Kant), 2007. 43 Hierzu siehe insbesondere: Friedrich Schiller, „Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Kritik der Urteilskraft“, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974, S.  126–144; sowie: Friedrich Schiller, „Kallias Briefe“, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974, S. 145– 185; der deutlichste wahrheitsästhetische Anspruch Schillers findet sich schließlich in dem Text „Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie“, der als Vorrede zum Drama „Die Braut von Messina“ von 1803 diente. Siehe: Friedrich Schiller, Die Braut von Messina: Oder die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören, Stuttgart (Reclam) 1996. 44 Es sind die Wahrheiten der Natur und der Vernunft, nicht der Kunst, die Kant als Horizonte der Urteilskraft aufruft. Selbst das Genie wird nicht mit einer radikalen Autonomie des Willens begründet, sondern mit einer Natur, die sich selbst die Regel gibt. Siehe: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart (Reclam) 1986, § 64.

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Kapitel 1

insbesondere in der Auseinandersetzung mit terreur und thermidor – mit Schillers Enttäuschung über den Fortgang der Revolution – wird die Theorie des Urteils in eine Philosophie der Kunst verwandelt und diese als entscheidende politische, moralische und epistemische Kategorie aufgefasst. Damit wird eine ontologische, anthropologische und politische Fundierung der Kunst vorgenommen und ihr eine spezifische Funktionalität, ein Wert und eine unbestreitbare Bedeutung unterlegt. Zweifellos liegt darin der Kern des Idealismus im Sinne einer imaginären Erfüllung, die nicht nur den je eigenen ontologischen, anthropologischen und politischen Voraussetzungen zu entkommen sucht, sondern insbesondere auch den sozialen, medialen und symbolischen Bedingungen, wie sie sich im Modus der Ausstellung bereits im 18. Jahrhundert ausgebildet hatten. Sobald wir jedoch die idealistischen Positionen weder als tatsächlich gelingende Überwindung der ontologischen, anthropologischen und politischen Negativität noch als Aufhebung der Bedingungen des Ausstellungswerts lesen, sondern als dessen Konsequenz und als spezifische Position darin, lässt sich auch der darin propagierte Anspruch an eine Objektivität, Absolutheit und Wahrheit der Kunst besser verstehen. Dieser Anspruch zeigt sich dann selbst als Niederschlag unterschiedlicher Erfahrungen, mithin als struktureller Bezug zwischen Wahrheit und Erfahrung, Negativität und Positivität, wie er als symbolischer Horizont für jedes Kunstverständnis seither bedeutsam geworden ist. Es ist daher nicht die Autonomie an sich, um die es hier als Begründung einer spezifischen Objektivität und Wahrheit der Kunst geht. Die Schriften Friedrich Hölderlins und Schellings jener Zeit folgen Schiller ebenso wie das so genannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796) insofern, als auch für sie die Kunst eine Objektivierung der realen Freiheit darstellt, was sicherlich ihre Autonomie impliziert. Diese Autonomie kann jedoch nicht ausschließlich als ästhetische Autonomie, sondern muss notwendigerweise gleichzeitig als politische, moralische und epistemische Autonomie verstanden werden. Ihr ästhetischer Aspekt bleibt sogar auf einer funktionalen Ebene angesiedelt, denn nur im Durchgang durch eine Art von Erziehung bzw. Selbst-Erziehung im empfindsamen Spiel kann wahre Autonomie erreicht werden, die auf jede Bevormundung durch Gesetz und Regel verzichtet und sich damit erst in ihrer Entfaltung zunehmend selbst zum Zweck werden kann. Nirgendwo ist angegeben, wie diese Erziehung, die zu einer vollständig ästhetisierten Version des Staates (bei Schiller) oder einem Zustand jenseits eines Staates (im Ältesten Systemprogramm) führen soll, geschehen oder gar organisiert werden kann. Entscheidend ist hier, dass die Kunst das Ästhetische zu objektivieren und einen solchen Zustand – das Reich der absoluten Freiheit und der völligen Versöhnung – zu erreichen in der Lage ist. Somit stellt

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sie selbst das höchste der menschlichen Ausdrucksvermögen, ein Unendliches und Absolutes dar, in das Politik, Moral und Erkenntnis einfließen und in dem Autonomie und Heteronomie derart zur Deckung kommen, dass jede Form von Spaltung überwunden wäre. Dieses ambitionierte Programm repräsentiert sicherlich mehr als den platonischen Enthusiasmus, wie er seit dem frühen 18. Jahrhundert häufig aufgerufen wurde, nämlich nicht die ekstatische Bewegung hin zur Idee, sondern die Idee selbst, die hier als Kunst radikal innerweltlich verortet wird.45 In den Schriften des Idealismus und der Frühromantik findet sich die Wahrheitsästhetik in erster Linie durch einen Akt der radikalen Aufwertung des Status der Kunst gekennzeichnet. Weiterhin bleiben Schönheit und Anmut die dominanten ästhetischen Kriterien, in denen sich ein in sich selbst vollkommenes Sein frei von jeglicher Begehrlichkeit ausdrückt.46 Selbst in Hegels einzigen veröffentlichten Kommentaren zur Kunst in der Enzyklopädie von 1817/1820 bleibt der wichtigste Bezug zur Kunst die Schönheit. Es ist jedoch Hegel, der seinen Kameraden aus dem Tübinger Stift schon sehr früh widerspricht. Indem er nicht nur auf die zerstörerische Funktion der Erziehung verweist, die gerade die Totalität des Mythos durch rationale Kritik auflöst – weswegen ästhetische Erziehung sicherlich nicht den Staat ersetzen kann –, sondern auch betont, dass Kunst zwar eine hohe Berufung sein mag, aber eben doch keine so hohe wie der Geist selbst, der schließlich nur durch die Philosophie repräsentiert werden kann, und schließlich dass die Kunst diese Stelle als dominante Form des absoluten Geistes längst und unwiederbringlich verloren hat. Dieser Verlust hat etwas mit den Subjektivitätsbedingungen der Moderne als dem Erbe des Christentums zu tun. Die Malerei ist für Hegel eine exemplarische Kunst des Subjektiven und damit eine „romantische“, das heißt tief im Christentum verankerte und doch immer noch aktuelle Kunstform.47 Denn jeder Anspruch auf das Substanzielle muss nun mit der Subjektivität verbunden sein, „das Wahre nicht als Substanz sondern ebenso als Subjekt“48 gedacht werden, um den Ansprüchen des sich entfaltenden Geistes zu 45

Schiller spricht dies in: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ (Anm. 43) direkt an. Kunst sei nicht bloß ein Schein der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst. Hierzu auch: Georg Lukács, „Kunst und objektive Wahrheit“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 2. Heft 1, 1954, S. 113–168. 46 Ein solches Sein repräsentiert sich für Schiller in der Juno Ludovisi, die er im 15. Brief der „Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 beschreibt; hierzu Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien (Passagen) 2008. 47 Romantik beginnt mit dem Christentum. Die Malerei bleibt als romantische Kunstform allerdings noch zu materiell um nicht von der Poesie noch übertroffen zu werden. 48 So die berühmte Formulierung aus der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ von 1807.

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Kapitel 1

genügen. Indem sich die Malerei zuerst den Martyrien der Heiligen sowie dem Leben der Götter in Situation und Handlung und später der „Prosa der menschlichen Welt“ zuwendet, verliert auch die klassizistisch interpretierte Schönheit ihren dominanten ästhetischen Stellenwert. Insbesondere im Kolorismus der holländischen Malerei zeigt sich der Zusammenhang von subjektiver Erfahrung und gesellschaftlicher Relevanz.49 Daher bietet uns die Malerei gerade in ihrer Subjektivität als romantische Kunstform – im Ineinandergreifen von Beschreibung, Erzählung und Erfahrung – die notwendige Voraussetzung für eine Wahrheit in der Zeit. Unter den gegenwärtigen Bedingungen – ökonomisch, politisch, kulturell – kann diese Subjektivität jedoch nicht dialektisch aufgehoben und in eine neue kollektive Substanz, eine neue Mythologie oder Totalität ‚umgesetzt‘ werden. Im Vergleich zur „klassischen Kunstform“, die als Skulptur und Architektur in der griechischen Polis zur vollen Geltung kommt – „als Kunst an sich als Kunst volle Befriedigung erbrachte“ – fehlt der Romantik die allgemeine Gültigkeit und soziale Legitimität, und deshalb kann intellektuelle Befriedigung nur mehr reflexiv erzielt werden, beim Denken über Kunst oder Malerei, beim „philosophischen Wissen, was Kunst (oder Malerei) ist“. Hier stehen wir am Beginn der modernen „Was ist …?“-Fragen. Die Substanz dieses reflektierenden Subjekts ist sein Mangel an Geltung, und deshalb muss letztlich der Staat durch seine Institutionen dafür sorgen, dass das Subjekt seinen Mangel bearbeiten und die Frage nach seiner Wahrheit stellen kann. Die Malerei wird hier „kommentarbedürftig“ in ihrem Status als Kunst;50 in ihr verbinden sich Romantik und Reflexivität, worin Ihre avantgardistische Überwindung immer schon angelegt ist. Die Frage, was die Wahrheit der Kunst sei, stellt sich bei Hegel in dem Moment, in dem sie als verloren diagnostiziert wird. Wahrheit wird genau in dieser konstatierten Abwesenheit selbst zum ästhetischen Kriterium, und die Möglichkeit einer nicht mehr schönen Kunst wird vorstellbar.51 Hegel hat diese 49

Zu Hegels Konzeption der Malerei siehe: Bernadette Collenberg-Plotnikov, „Malerei“, in: Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Luc de Vos, Peter Jonkers (Hg.) Hegel-Lexikon, Darmstadt (WBG), 2006, S. 310f; sowie: Bernadette Collenberg, „Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst“, in: Annemarie GethmannSiefert (Hg.), Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik, Hamburg (Felix Meiner), S. 2016, S. 91–164. 50 Zur Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst siehe: Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Berlin (Athenäum) 1960. 51 Siehe: Hans-Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München (Fink) 1968; auch: Robert Pippin, After the Beautiful. Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism, Chicago, London (The University of Chicago Press), 2014.

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Möglichkeit nur angedeutet, und mit der Formulierung vom „Ende der Kunst“ eine leicht anwendbare, rhetorische Blaupause für die moderne Kunstkritik hinterlassen, die den eigentlich produktiven Zusammenhang der Hegel’schen Argumentation – die kategorische Ambivalenz einer jeden Wahrheit der Kunst zwischen Präsenz und Absenz, Historizität und Absolutheit, Substanz und Subjekt – wieder hat verschwinden lassen. Das widersprüchliche Moment, das die Wahrheit der Kunst als verlorene begründet, und als „Sache der Vergangenheit“ in die Gegenwart als Aufgabe des Denkens eben dieser Gegenwart einschreibt, darf jedoch nicht überspielt werden. Die politischen Erfahrungen der Revolution, der sich nicht verwirklichen wollenden Gemeinschaft, der ökonomischen und sozialen Verwüstungen, die die Moderne heimsuchen, sind konstitutiv dafür, die Wahrheit der Kunst zu denken. Nur durch diese Verhältnisse hindurch, und somit im Anerkennen der die eigene Möglichkeit bedingenden dreifachen Spaltungen, kann Wahrheit als spezifisch künstlerische und ästhetische Kategorie produktiv gehalten werden. Ästhetische Erfahrung wurzelt daher immer schon in politischer, ökonomischer oder sozialer Erfahrung. Darüber hinaus verlangt sie eine Idee von Kunst und von Wahrheit – und ist darin notwendigerweise idealistisch –, um sich im Feld der symbolischen Ordnung überhaupt positionieren zu können. Ohne eine solche Positionierung würde ästhetische Erfahrung tatsächlich im Subjektiven implodieren. Erfahrung wie Idee fordern jedoch eine, die jeweilige Subjektivität transzendierende Form, an der sie sich festmachen, zeigen und wieder erfahren werden können. Form wäre hier weder aristotelisch noch rein formalästhetisch zu verstehen,52 sondern als jene zweiseitige Schnittstelle zwischen positiver und negativer, einschließender und ausschließender, anwesender und abwesender Bestimmung.53 Form setzt die unterschiedlichen Aspekte der Ambivalenz zueinander ins Verhältnis. Form ist das Medium ihrer Differenz, in ihr kann die Wahrheit der Ambivalenz erscheinen.54 Es ist diese Schnittstelle, an der Autorschaft und Rezeption, Idee und Praxis spezifisch 52

auch nicht im strikt Kantischen Sinn als eines „Aufbaus des ästhetischen Gebildes“; hierzu siehe: Hans- Georg Gadamer, 2010 (Anm. 39) S. 97f., sowie: Rodolphe Gasché, The Idea of Form. Rethinking Kant’s Aesthetics, Stanford, CA (Stanford University Press), 2003. 53 Siehe: George Spencer-Brown, Laws of Form (1969), Portland, Or (Cognizer Company) 1994; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994; Dirk Baecker (Hg.) Probleme der Form, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993. 54 Marcel Detienne unterscheidet in The Masters of Truth in Archaic Greece, New York (Zone Books) 1996, bereits drei Wahrheitsbegriffe: eine ambivalente aletheia bei den Sängern, Wahrsagern und Königen, die doxa der Lyriker, Sophisten und Rhetoren und schließlich eine kontradiktorische aletheia in der Philosophie und den beginnenden Wissenschaften. In der Moderne spitzen sich zweifellos die kontradiktorischen Wahrheitsauffassungen zu. Eine neue Wahrheit der Ambivalenz müsste sich in diesem Spannungsfeld behaupten,

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Kapitel 1

künstlerischer und sozialer Erfahrungen einander begegnen. Wenn schließlich die Wahrheit der Kunst nur eine vielfach gespaltene Wahrheit sein kann, dann lässt sich mit Hegel die Idee des Werks als jener symbolische Ort annehmen, an dem die differente und gespaltene Wahrheit der Kunst in ihrer Ambivalenz Form annehmen kann. Geltung und Wahrheit können moderne und zeitgenössische Kunst in dieser Perspektive nicht beanspruchen, solange sie sich dieser Ambivalenz entziehen, sondern erst wenn sie sich ihrer eigenen Fragwürdigkeit stellen, wenn sie sich dieser Fragwürdigkeit sicher sind. Sie dürfen weder dogmatisch noch einfach relativistisch werden; sie müssen vielmehr genau in ihrer Wahrheit und Gegenwart fragwürdig bleiben. Diese Figur des sich seines Relativismus sicheren und in seiner Gegenwärtigkeit problematischen Bewusstseins hat Hegel bekanntlich mit dem Begriff des „unglücklichen Bewusstseins“ bezeichnet. Er war sich sicher, in dieser Figur nur ein Durchgangsstadium, eine weitere Stufe des Geistes auf dem Weg zu sich selbst erblicken zu müssen. Das „unglückliche Bewusstsein“ lässt sich jedoch unter den Bedingungen des modernen Wahrsprechens nicht einfach aufheben. Es sollte vielmehr als positive Bedingung der Möglichkeit des Wahrsprechens verstanden werden. Das heißt, es kann nicht einfach positiv geformt oder gestaltet werden – dann wäre es nicht mehr unglücklich bzw. relativistisch. Es muss ihm vielmehr in seinem Unglück, seinem Zwiespalt oder seiner Ambivalenz Form verliehen werden. Dies wiederum kann nur als eine Form verstanden werden, die ihre Zweiseitigkeit zulässt und damit ihre eigenen Abdriften ins A-Forme55 und Ausschließende, ins De-Formierende und Per-formierende mit im Spiel hält. Gegenwart und Wahrheit können so nicht auf den Begriff oder in eine kanonische Form gebracht werden. Sie können jedoch gerade in diesem Entgleiten und dem partiellen Scheitern der Form zumindest als Problem zur Darstellung gelangen. Die Malerei ist der symbolische Ort dieser konstitutiven Fragwürdigkeit und dieses konstitutiven Entgleitens des Sinns. Sie hat der Gegenwartskunst das Modell geliefert, weder tatsächlich wahr noch rein gegenwärtig sein zu können. Gleichzeitig bietet sie jedoch die exemplarische Möglichkeit, sich als Kunst dem Problem von Substanz und Subjekt, Wahrheit und Gegenwart stellen.

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weder bloße Meinung (doxa) noch strikt kontradiktorisch zu sein, aber auch keine Rückkehr in ein vormodernes ‚Raunen‘ mythischer Wahrheitsfiguren zu propagieren. Vgl. Werner Hamacher, „Afformativ, Streik“, in: Christiaan L. Hart-Nibbrig (Hg.), Was heißt ‚Darstellen‘?, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994, S. 340–374.

Kapitel 2

Einführung II: Die Aktualität der Niederländischen Malerei 2.1.

Das altniederländische Bild-, Malerei- und Kunstverständnis

Warum aber eine Philosophie der Niederländischen Malerei? Nicht nur weil, wie zu zeigen sein wird, sowohl die erfahrungs- als auch die wahrheitsästhetische Auffassung hier ihren ‚Ursprung‘ hat, sondern weil sich in ihr gesellschaftlich und geschichtlich etwas in einer spezifischen Zeit ausbildet, das die Aktualität moderner und zeitgenössischer Kunst selbst in mehrfacher Hinsicht betrifft. Von aktueller Relevanz ist die Niederländische Malerei, weil sie einen bestimmten Modus von Kunstanspruch und Kunsterfahrung hervorbringt, der immer noch zu den zentralen Kodierungen des gegenwärtigen Kunstgeschehens gehört. Darüber hinaus thematisiert sie Aktualität sowohl in einem zeitlichen als auch in einem ‚realisierenden‘ Sinn, das heißt im Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, und schreibt so die Aktualität als inhaltliche Bestimmung in das entstehende Verständnis von Malerei als Kunst ein. Malerei muss seither als Kunst in diesem vielfachen Sinn immer auch aktuell sein, und es ist diese Aktualität, aus der heraus sie zeitlose Geltung beanspruchen kann; darüber hinaus muss sie sich in etwas realisieren, das den reinen Horizont ihrer Möglichkeit einschränkt, diesen gleichzeitig jedoch überhaupt erst aufruft. Der ‚Erfolg‘ der Niederländischen Malerei scheint mir gerade darin zu liegen, einen symbolischen Modus hervorgebracht zu haben, in dem solche Paradoxien verhandelbar wurden, nicht im Sinne vermittelnder Kompromisse, sondern in deren Zuspitzung, in ihrer differenzierenden und dynamisierenden Exploration. Gegenwärtigkeit und Ewigkeit der Malerei erscheinen hier als solche Horizonte ihrer Möglichkeit, als symbolische Modalitäten eines besonderen geschichtlich-gesellschaftlichen Raums. Bereits im späten 18. Jahrhundert wird die Möglichkeit der Malerei sogar jenseits ihrer Realisierung bearbeitbar,1 und somit tritt die Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit 1 In Gotthold Ephraim Lessings Stück „Emilia Galotti“ von 1772 taucht die Idee eines „Raffaels ohne Hände“ auf und Ludwig Tieck lässt in seinem Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) seinen Helden die visionär erschauten Landschaften für besser halten als die tatsächlich gemalten. Asmus Jakob Carstens (1754–1798) kann in diesem Kontext als ein Künstler verstanden werden, der die Realisierung scheute. Honoré Balzacs Figur Frenhofer in seiner Novelle „Das unbekannte Meisterwerk“ (1831) malt so lange an einem Bild, bis das Sujet



  

Abb. 2 Hieronymus Bosch, „Der Gaukler“, ca. 1502, St. Germain en Laye, Musée Municipal, 53 × 65 cm.

Einführung II: Die Aktualität der Niederländischen Malerei

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auf den Plan, das heißt eine Form der Realisierung, in der sie selbst zu verschwinden scheint. Dementsprechend hat die Tatsache, dass die Malerei ‚überwunden‘ und Gegenwartskunst generell minimalistisch, performativ oder konzeptuell werden konnte, nichts mit einer heroischen Verwerfung der alteuropäischen Malerei zu tun – als solche erscheint sie nur in der imaginären und kompetitiven Perspektive ihrer Protagonisten; vielmehr ist es das Kunst-Werden dieser Malerei selbst, aus dem heraus ihre Überwindung überhaupt erst denkbar wurde. Wahrheits- wie erfahrungsästhetische Annahmen konstituieren diesen historischen Prozess der Kunstwerdung der Malerei nicht bloß; sie werden in ihrem Wechselspiel erst vor dem Hintergrund eines spezifischen Blicks auf die Geschichte der Malerei verständlich. Nur eine genealogische bzw. archäologische Perspektive, die die ästhetischen Auffassungen von Modernismus, Realismus und Avantgarde zu rekonstruieren versucht, oder, in den Worten der marxistischen Historikerin Ellen Wood, ein „längerer Blick“,2 kann helfen, die selbstbewussten, triumphalistischen Implikationen eines jeden Anspruchs von Moderne, Realismus oder Avantgarde in Frage zu stellen. Eine Archäologie oder ein längerer Blick bedeutet nicht, die allerersten Momente der Moderne, des Realismus und der Avantgarde in der Geschichte zu finden, sondern ein historisches Dispositiv zu rekonstruieren, in dem jene Probleme auftauchen, auf die Modernismus, Realismus und Avantgarde die Antwort sein wollten. Meine These wird sein, dass dieses Dispositiv keineswegs überwunden ist, sondern sich immer wieder neu konfiguriert. Es stellt die entscheidenden ästhetischen Auffassungen bereit, nach denen wir immer noch Kunstwerke beurteilen, und uns im Streit über ihren Wert versichern. Unter Niederländisch verstehe ich keine ethnische, regionale oder nationale Besonderheit, sondern einen historischen und sozialen Zusammenhang, wie er zwischen dem frühen 15. und dem späten 17. Jahrhundert in den damaligen Niederlanden, das heißt im Bereich burgundischer, burgundischhabsburgischer, spanisch-habsburgischer und schließlich holländischer Herrschaft gegeben war.3 Für die Malerei in dieser Region und zu dieser Zeit sind viele verschwindet und somit gleichsam das Bild in der Perfektionierung der Malerei zerstört wird; beim Schach spielenden ‚Maler‘ Marcel Duchamp scheint dann die Malerei selbst gänzlich zu verschwinden – mit den bekannten „Folgen für die Kunst“. Auch Sturtevants Wiederholungen und Derridas pointure lassen sich als Vorstellungen lesen, die Malerei über sich selbst hinaus zu treiben 2 Ellen Meiksins Wood, The Origin of Capitalism. A longer View, London, New York (Verso) 2002. 3 Generell zur historischen Differenzierung der Begriffe belgisch, niederländisch, flämisch oder holländisch siehe: Bart van de Loo, Burgund. Das verschwundene Reich, München

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Kapitel 2

verschiedene Begriffe geläufig: man spricht etwa von der „altniederländischen Malerei“ für das 15. Jahrhundert oder von einer „nördlichen Renaissance“ für das 15. und 16. Jahrhundert; sodann von einer „niederländischen Malerei“ oder einem „niederländischen Romanismus“ für die Malerei des 16. Jahrhunderts in den gesamten Niederlanden, und schließlich von flämischer und holländischer Malerei, insbesondere für das 17. Jahrhundert. Die Begriffe flämische oder niederländische Malerei werden aber immer wieder auch für den gesamten Bereich gebraucht. Sie sind allerdings durch die nationalstaatlichen Instrumentalisierungen seit dem 19. Jahrhundert stark vorgeprägt, weswegen ich den Begriff „Niederländisch“ in Großschreibung benutze, um einen ebenso spekulativen wie abstrakten Begriff vorzuschlagen, der möglichst nicht mit dem heutigen Staat der Niederlande verwechselt werden sollte. Auch die anderen Bezeichnungen wie altniederländisch, romanistisch, flämisch und holländisch kommen in ihren konkreten semantischen Bezügen zur Anwendung. In den frühkapitalistischen Zentren in Brügge und Gent, etwas später in Antwerpen und schließlich in Haarlem und Amsterdam entsteht ein sozialer Raum, der sich nicht mehr grundlegend von unserem heutigen unterscheidet.4 Darin etablieren sich besondere Funktionsweisen von Malerei, die unmittelbar mit den ökonomisch-sozialen, politischen und religiösen Konflikten der Zeit in Zusammenhang stehen und die sich gerade darin zunehmend als Kunst symbolisieren. Für die einzelnen, sich als Maler bzw. Künstler verstehenden Subjekte bedeutete dies keinen eindimensionalen Übergang von handwerklicher Auftragsorientierung zu autonomer Selbstbestimmung, sondern zuallererst die Möglichkeit und den Zwang, sich im Feld von Ökonomie, Politik und Religion zu positionieren. Innerhalb des rasch sich verändernden sozialen und kulturellen Geflechts einer höfischen, urbanen und volkstümlich-ländlichen Kultur, einem zunehmend differenzierten Publikum von aristokratischen, kirchlichen und bürgerlichen Auftraggebern und Sammlern, mit jeweils höchst unterschiedlichen, vielfach antagonistischen Interessen, galt es, einen Ort zu (C.H.  Beck), 2020, S.  560–565. Zur kunstgeschichtlichen Unterscheidung von „flämisch“, „niederländisch“ und „holländisch“ siehe: Lisa Deam, „Flemish versus Netherlandish: A Discourse of Nationalism“, in: Renaissance Quarterly, Vol. 51, No. 1 (Spring, 1998), S. 1–33. https:// www.jstor.org/stable/2901661?seq=1. 4 Zur Sozialgeschichte siehe insbesondere: Hermann van der Wee, The Low Countries in the early modern world, Aldershot, UK (Variorum) 1993; Jan de Vries, The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge (Cambridge University Press) 2008; Henry Kamen, The Iron Century. Social Change in Europe 1550–1660, London (Weidenfeld and Nicolson) 1971; Maurice Aymard (Hg.), Dutch Capitalism and World Capitalism, Cambridge, UK (Cambridge University Press) 2008.

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finden, der weder durch die handwerkliche Organisationsform der Gilden noch durch die humanistische Bildungsidee definiert werden konnte, auch wenn beide Bereiche weiterhin von Bedeutung waren. Entscheidend ist jedoch, dass der kategorialen Unbestimmtheit der Gegenstände hinsichtlich von Funktion, Wert und Bedeutung die zunehmend schwindende soziale Verankerung ihrer Produzenten entspricht. Der soziale Ort musste mehr und mehr behauptet und legitimiert werden, was meist durch eine reflexive Thematisierung der eigenen Tätigkeit geschah. Darin liegt zweifellos ein neuer Zwang, aber auch die Möglichkeit begründet, politische, soziale oder religiöse Positionierungen unabhängig von Auftrag oder Sammlung vornehmen zu können und die je eigene subjektive Erfahrung der Welt, die selbst zunehmend situativ verstanden wird, zum Ausgangspunkt der künstlerischen Reflexion zu machen. Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ ist in seiner referenziellen Unergründlichkeit ebenso nur in einem solchen Kontext vorstellbar wie das Bild „Der Reiche und der Arme“ (Abb. 12) aus dem Umfeld von Jan Sanders van Hemessen, das sich als Gründungsdokument einer realistischen Sozialkritik lesen lässt.5 Ich werde versuchen, diesen Prozess idealtypisch in mehreren Schritten zu rekonstruieren: Im 15. Jahrhundert rückt im Spannungsfeld zwischen dem burgundischen Hof und dem frühbürgerlichen Kontext der Hofbeamten und der internationalen Kaufleute in Brügge, Gent, Tournai und Brüssel das Tableau ins Zentrum des künstlerischen Interesses.6 Mit ihm einher geht nicht nur die technische Verfeinerung der Ölmalerei, sondern die Entwicklung einer spezifischen Bildidee. Während das Bild in der humanistischen Konzeption bei Leon Battista Alberti als reiner Kegelschnitt durch die Sehpyramide der mathematischen Perspektive begriffen wurde und daher auf jede Formgelegenheit (Wände, Objekte, Decken) projiziert werden konnte, bleibt das Niederländische Bild kategorisch an das Objekt – in erster Linie das Tableau – gebunden und stellt dessen fragile Oberfläche dar. Das Bild ist dementsprechend bei Alberti als reine Illusion, als ein „offenes Fenster“ gefasst, durch das ein distanzierter Beobachter auf eine Art von Bühne schauen kann, auf der 5 Siehe Kapitel 4 (Wahrheit und Lüge im antagonistischen Bild). 6 Als Hofmaler wurden etwa von Jan van Eyck keine Tableaus verlangt, sondern Festumzüge, Dekorationen, diplomatische Reisen und ähnliches; für die Beamten und die Kaufleute jedoch schuf er die Tableaus. Grundsätzlich zum Tableau siehe: Hans Belting, Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München (Hirmer) 1994; Craig Harbison, Jan van Eyck. The Play of Realism, London, UK (Reaktion Books) 2012; Victor I. Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München (Fink) 1998. Belting und Kruse nennen den „doppelten Ursprung“ des Tableaus in Italien und in den Niederlanden, ohne die italienische Genealogie genauer zu explizieren. In Italien bleiben die entscheidenden künstlerischen Neuerungen ohnehin fast durchgehend mit der Freskomalerei verbunden.

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Kapitel 2

die heroische Handlung stattfindet. Die Realität liegt kategorisch hinter dem Bild.7 Künstler werden als Wissenschaftler verstanden, die die mathematische Perspektive beherrschen und den Betrachtern einen objektiven Standpunkt vorgeben. Die Niederländische Malerei ist hingegen nie reine Illusion. Die illusionistischen Elemente sind in ein komplexes Wahrnehmungsgeschehen integriert, das unterschiedliche Erfahrungs- und Bedeutungsdimensionen zueinander in Beziehung setzt. Ein solches Bild entwirft keine begrenzte Bühne, sondern ein ebenso symbolisches wie situatives Szenario, das den Raum vor, hinter und zu den Seiten des Bildes mit umfasst. Die Vorstellung eines off-screen ist für dieses Bildverständnis ebenso konstitutiv wie sie für Alberti sinnlos ist.8 Das Bild fungiert hier gerade nicht als „offenes Fenster“, sondern als Schwelle, durch die diese unterschiedlichen Dimensionen des Bildes: seine räumlichsituative Verortung, seine zeitliche Spezifizierung und Aktualisierung, seine illusionistisch-imaginäre Evokation und seine kategorisch auf und nicht hinter der Bildfläche angesiedelte Realitätsanmutung9 zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Diese Schwelle wird durch Spiegel, Fenster, Türen, innerbildliche Perspektiven, mehrfache – gemalte wie reale – Rahmungen, Vorhänge, Beschriftungen oder sehr weite Entfernungen und extreme Nähen betont. Die Betrachtenden stehen nicht distanziert und losgelöst vor dem Bild;10 ganz im Gegenteil ist ihr Platz bereits als Teil der symbolischen, ­räumlichen 7

Wie im berühmten, von seinem Biographen Antonio Manetti überlieferten Experiment Filippo Brunelleschis vor dem Baptisterium in Florenz, bei dem man durch ein Loch von der Rückseite des perspektivisch gemalten Bildes aus auf einen Spiegel blicken konnte, der die Seitenverkehrung des Bildes korrigierte und derart tatsächlich die Realität verdeckte. Wenn man den Spiegel wegnahm kam das originale Baptisterium dahinter hervor. 8 Noch die heutige Filmtheorie verweist in ihrer Thematisierung des „Off Screen“ gerne auf niederländische Vorbilder, siehe: Eyal Peretz, The Off-Screen: An Investigation of the Cinematic Frame, Stanford, CA. (Standford University Press), 2017. 9 Das Niederländische Bild verdeckt eben keine Realität. Es macht keinen Sinn, nach dem zu suchen, was hinter ihm liegt. Tableau und Bildidee sind unmittelbar miteinander verschränkt, weshalb das Bild nicht einfach auf einen anderen Träger projiziert oder übertragen werden kann. Es stellt allerdings auch keinen „Spiegel der Welt“ dar, wie Hans Beltings Leseauflage der „Erfindung des Gemäldes“ (siehe Anm. 6) von 2010 bereits im Titel verkündet, weil es auch den Umraum des Bildes symbolisiert, der nicht unmittelbar im Bild gespiegelt ist. 10 Auch das perspektivische und sogar das autonom-kompositorische Bildverständnis sind natürlich „betrachtungskonstitutiv“. Jedes Bild rechnet auf bestimmte Weise damit, betrachtet zu werden. Das altniederländische Bild holt den Betrachter jedoch vermittels seiner symbolischen Operationen tatsächlich ins Bild. Zum Begriff „betrachtungskonstitutiv“ siehe Felix Thürlemann, Mantegnas Mailänder Beweinung. Die Konstitution des Betrachters durch das Bild, Konstanz (Universitätsverlag Konstanz) 1989; generell zur Rezeptionsästhetik Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin (Dietrich Reimer) 1992.

Einführung II: Die Aktualität der Niederländischen Malerei

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und zeitlichen Operationen des gemalten Bildes gedacht. Eine Tür kann sich in den realen Raum der Betrachtung öffnen wie etwa am linken Flügel des „Mérode-Triptychons“ von Robert Campin11 (Abb.  1) oder ein Spiegel den Raum vor dem im Gemälde sichtbaren Bildraum reflektieren wie in Jan Van Eycks „Arnolfini-Doppelportrait“ (Abb.  4) und der Tradition, die es eröffnet hat. Architektonische Elemente definieren nicht die Grenzen einer Bühne; sie fungieren vielmehr selbst als Schnittstellen, die verschiedene Aktionsbereiche definieren, unterscheiden und zueinander in Beziehung setzen.12 Gelegentlich scheint ein Fluss direkt in den Standpunkt der Betrachtenden zu fließen wie in Rogier van der Weydens Berliner „Johannesaltar“, in dem der Fluss selbst dem Wort Gottes zu entspringen scheint (Abb. 6) und drückt so metaphorisch auch die zeitliche Verbindung zwischen dem biblischen Geschehen und der Gegenwart aus. Und schließlich stellen die berühmten „flämischen Fenster“, die sich fast in jedem Bild finden, keine perfekten und illusionistischen Schnittpunkte der visuellen Pyramide dar, sondern mehr oder weniger transparente Filter oder Katalysatoren zwischen Innen und Außen, Licht und Schatten, öffentlichen und privaten, natürlichen und kulturellen Räumen, manchmal offen, manchmal geschlossen und meist um mehrere Seiten des Bildraums gruppiert. Dieser symbolische Raum ist anfangs vor allem ein religiös markierter Raum, der für die Betrachtenden eine besondere Frömmigkeitserfahrung ermöglichen soll, die wiederum durch eine möglichst intensive Nähe zum Geschehen im Bild gekennzeichnet ist. Im „Mérode-Triptychon“ zeigen die heiligen Figuren (Maria und Josef) im völlig ‚absorbierten‘ Aufgehen in ihren alltäglichen Tätigkeiten bereits eine imitatio christi, eine Nachahmung der christlichen humilitas also, auf die dem Stifter und seiner Frau ein privilegierter Blick gewährt wird, der zur weiteren Nachahmung im Sinne einer spirituellen Stufenleiter an die Betrachtenden durch die zum Seitenflügel und zum Raum der Betrachtung hin offene Tür weiter geleitet wird.13 Wir haben als Betrachtende daher sowohl 11

Ich verwende die heute gebräuchlichen Namen, ohne mich hier auf eine kunsthistorische Zuschreibungsdiskussion einzulassen zu können. Die Zuordnung einzelner Werke zu den Namen Robert Campin, Jacques Daret, Meister von Flémalle oder auch Rogier van der Weyden sind bis heute höchst umstritten. 12 In van der Weydens Altar zu den „Sieben Sakramenten“ werden die drei Tableaus eines Triptychons mit den dargestellten Räumen von Haupt- und Seitenschiffen einer gotischen Kathedrale identifiziert. Durch den hohen, leicht aus der Bildmitte gerückten Augenpunkt kann man den gesamten Kirchenraum mit seinen vielfältigen Geschehnissen überblicken und gleichzeitig die jeweiligen Bildgrenzen mit den im Bild dargestellten, durch die Pfeiler markierten Raumgrenzen zueinander in Beziehung setzen. 13 Ich folge hier der sehr überzeugenden Interpretation von Reindert L. Falkenburg, „The Household of the Soul: Conformity in the Merode Triptych“, in: Maryan W. Ainsworth,

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räumlich als auch zeitlich unmittelbar Anteil am Heilsgeschehen. Die hierbei entwickelten Mittel des Bild- und des Malerei-Verständnisses verselbständigen sich jedoch schnell. Bei van Eyck steht der devotionale Sinn bereits im Wechselspiel mit einem spezifisch künstlerischen. Auch in den Porträts und in den ersten Genre-Bildern (dem „Arnolfini-Doppelporträt“) kommen ähnliche Bildstrategien wie in den religiösen Bildern zum Tragen. Van Eyck entwickelt hierbei ein Verständnis der Malerei als einer besonderen Form von Kunst – im Gegensatz zur proto-wissenschaftlichen Auffassung der Malerei bei Alberti –, die dem besonderen Bildverständnis eine neue Art von symbolischer Rahmung verleiht. Die Malerei wird nun als eine Kunst verstanden, die Wirklichkeit bzw. Anwesenheit ebenso bezeugen wie sie Abwesenheit evozieren kann, die Verständlichkeit signalisiert und gleichzeitig ein Geheimnis hinsichtlich seiner Entschlüsselung aufruft. Sie versteht sich zunehmend als eine Art des Navigierens zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen, zwischen dem Realen und dem Symbolischen, dem Buchstäblichen und dem Referenziellen, der Erfahrung und der Wahrheit. Malerei tritt hier als eine besondere historische Disziplin in Erscheinung, die antagonistische Qualifikationen aufruft und miteinander in Beziehung setzt. Sie entwirft sich selbst als an den Schnittstellen zwischen Identität und Differenz, Präsenz und Absenz, Absolutismus und Relativismus arbeitend, und entfaltet so ihren ästhetischen Anspruch als Erfahrung von Relationalität ebenso wie als Medium einer Wahrheit der Relation. 2.2.

Repräsentation, Realismus, Reflexivität

Diese Idee von Malerei als einer Kunst des In-Beziehung-Setzens gegensätzlicher Bestimmungen impliziert sowohl logisch-dialektische als auch ontologische Aspekte. Wenn die Basisdifferenz nicht mehr Schein und Wirklichkeit darstellt, dann lässt sich tatsächlich von einer relationalen Ontologie14 sprechen, durch die hindurch Malerei unterschiedliche Wirklichkeitsaspekte

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Early Netherlandish Painting at the Crossroads. A Critical Look at Current Methodologies, New York, New Haven (The Metropolitan Museum of Art, Yale University Press), 2001, S. 2–17. Der Begriff einer relationalen Ontologie wird üblicherweise Nikolaus von Kues in seiner Abgrenzung von den aristotelischen Substanz-Ontologien zugeschrieben. Neuerdings wird auch Meister Eckart in Stellung gebracht, in dessen lateinischen Schriften die Vorstellung einer Gott und Mensch verbindenden Ontologie auftaucht. Siehe: Hiroki Matsuzawa, Die Relationsontologie bei Meister Eckhart, Paderborn (Ferdinand Schöningh), 2018.

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aufrufen und die Spielräume zwischen ihnen verhandeln kann. Für das Bild als Schwelle lassen sich in den Begriffen Repräsentation, Realismus und Reflexivität drei Modalitäten voneinander unterscheiden, in denen sich diese logisch-ontologische Dimension der Malerei zeigt. Repräsentation steht hier in erster Linie für die Frage, wie eine natürliche oder auch übernatürliche Welt im Format eines Tableaus glaubwürdig dargestellt werden kann – im direkten Gegensatz zur illusionistischen Simulation großer Fresken- oder Glasmalereien, die die Welt sowohl der gotischen Kathedralen als auch der italienischen Renaissance dominiert hatten.15 Bei der Repräsentation geht es also nicht darum, eine mehr oder weniger natürliche Welt objektiv widerzuspiegeln, sondern eine bestimmte Vorstellung von der natürlichen oder übernatürlichen, der kulturellen oder der sozialen Welt innerhalb der begrenzten Möglichkeiten des Tableaus aufzurufen. Der Begriff Repräsentation impliziert eine Art von subjektiver Übertragung oder Übersetzung des visionär oder empirisch Wahrgenommen auf die Bedingungen des Tableaus hin, und mithin eine spezifische Relation zwischen dem Dargestellten und der Darstellung.16 Deren Nicht-Identität ist kategorisch, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, die Frage der Ähnlichkeit und der Abbildbarkeit überhaupt erst zu verhandeln.17 Sie kann nicht ein für alle Mal gelingen, was noch das Problem der 15

Ich beziehe mich mit dieser Unterscheidung von Repräsentation und Simulation auf Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge, Massachusetts (MIT Press) 2000. Eine äußerst luzide Diskussion des Begriffs der Repräsentation findet sich bei HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen (Mohr Siebeck) 2010, S. 146–149, auch wenn ich seinen Ansatz, die Ontologie oder die „Seinsvalenz des Bildes“ aus dem Vorrang des Tafelsbildes zu lösen und wieder stärker ins „Okkasionelle und Dekorative“ einzubinden, nicht teile. 16 Diese Relationalität ist also immer schon weiter und grundsätzlicher gefasst als die Idee einer rein formalen Komposition, wie sie seit Roger de Piles die moderne bzw. insbesondere die modernistische Auffassung des Bildes bestimmt hat. Hierin war die Komposition als verborgene Struktur eines jeden Gemäldes aufgefasst worden, die seit Cézanne und der beginnenden Abstraktion explizit gemacht wurde und die nun auch retrospektiv auf die Kunstgeschichte übertragen werden konnte. Giotto erschien in dieser Perspektive als der Begründer des Tableaus, das unabhängig von einem realen Bildobjekt rein im Sinne einer autonomen Bildidee verstanden wurde, und dementsprechend konnte Theodor Hetzer etwa die Arenakapelle in Padua bereits als eine Art von Gemäldegalerie begreifen, in der der dekorative Rahmen vollkommen ausgeblendet wurde. Zur Kritik an diesen Auffassungen siehe: Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition. Theories of Visual Order in Painting 1400–1800, New Haven, London (Yale University Press), 2000. 17 Im Gegensatz zu Michel Foucault könnte man behaupten, dass die Repräsentation hier die Ähnlichkeit nicht überwindet, sondern auf spezifische Weise neu fasst. Siehe: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974; insbesondere Kapitel 2 und 3.

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politischen, religiösen und semiotischen Repräsentationsfragen des 17.  Jahrhunderts, etwa anhand der Hostie als einem Realobjekt, heimsucht.18 Kritik an dem, was und wie etwas repräsentiert ist, ist ihr daher immer schon eingeschrieben. Die moderne Repräsentationskritik geht daher von einer zu simplen Vorstellung einer gelingenden, abklatschartigen Darstellung aus, die sie dann zu überwinden sich anschickt. So überspielt sie ihre eigene Verwurzeltheit im Begriff der Repräsentation selbst. Ausgehend vom empirischen Naturalismus des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts wendet sich die altniederländische Malerei mit großer Detailund Erzählfreude der Schilderung des alltäglichen Lebens zu. Was in der höfischen Buchmalerei noch aus der Perspektive des Schlosses, also buchstäblich von oben gesehen, bildwürdig werden kann und gleichzeitig meist durch eine Kalenderstruktur naturalisierend eingebettet bleibt,19 rückt nun in Augenhöhe und in großer Nähe ins Bild. Inhaltlich handelt es anfangs um eine Verlagerung des biblischen Geschehens in den aktuellen, flämischen Alltag. Bei vielen Bildern wird die sakrale Dimension jedoch bereits unklar. Diese Detailund Erzählfreude betrifft nicht nur Objekte und Personen, Landschaften und Lichtstimmungen sondern auch die malerischen Mittel selbst. Ihr äußerst raffinierter Einsatz ersetzt zunehmend den unmittelbaren Materialwert der mittelalterlichen Kultobjekte und wird zu einem Objekt bzw. Zweck an sich selbst. Hierin liegt die Voraussetzung für das, was ab dem frühen 16. Jahrhundert mit Fug und Recht als Realismus im modernen Sinn bezeichnet werden kann: der Versuch nämlich, nicht nur empirisch visuelle Eindrücke darzustellen, sondern sich mit der subjektiven Erforschung sozialer und kultureller Sphären, vor allem des sich rasch verändernden Alltagslebens unter den spezifischen wirtschaftlichen, religiösen und politischen Bedingungen zu beschäftigen und sich dabei gleichzeitig ständig der eigenen, malerischen Mittel zu versichern.20 Dies geschieht allerdings nicht mehr in Brügge und Gent, sondern in erster Linie in Antwerpen. Entscheidend ist jedoch, dass der entstehende Realismus bereits im 15. Jahrhundert nicht als illusionistische, objektive Abbildung der Wirklichkeit zu verstehen ist. Er setzt das spezifische altniederländische Bildverständnis ebenso voraus wie die Repräsentation als konstitutiven Modus 18 Siehe: Louis Marin, Das Porträt des Königs, Berlin (diaphanes) 2005, insbesondere S. 197–224. 19 Siehe vor allem das von den Brüdern von Limburg gemalte „Stundenbuch des Herzogs von Berry“ (ca. 1410–1416). 20 Zur Genealogie des modernen Realismus siehe: Malcolm Baker, Andrew Hemingway (Hg.) Art as Worldmaking. Critical Essays on Realism and Naturalism, Manchester (Manchester University Press) 2018.

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von Malerei. Realismus überwindet die Repräsentation daher nicht; er hat sie vielmehr zur Voraussetzung. Er kann allerdings nicht in irgendeiner bestimmten Form der Repräsentation aufgehen, sondern verlangt stets eine spezifische Idee hinsichtlich dessen, was repräsentiert werden soll und kann. Das subjektive Moment ist ihm immer schon eingeschrieben; es ermöglicht erst die engagierte Variante. Reflexivität schließlich lässt sich in erster Linie an der Häufigkeit festmachen, mit der die schon erwähnten Objekte wie Spiegel, Vorhänge, Inschriften, Fenster oder Türen auftreten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie über ihre konkrete darstellende Funktion hinaus stets auch den Status des Bildes selbst mitmeinen oder -betreffen. Der „meta-pikturale Diskurs“21 gehört somit zum Grundbestand der altniederländischen Malerei, bevor er in der flämischen wie holländischen Malerei seine Wirksamkeit voll entfalten konnte. Generell lässt sich Reflexivität als jene Kategorie begreifen, die sowohl zwischen dem Realismus und der Repräsentation vermittelt als auch das Bild und den Akt der Betrachtung aufeinander bezieht. Sie stellt die eigentliche Form der Relationalität und damit auch der Unbestimmtheit dar, eben weil sie nie buchstäblich zu fassen ist.22 Sie setzt eine künstlerische Absicht immer schon voraus und lässt sich doch nur in bestimmten Formen der Wiederholung und Konventionalität verstehen. So wird sie zur Grundlage der Konzeptualisierung der Malerei als Kunst. Selbst die Konzeptkunst der 1960er- und 1970er-Jahre greift in ihren Motiven noch häufig auf die damals entwickelten Momente der Reflexivität zurück. Die altniederländische Malerei des 15. Jahrhunderts lässt sich daher als eine Art von Spiel zwischen Repräsentation, Realismus und Reflexivität begreifen.23 Es gibt weder eine Objektivität der Gegenstände noch eine der Darstellungsmittel. Die Malerei versteht sich vielmehr als ebenso dialektischer wie dialogischer Prozess, durch den Gegenstände und Darstellungsmittel zueinander reflexiv vermittelt und gleichzeitig den Betrachtenden als Einsätze angeboten werden, die stets nur in einem spekulativen Sinn angeeignet 21 Victor I. Stoichita, 1998 (Anm. 6), S. 10. 22 Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob ein bestimmtes Objekt buchstäblich oder reflexiv gemeint ist. Und doch erweitert sich die Konvention des Reflexiven zunehmend. 23 Ich formuliere dieses Spiel in Anlehnung an Craig Harbison, The Play of Realism, London, UK (Reaktion Books) 2012. Der Begriff des Spiels wird bei Harbison allerdings theoretisch kaum ausgeführt und nur kurz mit Bezug auf Johan Huizinga erwähnt. Gerade die Differenz von Repräsentation, Realismus und Reflexivität als entscheidenden ästhetischen Einsatz etwa bei van Eycks Christus-Bildern hat Karin Gludovatz „Der Name am Rahmen, der Maler im Bild. Künstlerselbstverständnis und Produktionskommentar in den Signaturen Jan van Eycks“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIV, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2005, S. 132f hervorgehoben.

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werden können. Die Betrachtenden sind daher weder im Sinne einer religiösen Pädagogik noch einer humanistischen Wissenschaft adressiert; sie werden vielmehr als Wahrnehmende gefordert, sich in dieses, von den KünstlerSubjekten jeweils vorgeschlagene Spiel zwischen Repräsentation, Realismus und Reflexivität einzubringen und derart eine spezifische Form von Erfahrung zu machen, die später als künstlerisch oder allgemein als ästhetisch verstanden werden wird.24 Spiel bedeutet hier also in erster Linie den Umgang mit dem Unbestimmten, mit dem weder inhaltlich noch formal Festgelegten, also weder eine anthropologische Konstante noch eine Einübung ins wirkliche Leben; auch kein wie auch immer geartetes ‚freies‘ Spiel der Erkenntnisvermögen ist hier gemeint, sondern bloß die Möglichkeit, dem kategorisch Unbestimmten Rechnung zu tragen.25 Auf Seiten der Produzenten geht es darum, wie sie ihre eigene Erfahrung mit den gegebenen Konventionen bearbeiten und soweit verschieben können, dass sie nicht sofort entschlüsselt und verstanden werden können; auf Seiten der Rezipienten um mögliche Aneignungsformen. Genau dieses Wechselspiel, das sich weder in einer rein produktions- noch einer rein rezeptionsbezogenen Sichtweise auflösen lässt, wurde zunehmend als ästhetisch begriffen.26 2.3.

Antagonistisches, analytisches und synthetisches Bild

Mit dem Niedergang Brügges steigt Antwerpen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zur „Kapitale des Kapitalismus“ auf.27 Die Stadt wird zum Umschlagplatz für den frühkolonialen Handel der Portugiesen und Spanier, und gleichzeitig 24 Der Begriff Kunst/ars hat im 15. Jahrhundert noch keineswegs die Eindeutigkeit, die er seit dem späten 18. Jahrhundert annehmen wird. 25 Das heißt, der Begriff des Spiels wird hier weder schillerianisch noch kantianisch gebraucht. Auch Huizingas weitgehend an Schiller angelehntes Spielkonzept im Homo ludens (1938/39) grenzt sich noch vom Homo faber und damit von der Arbeit ab. In unserem Zusammenhang geht es eher um eine Art von Spiel zwischen Arbeit und Spiel. 26 Ich vertrete hier also keineswegs einen rezeptionsästhetischen oder gar rezeptionsgeschichtlichen Ansatz. Vielmehr geht es darum, die Symbolisierung der Malerei als Kunst als einen Prozess der Hervorbringung eines sozialen Raums zu begreifen, in dem Produktion und Rezeption sich aufeinander beziehen können und in dieser wechselseitigen Interaktion die Kategorie des Werks hervorbringen. Zur Unterscheidung rezeptionsästhetischer und rezeptionsgeschichtlicher Ansätze und zur Rezeptionsästhetik der Malerei immer noch grundlegend: Wolfgang Kemp (Hg.), 1992 (Anm. 10). 27 Larry Silver, „Pieter Bruegel in the Capital of Capitalism“, in: Netherlands Yearbook of Art History, Volume 47, Issue 1, 1996, S. 124–153. Generell zu Antwerpen im 16. Jahrhundert: Jan Van der Stock (Hg.), Antwerp. Story of a Metropolis. 16th–17th Century, Ausstellungskatalog, Antwerpen (Hessenhuis, Martial & Snoeck) 1993.

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zu einem Zentrum der damaligen Finanzwelt. Die dauerhafte Anwesenheit einer internationalen Klientel lässt ein in erster Linie exportorientiertes Kunstzentrum entstehen. Nicht nur nimmt die Anzahl der in Antwerpen angesiedelten Künstler bereits in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts dramatisch zu, auch ein permanenter Markt für künstlerische Produkte aller Art entsteht. Dies führt zu ersten Formen der Spezialisierung und der Warenförmigkeit der Produktion; gleichzeitig zeichnet sich bereits jene für die Moderne typische Form der Spaltung ab: zwischen einem Verständnis von Malerei als Teil einer höchst spezialisierten kulturindustriellen Produktion und einer Fetischisierung jener Originalgenies von Bosch bis Bruegel, die wiederum schier endlos kopiert werden können.28 Allerdings handelt es sich um den höchst instabilen ‚Erfolg‘ dieses Kunstzentrums. Denn es zeigen sich gleichzeitig frühe Krisensymptome des Kapitalismus in Form von massiven sozialen Spannungen, die auch die Künstler selbst betreffen. Mit der Reformation brechen die religiösen Konflikte in dieses Szenario ein, und schließlich spitzen sich auch die politischen Kontroversen zwischen den habsburgischen Herrschern und den reichen Städten Flanderns immer weiter zu, um nach 1568 in den 80-jährigen Krieg um die Unabhängigkeit der Niederlande zu führen. In diesen Kontexten ist die Frage nach der Wahrheit zu einer intrinsischen Herausforderung für jede künstlerische Praxis geworden. Innerhalb der kriegerischen Auseinandersetzungen wechselten einige Städte mehr als einmal zwischen dem habsburgischen Reich und der Republik, zwischen Calvinismus und Katholizismus. Was gestern wahr war, konnte heute völlig und auf gefährliche Weise falsch sein.29 Toleranz war auf beiden Seiten wenig gefragt. Derart erhielt im Laufe des 16. Jahrhunderts die Frage nach der Wahrheit in der Malerei gerade in Antwerpen eine existentielle Dimension. Ein rein „hierarchisches“ Wahrheitsverständnis30 im Sinne einer vorgegebenen, transzendenten Wahrheit, die man bloß auszudrücken hätte, reichte nicht mehr aus. Es ging darum, sich zwischen 28 Siehe die wegweisende Publikation von Peter Van den Brink, Brueghel Enterprises, Antwerpen (Ludion Publishers) 2001; sowie: Stephan Kemperdick, Ina Dinter (Hg.), Hieronymus Bosch und seine Bildwelt im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin, Petersberg (Staatliche Museen zu Berlin, Michael Imhof Verlag) 2016. 29 Strategien des Verbergens und der Verstellung waren deshalb an der Tagesordnung. Die von Calvin ins Spiel gebrachte Diskussion um den sogenannten Nikodemismus ist exemplarisch hierfür. Hierzu siehe: Gábor Almási, Paola Molino, „Nikodemismus und Konfessionalisierung am Hof Maximilians II.“, in: Frühneuzeit-Info 22 (2011), S. 112–128. 30 Ernst Cassirer unterscheidet einen „hierarchischen“ von einem „rationalistischen“ und einem „positivistischen“ Wahrheitsbegriff, siehe: Ernst Cassirer, „Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs“, in: Ernst Cassirer, Geist und Leben. Schriften, Leipzig (Reclam) 1993, S. 193–217.

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verschiedenen Wahrheitsansprüchen zu positionieren und dabei den Einsatz der je eigenen Mittel zu reflektieren. In diesem Sinn lässt sich Antwerpen als das eigentliche Labor der modernen Welt begreifen. Die Kunst dieser Stadt ist nicht notwendigerweise schön oder in irgendeiner Form gelungen. Sie liefert keine Antworten, wirft jedoch die Frage nach der Wahrheit, wie zu zeigen sein wird, als eine Frage der je eigenen sozialen, religiösen und politischen Erfahrung auf, und versucht, diese Erfahrung mit spezifischen malerischen Mitteln zu bearbeiten. Gerade weil der normative Horizont einer gegebenen absoluten Wahrheit als zumindest massiv umstritten erlebt werden musste, stellte sich die Frage nach der Wahrheit der Kunst mit bis dahin unbekannter Dringlichkeit. Anfangs kommt es im sogenannten Romanismus zu einem scheinbaren Triumph des italienisch-humanistischen Bild-, Malerei- und Kunstverständnisses. Die Kunstgeschichte hat lange alle, an der altniederländischen Tradi­ tion festgemachten Momente als anachronistisch, retardierend oder gar als ‚primitiv‘ gekennzeichnet.31 Tatsächlich wird die Italienreise bzw. der Besuch von Fontainebleau32 fast obligatorisch. Der Internationalismus Antwerpens wie Brüssels – als dem höfischen Zentrum der Habsburger – machte die Rezeption der italienischen Hochrenaissance ohnehin zwingend. Dennoch wird zu zeigen sein, wie gerade die romanistischen Maler an der Reformulierung der altniederländischen Bild-, Malerei- und Kunstidee arbeiteten und diese für ihre neuen Aufgaben zu nutzen im Stande waren. Denn deren Malerei lässt sich nicht auf eine reine Stilfrage festlegen; in ihr kommen Themen zur Sprache, die die Veränderung des Alltagslebens durch soziale und kulturelle Differenzierung ebenso betreffen wie das Geld im Spannungsfeld von Religion und Ökonomie, und damit soziale, religiöse und politische Positionierungen einfordern, wie sie der gleichzeitigen italienischen Malerei nahezu unbekannt geblieben sind. Hierbei wird das altniederländische Bildverständnis fortgeschrieben und sowohl den stilistischen als auch den thematischen Bedürfnissen angepasst. Das Bild fungiert immer noch als Schwelle; stets gibt es starke Bezüge auf den symbolischen Raum, der das Bild umgibt. Hinzu kommen besondere Formen 31 Kurioserweise halten viele belgische Museen bis heute an der Kennzeichnung der altniederländischen Malerei als „primitives flamandes“ fest, einer aus dem französischen Klassizismus stammenden Kategorie, die ausschließlich auf Stil und religiöse Intensität bezogen war und in keiner Weise der Tatsache gerecht wird, dass es sich hierbei um ein höchst komplexes visuelles Denken handelt, das wohl erst im Zeitalter des Films eingeholt wird. 32 Dort arbeiteten mit Rosso Fiorentino und Primaticcio zwei wichtiger Vertreter der italienischen Renaissance bzw. des Manierismus. Und es gab die Sammlung von Franz I mit vielen Meisterwerken der italienischen Hochrenaissance zu sehen.

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eines antagonistischen Bildes, meist in Verbindung mit montageartigen Strukturen, die unterschiedliche Bildteile fast unvermittelt aufeinander treffen lassen. Hier werden Spannungen artikuliert ohne sie im Bild aufzuheben; sie werden vielmehr zur Entscheidung in den Akt der Wahrnehmung verschoben. Das ‚Spiel‘ zwischen Repräsentation, Realismus und Reflexivität wird ernster; diese Bilder erfordern auch in der Betrachtung den persönlichen Einsatz, sowohl hinsichtlich des Verständnisses als auch der Positionierung. Bis weit in die 1550er-Jahre hinein33 wird dieser unmittelbar konfrontative Bildantagonismus immer wieder aufgerufen; in einigen Allegorien auch später noch. In vielen der berühmten Bilder und Zeichnungen von Pieter Bruegel d. Ä. wird dieses antagonistische Bildverständnis seit den 1560er-Jahren noch einmal brillant zugespitzt, gleichzeitig allerdings auch wieder gezähmt, verrätselt oder in ein stark naturalisiertes Geschehen eingebunden. Nach 1585, dem Jahr der Reconquista von Antwerpen durch die spanischhabsburgischen Truppen unter Alessandro Farnese, ändert sich die Situation grundlegend. Die beiden neu gegründeten politischen Einheiten, die spanischen Niederlande und die Sieben Vereinigten Provinzen – die später zur Niederländischen Republik werden – entwickeln unterschiedliche Bewältigungsstrategien, um die offene Wunde der unbeantwortbaren Wahrheitsfrage, die das 16. Jahrhundert aufgeworfen hatte, zu schließen. Als holländische und flämische Kunst nehmen zwei alternative Konzeptionen Gestalt an, die eine im Namen einer kapitalistischen, calvinistischen und kolonialistischen Republik, die andere im Namen von Merkantilismus, Katholizismus und einer universalen Reichsidee. Der innere Konflikt der Malerei des 16. Jahrhunderts scheint nun auf die jeweils andere Seite hin ausgelagert zu sein, sodass es zu zwar äußerst unterschiedlichen, in sich jedoch weitgehend homogenen Vorstellungen von Kunst kommt. Hier kündigt sich die Spaltung des modernen Kunstverständnisses an, wie sie die moderne Kunstkritik immer wieder zwischen Beschreibung und Erzählung, meditativer Selbstbezogenheit (Absorption) und theatralischer Beeindruckung, Buchstäblichkeit und Illusion, oder zwischen Präsenz und Spektakel zu fassen, zu bewerten und letztlich zu überwinden suchte. Der Antagonismus ästhetischer Strategien – typischerweise erst seit dem 19. Jahrhundert als Differenz von Hoch- und Populärkultur lokalisiert – ist hier bereits voll entwickelt. Beide Seiten bleiben jedoch gerade in der Abgrenzung auch aufeinander bezogen. Erst in ihrem Wechselspiel lässt sich eine Archäologie der modernen Kunst in ihrer Gespaltenheit fassen. 33 Vor allem bei Quinten Metsijs, Marinus van Reymersvaele, Jan Sanders van Hemessen, Catharina van Hemessen, dem Braunschweiger Monogrammisten, Pieter Aertsen und Joachim Beuckelaer.

Abb. 3 Jan van Eyck, „Leal Souvenir“, auch bekannt als „Thimotheus“ oder als „Porträt eines Mannes“, 1432, London, National Gallery, 34,5 × 19 cm.

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In Holland tritt an die Stelle des antagonistischen das analytische Bild, das durch eine forcierte Marktorientierung, Spezialisierung und die damit verbundene Ausbildung von immer enger definierten Genre-Kategorien definiert ist. Landschaften, Interieurs, Stillleben, Portraits und Genres, wie sie insbesondere in Haarlem während der 1610er- und 1620er-Jahre entstehen, ist gemeinsam, dass sie durch die Detailgenauigkeit und Alltagsbezogenheit ihrer Beschreibungen ebenso wie durch eine neuartige formale Stringenz34 hinsichtlich des Formats und der inneren Relationalität von Bildfläche und Bildraum, von Objekt und Licht, Buchstäblichkeit und formaler wie inhaltlicher Referenz gekennzeichnet sind. Die analytische Methode betrifft insbesondere die Art und Weise, wie das Bild selbst, mithin das Verhältnis zwischen den einzelnen, immer feiner voneinander unterscheidbaren Elementen und dem Bildganzen als einer Ordnung der Beziehungen dieser Elemente untereinander, gedacht wird. Somit rahmt das analytische Bild jede Empirie und thematisiert sich selbst als ein abstraktes Schema des Vorstellens und der symbolischen Repräsentation. Der analytische Impuls wird von den Landschaften und Gegenständen auch auf die Personen und ihre situativen Verhältnisse übertragen. Die Hegelʼschen Kategorien von Zustand, Situation und Handlung beschreiben sehr gut das Spannungsfeld, in dem sich die holländische Malerei zwischen Haarlem, Amsterdam und Delft entfaltet. Vor allem in der Genre-Malerei tritt das Typische des Situativen dem Heroischen der Handlung entgegen35 und wir sehen zuweilen eine starke ‚Absorption‘ der Figuren, die vielfach als Beispiele einer „Sakralisierung des Alltags“ im Sinne eines calvinistischen Imaginären beschrieben wurden.36 Im Kontext 34 Diese formale Stringenz wird immer wieder als proto-modernistisch interpretiert, etwa bei Hercules Segers, bei Pieter Claesz, Pieter de Hooch und Johannes Vermeer. Der holländische Formalismus unterscheidet sich jedoch grundsätzlich vom italienischen, von Giotto ausgehenden Verständnis der Komposition: In Holland wird tatsächlich die Bildfläche zum entscheidenden Ausgangspunkt und nicht die Gewichtung der Figuren. Auch bleibt konstitutiv der Bezug auf den Wahrnehmungsakt und die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen erhalten. Das analytische Bild ist kein abstraktes Bild; es entwickelt seine Abstraktionen in heuristischer Absicht. 35 Die Spezifik der holländischen Malerei entwickelt sich in Haarlem in deutlicher Abgrenzung zur Historienmalerei, auch wenn weiterhin Historienmalerei betrieben wurde. Vor allem in Amsterdam wird die Historienmalerei selbst zu einer Art von Genre und kennzeichnet nicht mehr den übergreifenden Rahmen und die primäre Aufgabenstellung der Malerei. Bei Rembrandt wird zu zeigen sein, wie sich die versuchte Erneuerung des Historienbildes auf Basis der Anerkennung des Alltäglich-Situativen und des Gegenwärtigen vollzieht. 36 Vor allem bei Vermeer, der jedoch katholisch war. Generell zur Dialektik einer Profanierung des Heiligen und einer Sakralisierung des Alltäglichen siehe: Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, Massachusetts (MIT Press) 2007.

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der ­zunehmenden Verwissenschaftlichung des Sehens kommt es punktuell nun auch zu einer massiven Rezeption der Perspektive, was jedoch keineswegs zur Bühnenästhetik der humanistischen Historienmalerei führt. Ganz im Gegenteil wird die Perspektive ganz im Sinne des altniederländischen Bildverständnisses entweder für weite urbane Szenarien, tiefe Raumfluchten oder auch für äußerste Nähen (wie in den trompe-l’oeils) eingesetzt.37 Selbst in den perfekt konstruierten Interieurs von Carel Fabritius, Pieter de Hooch, Johannes Vermeer oder Samuel van Hoogstraten bleibt der Bezug auf das Davor oder das Außerhalb des Bildes konstitutiv erhalten. Vorhänge, Spiegel, Fenster und Inschriften werden auf raffinierte Weise in das scheinbar rein illusionistische Bild integriert. Derart bewahrt sich auch der Schwellen-Charakter des Bildes und kann in manchen Fällen auch zur Akzentuierung von sozialer Differenz (bei Jacob Ochtervelt etwa) benutzt werden.38 Diese Differenz erscheint allerdings nie mehr so antagonistisch wie im 16. Jahrhundert, und wirft die Frage nach dem besonderen Verhältnis von Repräsentation, Realismus und Reflexivität innerhalb der holländischen Malerei und damit nach ihrem Verständnis des Sozialen zwischen frühbürgerlichem Ideal und Ideologie auf. In Antwerpen führt die massive Re-Katholisierung nach 1585, insbesondere zur Zeit des 12-jährigen Waffenstillstandes zwischen 1609 und 1621, der mit der Rückkehr von Peter Paul Rubens aus Italien zusammenfällt, zur Ausbildung dessen, was ich das synthetische Bild nennen möchte. Mit diesem Begriff sind nicht nur Stilsynthesen zwischen altniederländischer und italienischer Malerei gemeint, wie sie bereits für den Romanismus bestimmend waren, oder ideologische Synthesen zwischen Humanismus und Katholizismus, die eine am Sinnlichen ansetzende, ‚jesuitische‘ Spiritualität hervorbrachten. Das synthetische Bild betrifft vielmehr den Produktions- und Rezeptionsmodus des Bildes selbst. Auch hier wird die seit dem frühen 16. Jahrhundert in Antwerpen fassbare Spezialisierung aufgenommen, und dementsprechend agieren viele Künstler als Spezialisten für Landschaften, Figuren, Tierbilder oder Stillleben; diese Formen der Spezialisierung werden jedoch umgehend in neue Formen der Kooperation übersetzt: nicht nur im Sinne eines merkantilen Produktionsbetriebs, wie ihn die Rubens-Werkstatt mit einer Vielzahl von

37 38

Hierzu siehe: Hanneke Grootenboer, The Rhetoric of Perspective. Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Sill-Life Painting, Chicago, London (The University of Chicago Press), 2005. Hierzu siehe: Ronni Baer, Class Distinctions. Dutch Painting in the Age of Rembrandt and Vermeer, Boston (MFA Publications), 2016; sowie: Simon Schama, The Embarassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York (Random House) 1987.

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Assistenten darstellt, sondern auch zwischen verschiedenen Meistern.39 Die unterschiedlichen Dimensionen des Synthetischen kulminieren schließlich in einer Bildidee, die nicht auf isolierbare Elemente rekurriert, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, woraus sich die Formen und schließlich das analytische Bildverständnis ergeben, sondern auf alles durchdringende Kräfte und Kraftverhältnisse. Kein statisches, sondern ein äußerst dynamisches Universum zeigt sich hier in den unterschiedlichen methodischen Dimensionen der Dynamisierung, der Verdichtung und der Verwandlung. Jan Brueghel d. Ä. hat gleichsam die Grammatik dieses Bildverständnisses entworfen; Rubens entfaltet daraus und darüber eine Bild-Pragmatik, in der die Idee der Verwandlung zur spirituellen „Verklärung“ von materiellen Körpern als dem grundlegenden Mythos des gegenreformatorisch-dynastischen Komplexes zugespitzt wird. Dies geht nicht ohne Gewalt vonstatten. Die verstörende Dynamik und Konfliktbezogenheit des antagonistischen Bildes will überwunden werden und realisiert sich in umso verstörenderen Gesten der Überwindung eines jeden Widerstands und des endgültigen Triumphs. Vor allem im Kult der Eucharistie will die Malerei hier in einem konsequent heteronomen Sinn real werden, sich in und als eine absolute Form von Wahrheit realisieren. Doch natürlich kann eine solche endgültige Stillstellung aller Widersprüche im Sinne einer umfassenden Bildsynthese nicht gelingen. Im malerischen Einsatz ebenso wie in der subjektiven Positionierung wurzelt immer schon die Differenz und somit die Unhintergehbarkeit von Repräsentation, Reflexivität und Realismus. Zwar führte das massive Re-Katholisierungs-Programm zu einer immens wachsenden Zahl an Aufträgen für die Künstler und deswegen – im Vergleich zu Holland – zu weit geringerer Abhängigkeit vom Markt; gleichzeitig gibt es jedoch auch keinen Proto-Nationalismus und keine proto-bourgeoise Klassenkultur als Bezugspunkt für die je eigene soziale und künstlerische Identität. Deswegen findet ein ständiger Wechsel zwischen dem Streben nach aristokratischen Titeln als Hofmaler und Diplomaten einerseits und einer idealisierten Identifikation mit dem flämischen Volk in der Tradition von Pieter Bruegel d. Ä. andererseits statt. Die flämische Malerei des 17. Jahrhunderts entwickelt spezifische Fähigkeiten, um diesen immensen sozialen Spielraum zu durchqueren; die Erfahrung einer letztlich nicht synthetisierbaren sozialen Differenz macht möglicherweise sogar einen ihrer zentralen, unterschwelligen Züge aus. Sie führt zu neuen Formen sozialer Reflexivität, etwa bei Adrian Brouwer, Jacob Jordaens oder Michaelina Wautier (siehe Kap  6), die die Positionierung der Figur des Künstlers bzw. der Künstlerin 39 Es gibt einzelne Bilder, an deren Herstellung bis zu zwölf eigenständige Maler beteiligt waren.

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innerhalb dieser besonderen historischen Konstellation betreffen. Schließlich lassen sich die Galeriebilder, dieses für die flämische Malerei so typische und einzigartige Genre, als eine Form der ‚Bildsynthese‘ begreifen.40 Die Sammlung und Präsentation der Tableaus wird hier zur ‚Bühne‘ der Repräsentation, auf der Maler wie Fürsten auftreten.41 Damit wird nicht nur eine dem Bildersturm der Calvinisten entgegengesetzte Bildungs- und Sammlungskultur beschworen; die Malerei differenziert sich hier aus den höchst unspezifischen Sammlungskomplexen der Wunderkammern des 16. Jahrhunderts und reflektiert sich selbst in ihrem zunehmend dominant werdenden Symbolisierungsmodus als Kunst. 2.4.

Ausblick: Das Dispositiv der Malerei entfaltet sich

Ziel dieses Buches ist es nicht, eine weitere Ursprungslegende der modernen oder zeitgenössischen Kunst anzubieten,42 sondern danach zu fragen, wie und unter welchen Bedingungen diese möglich geworden ist. Nicht die heroischindividuellen Leistungen exemplarischer Künstler-Subjekte, die im Sinne einer imaginären Moderne all ihre traditionellen Fesseln abzustreifen in der Lage waren, stehen deshalb im Vordergrund, sondern die Verschiebungen innerhalb der grundlegenden symbolischen Strukturen der Moderne. Erst von hier aus wird vorstellbar, wie im Deutschen Idealismus – insbesondere bei Schelling – Kunst gerade in ihrer Unbestimmtheit als höchste Form des Geistes verstanden werden konnte. Die Möglichkeit dieser Bestimmung der Kunst im Unbestimmten wurzelt in der Emergenz der Malerei als eines bestimmten Dispositivs,43 einer Anordnungsweise des Symbolischen rund um die Begriffe des Bildes, der Malerei und schließlich der Kunst. Dieses Dispositiv, das ich anhand der Entwicklung der Niederländischen Malerei zu umreißen versuche, entfaltet sich ausgehend von jenem besonderen Bildverständnis, das der altniederländischen Idee des Bildes als einer Schwelle zu Grunde liegt; diese 40 41

Erst im 18. Jahrhundert entstehen auch französische und englische Versionen des Genres. Im frühen 15. Jahrhundert waren die Tableaus der fürstlichen Repräsentation noch nicht würdig; im Gegensatz zu Skulpturen aus Stein waren sie eher einer frühbürgerlichen Repräsentation vorbehalten. Ihr symbolischer Wert muss bis ins frühe 17. Jahrhundert derart angewachsen sein, dass sie nun zum Inbegriff fürstlicher Repräsentation werden konnten. 42 Im Sinne von Arnolf Hauser, Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance, München (C. H. Beck), 1964. 43 Hierzu siehe vom Vf., „Malerei als Dispositiv. 12 Thesen“, in: Texte zur Kunst Nr. 77, März 2010, S. 38–45.

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Idee meint nicht einfach eine besondere technisch-handwerkliche Fertigkeit, sondern die konzeptuelle, taktische und kommunikative Handhabung des symbolischen Raums, den dieses Bildverständnis impliziert und der zunehmend als Malerei verstanden wird, als Kunst der Malerei, die sich im interaktiven Wechselspiel von Repräsentation, Realismus und Reflexivität zeigt. Die Malerei etabliert sich derart als exemplarische Form von Kunst und zeigt somit auch die Historizität der Kategorie Kunst selbst an. Antagonistisches, analytisches und synthetisches Bild kennzeichnen die historischen Eckpunkte dieses Prozesses der Kunstwerdung der Malerei; als unterschiedliche ästhetische Auffassungen positionieren sie sich innerhalb des jeweiligen sozialen und kulturellen Raums, und zunehmend auch in Abgrenzung voneinander. Gerade in der Differenz dieser Versuche inspirierte die Niederländische Malerei in ihrer Gesamtheit die moderne Vorstellung von Kunst als kategorisch umstrittene, um ihr Eigentliches ringende Kategorie. Die jeweiligen sozialen, religiösen und politischen Wahrheitsansprüche betrafen die besondere Erfahrung der Maler bzw. Malerinnen und damit zunehmend die Malerei selbst, die in ihrem Status und ihrem Wert, ihrer Funktion und ihrer Bedeutung nicht mehr vorausgesetzt, sondern immer erst subjektiv behauptet und in einem sozialen Feld positioniert werden musste.44 Gerade im Scheitern eines jeden dieses subjektiven Wahrheitsanspruchs entfaltet sich das spezifische Wahrheitsdispositiv der Malerei. Während das Alberti’sche Modell des Bildes und der Malerei mit dem Niedergang der humanistischen Idee einer monumentalen Erneuerung der antiken Kultur im Gewand des Christentums verschwand oder sich in moderne Wissenschaften und technologische Bildproduktion verwandelte,45 inspirierte das niederländischflämisch-holländische Modell die spezifisch moderne Vorstellung von Kunst, indem es die Tableau-bezogene Malerei im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zum entscheidenden Medium für ein allgemeineres Verständnis von Malerei und von dort aus zu einem substanziellen Verständnis von Kunst machte. Vor 44 45

Das heißt nicht, dass im 16. Jahrhundert bereits jede künstlerische Entscheidung subjektiv motiviert ist; der Spielraum für den subjektiven Einsatz erhöht sich jedoch dramatisch. Er wird zunehmend zur Forderung, die den Status der Malerei als Kunst begründet. Max Weber zählt die Perspektive unter jene für die westliche Moderne typisch Formen der Rationalisierung neben Formen der Harmonik in der Musik. Dies macht deutlich, dass die Perspektive in der frühen Neuzeit tatsächlich ein wichtiges Modernisierungsmodell darstellte, diese Stelle aber mit der zunehmenden Ausdifferenzierung zwischen Wissenschaft und Kunst verlor. Moderne Kunst hat sich vielfach genau in Abgrenzung zur Perspektive verstanden – „Das Ende der wissenschaftlichen Perspektive“ – und sich damit als revolutionäre Neugestaltung begriffen, wobei sie allerdings ihr konservatives Element gegenüber dem Niederländischen Bild-, Malerei- und Kunstverständnis geflissentlich übersah.

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Kapitel 2

allem in der Verfügbarkeit und Sichtbarmachung der einzelnen Tableaus im Rahmen einer Sammlung verschiebt sich die Malerei schließlich hin zum Dispositiv der Kunst, in dem die zeitlose Wahrheit der Kunst denkbar wird, und die aktuelle Erfahrung notwendig.46 Denn im Spiel von Repräsentation, Realismus und Reflexivität veränderte sich nicht nur das Selbstverständnis der Künstler und Künstlerinnen in Bezug auf ihre Subjektivität, ihr Verhältnis zu den Auftraggebern, zum Markt und zu den sich rasch verändernden kulturellen, sozialen oder religiösen Bedingungen, sondern vor allem auch in Hinblick auf die Rolle der Betrachtenden. Diese werden als Publikum in einem neuen Sinn bedeutsam und damit – bei Bosch und Bruegel etwa – auch bildwürdig; sie emanzipierten sich selbst aus dem reinen Objektstatus einer religiösen Didaktik oder einer hierarchisch verordneten Erzählung der feudalen Macht, und investierten zunehmend in ihre eigenen Subjektivitäten im Sinne einer ästhetischen Erfahrung. Im symboli­ schen Raum der Malerei wird der Akt der Betrachtung wichtiger als der des Auftrags. Gerade weil die Bilder gesammelt wurden, um gezeigt und verhandelt werden zu können, lebten sie weiter, tradierten sie ihre Funktion als Malerei und als Kunst über die gegebenen Umstände ihrer Entstehung hinaus. Sie implizieren daher stets neue Betrachtungssituationen. Unter den spezifischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts, vor allem des entstehenden „Ausstellungskomplexes“,47 bildeten diese Subjektivitäten neue kollektive 46 Ich argumentiere keineswegs für eine essenzielle Differenz von italienischem und niederländisch-flämischem Kunstverständnis. Klarerweise gab es zu jeder Zeit eine Fülle an Wechselwirkungen. Und doch scheint es mir auf der heuristischen Ebene sinnvoll zu sein, mit dieser Differenz zu arbeiten. Zweifellos hat auch das humanistische Prestige der Malerei, als wissenschaftliche ebenso wie als göttlich inspirierte Schöpfung verstanden, zur Aufwertung und Spezifizierung des modernen Begriffs der Kunst beigetragen. Dennoch sind moderne und zeitgenössische Kunst gerade aus einer Krise dieser Tradition hervorgegangen. Moderne Kunst hat sich selbst als Überwindung dieser Krise im Sinne einer erst aus dieser Tradition herausverstehbaren Neuschöpfung verstanden und dabei ihre eigenen Quellen geflissentlich ausgespart. Zeitgenössische Kunst macht spätestens seit den 1960er-Jahren die Auseinandersetzung mit diesen Aussparungen unverzichtbar. Historisch scheint mir hierbei entscheidend zu sein, dass nicht die Niederländische Malerei sich an die italienische anpasst, sondern dass umgekehrt die italienische Malerei, vor allem als Sammlungs- und als Reflexionsobjekt sich in das Niederländische Bild-, Malerei- und Kunstverständnis einschreibt. Eine erste, viel gescholtene Abkehr von der Italien-Zentriertheit der europäischen Kunstgeschichtsschreibung findet sich bei Svetlana Alpers, The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago (University Press of Chicago) 1983. Auch wenn sich meine Lesart der nördlichen Kunstgeschichte deutlich von derjenigen Alpers’ unterscheidet, so scheint mir doch der modernitätstheoretische Impuls ihrer Arbeit bisher nicht ausreichend gewürdigt. 47 Tony Benett, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London, New York (Routledge) 1995.

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Rituale des Austausches aus und schufen so diskursive und institutionelle Realitäten, die das Problem der Wahrheit in Kunst und Malerei auf eine neue Ebene stellten. Das kategorisch Unbestimmte von Malerei als Kunst wurde hierbei institutionell und diskursiv gefasst, und damit im Wechselspiel von institutioneller oder marktförmiger Ausstellung (Salon und Museum) und diskursiver bzw. medialer Verhandlung (als Kunstkritik, Kunstgeschichte oder philosophische Ästhetik) zur positiven Grundbedingung aller Formen moderner und zeitgenössischer Kunst.48 Das Unbehagen an diesen institutionellen und diskursiven ‚Filtern‘, durch die hindurch die jeweils individuellen Erfahrungen sowohl auf produktiver wie auf rezeptiver Seite ausgewählt und bewertet werden sollten, wurde alsbald zum Ausgangspunkt von Versuchen der Überwindung dieser Prozeduren im Versuch, den je eigenen Erfahrungshorizont als bedingungslosen Wahrheitsanspruch durch­zusetzen. Das Genie etwa etablierte sich am Ende des 18. Jahrhunderts als Kategorie durch eine solche Bedingungslosigkeit,49 die nicht aus den institutionellen, marktförmigen, medialen und diskursiven Filtern abgeleitet werden konnte. Genau in dieser Abgrenzung vom wertsichernden Geflecht der bürgerlichen Öffentlichkeit zeigt sich jedoch selbst eine spezifische Erfahrung, die wiederum nur innerhalb dieses Geflechts als eine Erfahrung von Wahrheit anerkannt werden könnte. In dieser höchst ambivalenten Form der Erfahrung wurzeln die idealistischen Ästhetiken der Wahrheit und des Absoluten ebenso wie die ihnen folgenden Rhetoriken der modernen Kunstkritik in ihren modernistischen, avantgardistischen und realistischen Varianten. Sie können die Wahrheit der Kunst behaupten, einfordern oder zuschreiben; um dies zu tun bleiben sie jedoch auf die je eigenen, institutionellen, marktförmigen, medialen und diskursiven Bedingungen angewiesen, die wiederum jeden konkreten Wahrheitsanspruch unterminieren. Die idealistischen bzw. die kunstkritischen Überwindungsversuche der spezifisch modernen Bedingungen von Kunst indizieren jedoch gerade in der Unmöglichkeit ihrer buchstäblichen Realisierung die negative Grundbedingung von moderner und zeitgenössischer Kunst. Auch diese negative Grundbedingung lässt sich nicht voluntaristisch aufheben, sondern nur in seiner kategorischen Unbestimmtheit adressieren. Indem vor allem die moderne Kunstkritik an einer Art von „mosaischer Unterscheidung“50 zwischen einer wahren und einer falschen 48 49

Ausstellungen fungieren anfangs gleichzeitig als Märkte, Diskurse und als Medien. Bei Kant ist es die Natur, die sich im Genie selbst die Regel gibt, die allerdings nach einer „Zucht“ in der sozialen Instanz des Geschmacks verlangt. 50 Siehe: Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung: oder der Preis des Monotheismus, München (Beck), 2003.

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Kapitel 2

Kunst, zwischen Kunst und Nicht-Kunst oder Kunst und Kitsch orientiert blieb, verfehlte sie die je eigene, kategorische Unbestimmtheit und leistete derart kunsthistorischen Narrativen Vorschub, die ihre eigene Genese zum Verschwinden brachten.51 Dementsprechend sind Künstler wie Gustave Courbet, Eduard Manet, Cézanne oder Van Gogh und Piet Mondrian, die gerne als jene heroischen Subjekte beschworen werden,52 durch die sich moderne Kunst in ihren unterschiedlichen Modalitäten Bahn bricht, nur in Bezug auf das italienische Bildverständnis ‚revolutionär‘, keineswegs jedoch im Hinblick auf die hier skizzierte Geschichte. Sie alle transformieren sorgfältig Genres, Malweisen und Bildideen der Niederländischen Malerei, zum Teil, indem sie sich diese durch die spanische und französische Malerei hindurch angeeignet haben. Durch diese Vermittlung bleibt die Niederländische Malerei heute noch in jedem gemalten Tableau lebendig; als etablierte Form der Bearbeitung des Bildes als Schwelle und der damit verbundenen Verhältnisse zwischen Repräsentation, Realismus und Reflexion betrifft sie sogar noch alle postmedialen Praktiken der zeitgenössischen Kunst. Denn selbst deren Ahnherr, Marcel Duchamp, ist in dieser Perspektive nichts als ein weiterer Gaukler, der mit seinem Publikum spielt. Auch hier sehen wir keine Überwindung der Malerei, sondern deren 51 Noch in den Konflikten der 1970er- und 1980er-Jahre zwischen Konzeptualismus und Malerei spiegelt sich diese kategorische Unterscheidungslogik der modernen Kunstkritik. Auch hier schien es lange Zeit darum zu gehen, sich einem der beiden Universen mit ihren jeweiligen Wahrheitsansprüchen zuzuordnen. Malerei erschien dann aus der konzeptuellen Perspektive als „obsolet“, das heißt, dem eigenen Fortschrittsnarrativ nicht mehr entsprechend oder als zutiefst vom Markt korrumpiert; umgekehrt galt der Konzeptualismus und die daran anknüpfende politische Kunst als „kunstfern“, gemessen an einem quasi natürlichen Ausdrucksbedürfnis oder einem „Hunger nach Bildern“, der nur durch eine Wiedergewinnung der Malerei zu stillen wäre. Beide Sichtweisen verkürzen gravierend, worum es in einer Auseinandersetzung mit Malerei gehen könnte. Gerade der massive Konflikt indiziert eine symbolische Bedeutsamkeit, die innerhalb des Konflikts – im strikt antagonistisch verstandenen Verhältnis zwischen Ideal und Ideologie – nicht sichtbar wird. Dementsprechend ist es weniger wichtig, sich innerhalb dieses Konflikts für eine Wahrheit zu entscheiden, als danach zu fragen, wie der Malerei überhaupt eine solche Bedeutsamkeit zuwachsen konnte, dass um sie so massiv gestritten werden musste. Der Streit scheint also unmittelbar zu ihr selbst zu gehören; bezeichnend ist auch, dass er um den Bestand der Sache selbst geführt wurde und deshalb intensiver und unversöhnlicher ausfiel als in den Modernisierungs-Rhetoriken anderer Kunstgattungen. 52 Sie werden immer wieder als die „Patres“, die „Väter“ oder „Großväter“ der modernen Kunst beschworen, siehe: Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart (Kröner) 1966, und immer noch bei Robert Pippin, After the Beautiful. Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism, Chicago, London ((The University of Chicago Press), 2014.

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konsequente Fortschreibung auf dem Weg ihrer Kunst- und sogar ihrer KritikWerdung. Die Unbestimmtheit selbst konnte hier sogar zum Medium einer Kunst werden, die sich in ihrer spezifischen Historizität radikal selbst verkennt. Dies macht deutlich, dass die Malerei in der Tat weder ein stummes und passives Objekt ist, das auf eine aktive Interpretation wartet, die sie feiert oder kritisiert, die ihr gegenständliche oder realistische Glaubwürdigkeit verleiht, noch nur ein abstrakter Begriff, auf den wir auch gerne verzichten könnten. Gerade als ein materielles Objekt einer wie auch immer gearteten künstlerischen bzw. malerischen Praxis enthält sie stets auch Interpretationen, diskursive Kategorien und soziale Wahrnehmungsmuster oder Weltanschauungen. Indem sie sich immer schon mit den Kategorien Repräsentation, Realismus und Reflexivität auseinandersetzt, bietet die Malerei tatsächlich eine sehr spezifische ‚Philosophie‘. Deren Wahrheit liegt weder in der strikten Erfüllung des Versprechens dieser Kategorien – wirklich repräsentativ, realistisch oder reflexiv zu sein – noch in ihrer vollständigen Ablehnung. Vielmehr interagieren Repräsentation, Realismus und Reflexivität in einer Weise, die diese stark umkämpften und fragilen Kategorien als Mittel zur Erforschung der kulturellen und sozialen Welt brauchbar macht. Vision und Denken, Praxis und Diskurs sind darin untrennbar miteinander verwoben. Von Anfang an stehen etwa Marktwerte in direktem Zusammenhang mit den Möglichkeiten gesellschaftlicher Untersuchung und sogar Kritik; das künstlerische Selbstbewusstsein und die Selbstbehauptung angesichts gesellschaftlicher Krisen lassen sich auf philosophische, politische und religiöse Ambitionen beziehen; und diese Ambitionen verstehen sich zunehmend als spezifisch künstlerisch. Darin liegt jedoch keine reine Autonomie der Malerei oder der Kunst begründet, sondern bloß ein historisch sehr spezifisches, ebenso soziales wie kulturelles Dispositiv, aus dem die Kategorien der symbolischen Ordnung der Moderne erst hervorgehen und von dem aus sie in vielfacher Form immer wieder von Neuem beansprucht, verknüpft oder verworfen werden können.

Abb. 4 Jan van Eyck, „Arnolfini Doppelporträt“, 1434, London, National Gallery, 82, × 59,5 cm.

Kapitel 3

Das Bild als Schwelle 3.1.

Was ist ein Bild?1

Was uns heute so selbstverständlich zu sein scheint, dass es nämlich Bilder ohne Kunstanspruch und Kunst ohne Bilder gibt, verweist zweifelsfrei auf eine bestimmte historische Situation, die durch eine Spaltung zwischen massenhafter Bildproduktion einerseits und hoher Wertschätzung von Kunst andererseits gekennzeichnet ist. Diese Spaltung impliziert jedoch keineswegs eine vorgängige Einheit von Bild und Kunst, wie sie in der populären Meinung zum Ausdruck kommt, dass das gekonnte Herstellen von Bildern bereits die Kunst bedeute. Gerade die rein handwerklich hergestellten Bilder waren und sind nicht notwendigerweise Kunst im modernen Sinn.2 Dekorative, didaktische und kultische Funktionen haben sie in andere Symbolisierungsweisen eingebunden. Erst der mit den Reproduktionstechniken (Holzschnitt, Kupferstich, Radierung) und dem Buchdruck seit dem 15. Jahrhundert möglich gewordenen massenhaften Bildverbreitung – man könnte von einem MediumWerden der Bilder sprechen – steht im selben Zeitraum die Kunstwerdung der Malerei entgegen. Das Bild lässt sich daher genauso wenig als ahistorische Wesenheit verstehen wie ihm eine einzige Funktion oder ein dominanter Aneignungsmodus zugeschrieben werden kann.3 Entscheidend sind vielmehr die unterschiedlichen Symbolisierungen als Kunst, als Medien oder auch als Kultur, die die Bilder innerhalb des geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhangs einer symbolischen Ordnung der Moderne verorten.4 Erst innerhalb einer solchen Verortung werden die logischen Aufteilungen 1 Ich formuliere die Frage im Anschluss an: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München (Fink) 2006. 2 Siehe: Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München (Beck) 2011. 3 Die Genese eines „intellektualisierten Bildbegriffs“ in der griechischen Antike, der zwischen Ontologie und Epistemologie anhand des Begriffs des Scheins vermittelt, diskutiert Emmanuel Alloa, Das durchscheinende Bild: Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich, Berlin (diaphanes) 2011, S. 18ff. 4 Die zweifellos sehr verdienstvollen bildtheoretischen Herangehensweisen der letzten Jahrzehnte leiden letztlich daran, dass sie die symbolische Dimension der Bilder nicht ausreichend berücksichtigen. Siehe: Gottfried Böhm (Hg.) 2006 (Anm. 1); Wolfram Pichler, Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg (Junius) 2018; W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, Berlin (Suhrkamp) 2018.



  

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Kapitel 3

zwischen technisch-massenhafter Verbreitung und singulär-auratischer Aufbewahrung an besonderen Kunstorten ebenso verständlich wie die Anreize zur zunehmenden Produktion und Rezeption von Bildern. Das Bild als Kunst gibt es also nur vor dem Hintergrund der massenhaften, medialen oder kulturellen Bilder.5 Auch wenn wir uns im Rahmen dieser Studie in erster Linie mit der Kunstwerdung der Malerei beschäftigen, bleibt hierfür der Bezug auf und die zunehmende Abgrenzung von den medialen Bildern wichtig. Erst in diesem Wechselspiel zwischen Medien und Kunst lässt sich das spezifische Bildverständnis erfassen, das sich in der Malerei ausgebildet hat und als Kunst symbolisiert werden konnte. Wenn im Folgenden vom Bild als Schwelle, vom antagonistischen, analytischen und synthetischen Bild gesprochen wird, dann im Sinne solcher von der Malerei und z.T. auch von den Druckgrafiken hervorgebrachten Vorstellungsweisen von Bildern.6 Es ist diesen Bildern nicht vorgegeben, dass sie eines Tages fast ausschließlich als Kunst symbolisiert werden sollten. Sie ringen vielmehr um unterschiedliche Formen der Symbolisierung, anfangs zweifellos in erster Linie um eine Erneuerung religiös-devotionaler Glaubensvorstellungen, später auch in Hinblick auf eine Reflexion des alltäglichen Lebens oder auf politische Gründungsereignisse, und bringen in diesem Ringen die Kunst als dominante Symbolisierungsweise erst hervor. Die Malerei arbeitet nicht nur an einer besonderen Idee eines Bildes; sie zielt darin und darüber hinaus auf einen symbolischen Rahmen, der ihr selbst erst Geltung verschaffen wird. Sie ist also keineswegs ein rein handwerkliches Herstellungsverfahren von Bildern, das sich immer weiter verfeinert; vielmehr betrifft dieser Prozess der zunehmenden Verfeinerung stets ideelle und konzeptuelle, materielle und praktische Facetten, Aspekte der visuellen ebenso wie der sozialen und kulturellen Wahrnehmung. Der Umgang mit Formen des theoretischen und des praktischen Wissens ist ihr konstitutiv ebenso eingeschrieben wie die Frage der strategischen Positionierung im sozialen und kulturellen Raum. Das Bild der Malerei ist also niemals nur Bild oder gar Abbild; es entwirft sich zusehends als symbolischer Code eines sozialen und kulturellen Zusammenhangs und kann darin religiöse, politische, 5 Der symbolische Kontext der Medien kann sich künstlerische Bilder, insbesondere Gemälde, einverleiben, und umgekehrt können auch künstlerische Herangehensweisen, heute meist post-konzeptueller oder post-minimalistischer Art, mediale Bilder benutzen. Doch in beide Richtungen findet keine vollkommene Auflösung der Differenz statt. Die Mona Lisa etwa funktioniert medial nur auf Grund ihres imaginierten künstlerischen Renommees als eines alle Preisvorstellungen überschreitenden Werthorizonts – das heißt, ihre Aura bedingt ihre moderne Verkultung – und die medialen Bilder der Kunst gewinnen erst innerhalb ihres symbolischen Horizonts eine spezifische Dimension an Bedeutung. 6 Bis ins 18. Jahrhundert gibt es noch enge Verbindungen zwischen den medialen und den künstlerischen Bildern, wenngleich die Differenz sich zunehmend abzeichnet.

Das Bild als Schwelle

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ökonomische oder auch rechtliche Momente umfassen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert ist das Bild die notwendige Bedingung der Malerei; Abstraktion und Konzeptualismus zeigen jedoch keineswegs eine Überwindung der Malerei oder deren Ende an; vielmehr wird hier erst sichtbar, dass sie sich sogar von den Bildern lösen konnte und in dieser Loslösung als Kunst über ihre eigene Herkunft aus dem Bild triumphieren konnte. Scheinbar zumindest, denn die Bilder kehren dort wieder, wo diese bildlosen Arbeiten selbst wiederum fotografisch reproduziert werden und sich in ein mediales und diskursives Reflexions-Wissen einschreiben. Derart existiert auch das Readymade letztlich nur als Bild, eher als mediales denn als künstlerisches Bild. Es indiziert die Möglichkeit eines historischen Augenblicks, die Spaltung von medialem und künstlerischem Bild zu vergegenwärtigen und das mediale Bild selbst künstlerisch zu bearbeiten.7 Hierbei bleiben die methodischen Operationen von Repräsentation, Realismus und Reflexivität erhalten, in denen sich die Malerei als Kunst etabliert hatte. Das altniederländische Bild, so hatten wir gesagt, gibt keine entfernte Realität möglichst objektiv und perspektivisch korrekt wieder. Es arbeitet vielmehr an der Schwelle zwischen dem Bild und seiner Umwelt. Es symbolisiert somit räumliche und zeitliche Dimensionen einer Betrachtungs-Situation, in der das Gemälde als ein autorschaftliches Konstrukt und als ein sich selbst zur Schau stellendes ‚Medium‘ damit rechnet, als Malerei betrachtet zu werden. Diese Konstellation gilt es, in ihrem keineswegs selbstverständlichen, sondern historisch spezifischen Zusammenhang zu bedenken. Sie ist zur Grundstruktur moderner Kunsterfahrung geworden. Vor allem die Autorschaft scheint mir ein in der Forschung vielfach übergangenes Moment darzustellen,8 das einen für die Kunstwerdung der Malerei entscheidenden Subjektivitätsentwurf 7 Hierzu siehe insbesondere die verschiedenen Bearbeitungen, die Duchamp an seinem eigenen Werk seit den 1930-er Jahren vorgenommen hat. Die „große Schachtel“ etwa, oder die „grüne Schachtel“, die jeweils miniaturisierte Varianten der eigenen Gemälde und Ready­ mades enthalten. Siehe: Ecke Bonk (Hg.), Marcel Duchamp: Die große Schachtel: de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy. Inventar einer Edition, München (Schirmer-Mosel) 1988. 8 Autorschaft ist zweifellos nicht nur jenen vorbehalten, die – von Van Eyck über Dürer bis zu Bosch und Bruegel – ihre Signatur oder ein Signet überdeutlich auf jedes Bild gesetzt haben. Gerade die hitzigen kunsthistorischen Debatten um die Zuweisung bestimmter Werke oder Werkgruppen an historische verbürgte Namen zeigt an, dass es sich hierbei keineswegs um reine Stilfragen, sondern um solche der Autorschaft handelt. Exemplarisch hierfür ist die Diskussion um den sog. Meister von Flémalle (eine Erfindung von Kunsthistorikern des 19. Jahrhunderts) und seinen Zusammenhang mit den historisch verbürgten Persönlichkeiten Robert Campin, in dessen Werkstatt in Tournai Jacques Daret und Rogier van der Weyden ausgebildet wurden. Siehe: Stephan Kemperdick, Jochen Sander, „Der Meister von Flémalle, Robert Campin und Rogier van der Weyden – ein Resümee“, in: Stephan Kemperdick, Jochen Sander, Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ausstellungskatalog Berlin (Gemäldegalerie) und Frankfurt am Main (Städel Museum), 2009, S. 149–160.

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Kapitel 3

kennzeichnet, in dem sich Vorstellungen einer besonderen Kompetenz und Existenzweise von Künstlern ausdrücken, die sich zunehmend der eindeutigen Zuordnung zu Kloster, Hof oder Stadt, wie sie die spätmittelterlichen sozialen Räume definiert hatten, entziehen.9 Es kommt zu einer langsamen sozialen ‚Entbindung‘, die nicht mit modernen Individualitäts- und Autonomie-Ansprüchen gleichgesetzt werden darf, diese jedoch zweifelsohne bis zu einem gewissen Grad vorwegnehmen. Autorschaft setzt gegenüber dem handwerklichen Können oder dem gelehrten, humanistischen Wissen eine konzeptuelle Kompetenz voraus, die in der altniederländischen Malerei auf frappierende und tatsächlich neuartige Weise zutage tritt. Diese Kompetenz betrifft die Malerei als ein spezifisch künstlerisches ‚Medium‘,10 das die Entwicklung des Tableaus zur bevorzugten Bildgelegenheit (Bildvehikel) ebenso voraussetzt wie die maltechnische Verfeinerung vor allem im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Ölmalerei und der durch sie möglich gewordenen Lasuren. Sie geht aber in diesen Voraussetzungen nicht auf. Vielmehr wird sie erst in einer, diesen Voraussetzungen entsprechenden Bildidee fassbar, in der sich Aspekte der Repräsentation, des Realismus und der Reflexivität überlagern. Erst im Zusammenhang von Bildobjekt, malerischer Technik und Bildidee entsteht das Gemälde als wegweisende Kunstform bzw. -gattung, die wir heute noch in allen Gemäldegalerien antreffen.

9 Auch wenn der bürgerliche Raum der Stadt das entscheidende Milieu für die Kunstwerdung der Malerei darstellt, müssen sich die Maler als Künstler doch der dort vorherrschenden Organisationsform der Zünfte, in der sie mit den Sattlern, Färbern, Schreinern oder Schneidern zusammen gefasst sind, entfremden. Gerade die doppelte Zuordnung zu Hof und städtischer Zunft hat Künstlern von Van Eyck und van der Weyden bis hin zu Bruegel und Rubens immer wieder Spielräume eröffnet, Aspekte geistigen Eigentums, soziale Stellung und Lebensstil, und darüber wiederum spezifische künstlerische Methoden zu definieren. In der holländischen Kunst, die vornehmlich nur mehr über die Stadt, das heißt den Markt definiert ist, gehen diese Spielräume wieder verloren. Die spezifischen Privilegien moderner Künstler sind daher nicht ausschließlich als ein Reflex auf ihre gehobene Stellung am Hof zu sehen. In diesem Sinne: Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Ostfildern (Dumont) 1991. Generell zu Hof, Stadt und Kloster siehe: Rozanne de Bruijne, Nadja Garthoff, „The Town, the Monastery and the Court“, in: Stephan Kemperdick, Friso Lammertse (Hg.), The Road to Van Eyck, Ausstellungskatalog Rotterdam (Museum Boijmans van Beuningen) 2012, S. 21–28. 10 Ich unterscheide hier grundlegend zwischen den Verbreitungsmedien (im Sinne Luhmanns) der Reproduktionstechniken und des Buchdrucks und einem künstlerischen oder ästhetischen Medium im Sinne jener materiellen und ideellen Bedingungen eines Gemäldes oder künstlerischen Artefakts.

Abb. 5 Petrus Christus, „Porträt eines Kartäusers“, 1446, New York, The Metropolitan Museum of Art, 29,2 × 18,7 cm.

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Kapitel 3

Das Gemälde oder Tableau verdankt seine Herkunft als Objekt vor allem dem pluralen Bildverbund der spätmittelalterlichen Altarretabel.11 Hierfür steht noch der Genter Altar, das berühmteste Werk der Epoche, in dem die einzelnen Tafeln jedoch bereits ein hohes Maß an Unabhängigkeit voneinander aufweisen, wodurch sich die Komplexität des Austauschs zwischen den Tafeln deutlich erhöht. Generell muss also eher die Vereinzelung des Gemäldes erklärt werden als seine Pluralität,12 ebenso wie seine sich rasch durchsetzende rechtwinkelige Form, die alle anderen Formate – ganz im Gegensatz zu den Altarretabeln – als Ausnahmen erscheinen lassen wird. Diese Vereinzelung steht zweifellos im Zusammenhang mit der Entstehung des gemalten Porträts als einer zunehmend bürgerlichen Repräsentationsform.13 Bildideen, in denen sich repräsentative, realistische und reflexive Momente kreuzen, lassen sich hingegen vor allem aus der Buchmalerei herleiten, in der seit der Spätantike ‚experimentelle‘ malerische Erzählformen erprobt worden waren; dergestalt, dass das gerahmte Bild sich auf vielfältige Weise zur Buchseite, deren dekorativer und textlicher Ausgestaltung und dem Text in Beziehung setzte. Die wahrscheinliche Herkunft Jan van Eycks aus der Buchmalerei wäre dementsprechend kein Zufall.14 Als ein künstlerisches Medium lässt sich mithin der Zusammenhang zwischen Tableau (Bildobjekt oder -vehikel), praktisch-technischer Ausführung der Malerei und einer konzeptuellen Bildidee verstehen. Dieser Zusammenhang tritt den Betrachtenden zunehmend als ein Gemälde entgegen. Ein solches Gemälde oder ‚Werk‘15 fungiert als Schnittstelle einer besonderen Form der ‚Kommunikation‘ zwischen einer autorschaftlich verstandenen Subjektivität auf Seiten der Produktion und einem Publikum, das wiede­rum 11

Auch heraldische Tafeln und frühe Porträts werden als Ursprünge genannt. Siehe: Hans Belting, Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes: Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München (Hirmer) 1994. Ich zitiere nach der Leseausgabe: Hans Belting, Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München (Beck) 2010, insbesondere S. 33–60. 12 Siehe: David Ganz, Felix Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin (Reimer) 2010. 13 Der Adel bevorzugte skulpturale Repräsentation. Siehe: Hans Belting, Spiegel der Welt (Anm.  11), S.  35; Craig Harbison, Jan van Eyck. The Play of Realism, London (Reaktion Books), 2012, S. 21–29. 14 Siehe: Joris Corin Heyder, „Book Illumination and Jan van Eyck’s Early Years“, in: Stephan Kemperdick, Friso Lammertse (Hg.), 2012 (Anm. 9), S. 59–65. 15 Das Werk wäre in diesem Verständnis selbst weder eine rein produktions- noch eine rein rezeptionsästhetische Kategorie. Jedes einzelne Gemälde setzt als Werk stets andere Werke voraus. In ihrem Zusammenhang etablieren die Gemälde als Werke schließlich die Malerei, wie sie vor allem im 17. Jahrhundert im Kontext der entstehenden Sammlungen und ihrer malerischen Repräsentation sichtbar wird. Siehe Kap. VI (Das synthetische Bild).

Das Bild als Schwelle

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eigene Subjektivitätsmodelle anhand spezifischer Formen ästhetischrezeptiver Aneignung oder Erfahrung entwickelt. Es kommt hier zu einer Differenzierung der Subjektivitäten im Wechselspiel von Produktion und Rezeption, von Erwartung, taktischer Positionierung und Erfahrung auf beiden Seiten, wodurch sich die jeweiligen inhaltlichen Bestimmungen von Subjektivität erweitern bzw. überhaupt erst ausbilden können. Kommunikation wäre hier nicht als gelingende Vermittlung genialer Ideen, als didaktische Umsetzung vorgegebener Wahrheiten oder als starre Repräsentation gegebener Verhältnisse zu verstehen, sondern als Eröffnung eines Möglichkeitsraums, in dem die Malerei zunehmend um ihrer selbst willen betrachtet wird, allerdings nicht im Sinne formaler Selbstgenügsamkeit, sondern als ein symbolischer Modus, an dem unterschiedliche Erwartungen und Erfahrungen aufeinandertreffen und die Frage nach ihrer Wahrheit auf herausfordernde und unhintergehbare Weise aufgeworfen wird. Das Bild, das am Tableau und in den verfeinerten Lasurtechniken als Malerei zutage tritt, ist dementsprechend weder durchscheinend noch opak. Seine Medialität wird weder im Sinne einer immediacy-Strategie verleugnet noch auf seine formalen und materialen Komponenten beschränkt; es wird vielmehr in seiner grundlegenden hypermediacy zur Schau gestellt und als solche bearbeitet.16 Das malerische Bild, wie es uns in der altniederländischen Malerei entgegentritt, legt seine eigene Medialität im Wechselspiel von Objekt und Fläche, von Rahmung und Bild, Bild und Beschriftung offen. Gerade in dieser Offenlegung ist das gemalte Bild liminal, das heißt es kennzeichnet und bearbeitet eine Schwelle.17 Diese Schwelle ist keineswegs eine feste 16 Die Unterscheidung zwischen einem transparenten und einem opaken Bild wird insbesondere bei Arthur  C.  Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1984, S. 243 diskutiert; Jay David Bolter und Richard Grusin unterscheiden in Remediation. Understanding New Media, Cambridge, Mass. (MIT Press) 2000 zwischen immediacy und hypermediacy. Ich bevorzuge den Begriff der Hypermedailität gegenüber dem Begriff der Intertextualität. Er indiziert nicht nur die Verzahnung unterschiedlicher Medien, sondern ein stärkeres Hervortreten der je eigenen Medialität, den konstitutiven Anspruch eines Objekts oder einer Praxis als Medium, der sich gerade aus der Integration unterschiedlicher Materialitäten wie Wort und Bild ergeben kann. 17 Entscheidende methodische Anregungen verdankt die Konzeption des „Bildes als Schwelle“, das ich als spekulative Verallgemeinerung verstehe, im Wesentlichen drei kunsthistorischen Arbeiten. Zuallererst der klassischen, bis heute inspirierenden Dissertation von Ernst Michalski, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte (1931), Berlin (Gebr. Mann) 1996, in der der Autor die Dichotomie von Form- und Geistesgeschichte wie sie die Kunstgeschichtsschreibung im frühen 20. Jahrhundert beherrscht hatte, im Namen eines bildimmanenten Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie zu überwunden suchte. Das heteronome Bildverständnis wird etwa am Motiv des Vorhangs in der Tafelmalerei festgemacht. Ferner: Victor

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ästhetische Grenze, die eindeutige Unterscheidungen zwischen Schein und Wirklichkeit, Kunst und realem Raum festlegen würde. Das Bild als Schwelle ist eben kein Schnitt durch die perspektivische Sehpyramide und keineswegs als ein „offenes Fenster“ in die Wirklichkeit gedacht.18 Vielmehr definiert es eine Zone des Übergangs,19 in der die unterschiedlichen Bereiche des Wahrnehmens und des Vorstellens überhaupt erst voneinander unterscheidbar werden und miteinander in Bezug gesetzt werden können. Das gemalte Bild bindet so das Virtuelle und das Aktuelle, das Anwesende und das Abwesende, die Transzendenz und die Immanenz oder das Heilige und das Profane im Akt des Sehens aneinander.20 Dieser Schwellencharakter des Bildes lässt sich als der grundlegende Modus des altniederländischen Bildverständnisses behaupten, der die Niederländische Malerei im Gesamten durchdringt und darüber hinaus noch in den heutigen Vorstellungsweisen von Kunst wirksam ist. Darin bildet sich die Vorstellung einer ästhetischen Grenze erst aus, die nicht als zu entlarvender Schein oder als Illusion missverstanden werden darf, sondern als etwas, wodurch ein künstlerisch-ästhetischer Gegenstand Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei (1993) München (Fink) 1998, das bereits von einer „intertextuellen Schwelle“ spricht und sich insgesamt als Strukturanalyse der bildreflexiven Momente der flämischen und holländischen Malerei lesen lässt. Und schließlich der brillanten Studie von Karin Gludovatz, „Der Name am Rahmen, der Maler im Bild. Künstlerselbstverständnis und Produktionskommentar in den Signaturen Jan van Eycks“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIV, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2005, S. 115–175, in der die van Eyck’schen Bildstrategien im Sinne eines semantischen Feldes, das durch die Begriffe Grenze, Schranke, Schwelle, Scharnier, Barriere oder Brücke gekennzeichnet ist, analysiert werden. 18 Noch in den kunstaktivistischen Zusammenhängen der Gegenwart taucht das offene Fenster als Versprechen auf, hiermit der Wirklichkeit habhaft werden zu können, ohne hierbei den Symbolisierungsmodus des offenen Fensters selbst zu bedenken. Als Beispiel sei die von Kathrin Rhomberg kuratierte 6. Berlin Biennale von 2010 genannt, die unter dem Titel „Was draußen wartet“ direkt die Metapher des offenen Fensters bemühte. 19 Man könnte versucht sein, diese besondere Qualität der altniederländischen Malerei als Liminalitätserfahrung im Sinne von Victor Turner zu verstehen, als eine Art von Übergangsritus zwischen dem Heiligen und dem Profanen ebenso wie zwischen dem empirisch-Visuellen und dem symbolischen Bedeutungshorizont, der zunehmend mit der transzendentalen Funktion von Kunst selbst identifiziert werden kann. Der Wahrnehmungsakt von Malerei als Kunst beträfe in diesem Verständnis eine performative Initiation ins Sehen und Verstehen. Siehe: Victor Turner, Das Ritual. Struktur und AntiStruktur, Frankfurt am Main, New York (Campus) 2005; Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main, New York (Campus) 2009, hier insbesondere die Einleitung von Erika Fischer-Lichte. 20 Hegel hatte in der „Logik“ die Differenz von Grenze und Schranke gerade am Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen festgemacht, gleichzeitig von Sein und Sollen, siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik (1814), Erster Teil, erstes Buch, erster Abschnitt, zweites Kapitel, bb. Die Schranke und das Sollen.

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überhaupt erst in Erscheinung treten kann – nicht als reines Gegenüber zu einer wie auch immer verstandenen Wirklichkeit, sondern als besonderer Teil davon, der als imaginativer Horizont ihre eigene Möglichkeit betrifft. Das Bild der Malerei ist daher in erster Linie Hervorbringung und nicht Wiedergabe oder Wiederspiegelung; es initiiert in die grundsätzliche Ambivalenz zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Sehen und dem Verstehen, in den sozialen Sinn jedes autorschaftlichen Anspruchs. Darüber hinaus symbolisiert sich die Malerei in der Arbeit an einer ästhetischen Schwelle als Kunst. Eine solche Arbeit – nicht deren Überwindung im avantgardistischen Sinn – definiert immer noch den symbolischen Horizont von Kunst. Die Wahrheit der Niederländischen Malerei liegt daher nicht hinter dem Schein oder einer wie auch immer konzipierten strikten epistemischen Grenze, durch die sich das Transzendente vom Empirischen abgrenzen ließe; sie liegt vielmehr als spezifisch künstlerische Wahrheit im ästhetischen ‚Schein‘ selbst, wie ihn die Malerei als empirisch-transzendentale Dublette hervorbringt. Sie formuliert weder ein transzendentes Wahrheitsgeschehen noch einen empirischen oder profanen Befund; sie propagiert imaginative Horizonte des Möglichen in beide Richtungen – auch das Profane ist höchst imaginativ – und stößt derart einen Prozess an, der seine eigene Überschreitung, die Kunst als Überschreitung der Malerei, denkbar macht. Denn bis heute ist Kunst nicht rein immanent, empirisch oder profan zu denken, bezogen auf eine nur zu kultivierende ästhetische Erfahrung. Es bedarf konstitutiv der „regulativen Ideen“ und somit des transgressiven Elements eines Wahrheitsanspruchs, um spekulativ das erfassen zu können, was mit den Begriffen der Malerei und der Kunst überhaupt gemeint sein könnte. 3.2.

Die Aktualisierung des Heiligen und der devotionale Sinn der Malerei

Auf der inhaltlichen Ebene scheinen viele altniederländische Gemälde, insbesondere die spektakulären Werke Jan van Eycks, Robert Campins und Rogier van der Weydens die beiden archetypischen Dimensionen des Bildes, das Visionäre und das Mimetische, wie sie Jean-Paul Vernant anhand der griechischen Begriffsgeschichte rekonstruiert hat,21 konstitutiv miteinander zu verschränken. Dem Bild selbst kommt hierbei die Funktion zu, die Nähe 21 Jean-Pierre Vernant, „Von der Vergegenwärtigung des Unsichtbaren zur Nachahmung der Erscheinung“, in: Jean-Pierre Vernant, Zwischen Mythos und Politik. Eine intellektuelle Biographie, Berlin (Wagenbach) 1996; hierzu siehe: Emanuel Alloa, (Anm. 3), S. 18.

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des Heiligen und des Profanen als höchst glaubwürdig und möglich auszugeben. Hier ist von keinem fernen, unerreichbaren oder verborgenen Gott die Rede. Ganz im Gegenteil: Gott ist überaus präsent, ohne selbst notwendigerweise dargestellt werden zu müssen.22 Das Heilige dringt in den Alltag; es durchdringt und durchwirkt diesen. Seine überaus genaue und detailgetreue, atmosphärische Wahrnehmung und Wiedergabe ist deshalb keineswegs rein profan zu verstehen. Hier wird die gotische Lichtmetaphysik nicht im Sinne einer Renaissance der Natur überwunden, sondern in eine Art Mystik des Alltags transformiert.23 Diese neue Mystik des Empirischen kennzeichnet zweifellos einen der „theologischen Ursprünge“ der Malerei;24 in ihr wird die Natur selbst zu einer Erscheinungsform des Transzendenten und sie wirkt nicht nur unmittelbar bis in die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, sondern darüber hinaus noch als ein spezifischer Code der symbolischen Bedeutungssteigerung sowohl im romantischen Naturverständnis als auch in den weißen Räumen der Moderne und der Gegenwartskunst nach. Allerdings leistet eine solche Sakralisierung des Profanen einer Profanisierung des Heiligen unweigerlich Vorschub.25 Dennoch ist die Geschichte der Malerei nicht aus einer reinen, fortschrittslogischen Säkularisierungsperspektive zu erzählen. Vielmehr verschafft erst die Wechselseitigkeit von Sakralisierung und Profanisierung der Malerei jenen symbolischen Spielraum einer konstitutiven Unbestimmtheit, innerhalb dessen sie ihr spezifisches Prestige ausbilden kann. Selbst die zunehmende Vermarktung von Malerei ist deshalb keineswegs ein Indiz für ihre Profanisierung. Ganz im Gegenteil schreiben sich in die Malerei, die von ihrer Warenform kategorisch nicht zu trennen ist, die „theologischen Mucken“ immer schon mit ein.26

22 Die Malerei lässt sich in diesem Sinne als Gegenbewegung gegen die vom Platonismus ausgehende strikte Trennung von Immanenz und Transzendenz im Sinne einer negativen Theologie auffassen, wie sie etwa bei Meister Eckart oder Nikolaus von Kues fassbar wird. 23 Thomas von Kempens Buch „De imitatio Christi“ war 1418 anonym in den Niederlanden erschienen. Es synthetisierte die unterschiedlichen Strömungen der christlichen Mystik im Geiste der „devotio moderna“ und wurde zum nach der Bibel erfolgreichsten Buch des Christentums. Da es sich jedoch in erster Linie an Mönche und Nonnen wendete, sind sein populärer Gebrauch und vor allem seine Bedeutung für die entstehende neue Malerei-Konzeption alles andere als klar. 24 Im Sinn von Michael Gillespie, The Theological Origins of Modernity, Chicago, London (The University of Chicago Press) 2008. 25 Hierzu: Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, Massachusetts (Harvard University Press) 2007. 26 Siehe: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd 1, Kapitel 1.4: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis.

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Wichtig für das „Bild als Schwelle“ ist deshalb nicht einfach ein rezeptionsästhetisch verstehbarer, allgemeiner Bezug auf den Akt der Betrachtung, sondern die symbolische Integration der Betrachtenden. Ihnen wird ein spirituell-devotionaler Ort zugewiesen, von dem aus sie sich zunehmend selbst ebenso als Betrachtende wie als Betroffene erfahren können. Ihre Erfahrung besteht darin, sich als Zeugen einer Wahrheit zu begreifen, die sie selbst auf entscheidende Weise betrifft.27 Noch heute stehen wir in jeder Ausstellung an einem solchen symbolisch markierten Ort, an dem wir die Präsenz von Sinn und künstlerischem Wollen voraussetzen, sie durch unsere körperliche Anwesenheit ebenso wie durch unser Interesse bezeugen und auf uns selbst beziehen. Gerade diese Anmutung von Sinn und künstlerischem Wollen ist sogar zu einem entscheidenden ‚Medium‘ der Gegenwartskunst geworden, die darin ihre eigene, stets problematische Sinnhaftigkeit reflektieren kann.28 Dementsprechend hält die altniederländische Malerei der Welt keineswegs einen objektivierenden „Spiegel“ vor.29 Sie stellt auch keine kanonische Erzählung dar, die vor unseren Augen abläuft, sondern eine besondere, höchst intime Form von Begegnung: die Stifter treten mit dem heiligen Personal in direkten Kontakt; die Jungfrau Maria wird vom Erzengel Gabriel bei alltäglichen Verrichtungen überrascht; der heilige Lukas malt bzw. zeichnet sie als Madonna. Wir sehen, wie der burgundische Kanzler Nicolas Rolin der Madonna gegenüber kniet und sie anbetet, oder wie der Canonikus van der Paele in die Reihen der Heiligen am Thron der Gottesmutter tritt. Manchmal rückt das heilige Geschehen so nahe an den vorderen Bildrand – wie in van der Weydens Kreuzabnahme im Prado –, dass wir beim besten Willen keine Distanz herstellen können. Alles, was dargestellt ist, ist für uns als Betrachtende dargestellt. Das Bild ist so konzipiert, dass wir an einer Erfahrung möglichst unmittelbar teilhaben können, diese Erfahrung bezeugen und auf uns beziehen sollen. Das Bild evoziert also eine spirituelle und devotionale Nähe; das Heilige aktualisiert sich in ihm, und derart wird es zum Medium einer Unmittelbarkeit oder einer Wahrheit, die uns als Erfahrung zugänglich wird. Dies lässt sich durchaus als Ideologie begreifen wie im Fall der Stifter, 27

In Anlehnung an Bruno Latour könnte man sagen, es handle sich hier um keine matters of fact wie im perspektivischen Bild, sondern um matters of concern. Siehe: Bruno Latour, „Why has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern“, in: Critical Inquiry 30, no. 2 (Winter 2004), S. 225–248. 28 Siehe vom Vf., Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books) 2007, insbesondere das Kapitel „Substanz als Medium“. 29 Hans Beltings prägnante Zuspitzung als „Spiegel der Welt“ – so der Titel der Leseausgabe von „Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden (siehe Anm. 11) – scheint mir deshalb entscheidende Aspekte er altniederländischen Malerei zu verfehlen.

Abb. 6 Rogier van der Weyden, „Johannesaltar“, Triptychon, ca. 1455, Berlin, Gemäldegalerie, jede Tafel 77 × 48 cm. Hier: Mitteltafel.

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die ihre gesellschaftliche Stellung oder ihren Reichtum in ein transzendentes Licht rücken wollen.30 Wichtiger scheint mir jedoch zu sein, dass die Malerei sich in Paradoxien zwischen Medialität und Unmittelbarkeit, Spiritualität und Ideologie hineinbegibt bzw. sich aus ihnen heraus entwickelt. Wir sehen nicht nur das dargestellte Personal innerhalb einer besonderen heilig-profanen Begegnungs-Situation; wir begegnen darüber hinaus dem Bild selbst in einer Situation, in der wir unsere eigene Welt als symbolisch erfasst erkennen können.31 Eine solche Begegnung ermöglicht, die Bedeutung des Gesehenen für uns zu erfassen, unserer Projektion auf das Bild selbst Sinn zu unterstellen und die passive Empfänglichkeit der visuellen Botschaft gegenüber als eine aktive, ästhetische Aneignung zu erfahren. Indem das Bild unser Interesse durch die Objektpräsenz, die virtuose technische Ausführung und die konzeptuelle Bildidee auf sich zieht, bindet es uns in seinen Symbolisierungsmodus ein, und stößt so einen Prozess der zunehmenden Differenzierung an, durch den das Ästhetische, der Einsatz der materialen, technischen und konzeptionellen Mittel, überhaupt erst vom Religiös-Mystischen und vom Ideologisch-Interessegeleiteten unterscheidbar wird. Diese Unterscheidbarkeiten implizieren jedoch keineswegs kategorische Differenzen, sondern einen historisch äußerst spezifischen und wirkmächtigen Zusammenhang, der bis heute nicht überwunden ist, sondern bloß konstitutive Verschiebungen innerhalb der Register von Ontologie, Ästhetik und Politik hervorgebracht hat. Die reflexive Ebene, die die Betrachtung als Begegnung mit dem Bild direkt thematisiert, beginnt daher nicht erst mit den ersten rein profanen Porträts und Genre-Bildern.32 Das Bild der Malerei ist vielmehr grundlegend Medium einer spirituellen und devotionalen Nähe, Agentin einer spezifischen Form von Frömmigkeit, die sie aber gleichzeitig bereits auf andere Formen von Erfahrung hin transformiert. Denn die malerischen Mittel lassen sich in ihren Effekten und Wirkungen nicht kontrollieren. Sie provozieren ein vorwiegend profanes Interesse am Bild selbst, das nun spätestens ab den 1430er-Jahren auch als solches thematisiert wird, dem jedoch seine ursprüngliche ‚Frömmigkeit‘ symbolisch weiterhin eingeschrieben bleibt. Bis heute ruft die Malerei ein devotionales Interesse auf,33 das letztlich weder mit seiner materiellen 30 Röntgenaufnahmen haben belegt, dass der Kanzer Rolin ursprünglich einen prallen Geldbeutel am Gürtel trug, den van Eyck – aus welchen Gründen auch immer – später übermalt hat. 31 Den Begriff eines Begegnungsbildes verdanke ich Megan Francis Sullivan. 32 In der profanen Wandmalerei scheint es schon deutlich früher Genre-Szenen gegeben zu haben. Siehe: Stephan Kemperdick, Friso Lammertse (Hg.), 2012, (Anm. 9), S. 43. 33 Dies wäre der entscheidende Sinn dessen, was Isabelle Graw „die Liebe zur Malerei“ nennt. Siehe: Isabelle Graw, Die Liebe zur Malerei, Zürich (diaphanes) 2018.

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Warenform noch mit seiner expressiven, handwerklich-verlebendigenden Qualität hinreichend begründet werden kann. Es wird vielmehr einzig aus der besonderen symbolischen Form heraus verständlich, in der das Tableau/ Gemälde seine eigene Situiertheit im hypermedialen Modus der altniederländischen Malerei zu thematisieren begann, und somit die Aktualisierung des Heiligen mit der Selbstbehauptung der Malerei als Kunst in repräsentativen, realistischen und reflexiven Zusammenhang brachte. Jan van Eyck ist sicherlich der Virtuose der diese Form der Malerei begründenden situativen ‚Hypermedialität‘. Nicht nur das visionäre und das mimetische Bild, auch Bild und Rahmen, Bild und Schrift, Bildraum und Betrachtungsraum, die Zeitlichkeit des Bildes und der Betrachtung werden in einen unauflöslichen Zusammenhang, ein vielfach verwobenes Beziehungsgeflecht gebracht.34 Entscheidend ist, dass alle diese Differenzen als intrinsische Bestandteile des Bildes als Malerei aufgerufen werden. Es gibt hier keine ‚Reinheit‘ des Bildlichen oder der Form. Gerade als Malerei sind die bildlichen und formalen, schriftlichen und inhaltlichen Aspekte immer schon intentional auf den Akt der Wahrnehmung und der Interpretation ausgerichtet. Die Vielzahl dieser Differenzen produziert – im Symbolisierungsmodus der Schwelle – Zonen des Übergangs, die sich wie von selbst zu vervielfältigen scheinen und die keine vorhandene Welt abbilden, sondern erst hervorbringen – und zwar im Sinne der zunehmenden Vervielfältigung ihrer Modalitäten und Möglichkeiten. Liminalität wäre hier nicht im Sinne einer einzigen, ritualhaften Initiation in ein anderes Leben oder eine andere Welt zu verstehen, sondern als Eröffnung eines symbolischen Horizonts, innerhalb dessen sich im Bezug der Bilder aufeinander die geschichtliche und gesellschaftliche Welt der Moderne erst ausbilden kann. Denn die Bilder begegnen nicht nur den Betrachtenden; sie begegnen vermehrt sich selbst und machen damit die Vorstellung von ihrer eigenen Veränderung möglich und notwendig. An dieser symbolischen Schwelle, die das Bild als Malerei indiziert, treten die bürgerlichen Subjekte in ihren Porträts hervor, zuallererst der Maler selbst, dessen sozialer Status nicht mehr im reinen Funktionieren innerhalb eines klösterlichen oder höfischen Komplexes aufgeht. In der spielerischen Erforschung der eigenen Tätigkeit überkreuzen sich bürgerliche Repräsentation und forcierte Selbstinszenierung. Die programmatische Aneignung einer eigentlich dem Adel vorbehaltenen, moralisch-existenzialen Devise wird auf 34

Das ist bereits klar in den frühen Arbeiten am Turiner Stundenbuch zu sehen, falls dessen Datierung zwischen 1422 und 1424 aufrechterhalten werden kann, sowie am Genter Altar (vollendet 1432). In voller Deutlichkeit allerdings erst in den ‚kanonischen‘ Werken der 1430er-Jahre, die im Folgenden analysiert werden.

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das eigene Können bezogen („Als Ich Can“), und somit zu einem spezifisch bürgerlichen Akt der souveränen Selbstbehauptung.35 3.3.

Arbeit mit und an der Schwelle: „Die Geburt der Gegenwart“

Diese Porträts repräsentieren nicht einfach, sie kommunizieren auf vielfache Weise mit den Betrachtenden und thematisieren darin Repräsentation. Die gemalte Brüstung im „Thimotheos“ von 143236 (Abb.  3) mit ihren drei unterschiedlichen Inschriften imitiert nicht nur einen römischen Grabstein; sie fungiert gleichzeitig als eine Art von Sockel für den Porträtierten. Derart unterteilt sie die Bildfläche, macht Bild und Porträt voneinander unterscheidbar und schafft letztlich Distanz zur Betrachtung, die nur über diese Schwelle hinweg des – wohl posthum – Portraitierten ansichtig wird. Die scheinbar gemeißelte Inschrift „LEAL SOUVENIR“ wird hierbei von den wie Graffiti eingekratzten Inschriften „Timotheos“ darüber und der Signatur37 darunter begleitet, wodurch weitere Ebenen der Verrätselung zwischen gemalter Schrift und lesbarem Bild eingeführt werden. Petrus Christus, van Eycks Werkstatt-Nachfolger in Brügge, wird dieses Bildkonzept vierzehn Jahre später noch weiter zuspitzen, indem er die Brüstung in einen gemalten Holzrahmen mit ‚geschnitzter‘ Signatur verwandelt, auf dem in der Tradition der antiken Künstlerlegenden eine Fliege sitzt.38 (Abb.  5) Der Kartäusermönch, den das Bildnis darstellt, blickt uns als Betrachtende aus einer leichten, gegen die Körperrichtung vollzogenen Drehung des Kopfes heraus direkt und wohl herausfordernd an, ob wir der Augentäuschung gewahr werden. Der extreme Realismus in der detailgenauen Wiedergabe von Fliege, Holz, Barthaaren und Gesichtsausdruck korrespondiert mit der doppelten Repräsentation des Mönchs und des Bildes selbst. Hierin überlagern die Licht- und die Blickregie einander, und die räumliche Präsenz der Person kontrastiert mit der fast flächigen, leuchtend-weißen Kutte. Zwischen dem Maler und dem Mönch, 35 Ich folge in dieser Lesart weitgehend Karin Gludovatz, 2005 (Anm. 17). 36 Jan van Eyck, „Leal Souvenir“, auch bekannt als „Thimotheus“ oder als „Porträt eines Mannes“, 1432, London, National Gallery, 34,5 × 19 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/L% C3%A9al_Souvenir#/media/File:Jan_van_Eyck_-_L%C3%A9al_Souvenir_-_National_ Gallery,_London.jpg. 37 Die Signatur liest sich: „Actu[m] an[n]o d[omi]ni.1432.10.die ocobris.a.ioh[anne] de Eyck“, hierzu siehe: Karin Gludovatz, 2005 (Anm. 17). 38 Petrus Christus, „Porträt eines Kartäusers“, 1446, New York, The Metropolitan Museum of Art, 29,2 × 18,7 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_a_Carthusian#/media/ File:Christus_carthusian.jpg.

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dem Bild und den Betrachtenden entsteht eine spannungsvolle Konstellation, in der sich die inhaltliche Bestimmung einer Verkörperung von mönchischer Askese und die Darstellung in Form einer spezifischen malerischen Raffinesse kaum mehr voneinander unterscheiden lassen. Inschriften auf den im Original erhaltenen Rahmen gibt es bei einer Reihe von Bildern van Eycks, dem vermutlichen Selbstporträt, das als „Mann mit dem roten Turban“ bekannt ist, im Porträt seiner Frau Margarete, im Porträt des Goldschmieds Jan de Leuww, aber auch in den nur in Kopien überlieferten Christus-‚Porträts‘.39 Manche Textzeile adressiert den Betrachtenden direkt, was den Effekt erzeugen kann, dass etwa ‚Margarete‘ aus ihrem Porträt heraus über den Text auf dem Rahmen die Betrachtenden direkt anzusprechen scheint. Bild und Schrift konvergieren zu einem „sprechenden Bild“. Der detailgenaue Realismus der Darstellung als Aufgabe eines malerischen Könnens, die Repräsentation einer lebenden (oder kürzlich verstorbenen) Person in ihrem sozialen Status, die Angleichung des heilbringenden Bildes (des vera icon) an das Porträt, und schließlich die situative Verortung des Bildes als Schnittstelle zwischen porträtierter Person und Betrachtung stecken den symbolischen Rahmen dieser Bilder ab. Das „Arnolfini-Doppelporträt“40 (Abb. 4) verkompliziert diese Elemente noch um einige grundlegende Aspekte. Nicht nur handelt es sich um zwei Personen, die vollfigurig innerhalb eines Bildes wiedergegeben sind; diese Personen befinden sich in einem detailreich ausgestatteten Interieur, dessen räumliche und zeitliche Bestimmung mit äußerster Präzision ausgeführt ist. Lichtmilieu und Schattenwurf an der Fensterlaibung scheinen sogar die Tageszeit ablesbar zu machen. Die Genauigkeit in der Lokalisierung und Verzeitlichung korrespondiert mit der Integration dieser Porträts ins genrehaftNarrative: Die Eheleute kommunizieren qua Gestik und Berührung miteinander; sie gehen in diesem Tun vollkommen „absorbiert“ auf und scheinen doch gleichzeitig ihre Handlungen für die Betrachtenden oder auf diese hin gerichtet auszuführen. Die Frau bleibt hierbei dem hohen Bett-Baldachin 39

Jan van Eyck, „Der Mann mit dem roten Turban“ (Selbstbildnis?), 1433, London, National Gallery, 25,5 × 19cm; https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_van_Eyck#/media/Datei:Portrait_ of_a_Man_in_a_Turban_(Jan_van_Eyck)_with_frame.jpg. Jan van Eyck, „Porträt der Margarete van Eyck“, 1439, Brügge, Groeningemuseum, 41,2 × 34,6 cm; https://en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Margaret_van_Eyck#/media/ File:Portrait_of_Margaret_van_Eyck.jpg. Jan van Eyck, „Der Goldschmied Jan de Leeuw“, 1436, Wien, Kunsthistorisches Museum, 24,5 × 19 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Jan_de_Leeuw#/media/File: Portrait_of_jan_de_leeuw.jpg. 40 Jan van Eyck, „Arnolfini Doppelporträt“, 1434, London, National Gallery, 82, × 59,5 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Arnolfini_Portrait#/media/File:Van_Eyck_-_Arnolfini_ Portrait.jpg.

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und damit einer Innenwelt, der Mann dem Fenster und somit der Außenwelt zugeordnet. Die Schrift akzentuiert hingegen die Rückwand des Bildes genau zwischen dem Spiegel und dem Lüster. Sie scheint vom nicht erhaltenen Rahmen41 ins Bild selbst gerutscht zu sein und bezeugt in schmuckhaftkalligrafischer Ausführung die Anwesenheit des Malers: „Johannes de Eyck hic fuit 1434“. Im Spiegel darunter dürfte er auch selbst mit einem Begleiter zu erkennen sein. Er ist somit im selben Raum wie die Porträtierten platziert. Damit ist dem Bild neben der horizontalen Bildachse, die vor allem durch das sich an den Händen haltende Paar gegeben ist, auch eine räumliche Tiefenachse eingeschrieben. Diese Tiefenachse ist jedoch keineswegs mit einer strikt perspektivischen Bild-Konstruktion zu verwechseln, weil Lüster, Inschrift und vor allem der Spiegel den Blick in die Tiefe blockieren und zurück auf den Raum vor dem Bild verweisen. Auch die linke und die rechte Seite des Bildes schließen dieses nicht im Sinne einer Bühne ab. Der Bett-Baldachin ist nur angeschnitten und setzt sich über den Bildrand hinweg fort, während das Fenster zwar nur einen minimalen direkten Ausblick gewährt, und doch die Außenwelt repräsentiert. Der schmale Raumausschnitt, den das Bild zeigt, bekommt so eine strukturelle Dimension; er lässt sich als Ausschnitt aus einem räumlichen und zeitlichen Gefüge verstehen. Das Bild selbst wird zur Schnittstelle eines solchen raum-zeitlichen Gefüges, das vor allem über die im Spiegel markierte Schwelle den Raum der Betrachtung mit umfasst. Was immer auch hier dargestellt sein mag – eine Hochzeit, eine Verlobung, eine vertragliche Übertragung ökonomischer Handlungsfähigkeit vom Mann an die Frau zu Zeiten seiner Abwesenheit oder auch einfach ‚nur‘ die höfische Repräsentation eines bürgerlichen Paares, ihre ‚Performanz‘ für den Hof oder auch für die fernen, italienischen Verwandten42 – entscheidend ist die konsensuelle Geste der Ehepartner, der Schwurgestus des Mannes, die kalligrafierte Signatur und die Anwesenheitsbekundung des Malers im Bild, die dem Bild den Charakter einer wie auch immer zu verstehenden Beglaubigung verleihen. Zeit und Ort sind äußerst signifikant, auch wenn dem Bild zweifellos noch kein authentifizierendes Moment zugeschrieben werden kann wie der Fotografie im Kontext juridischer und wissenschaftlicher

41 Möglicherweise war auch der Rahmen beschriftet. Hierzu siehe: Karin Gludovatz, 2005 (Anm. 17). 42 Zur Deutungsgeschichte und zum sozialhistorischen Kontext siehe vor allem: Margaret D. Carroll, „The Merchant’s Mirror: Jan van Eyck’s Arnolfini Portrait“, in: Margaret D. Carroll, Painting and Politics in Northern Europe. Van Eyck, Bruegel, Rubens and their Contemporaries, University Park, Pennsylvania (The Pennsylvania State University Press), 2008, S. 2–27. Auch Craig Harbison, 2012 (Anm.  13); ferner: https://en.wikipedia.org/wiki/Arnolfini_ Portrait.

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Diskurse im späten 19. Jahrhundert.43 Nicht die Szene selbst, sondern der Sinn, den der Künstler ihr unterlegt, ist entscheidend.44 Es kommt zu einer multiplen Verschränkung nicht nur von merkantiler und höfischer Kultur – die Arnolfinis waren als Lieferanten von Luxusgütern für den burgundischen Hof, aber auch als Finanziers und Geldverleiher tätig –, sondern ebenso von materieller Kultur und spiritueller Bedeutung. Alles ist voller Anspielungen. Gesten und Positionen der Personen scheinen einer Verkündigungsdarstellung entnommen zu sein; die legalistischen Referenzen öffnen das scheinbar private Geschehen in den Raum einer ökonomisch und politisch verstandenen Öffentlichkeit. Darüber hinaus stoßen die Gesten ebenso wie die geradezu herrschaftliche Kleidung des Paares und die Vielzahl an miniaturhaft wiedergegebenen Details – von den Pantoffeln über das Hündchen bis hin zu Spiegel, Lüster und Rosenkranz – ein Spiel der Entschlüsselung und Interpretation an, das den Betrachtenden aufgegeben wird. Die Opulenz der visuellen Eindrücke steht hierbei der Reflexivität des Bildes in keiner Weise entgegen, und ebenso wenig lässt das Devotionale der Gestik die Pracht in der Zurschaustellung der Gewänder verschwinden. Die Vielschichtigkeit der Repräsentation verschmilzt Absorption und Theatralität, empirische Visualität und Bildlogik; verborgene und offensichtliche Sinnschichten oder Symbolismen lassen sich nicht strikt voneinander trennen. Es geht um die vielfache Verknüpfung bzw. Relationierung unterschiedlicher inhaltlicher und formaler, empirischer und konstruktiver Aspekte, die sich auf das Wechselspiel zwischen autorschaftlicher Konzeption und betrachtender Aneignung fokussieren. Dementsprechend handelt es sich keineswegs um einen autonomen „Bildakt“,45 als vielmehr um eine Form der Aktualisierung, die sich im Bild ebenso wie im Akt der Betrachtung realisiert. Die inhaltlich im Bild bezeugte oder beglaubigte Wirklichkeit verlangt die Präsenz der Betrachtenden;46 erst ihre Anwesenheit verbürgt den Augenblick der Wahrheit und dessen andauernde Gültigkeit. Wie im Porträt ist es auch hier der angehaltene oder fixierte Augenblick der Gegenwart, dem einzig Wahrheit zukommt, sei diese Wahrheit nun bezogen auf die Gültigkeit eines Vertrages, einer Geschäftsgebarung oder auf das ewige Treuebekenntnis der Ehe. 43 Siehe: John Tagg, The Burden of Representation. Essays of Photographies and Histories, Minneapolis, Minnesota (University of Minnesota Press)1993. Panofsky hatte 1934 die These eines „pictorial marriage contracts“ aufgestellt. Siehe: Erwin Panofsky, „Jan van Eyck’s Arnolfini Potrait“, in: The Burlington Magazine, 64, 1934, S. 117–127. 44 Siehe Margaret D. Carroll (Anm. 35) S. 26. 45 Im Sinne von Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin (Suhrkamp) 2010. 46 Der Begleiter des Künstlers im Spiegel wird zumeist als Repräsentant der Betrachtenden gelesen. Siehe: Karin Gludovatz, 2005 (Anm. 17), S. 161.

Abb. 7 Hugo van der Goes, „Die Anbetung der Hirten“, vor 1482, Berlin, Gemäldegalerie, 97 × 245 cm.

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Tatsächlich können wir hier von einer „Geburt der Gegenwart“ sprechen. Ihr symbolischer Stellenwert war weder in den antik-zyklischen Zeitvorstellungen in Anlehnung an ein natürliches Werden und Vergehen noch in der linear gerichteten christlichen Heilsgeschichte besonders markiert. Erst im Kontext der altniederländischen Malerei erfährt die Gegenwart eine bisher nicht gekannte Aufladung an empirischer wie spiritueller Bedeutung.47 Die Malerei fungiert nun gleichsam selbst als das Organon einer momentanen Zeitbestimmung, in der Wahrheit sich ereignen kann. Ihre forschende Realisierung in einer konzeptuellen Bildidee und deren virtuoser, praktischer Ausführung – wie sie sich in der kompositorischen Raffinesse, in der durch die Lasurtechnik möglich gewordenen, durchscheinenden Leuchtkraft der Farben und in der Präzision in der Widergabe von Licht- und Materialwerten zeigt – ermöglicht erst den Auftritt der Gegenwart auf der geschichtlichen Bühne im Spannungsfeld von bürgerlich-merkantiler und höfischer Kultur. Malerei erlaubt von nun an, die jeweilige Gegenwart zu symbolisieren, sie zu bezeugen oder auch zu verewigen. Als ebenso räumlich-situativ wie zeitlich-momenthaft definierte Zone etabliert sich das Bild als Malerei in der im Bild bezeugten und in der Betrachtung aktualisierten, andauernden Gegenwart. Diese Gegenwart betrifft nie nur die reine Wahrnehmung oder ein reines Sehen, sondern konstitutiv einen Akt der Hervorbringung, der dem Gesehenen Sinn als Gegenwart unterstellt. Daher kann im Bild als Schwelle die Gegenwart als ein transzendentales Moment erscheinen, in dem die empirischen Aspekte der Orts- und Zeitbestimmung, der Materialitäts- und Lichtbestimmungen auf einen sinnstiftenden Erfahrungsakt verweisen, der dem Bild selbst bereits eingeschrieben ist. In der Anwesenheit des Malers und der Betrachtenden zeigt sich die symbolisierende Struktur einer besonderen Erfahrung von Malerei als Kunst, die das rein repräsentative Beziehungsgefüge von Mann und Frau durchschneidet. In dieser Überlagerung von Repräsentation und Reflexion tritt eine spezifische Form von Ästhetik zu Tage – eine Ästhetik von Beziehung und Begegnung –, in der der devotionale Begegnungssinn mit dem Transzendenten sich in den spezifischen, empirisch-transzendentalen Möglichkeits-Sinn von Kunst transformiert.48 Wahrheit der Handlung und Wahrheit der Malerei konvergieren hierbei im Akt einer besonderen Schwellen-Erfahrung, die wir als Initiation in den Symbolisierungsmodus der Gegenwart verstehen können. Wir haben 47

Die Gegenwart hat mithin bereits deutlich vor dem 17. Jahrhundert ihren ersten großen Auftritt. In diesem Sinne: Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main (Fischer) 2014. Die theoretische Reflexion der Gegenwart findet sich ohnehin bereits im 11. Buch der „Bekenntnisse“ des Augustinus. 48 Margaret Carroll spricht von einer „Asthetics of Consent“; siehe: Margaret  D.  Carroll (Anm. 35), S. 24.

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hier keineswegs den Beginn profaner Malerei vor uns, sondern den Beginn der Malerei als symbolisch verfasster Gegenwärtigkeit, als Kunst der Gegenwart. Darin wird die entscheidende ‚mediale‘ Bildstrategie bis hin zu Vermeer und Velazquez49 ebenso fassbar wird wie die symbolische Dimension der Malerei als Kunst, die bis in die Untiefen der Gegenwartskunst hinein reichen wird. Auch Robert Campin und Rogier van der Weyden haben annähernd zur gleichen Zeit in Tournai und wenig später in Brüssel an ähnlichen Bildideen bzw. -strategien gearbeitet.50 Vor allem in jenen besonderen, das Andachtsbild neu fassenden kleinen Triptychen wie dem Mérode-, dem Miraflores- und dem Johannes-Altar,51 die wohl als Hausaltäre fungierten, wird die devotionale Nähe mit einer Vielfalt an malerischen Bildideen bearbeitet. Es handelt sich jeweils um eindeutig sakrale Themen, in die jedoch zunehmend Profanes eindringt. Profanes und Sakrales werden ebenso ins Verhältnis zueinander gesetzt wie das biblische Geschehen und die Gegenwart des flämischen Alltags. Wenn diese Bildensembles auch noch fest im ideologischen Rahmen der christlichen Heilsgeschichte verankert sind, so zielen die malerischen Mittel doch darauf, die unmittelbare Präsenz aufzuwerten, ja dem Akt der Wahrnehmung des Bildes selbst heilsgeschichtliche Bedeutung zu unterstellen. Das gemalte Bild illustriert also nicht einfach eine biblische Legende und bietet es im Sinne einer Didaktik für die des Lesens nicht Kundigen dar; vielmehr will die bildliche Konstruktion selbst als ein Medium gelesen werden, in dem die Heilsgeschichte an die Gegenwart herangeführt werden kann. Ausgangspunkt hierfür sind wohl die Mitteltafel des Mérode-Altars und sein Brüsseler Äquivalent. Beide werden zumeist in die Zeit zwischen 1427 und 1432 datiert.52 Die Verkündigungsszene findet sich hier jeweils in ein 49

Das Bild gelangte wohl 1556 mit Maria von Ungarn nach Spanien. Es ist seit dem späten 16. Jahrhundert im Real Alcázar de Madrid nachgewiesen und daher Velazquez zweifellos bekannt gewesen. Erst im 19. Jahrhundert gelangte es nach London. „Las Meninas“ ließe sich vor diesem Hintergrund als Synthese des altniederländischen und des humanistischperspektivischen Bildverständnisses verstehen. 50 Ich beanspruche hier keine chronologische Abfolge der altniederländischen Malerei zu geben, sondern einen Überblick über jene strukturellen Momente, aus denen heraus sich die Malerei als Malerei begründen konnte. 51 Die Mitteltafel des Mérode-Altars (New York, The Metropolitan Museum of Art, The Cloisters) wird zumeist noch in die 1420er-Jahre datiert: Die Seitenflügel scheinen spätere Beifügungen zu sein: Der Miraflores-Altar wird auf 1450, der Johannes-Altar auf 1455 datiert (beide: Berlin, Gemäldegalerie). 52 Robert Campin (Meister von Flémalle) und Werkstatt, „Mérode-Triptychon“ oder „Verkündigungs-Triptychon“, 1427–1432, New York, The Cloisters, 64,5 × 117,8 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/M%C3%A9rode_Altarpiece#/media/File:Annunciation_ Triptych_(Merode_Altarpiece)_MET_DP273206.jpg.

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z­ eitgenössisches, gutbürgerlich möbliertes Interieur mit massivem Kamin und steinernen Konsolen, die eine Holzdecke tragen, einer Waschnische, sowie Fenstern mit nach innen zu öffnenden Fensterläden, einem vieleckigen, fast runden Tisch und einer langen Bank versetzt.53 Dieser Innenraum wird nach Maßgabe seiner perspektivischen Konstruktion häufig als etwas unbeholfen und in Analogie zu einem „Puppenhaus“ beschrieben,54 was die höchst innovativen Momente dieser Bildidee grundlegend verkennt, die sich in diesen beiden Varianten ebenso wie in den wohl etwas später hinzugefügten Seitenflügeln des Mérode-Altars ausdrücken. Der Raum wirkt tatsächlich sehr geschlossen. Er ist dicht gefüllt mit Objekten, und die beiden Figuren scheinen mehr auf der Fläche als im Raum platziert zu sein. Die Bildfläche repräsentiert die nicht sichtbare vierte Wand; sie erlaubt uns in der Betrachtung des Bildes einen privilegierten Einblick sowohl in das frühbürgerliche Leben als auch in einen der entscheidenden, heilsgeschichtlichen Augenblicke zu nehmen. Eine Türe, durch die der Erzengel Gabriel getreten sein muss, ist nur in der Brüsseler Version zu sehen. Die Fensterläden sind teils geöffnet und teils geschlossen; es findet sich aber auch eine vergitterte, halb-transparente Blende. In Brüssel wirkt noch ein Goldgrund durch die geöffneten Fensterläden, in New York wird ein Ausblick auf den Himmel gewährt. Das Spiel des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des sich im Bild Eröffnenden und Verschließenden beginnt hier als einer der prägenden metaphorischen Horizonte von Malerei. Es gibt keine kategorische Transparenz des Bildes, nichts Diaphanes oder Illusionistisches, sondern ein behutsames Abwägen des Äußeren und des Inneren, des empirisch Wahrnehmbaren und des Spirituellen. Analogien werden aufgerufen zwischen dem Raum und dem Körper der Maria, dem verkündigenden Engel und dem Akt des Sehens. Die Abgeschlossenheit der bürgerlichen Welt präsentiert sich ebenso als Geheimnis wie der weibliche Körper und insbesondere der Ratschluss Gottes hinsichtlich seines Eingreifens in den Lauf der Welt. Maria sitzt in ihrer humilitas auf dem Boden, an die Bank gelehnt. Sie liest in der New Yorker Version in einem Buch und scheint den Engel noch gar nicht bemerkt zu haben. Das entscheidende Ereignis eines Wendepunkts in der Heilsgeschichte, die Fleischwerdung des Logos, steht also unmittelbar bevor.

Robert Campin, (Meister von Flémalle) und Werkstatt, „Verkündigung“, 1420–1426, Brüssel, Königliches Museum der Schönen Künste, 61 × 63,7 cm. https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Robert_Campin_006.jpg. 53 Die Brüsseler Version unterscheidet sich vor allem dahingehend, dass sie an der Rückwand zwei Fenster und deshalb keine Waschnische aufweist, und das auf der linken Bildseite eine Tür in einen Nebenraum führt. 54 So Jochen Sander, „Mérode-Triptychon“, in: Stephan Kemperdick, Jochen Sander (Hg.), 2009 (Anm. 8), S. 192.

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Der Heilige Geist muss – obwohl er nicht zu sehen ist – eben schon vorbei geflogen sein, denn seine Bewegung hat die Kerze auf dem Tisch, die neben der Majolika-Vase mit den weißen Lilien steht, gelöscht. Die Rauchschwaden der erloschenen Kerze sind noch sichtbar. Das Brüsseler Bild schildert das Ereignis wenige Sekunden später.55 Die Rauchschwaden haben sich nun bereits verflüchtigt. Maria wendet sich dem Engel zu und nimmt dessen Gruß demütig an. Ein kleines Bildchen über dem Kamin zeigt den Hl. Christophorus, das nun auch Maria als Trägerin des Gottessohnes ausweist. Das neue Weltalter ist hiermit angebrochen.56 Die Malerei evoziert – repräsentativ und indizienhaft – heilsgeschichtliche Bedeutung an alltäglichen Gegenständen und Gesten. Sie situiert das Ereignis nicht an einem fernen Ort und in einer längst vergangenen Zeit, sondern genau im Hier und Jetzt. Die Bedeutung des Ereignisses scheint sogar ausschließlich in diesem Hier und Jetzt zu liegen. Das einmalige Ereignis der heilsgeschichtlichen Wende wiederholt sich in der Gegenwart der Betrachtung des Bildes. Denn seine Einmaligkeit immer wieder zu bezeugen ist uns als den Betrachtenden aufgegeben. In dieser Form von Malerei greifen daher das Wahrheits-Ereignis und dessen Bezeugung in eins. Die Malerei schildert oder erzählt also nicht einfach ein biblisches Geschehen; in ihrer spezifischen Bildidee aktualisiert sie vielmehr dessen Bedeutung für die Gegenwart; sie konzeptualisiert die Bild-Betrachtung im Sinne einer stets gegenwärtigen und sich darin wiederholenden Treue zum Ereignis.57 Auf den Außentafeln des Mérode-Altars erweitert sich der Kontext des Geschehens. Der Stifter tritt gemeinsam mit seiner Frau und einem Diener auf der linken Tafel ins Bild. Mann und Frau knien vor der nun implizit sichtbar gemachten Türöffnung, durch die der Erzengel Gabriel geflogen sein muss, und werden derart Zeugen des Geschehens auf der Mitteltafel. (Abb.  1) Die mit metallenen Nägeln beschlagene Holztür selbst schwingt nach vorne auf und verlässt den im Bild definierten Raum; somit wird die vierte Wand aufgehoben und der Raum der Betrachtung selbst adressiert. Die Figuren sind in einem als Rosengarten kenntlich gemachten, ummauerten Vorhof lokalisiert. Im Hintergrund, links neben dem wartenden Diener, öffnet sich eine weitere Tür, die 55

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Felix Thürlemanns Argumentation, dass diese leichte zeitliche Verschiebung nur innerhalb eines Atelier-Zusammenhangs zu erklären sei, scheint mir sehr überzeugend zu sein. Die zeitliche und räumliche Präzision – auch das Stillleben auf dem Tisch ist aus einer leicht verschobenen Perspektive gemalt – legen dies nahe. Siehe: Felix Thürlemann, „Schüler von Robert Campin sein“, in: Maria de Peverelli (Hg.), Emil Bosshard, paintings conservator (1945–2006): Essays by friends and colleagues, Florenz (Centro Di), 2009. S. 235–255. Ebenda, S. 250. Durchaus im Sinne von Alain Badiou.

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den Hof mit der Straße verbindet und das Geschehen dort sichtbar macht. Auf dem rechten Seitenflügel ist der Heilige Josef als Schreiner in seiner Werkstatt, die zugleich ein Laden ist, dargestellt. Tief versunken in seine Arbeit bohrt er gerade ein Loch in eine Holzplatte; eine fertige Mausefalle – seit Augustinus gilt die Geburt Christi als Falle für den Teufel58 – steht bereits auf dem in starker Aufsicht wiedergegebenen Tisch vor ihm, eine weitere auf der Ladenfläche, die im Hintergrund auf die Straße hinausführt. Die Fensterläden sind hochgeklappt, wodurch ein weites städtisches Ambiente in detaillierter Ausführung sichtbar wird. Es lässt sich mit der Stadt Lüttich identifizieren. Auch wenn möglicherweise mit beträchtlichem zeitlichen Abstand realisiert, beindruckt doch die konzeptuelle Geschlossenheit des Triptychons im Ganzen. Die drei Tafeln zeigen nicht nur unterschiedliche Räume und ihre jeweiligen Funktionen (Wohnraum, Werkstatt, Garten/Hof); sie situieren diese Räume in einem urbanen Kontext. Das Bildgeschehen selbst wird diesen Räumen auf wiederum verschiedene Weise zugeordnet: die Darstellung des heilsgeschichtlichen Ereignisses auf der Mitteltafel, seine symbolische Bedeutung (als Falle für den Teufel) auf der rechten und schließlich die Bezeugung und Aneignung durch die Stifter und die Betrachtenden auf der linken Tafel. Die Differenzierung von Innen- und Außenräumen, privaten und öffentlichen Tätigkeiten, der profanen und spirituellen Dimension jeder dieser Tätigkeiten, von versunkener Selbstbezogenheit bzw. reiner Präsenz der Figuren und der Form ihrer Präsentation im Bild, und schließlich von Empirie und Transzendenz insgesamt, wird hier konsequent entfaltet. Die Analogie ist das entscheidende methodische Moment dieser Differenzierung. Durch konsequente Analogiebildungen wird der Reichtum der Details immer wieder mit den räumlichen und zeitlichen Bestimmungen, mit den symbolischen Bedeutungsaspekten und schließlich mit der Funktion im Bild in Zusammenhang gebracht. Daraus ergibt sich eine konstitutive Vieldeutigkeit der einzelnen Elemente und des Bildes insgesamt. Das aufgeschlagene Buch, in dem Maria liest, kann in Analogie zum ‚aufgeschlagenen‘ Bild-Triptychon verstanden werden; die Treppen, vor denen die Stifter knien, lassen sich als Stufenleiter des Heils lesen. Auch sprachliche Analogiebildungen sind vorhanden: zwischen den Namen der Stifter und dem heilsgeschichtlichen Geschehen: Engelbrecht und Schreinmakers. In weiteren Bildern haben Campin und sein mutmaßlicher Schüler van der Weyden solche 58

Seit Meyer Schapiros epochemachenden Aufsatz gibt es hierzu eine Fülle an Deutungen. Siehe: Meyer Schapiro, „‚Muscipula diaboli‘. The Symbolism of the Mérode Altarpiece“, in: The Art Bulletin, 27, 1945, S. 182–187; hierzu siehe: Bastian Eclercy, „Von Mausefallen und Ofenschirmen. Zum Problem des ‚disguised symbolism‘ bei den frühen Niederländern“, in: Stephan Kemperdick, Jochen Sander (Hg.), 2009 (Anm. 8), S. 133–148.

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Analogien noch weiter zugespitzt. Die berühmteste von ihnen ist die offensichtliche Verbindung von Ofenschirm und Heiligenschein in der Londoner Madonna von Campin,59 in der empirisches Objekt – der Ofenschirm – und symbolisch-transzendente Bedeutung als Heiligenschein einander überlagern. Dem ‚abgeschirmten‘, privaten Bereich tritt hierbei auch bereits eine weite Landschaft entgegen, die durch das geöffnete Fenster sichtbar wird. Das aufgeschlagene Buch neben der stillenden Madonna vermittelt die Sphären. Auf ähnliche Weise wird im Bild mit dem Lesenden Mann60 der Brief, den der Mann liest, mit dem offenen Fenster in diagonaler Spannung ins Verhältnis gesetzt, durch das ein Landschaftspanorama sichtbar wird. Der Nähe des Lesens am vorderen Bildrand entspricht die Ferne, die der Brief überwinden und durch die hindurch er seinen Weg finden musste. Das Gemälde symbolisiert sich selbst in diesen Bildern an der Schnittstelle zwischen Fenster und Brief, Nähe und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit. Ein spezifisch kulturalisierter Innenraum und ein naturalisierter Außenraum werden voneinander unterscheidbar und aufeinander ebenso beziehbar wie Brief, Buch, Fenster und Bild. Innerhalb des Fensterrahmens wird die Landschaft als Einheit sicht- und wahrnehmbar und kann darin als Natur verallgemeinert werden. Diese wird als außerhalb des Subjekts, des Hauses, der Kultur vorstellbar und gleichzeitig dem forschenden Blick zugänglich.61 Auf vergleichbare Weise schafft auch das Bild eine Einheit, die als Kunst symbolisierbar wird und doch an eine Serie von Medialitäten gebunden bleibt. 3.4.

Aktualisierung als Virtualisierung: Die Möglichkeit der Malerei als Kunst

Van der Weydens Johannesaltar62 (Abb.  6) konzeptualisiert das Bild als Schwelle noch auf eine andere Weise. Es handelt sich hierbei nicht mehr um einen Flügelaltar, sondern um drei gleichrangige, nebeneinander angeordnete 59 Robert Campin oder Nachfolger, „Madonna mit dem Ofenschirm“, ca. 1440, London, National Gallery, 63,4 × 48,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Robert_Campin_-_ The_Virgin_and_Child_before_a_Firescreen_(National_Gallery_London).jpg. 60 Rogier van der Weyden, Werkstatt, „Lesender Mann (Der heilige Ivo?)“, ca. 1450, London, National Gallery, 45 × 35 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Weyden_Ivo.jpg. 61 Zur Funktion des „flämischen Fensters“ für die Genese moderner Naturvorstellungen siehe: Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin (Suhrkamp) 2011, S. 101. 62 Rogier van der Weyden, „Johannesaltar“, Triptychon, ca. 1455, Berlin, Gemäldegalerie, jede Tafel 77 × 48 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Johannesaltar#/media/Datei:Rogier_ van_der_Weyden_-_The_Altar_of_St._John_-_Google_Art_Project.jpg.

Abb. 8 Petrus Christus, „Ein Goldschmied in seinem Geschäft, möglicherweise St. Eligius“, 1449, New York Metropolitan Museum of Art (Lehmann Collection), 98 × 85 cm.

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Tafeln, die die Erzählung strukturieren und rhythmisieren. Auf allen drei Tafeln stellt ein zeitgenössisches, gotisches Kirchenportal einen innerbildlichen Rahmen dar,63 vor dem auf einem schmalen ‚Proszenium‘ die Hauptfiguren auftreten, während man durch das jeweilige Portal hindurch drei unterschiedliche Raumtypen: Haus, Landschaft und Palast sehen kann, die unvermittelt an das Portal anzuschließen scheinen.64 Links sind die Geburt und die wundersame Namensgebung des Johannes dargestellt, in der Mitte die Taufe Jesu und rechts die Hinrichtung des Täufers sowie die Übergabe seines Hauptes an Salome. Theologisch gesehen steht Johannes der Täufer selbst an der ‚Schwelle‘ zwischen Gesetz und Gnade;65 er verkörpert den Übergang von der alttestamentarischen Prophetie hin zum Erscheinen des Messias in der Welt. Auch wenn sein Tod der Legende nach nicht unmittelbar mit dieser heilsgeschichtlichen Transformation zu tun hat – Herodias stiftet seine Hinrichtung aus Rache für seine Ablehnung ihrer Hochzeit mit Herodes an –, wird er im Bild eindeutig als Märtyrer gezeigt, der für sein Tun, die Kennzeichnung des Menschen Jesus als Sohn Gottes, bestraft wird. Denn in seinem Hineinsteigen ins Wasser des Jordans antizipiert Jesus seinen eigenen Tod als Mensch und seine Auferstehung als Christus; seine Durchquerung der sündigen Welt wird einsehbar und sein Tod, ebenso wie derjenige des Johannes, darin als notwendig verstehbar, um ein „neues Leben in der Gemeinschaft der Kirche“ (Paulus, Römer-Brief, Kapitel 6) zu begründen. Die linke Tafel zeigt Elisabeth, die Mutter des Johannes im Wochenbett mit einer Hebamme innerhalb eines bürgerlichen Interieurs, durch dessen Tür im Hintergrund ein weiterer Raum und schließlich ein Garten sichtbar werden. Im Proszenium hält Maria den neugeborenen Johannes, und der mit Stummheit geschlagene Vater Zacharias schreibt den Namen auf eine Wachstafel.66 Die räumliche Komplexität der Szene korreliert mit der zeitli­chen Struktur, die das dargestellte Wunder betrifft: Elisabeth und Zacharias sprechen bzw. schreiben gleichzeitig, obwohl räumlich voneinander getrennt, den Namen des Johannes. Auf der rechten Tafel ist im Proszenium die martialische Hinrichtung 63 Der etwas ältere Miraflores-Altar scheint die erste Ausführung dieser Bildidee darzustellen. 64 Wolfgang Kemp hat sehr überzeugend die Bachtin’sche Wortschöpfung eines „Chro­ notopos“ auf diese Räume angewendet. Die zeitliche Dimension kommt in seiner Analyse allerdings etwas zu kurz. Siehe: Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München (Beck), 1996. 65 Siehe: Wolfgang Kemp, 1996 (Anm. 64), S. 119. 66 Die Geburt des Täufers und die Taufe Jesu hatte Jan van Eyck bereits im Turiner Stundenbuch dargestellt, zweifellos eine der Quellen für van der Weyden. Doch gerade Differenz im Bildkonzept ist entscheidend.

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des Täufers zu sehen. Dieser ist aus dem Verlies, gleichsam dem Raum unterhalb des Bildes, hervorgekommen und auf den obersten Treppen von seinem Henker, der das abgeschlagene Haupt an Salome weiter reicht, ‚empfangen‘ worden. Beide, der Henker und Salome, wenden ihre Blicke ab, und lassen uns als Betrachtende alleine mit dem grausigen Bild. Der Henker blickt durch ein großes Tor in einen weiten Hof, der sich über weitere Tore immer weiter fortzusetzen scheint. Zwei Anhänger des Johannes blicken ihm betrübt entgegen. Der Mittelgrund ist als ein langgezogener Gang des Palastes wiedergegeben, in dem, an die Fenster gelehnt, eher unbeteiligte Höflinge stehen. Im Hintergrund findet schließlich die auf die Hinrichtung folgende Szene statt, in der Salome das Haupt des Täufers dem Herodes präsentiert. Wiederum gibt es Zeugen des Geschehens und einen weiteren Ausblick in die Landschaft hinter dem Palast. Der raumzeitliche Erzählzusammenhang und die komplexe, sich immer weiter entfaltende Raumstruktur überlagern einander auf vielfältige Weise; es werden Einblicke und Ausblicke gewährt, Beteiligte und Unbeteiligte, Zusehende und Wegsehende zueinander ins Verhältnis gesetzt.67 Auf der Mitteltafel kulminiert der theologische Sinn des Geschehens. Über der weiten Jordan-Landschaft wird, genau im Scheitel des gotischen Portals, Gottvater als transzendenter Einbruch in die empirische Welt sichtbar. Seine Worte sinken als dekorative Schleife um den Heiligen Geist herum in die Landschaft hinab. Der Fluss scheint in seinen Windungen die Bewegung der Gottesworte aufzunehmen und bis ganz an den vorderen Bildrand hin, ins Proszenium, also noch durch das Kirchenportal hindurch, weiterzuleiten. Innerhalb der Kirche stehen wir als Betrachtende und Gläubige immer schon mit am Jordan. Der innerbildliche Rahmen des Kirchenportals in allen drei Tafeln fungiert somit als raum-zeitliche Schwelle, durch die das ferne, in seiner besonderen Tiefenräumlichkeit auf allen drei Tafeln ausgebreitete Geschehen ganz nahe an die Betrachtenden heranrückt. Im Mittelteil wird es zudem institutionell gefasst und mit kanonischer Bedeutung aufgeladen. Die Institution Kirche lässt sich derart als Bewahrerin des Gotteswortes verstehen, das durch den Jordan auf uns zufließt. Der Fluss fungiert hier also buchstäblich und metaphorisch zugleich und das auf mehreren Ebenen. Mit Recht sind die drei Tafeln als „stumme Predigt“ bezeichnet worden, d.h. nicht einfach als Illustrationen biblischer Erzählungen, sondern als theologische Programmbilder, die den Inhalt auf seine Bedeutung im Hier und Jetzt ausrichten.68 Diese Bedeutung liegt sogar 67

Eine hervorragende Analyse dieser Raumstrukturen findet sich bei Wolfgang Kemp, 1996 (Anm. 64), S.119–145. Dort auch die ältere Literatur. 68 In diesem Sinne: Robert Suckale, Rogier van der Weyden: die Johannestafel: das Bild als stumme Predigt, Frankfurt am Main (Fischer) 1994.

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ausschließlich in der Gegenwart der Betrachtung, auf die die Ewigkeit des göttlichen Heilsplans zielt. Bereits geraume Zeit vor der Reformation geht es also nicht mehr um das didaktische Bild in der Kirche, sondern um die Kirche im Bild. Die Kirche im Bild repräsentiert auch keinen theologischen Traktat, den man mit Panofsky in den Ausläufern der Scholastik suchen könnte; sie fungiert vielmehr als Strukturmoment, das die Bilder selbst als theologische Traktate zur Erscheinung bringt. Die van der Weyden’sche Bildidee lässt die spezifischen malerischen Qualitäten der Differenzierung und Relationierung, der Analogiebildung zwischen Nähe und Ferne, Augenblick und Ewigkeit, Natur und Transzendenz als eine Art von theologischer Dialektik erscheinen. Um sie in diesem Sinne verstehen zu können, bedarf es allerdings eines spezifischen Bildwissens, das der vermeintlichen Eindeutigkeit der Predigt des Wortes entgegensteht. Vor allem die rechte Tafel mit der Hinrichtung des Täufers spitzt die Konfrontation zwischen den irdischen Qualitäten des Schönen – in der im gotischen Lineament gezeichneten Figur der Salome – und des drastisch Hässlichen in der Figur des Henkers dramatisch zu. Die Ambivalenz alles Irdischen wird selbst thematisiert. Noch scheint sie im theologischen Programm aufgehoben zu sein; doch dieses Bildwissens wegen werden die Bilder zunehmend geschätzt, und die Kirche im Bild hat nicht mehr dieselbe symbolische Macht wie vormals die Kirche über die in ihr gezeigten Bilder. Schließlich seien noch zwei weitere Versionen des Bildes als Schwelle erwähnt. Insbesondere Hugo van der Goes‘ breitformatige „Anbetung der Hirten“ (Abb. 7) in Berlin, wohl gegen Ende seines Lebens entstanden, spitzt diese altniederländische Bildidee noch auf besonders wirkmächtige Weise zu.69 Am Motiv des Vorhangs, das bereits seit der Spätantike immer wieder als Moment von Verhüllung und Enthüllung des Sakralen benutzt wurde und in der antiken Kunstliteratur als Beispiel für die Täuschungskraft der Malerei bemüht worden war, wird hier die Funktionsweise des Bildes selbst thematisiert. Zwei Propheten schieben links und rechts im Bild einen Vorhang zur Seite, sodass der Blick auf den Stall von Bethlehem, der sich in der Bildmitte wie eine Bühne öffnet, freigegeben wird. Die Propheten sind also wiederum auf einem ‚Proszenium‘ angesiedelt, was nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu verstehen ist, weil sie auf das erst kommende, auf der Bild-Bühne bereits sichtbar werdende Geschehen verweisen. Die Betrachtenden müssen also sowohl räumliche als auch zeitliche Differenzen verarbeiten und hierbei unterschiedliche Realitätsebenen voneinander unterscheiden. Der Vorhang scheint im 69

Hugo van der Goes, „Die Anbetung der Hirten“, vor 1482, Berlin, Gemäldegalerie, 97 × 245 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Adoration_of_the_Shepherds_(Hugo_van_der_Goes)#/ media/File:Hugo_van_der_Goes_002.jpg.

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Gegensatz zur spätantiken Tradition nicht im, sondern tatsächlich vor dem Bild angesiedelt zu sein.70 Die „reliefplastisch aufstuckierte“71 Vorhangstange fungiert zusätzlich als massives, den Illusionismus aufhebendes Realobjekt und akzentuiert somit den Aspekt einer Schwelle zwischen Realraum und Bildraum. Die Differenz scheint das eigentliche Thema zu sein, wobei der Bildraum mit einem stark italianisierten Bühnenraum identifiziert wird, wie ihn insbesondere die perspektivisch korrekt wiedergegebene Stall-Architektur betont. Allerdings stellt dieser Bühnenraum nur einen Teil des gesamten Bildes dar. Die Hirten kommen aus dem Bildhintergrund nach vorne – gleichsam auf die Bühne – geeilt, während die Propheten deutlich vor bzw. zu Seiten der Bühne stehen und direkt die Betrachtenden vor dem Bild adressieren. Die Bildlogik insgesamt ist also keineswegs mit der humanistischen Idee des perspektivischen Bildes identisch.72 Vielmehr vermittelt das Bild unterschiedliche, raum-zeitliche Kontexte mit dem Geschehen auf dem bühnenhaften Bildraum, allerdings auf teilweise durchaus paradoxe Weise. Mit den malereispezifischen Mitteln der Augentäuschung (verstärkt durch das Relief der Vorhangstange) wird eine theatrale Präsentation der Geburt Jesu in Szene gesetzt; diese Szene also einerseits inszenatorisch aufgeladen, theologisch über die Propheten gedeutet und auf die Betrachtenden hin aktualisiert. Indem die Malerei die Wahrheit des biblischen Geschehens auf einer Bühne enthüllt, scheint sie sich gleichzeitig selbst als Medium zu verhüllen. Doch der Vorhang wird nicht einfach weggezogen, sondern dieses Wegziehen selbst wird gezeigt und somit eine leicht unheimliche Analogie zwischen der stets dubiosen bzw. täuschungsanfälligen Wahrheit des empirischen Sehens und der offenbarten, transzendenten Wahrheit aufgerufen. Die Paradoxien von Wahrheit und Schein, Präsenz und Präsentation, der Negierung der eigenen Medialität gerade durch ihre besondere Hervorhebung werden zu den Kriterien einer spezifischen Erfahrung jener „Kunstfertigkeit“ der Malerei, die bereits die Zeitgenossen an ihr bewunderten. 70 Zur Tradition der Vorhangdarstellungen siehe: Gabriele Brandstetter, Sibylle Peters (Hg.), Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, Freiburg i. Br. (Rombach Wissenschaften: Reihe Scenae; Bd. 9) 2008. Michalski hatte die Differenz zwischen dem im Bild dargestellten Vorhang und dem vor dem Bild situierten Vorhang etwas verwischt. Siehe: Ernst Michalski, 1996 (Anm. 17). 71 Hans Belting, 2010 (Anm. 11), S. 237. 72 Man könnte jedoch von einem Integrationsversuch der beiden Bildtypen sprechen, wie man sie zur selben Zeit auch bei Andrea Mantegna oder Michael Pacher sehen kann. Zu Mantegna siehe: Felix Thürlemann, Mantegnas Mailänder Beweinung. Die Konstitution des Betrachters durch das Bild, Konstanz (Universitätsverlag Konstanz) 1989; zu Pacher: Wolfgang Kemp 1996 (Anm. 64), S. 96–99.

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Petrus Christus lässt sich letztlich vielleicht sogar als der Schwellenmaler des 15. Jahrhunderts begreifen. In seinen Bildern werden die Bildideen Jan van Eycks, Robert Campins und Rogier van der Weydens auf vielfältige Weise synthetisiert. Er verlegt biblische Ereignisse wie etwa die Verkündigung direkt an ein Kirchenportal und die Verknüpfung von zeitgenössischen Architekturelementen mit denen der Antike wird weiter ausformuliert.73 Auch die reflexive Konfrontation mit den Betrachtenden spitzt sich zu, wie wir bereits am Beispiel des Kartäusermönchs gesehen haben. Vor allem in jenem genrehaften Bildnis eines Goldschmieds, der in seinem Laden einen Verlobungsring an ein nobles Paar verkauft, kulminiert die Idee des Bildes als Schwelle.74 (Abb. 8) Unklar ist an diesem Bild, ob es sich um ein Heiligenbild, eine Darstellung des Heiligen Eligius, oder um ein profanes Genre-Bild handelt.75 Entscheidend ist vielmehr die innige Verschränkung einer Verkaufshandlung mit der Verlobung des Paares und letztlich mit der Betrachtung des Bildes über den Ladentisch hinweg. Im Laden selbst geht es etwas gedrängt zu zwischen den Personen und ihren auffälligen Gesten auf der linken, dem Regal mit den fein säuberlich ausgelegten Waren des Goldschmieds auf der rechten Seite. Der Edelmann umfasst mit seiner Rechten die Frau; in der Linken hält er den Geldbeutel. Die Frau streckt die Hand aus, um vom Goldschmied den Ring in Empfang zu nehmen. Dieser hat den Ring eben von der Waage genommen, die vor ihm auf dem Ladentisch steht. Die Gesten der Handelnden korrelieren miteinander; der offene Blick des Goldschmieds und die verhaltenen Blicke des Paares deuten jedoch unterschiedliche Haltungen oder gar Interessen an. Auch die Schlichtheit des Gewandes des Goldschmieds steht der feudalen Pracht der Kunden entgegen. Der Ladentisch selbst ist in starker Aufsicht gegeben und markiert die Schwelle sowohl zur Straße vor dem Laden, die im Konvexspiegel, der auf ihm steht, sichtbar wird, als auch zum Raum der Bildbetrachtung. Denn im Spiegel werden zwei Figuren gezeigt, die wohl die Betrachtenden wiederum als Zeugen 73 Petrus Christus, „Die Verkündigung“, ca. 1450, New York, The Metropolitan Museum of Art, 78,7 × 65,7 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Annunciation_MET_ DT1479.jpg. Petrus Christus, „Die Geburt Christi“, ca. 1465, Washington, National Gallery of Art, 130 × 97 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5d/Petrus_Christus_-_ The_Nativity_-_WGA04849.jpg. 74 Petrus Christus, „Ein Goldschmied in seinem Geschäft, möglicherweise St. Eligius“, 1449, New York Metropolitan Museum of Art (Lehmann Collection), 98 × 85 cm. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Petrus_christus,_sant%27eligio_nella_bottega_di_un_ orafo_01.jpg. 75 Am Bild alleine ist nicht zu entscheiden, ob es sich um einen bürgerlichen Handwerker bzw. Kaufmann oder um einen Heiligen handelt. Der im 19. Jahrhundert angebrachte Heiligenschein wurde jedenfalls wieder entfernt.

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des Geschehens repräsentieren. Wir haben es hier mit einer fortschreitenden symbolischen Differenzierung zu tun. Profanes, definiert durch Handwerk und Handel, tritt in den Vordergrund, auch wenn es sich noch um die Darstellung eines Heiligen handeln sollte. Die Verlobung steht als rituelle Bindung unmittelbar mit dem Akt eines Erwerbs und der feudalen Repräsentation in Zusammenhang. Auch die Betrachtenden werden zu potenziellen Kunden vor dem Ladentisch. Das Sehen des Bildes über diese Schwelle hinweg lässt sich dementsprechend als ein Einstieg in ein symbolisch differenziertes Universum begreifen, in dem unterschiedliche Sphären der Wirklichkeit, aber auch soziale und charakterliche Unterschiede aufgerufen und in ihren Interaktionsformen durch Gesten und Blicke verhandelt werden können. Links von der Waage liegt auf dem Ladentisch ein mehrfach verschlungenes, dekoriertes und nach vorne über die Ladenkante hinausreichendes Band. Es wirkt fast wie eine MöbiusSchleife und lässt sich als das Emblem des Bildes als Schwelle lesen. Im Bild als Schwelle, wie wir es an diesen Beispielen gesehen haben, wird die Malerei sich selbst zum Thema. Sie hat keinen festen Ort mehr im Rahmen eines dekorativen und spirituellen Zusammenhangs innerhalb einer Kirche oder eines Palastes; sie ist aber auch nicht vollkommen autonom und kontextunabhängig. Vielmehr erfindet sie ihre je eigene Form der Lokalisierung und der Verzeitlichung. Darin gibt es keine objektive Distanz – weder im zeitlichen noch im räumlichen Sinn – auf ein vorgegebenes Ereignis. Es gibt nur die situative und aktualisierende Involviertheit mit dem gezeigten Ereignis für die Betrachtenden. Diese werden keiner reinen Illusion, einem Spiegel der Wirklichkeit, ausgesetzt, sondern in ihrer Imagination angesprochen. Sie können ihre eigene Vorstellungswelt mit der des Bildes abgleichen und in diesem besonderen Akt der Wahrnehmung die dabei sichtbar werdenden Differenzen und Relationen symbolisch auf eine neue Art und Weise integrieren. Die Kunst der Malerei besteht darin, der Vergangenheit und der räumlichen Ferne eine raum-zeitliche Präsenz zu verleihen. Darin werden die Differenzen von Vergangenheit und Gegenwart, des empirisch Sichtbaren und des transzendent-Unsichtbaren, des Fleischlichen und des Spirituellen, des Heiligen und des Profanen, des Sozialen, Ökonomischen und Künstlerischen erst voneinander unterscheidbar, und die Malerei als Schwelle oder Übergang denkbar. Hier bildet sich jenes weite Feld an Metaphern und Analogien aus, die die grundlegende Relationalität der altniederländischen Malerei betreffen, die vielfach geschlechtlich markierte Verhältnismäßigkeit zwischen dem Raum und dem Körper – etwa in einer Idee asexueller Hingabe –, dem Blick und der Transzendenz, dem Raum und der Fläche und schließlich dem Raum und der Zeit. Die Emergenz von Differenzen und Relationen lässt sich als zunehmende Virtualisierung verstehen: Die Malerei realisiert keine

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vorgegebenen Möglichkeiten, sie generiert im empirisch-transzendentalen Bezug aufeinander stets neue Möglichkeiten der Differenzierung und der Verknüpfung.76 Damit driftet sie von ihren eigenen, didaktischen wie konzeptuellen Zielen ab, denn die Metaphern und Analogien lassen sich nicht stillstellen und eineindeutig verifizieren; jeder Gegenstand ist innerhalb eines repräsentativen und symbolisierenden Spannungsfeldes situiert – er kann stets sowohl gegenständlich als auch formal, buchstäblich oder symbolisch, flächig oder räumlich gelesen werden. Gerade in der angestrebten puren Wiederholung des heilsgeschichtlichen Ereignisses als reiner Gegenwart tritt ein kategorisch Unbestimmtes als der eigentliche Horizont von Malerei und von Kunst insgesamt auf. Darin nimmt das Spiel von Repräsentation, Realismus und Reflexion Fahrt auf. Bei Hieronymus Bosch kommt es, das hat Hans Belting sehr richtig gesehen, zu einer grundlegenden Veränderung dieser Bildidee. Es handelt sich allerdings nicht um eine „Krise des Gemäldes“77 insgesamt, sondern um eine spezifische Krise in der Idee des Bildes als Schwelle und der ihr innewohnenden symbolisierenden Kraft der Differenzierung und Relationierung. Nicht mehr die spezifischen Verknüpfungsleistungen, sondern die Kontrastierung und das Auseinanderfallen von profaner und sakraler Welt, von Subjektivierung und Universalisierung, der Welt der Kirche und der Welt der Auftraggeber bzw. der Sammler stehen nun im Vordergrund. Die kirchlich sanktionierten Formate (das Altarretabel) und das rein künstlerische Tableau prallen scheinbar ebenso unvermittelt aufeinander wie Literarisches und Bildhaftes, Phantastisches und Realistisches. Hier deuten sich die Konflikte und Spannungen des 16. Jahrhundert bereits an. Die Welt der burgundischen Herrschaft schwindet, und mit ihr die Integrationskraft von Hof und Markt, die die Malerei als Kunst ermöglicht hat. Tatsächlich ist eine ‚neue Welt‘ im Entstehen: ihr Zentrum – das frühkapitalistische Zentrum schlechthin – wird Antwerpen sein. Doch das Bild als Schwelle verschwindet dort nicht; es transformiert sich den veränderten Umständen und Aufgaben entsprechend hin zu einer neuen Bildidee.

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So wie Bergson sagt, dass die Aktualisierung keine vorhandenen Möglichkeiten realisiert, sondern das Virtuelle als Horizont neuer Möglichkeiten erst hervorbringt. Siehe: Henri Bergson, „Das Mögliche und das Wirkliche“, in: Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg (EVA) 2008, S. 110–125. Hans Belting, 2010 (Anm. 11), S. 249–264.

Abb. 9 Quinten Metsijs, „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1514, Paris, Louvre, 70,5 × 67 cm.

Kapitel 4

Wahrheit und Lüge im antagonistischen Bild 4.1.

Antwerpen nach 1500: Radikal veränderte Bedingungen der Kunstproduktion

Was für heutige, kapitalistische Metropolen selbstverständlich zu sein scheint, hat sich historisch erstmals im Antwerpen des frühen 16. Jahrhunderts ausgebildet: ein urbanes Gefüge, das als Knotenpunkt innerhalb eines dichten Netzwerks an weitreichenden Handelsbeziehungen teilhat, darin ein differenziertes Finanz- und Bankwesen ausbildet und die Produktion zunehmend auf teure Fertigware mit einem hohen Anteil an dezidierten Luxusgütern hin spezialisiert. All dies setzt die permanente Anwesenheit internationaler Kaufleute, einen Dienstleistungssektor mit Experten für Transport, Logistik und Wissensproduktion in Verbindung mit rechtlichen und administrativen Kapazitäten, aber auch eine forcierte Arbeitsmigration voraus. Im Jahr 1496 hat Antwerpen etwa 40.000 Einwohner und ist damit bereits ein für diese Zeit großes regionales Zentrum. Im Jahr 1565 bewohnen bereits über 100.000 Einwohner die Stadt, und diese rückt damit zu einer der führenden Metropolen Europas auf. Mit Recht wird von einer ersten „Hauptstadt des Kapitalismus“ gesprochen, an der sich die Verschiebung der ökonomischen wie der politischen Schwerpunkte vom Mittelmeer hin zum Atlantik abzeichnet.1 Brügge hatte am Ende des 15. Jahrhunderts mit der Versandung seines direkten Zugangs zur Nordsee zu kämpfen und, gemeinsam mit Gent, in der Auseinandersetzung mit den neuen habsburgisch-burgundischen Herrschern weitreichende 1 Zur Bedeutung Antwerpens im 16. und 17. Jahrhundert siehe: Jan Van der Stock (Hg.), Antwerp. Story of a Metropolis. 16th–17th Century, Ausstellungskatalog Antwerpen Hessenhuis (Martial & Snoeck) 1993; darin insbesondere: Herman van der Wee, Jan Materné, „Antwerp as A World Market in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, S. 19–32. Generell zur Verschiebung von der mediterranen zur atlantischen Welt im Anschluss and Fernand Braudels klassische, dreibändige Studie Civilizatiion and Capitalism 15th to 18th Century von 1979 siehe: David Abulafia, „The History of Capitalism: A Global Transition: From the Mediterranean to the Atlantic“ in: https://lif.blob.core.windows.net/lif/docs/default-source/default-librar y/a-global-transition---from-the-mediterranean-to-the-atlantic-with-david-abulafia-(the-hi story-of-capitalism-series-legatum-institute)-15-may-2014---pdf.pdf?sfvrsn=0, oder: Daron Acemoglu, Simon Johnson, James Robinson, „The Rise of Europe: Atlantic Trade, Institutional Change, and Economic Growth“, in: https://economics.mit.edu/files/4466. Zum Begriff „Capital of Capitalism“ siehe: Larry Silver, „Pieter Bruegel in the Capital of Early Capitalism“, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 47 (1996), S. 125–153.



  

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Handelsprivilegien verloren. Der seit dem Hochmittelalter so bedeutsame Handel mit England findet nun in erster Linie in Antwerpen statt. Im frühen 16. Jahrhundert machen die Portugiesen die Stadt zum Zentrum der europäischen Distribution ihrer Kolonialwaren, insbesondere von Gewürzen aus Ostasien und Afrika. Hinzu kommen neben den skandinavischen, baltischen und rheinländischen auch die süddeutschen Kaufleute, die Fugger und die Welser in erster Linie, die den Silberbergbau in den Alpen kontrollieren.2 Es entsteht ein permanenter Markt, der keine zeitlichen Beschränkungen wie jene über Jahrhunderte hinweg zu den christlichen Festtagen abgehaltenen Märkte und Messen mehr kennt. Im prestigeträchtigen Bau des ersten Börse-Gebäudes, das 1531 eröffnet wird, erhält dieser Markt eine neue, ebenso institutionelle wie symbolische Realität und prägt, fast direkt an der Haupt-Handelsstraße, der Meir, gelegen nun neben Kathedrale und Rathaus, dem Hafen, dem Münzamt und den Gildenhäusern das Bild der Stadt. Auf einem großformatigen, von Jost Amman in Nürnberg hergestellten Holzschnitt von 1585 erscheint Antwerpen als das ökonomische, arbeitsteilig bereits hochdifferenzierte Zentrum der Welt.3 Zu diesem Zeitpunkt war die Herrlichkeit allerdings schon wieder vorbei. Die ersten ökonomischen Krisen, begleitet von massiven sozialen Spannungen, betrafen die Stadt bereits seit den späten 1520er-Jahren.4 Wenige Jahre zuvor hatte auch die Reformation Antwerpen erreicht und für tiefe Verunsicherung gesorgt. Gegen Ende dieses Jahrzehnts taucht Ignatius von Loyola, von seinem Exil in Paris kommend, in Flandern und Brabant auf und mit ihm der forcierte Kampf gegen die Reformation. Und schließlich waren 1522 die gesamten burgundischen Niederlande im Erbteilungsvertrag zwischen Kaiser Karl V. und seinem Bruder Ferdinand an die spanische Krone gefallen, wodurch sich neue politische Turbulenzen abzeichneten. Noch aber erholt sich das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben, und der Aufschwung geht weiter, bis dann 1566 die calvinistische Rebellion in einem Bildersturm offen ausbricht und zwei Jahre später der letztlich achtzig Jahre dauernde Krieg um die Unabhängigkeit der Vereinigten Provinzen, der späteren holländischen Republik, 2 Dieser erste Schub in Richtung einer Globalisierung wird heute meist im Anschluss an Serge Gruzinski als „mondialisation“ bezeichnet; siehe: Serge Gruzinski, Les quatre parties du monde: Histoire d’une Mondialisation, Paris (Points) 2006; hierzu: Christine Göttler, Bart Ramakers, Joanna Woodall (Hg.), Trading Values in Early Modern Antwerp, Leiden, Boston (Brill) 2014, S.  15 ff. Zum portugiesischen Handel: Sanjay Subrahmanyam, The Portuguese Empire in Asia, 1500–1700: A Political and Economic History, London, New York (Longman), 1993. 3 Jost Amman, „Allegorie des Handels“, Holzschnitt, 1585, 85 × 59 cm. http://www.zeno.org/ Kunstwerke/B/Amman,+Jost%3A+Allegorie+des+Handels. 4 Hugo Soly, „Social Relations in Antwerp in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 1), S. 37–48.

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gegen die spanisch-habsburgische Herrschaft beginnt. In diesem Krieg kommt es zweimal zur Ausrufung einer calvinistischen Republik in Antwerpen, aber die Spanier kehren jedes Mal zurück. 1576 verwüstet die Soldateska die Stadt (in der sogenannten „Spanischen Furie“), bevor sie 1585 endgültig an die Habsburger fällt. Handel, Bankwesen und Dienstleistungen sind naturgemäß von diesen Ereignissen schwer getroffen. Nach 1585 kommt es zum Exodus der Protestanten, und die Bevölkerung sinkt innerhalb weniger Jahre wieder auf das Niveau von 40.000 bevor es zur Zeit des Waffenstillstandes um 1615 wieder zu einem langsamen Anstieg kommt.5 Die Bedingungen der Kunstproduktion ändern sich unter diesen Umständen dramatisch.6 Zweifellos war auch die burgundische Welt des 15. Jahrhunderts kein Himmel auf Erden. Die sozialen, religiösen und politischen Konflikte schienen aber stets lokal eingrenzbar zu sein; und sie werden vor allem in keiner Weise in der Malerei sichtbar. Fast alle bekannten Werke des 15. Jahrhunderts sind entweder von den burgundischen Herzögen und der Kirche oder von den Hofbeamten und den Kaufleuten in Auftrag gegeben worden. In Antwerpen entstehen die Gemälde neben ganzen Altar-Retabeln nun vielfach für den freien Markt. Auf dem Schilder-Pand, einer Art Urform der Galerie, die aus dem Umfeld der Kathedrale in die unmittelbare Nähe der Börse verlegt wird, können die Kunstwerke nun ganzjährig gezeigt und gehandelt werden; hierbei treten auch professionelle Kunsthändler auf. Damit geht eine 5 Zu den Daten der Bevölkerungsentwicklung siehe: Herman van der Wee, Jan Materné, „Antwerp as A World Market in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 1) S. 19–21; zur relativ moderaten Politik Alessandro Farneses nach der Rückeroberung Antwerpens 1585 siehe: Violet Soen, „Das aufsässige Antwerpen versöhnen? Friedensstrategien der Habsburgischen Generalstatthalter während des Aufstands der Niederlande (1566–1586)“, in: Eckhard Leuschner (Hg.) Rekonstruktion der Gesellschaft aus Kunst. Antwerpener Malerei und Graphik in und nach den Katastrophen des späten 16. Jahrhunderts, Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2016, S. 24–37. 6 Keine Epoche hat kunstgeschichtlich seit den 1970er-Jahren mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als das Antwerpen des 16. Jahrhunderts. Mit Recht, denn die Kunst der „nördlichen Renaissance“ war bis dahin bestenfalls als Abklatsch der Italienischen Malerei der Renaissance betrachtet worden und dementsprechend weder stilgeschichtlich noch ikonologisch als besonders interessant und eher von regionaler Bedeutung klassifiziert worden. Ihre Spezifik wurde im besten Fall am Beispiel von Pieter Bruegel d. Ä. diskutiert und ihre modernitätstheoretische Relevanz weitgehend ausgeblendet. Das ist heute nicht mehr möglich. Erst der sozialgeschichtliche Zugang hat im Verbund mit einem neuen ideengeschichtlichen Paradigma – der Fokus liegt nun nicht mehr auf dem Florentiner Neuplatonismus, sondern auf der Rezeption von Stoa und römischer Satire im Kontext des nördlichen Humanismus – den Sinn dieser Kunst, ihr tatsächlich Neuartiges verstehen lassen. Mir geht es darum, die Konsequenzen dieser sozial- und ideengeschichtlichen Ansätze für die Genese des modernen Verständnisses von Kunst herauszuarbeiten.

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arbeitsteilige Spezialisierung, eine Art proto-industrielle Produktionsweise einher,7 die nicht nur zur Standardisierung von Elementen der Altar-Retabeln und dem Kunsthandwerk generell führt, sondern auch zur Wiederholung von Genres und Motiven in der Malerei wie etwa der äußerst beliebten „Anbetung der Könige“, in denen der Reichtum als vom göttlichen Kind gesegnet erscheinen kann.8 Erfolgreiche Bildideen, wie diejenigen von Hieronymus Bosch, werden häufig kopiert und regelrecht gefälscht. Auch ihre Verbreitung durch Drucke wird selbstverständlich. Verbreitungsmedien und Malerei entwickeln sich, vor allem bei Pieter Bruegel d. Ä. und dem Verleger Hieronymus Cock, im engen Austausch miteinander.9 Hierbei handelt es sich um einen Markt, der die innovativen Bildideen zirkulieren lässt und das Begehren nach Originalen entfacht. Freilich gibt es gleichzeitig durchaus noch Aufträge, aber die Kirche hält sich im Angesicht der Reformation zurück und der Hof in Brüssel entwickelt seine eigene Repräsentationskultur.10 Es sind die Gilden selbst, die die Kathedrale mit prunkvollen Altären ausstatten, für die die wichtigsten Meister gewonnen werden, und durch eine solche kompetitive Leistungsschau die Kirche in eine Art von Proto-Museum verwandeln.11 7 Siehe hierzu die bahnbrechende Studie von Filip Vermeylen, Painting for the Market. Commercialization of Art in Antwerp’s Golden Age, Tournhout, Belgien (Brepols) 2003; ferner: Alfons K.L. Thijs, „Antwerp’s Luxury Industries: the Pursuit of Profit and Artistic Sensitivity“, in: Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 1), S. 105–113; Christine Göttler, Bart Ramakers, Joanna Woodall (Hg.), 2014 (Anm.  2), wo die damaligen Arbeitsverhältnisse mit dem heutigen Begriff der Creative Industries in Zusammenhang gebracht werden. Larry Silver spricht von Antwerpen als einem „cultural system“, siehe: Larry Silver, Peasant Scenes and Landscapes. The Rise of Pictorial Genres in the Antwerp Art Market, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 2006, S. 16–25. 8 Darauf hat Filip Vermeylen, 2003 (Anm. 7), S. 160f. aufmerksam gemacht. 9 Zu Bosch siehe: Stephan Kemperdick, „Kopien, Varianten, Reminiszenzen. Vervielfältigungen von Bosch“, in: Stephan Kemperdick, Ina Dinter (Hg.), Hieronymus Bosch und seine Bildwelt im 16. Und 17. Jahrhundert, Ausstellungskatalog Berlin, Staatliche Museen, Petersberg (Michael Imhof), 2017, S. 6–23. Zu Bruegel und Hieronymus Cock: Christian Vöhringer, Pieter Bruegel der Ältere. Malerei, Alltag und Politik im 16. Jahrhundert. Eine Biographie, Stuttgart (Reclam), 2013, S. 141–146. 10 In Brüssel zeigt man sich weniger am Tableau als an riesigen Tapisserien interessiert, die auf Reisen mitgeführt werden konnten und dabei eine hofgerechte Repräsentation ermöglichten. Hier wurde nach den Kartons von Raffael oder Giulio Romano ebenso gewebt wie nach den Designs der einheimischen Meister, etwa Bernard van Orleys. Beispielhaft sind die Tapisserien nach den Entwürfen von Jan Cornelisz Vermeyen, der Kaiser Karl V. auf seiner militärischen Expedition nach Tunis als eine Art von Bildjournalist begleitet hatte. Siehe: Karl V. in Tunis, Ausstellungskatalog Wien, Kunsthistorisches Museum, 2013. 11 Während der langen Umbauphase des Königlichen Museums der Schönen Künste in Antwerpen sind viele dieser Altäre seit 2009 an ihren ursprünglichen Ort zurückgekehrt. Siehe: Ria Fabri, Nico van Hout (Hg.), From Quinten Metsijs to Peter Paul Rubens.

Abb. 10 Marinus van Reymerswaele, „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1539, Madrid, Prado, 83 × 97 cm.

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Antwerpen lässt sich daher tatsächlich als ein erstes internationales Kunstzentrum begreifen, das viele Künstler aus einem weiten Umfeld anzieht. Neue Organisations- und Produktionsformen entstehen in den immer größer werdenden Werkstätten. Sie sättigen keine vorgegebenen Bedürfnisse, sie produzieren sie vielmehr, indem sie die Zirkulation von Werten: Geld, Waren und Wissen antreiben. Kaufleute, künstlerische Unternehmer und Wissensproduzenten lassen eine eigene ‚Kultur‘ von Tauschwerten entstehen. Darin differenzieren sich die Repräsentationsbedürfnisse ebenso aus wie die sozialen Codes und der jeweilige Habitus. Sammlungen werden als Anhäufungen von Kunstwerken um ihrer selbst willen angelegt, und die Urteilsfähigkeit kann in diesem Kontext zum Statussymbol werden.12 Carel van Mander singt noch 1604, aus seinem Haarlemer Exil heraus, das Loblied auf die Antwerpener Malerschule und feiert den Umstand, dass die Kunst dem Geld folgt. Doch zweifellos stellt dies ein sehr einseitiges Bild dar. Denn die Künstler müssen sich gerade in Antwerpen zunehmend mit den Konflikten und Spannungen auseinandersetzen, die durch die Überlagerung von Kapitalismus, Reformation und Unabhängigkeitskrieg entstehen, und die sie selbst im Kern ihres Selbstverständnisses betreffen. Künstler verarmen nun auch, wenn die Nachfrage stagniert oder sinkt;13 sie geraten in Konkurrenz zueinander und sehr leicht zwischen die sozialen, religiösen und politischen Fronten. Pieter Aertsen verliert im Bildersturm noch zu seinen Lebzeiten fast sein gesamtes religiöses Werk. Künstlerischer Erfolg und Katastrophe liegen genauso nahe beieinander wie das Auf und Ab der ökonomischen, religiösen und politischen Bedingungen. Die heute geläufige These von der Standardisierung der künstlerischen Produktion in technischer, motivischer und inhaltlicher Hinsicht als Vorläuferin heutiger Creative Industries14 reicht daher nicht aus, die Komplexität des Antwerpener Kunstgeschehens im 16. Jahrhundert zu begreifen. Masterpieces from the Royal Museum Reunited in the Cathedral, Ausstellungskatalog Antwerpen (De Kathedraal VZW & BAI Publishers), 2009. 12 Von einer creative class im Kontext der business class sprechen Christine Göttler, Bart Ramakers, Joanna Woodall (Hg.), 2014 (Anm. 2), S. 16. Zu den Sammlungen in Antwerpen, wie sie anhand der Inventare von Michiel van der Heyden, Nicolaes Jongelinck, Jean Noirot odder Joris Vezeleer fassbar werden siehe: Caecilie Weissert, Die kunstreichste Kunst der Künste. Niederländische Malerei im 16. Jahrhundert, München (Hirmer) 2011, S. 164–201. 13 Im Holland des 17. Jahrhunderts, wo der Markt die meist einzig mögliche Einnahmequelle für Künstler bleibt, wird sich diese Situation weiter zuspitzen. Viele, auch die heute berühmtesten Maler beenden, meist nach kurzen Phasen des Reichtums und des Ruhms, ihr Leben in Armut. 14 Siehe: Christine Göttler, Bart Ramakers, Joanna Woodall (Hg.), 2014 (Anm. 2).

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Denn gerade die Vermarktung innovativer (Bild-)Ideen, die arbeitsteilige und serialisierte Produktionsweise in den großen Antwerpener Studios15 und schließlich die einfache Handhabung der Tableaus für Transport und Tausch im Kontext einer massiven Kommodifizierung aller Werte führt nicht notwendigerweise zur Einebnung und Relativierung von Geschmack und einem Automatismus von Angebot und Nachfrage. Ganz im Gegenteil sind die Entstehung kulturindustrieller Muster und die Vorstellung einer weitgehend originellen und autonomen Kunst nur in ihrem Wechselspiel zu begreifen. Denn die Standardisierung setzt das Original immer schon voraus. Innovation und Reproduktion gehen ebenso Hand in Hand wie die Etablierung von Genres und autorschaftlichen Konzeptionen.16 Dies macht deutlich, wie nahe die in der Moderne gerne antagonistisch gesehenen Kategorien von reproduktiver Kulturindustrie und origineller bzw. autonomer Kunst noch liegen, und wie sie sich gerade im Austausch miteinander voneinander differenzieren. Dem entspricht auch eine zunehmende soziale ‚Flexibilität‘: Künstler können nun als Unternehmer ebenso auftreten wie als spezialisierte Arbeiter, aber eben auch als geniale Erfinder, deren Ruhm kaum mehr ihresgleichen findet. Das kreative Milieu – Händler, Auftraggeber und Sammler eingeschlossen – interagiert insgesamt stets mit den oberen, aber auch bereits mit den niedrigen Klassen. Es verhandelt soziale und ästhetische Differenz im wechselseitigen Austausch.17 Innovation bleibt hier nicht nur auf technische, formale oder motivische Neuerungen innerhalb traditionell abgesicherter Konventionen bezogen. Sie betrifft zunehmend die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der religiösen und politischen Umstände der je eigenen Produktion. Eine spezifisch künstlerische Perspektive auf die Welt wird somit denkbar. Im Gegensatz zum enormen, quasi wissenschaftlichen Prestige, das die Malerei der italienischen 15 Siehe: Peter van den Brink, „The Art of Copying. Copying and serial production of paintings in the Low Countries in the sixteenth and seventeenth centuries“, in: Peter van den Brink (Hg.), Brueghel Enterprises, Ausstellungskatalog Bonnefantenmuseum Maastricht; Ghent, Amsterdam (Ludion), 2001, S. 12–43. 16 Zur kunsthistorischen Diskussion um die Ursprünge der einzelnen Genres in der Malerei siehe: Larry Silver, 2006 (Anm. 7); Margaret A. Sullivan, „Bruegel the Elder, Pieter Aertsen and the Beginnings of Genre“, in: The Art Bulletin, Vol. 93, No. 2 (June 2011), S. 127–149. 17 Während Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel d. Ä. früh schon von den Habsburgern erworben werden, die die originellsten Bildideen zu ihren Repräsentationszwecken abzuschöpfen wissen, entwickelt Bruegels Sohn, Pieter Brueghel d. J., sein strikt reproduktiv orientiertes „Brueghel Enterprise“ gerade für untere und mittlere Einkommen. Siehe: Peter van den Brink, 2001 (Anm.  15). Zur Kritik an der Identifikation von sozialer und ästhetischer Differenz im Sinne Pierre Bourdieus siehe vom Vf., „Warum Kunstkritik?“ in: Ines Kleesattel, Pablo Müller (Hg.), The Future is Unwritten. Positionen und Politik kunstkritischer Praxis, Zürich (Diaphanes), 2018, S. 51–59.

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Hochrenaissance zu dieser Zeit in ihren kanonischen Bildschöpfungen päpstlicher und fürstlicher Auftragskunst erwirbt,18 interagieren in Antwerpen die vornehmlich durch den Markt vermittelten Wertsphären ökonomischer, religiöser, politischer und künstlerischer Art auf vielfältige, ebenso subtile wie widersprüchliche Weise. Dies setzt unterschiedliche Subjektivitätsmodelle frei und ermöglicht den Künstlern eine Positionierung innerhalb des Spannungsfeldes von Ökonomie, Religion und Politik. Das spezifische Prestige der Malerei als Kunst macht sich zunehmend gerade daran fest. Darüber hinaus öffnet der Markt gleichsam den Bedeutungshorizont eines jeden Gemäldes: Der Wert kann nicht mehr kanonisch und qua Autorität fixiert, sondern nur im Tausch, im Vergleichen und Verhandeln anvisiert werden. Die Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit wird zu einem grundlegenden Moment der Malerei als Kunst. Es entsteht hier also weder eine christlich-humanistische Kultur im antikisierenden Gewand noch eine rein säkulare, kapitalistische Kulturindustrie, sondern ein hochbrisantes, symbolisches Spannungsfeld zwischen den ökonomischen, den moralisch-religiösen und den politischen Realitäten, an deren Schnittstellen der spezifisch künstlerische Einsatz gefordert ist. Die Religion selbst wird hierbei zunehmend vermarktet. Gerade die beliebten devotionalen Bilder, häufig nach Vorbildern der italienischen Hochrenaissance gestaltet,19 werden in den Antwerpener Studios in großen Mengen hergestellt. Umgekehrt durchdringt jedoch auch die Moral den Markt. Denn zweifellos waren die von Quinten Metsijs und vor allem von Marinus van Reymerswaele seriell produzierten, beinahe karikaturhaften Darstellungen von Geldwechslern und Steuereintreibern keine Auftragswerke. Gerade der Markt eröffnet die Möglichkeit einer religiös und moralisch akzentuierten und doch spezifisch künstlerischen Marktkritik. Hier ist eine Kennerschaft nicht nur hinsichtlich der spezifisch malerischen Werte, sondern auch hinsichtlich der sozialen, religiösen oder politischen Positionierung bzw. Selbst-Positionierung gefordert. Künstler wie Jan Sanders von Hemessen, der Braunschweiger Monogrammist, Pieter Aertsen und auch Pieter Bruegel d. Ä. werden heute wie selbstverständlich als Kritiker ihrer Zeit gelesen; in vielen ihrer Werke lassen sich in den Nuancen der Darstellungsmodalitäten die zeitgenössischen Positionierungskämpfe nachweisen.20 Und bei vielen anderen finden sich zu18 Als solche werden sie auch fleißig in Antwerpen kopiert und reproduziert. 19 Von Pieter Coeke de Aelst, dem Schwiegervater Bruegels haben nicht weniger als 41 Varianten von Leonardos Abendmahl überlebt. Und die Raffael’schen Madonnen werden in den Werkstattbetrieben von Ian Gossaert, Joos van Cleve, Jan Sanders van Hemessen massenhaft variiert. 20 Besonders virtuos hat Burr Wallen dies in seiner Studie zu Jan Sanders van Hemessen gezeigt. Siehe: Burr Wallen, Jan van Hemessen. An Antwerp Painter between Reform and Counter-Reform, Ann Arbor, Michigan (UMI Research Press), 1983.

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mindest Andeutungen in diese Richtung, auch wenn hinsichtlich der Deutung einzelner Gemälde Vorsicht geboten ist.21 Dies ist historisch tatsächlich neu und weder mit der altniederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts noch mit der zeitgleichen italienischen Renaissance-Malerei zu vergleichen. In der Grafik, wohl angefeuert durch die polemischen Flugblätter der Reformation, ist dies noch deutlicher zu sehen als in der Malerei. Die Malerei ringt mit der doppelten Herausforderung, dass sie im sozialen, politischen und religiösen Kräftefeld positioniert sein muss, um als innovativ gelten zu können, gleichzeitig aber nicht zu eindeutig sein darf, um einen möglichen Wechsel der Verhältnisse zu überstehen und einen Anspruch auf einen dauerhaften Wert erheben zu können. Der Ruhm der Malerei gründet gerade darin, über den Augenblick der Aktualisierung und über die Lebenszeit der dargestellten Personen oder Dinge und des Malers selbst hinaus wirksam zu sein. Hierin mag der Grund für die schillernde Ambivalenz gerade der bedeutendsten Werke der Epoche liegen. Die Kunst scheint häufig darin zu bestehen, sich zu positionieren, ohne sich festlegen zu lassen, stets gleichzeitig deutlich und undeutlich, präzise und rätselhaft zu sein bzw. gerade in der Rätselhaftigkeit präzise zu sein. Eine solche Kennzeichnung träfe zweifellos die meisten der ambitionierteren Werke zwischen Bosch und Bruegel, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Die dazu gehörenden taktischen Manöver zwischen einer Ausrichtung an der grundlegenden Ambivalenz der Bedingungen des Marktes, den sozialen, religiösen und politischen Positionierungen sowie letztlich einer akuten subjektbezogenen Selbstbehauptung schreiben sich in die symbolische Markierung der Malerei als Kunst ein. Somit wird sich in der Malerei von nun an auch die Frage nach der Subjektivität von Kritik stellen. Sicherlich sollte man nicht in anachronistischer Weise moderne, das heißt: romantische, ironische oder kritische Subjektivitätsmodelle für das 16. Jahrhundert voraussetzen. Doch zweifellos erweitert bzw. entfaltet sich der Raum der Subjektivität damals bereits in enormer Weise. Der Realismus, wie wir ihn als erste starke Positionierung von Künstlern in dieser Zeit kennen, wird erst vor 21 Mehrere Autoren und Autorinnen verweisen darauf, dass die Darstellung von Krüppeln, Blinden, Bettlern, Hausieren und Leprakranken keinesfalls mit modernen Vorstellungen von Mitleid und Sozialkritik gleichzusetzen ist, sondern in erster Linie mit moralischer Verfehlung, Betrug und Strafe für den falsch gewählten Lebenswandel. Auch die Bauern werden aus der bürgerlichen Perspektive und in den Jahren nach dem Bauernkrieg meist als lächerlich dargestellt. Dennoch verändert sich etwas in der Darstellung durch die Malerei selbst. Die Bilder des 16. Jahrhunderts zeigen eine zunehmende Ambivalenz und eine Ausdifferenzierung moralischer, satirischer, komischer und kritischer Dimensionen, die für uns heute nicht mehr vollständig nachzuvollziehen ist. Deswegen scheint es mir entscheidend, die Werke Hemessens, des Braunschweiger Monogrammisten, Aertsens oder Bruegels weder einseitig moralisch noch einseitig humoristisch zu interpretieren. Erst in der Malerei wird die Differenz spürbar und verhandelbar.

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dem Hintergrund einer solchen, auf den Markt, aber auch auf die ökonomischreligiös-politischen Spannungen bezogenen Subjektivität denkbar. Und mit dem Realismus stellt sich die Frage nach Wahrheit und Lüge in einem anderen, nicht mehr rein mimetischen Sinn. Es geht nicht nur darum, was wir sehen und in welchem Sinn die dargestellten Gegenstände kanonische Bedeutungen symbolisieren, sondern vor allem darum, wie wir sehen sollen und welche Art von Verbindungen wir als Betrachtende zwischen den formalen und inhaltlichen Elementen im Bild und vor allem zum Bild selbst und der darin verkörperten autorschaftlichen Intention herstellen können. Die so häufig dargestellten Händler, Steuereintreiber und Geldwechsler repräsentieren sich nicht mehr selbst, wie weiland die Arnolfinis als selbstbewusste Agenten einer neuen Klasse; sie werden vielmehr als Symptome einer neuen Zeit gezeigt.22 Als solche sind sie notorisch des Betrugs und des Wuchers verdächtig. Zwar sehen wir in den Bildern keineswegs eine realistische Darstellung der sich entwickelnden Bankgeschäfte; und doch ist etwa die Zunahme von Papier gegenüber den Münzen – und somit die zunehmende Abstraktion der Tauschhandlungen – ebenso gut erkennbar wie die bis ins Bizarre reichende Repräsentation des neuen Reichtums. Gerade in der karikaturhaften Verzerrung modernisieren sich gleichzeitig der alte christliche Moralismus und damit punktuell bereits der Antisemitismus. Lüge und Verrat sind auch im religiösen und im politischen Kontext angesiedelt. Jan Sanders van Hemessen malt mehrfach die Täuschung Isaaks durch Rahel und Jakob oder den blinden Tobias, der vom Engel geheilt wird und spielt damit direkt auf die sündhaften Zustände und den Heilungs- bzw. Reformbedarf der katholischen Kirche an. Vielfach lassen sich seine Bilder als unmittelbare Kommentare zu den zeitgenössischen Ereignissen und ihren Akteuren23 zwischen Politik, Religion und Ökonomie lesen. Bei Pieter Aertsen kommen Immobilienspekulation und der Markt als existenzielle Metapher ins Spiel, und der Braunschweiger Monogrammist verhilft der Masse zu einem ersten historischen Auftritt. Diese unterschiedlichen Formen von Realismus indizieren also sicherlich keine unbestreitbare Wahrheit; sie verweisen aber klar und deutlich darauf, dass die Frage nach der Wahrheit auf neuartige und dringliche Weise auf dem Spiel steht. Diese liegt in keiner Autorität mehr verwurzelt, die man einfach 22

Keith Moxey hat überzeugend vorgeschlagen, dass es wohl die Geldwechsler und Steuereintreiber selbst waren, die in einem Akt der Selbstkritik diese Bilder erworben haben. Siehe: Keith Moxey, „The Criticism of Avarice in Sixteenth-Century Netherlandish Painting“, in: Görel Cavalli-Björkmann (Hg.), Netherlandish Mannerism, Stockholm 1985, S. 21–34; hierzu: Larry Silver, 2006 (Anm. 7), S. 81. 23 Die Gesichtszüge von Ignatius von Loyola oder von Kaiser Karl  V. werden vielfach in seinem heiligen Personal vermutet.

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abrufen und in deren Namen man agieren könnte; sie setzt vielmehr die soziale Positionierung immer schon voraus, auf Seiten der Künstler ebenso wie auf Seiten des Publikums. Wahrheit wird hier perspektivisch; sie muss auf diese Positionen bezogen werden, und die Malerei bietet sich als ein Medium an, diese perspektivische Wahrheit24 im durch Repräsentation, Realismus und Reflexivität vermittelten Wechselspiel von autorschaftlichen Anspruch und einer zunehmend ambitionierten Rezeption zu erfassen.25 Vorstellbar erscheint nun Wahrheit als eine spezifische Sache der Malerei als Kunst. Doch wie kann mit den Mitteln der Malerei mit dieser offenen, perspektivischen und tendenziell relativistischen Wahrheitsfrage umgegangen werden? Müssen die Widersprüche kontradiktorisch zugespitzt oder eher die Analogien und Ambivalenzen herausgearbeitet werden?26 Soll der Konflikt gesucht oder die Integration und Versöhnung gepriesen werden? Wie kann sich die subjektive Wahrheit zeigen und allgemeine Gültigkeit beanspruchen? Oder sollte sie nicht besser verborgen werden?27 Entscheidend scheint mir zu sein, dass alle diese Fragen mit den Mitteln der Malerei als Kunst nicht eindeutig beantwortet werden können, dass sie sich jedoch von nun an hartnäckig und unabweisbar stellen. Denn die Malerei schafft Spielräume der Reflexion und der Kritik, der Positionierung aber auch der Interpretation, in denen die perspektivische 24 Eine perspektivische Wahrheit wäre somit der Wahrheit der Perspektive zentral entgegengesetzt; sie impliziert unterschiedliche Perspektiven und somit einen kategorischen Relativismus, der dennoch an Wahrheit ausgerichtet bleibt. Generell zur Diskussion um eine „kontingente Wahrheit“ im Kontext des antiplatonisch ausgerichteten Nördlichen Humanismus siehe: Toon van Houdt, „ Word Histories and Beyond: Towards a Conceptualization of Fraud and Deceit in Early Modern Times“, in: Toon van Houdt, Jan L. de Jong, Zoran Kwak, Marijke Spies, Marc van Vaeck (Hg.), On the Edge of Truth and Honesty. Principles and Strategies of Fraud and Deceit in the Early Modern Period, Leiden, Boston (Brill) 2002, S. 1–32. 25 Die Forschung unterstreicht heute die Rolle einer ambitionierten Rezeption. Siehe etwa: Margaret A. Sullivan, „Aertsen’s Kitchen and Market Scenes: Audience and Innovation in Northern Art“, in: The Art Bulletin, Vol. 81, No. 2 (June 1999), S. 236–266; oder: Reindert Falkenburg, „Pieter Aertsen’s Old Market Vendor. Imitatio Artis as Paradox“, in: Annette de Vries (Hg.), Cultural Mediators. Artistis and Writers at the Crossroads of Tradition, Innovation and Reception in the Low Countries and in Italy 1450–1650, Leuven, Paris, Dudley, Ma. (Peeters) 2008, S.  1–26. Grundsätzlich zur konversierenden Aneignung: Todd  M.  Richardson, Pieter Bruegel the Elder. Art Discourse in the Sixteenth-Century Netherlands, London, New York (Routledge), 2011. 26 Marcel Detienne unterscheidet etwa zwischen einem kontradiktorischem und einem ambivalenten Begriff von Wahrheit. Siehe: Marcel Detienne, The Masters of Truth in Archaic Greece, Cambridge, Massachusetts (MIT) 1999. 27 Wie etwa im sogenannten Nikodemismus, der eine Weigerung bezeichnete sich öffentlich zu seiner Konfession zu bekennen. Generell siehe: Jürgen Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä., München (Fink) 1999.

Abb. 11 Jan Sanders van Hemessen, „Lockere Gesellschaft“, 1539/40, Kunsthalle Karlsruhe, 83 × 111 cm.

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Wahrheit als eine legitime Form von Wahrheit verhandelt werden kann. Gerade darin liegt ihre spezifische Symbolisierungsleistung. Diese Spielräume der Symbolisierung werden in Antwerpens Kunst des 16. Jahrhunderts durch eine spezifische Bildidee ausgelotet: Ich werde sie das antagonistische Bild nennen. 4.2.

Antagonistische Bildstrategien: Von der Schwelle zum Konflikt

Das letzte Schwellenbild im Sinne des 15. Jahrhunderts ist zugleich das erste antagonistische Bild. Als Quinten Metsijs im Jahr 1514 einen „Geldwechsler und seine Frau“ malte,28 (Abb. 9) knüpfte er direkt an die von Jan van Eyck und Petrus Christus geprägten Bildformeln an. Im Kontext des nun in Antwerpen massiv einbrechenden Romanismus muss dies tatsächlich bereits als „retardierend“ empfunden worden sein.29 Auch hier gibt es den Ladentisch, die Regale im Hintergrund mit einem tiefen Ausblick in die Nebenräume zur rechten Seite und den Konvexspiegel, der den vorderen Teil des im Bild dargestellten Innenraums mit einem Fenster sichtbar macht, durch welches ein Ausblick auf den Außenraum mit einer Kirche und einem weltlichen Gebäude möglich wird. In diesem gespiegelten Innenraum ist eine weitere Figur zu erkennen, die wohl wieder den Maler oder die Betrachtenden repräsentiert. Das Außerhalb des Bildes ist also weiterhin sehr präsent. Auch im Bild bewahren Mann und Frau noch Aspekte der „konsensuellen“ Aufeinander-Bezogenheit, wie wir sie im Arnolfini-Doppelporträt kennengelernt haben. Sie neigen ihre Körper einander zu, auch wenn die Blicke aneinander vorbeizugleiten scheinen; und doch macht sich in ihrem Verhältnis zueinander eine neue Bildlogik geltend. Während der Mann völlig absorbiert in der Tätigkeit des Wiegens der Münzen aufgeht – ein Motiv, das sich bis weit ins 17. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit erfreuen wird – scheint die Frau von ihrer, von der Jungfrau Maria ererbten, kontemplativen Tätigkeit des Lesens in den Heiligen Büchern abgelenkt zu sein und lässt ihre Aufmerksamkeit zu den Münzen hin abschweifen. Das Wiegen und Zählen des Geldes und das Heilige Buch erscheinen 28 Quinten Metsijs, „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1514, Paris, Louvre, 70,5 × 67 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9f/Quentin_Massys_001.jpg. Für den Namen des Malers sind mehrere Schreibweisen überliefert, etwa Quentin Massys oder Quentin Matsys; auch für das Bild sind mehrere Titel im Umlauf: Der Mann wird hierbei als Goldwäger, Geldwechsler oder Pfandleiher bezeichnet. 29 Seit Panofskys, an den stilistischen Standards der italienischen Hochrenaissance gemessenen Kriterien wird das Bild in der Kunstgeschichte bis heute häufig als „retardierend“ beschrieben.

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als Gegensätze, und der Spiegel steht dazwischen. Allerdings handelt es sich noch um keinen scharfen oder gar unüberwindbaren Antagonismus.30 Nicht nur die Frau muss sich entscheiden, welcher Seite sie ihre Aufmerksamkeit schenkt; auch wir als die Betrachtenden können und müssen vergleichen und die Verhältnisse abwägen. Es gibt zwar noch übergreifende Einheiten; es gibt aber kein endlos geflochtenes Band mehr, das die Beziehungen und Verhältnisse zwischen Ritual, Handel und Sehen harmonisiert, sondern eine auf Gegensätze hin ausgerichtete und auf eine Entscheidung hin sich zuspitzende Situation.31 Diese antagonistische Bildlogik wird sich von nun an rasch entfalten. Viele Kopien und Varianten machen das Bild populär. Insbesondere Marinus van Reymerswaele malt in den 1530er-Jahren eine Reihe von Versionen des Themas, in denen die subtilen Balancen von Metsijs’ Bild schwinden und die Bildidee sich immer weiter auf den reinen Antagonismus zuspitzt. (Abb. 10) Der Spiegel kann nun ebenso weggelassen werden wie die Ausblicke in die Nebenräume.32 Metsijs selbst hatte in seinem „Ungleichen Paar“ von 1520 bereits die Richtung vorgegeben, nämlich eine Vereinfachung der Bildidee, bei der die reflexive Dimension des Bildes zugunsten der unmittelbaren Konfrontation mit den dargestellten Gegensätzen, in diesem Fall von altem, reichem bzw. hässlichem Mann und armer, junger, aber schöner Frau zurückgenommen wird. 30 Larry Silver, 2006 (Am.  7), S.  74 nennt das Bild eine „allegory of choice“. Man könnte es in dieser Hinsicht mit dem Hercules am Scheideweg oder der Himmlischen und der Irdischen Liebe vergleichen, wie sie zur selben Zeit in Italien beliebt waren. Aber Metsijs’ Bild zeigt, wie viel zeitgenössischer und auch komplexer von der Bildlogik her in Antwerpen gedacht wurde. 31 Holger Kuhn hat mit Recht einer einfachen antagonistischen Interpretation des Bildes widersprochen und die komplexen triadischen Bildstrukturen, die das Bild in meiner Terminologie noch mit dem Bild als Schwelle teilt, herausgearbeitet und in Zusammenhang mit den komplexen ikonografischen Dimensionen des Bildes gebracht. Siehe: Holger Kuhn, Die leibhaftige Münze. Quentin Massys’ Goldwäger und die altniederländische Malerei, Paderborn (Fink) 2015. Auch Joanna Woodall betont die konsensuellen Aspekte; sie verweist darauf, dass das Bild im Vergleich mit den Repliken von Reymerswaele eben nicht für den Markt entstanden sei, und möglicherweise ein Hochzeitsgeschenk an Pieter Gillis, den Freund des Erasmus, darstelle, weshalb es im Sinne eines Erasmischen Humanismus – des Ausgleichs der Gegensätze und der Balance – zu werten sei. Siehe: Joanna Woodall, „De wisselaer. Quentin Matsys’s Man weighing gold coins and his wife, 1514“, in: Christine Göttler, Bart Ramakers. Joanna Woodall, 2014 (Anm. 2), S. 38–74. 32 Selbst die spirituelle Dimension kann auf der Darstellungsebene aufgegeben werden, da die Frau nun selbst in einem Kontobuch zu blättern scheint und sich der Antagonismus ganz auf die Betrachtung hin verschiebt. Marinus van Reymerswaele, „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1539, Madrid, Prado, 83 × 97 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d6/Marinus_Claesz._ van_Reymerswaele_001.jpg.

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Die Kunstgeschichte spricht hier von „polarized structural oppositions“, „juxtapositions“ oder generell von „antithetischen“ oder auch „paradoxalen“ Momenten der Ikonografie.33 Sie finden sich in fast allen innovativen Bildkonzepten, die im Antwerpen des 16. Jahrhunderts entstanden sind und umfassen sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte. Die Arbeit mit und an Gegensätzen scheint sogar das vorrangige Thema der Malerei zu werden, mittels derer sie sich soziale Realitäten ebenso erschließt wie sie ihre je eigenen Positionierungen darin vornimmt und ihr Publikum damit herausfordert. Das antagonistische Bild schließt jedoch weder das Bild als Schwelle noch das Bildverständnis des italienischen Humanismus vollkommen aus. Es behält das situative und aktualisierende Moment der altniederländischen Malerei und integriert darein häufig wie selbstverständlich den perspektivischen Bühnenraum. Entscheidend aber ist, dass die malerische Arbeit an den Gegensätzen im Bild ein Konfliktfeld der Malerei als Kunst eröffnet und zu montageartigen und konfrontierenden, aber auch sequenzhaften Bildvorstellungen führt, die auf vergleichbare Weise erst wieder in der Moderne aufgegriffen werden. Antagonistische Elemente sind zweifellos bereits in der mittelalterlichen Kunst allgegenwärtig, insbesondere hinsichtlich der Gegenüberstellung von Himmel und Hölle, von Ecclesia und Synagoge oder von Szenen des Alten und des Neuen Testaments. Diese Gegensätze können einander auf zwei Buchseiten oder auf den beiden Seiten eines Kirchenportals gegenübertreten; sie sind jedoch kaum innerhalb eines Bildes bzw. Gemäldes aufzuspüren. Noch bei Hieronymus Bosch finden sich Erlösung und Verdammung zumeist auf den Seitenflügeln seiner Triptychen, während im Mittelteil die Sphären noch vermischt sind, allerdings nicht mehr im Sinne der devotionalen Integration von Heiligem und Profanen, wie sie für die altniederländische Malerei seit dem frühen 15. Jahrhundert typisch war; vielmehr ist das Profane nun gänzlich vom Teuflischen durchdrungen. Die ganze Welt ist sündhaft und korrumpiert.34 33

Ich möchte diese sich vereinzelnd findenden Bemerkungen in der Literatur wiederum auf einen spekulativen Begriff, den des antagonistischen Bildes, hin verallgemeinern. Siehe: Larry Silver, 2006 (Anm. 7), S. 68; Reindert Falkenburg, „Antithetical Iconography in Early Netherlandish Landscape Painting“, in: Ausstellungskatalog  Bruegel and Netherlandish Landscape Painting from the National Gallery Prague, Tokyo (The National Museum of Western Art)) 1990, S. 25–36; Jürgen Müller, 1999 (Anm. 27); Charlotte Houghton, „This Was Tomorrow: Pieter Aertsen’s  Meat Stall  as Contemporary Art“, in: The Art Bulletin Vol. 86, No. 2 (June 2004), S. 277–300. 34 Insbesondere der „Heuwagen“ oder das „Weltgericht“ zeigen eine, durch das Format des Triptychons strukturierte Fundamentalkritik der Welt, die mit der zumindest seit Augustinus dogmatisierten Weltablehnung des Christentums einherging. Es handelt sich also um keine Kritik der Autorität gegenüber, sondern um eine die Autorität begründende Kritik. Die Verschiebung vom Heiligen in der Welt hin auf das Böse in der

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Dies impliziert für die Betrachtenden bereits eine konfrontierende und strikt moralisierende Bildstrategie, eine immer noch durchaus situativ verortete und auf Aktualisierung drängende Betrachtungsweise, die aber nicht in kontemplativer Zeugenschaft der Wahrheit, sondern im aktivierenden Aufruf des Eintretens für diese besteht: Du musst Dein Leben ändern, solange Du noch Zeit hast! Dieser Aufforderungscharakter wird auch für das antagonistische Bild relevant, weil es von den Betrachtenden eine Verknüpfungsleistung zwischen den formalen und den inhaltlichen Gegenüberstellungen verlangt. Zwar gruppieren sich die Gegensätze immer noch um das situative Szenario, das das Bild als Schwelle geschaffen hatte; das antagonistische Bild insistiert jedoch auf einer stärkeren Involviertheit der Betrachtenden, es fordert einen Akt der Bewertung des Gesehenen und einen reflexiven Selbstbezug. Wiederum hatte Bosch die antagonistische Zuspitzung sowohl inhaltlich als auch formal vorangetrieben. Inhaltlich, indem es nur mehr Freund und Feind bzw. Gut und Böse zu geben scheint – vor allem in der Stigmatisierung der Feinde ist er unübertroffen;35 formal, indem insbesondere in den häufig verwendeten runden oder oktogonalen Bildformaten zwischen Zentrum und Peripherie und generell zwischen einem partikularen Ereignis und seinem universellen Zusammenhang unterschieden wird, wie er vor allem durch die weiten – Joachim Patiniers Bildideen vorwegnehmenden – Weltlandschaften gekennzeichnet wird. Im Rahmen der antagonistischen Bildidee erweitern sich im Laufe des 16. Jahrhunderts sowohl die inhaltlichen als auch die formalen Aspekte. In der inhaltlichen Gegenüberstellung von Männern und Frauen, Armen und Reichen, Gläubigern und Schuldnern, Städtern und Bauern, Eigentümern und Pächtern, Arbeitenden und Faulen, Einzelnen und Mengen oder gar Massen werden im Medium der Malerei soziale Verhältnisse, aber auch differenzierte Seins- und Existenzweisen sichtbar gemacht. Die formalen Modalitäten der Gegenüberstellung betreffen in erster Linie das durch das Tableau vorgegebene Bildfeld Welt hatte bereits der Herausgeber von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, Heinrich Gustav Hotho gesehen. Siehe: Johannes Rößler, „Die Aktualitäten des Hieronymus Bosch. Stationen wissenschaftlicher und künstlerischer Wiederentdeckung 1822–1950“, in: Stephan Kemperdick, Ina Dinter (Anm.7), S. 40f. 35 Hierzu insbesondere: Joseph Leo Koerner, Bosch and Bruegel. From Enemy Painting to Everyday Life, Princeton, Oxford (Princeton University Press), 2016, S. 133: „Bosch was an expert in enmity. Hatred was his professional specialty. At the beginning of the era in European art when, due to an expanding art market, individual painter’s shops narrowed their production to pictures of particular, salable types, Bosch made the portrayal of enemies his distinctive expertise.“ Oder: S. 145: „In Bosch, enmity is not just a structure; it is the very matrix of structure. As such, it can engender variable, even antagonistic elements.“

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selbst, auf dem nun oft strikt zwischen linker und rechter, oberer und unterer Bildhälfte, Vordergrund und Hintergrund, Nähe und Ferne unterschieden wird. Auch die Unterscheidung zwischen innerhalb und außerhalb des Bildes bleibt bedeutsam. Trotz dieser kompositorischen Vereinfachungen, verglichen etwa mit den „göttlichen“ Proportionsregeln der Italiener,36 kommt es hier zu einer Mobilisierung des Bilddenkens. Gerade weil kein absoluter Kanon in Inhalt wie Darstellung ablesbar ist, muss der Subjektivität sowohl auf Seiten der autorschaftlichen Konzeption wie auf Seiten der Rezeption hinsichtlich der je eigenen Reaktionsweisen auf die dargestellten sozialen Verhältnisse Rechnung getragen werden. Das heißt, im Wahrnehmungsakt müssen die dargestellten Personen und Gegenstände nicht nur in ihrer Buchstäblichkeit erfahren, in ihren materiellen, körperlichen und symbolischen Interaktionen zueinander entschlüsselt und hierbei auf die formalen Anordnungsweisen im Bild bezogen werden; sie müssen darüber hinaus stets auch bewertet und auf den eigenen Erwartungshorizont bezogen werden. Das Spiel von Repräsentation, Realismus und Reflexivität verankert sich somit immer stärker im sozialen Raum der Bildbetrachtung selbst. Hierbei geht es nicht einfach um die Bedeutung des Bildes, sondern um die Bedeutung des Bildes als Bild, die dann als Kunst verstanden werden kann, in der der intersubjektive Austausch immer schon vorausgesetzt ist. An diesen wechselseitig aufeinander bezogenen, ebenso produktiven wie rezeptiven subjektiven Einsätzen zeigt sich, das auch die antagonistische Bildlogik die kategorische Ambivalenz37 jeder malerischen Darstellung zwischen Inhalt und Form, Realismus und Symbolismus, autorschaftlicher Intention und rezeptiver Erwartung nicht vollkommen überwinden kann. Darin liegt die Herausforderung an die Betrachtenden begründet, sich sowohl dem thematisierten Antagonismus als auch der malerischen Ambivalenz gegenüber zu verhalten. Auf Seiten der Bildkonzeption kann es hierbei zu Momenten der Zuspitzung in der jeweiligen Gegenüberstellung kommen, sowohl in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht, aber auch zu Versuchen, den Antagonismus selbst zu verhandeln, das heißt, ihn zu mäßigen bzw. ihn in komplexe Erzählstrategien und Kontexte einzubinden. Hierbei deutet sich ein Prozess der Differenzierung an, durch den die Kategorien von Kritik, Satire, Allegorie, Komik oder einfach Kommentar auch für die Betrachtenden voneinander unterscheidbar werden, und somit die 36

Siehe: Luca Pacioli, De divina proportione, Venedig 1509; daran anknüpfend die Diskussion um den Goldenen Schnitt, siehe: Albert van der Schoot, Die Geschichte des goldenen Schnitts. Aufstieg und Fall der göttlichen Proportion, Stuttgart (Frommann-Holzboog), 2005. 37 Wie sie sogar bei Bosch, etwa im „Garten der Lüste“ im Verhältnis von Verführung und gnoseologischer Erkenntnis zu finden ist.

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ikonografische Tradition mit der aktuellen künstlerischen Behauptung und schließlich dem kontextuellen Wissen der je eigenen Positionierung in Verbindung gebracht werden können. Gerade die Bewertung des Antagonismus zwischen Zuspitzung und Balance bringt unterschiedliche Auffassungen über den Zweck der Malerei als Kunst hervor.38 Der Antagonismus von Freund und Feind, Gut und Böse, Transzendenz und Welt spezifiziert sich in Antwerpen zuallererst auf den Gegensatz von Moral bzw. Religion und Ökonomie. An dieser Basisunterscheidung, an der die grundlegenden Realitäten des neuen Kapitalismus sichtbar werden, machen sich schnell andere soziale Verhältnisse fest. Insbesondere Jan Sanders von Hemessen (1500–ca. 1566) und der sogenannte Braunschweiger Monogrammist (Jan van Amstel?) übertragen die grundlegende Struktur von Metsijs’ und Reymerswaeles Bildern in erweiterte Kontexte, Hemessen mehrfach etwa mit dem Thema der Berufung des Apostels Matthäus. Matthäus ist als Zöllner eine jener neutestamentarischen Figuren, die auch mit dem Eintreiben von Geld beschäftigt sind. Während in Reymerswaeles Version des Bildes von 1536 Jesus und der künftige Apostel noch in einer Art von intimen Begegnung verharren, wird bei Hemessen die Figur des Matthäus von den Fallstricken des irdischen Lebens umfasst und soll aus einer konkreten sozialen Situation herausgeholt werden. Auf dem frühen Münchener Bild, ebenfalls von 153639 ist die Szene noch gänzlich in einem Innenraum situiert und mit all den Requisiten der Geldwechsler und Steuereintreiber versehen. Ein älteres Paar, möglicherweise die Eltern des Helden, mehrere Assistenten und eine junge Frau, die mit dem Wiegen und Zählen des Geldes beschäftigt ist, umgeben Matthäus, der in seinem Aussehen schon ganz den durch Dürer kanonisch geprägten Aposteldarstellungen entspricht und auf den Ruf Jesu zu reagieren scheint.40 Im ersten der beiden Wiener Bilder, wohl von 1539/40, hat er die Physiognomie Kaiser Karls V. erhalten,41 auf dessen Abhängigkeit von reichen Geldgebern wie den Fuggern hier wohl angespielt und eine noch möglich scheinende Versöhnung der Konfessionen statt der horrenden Kriegssteuern gefordert wird.42 Die Frau 38 Joanna Woodall sieht das Wiegen bzw. Abwägen, um das es in Metsijs’ „Geldwechsler“ geht, im Wesentlichen bereits als eine ästhetische Balance, die sich bis hin zu Vermeers „Frau mit der Waage“ von 1664 verfolgen lässt. Siehe: Joanna Woodall 2014 (Am. 31), S. 44. 39 Jan Sanders van Hemessen, „Die Berufung des Matthäus“, 1536, München, Alte Pinakothek, 118,8 × 153,9 cm https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/jan-sanders-vanhemessen/die-berufung-des-matthaeus. 40 Die Figur des Jesus ist wohl erst später hinzugefügt worden zu sein; Matthäus könnte also auch, wie der Geizhals in einer populären Bildtradition, auf den Tod reagieren. 41 Jan Sanders van Hemessen, „Berufung des Apostels Matthäus“, 1539/40, Wien, Kunsthistorisches Museum, 85 × 107 cm. www.khm.at/de/object/1e056d2b0e/. 42 Burr Wallen, 1983 (Anm. 20), S.67–77.

Abb. 12 Jan Sanders van Hemessen (zugeschrieben), „Der Arme und der Reiche“, Mitte des 16. Jahrhunderts, Aufbewahrungsort und Maße unbekannt, aus: Jan Van der Stock (Hg.), Antwerp. Story of a Metropolis. 16th - 17th Century, Ausstellungskatalog Antwerpen, Hessenhuis (Martial & Snoeck) 1993, S. 38.

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adressiert nun in einer kühnen Körperdrehung direkt die Betrachtenden und scheint hierbei den rufenden Jesus wegdrücken zu wollen und gleichzeitig auf eine Szene im Hintergrund zu verweisen, in der der neue Apostel bereits seinen Herren und einige Gäste bewirtet. Ihre Hände kommunizieren dabei sowohl mit dem ebenfalls abwehrenden Fingerspiel der älteren Frau in der linken oberen Bildecke als auch mit dem Berufungsgestus Jesu. Die Aufteilung des Bildes in eine linke, Matthäus, und eine rechte, Jesus zugeordnete Seite, wird derart durch eine Bewegung von vor dem Bild in den Bildhintergrund unterbrochen und gleichzeitig diagonal ‚verspannt‘, wodurch ein äußerst komplexes, kaum zu entwirrendes Beziehungsgefüge entsteht. Auf dem späteren Wiener Bild von 154843 umfängt die Frau den Matthäus und scheint seinen Aufbruch mit körperlichem Einsatz verhindern zu wollen, während dessen Physiognomie wieder stärker der kanonischen Darstellungsweise entspricht. Er scheint sich erst aus dem irdischen Leben und seinen Lockungen befreien zu müssen, um dem Ruf des Herrn folgen zu können. Das Gedränge der Figuren um ihn ist dichter geworden und er scheint sich sogar den Betrachtenden gegenüber abzustoßen, denn seine linke Hand ist direkt gegen diese gerichtet. Der aus dem Außenraum, durch antike Ruinen akzentuierte Aufruf Jesu erscheint nun umso dringlicher; im Kontext des beginnenden Tridentinums werden darin die gegenreformatorische Militanz, aber auch die Schwierigkeiten, ihr zu folgen, spürbar. Die Komposition ist durch doppelte, sich in der Bildmitte kreuzende Diagonalen auf einen Gegensatz zwischen Bewahren und Erneuern hin zugespitzt, und der Antagonismus dynamisiert sich hiermit auf dramatische Weise. Die Überlagerung verschiedener Gegensätze zwischen Ökonomie, Religion, Moral und Politik verschiebt sich hier deutlich auf den Antagonismus der Geschlechter hin, der zum entscheidenden Code für alle anderen Gegensätze zu werden scheint.44 Die Frau hat ihren Auftritt nun als Verführerin, die den Mann vom rechten Weg abhält. In den nun beliebt werdenden „lockeren Gesellschaften“ und den ersten reinen Bordellszenen, die der Braunschweiger Monogrammist, an Ansätze von Metsijs und Lucas van Leyden anknüpfend,45 schafft, zeichnet sich diese Verschiebung deutlich ab. Insbesondere ist es 43 Jan Sanders van Hemessen, „Berufung des Apostels Matthäus“, 1548, Wien, Kunsthistorisches Museum, 114 × 137 cm. www.khm.at/de/object/3e89ebdb49/. 44 Burr Wallen bringt die massive Zunahme misogyner Darstellungen im 16. Jahrhundert u.a. mit der weiten Verbreitung des 1486 vom Dominikaner Heinrich Kramer zur Rechtfertigung von Hexenprozessen in Druck gegebenen „Hexenhammers“ (Malleus maleficiarum) in Zusammenhang. Siehe: Burr Wallen, 1983 (Anm. 20), S. 63. 45 Hierzu: Konrad Renger, Lockere Gesellschaft. Zur Ikonografie des verlorenen Sohnes und von Wirtshausszenen in der niederländischen Malerei, Berlin (Gebr. Mann) 1970.

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jedoch die steile Karriere der patriarchalen Erzählung vom „Verlorenen Sohn“ durch die Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, die hier ihren Ursprung hat.46 Hemessens spektakuläres Brüsseler Bild von 1536 gibt die Richtung vor.47 In der Hauptszene, die in einer antikisierenden Architektur angesiedelt ist, umgarnen zwei junge Frauen den noch prächtig gekleideten Helden wie eine Girlande. Er sieht wie eine jüngere Ausgabe des Matthäus aus, scheint bereits sehr erregt zu sein und den Weinkrug nach vorne, auf die Betrachtenden hin, auszugießen. Rechts davon freut sich eine alte Frau, wohl die Kupplerin, über das Geschehen, und dahinter gibt es Musik und Kartenspiel. Alle Laster sind hier versammelt, und von der linken Bildseite wird schon das nächste Opfer mit forschem Schritt auf die Bühne des Verderbens gezogen. Im Bildhintergrund sieht man als Miniaturen die Fortsetzung der Geschichte, den verlorenen Sohn bei den Schweinen kniend und dann die Versöhnung mit dem gnädigen Vater. Das Bild entfaltet ein vielfältiges szenisches, fast schon filmisches Geschehen; hierbei überlagern einander die zeitliche Abfolge und die räumliche bzw. flächige Anordnung. Nicht nur werden die Hauptelemente des biblischen Gleichnisses auf Haupt- und Nebenbühnen verteilt und über die gesamte Bildfläche ausgebreitet;48 gleichzeitig wird auch der Zuschauerraum mit einbezogen und somit das Geschehen in den sozialen Raum der Bildbetrachtung verlängert. So verdichtet sich die Geschichte kompakt auf seinen moralischen, die Betrachtenden selbst betreffenden Kern. Die schwelgerische Ausführung der Verführung mit den Mitteln der Malerei überträgt hierbei den moralischen Konflikt auf den Akt der Bildbetrachtung.49 Auf ähnliche Weise synthetisiert auch die „Lockere Gesellschaft“ in Karlsruhe, wohl von 1539 (Abb. 11), das Schwellenbild mit dem Antagonismus.50 46

In Dürers Stich von 1496 ist der reuige, verlorene Sohn noch alleine am Schweinetrog zu sehen. Im Kontext der gegenreformatorischen Karriere der Begriffe Reue und Buße, die gegen die dominante Stellung der Gnade im Protestantismus positioniert werden, erfährt das Thema eine zunehmend breite, erzählerische Ausgestaltung. Siehe: Burr Wallen, 1983 (Anm. 20), S. 38. 47 Jan Sanders van Hemessen, „Der Verlorene Sohn im Bordell“, 1536, Brüssel, Königliches Museum der Schönen Künste, 140 × 198 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/4/4b/Jan_Sanders_van_Hemessen-Enfant_Prodigue_IMG_1469.JPG. 48 Noch Lessing wird diese mehrteilige Erzählweise mit Hinblick auf den alleine der Malerei zustehenden „fruchtbaren Augenblick“ verwerfen. Er schreibt diese für die niederländische Malerei so typische Erzählstruktur allerdings fälschlicherweise Tizian zu. 49 Es reicht also keineswegs, das Bild im Sinne einer moralischen Botschaft zu entziffern. Es aktualisiert vielmehr den Ambivalenzkonflikt, um den es inhaltlich im Bild geht. 50 Jan Sanders van Hemessen, „Lockere Gesellschaft“, 1539/40, Kunsthalle Karlsruhe, 83 × 111 cm. https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Jan-van-Hemessen/LockereGesellschaft/F89E75D645149E3B2802E7B7FE79755C/.

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Hier sind die beiden Hintergrundszenen noch deutlicher ausgearbeitet. Links sieht man den Eingangsbereich des Bordells, der durch den Vogelkäfig eindeutig gekennzeichnet ist, und an dem gerade von zwei Frauen mit drei neuen, männlichen Gästen verhandelt wird. Auf der rechten Seite sind das Bett und ein wärmender Kamin wiederum mit einem jüngeren Kunden zu sehen, dem von den Frauen das Geld abgenommen wird. In der Hauptszene scheint ein älterer Mann mit Turban-artiger Kopfbedeckung, wohl ein Wallfahrer, von einem Tisch aufzuschrecken, während er von einer jungen Frau umgarnt wird und eine alte Frau daneben den bereits geleerten Weinkrug hält. Sie blickt lachend die Betrachtenden direkt an, während der Wallfahrer sich vor den Zeugen seines Niedergangs zu schützen sucht, indem er die Hand abwehrend gegen die Betrachtenden richtet und sein Blick hierbei verloren an diesen vorbei schweift. Der Konflikt wird nicht mehr an den fatalen Folgen und der Angewiesenheit auf die göttliche bzw. väterliche Gnade festgemacht, sondern gleichsam ins Innere des Wallfahrers verlegt. Er scheint sich schmerzhaft seiner Verfehlung bewusst zu werden.51 Wir sehen seinem Ringen zwischen Versuchung bzw. Verführung und moralischer Selbstbehauptung zu und müssen uns selbst in unserem Zusehen zwischen der Einladung der Kupplerin und der Zurückweisung durch den Wallfahrer entscheiden.52 Hemessen hat noch weitere, allerdings weniger sexualisierte Themen im Spannungsfeld von Ökonomie und Moral gemalt. Vor allem zwei späte Werke spitzen den Konflikt noch einmal auf besondere Weise zu. „Das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner“ von 1556 behandelt ein Thema (Lk 17,4 und Mt 18,23), das an die Grenzen des in einem Bild Darstellbaren heranführt.53 Ein König erlässt einem Schuldner eine enorme Summe, als dieser ihn um weitere Stundung bittet; derselbe Schuldner zeigt als Gläubiger einem Mann gegenüber, der ihm nur eine geringe Summe schuldet, allerdings keine Gnade. Der König hört von dem Vorfall und bestraft nun den Mann, dem er sich zuvor 51

Burr Wallen verweist auf den Jedermann, Everyman, eine populäre Figur im Theater der Zeit, und spricht von „dolor gravis“, einer Art von Angstattacke, die den Mann erfasst. Siehe: Burr Wallen, 1983 (Anm. 20), S. 59f. 52 Gegen eine allzu moralisierende Interpretation betont Bertram Kaschek die selbstreflexive, gegen Alberti und Leonardo gerichtete Dimension dieser Bilder; siehe: Bertram Kascheck, „Das kunsttheoretische Bordell. Metamalerei bei Jan van Hemessen“, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/4875/1/Kaschek_Das_kunsttheoretische_ Bordell_2015.pdf. 53 Jan Sanders van Hemessen, „Das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner“, 1556, University of Michigan Museum of Art, 81,6 × 155, 2 cm. https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Jan_van_Hemessen_-_The_Parable_of_the_Unmerciful_Servant.jpg Es gibt eine Reihe von Bildern im 16. Und 17. Jahrhundert zu diesem Thema. Besonders interessant ist das Berliner Bild eines unbekannten Antwerpener Meisters.

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gewogen gezeigt hatte. Das breitformatige Bild Hemessens zeigt den erzürnten König seinem undankbaren und unbarmherzigen Schuldner gegenüber; dessen entsetzliche Bestrafung – er wird lebendig verbrannt – ist im Hintergrund zu sehen. Das Bild wirkt fast wie eine Umkehrung der Matthäus-Szene, denn der König sitzt nun mit am Tisch mit dem Geld und den Kontobüchern und verkündet in ausgreifender Gestik von hier aus sein Urteil, während der bittstellende Schuldner unterwürfig an diesen Tisch herantritt. Doch seine Reue kommt nun zu spät und kann den zornigen König kein zweites Mal mehr erreichen. Die höllische Strafe ist ihm gewiss. Auch „Die Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel“ von 1557 bringt eine neue Rigorosität und Unversöhnlichkeit zu Tage, die in nichts mehr mit der ‚Balance‘ zwischen Ökonomie und Spiritualität zu tun hat, wie wir sie zu Beginn des Jahrhunderts bei Quinten Metsijs gesehen hatten.54 Nun, während des Tridentinums und nach der Abdankung von Karl V., stehen die Zeichen auf Sturm. Die profane Welt hat nun vollends die Spiritualität, das Allerheiligste der Kirche selbst, übernommen, und einschneidende Maßnahmen scheinen erforderlich, um dem zu begegnen. Im dichten Gewühl der Menschen schafft sich Jesus, von der linken Bildseite kommend und mit der Peitsche weit ausholend, Bahn und steigt dynamisch auf einen durch Stufen erhöhten Ort innerhalb der Kathedrale von Antwerpen – möglicherweise dem Altar -, um von dort die Händler mit ihren Waren und die Geldwechsler zu vertreiben. Diese, einer von ihnen mit Turban gekennzeichnet, fallen in der rechten unteren Bildecke gemeinsam mit den Tieren und dem Geld durcheinander und wohl auch bereits aus dem Bild heraus. Es gibt allerdings noch ein weiteres Bild, dessen Zuschreibung an Jan Sanders von Hemessen allerdings ungesichert ist, das in diesem Zusammenhang dennoch erwähnt werden muss. „Der Reiche und der Arme“,55 (Abb. 12) wohl um die Mitte des Jahrhunderts entstanden, konfrontiert direkt und ohne erzählerisches Beiwerk einen reichen Mann, der, prächtig gekleidet, auf der linken Bildseite mit seinen Armen eine Fülle an Broten und Kuchen umfängt 54 Jan Sanders van Hemessen, „Die Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel“, 1557, Nancy, Musée des Beaux Arts, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Jan_Sanders_van_Hemessen_-_Christ_driving_the_money_changers_from_the_ temple.JPG. 55 Mir ist das Bild einzig aus einer guten Schwarz-weiß-Abbildung in Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 1), S. 38 bekannt; dort wird es Jan Sanders von Hemessen zu geschrieben und mit „location unknown“ ausgewiesen. Das Bild erscheint nicht in der Biografie von Burr Wallen. Ein kritisches Werkverzeichnis ist nicht vorhanden. Es scheint mir vor allem mit den Porträts von Hemessen durchaus vergleichbar, allerdings scheint gerade der Mangel an erzählerischer Einbindung im Vergleich zu den bisher analysierten Bildern doch eher gegen eine solche Zuschreibung zu sprechen.

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und diese über einen Tisch hinweg den Betrachtenden als Zeichen seines Reichtums anzubieten scheint, mit einem, rechts von ihm in Lumpen gehüllten Mann, der seine leeren Hände rechts neben dem Tisch den Betrachtenden zuwendet. Sein Körper lehnt sich in Richtung des reichen Mannes und aus seinem weit geöffneten Mund scheint ein Aufschrei der Empörung zu kommen. Jede Allegorisierung und Beschönigung des Reichtums ist hier vermieden. Das Bild bringt den Reichtum des einen mit der Armut des anderen in unmittelbaren Zusammenhang, und könnte wohl als das mit Abstand kritischste Bild der Zeit und als realistisches Programmbild verstanden werden.56 Es impliziert in der Zuspitzung des Antagonismus einen Handlungsaufruf, den man sonst wohl erst aus dem 19. Jahrhundert kennt.57 Der Braunschweiger Monogrammist (Jan van Amstel?)58 hatte ebenfalls einen strengen Antagonismus formuliert, diesen aber weit weniger anklägerisch gehalten und gleichzeitig in ein komplexes Erzählgeschehen eingebettet. „Das Große Gastmahl“,59 (Abb. 13) wohl zwischen 1525 und 1535 entstanden, weist eine strikte Trennung in eine obere und eine untere Bildhälfte auf. In dem biblischen Gleichnis „Vom großen Abendmahl“ (Lk 14,15–24; Mt 22,1–14), das hier erzählt wird, hatte ein Herr bzw. König Gäste zum Mahl geladen, aber alle waren in ihren alltäglichen Geschäften – ihren neuen Erwerbungen oder mit dem Heiraten – zu beschäftigt, um der Einladung Folge zu leisten. Aus Zorn darüber lädt der Herr das gemeine Volk – die Armen, Krüppel, 56 Vorsicht ist bei derartigen Interpretationen dennoch geboten. Margret Sullivan führt einen Stich aus dem späten 15. Jahrhundert an, auf dem ebenfalls ein Reicher mit drei Vögeln in den Händen und ein Armer mit leeren Händen einander gegenübergestellt werden. Das Bild sei jedoch keineswegs kritisch zu verstehen, sondern als stoisch vermittelte ethische Warnung, entsprechend seinen je eigenen Mitteln zu agieren. Der Reiche wird so zum Vorbild moralischen Handelns. Das hier besprochene Bild aus der Mitte des 16. Jahrhunderts scheint jedoch gerade als Malerei einen ganz anderen Impuls zu haben. Siehe: Margaret A. Sullivan, 1999 (Anm. 25). 57 Bezeichnend ist der Vergleich mit Barend van Orleys Darstellung des reichen Prassers und des armen Lazarus auf den Außenseiten seines „Hiob und Lazarus-Altars“ von 1521. Hier ist die Gegenüberstellung in den vorgegebenen Heilsrahmen eingebettet und die Umkehrung des Schicksals Programm. Es gibt aber keinen Aufruf an die Betrachtenden; für diese gibt es nichts zu tun, weil alles letztlich längst entschieden ist. https://www.fine-arts-museum.be/fr/la-collection/bernard-van-orley-polyptyque-dejob-et-de-lazare?letter=v&artist=van-orley-bernard-1. 58 Zur Geschichte der Identifizierungsversuche siehe: Matthias Ubl, Der Braunschweiger Monogrammist. Wegbereiter der niederländischen Genremalerei vor Bruegel, Petersberg (Michael Imhof) 2014. 59 Braunschweiger Monogrammist (Jan van Amstel?), „Das Gleichnis vom Großen Gastmahl“, ca. 1525–35, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 120,6 × 171,8 cm. https:// www.3landesmuseen.de/Niederlaendische-Malerei-16-Jahrhundert.642.0.html.

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Lahmen und Blinden – und lässt diesem eine riesige Tafel bereiten. Der Herr selbst ist in der Bildmitte, gerade noch in der unteren Bildhälfte situiert und nur durch ein gelbes Tuch hinter ihm aus dem Volk hervorgehoben. Gleichzeitig ist er allerdings durch die gewaltige Burg hinter ihm repräsentiert, die die gesamte obere Bildhälfte dominiert. Das Volk strömt von beiden Seiten herbei und breitet sich über die gesamte untere Bildhälfte in einer bis dahin nicht gesehenen Vielfalt an Details und Beschäftigungen aus. Feuer wird gemacht und in riesigen Bottichen die Suppe gewärmt, die auf langgezogenen Tafeln an alle nebst dem Wein gereicht wird. Die Leute unterhalten sich in kleinen Gruppen und bilden gemeinsam eine unüberschaubare Menge. In den Landschaftsausschnitten links und rechts von der Burg in der oberen Bildhälfte sind die dem Ruf des Herrn nicht folgenden Bürger bei ihren Verrichtungen in miniaturhafter Ausführung zu sehen. Dem religiösen Sinn des Gleichnisses – dem Ruf des Herrn Folge zu leisten, in sein Reich einzutreten und sich dabei nicht von der alltäglichen Geschäftigkeit ablenken zu lassen – widerspricht die Bildlogik hier auf eklatante Weise. Die scharfe Gegenüberstellung von kompakter, mächtiger und bedrohlicher Burg in der oberen Bildhälfte mit dem vielgestaltigen Volk in der unteren scheint keineswegs eine friedliche Einkehr ins Reich Gottes zu signalisieren; vielmehr stehen die Zeichen für die herrschaftliche Souveränität und für die Menge/multitudo einander erstmals strikt gegenüber. Vor dem Bild stehend ist die Wirkung eindeutig auf diesen Antagonismus von Herrschaft und Volk bezogen, wohingegen die Bürger außen vor bleiben. Genauso wenig lassen sich die Unübersichtlichkeit der Details der Menge und die Panorama-artige Übersicht im Ganzen oder die, über die langgezogenen Tische betonte perspektivische Tiefenwirkung und die antagonistische Flächenaufteilung auf eine wie auch immer gefasste Einheit hin synthetisieren. Die Einheit scheint buchstäblich in den Gegensätzen zu liegen. Der Braunschweiger Monogrammist interpretiert also das Gleichnis auf höchst eigenwillige und spannungsvolle Weise. Ganz anders als die bürgerlichen Repräsentationen einer überschaubaren, in strikter Isokephalie wiedergegebenen Menge auf dem Marktplatz der italienischen Stadtrepubliken60 taucht hier eine unversöhnte soziale Dimension auf, die sowohl den Rahmen

60 Seit Ambrogio Lorenzettis „Allegorie der guten Regierung“ im Palazzo Pubblico in Siena von 1338/39 gehört dieses Motiv zum festen Bestandteil bürgerlicher politischer Repräsentation. Vor allem das daran anschließende, verlorene Fresko von Masaccio, die „Sagra“ aus den 1420er-Jahren, scheint historisch wirkmächtig geworden zu sein. Hierzu siehe: Ivan Nagel, Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009, S. 164–167.

Abb. 13 Braunschweiger Monogrammist (Jan van Amstel?), „Das Gleichnis vom Großen Gastmahl“, ca. 1525–1535, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen. Foto: Museum, 120,6 × 171,8 cm.

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der biblischen Erzählung als auch den der humanistischen Narration bürgerlicher Selbstbestimmung sprengt.61 4.3.

Die Erfindung des Realismus als Reflexion antagonistischer Seinsweisen

Pieter Aertsen (1508/09–1575) hat eine weitere, äußerst originelle Version des antagonistischen Bildes geschaffen, in der die Zuspitzung von Gegensätzen und deren Reflexion auf immer noch herausfordernde Weise miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Die Grundidee besteht darin, Vordergrund und Hintergrund des Bildes weder linear- noch luftperspektivisch auf harmonische Weise miteinander in Beziehung zu setzen; vielmehr wird deren Verhältnis zueinander als Bruch oder Diskontinuität und das Bild insgesamt bereits wie eine moderne Montage als ein unvermitteltes Aufeinander-Treffen heterogener Elemente aufgefasst. Hinzu kommt, was die Kunstgeschichte „Inversion der Bedeutung“ nennt, das heißt, im Vordergrund sieht man möglichst groß und in voller malerischer Pracht wiedergegeben das Alltäglich-Empirische der Welt – vor allem, was der Markt an Fleisch, Früchten und Gemüsen hergibt, gelegentlich zusammen mit dem Verkaufspersonal – während im Hintergrund eine religiöse Szene mit moralischer Implikation erscheint, meist miniaturhaft und im weitgehenden Verzicht auf farbliche Spezifizierung ausgeführt. Lange Zeit hatten Aertsens innovative Bildideen – bewertet am Maßstab der italienischen Figurations-, Kompositions- und Perspektive-Ideale als gravierende Fehler gegolten;62 und selbst die langsame Anerkennung seiner Kunst verdankte sich dem Stellenwert, den ihr die Kunstgeschichte als den Beginn von autonomem Stillleben und rein säkularen Genre-Darstellungen zuschrieb. Doch auch diese Anerkennung gilt dem, was diese Bilder initiiert haben mögen, nicht ihnen selbst. Sie verfehlt sogar paradigmatisch die spezifischen Bildideen Aertsens. Denn bei diesen handelt es sich gerade nicht um die ‚Autonomisierung’ von 61 Im Amsterdamer „Ecce Homo“ gibt es eine ähnliche Gegenüberstellung von Einzelnem und Volk, allerdings noch um zahlreiche Beobachter und unbeteiligte Arbeiter erweitert. Auch das räumliche Szenario – ein wenig daran erinnernd, wie bei Rogier van der Weyden der Blick von einem Raum in den nächsten geführt wird – zeigt den Marktplatz im Kontext des Hafens auf der linken Bildseite und üppiger städtischer Architekturen auf der rechten. Die Menge selbst erscheint durchaus sympathisch und nicht mehr als der eigentliche Feind wie bei Bosch. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Braunschweig_Monogrammist_(%3F)-_Ecce_Homo.jpg. 62 Hierzu siehe: Reindert L. Falkenburg, 2008 (Anm. 25) mit Bezug auf die erste und sehr einflussreiche Biografie Aertsens vom Berliner Kunsthistoriker Johannes Sievers aus dem Jahr 1908.

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alltäglichen Gegenständen und Handlungen im Sinne der wesentlich später klassifizierten Gattungen von Stillleben- und Genre-Malerei; ebenso wenig sind in ihnen einfach verborgene moralische Allegorien dargestellt, wie sie im Rahmen der ikonologischen Forschungsansätze die Deutungen bestimmten.63 Vielmehr geht es um ein spezifisches Verhältnis von Empirisch-Alltäglichem und Moralisch-Religiösem. In der antagonistischen Bildidee wird dieses Verhältnis als konflikthaft dargestellt und in Bezug auf die Betrachtungssituation und zum Teil durch sorgsam eingefügte Referenzen aktualisiert. Eine solche Aktualität betrifft nun weder das Heilige noch das Böse in der Welt, sondern die konkreten Umstände und Verhältnisse, denen sich die Malerei selbst ausgesetzt sieht. Erst seit den 1970er-Jahren sind eine Reihe von Interpretationen zu finden, die zumindest einzelne Bilder Aertsens als rigorose und höchst aktuelle Stellungnahmen zu Konflikten ihrer Zeit und gleichzeitig als selbstreflexive Erkundungen der Malerei lesen.64 Die Kunst der Malerei, wie sie Aertsen – im Anschluss an seine Vorgänger in Antwerpen, aber auch über sie hinaus – kultivierte, besteht gerade in der Verbindung von nach außen gerichteter, ‚kontextbewusster‘ Stellungnahme und methodischer Reflexion hinsichtlich der intrinsischen Gegebenheiten von Malerei als Kunst. Bedingungen und Möglichkeiten von Malerei stehen hier im produktiven Austausch miteinander. Vor dem Hintergrund Erasmischer Taktiken von Ironie und Distanzierung, die sich selbst einer verstärkten Rezeption von stoischer Ethik und römischen Satiren verdankten, erfindet Aertsen den Realismus im modernen Sinn: weder als treue Wiedergabe oder Widerspiegelung der Welt, wie wir sie sehen, noch als bestimmten Stil der Darstellung, sondern als ein konzeptuelles Instrument zur Erforschung sozialer, ökonomischer, religiöser und politischer Gegensätze, die durch eine kontinuierliche Reflexion der malerischen Mittel vorangetrieben wird. Derart fungieren die Polaritäten der antagonistischen Bildidee als heuristische Momente der Weltaneignung und des Verstehens einer durch soziale Differenzierung immer komplexer werdenden Welt. Realismus lässt sich in diesem Sinn als eine besondere 63

Hierzu siehe: Günter Irmscher, „Ministrae voluptatum: stoizing ethics in the market and kitchen scenes of Pieter Aertsen and Joachim Beuckelaer“, in: Netherlands Quarterly for the History of Art, Vol. 16, No. 4 (1986), pp. 219–232. 64 Jan (J.  A.) Emmens, „‚Eins aber ist nötig‘ – Zu Inhalt und Bedeutung von Markt- und Küchenstücken des 16. Jahrhunderts“, in: Album Amicorum  J.  G.  van  Gelder, Den Haag, 1973, S. 93–101; Keith P. F. Moxey, Pieter Aertsen, Joachim Beuckelaer, and the Rise of Secular Painting in the Context of the Reformation, New York, London (Garland Publishing) 1977; vor allem aber: Reindert L. Falkenburg, 2008 (Anm. 25); Elisabeth Alice Honig, Painting and the Market in Early Modern Antwerp, New Haven, London (Yale University Press) 1998; sowie: Charlotte Houghton, „This Was Tomorrow: Pieter Aertsen’s ‚Meat Stall‘ as Contemporary Art“, in: The Art Bulletin, Vol. 86, No. 2 (June 2004), S. 277–300.

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Haltung zur Welt verstehen, in der die je eigene Positionierung durch soziale und kulturelle Verhältnisse aktiv angenommen wird, sowohl von Seiten des Künstlers als auch auf Seiten seines Publikums. Die mimetische Tradition stellt nur ein Element eines solchen Realismus dar; Aertsen weiß es auf virtuose Art zu nutzen, indem er die Vordergründe der Bilder mit einer bis dato unbekannten Fülle an Gegenständen und alltäglichen Situationen, in äußerster Lebendigkeit und Plastizität wiedergegeben, auffüllt.65 Die Legitimität solcher, traditionell gegenüber den Handlungen menschlicher Heroen oder göttlicher Personen als unwürdig erachteter BildGegenstände wurde im nördlichen Humanismus vor allem mit Verweis auf den in der Historia Naturalis des Plinius d. Ä. erwähnten Malers Peiraikos belegt.66 Doch alleine aus dieser mimetischen Könnerschaft und der sie legitimierenden antiken Tradition heraus können weder die sozialen noch die ästhetischen Dimensionen dieses Realismus abgeleitet werden. Jene Dimensionen werden nur fassbar, wenn das malerische Können und die mimetische Tradition, die in ihm aufgerufen wird, auf die tatsächlich neue konzeptuelle Bildidee bezogen werden. Darin wird das Mimetische zwar durchaus in Verbindung zu aktuellen Wahrnehmungsweisen gebracht67 und doch gleichzeitig in einen vielschichtigen, referenziellen und somit kategorisch nicht-mimetischen Horizont eingebunden. Ein solches Nicht-Sichtbares wird nun entweder durch die scheinbar peripheren, religiösen Szenen im Bildhintergrund als moralischer Horizont markiert oder durch jene im Bild ‚verborgenen‘ Hinweise und Referenzen, die sich im Sinne ökonomischer oder politischer Abstraktionen verstehen lassen.68 Sichtbares und Nicht-Sichtbares stehen konstitutiv in Spannung zueinander, wobei das Sichtbare das Bild mit allen Künsten der Verführung dominiert. Es stellt jedoch keineswegs die „wahre Wirklichkeit“ oder ein „Scheinen der Unmittelbarkeit“69- als Bildwerdung der Natur und ihrer materialistischen Kräfte betrachtet – dar, sondern ganz 65

Es handelt sich hier ganz buchstäblich um „slices of life“ im Sinne von Keith Moxey; siehe: Keith P. F. Moxey 1977 (Anm. 64), S. 18. 66 Siehe: Reindert L. Falkenburg, „Pieter Aertsen, Rhyparographer“, in: J. Koopmans (Hg.), Rhetoric – Rhétoriqueurs – Rederijkers (Proceedings of the colloquium, Amsterdam, 10– 13 November 1993), Amsterdam/Oxford/New York/Tokyo 1995, S. 197–217. 67 Houghton beschreibt eindrücklich, wie alltäglich die Wahrnehmung von frisch geschlachtetem Fleisch gewesen sein muss. Siehe: Charlotte Houghton, 2004 (Anm.  64), S. 282. 68 Vor allem schriftlicher Natur: Hierzu: Elisabeth A. Honig, 1998 (Anm. 64) und Charlotte Houghton, 2004 (Anm. 64), S. 292. 69 So definiert Georg Lukács den Realismus. Siehe: Georg Lukács, „Es geht um den Realismus“ (1938), in: Georg Lukács, Essays über Realismus, Neuwied, Berlin (Luchterhand), 1971.

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im Gegenteil die höchst aktuelle Wirklichkeit, wie sie Aertsen als bereits weitgehend menschengemachte Welt der Warenproduktion und ihrer Darbietungsweisen gegenübertrat.70 Das Unsichtbare – sowohl als Abstraktion als auch als moralische Herausforderung verstanden – nistet also immer schon im Sichtbaren. Der besondere Realismus, wie er uns in Aertsens Konzeption des antagonistischen Bildes entgegentritt, stellt daher nicht einfach das Sichtbare, das Alltägliche und die niedrigen Klassen als gegen das Unsichtbar-Ideale oder Spirituelle bzw. gegen die sozialen und kulturellen Hierarchien gerichtet dar. Auch handelt es sich umgekehrt keineswegs um einen einfachen Moralismus, der die Schlechtigkeit der Welt beklagt und den niederen Klassen Verfehlung und Schuld an ihrem Elend zuweist.71 Er verhandelt vielmehr mit den spezifisch ästhetischen Mitteln der Malerei die unterschiedlichen, sozialen wie kulturellen Differenzen zwischen Ideal und Realität, Schein und Sein, Wahrheit und Täuschung. Die empirischen Täuschungsmöglichkeiten der Malerei, ihr von den Reformatoren vielfach beklagtes verführerisches Potenzial, werden zum Auslöser eines spezifisch künstlerischen Einsatzes, bei dem der referenzielle Horizont hinsichtlich der sich rapide verändernden gesellschaftlichen Bedingungen – die Verführungen der Warenwelt – und die reflexive Thematisierung des Antagonismus im Bild selbst auf die Begegnung der Betrachtenden mit dem Bild bezogen werden. Im Wechselspiel von autorschaftlicher Konzeption und rezeptiver Erwartung, von sozialer bzw. kultureller Erfahrung und ästhetischer Repräsentation, kann eine Dimension der Wahrheit von Kunst erscheinen, die sich weder aus der mimetischen Tradition noch aus der zentralperspektivischen Wahrheitsposition heraus ableiten lässt. Realismus impliziert also immer schon eine parteiliche, positionierte, vielfach perspektivierte und letztlich engagierte Wahrheit. Die frühesten datierten Bilder Aertsens stehen noch deutlich in der Tradition der Volks-, Tavernen- bzw. Bordelldarstellungen, wie wir sie beim Braunschweiger Monogrammisten und bei Jan Sanders van Hemessen gesehen haben. Das „Bauernfest“ von 1550 etwa72 wirkt fast wie ein monumentalisierter 70

Dieser Realismus lässt sich tatsächlich bereits als eine Art von „marktgerechter Ästhetik“ im Sinne Walter Benjamins verstehen, in der die Analyse der Situation und der darin gegebenen Möglichkeiten der Selbstbehauptung aufeinander bezogen werden. Zu Benjamin siehe: Dolf Oehler, Pariser Bilder  I (1830–1848) – Antibourgeoise Ästhetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1979. 71 Es handelt sich also weder um ein rein immanenten oder empirischen noch um einen transzendent-idealistischen Realismus. Vielmehr geht es um die Erkenntnis der Bedingungen und die Mobilisierung der je eigenen Möglichkeiten. 72 Pieter Aertsen, Das Bauernfest, 1550, Wien, Kunsthistorisches Museum, 84,9 cm × 170 cm. https://www.khm.at/objektdb/detail/30/.

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Ausschnitt aus der linken unteren Bildhälfte des „Großen Gastmahls“. Auch hier wird die Suppe in einem großen Bottich zubereitet und auf Tellern gereicht. Weinkrüge und Gläser sind auf mehrere Tische verteilt, die den Bildraum strukturieren und die verschiedenen Szenen des Festes miteinander verbinden. Die girlandenartige Verschränkung einzelner Paare erinnert an den „Verlorenen Sohn“ Hemessens. Allerdings gibt es hier – trotz der klassisch sündhaften Genüsse von Essen, Wein und Erotik – kaum eine moralische Dimension zu erkennen.73 Was wäre an einem Bauernfest auch auszusetzen? Ganz im Gegenteil scheint sogar eine gewisse Nähe für die Betrachtenden, sicherlich keine Bauern, angestrebt zu werden. Zumindest ist eine deutliche Orientierung an der Bildfläche als einer Schaufläche auszumachen. Nicht nur ist der vorderste Tisch an den unteren Bildrand gerückt und in Aufsicht wiedergegeben, sodass die Betrachtenden gleichsam mit am Tisch sitzen können, auch die kräftige, kaum modellierte Farbgebung der einfachen Kleidungsstücke bindet die zum Teil monumentalen Figuren an die Bildfläche.74 Ihr Ausdruck wirkt weniger vom Wein als vom harten Arbeitsleben entleert. Vor allem die Hauptfigur, ein älterer Mannes im roten Rock, starrt ins Leere, wobei er mit beiden Händen einen Weinkrug fest umschlossen hält. Hier ist von keiner heroischen Eleganz die Rede; eher geht es um die einfachen und etwas derben Genüsse. Nur Nebenfiguren – der gebückte Mann, der die Suppe rührt, eine der Frauen aus der Tanzszene im Hintergrund und eine weitere Frau, die mit ihrem Kind an der erhöhten Tafel im Inneren eines gemauerten Gebäudes sitzt – blicken direkt auf die Betrachtenden. Diese sind dadurch in das Geschehen einbezogen und blicken doch gleichzeitig von außen auf das Bild. Derart wird eine Art von „teilnehmender Beobachtung“ möglich, die das bäuerliche Leben weder idealisiert bzw. romantisiert noch moralisch verwirft.75 Zweifellos kommen hier Aspekte des Bildes als Schwelle zur Anwendung, 73

Das möglicherweise aus dem selben Jahr stammende Bild (oder 1556?) im Antwerpener Meyer van den Bergh Museum verwendet ganz ähnlich Elemente wie das Wiener Bild, allerdings klar als Bordellszene mit dem Vogelkäfig am Eingang gekennzeichnet und damit sicherlich auch mit einer stärkeren moralischen Dimension. https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/4/44/Pieter_Aertsen_002.jpg. 74 Bauern werden seit dem späten 15. Jahrhundert in der deutschen Graphik vielfach dargestellt; „Das tanzende Bauernpaar“, ein Kupferstich Dürers von 1514, fand weite Verbreitung. Ihre Monumentalisierung im Gemälde ist bei Aertsen allerdings neu. 75 Peter Burke konstatiert im 16. Jahrhundert noch eine gewisse Nähe zwischen den Klassen, die dann im 17. Jahrhundert von den oberen Klassen aufgekündigt wird. Nun müssen die niedrigen Klassen erzogen und erhoben werden, was notwendigerweise scheitert, und ab dem späten 18. Jahrhundert zu ihrer Idealisierung führt. Siehe: Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur der frühen Neuzeit, München (dtv/KlettCotta) 1981.

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durch die die unterschiedlichen Szenen des Bildes integriert und auf den Akt der Betrachtung bezogen werden können. Solche Aspekte finden sich auch in den beiden wichtigsten Bildern Aertsens von 1551 und 1552. Dort allerdings mit einer nun deutlichen antagonistischen Wende. Der „Metzger-Verkaufsstand mit Flucht nach Ägypten“ von 155176 (Abb. 14) ist wohl das in den letzten Jahrzehnten meistdiskutierte Bild Aertsens.77 Auch hier steht das bäuerliche bzw. handwerkliche Alltagsleben im Vordergrund mit einem klaren Akzent auf der Präsentation und der Verkaufbarkeit der Produkte. Der Bildaufbau wird von einer Art Scheune strukturiert, die von der linken Bildseite fast bis zur rechten reicht und sich dabei leicht nach hinten verschiebt. Links vorne beginnt auch der Verkaufstand selbst, der – auf einer Bank, einem Stuhl und einem Korb angerichtet – ebenso zur rechten Bildseite führt, allerdings leicht nach vorne gerichtet, sodass die darauf liegende Metzger-Ware die Bildoberfläche zu durchstoßen scheint. Eine Stange, auf der Fleischstücke, ein gehäuteter Schweinekopf und üppige, weiße Würste hängen, führt von der Mitte der Scheune nach vorne ohne dort noch eine Verankerung zu finden; sie weist also ebenso über die Bildfläche hinaus. Nie zuvor war rohes und frisch geschlachtetes Fleisch in einer solchen Fülle und als dominanter Inhalt eines gemalten Bildes dargestellt worden. Links hängt das Gerippe eines halben Schweines, davor ein riesiger Rinderschenkel im Aufschnitt, sodass Fleisch, Fett und Knochenteile deutlich voneinander unterscheidbar sind; dann folgen Schweinefüße, das geronnene Fett in einer Schüssel, dazu noch totes Geflügel, einige Fische nebst Töpfen und Geschirr, und fast zentral, durch ein weißes Tuch dahinter dramatisch hervorgehoben, ein gehäuteter Ochsenkopf, dessen riesiges Auge, mit einer ähnlichen Lichtreflexion wie bei den Töpfen versehen, die Betrachtenden noch mitleidsheischend anzuglotzen scheint. In drei Reihen übereinander füllen die Fleischteile fast das gesamte Bildfeld und bieten sich derart den Betrachtenden an. Durch die Scheune hindurch öffnen sich allerdings drei Durchblicke auf unterschiedliche Szenen in naher, mittlerer und weiter Entfernung. Der größte dieser Durchblicke führt nach rechts durch einen Hof hindurch in ein Nebengebäude, wo ein ganzer, 76 Pieter Aertsen, „Metzger-Verkaufsstand mit Flucht nach Ägypten“, auch als „Fleischerladen mit Flucht nach Ägypten“, „Butcher’s Stall with the Flight into Egypt“ oder als „Meat Stall with the Holy Family Giving Alms“ bezeichnet, 1551, Uppsala, Kunstsammlung der Universität, 123,1 × 149,8 cm. Weitere Versionen befinden sich im North Carolina Museum of Arts, in Santander und in Maastricht. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_ Aertsen_005.jpg. 77 insbesondere bei Elsabeth  A.  Honig, 1998 (Anm.  64), Charlotte Houghton, 2004 (Anm. 64), aber auch bei Keith P. F. Moxey, 1977 (Anm. 64) und Reindert L. Falkenburg, 1995 (Anm. 66).

Abb. 14 Pieter Aertsen, „Metzger-Verkaufsstand mit Flucht nach Ägypten“, 1551, Uppsala, Kunstsammlung der Universität, 123,1 × 149,8 cm.

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geschlachteter Ochse direkt neben einem Tisch, an dem sich drei Personen miteinander unterhalten, hängt, während sich eine vierte am offenen Kamin zu wärmen scheint. Im Hof selbst gießt ein Mann, umgeben von Muschelschalen, die verstreut auf dem Boden liegen, Wasser in einen Krug. Der kleinste Durchblick wird auf der linken Bildseite durch ein schräg nach hinten verlaufendes Fenster gewährt, durch das in der Ferne und hinter Bäumen gelegen eine Kirche sichtbar wird. Im mittleren Durchblick bewegen sich deutlich als zeitgenössisch gekennzeichnete Figuren in Richtung des Bildhintergrundes, vielleicht auf die Kirche zu. Ihnen entgegen kommt die Heilige Familie auf dem Esel – also wohl auf der Flucht nach Ägypten –, wobei Maria Almosen an zwei auf dem Weg wartende Bettler verteilt. Die Scheune fungiert in dieser äußerst komplexen Komposition als eine Art von Schnittstelle, die Vorder- und Hintergrund zueinander vermittelt und gleichzeitig als äußerst unvermittelt erscheinen lässt. Denn die durch die Balken der Scheune scharf abgegrenzten Durchblicke schaffen weitgehend selbstständige innerbildliche Bild-Einheiten. Der rechte Durchblick erweitert und ergänzt den Vordergrund um genrehafte Elemente, während der mittlere und der linke Durchblick ein davon unabhängiges Geschehen oder Motiv zeigen. Der religiöse Inhalt der fast miniaturhaft wiedergegebenen mittleren Szene – die Würste im Vordergrund sind deutlich größer als die Figuren im Hintergrund – steht sogar in krassem Gegensatz zur äußerst irdischen Präsentation der Fleischteile auf dem Verkaufsstand. Die Durchblicke setzen somit auch unterschiedliche, miteinander nicht kompatible Perspektiven voraus. Deshalb kommt es auch zu keiner wirklichen Integration der einzelnen Szenen im Sinne des Bildes als Schwelle; vielmehr wird der Bildeindruck stark von der Differenz zwischen den einzelnen Bildteilen und vor allem vom inhaltlich akzentuierten Gegensatz zwischen der fleischlichen Fülle und der barmherzigen Geste der Maria bestimmt. Dazu kommen die an der Scheune selbst angebrachten bzw. daran festgemachten Inschriften. Eine Tafel auf der rechten Seite kündigt an, dass die 154 Parzellen des umliegenden Landes einzeln oder im Gesamten zu verkaufen sind. Zeichenhafte Markierungen, die Stadt Antwerpen ebenso betreffend wie individuelle Embleme,78 finden sich in der linken, oberen Bildecke an Balken und Pfeilern der Scheune angebracht. Der Antagonismus zwischen dem Irdischen und dem Religiösen, den das Bild offen legt, ist also kein universeller, sondern ein historisch spezifischer. Er bezieht sich auf konkrete Umstände und lokales Wissen. Charlotte Houghton 78 Sie sind leider nicht mehr entzifferbar, obwohl sie für die zeitgenössische Rezeption zweifellos von großer Bedeutung waren. Siehe: Charlotte Houghton, 2004 (Anm.  64), S. 288–290.

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hat auf beeindruckende Weise diesen zeitgenössischen Kontext rekonstruiert, hinsichtlich der alltäglichen Sichtbarkeit des Fleisches in einer frühmodernen Metropole wie Antwerpen – und seiner Abwesenheit als Bildgegenstand – ebenso wie in Bezug auf die politischen Auseinandersetzungen der MetzgerZunft um ihre traditionellen Vorrechte angesichts einer rasch wachsenden Bevölkerungszahl und in die Stadt drängender auswärtiger Händler. Auch die Erschließung von Bauland und die damit verbundene, massiv einsetzende Immobilienspekulation werden im Bild angesprochen und wohl auf lokale Konflikte bezogen. Jedes Detail des Bildes steckt voller Hinweise. Es profitiert vom Rezeptionsmodus der altniederländischen Malerei, dessen Detailgenauigkeit bereits ein äußerst interessiertes ‚Lesen‘ des Bildes vorausgesetzt hatte. Dieses Bild-Lesen setzt nun den Bezug zum je eigenen Wissen, zu einem gemeinsamen referenziellen Horizont zwischen Autor bzw. Maler und den Betrachtenden voraus. Das Bild kommentiert nicht nur die ‚Modernität‘ Antwerpens zu dieser Zeit; es verdichtet eine spezifische zeitgenössische Situation und positioniert sich in einem Spannungsfeld, das für die Zeitgenossen sicherlich deutlicher lesbar war, als es für uns heute ist.79 Die ästhetische Strategie Aertsens hat Reindert Falkenburg sowohl als „paradoxe Lobpreisung“ im Sinn des Erasmus als auch als ironische Verkehrung der Alberti’schen Prinzipien zu bestimmen versucht.80 Nicht nur die Inversion der Bedeutung ist hier von Belang, sondern vor allem auch die vielen, absichtlich eingestreuten Fehler der Malerei – so scheinen etwa die Brezeln in der linken oberen Bildecke in der Luft zu hängen. Neben der virtuosen Darbietung der Malerei als einer Kunst des Fleischlichen und der raffinierten, auf den Antagonismus fokussierten Bildkonstruktion wird das Vorführen solcher Fehler selbst zum Thema bzw. Indiz einer Malerei als Kunst, die um ihre

79 In diesem Sinn spricht Houghton mit Recht von einer ersten „Malerei des modernen Lebens“, wie sie bislang erst für das 19. Jahrhundert belegt war. Siehe: Charlotte Houghton, 2004 (Anm. 64), S. 294: „Aertsen understood that Antwerp’s artistic dynamism was itself a function of the city’s rapid growth and transformation. Changing social and religious structures and an increasingly open market encouraged artistic experimentation and the development of new types of imagery. Capital accumulation, rapid circulation of wealth, the surge in population with its consequent home construction-all fueled painting consumption. The disruptive economic and social climate on which The Meat Stall commented also, in large measure, created the license for its own transgressive form and the precondition of its existence. Pushing the artistic envelope, Aertsen admitted full complicity in this process. And this, too, was an Erasmian strategy: that the author unblinkingly implicates himself in the activity upon which he looks askance.“ 80 Erasmus hatte die Idee einer „paradoxen Lobpreisung“ in seinem „Lob der Torheit“ von 1509 propagiert. Hierzu siehe: Reindert L. Falkenburg, 1995 (Anm. 66).

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eigenen sozialen und ökonomischen Bedingungen als den Bedingungen ihrer Möglichkeit weiß. Wenig später spitzt Aertsen die antagonistische Bildidee noch einmal prägnant zu. Im Wiener Bild „Jesus bei Maria und Martha“ von 155281 reduziert sich das Geschehen auf den unmittelbaren Kontrast von empirischer Welt im Vordergrund und religiöser Szenerie im Hintergrund. Das Bild war lange Zeit als das erste richtige Stillleben und auch als Beleg für den „transitionalen“ Charakter der Antwerpener Malerei des 16. Jahrhunderts verstanden worden.82 Erst Victor Stoichita hat es zum Ausgangspunkt seines metapikturalen Diskurses genommen und ihm damit einen entscheidenden, konzeptuellen Stellenwert zugeschrieben.83 Für ihn war tatsächlich weder die ikonologische Frage nach den möglichen Bedeutungsebenen der irdischen Dinge vorherrschend noch eine rein stilistische Einordnung. Er sah das Bild in seiner Besonderheit als eine Form des Denkens mit und über Malerei, als Moment, in dem – in die Begrifflichkeit dieser Studie übertragen – Realismus, Repräsentation und Reflexion einander durchdringen, und das Bild somit zum Ausgangspunkt eines höchst selbstreflexiven Prozesses der Malerei als Kunst werden konnte. Denn erst die eindeutige Bezugnahme auf die Bildfläche macht die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund bedeutungskonstitutiv; der Antagonismus tritt innerhalb des Bildganzen deutlich hervor, wird darin jedoch nicht notwendigerweise aufgehoben, jedoch als solcher verhandelbar. Diese Fokussierung auf das Bild und seine Struktur macht die ikonologischen und stilgeschichtlichen Überlegungen nicht wertlos; sie verleiht ihnen jedoch einen konzeptuellen Bezugsrahmen.84 81 Peter Aertsen, „Christus bei Maria und Martha“ oder: „Vanitas-Stllleben“, 1552, Wien, Kunsthistorisches Museum. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_Aertsen_-_ Christ_with_Mary_and_Martha_-_Google_Art_Project.jpg. 82 Vor allem Friedländer konnte bei Aertsen nur den Übergang zwischen der altniederländischen und der holländischen Malerei sehen. 83 Victor  I.  Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München (Fink) 1998, S. 15–22. 84 Dennoch sollte die religiöse Dimension des Bildes nicht vergessen werden. Immo WagnerDouglas hat sowohl den rhetorischen als auch den überaus komplexen theologischen Zusammenhang des Bildes im Kontext der Antwerpener Lutheraner herausgearbeitet. Dennoch scheint mir keine eindeutige Zuordnung möglich zu sein. Das Bild changiert zwischen rhetorischen (hoher und niedriger Stil), theologisch-moralischen (vor allem hinsichtlich der Abwertung der Martha im Kontext der reformatorischen Kritik an den guten Werken und ihrer neuerlichen Aufwertung bei Calvin) und bildlogischen (etwa: Vordergrund und Hintergrund) Elementen. Siehe: Immo Wagner-Douglas, Das Maria und Martha Bild. Religiöse Malerei im Zeitalter der Bilderstürme, Baden-Baden (Valentin Koerner) 1999.

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Momente des Bildes als Schwelle sind auch hier noch vorhanden: vor allem das Fenster in der rechten oberen Bildecke, sodann der Durchblick in den Raum im Hintergrund und die beiden Ausblicke dort rechts und links des Kamins, auch wenn diese vornehmlich nur als Lichtquellen für das Geschehen im Inneren der Räume dienen. Der parallel zur unteren Bildkante aufgestellte Tisch bietet in leichter Aufsicht eine Art von Stillleben mit Weinkrug, Honigtopf und einem Majolika-Teller, auf dem wohl ein Stück Sauerteig liegt. Zur rechten Seite hin stößt er an einen massiven Schrank, gegen dessen Seite hin noch drei Brötchen und ein Messer in einer Scheide lehnen. Die Tür des Schranks öffnet sich nach vorne und scheint durch die Bildfläche hindurch in den Raum der Betrachtung zu reichen. Mit dem schweren Beschlag und dem Schlüssel wirkt sie wie ein Zitat desselben Motivs aus dem linken Flügel des Mérode-Altars. Auf der Türe hängt ein lederner, vielfach verschnürter Geldbeutel, aus dem der Knauf eines Messers ragt; und im Inneren des Schranks sind versiegelte Papiere und mehrere metallene Becher zu erkennen. Auf dem Schrank liegt ein weiterer Stapel Papiere; darauf ein Korb mit kleineren Bechern. Links daneben steht eine Blumenvase und daran schließt, auf einer Schüssel liegend, ein großes Stück Schinken an. Dessen Beinstück reicht weit über den Durchgang, der die Vordergrundszene mit dem Hintergrund verbindet, während das Bauchstück sich direkt zur Bildfläche nach vorne hin öffnet und seine fleischlich-fettige Pracht den Augen der Betrachtenden anbietet.85 Entgegen jeder perspektivischen Bildlogik scheint der Schinken in der oberen Bildhälfte zu schweben und verspannt derart den Schlüssel und den Geldbeutel in der rechten unteren, weit vorne liegenden Bildecke mit dem Geschehen links oben im Hintergrund. Dort ist, in skizzenhafter Ausführung die Szene mit Jesus bei Maria und Martha, wie sie im LukasEvangelium wiedergegeben wird, zu sehen. Die Hauptfiguren sind vor einem großen, üppig ausgeführten Kamin angeordnet, um dessen Karyatiden sich weitere, beobachtende Figuren drängen. Der Verweis auf „Luc 10“ findet sich auf einer der perspektivisch angeordneten Bodenfliesen, die den Hintergrundbereich doch noch mit dem vorderen zu verbinden scheinen. Der Architrav des Kamins enthält noch zusätzlich eine Inschrift aus dem Evangelium, die besagt, dass Maria das bessere Teil gewählt habe. Bei der Szene handelt es sich um eines jener neutestamentlichen Gleichnisse, in denen die Gefolgschaft Jesu höher bewertet wird als die irdischen Tätigkeiten. Während also Martha auf den Besuch Jesu mit aktiver Geschäftigkeit – der Reinigung des Hauses und der Zubereitung der Speisen – reagiert, lässt sich Maria zu Füßen des Herrn 85 Dieser Schinken bietet sich, ganz auf die Bildfläche bezogen, nur der Betrachtung und nicht mehr zum Verkauf an.

Abb. 15 Pieter Aertsen, „Der Eiertanz“, 1552, Amsterdam, Rijksmuseum, 84 × 172 cm.

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nieder, um seinem Wort zu lauschen. Martha beklagt sich über die Faulheit Marias und wird von Jesus mit den auf dem Kaminsims angeführten Worten zurechtgewiesen. Die Szene ist in ihrer Bewertung eindeutig wiedergegeben: Jesus hält schützend seine rechte Hand über Marias Haupt, die im Anbetungsgestus auf dem Boden sitzt, während er mit der Rechten Martha zurückweist, die noch mit dem Besen in der Hand unwillkürlich zurückweicht. Das Thema verweist auf den antiken Gegensatz von Vita activa und Vita contemplativa ebenso wie auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen weltzugewandter und weltabgewandter Lebenseinstellung, ein Gegensatz, der auch mühelos auf das Verhältnis zwischen Vorder- und Hintergrund des Bildes übertragen werden kann. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn mit Recht ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Ausbreitung der irdischen Reichtümer im Vordergrund keineswegs rein säkular zu verstehen ist, sondern geradezu von eucharistischer Symbolik durchdrungen zu sein scheint.86 Und doch geht das Bild nicht vollkommen in einem moralisch-religiösen Narrativ auf. Säkularbuchstäbliche und religiös-symbolische Bedeutungsaspekte bleiben in Spannung zueinander bestehen. Entscheidend scheint die grundlegende Vieldeutigkeit der malerischen Zeichen zu sein, vor allem hinsichtlich der formalen Mobilisierung, die hier zu beobachten ist.87 Denn die einzelnen Gegenstände werden nicht nur in ihrer materiellen Präsenz und Plastizität herausgearbeitet, sondern gleichzeitig auch als formale Organisationsprinzipien im Bild benutzt. Sie definieren Richtungen und Blickbewegungen und schaffen in ihren Überlagerungen sinnstiftende Bezüge – etwa die aus dem Sauerteig im Vordergrund ragende Nelke mit dem Besen der Martha im Hintergrund. Jede eindeutige symbolische Bestimmung bleibt so vom jeweiligen Kontext im Bild abhängig. Durch diese Formalisierung können jedoch überhaupt erst buchstäbliche und symbolische Dimensionen sowie Objektrelationen und menschliche Handlungen aufeinander bezogen und gleichzeitig gegeneinander in Stellung gebracht werden. Im Hintergrund sind es etwa die das Geschehen rahmenden, höchst eigenartigen, jeweils vierbrüstigen Karyatiden, die – gleichzeitig als halbmenschliche Wesen und architektonische Gegenstände aufgerufen – auf einen heidnischen Kontext der religiösen Handlung verweisen und doch diese auch zu irritieren scheinen. Der Antagonismus von Vorder- und Hintergrund fächert sich also innerhalb des jeweiligen Bereichs in immer weitere 86

Sergiusz Michalski, „Fleisch und Geist: Zur Bildsymbolik bei Pieter Aertsen“, in: Artibus et Historiae, Vol. 22, No. 44 (2001), S. 167–186. 87 In diesem Sinne auch: Daniela Hammer-Tugendhat, „Wider die Glättung von Widersprüchen. Zu Pieter Aertsens ‚Christus bei Maria und Martha‘“, in: Regine Prange, Peter Klein (Hg.), Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann, Berlin (Reimer) 1998, 95–107.

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Gegensätze auf. So wird eine Dialektik der Betrachtung in Gang gesetzt, die dem Bild ermöglicht, den grundlegenden Antagonismus in vielschichtige Verhältnisse einzubinden. Es gibt noch weitere Bilder Aertsens, die mit dem Antagonismus von säkularem Vorder- und religiösem Hintergrund operieren.88 Doch damit erschöpft sich sein Bild-Denken nicht. Es sind vor allem drei Bilder, die auf den ersten Blick wie Rücknahmen des bisher Erreichten wirken könnten, an denen sich jedoch eine entscheidende Verschiebung in der Reflexion antagonistischer Bildstrategien als Verhandlung antagonistischer Seinsweisen festmachen lässt. Vor allem der „Eiertanz“, ebenfalls von 1552, ist in dieser Hinsicht interessant.89 (Abb. 15) Ähnlich wie im Wiener „Bauernfest“-Bild von 1550 wird hier auf die Tradition der Tavernen- und Bordelldarstellungen Bezug genommen. Die Szene spielt hier im Innenraum; es werden aber ähnliche Versatzstücke wie der gedeckte Tisch, die Weinkrüge und die Suppenbottiche vorgeführt. Durch die Türe und die Fenster gibt es auch Ausblicke in die Landschaft dahinter; es kommt jedoch zu keiner antagonistischen Aufladung von Vordergrund und Hintergrund. Dennoch wird hier ein grundsätzlicher Gegensatz zweier Seinsweisen verhandelt, ganz ähnlich wie bei Maria und Martha. Der Mann, der die gesamte linke Bildhälfte dominiert und ganz am vorderen Bildrand lokalisiert ist, agiert auf höchst theatralische Weise, indem er mit dem rechten Arm einen Weinkrug zum oberen Bildrand führt, die linke Hand lässig auf die Schulter einer neben ihm sitzenden Frau legt, das rechte Bein in die Höhe wirft und lauthals zu singen scheint. Etwas weiter in den Mittelgrund des Bildes versetzt steht ihm auf der rechten Bildseite ein Mann gegenüber, der vollkommen konzentriert und von seiner Tätigkeit „absorbiert“, den namengebenden Eiertanz vorführt. Bei diesem Tanz muss ein Ei mit dem Fuß innerhalb eines weißen Kreidekreises gerollt und mit einer hölzernen Schale bedeckt werden, ohne dass es dabei bricht. Der junge Mann hat ein Bein gehoben und versucht mit in die Hüften gestemmten Armen sein Gleichgewicht zu halten; ein Ei scheint aber eben aus dem Kreidekreis hinausgerutscht zu sein und auch die Schale liegt daneben. Weitere Eier sind über den Boden verstreut zu erkennen, ebenso 88 Pieter Aertsen, „Christus im Haus von Martha und Maria“, 1553, Rotterdam, Museum Bojmans van Beuningen, 200 × 126 cm. https://storage.boijmans.nl/collection/tmsfotook 1108-ok-2/large-f3e2dbfe9d8c3355d22ca65fe0fa75cba2f06aa8.jpg. Pieter Aertsen, „Marktstück mit Christus und der Ehebrecherin“, 1559, Frankfurt am Main, Städelmuseum, 122,5 180,5 cm. https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/ marktstueck-mit-christus-und-der-ehebrecherin. 89 Pieter Aertsen, „Der Eiertanz“ (The Eggdance), 1552, Amsterdam, Rijksmuseum, 84 × 172 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d7/De_eierdans_Rijksmuseum_ SK-A-3.jpeg.

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seine Holzpantoffel, Hut und Schwert, und auch ein Blumenstrauß hat sich hier schon ausgebreitet. Die restlichen Figuren verteilen ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Männer. Der Dudelsack-Pfeifer wendet sich in ebenfalls theatraler Geste dem singenden Mann vorne zu; während der Mann und die alte Frau, die sich um die Suppe im Kamin kümmern, sowie die im Türbereich sichtbar werdende Familie sich ganz auf den eiertanzenden Mann konzentrieren. Nur die Frau neben dem singenden Mann teilt ihre Aufmerksamkeit. Sie wendet sich zwar an den Mann neben ihr, aber nur um ihn auf den tanzenden Mann zu verweisen. Das Bild wird meist als moralische Warnung vor einem ausschweifenden und in sinnlosen Beschäftigungen vergeudeten Leben gedeutet, was sicherlich auch weitgehend richtig ist. Es verhandelt aber darüber hinaus auf einer rein säkularen Ebene zwei gegensätzliche Seinsweisen, von denen keine moralisch besser als die andere ist, und deren Differenz sich nur mehr ästhetisch begreifen lässt.90 1559, im Brüsseler Bild „Jesus bei Maria und Martha“, rückt nun die Hintergrundszene aus dem Wiener „Stillleben“ ganz in den Vordergrund.91 Es gibt zwar auch hier eine prächtige Hintergrunds-Architektur und einige Personen, wohl die Apostel, die die Szene von dort aus beobachten; es gibt aber keinen inhaltlich akzentuierten Gegensatz zwischen Hintergrund und Vordergrund. Dieser ist ganz auf das Verhältnis von Maria und Martha konzentriert. Die beiden Figuren nehmen die linke und die rechte Bildseite im Vordergrund ein, wobei Jesus nahe an Maria gerückt ist, während ihm seine Mutter Maria – fast von der Bildmitte her – über die Schulter blickt. Jesus, mit Bart und in frontaler Ansicht bereits als Weltenrichter wiedergegeben, trifft in ausgreifender Gestik seine Entscheidung. Schriftliche Hinweise sind ist hier nicht mehr vonnöten. Als Gerichtsszene scheint das Bild eindeutig und sein Bedeutungsanspruch höher als im Gleichnis zu sein. Nikolaus von Kues hatte bereits im 15. Jahrhundert nicht nur vita activa und vita contemplativa mit den philosophischen Kategorien von Verstand und Vernunft in Zusammenhang gebracht;92 darüber hinaus hatte er den gegensätzlichen menschlichen 90 Es scheint sich hier tatsächlich um eines jener entscheidenden Bilder zu handeln, an denen die Differenz von theatralisch und absorbiert, wie sie Michael Fried als grundlegenden Code der Moderne vor allem bei Diderot festmacht, bereits in der Malerei reflektiert wird. 91 Pieter Aertsen, „Jesus bei Maria und Martha“, 1559, Brüssel, Musées royaux des BeauxArts de Belgique. https://fine-arts-museum.be/fr/la-collection/pieter-aertsen-jesus-chezmarthe-et-marie?artist=aertsen-pieter-1. 92 Hiermit hatte der Cusaner zweifellos eine weitreichende Begriffsprägung vorgelegt. Siehe: Kurt Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart (Reclam) 2004, und vor allem Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1976.

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­Vermögen von Aktivität und Passivität die göttliche Wahrheit von Jesus Christus als jenseits solcher Gegensätze bzw. in deren Zusammenfall oder Koinzidenz gegenübergestellt. Im Bild Aertsens können die Gegensätze nicht aufgehoben werden; sie werden jedoch in ihrer Ambivalenz dargestellt. Denn obwohl Martha das aktive Prinzip verkörpert und hierfür zurechtgewiesen wird, ist sie in völlig absorbierter, in sich versunkener Pose wiedergegeben, in der sie demütig das Urteil annimmt. Ihre einfachen Kleider, die sie als Magd kennzeichnen, sind mit aller malerischen Pracht ausgeführt, ebenso der Korb mit ihren Einkäufen und der Besen, auf den sie sich stützt. Maria hingegen ist nun keineswegs mehr in der kontemplativen Anbetungshaltung zu sehen. Sie ist fein wie ein ‚Hoffräulein‘ ausstaffiert, krault ihr Schoß-Hündchen und verweist, an Martha gewandt, mit der Linken ausladend auf Jesus, der ihrer Lebens- und Seinsweise Recht gibt. In der malerischen Darstellung scheint sich also die Kennzeichnung von aktivem und passivem Prinzip zu verkehren; auch wird eine Klassendifferenz zwischen den Schwestern deutlich hervorgehoben. Ein hochkomplexes dialektisches Spiel scheint hier stattzufinden, in dem die Malerei eine deutlich andere Position als die von ihr dargestellte, kanonische Szene einnimmt. Der Maler scheint die Entscheidung Jesu geradezu umkehren zu wollen. Zumindest muss die unübersehbare Ironie seiner Darstellung bei diesem religiösen Thema hochbrisant gewesen sein. Das letzte Bild Aertsens, das ich in diesem Zusammenhang diskutieren möchte, ist die sogenannte „Marktszene“ von 1560/65, die sich heute ebenfalls in Wien befindet.93 Dieses Bild zeigt im strengen Sinn keinen Markt, sondern eine Straßenszene mit zwei Marktverkäufern im Vordergrund und einer Kundin mit ihrer Magd im Hintergrund. Die beiden Verkäufer sind fast bildfüllend in dreiviertel-Ansicht wiedergegeben. Die Frau am linken Bildrand ist von der Seite her zu sehen, dreht ihren Kopf jedoch nach vorne und blickt die Betrachtenden direkt an. Im rechten Arm hält sie einen Korb, der mit Eiern und Brot gefüllt ist, in der hoch erhobenen linken Hand bietet sie uns zwei tote Hühner an. Der Mann, frontal in der Bildmitte situiert, umfängt mit beiden Armen einen großen Korb, in dem sich zwei lebende Vögel befinden, während an einen Stab darüber viele kleine, tote Vögel gebunden sind, wobei das Ende des Stabs wiederum über den unteren Bildrand hinauszureichen scheint. Sein leicht verschatteter Blick trifft ebenfalls direkt die Betrachtenden. Die prächtig gekleidete Kundin und ihre den Einkaufskorb tragende Magd sind im Hintergrund ganz in die rechte obere Bildecke gedrängt. Mit ihren Händen weist die Kundin auf die beiden Verkäufer, kann diese im Bild jedoch zweifellos nur 93 Pieter Aertsen, „Marktszene“, 1560/65, Wien Kunsthistorisches Museum, 91 × 112 cm. https://www.khm.at/objektdb/detail/33/.

Abb. 16 Joachim Bueckelaer, „Marktszene“, oder „Verkäufer von exotischen Tieren“, 1566, Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel, 136 × 202 cm. Foto: Museum

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von hinten sehen. Es scheint offensichtlich, dass wir uns als Betrachtende mit der Kundin und ihrer Magd identifizieren sollen und als solche auch von den beiden Verkäufern adressiert werden. Es braucht hier keinen Laden und keinen Spiegel mehr wie noch bei Petrus Christus und Quinten Metsijs. Das Bild leistet nun die Verknüpfung von Bildbetrachtung und Warentausch,94 und die Malerei bietet sich in dieser Verknüpfung von Inhalt und Struktur selbst als Ware an.95 4.4.

Antagonismus und Allegorese: Konfliktbewältigung vs. Unversöhnlichkeit

Pieter Bruegel d. Ä. (1525/30–1569) werden häufig völlig neuartige Leistungen zugeschrieben, von der Einführung der ersten rein säkularen Landschaften und Genre-Darstellungen bis hin zu einer raffinierten Methodik, auf akut zeitgenössische Probleme mit Satire und Kritik zu reagieren.96 Vor dem Hintergrund unserer Argumentation hinsichtlich des antagonistischen Bildes müssen solche Einschätzungen zumindest etwas relativiert werden. Bruegel 94

Man ist versucht, hier bereits an Manets „Bar aux Folies Bergères“ zu denken, in der der Betrachter selbst im Spiegel hinter der Verkäuferin gezeigt wird. 95 Joachim Bueckelaer (1530–1574/75), Aertsens Neffe, Schüler und Nachfolger seines Studios in Antwerpen, hat viele der Aertsen’schen Themen und Bildideen aufgegriffen, erzählerisch ausgebreitet und zum Teil allegorisch überhöht. Er hat jedoch, soweit ich sehen kann, keine weitere spezifische Bildidee entwickelt und auch den Antagonismus nicht weiter forciert. Dennoch gibt es eine Reihe von Arbeiten, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind. Vor allem jenes Bild aus Neapel (Abb. 16), das einen Marktstand zeigt, der wohl an der Meir genau vor dem Eingang in das Börsengebäude, der im Hintergrund zu sehen ist, gelegen ist. (Joachim Bueckelaer, „Marktszene“, oder „Verkäufer von exotischen Tieren“, 1566, Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel, 136 × 202 cm. https://monkeysinarthistory.tumblr.com/image/150627039929). Von zwei Männern und zwei Frauen werden Vögel, Brote, Obst und Gemüse angeboten. Hinzu kommen exotische Tiere wie zwei Affen und ein Papagei, den der im Zentrum sitzende Mann in die Höhe hält. Zwischen den Männern und den Frauen, den einheimischen und den exotischen Tieren, dem alltäglichen Markt zur Versorgung der grundlegenden Nahrungsbedürfnisse und dem spekulativen Markt der Börse, zwischen den möglichen Käufern und den Verkäufern kommt es zu einer Vielzahl an Verhältnissen, die jedoch nicht gegeneinander zugespitzt oder mit den malerischen Mitteln eines Bild-Denkens erschlossen werden. Der Zusammenhang bleibt deshalb schwer zu deuten. Dennoch ist das Bild nicht nur als rares Dokument von großer Bedeutung. 96 Ein gutes Beispiel: Margaret A. Sullivan, 2011 (Anm. 16), S. 127–149. Generell zur Aktualität Bruegels: Daniela Hammer-Tugendhat, „Heterogenität und Differenz. Die Aktualität von Pieter Bruegel d. Ä.“, in: Annegret Friedrich (Hg.), Die Freiheit der Anderen. Festschrift für Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Marburg (Jonas Verlag) 2004, S. 24–37.

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konnte bereits ebenso auf eine lange Tradition säkularer Bildthemen zurückgreifen wie auf die taktische Reflexion aktualitätsbezogener Bildstrategien, wie sie seit dem frühen 16. Jahrhundert in Antwerpen erprobt wurden. Hinsichtlich des antagonistischen Bildes scheint klar zu sein, dass Bruegel sich dessen Bedeutung bewusst war und er immer wieder versuchte, an diese Tradition anzuknüpfen und in ihrem Sinne neue Formeln zu entwickeln. Gleichzeitig ist allerdings das Bemühen unverkennbar, gerade diese grundlegende Bildidee auch bereits wieder überwinden zu wollen, einerseits durch eine forciert erzählerische Integration von Gegensätzen,97 andererseits durch eine massive Allegorisierung. Die durchaus kritisch zu verstehende Aufrufung von Antagonismen geht meist mit ihrer humoristischen Einbettung in geradezu schicksalhaft-allgemeine oder auch natürliche Prozesse einher. Selbst der Realismus vor allem seiner späten Bilder bleibt eher beobachtend als tatsächlich kritisch positioniert. Diese besondere taktische Färbung seiner Kunst scheint selbst durch die besonderen historischen Umstände motiviert zu sein, beginnt Bruegels kreativste Phase doch gerade nach 1556, als Kaiser Karl  V. zurückgetreten war und seinem Sohn, Philipp II., die Regierung des habsburgischen Riesenreiches überlassen hatte. Dessen Insistieren auf weitgehend spanischer Kontrolle der Verwaltung unter Ausschaltung der lokalen Aristokratie, die hohen Steuern für die im globalen Maßstab geführten Kriege und vor allem die Entsendung der Inquisition in die Niederlande hat die Spannungen zweifellos zugespitzt und die Entwicklung hin zu Aufstand und Krieg gefördert. Mit Recht wird heute Bruegels Insistieren auf den lokalen Traditionen – das, was ihm im 19. Jahrhundert den Ruf eines „Bauern-Bruegels“ eingetragen hat – und die rigorose Abkehr von den italianisierenden Darstellungskonventionen des Romanismus in diesem Zusammenhang gesehen, denn erst hier waren das Eigene und das Fremde in scharfen Gegensatz zueinander geraten.98 Das heißt, selbst die Jahreszeiten-Serie oder die Bilder der bäuerlichen Feste positionieren sich in einem zunehmend spannungsgeladenen Feld; Bruegel bezieht Partei, ohne jedoch die Gegner allzu direkt zu 97 Etwa des Gegensatzes zwischen miniaturhafter Darstellung der Details und der Monumentalisierung des Ganzen im „Turmbau zu Babel“. 98 Auch die burgundischen und die burgundisch-habsburgischen Herrscher waren ja großteils ‚Fremde‘; Karl V. war immerhin in Gent geboren. Der Konflikt zwischen den um Unabhängigkeit ringenden Städten und den überregional agierenden feudalen Herrschern hat deshalb eine lange Vorgeschichte; er spitzt sich jedoch immer mehr zu, je mehr die Reichseinheit und die Einheit der Kirche von den Habsburgern beansprucht werden. Siehe: Margaret  D.  Carroll, „Breaking Bonds: Marriage and Community in Bruegel’s Netherlandish Proverbs and Carnival and Lent“, in: Margaret  D.  Carroll, Painting and Politics in Northern Europe. Van Eyck, Bruegel, Rubens, and Their Contemporaries, University Park, Pennsylvania (The Pennsylvania State University Press), 2008, S. 31f.

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adressieren; von wenigen Ausnahmen abgesehen wendet er die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Konflikte ins Allgemein-Menschliche, und rückt somit die Wahrheit wieder aus der Zeit. Bereits in der frühen und wohl bekanntesten Zeichnung Bruegels, „Die großen Fische fressen die kleinen“ von 1556 finden sich seine entscheidenden methodischen Einsätze.99 Auf einer Landzunge an der niederländischen Küste liegt ein gewaltiger Fisch, aus dessen Maul und dem, eben von einem kleinen Mann mit riesigem Messer aufgeschnittenen Bauch unzählige kleinere Fische quellen, die wiederum noch kleinere Fische in ihren Mäulern haben. Die Fischer selbst sind vor dem allgemeinen Fressen und Gefressen-Werden nicht geschützt, scheint sich doch gerade ein Flugfisch auf den zweiten Mann zu stürzen, der den Riesenfisch von der bildabgewandten Seite her mit einer Leiter bestiegen hat und ihn mit einem Dreispitz traktiert. Neben Boschartigen Hybriden zwischen Mensch und Fisch und weiteren detailreichen Hintergrundszenen ist es vor allem der, bildparallel an den unteren Bildrand gesetzte, eben an der Landzunge anlegende Kahn, der die Bedeutung der Szene bestimmt. Auf diesem Kahn ist neben einem Fischer ein älterer Mann zu sehen, der seinen Sohn mit ausladendem Zeigegestus auf den spektakulären Anblick hinweist, wobei der Sohn selbst auf den Mann neben ihnen im Kahn zeigt.100 Auf dem, nach dieser Zeichnung von Hieronymus Cock hergestellten Stich ist eine Inschrift hinzugefügt, die die Worte des Vaters in dem Sinn wiedergeben, dass er immer schon wusste, dass die Großen die Kleinen fressen. Der zentrale Antagonismus von Groß und Klein ist hier erzählerisch, nicht bildlogisch umgesetzt. Das Bild selbst bietet eine für eine Landschaft fast schon klassische Übersicht aus einer leicht erhöhten Position. Raumschichtung und Flächenaufteilung sind weitgehend harmonisiert, sodass nichts den Blick auf das seltsame Ereignis trübt. Auch die elterliche Lebensweisheit, die der Mann im Kahn anzubieten scheint, bestätigt nur, was wir ohnehin sehen. Einzig das gewaltige Auge des toten Riesenfisches scheint noch eine Erinnerung an das 99

Peter Bruegel d. Ä., „Die großen Fische fressen die kleinen“, 1556, Albertina, Wien. https:// de.wikipedia.org/wiki/Die_großen_Fische_fressen_die_kleinen#/media/Datei:Pieter_ Bruegel_the_Elder_-_Big_Fish_Eat_Little_Fish,_1556_-_Google_Art_Project.jpg. Gestochen von Hieronymus Cock 1557, Exemplare im Metropolitan Museum, New York. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_großen_Fische_fressen_die_kleinen#/media/ Datei:Big_Fish_Eat_Little_Fish_1557.jpg. 100 Daniela Hammer-Tugendhat betont die Selbstbezüglichkeit dieses Zeigens, die Involviertheit in das Geschehen des Lebens als ein Fressen und Gefressen-Werden. Siehe: Daniela Hammer-Tugendhat, „‚Dieser Bruegel hat viele Dinge gemalt, die nicht gemalt werden können.‘ Innovative künstlerische Verfahren als Mittel der Zeitkritik“, in: Eva Michel (Hg.), Pieter Bruegel. Das Zeichnen der Welt, Ausstellungskatalog Albertina, Wien, München (Hirmer), 2017, S. 50.

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Auge des gehäuteten Ochsenschädels bei Aertsen zu tragen. Es scheint, in Höhe des perspektivischen Augenpunktes gelegen, die Betrachtenden direkt anzusehen und zieht gleichzeitig deren Blicke auf sich. Eine Identifizierung mit dem toten Biest – eher als mit den innerbildlichen Betrachtern der Szene im Kahn – scheint also durchaus gewollt zu sein. Denn zweifellos wird hier das Groteske nicht mehr als eine Erscheinungsform des Teuflischen oder Dämonischen wie bei Bosch verhandelt; es geht um menschliche Verhältnisse, an denen nichts beschönigt oder idealisiert wird, die jedoch im Bild der sich gegenseitig auffressenden Fische gleichzeitig naturalisiert und allegorisiert werden. Der deutlichste Bildantagonismus findet sich in der wenig später gezeichneten und gestochenen Serie zu den Sieben Tugenden, und zwar im Blatt „Fides“ von 1559.101 (Abb. 17) Hier steht die weibliche Personifikation des Glaubens – genau in der Bildmitte der unteren Bildhälfte platziert – auf einem offenen, wohl die Auferstehung symbolisierenden Sarkophag. In ihrer Linken hält sie eine geöffnete Bibel und auf dem Kopf trägt sie die Gesetzestafeln. Über ihr ragt ein Kreuz weit in die obere Bildhälfte; sein Querbalken weist in die beiden höchst unterschiedlich gestalteten Bildhälften. In der oberen Hälfte der linken Seite führen mächtige Rundpfeiler von der Bildmitte ausgehend in den Hintergrund und deuten somit ein breites Kirchenschiff an, in dem sich die Gläubigen drängen. Man sieht sie in ihren Kapuzen und anderen Kopfbedeckungen vor allem in der unteren Bildhälfte nur von hinten, ihre Aufmerksamkeit ganz dem gesprochenen Wort zugewandt, das ein Prediger von einer Kanzel am zweiten Pfeiler herab verkündet. Ganz im Gegensatz zu dieser puristischen Szene zeigt die rechte Bildseite ein geradezu chaotisches Ensemble räumlicher, objekthafter und szenischer Begebenheiten. Im Hintergrund finden eine Taufe und eine Beichte statt; im Vordergrund wird geheiratet, und in der Bildmitte ist ein Altar mit einer Monstranz zu sehen, vor der ein Mönch die Hostien verteilt. Vom Schweißtuch der Veronika über die Geiselsäule und die Heilige Lanze sind entscheidende Reliquien der Passionsgeschichte über diese Bildseite verteilt. Der rituellen, objektmagisch aufgeladenen katholischen Religiosität – Bilder oder Bildwerke sind allerdings kaum zu sehen – wird in diesem Blatt die protestantische Wort-Gläubigkeit strikt antagonistisch gegenübergestellt. Allerdings scheint Bruegel hierbei

101 Pieter Bruegel d. Ä., „Glaube (Fides)“, 1559, Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Feder in Braun, 22,6 × 29,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Faith_(Fides)_by_Pieter_ Bruegel_I,_1559.jpg.

Abb. 17 Pieter Bruegel d. Ä., „Glaube (Fides)“, 1559, Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Feder in Braun, 22,6 × 29,5 cm.

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keine Position zu beziehen – auch die Inschrift gibt keinen Hinweis darauf,102 welche Seite nun als die bessere zu betrachten wäre. Auch finden sich keine Indizien, die auf eine Form der Integration oder gar der Versöhnung verweisen. Ganz im Gegenteil scheint das Blatt zu einer Entscheidung zu drängen; eine solche Entscheidung wird jedoch ganz im Sinne der durch Erasmus vermittelten stoischen Ethik dem individuellen Gewissen im Akt der Betrachtung überlassen.103 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Frans Pourbus d. Ä. etwas später – nach Ausbruch des Bildersturms im Jahr 1566 – gemalter und deutlich versöhnlicher ausgerichteten Auseinandersetzung mit der Glau­ bensspaltung.104 Der zwölfjährige Jesus wird hier unter den Schriftgelehrten gezeigt, ein traditionelles Thema, dessen Brisanz darin liegt, dass die Schriftgelehrten mit den Zügen der streitenden Parteien ausgestattet sind. Auf der linken Bildseite finden sich die Vertreter des Katholizismus, allen voran die beiden Imperatoren Karl V. und Philipp II., aber auch der Herzog von Alba und der Auftraggeber, der Genter Bischof Vigilius Aytta; auf der rechten Seite eine Reihe protestantischer Reformer, unter ihnen Calvin selbst. Die Integration der streitenden Parteien in ein Bild ist hier das hervorstechende Ziel und hat Calvins Konterfei das Überleben auf dem Altar einer katholischen Kathedrale über die Jahrhunderte hinweg ermöglicht. Hinter dem kindlichen Jesus sitzt ein älterer Mann auf einem Thron, möglicherweise der Erzbischof von Mechelen, Antoine Perrenot de Granvelle, der seine Arme nach beiden Seiten hin ausstreckt. Das Bild zeigt also mit aller Deutlichkeit die Differenz – Jesus ist in einem Spalt zwischen den Parteien angesiedelt und der Mann auf dem Thron scheint diesen wieder zu schließen; es insistiert jedoch auf der Gemeinsamkeit der um den wahren Glauben ringenden Positionen. Der Vergleich macht deutlich, wie sehr Bruegel die Differenz der Positionen zuspitzt, ohne weder die eigentliche Spaltung allzu sehr zu betonen noch eine Lösung anzubieten. Die Figur der Fides selbst ist kaum aus der Menge der anderen Figuren hervorgehoben. Ihr Zeigegestus der rechten Hand in Richtung 102 „Vor allem müssen wir Treue bewahren, besonders zur Religion, da Gott vorrangiger und mächtiger ist als der Mensch“ Fides maxime a nobis conseruanda est praecipue in religionem, quia deus prior et potentior est quam homo. 103 in diesem Sinne: Margaret A. Sullivan, 2011 (Anm. 16), S. 137. Das Blatt unterscheidet sich in dieser Hinsicht auch deutlich von den didaktischen Arrangements der reformatorischen Bilder aus dem Umfeld der Cranach Werkstätten mit ihren Gegenüberstellungen von „Gesetz und Gnade“, in denen die Entscheidung immer schon vorweggenommen ist. 104 Frans Pourbus d. Ä. (1545–81), „Jesus unter den Schriftgelehrten“, 1571, Gent, St. Bavo Kathedrale (Mitteltafel eines Triptychons), 183 × 216 cm. https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/2/2d/Gent%2C_Sint-Baafskathedraal_triptiek_Aytta_Frans_ Pourbus_B_STB_095.jpg.

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des geöffneten Buches, das sie in der linken trägt, ließe sich möglicherweise stärker auf die protestantische Seite beziehen; doch zweifellos lesen auch die Katholiken in der Bibel. Dementsprechend sind über Bruegels religiöse Haltung viele Spekulationen in Umlauf. In der Spes hat er etwa auf die bedrohte Tiara des Papstes angespielt, während die Bilder mit der Predigt Johannes des Täufers unmittelbar auf die calvinistische Praxis der anti-institutionellen Gottesdienste im Freien verweisen. Seit Charles de Tolnay wird ihm ohnehin ein sektiererisches Anliegen unterstellt.105 Eindeutig scheint bloß zu sein, dass Bruegel alle bekenntnishafte Eindeutigkeit vermeiden wollte. Dies mag auch mit der zunehmend sich verschärfenden Zensur zu tun haben,106 betrifft jedoch – wie wir sehen werden – den künstlerischen Einsatz selbst. Auch die übrigen Tugenddarstellungen aus derselben Serie arbeiten mit durchaus zugespitzten Antagonismen, allerdings auf andere Art. Dargestellt werden etwa Justicia und Spes nicht durch positive Attribute,107 sondern durch ein jeweils abgründiges Panorama ihrer jeweiligen Gegenbegriffe. Man sieht die Figur der Hoffnung von Szenen absoluter Hoffnungslosigkeit umgeben – die kenternden Schiffe, die verdorrte Landschaft, die brennenden Häuser und die im Gefängnisturm angeketteten Menschen; sie selbst steht inmitten des aufgewühlten Meeres auf höchst unsicherem Grund. Die Gerechtigkeit scheint demgegenüber fester in der Welt verankert und durch institutionelle Strukturen und Verfahren der Rechtsfindung abgesichert zu sein, die vornehmlich in der rechten Bildhälfte sichtbar werden. Sie wendet sich jedoch der linken Seite zu, auf der, in allen Details ausgemalt, die brutale Realität der Justiz in ihren Folter- und Hinrichtungspraktiken zu sehen ist. Der allegorische Begriff, die Inschrift108 und die bildliche Darstellung geraten hier in Widerspruch zueinander. Die Justiz scheint keineswegs jene Ideale der Besserung und Sicherheit der Gemeinschaft zu verkörpern, die der Text verheißt, sondern selbst für die schreiendsten Formen der Ungerechtigkeit verantwortlich zu sein. Zweifellos ist auch hier Vorsicht vor allzu modernen Interpretationen geboten, doch so brutal war die Gerechtigkeit noch nie 105 Siehe: Charles de Tolnay, Pierre Bruegel L’Ancien, Brüssel 1935. 106 1564, kurz nachdem Bruegel von Antwerpen nach Brüssel gezogen war, musste etwa Christophe Plantin, der berühmte Drucker und Verleger, aus der Stadt fliehen. 107 Pieter Bruegel d. Ä., „Hoffnung (Spes)“, 1559, Berlin, Kupferstichkabinett, Feder in Braun, 22,4 × 29,5 cm. https://www.pieterbruegel.net/object/spes-hope-berlin. Pieter Bruegel d. Ä., „Gerechtigkeit (Justicia)“, 1559, Brüssel, Koniklijke Biblioteek Albert I, Feder in Braun, 22,4 × 29,5 cm. https://www.pieterbruegel.net/object/justitia-justicebrussels. 108 „Ziel des Gesetzes ist es, entweder den, den es bestraft, zu bessern, oder durch dessen Bestrafung die übrigen besser zu machen, oder, dass nach Beseitigung der Übeltäter die übrigen sicherer leben können.“

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dargestellt worden. Wiederum ist es nicht die Bösartigkeit der Welt per se wie bei Bosch, sondern die gesellschaftlichen Institutionen, die diese in die Welt bringen. Hier wird tatsächlich eine scharfe Kritik an den bestehenden Verhältnissen deutlich, denn das Blatt muss von den Zeitgenossen leicht auf die konkreten Umstände der habsburgischen Politik zu beziehen gewesen sein.109 Diese Strategie des Arbeitens mit dem Gegensatz der allegorischen Verkörperung und der bildlichen Darstellung,110 wie wir sie in diesen beiden Blättern finden, unterscheidet sich deutlich von Darstellungen der anderen Tugenden, der Temperantia, der Prudentia, der Fortitudo oder der Caritas. Zwar schwelgt auch die Nächstenliebe in der Schilderung des Leidens, dem geholfen werden soll; sie zeigt aber gleichzeitig das Almosen-Geben als ein positives Beispiel. Die Mäßigkeit und die Klugheit werden ausschließlich durch positive Beispiele verbildlicht. In unserem Zusammenhang ist die Darstellung der Tapferkeit von besonderem Interesse,111 weil bei ihr zwar auch nur positive Beispiele der Stärke aufgeführt werden, diese aber durch eine Art doppelten bildlichen Antagonismus vorgeführt werden. In der unteren Bildhälfte der Zeichnung sieht man zur Linken der allegorischen Verkörperung – diese ist mit Flügeln, einer Säule und Büchern auf dem Kopf ausgestattet – den Kampf einzelner Männer gegen die für sie typischen Untugenden wie Gewalt, Zorn oder Geiz, während auf der rechten Seite Frauen die ihnen entsprechenden Laster – Stolz, Neid, Prasserei und Wollust – bekämpfen. In der oberen Bildhälfte bekriegt ein Heer von anonymisierten Rittern rund um eine stark befestigte Burg Bosch-artige Zwitterwesen, die wohl für Häretiker oder alle anderen Arten von Feinden stehen. Das Blatt stellt also dem individuellen Kampf der Frauen den der Männer ebenso gegenüber wie die individuellen den kollektiven Anstrengungen. Zwischen Männern und Frauen gibt es keinen wertenden Unterschied, zwischen Individuen und Kollektiven jedoch durchaus. Denn die Inschrift auf dem Stich bezieht sich ausschließlich auf die individuellen Anstrengungen, die Überwindung der eigenen Leidenschaften, als den wahren Grund der Tapferkeit. Doch auch dieser Gegensatz wird nicht scharf zugespitzt und selbst wiederum der individuellen Entscheidung überlassen. Gleichzeitig mit der Serie zu den Tugenden beginnt Bruegel auch eine Reihe von Bildern in dem für ihn typischen Querformat zu malen. Die 109 Siehe: Joseph Leo Koerner, 2016 (Anm. 35), S. 358; Margaret A. Sullivan, 2011 (Anm. 96), S. 137f; Daniela Hammer-Tugendhat, 2017 (Anm. 100), S. 58. 110 In diesem Sinne: Daniela Hammer-Tugendhat, 2017 (Anm. 100), insbesondere S. 62. 111 Pieter Bruegel d. Ä., „Tapferkeit (Fortitudo)“, Rotterdam, Museum Boijmans van Beuningen, Feder in Braun, 22,4 × 29,5 cm. https://www.pieterbruegel.net/object/fortitudofortitude-rotterdam.

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„Niederländischen Sprichwörter“, „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ und die „Kinderspiele“ stammen alle aus dem Jahr 1559. „Karneval und Fasten“112 scheint zumindest auf den ersten Blick am eindeutigsten ein antagonistisches Bildschema aufzuweisen. Im unteren Bilddrittel bewegen sich die Repräsentationen von Karneval und Fasten wie in einem Ritterspiel aufeinander zu. ‚Prinz‘ Karneval sitzt, als feister Prasser dargestellt, auf einem Fass, das von zwei Narren geschoben wird; als Waffe führt er einen Fleischspieß, auf dem ein Ferkel steckt. Frau Fasten sitzt im härenen Gewand und mit verhärmten Zügen auf einem Rollwagen, der von einem Mönch und einer Nonne gezogen wird. Auf der Backschaufel, die sie gegen den Prinzen richtet, liegen zwei Heringe. Fleischspieß und Backschaufel treffen in der Bildmitte aufeinander ohne wirklich aneinander zu geraten. Hiermit ist auch jene Grenze markiert, die das gesamte Bild in zwei Hälften aufteilt, die den jeweiligen Darstellungen von Karneval und Fasten vorbehalten sind. Auf Seiten des Karnevals finden sich ausgelassene Szenen des Feierns und Spielens rund um zwei Tavernen, während auf Seiten des Fastens sich alles rund um eine Kirche abspielt, aus der Menschen in Prozessionen strömen, Almosen geben oder mit der Zubereitung des Fischs für den Aschermittwoch beschäftigt sind. Trotz dieser strikten Aufteilung des Bildes in zwei Hälften gibt es einen einheitlichen, von einem hoch gelegenen Betrachter-Standpunkt aus gesehenen, kleinstädtischen Marktplatz wieder.113 Die Bildmitte ist keineswegs scharf als Grenze definiert und überhaupt nur in der inhaltlichen Zuordnung des Geschehens zu erkennen. Das Soziale löst sich in kleine Gruppen auf, die aber stets aufeinander bezogen bleiben. Auch die ausgeschlossenen Gruppen der Lahmen, Leprösen und Blinden sind zugelassen. Deutungen, die hier die religionspolitischen Auseinandersetzungen oder gar den augustinischen Gegensatz von Gottesstaat und Teufels-Werk gespiegelt sehen wollten, finden weder in der Bildlogik noch in der Darstellungsweise eine zureichende Begründung. Margaret D. Carroll hat den interessanten Vorschlag gemacht, die „Niederländischen Sprichwörter“ und „Karneval und Fasten“ als ein antagonistisches Paar zu sehen, in dem „antithetische soziale Welten“114 zur Anschauung gelangen. Das Berliner Bild, das auf engstem Raum Darstellungen von wohl über 112 Pieter Bruegel d. Ä., „Der Kampf zwischen Fasching und Fasten“, Wien, Kunsthistorisches Museum, 118 × 164,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1a/Pieter_ Bruegel_d._Ä._066.jpg. 113 Im Hintergrund kann man eine auf einem Fensterbrett sitzende Figur erkennen, die als einzige, wie die Betrachtenden auch, das gesamte Geschehen überblicken kann. Hierzu siehe: Sabine Haag, Bruegel. Die Hand des Meisters, Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum, Wien, 2018, S. 125. 114 Margaret D. Carroll, 2008 (Anm. 98) S. 57.

Abb. 18 Crispin van den Broeck, „Allegorie über Wahrheit und Lüge“, 1575, 139,1 × 168,2 cm. 2004 bei Christie’s, 2019 bei Sotheby’s versteigert. Private Collection, Photo © Christie’s Images/Bridgeman Images.

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hundert Sprichwörtern enthält,115 die in ein äußerst heterogenes Ensemble von architektonischen und landschaftlichen Elementen eingepasst sind, wird von Carroll in der Tradition von Hans Sedlmayr’s „macchia“-Lektüre aus den 1930er-Jahren als dystopisches Moment einer, in ihre Bestandteile zerfallenden Welt gedeutet.116 Demgegenüber sei „Karneval und Fasten“ durch ein geradezu utopisches Moment gekennzeichnet, in dem die Gegensätze in geordneten Verhältnissen etwa im Ablauf der Natur – der Übergang vom Winter in das Frühjahr – und des Kirchenjahrs aufgehoben sind. Es finde hier also ein reiner Schaukampf zwischen den allegorischen Figuren und kein wirklicher Antagonismus statt, denn selbst der Karneval stellt die Welt nur für eine bestimmte Zeit auf den Kopf117 und bestätigt somit die bestehende Ordnung der Verhältnisse. Der eigentliche Gegensatz, um den es Bruegel gehe, sei der zwischen Eintracht und Zwietracht (Concord und Discord), zwischen geordneten und ungeordneten Zuständen. Diese Sichtweise scheint mir grundsätzlich sehr überzeugend zu sein und durchaus in Übereinstimmung mit anderen Arbeiten Bruegels sowie dem neo-stoischen Konsens des nördlichen Humanismus zu stehen. Dennoch würde ich die „Niederländischen Sprichwörter“ nicht derart „ungeordnet“ oder dystopisch lesen wollen. Sie zeigen zwar in den einzelnen Szenen jede Menge an individuellen Torheiten und Bosheiten, die ein äußerst turbulentes, keineswegs geordnetes Ganzes ergeben; aber sie zeigen dieses Verhältnis mit einem gewissen Humor, indem sie die Sprichwörter in detaillierter Buchstäblichkeit malerisch repräsentieren und118 somit eher ihre Dummheit als ihre (Volks-)Weisheit hervortreten lassen. Gleichzeitig wirkt auch das collageartige Ensemble der architektonischen und landschaftlichen Szenerien deutlich weniger konfrontativ als etwa bei Aertsen. Zwar wird das klassische „Wimmelbild“, wie es Hans Memling im 15. Jahrhundert als einen Darstellungsmodus begründet hatte, durch den etwa die Vielzahl der einzelnen Passionsszenen innerhalb eines Bildes dargestellt werden konnten, hier ad absurdum geführt. Aber die Absurdität der Verknüpfungen hat etwas dezidiert Heiteres, und zweifellos könnte man in diesem 115 Pieter Bruegel d. Ä., „Die Niederländischen Sprichwörter“, Gemäldegalerie Berlin, 117,5 × 163,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7e/Pieter_ Brueghel_the_Elder_-_The_Dutch_Proverbs_-_Google_Art_Project.jpg. 116 Sedlmayr sah bei Bruegel nur mehr proto-impressionistische Farbflecke, die keine bildliche Totalität mehr ergeben. Siehe: Hans Sedlmayr, „Die ‚macchia‘ Bruegels“ (1934), in: Hans Sedlmayr, Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.  1, Falkenburg (Mäander) 1959, S. 274–318. 117 Bereits im 17. Jahrhundert war das Bild als „verkehrte Welt“ tituliert worden. 118 Walter Gibson, Pieter Bruegel and the The Art of Laughter, Berkeley (The University of California Press), 2006.

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Zusammenhang Walter Gibsons Deutung der Kunst Bruegels als einer Art of Laughter etwas abgewinnen, in dem Sinn, dass es sich auch bei „Karneval und Fasten“ auf der einen Seite und bei den „Niederländischen Sprichwörtern“ auf der anderen keineswegs um einen strikten Antagonismus handelt, sondern um zwei unterschiedliche Arten einer humoristischen Erschließung der eigenen, volkstümlichen Welt, wobei deren Gegensatz, der internationale Handel, die Finanzspekulation, die imperiale Politik und die religiöse Verbohrtheit ausgespart bleibt. 1563 behandelt Bruegel den Gegensatz zwischen Arm und Reich tatsächlich in zwei aufeinander bezogenen Stichen. Die allegorischen Repräsentationen des reichen Karnevals-Prassers und der ausgemergelten Fasten-Figur werden hier auf ein Blatt zur fetten und eines zur mageren Küche verteilt119 und darin jeweils vervielfacht. Im Hintergrund beider Küchen öffnet sich eine Tür, durch die eine Figur des jeweils anderen Bildes tritt. Der reiche Prasser sieht sofort, in welche Situation er geraten ist, und möchte sofort wieder davonlaufen, wird aber noch von einer kärglichen Gestalt zurückgehalten. Der arme Dudelsackpfeifer jedoch, der in die fette Küche tritt, wird dort von einem Hund attackiert und von einem feisten Mann wieder hinausgestoßen. Man kann diese Darstellungen sicherlich als Kritik am Verhalten der Reichen lesen – und der Text spricht die Nicht-Zugehörigkeit der Armen unverblümt an, doch zweifellos überwiegt auch hier ein humoristisches Element, das so verstanden werden kann, dass ein jeder in seiner Welt bleiben soll. Wie häufig bei Bruegel wird der Antagonismus von Arm und Reich aufgerufen, ohne ihn in Form einer Anklage oder eines agitatorischen Aufrufs an die Betrachtenden zuzuspitzen. Eher schon wird ein beinahe naturhaft anmutender Gegensatz von unterschiedlichen Seinsweisen angedeutet, die kaum mehr in Zusammenhang miteinander stehen. Der erst nach Bruegels Tod, wohl um 1570 erschienene Stich „Kampf der Geldbeutel und der Schatzkisten“120 scheint hier deutlicher zu sprechen. Daniela Hammer-Tugendhat hat in dieser Darstellung von zu gepanzerten Kriegern mutierten Sparbüchsen, Geldbeuteln und Schatzkisten mit Recht die Verbindung von ökonomischen Praktiken, die in der Tradition der Darstellungen des Geizes stehen, und solchen des Krieges gesehen.121 Dieser Krieg 119 Pieter Bruegel d. Ä., „Die magere Küche“, 1563, Kupferstich, 22,3 × 28, 8 cm, Wien, Albertina; „Die fette Küche“, 1563, Wien, Albertina, 21,8 × 29,1 cm. https://www.pieterbruegel.net/ object/the-fat-kitchen. https://www.pieterbruegel.net/object/the-thin-kitchen. 120 Peter van der Heyden nach Pieter Bruegel d. Ä., „Kampf der Geldkisten und Sparbüchsen“, nach 1570, Wien, Albertina, Kupferstich, 23,9 × 30,7 cm. https://www.pieterbruegel.net/ object/the-battle-of-the-money-bags-and-strong-boxes. 121 Daniela Hammer-Tugendhat, 2017 (Anm. 100), S. 58–62.

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scheint gnadenlos zu sein; es gibt keine klare antagonistische Frontlinie mehr; das Blatt ist bis zum oberen Bildrand gefüllt mit dem chaotischen Kampfgeschehen. In der linken oberen Ecke scheinen immer mehr SparbüchsenKrieger in das Bild zu drängen, und nur rechts unten, direkt über der Signatur, ist ein bellender Hund zu sehen, der das Geschehen zu kommentieren scheint. Bei den Zwitterwesen handelt es sich keineswegs mehr um dämonische Schimären, wie bei Bosch, sondern um Repräsentationen einer grundsätzlichen Verdinglichung: Hammer-Tugendhat erkennt hier ein Potenzial struktureller Verallgemeinerung, indem die Geldbeziehungen nicht mehr personifiziert und die Verhältnisse zwischen Menschen zu Verhältnissen zwischen Dingen werden. Doch auch bei dieser einleuchtenden, entfremdungstheoretischen Deutung ist Vorsicht geboten, denn zweifellos weist auch dieses Blatt eine humoristische Dimension auf, die der Kritik zumindest eine stark satirische Prägung verleiht. Die Satire kann zwar generell den Humor als Medium ihrer Kritik benutzen; gleichzeitig steht diese Kritik jedoch stets unter dem Vorbehalt, bloß humoristisch zu sein. Eine genauere Abwägung wäre wohl nur in Hinblick auf den spezifischen Kontext der Entstehung und Verbreitung des Blattes möglich, doch dafür gibt es leider kaum Hinweise. Denn die „strukturelle Verallgemeinerung“ ist nur um den Preis jeder Spezifik zu haben. Wir haben es hier eher mit einer allgemeinen Kulturkritik und weniger mit einer spezifischen Gesellschaftskritik zu tun. Darin liegt immer auch ein traditionelles, christliches Moment, das die Gesamtheit der irdischen Verhältnisse beklagt. Wie schon bei dem frühen Stich „Elck“ von 1558, ist es Jedermann, der seine individuellen Vorteile sucht und nun mit den brutalsten Mitteln durchsetzt. Mir scheint, dass auch hier die Schärfe der Auseinandersetzung um spezifische ökonomische Praktiken bzw. um die aristotelische Unterscheidung zwischen guter, lebens- und gemeinschaftsdienlicher und schlechter, auf die private Akkumulation von Reichtümern zielender Ökonomie, wie sie bei Metsijs, Reymerswaele, Hemessen, Aertsen und auch Bueckelaer zu sehen ist, in den Hintergrund rückt.122 Als der Stich nach 1570 erschienen war, hatte sich das Blatt ohnehin bereits gewendet. Der Problemhorizont der frühkapitalistischen Ökonomie wurde abgelöst durch den offenen Kampf zwischen den Konfessionen bzw. zwischen den imperialen Ansprüchen der Habsburger auf der einen und der Niederländischen Unabhängigkeitsbewegung auf der anderen Seite. Viele der späteren, zumeist nach 1563 bereits in Brüssel gemalten Bilder benutzen Details aus den Gemälden von „Karneval und Fasten“ oder aus den „Niederländischen Sprichwörtern“, um daraus eigenständige Bildgegenstände zu machen. Auch hier läge es nahe, sie als aufeinander bezogene Gegensätze 122 Eine Unterscheidung, die etwa bei „Karneval und Fasten“ durchaus noch eine Rolle zu spielen scheint. Hierzu: Margaret D. Carroll, 2008 (Anm. 98) S. 58–63.

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zu verstehen: etwa die verkrüppelten Bettler auf dem Pariser Bildchen oder die Blinden im „Blindensturz“ in Neapel auf der einen und die feisten Kerle im „Schlaraffenland“ in München auf der anderen Seite.123 Doch diese Bilder sind in ihrer jeweiligen Struktur zu verschieden, um sie als Gegensatzpaare auffassen zu können. Sie unterscheiden sich nicht nur in den Formaten und der malerischen Ausführung, sondern auch in den Kompositionsprinzipien. In der Isolierung der einzelnen Gruppen und ihrer veränderten Einbindung in den bildhaften Raum deutet sich jedoch eine gemeinsame neue Bildauffassung an. Die Figuren werden nun jeweils fast bildfüllend wiedergegeben; der Blickpunkt liegt tiefer, sodass es zu einer weitgehend illusionistischen Einbettung der Figuren in einen perspektivisch korrekt wiedergegebenen Bildraum (etwa im „Blindensturz“) ebenso kommen kann wie zu einer unmittelbaren Bindung der Figuren an die Bildfläche, fast im Sinne eines diagonal ausgerichteten Bildmusters im „Schlaraffenland“. In beiden Fällen wird eine große Nähe der Figuren zu den Betrachtenden evoziert, was diese Bilder wiederum eher mit dem Bild als Schwelle verbindet. Vor allem der „Blindensturz“ zeigt dies auf raffinierte Weise. Der Damm, über den die Blinden schreiten, läuft von links kommend leicht nach vorne und führt aus dem Bild hinaus. Der erste Blinde ist in den aus dem Bildhintergrund kommenden Wassergraben auf der rechten Seite gestürzt, aber bereits der ihm nachfolgende Mann, der über seine Beine strauchelt, wird aus dem Bild heraus fallen. Denn die Schräge des an sich flachen Dammes ist rein bildnerisch gegeben; sie unterstützt die Dynamik der Erzählung über das künftige Schicksal der Blinden. Diese werden nun mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit in ihren jeweiligen Krankheiten repräsentiert,124 was ihrer Erscheinung einen fast schon gespenstigen Ausdruck verleiht. Die für die Blindendarstellung typische Satire kehrt sich hier um: An diesen Blinden ist nichts mehr lächerlich oder lasterhaft. Sie repräsentieren eine existenzielle Qualität des Elends der Welt. Innerhalb dieser einzelnen Bilder gibt es kaum mehr antagonistische Elemente bzw. sind die einzelnen Motive in ihrem Zusammenhang nicht mehr 123 Pieter Bruegel d. Ä., „Die Bettler“ oder: „Die Krüppel“, 1568, Paris, Louvre, 18,5 × 21,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Bruegel_the_Elder_-_The_Cripples.JPG Pieter Bruegel d. Ä., „Der Blindensturz“, 1568, Neapel, Museo di Capodimonte, 86 × 154 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Blind_Leading_the_Blind#/media/File:%D0%9F%D1 %80%D0%B8%D1%82%D1%87%D0%B0_%D0%BE_%D1%81%D0%BB%D0%B5%D0 %BF%D1%8B%D1%85.jpeg. Pieter Bruegel d. Ä., „Das Schlaraffenland“, 1567, München, Alte Pinakothek, 52 × 78 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schlaraffenland.jpg. 124 Eine medizinische Dissertation hatte bereits in den 1950er-Jahren versucht, konkrete Diagnosen anhand der Bilder Bruegels zu stellen. Hierzu siehe: https://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-41760918.html.

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eindeutig in einem solchen Sinne zu deuten.125 Der Wandel in Bruegels Bildauffassung in den Brüsseler Jahren vollzieht sich allerdings sehr langsam. Das aus großer Distanz gesehene, eine Weltlandschaft bzw. Totalität evozierende ‚Wimmelbild‘ bleibt vorerst dominant. Im „Turmbau zu Babel“ von 1563 wird der Gegensatz zwischen dem großen Überblick und der Genauigkeit in den winzigen Details äußerst effektiv eingesetzt, um die monumentalen Dimensionen des Turmbaus wiedergeben zu können. Auf ähnliche Weise gestalten die „Kreuztragung“ von 1564 oder die „Bekehrung des Paulus“ von 1566 das Verhältnis zwischen Menge und einzelner Person;126 hier ist die inhaltlich entscheidende Situation bzw. Person in der Fülle der sie umgebenden Figuren kaum zu erkennen. Der Antagonismus erhält hier jeweils eine erzählerische Funktion, die weder strikt formal noch inhaltlich begründet wird. Auffallend ist allerdings, dass Bruegel in dieser Zeit zwar nicht mehr den offenen Antagonismus in Szene setzt, so doch einen mehr oder minder allegorischen Anspielungsreichtum entwickelt, der einige der Bilder durchaus in einem konkret politischen und damit auch kritischen Sinn lesbar macht. Der „Turmbau zu Babel“ wurde dementsprechend immer wieder mit dem Aufstieg Antwerpens zur Metropole des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht; die „Bekehrung des Paulus“ mit dem über die Alpen ziehenden Heer des Herzogs von Alba, von dem man sich eine ‚Bekehrung‘ erhoffte, und im „Bethlehemitische Kindermord“ von 1566 ist tatsächlich eine spanische Soldateska bei einer Strafexpedition in einem flämischen Dorf zu sehen. Die entscheidende Frage ist hier, ob es sich bei dieser Abwendung von der antagonistischen Bildidee um eine Anpassung an die veränderten Bedingungen der Zensur – insbesondere nach 1566 – bzw. an das neue Umfeld der höfischen Repräsentationskultur in Brüssel handelt oder um eine spezifische malerische Strategie. 125 Über die Kirche im Hintergrund des „Blindensturzes“ gibt es eine ausführliche kunsthistorische Debatte, ob sie mehr im Sinne eines Symptoms der Blindheit oder als deren Heilung gelten sollte. Siehe: Jürgen Müller, „Von Kirchen, Ketzern und anderen Blindenführern – Pieter Bruegels d. Ä. Blindensturz und die Ästhetik der Subversion, in: Eric Piltz (Hg.), Gottlosigkeit und Eigensinn: Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, Berlin (Duncker und Humblot), 2015, S. 493–530. 126 Pieter Bruegel d. Ä., „Der Turmbau zu Babel“, 1563, Wien, Kunsthistorisches Museum, 114 × 155cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Turmbau_zu_Babel_(Bruegel)#/media/Datei: Pieter_Bruegel_the_Elder_-_The_Tower_of_Babel_(Vienna)_-_Google_Art_Project_-_ edited.jpg. Pieter Bruegel d. Ä., „Die Kreuztragung Christi“, 1564, Wien, Kunsthistorisches Museum, 124 × 170 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kreuztragung_Christi#/media/Datei: Pieter_Bruegel_d._%C3%84._007.jpg. Pieter Bruegel d. Ä., „Die Bekehrung des Paulus“, 1567, Wien Kunsthistorisches Museum, 108 × 156 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Bekehrung_des_Paulus#/media/Datei: Pieter_Bruegel_d._%C3%84._019.jpg.

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In den Monatsbildern von 1565 und vor allem in den beiden Wiener BauernBildern von 1567/68 dominiert nun klar das neue Bildverständnis.127 Hier gibt es keinerlei antagonistische Elemente mehr und auch die Totale einer Weltlandschaft verschwindet, indem der Horizont immer tiefer sinkt. Damit rückt auch das Geschehen näher an die Betrachtenden heran. Vor allem der Vergleich mit dem „Hochzeitstanz“ in Detroit von 1566,128 der noch aus einer leichten Übersicht wiedergegeben ist und die tanzenden Paare wie einst Hemessen zu Girlanden verstrickt – allerdings ohne deren direkte moralische Botschaft zu übernehmen – ist erhellend. In den beiden Wiener Bildern blickt man nicht mehr von außen oder von oben auf das alltägliche Geschehen; man hat direkt Anteil daran und ist Teil davon geworden. Im „Hochzeitsbild“ steht man gleichsam mit in der Scheune und im „Bauerntanz“ läuft gar ein Paar knapp an einem vorbei auf die Tanzfläche zu. Es hat die Schwelle des Bildes von rechts vorne kommend eben überschritten und bewegt sich weiter ins Bild hinein, ein Vorgang, der die Betrachtenden gleichsam immersiv ins Bild zieht. Nicht nur die suggestive Aufhebung der Bildgrenze im Sinne des Schwellenbildes bildet die Voraussetzung einer solch intensiven Einbindung der Betrachtenden, sondern auch ein einheitlicher Bildraum wie im Albertischen Historienbild. Dies impliziert eine doppelte Ironie, weil damit einerseits die Bauern zu historischen Akteuren werden und andererseits die Betrachtenden zu Bauern.129 Es handelt sich hierbei weder um eine reine „Lasterschelte“,130 wie es die ikonologischen Lesarten wollen, noch um eine humoristisch gefärbte und realistische Darstellung des bäuerlichen Alltagslebens. Wenn hier von einem Realismus die Rede sein sollte, dann nicht von einem Realismus der sozialen Positionierung, sondern einem von deren Aufhebung mit den Mitteln 127 Pieter Bruegel d. Ä., „Die Bauernhochzeit“, 1568, Wien, Kunsthistorisches Museum, 114 × 164 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Bauernhochzeit#/media/Datei:Pieter_ Bruegel_the_Elder_-_Peasant_Wedding_-_Google_Art_Project_2.jpg. Pieter Bruegel d. Ä., „Der Bauerntanz“, 1568, Wien, Kunsthistorisches Museum, 114 × 164 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_Bruegel_d._%C3%84._014.jpg. 128 Pieter Bruegel d. Ä., „Der Hochzeitstanz“, 1566, Detroit Institute of Arts, 119,4 × 157,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Bruegel_de_Oude_-_De_bruiloft_dans_ (Detroit).jpg. 129 Auf dem Wiener Hochzeitsbild sind ein Mönch und eine herrschaftliche Figur anwesend. In Jan Brueghels d. Ä.  Bild „Besuch auf dem Pachthof“, 1597, Wien, Kunsthistorisches Museum  www.khm.at/de/object/3ad7c2ebb9/, das möglicherweise auf ein Original seines Vaters zurückgeht, wird die soziale Differenz explizit thematisiert: zwischen den beiden herrschaftlichen Figuren und der ihnen zugeordneten Dienstbotin, den bäuerlichen Pächtern und deren Knechten und Mägden. Hier lässt sich die Grundform des „agrarischen Kapitalismus“ beobachten. Hierzu siehe: Ellen  M.  Wood, The Origins of Capitalism. A longer View, London, New York (Verso) 2002. 130 Hans-Joachim Raupp, Bauernsatiren: Entstehung und Entwicklung des bäuerlichen Genres in der deutschen und niederländischen Kunst ca. 1470–1570, Niederzier (Lukassen), 1986.

Abb. 19 Pieter van der Borcht (I), „Typus Praefecturae. Allegorie über die Schwierigkeit der Führung (eines Volks)“, Kupferstich, Amsterdam, Rijksmuseum, 21,0 × 29,8 cm.

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der scheinbar äußerst nahen Beobachtung. Genau darin werden diese Bilder ideologisch: Sie suggerieren den zweifellos bürgerlichen oder adeligen Betrachtenden die Teilhabe an einer neuen Totalität, einer volkstümlichen Kultur oder dem Volk generell. Hier kündigt sich ein neues Bildverständnis an, das synthetische Bild, wie es nach 1585 die Kunst in Antwerpen bestimmen wird. Bruegel, so lässt sich zusammenfassend sagen, navigiert auf äußerst raffinierte Weise zwischen unterschiedlichen Bildauffassungen. Er arbeitet an den Grenzen und den losen Enden des antagonistischen Bildes und verbindet dieses immer wieder mit dem Schwellenbild, dem perspektivischen Bühnenbild, aber auch mit dem totalisierenden Übersichtsbild – dem „Wimmelbild“ in der Tradition von Memling, Bosch und Patinier – und schließlich ansatzweise bereits mit dem synthetischen Bild. Bei ihm wird deutlich, dass das antagonistische Bild immer schon die Frage nach dem Umgang mit der Spaltung impliziert, die es beschreibt. Es drängt gewissermaßen über sich selbst hinaus und fordert seine Überwindung. Doch eine solche Überwindung deutet sich zu seinen Lebzeiten bestenfalls an. Die ökonomischen, religiösen, sozialen und politischen Verhältnisse spitzen sich gegen Ende seines Lebens sogar derart zu, dass keine Lösung denkbar erscheint, sich gleichzeitig aber auch die Möglichkeiten der antagonistischen Positionierung weitgehend erschöpft zu haben scheinen. Bruegels Bildsprache entfaltet sich systematisch an den Übergängen zwischen den unterschiedlichen Bildverständnissen, zwischen den Möglichkeiten von Grafik und Malerei, von Zitat und Variation. Der entscheidende Punkt hinsichtlich der antagonistischen Bildidee scheint mir zu sein, dass die gesellschaftlichen Gegensätze durchaus aufgerufen werden, ihre Deutung aber konstitutiv vage bleibt. Innerhalb dieser Gegensätze sind stets Verbindungen denkbar, auch wenn diese nicht ausgeführt werden können. Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit scheinen sich die Waage zu halten; Bruegels Werk wirkt im Gesamten inhaltlich weniger bestimmt bzw. ‚engagiert‘ als dies etwa bei Hemessen und Aertsen der Fall war. Die konstitutiven Ambivalenzen seiner Bildsprache sind jedoch nicht im Sinne einer ‚verborgenen‘ Botschaft zu verstehen, sondern als akute künstlerische Strategie, die der Malerei – noch stärker als der Grafik – eine nicht eindeutig ablesbare Bedeutung zuschreibt. Ihre Interpretation wird von nun an gefordert, und der Horizont ihrer Bedeutung bleibt ebenso wie ihr Marktwert konstitutiv offen und auf die aktive Teilnahme der Betrachtenden angewiesen.131

131 In diesem Sinne: Jürgen Müller, „Bild und Zeit. Überlegungen zu Pieter Bruegels ‚Bauernhochzeitsmahl‘“, in: Götz Pochat (Hg.), Erzählte Zeit und Gedächtnis: narrative Strukturen

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Deswegen ist Bruegel weder ein naiver Bauernmaler noch der große vormoderne Gesellschaftskritiker, als der er häufig in der kunsthistorischen Literatur erscheint, sondern eine äußerst komplexe und widersprüchliche Figur, in der sich die Antwerpener Kunst des 16. Jahrhunderts bündelt und bricht. Die satirische Komponente, die bei ihm zweifellos an zentraler Stelle eingesetzt wird, steht nicht im Dienste einer Partei, wie etwa in der aggressiven, antipapistischen Reformationsgrafik und deren katholischem Gegenstück.132 Vielmehr wenden sich die Grafiken und Bilder an ein Publikum, dessen Differenzierungsvermögen zwischen moralischem und ästhetischem Geschmack gefragt zu sein scheint. Die systematische Uneindeutigkeit und Ambivalenz, die aus vielen Arbeiten spricht, ist somit nicht mit Unentschie­ denheit zu verwechseln. Sie richtet sich nur nicht an eine zu agitierende Masse, sondern an eine soziale Welt, die den Spielraum zwischen Wahrnehmung und Bewertung der Welt mit den Mitteln von Grafik und Malerei als wesentlichen Teil ihrer Kultur anerkennt. Entscheidend ist hier nicht die kritische resp. satirische Absicht des Künstlers, sondern dass beide, Kritik wie Satire, überhaupt im Medium des Bildes und der Malerei ausdrückbar werden. Die soziale Positionierung führt hier durch die kulturelle hindurch. Sie selbst wird so zum Medium einer Selbstbehauptung, die der Malerei als einer Kunst, der „kunstreichsten der Künste“, gilt.133 Mit Bruegel endet jedoch das antagonistische Bild noch nicht. Es gibt zumindest Ansätze einer Fortsetzung, auch wenn keine systematische Exploration mehr. Nach 1570, im Kontext der nun offen ausgebrochenen militärischen Konflikte um die wahre Religion und Politik, steht Antwerpen unter enormem Druck und die Situation für die Künstler muss sich gravierend verschlechtert haben.134 Dennoch tauchen vereinzelt Bezugnahmen auf, die und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal, Graz 2005, S. 72–81. http://archiv.ub.uniheidelberg.de/artdok/1579/1/Mueller_Bild_und_Zeit_2005.pdf. 132 Oder dann vor allem im 18. Jahrhundert in England. 133 Caecilie Weissert, 2011 (Anm. 12). 134 Keiner der hier diskutierten Künstler scheint noch in der Stadt gewesen zu sein: Quinten Metsijs war bereits 1530 verstorben, Marinus van Reymerswaele wohl um 1546, weil seine früher angenommene aktive Teilnahme am Bildersturm von 1566 heute von der Forschung nicht mehr als gesichert gilt; auch vom Braunschweiger Monogrammisten gibt es keine Lebenszeichen nach der Jahrhundertmitte. Das letzte datierte Bild von Jan Sanders van Hemessen stammt von 1557 und seine Tochter, Catharina von Hemessen, die eine Reihe von hervorragenden Porträts, darunter ein stilbildendes Selbstporträt vor der Staffelei hinterlassen hat, verlässt im Gefolge der Maria von Ungarn 1556 die Niederlande in Richtung Spanien, wo sich ihre Spuren verlieren. Pieter Aertsen war ebenfalls 1556 zurück nach Amsterdam gezogen und Bruegel 1563 nach Brüssel. Joachim Bueckelaer stirbt 1570.

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den Antagonismus sogar noch zuspitzen, bevor er dann nach 1580 weitgehend zu verschwinden scheint. Crispin van den Broecks (1524–1591) „Wahrheit und Lüge“ von 1575135 (Abb. 18) akzentuiert die für den Antagonismus zentrale Wahrheitsfrage in einem allegorischen Bild. Hier wird die Wahrheit nicht enthüllt und, wie in der von Italien ausgehenden barocken Tradition, triumphal aus der empirischen Welt emporgehoben.136 Ganz im Gegenteil kommt es zur strikten Gegenüberstellung von zwei allegorischen Frauenfiguren, die, einander zugewandt, beide auf einer Art von Erdhügel vor einer Landschaft sitzen: die Wahrheit links und die Lüge rechts im Bild. Traditionell als nackter, weiblicher Akt wiedergegeben, ruht die Wahrheit auf einem weißen Tuch; in ihrer erhobenen Rechten trägt sie eine brennende Kerze, die ihr Licht in der oberen linken Bildecke ausstrahlt, und zugleich eine weit nach unten reichende Waage. Den abgewinkelten linken Arm stützt sie auf ein großes Buch, das auf dem Erdhügel zu stehen scheint und dessen aufgeschlagene Seiten Zitate aus der Bibel enthalten, die die Wahrheit betreffen, beginnend mit den Sätzen aus dem Johannesevangelium: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Auf dem blonden Kopfhaar der Frau sitzt eine weiße Taube mit aufgeschlagenen Flügeln, während ihr linker Fuß einen atmosphärischen Erdball berührt. Die Lüge ist hingegen nicht vollkommen nackt. Mit einem roten Hüfttuch und einem gelben Schal bekleidet, der um Oberarm und Kopf geschlungen ist, wendet sie sich der Wahrheit im Profil zu. Auch ihr linker Arm stützt sich auf ein großes Buch, in dem aus dem Buch der Weisheit, den Psalmen und wiederum dem Johannes-Evangelium entsprechende Stellen über die Lüge versammelt sind. Zwar erinnert die Figur an die heroischen Sybillen-Figuren Michelangelos; die der Wahrheit zugewandte Gestik wirkt allerdings mit der ausgreifenden Bewegung des rechten Arms eher rhetorisch oder zumindest argumentierend. Die Hand hält ein kleines rotes Objekt, wohl einen Spiegel, dessen im Bild sichtbare Rückseite mit einem Totenkopf als einem VanitasSymbol verziert ist. Die entscheidende Kennzeichnung erfährt die Lüge jedoch an ihrem Hinterkopf, der als ein zweites, dunkles Gesicht wiedergegeben ist, aus dessen Mund eine Schlange entweicht. Auf dem, die beiden hakennasigen Gesichter verbindenden gelben Schal sitzt schließlich – als Entsprechung zur 135 Crispin van den Broeck, „Allegorie über Wahrheit und Lüge“, 1575, 139,1 × 168,2 cm. Das Bild wurde unter dem Titel „Truth and Deception“ 2004 bei Christie’s, 2019 bei Sotheby’s versteigert. http://www.wikigallery.org/wiki/painting_324407/Crispin-Van-Den-Broeck/ Truth-and-Deception. 136 Etwa in Giorgio Vasaris „Allegorie der Gerechtigkeit und der Wahrheit“, 1543, Museo di Capodimonte, Neapel; oder in Annibale Caracci, „Eine Allegorie der Wahrheit und der Zeit“, 1584, Windsor Castle, Royal Collection. Daran wird später Rubens anknüpfen.

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weißen Taube der Wahrheit – eine dunkle und ‚hässliche‘ Fledermaus, die aggressiv nach der Wahrheit blickt. Es gibt also durchaus Ähnlichkeiten zwischen den beiden Figuren, zumindest auf den ersten Blick. Die Botschaft des Bildes scheint zu sein, dass es einer Lektüre der Indizien bedarf, um Wahrheit von Lüge unterscheiden zu können. Die Lüge ist halbbekleidet: Sie verhüllt also etwas; von vorne gesehen scheint sie gut zu argumentieren, aber sie spiegelt sich nur selbst und hat darüber hinaus eine Kehrseite, ein unheimliches, abgewendetes Gesicht. Sie geht zudem achtlos mit ihren Attributen um: Ein zweites Buch liegt zerfleddert auf dem Boden und mit ihrem Fuß tritt sie unbedacht auf Waage und Kelch, die dabei zerbrechen. Während die Figur der Wahrheit im Gesamten ein Abwägen und beinahe kontrapostisches Balancieren verkörpert, scheint die Lüge zu schroffen, unbedachten Äußerungen und Gesten zu neigen, deren Wirkungen fatal sind. Die Textstellen, vor allem jene aus dem Buch der Weisheit, verheißen, dass die Lüge durch die Allwissenheit Gottes überall entdeckt und bestraft werden wird. Doch im irdischen Leben des Antwerpens der 1570er-Jahre scheint es keineswegs leicht gewesen zu sein, eine konkrete Zuordnung der beiden allegorischen Figuren zu den entsprechenden religiösen oder politischen Konfliktparteien zu treffen. Hier mag der konkrete Kontext fehlen. Das Bild scheint jedoch gerade diese Schwierigkeit thematisieren zu wollen; es verweist somit auf die Notwendigkeit des Antagonismus und gleichzeitig auf das Problem, ihn im Empirischen festzumachen.137 Schließlich wird die politische Dimension des Antagonismus noch einmal und mit besonderer Deutlichkeit aufgerufen. In Pieter van der Borchts Kupferstich „Typus Praefecturae. Über die Schwierigkeit der Führung (eines Volks)“, der 1578 von Philipp Galle verlegt wurde,138 (Abb. 19) sehen wir im Vordergrund ein gewaltiges, an ein Einhorn erinnerndes Fabelwesen, aus dessen Leib eine Vielfalt an kleineren Tierköpfen zu wachsen scheint. Im Hintergrund an der rechten Bildseite stehen, direkt unter dem Haupt des Untiers und dicht aneinander gedrängt, Papst, Kardinal und Bischof sowie Kaiser und König. Der Antagonismus ist hier äußerst ungleichgewichtig in Szene gesetzt. Auch fressen die großen Fische nunmehr nicht die kleinen; vielmehr scheint es den Großen und Mächtigen der Welt unmöglich, über ein so vielfältiges und offensichtlich widerspenstiges ‚Volk‘ zu herrschen. Der beigefügte Text bestätigt diese 137 Mir ist keinerlei Literatur zu dem Bild bekannt. Zweifellos würde es eine genauere Untersuchung verdienen. 138 Pieter van der Borcht (I), „Typus Praefecturae. Allegorie op de moeilijkheid van het besturen“, Kupferstich, 21,0 × 29,8 cm, Rijksmuseum Amsterdam, https://www. rijksmuseum.nl/en/collection/RP-P-OB-79.752.

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Einsicht: „So viele Menschen, so viele Meinungen“; „so viele Köpfe, so viele Sätze“. Gegenüber Bruegels elegischem Abgesang auf den Lauf der menschlichen Dinge und den natürlichen Grund der Autorität wird hier die unaufhebbare Spannung zwischen Herrschaft und Knechtschaft spürbar. Die Herrschaft selbst erscheint nun als bedroht und der Aufstand ebenso als legitim wie überhaupt erst denkbar. Auch die Menge ist keine wimmelnde Vielfalt mehr; sie kann vielmehr in ihrem allegorischen Bild als sich selbst ermächtigende, äußerst wehrhafte und taktisch wandelbare multitudo auftreten.139

139 Das Volk als „vielköpfiges Ungeheuer“ und als „Wahnsinniges Tier“ wird im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einer literarischen Trope. Siehe: Peter Burke, 1981 (Anm.  75) S.  40, sowie: Christopher Hill, „‚The Many-Headed Monster‘ in his Change and Continuity in Seventeenth-Century England“, in: C. H. Carter (Hg.), From the Renaissance to the CounterReformation: Essays in Honour of Garrett Mattingley, 1965, S. 181–204.

Abb. 20 Adriaen Pietersz van de Venne, „Die Seelenfischerei“, 1614, Amstderdam, Rijksmuseum, 98.5 cm × 187.8 cm

Kapitel 5

Die Ewigkeit des Augenblicks und das analytische Bild 5.1.

Das letzte antagonistische Bild und die gesellschaftliche Neugründung in der holländischen Malerei

Es gibt noch ein allerletztes antagonistisches Bild. Adriaen van de Venne (1589–1662) malt es wohl im zeeländischen Middelburg im Jahr 1614 während des großen Waffenstillstands zwischen der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen und den Spanischen Habsburgern (1609–1621). Antwerpen ist hier immer noch präsent, insbesondere durch die Schelde, die zur Grenze zwischen den beiden niederländischen Staaten geworden war und das eigentliche Thema des Bildes darstellt.1 Unter dem Titel: „Die Seelenfischerei“2 (Abb. 20) nimmt das Bild den Typus der Weltlandschaft aus dem frühen 16. Jahrhundert auf, allerdings in ein ausgeprägtes Breitformat eingepasst. Es zeigt das weite Panorama einer Flusslandschaft, eine imaginär überhöhte Schelde, die direkt auf die Betrachtenden zufließt wie einst der Jordan bei Jan van Eyck und Rogier van der Weyden, nun allerdings von einer unmöglichen, überhöhten Betrachtungsposition aus gesehen. Über den Himmel spannt sich ein gewaltiger Regenbogen, der beide Ufer des Flusses miteinander verbindet. Das Gewitter ist also vorüber; die Sonne bricht auf der linken Bildseite durch die Wolken, während auf der rechten Seite in der Ferne ein Vulkan zu erkennen ist, der noch einige letzte Rauchschwaden auszustoßen scheint. An den Ufern zu beiden Seiten des Flusses gruppieren sich jeweils dichte Menschenmengen: links im Bild die geordnete und weitgehend egalitäre Welt des Protestantismus, rechts die von den rotgewandeten, ihren Papst in einem Prozessionswagen tragenden Kardinälen des Katholizismus beherrschte, prunkvolle Welt der Spanischen Niederlande. Auf dem Fluss selbst sieht man Boote, die die letzten wohl noch unentschiedenen, im Wasser schwimmenden ‚Seelen‘ aufnehmen und der jeweiligen Seite zuführen. Wiederum geht bei den 1 Die Schelde wird zum Symbol Antwerpens, insbesondere im Kampf um ihre freie Schiffbarkeit. Siehe die Allegorie von Abraham Janssens, „Scaldis et Antverpia“, 1608–09. https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0f/Scaldis_and_Antwerpia_by_Abraham_ Janssens.jpg. 2 Adriaen Pietersz van de Venne, „Fishing for Souls“, 1614, Amstderdam, Rijksmuseum, 98.5 cm × 187.8 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.6813.



  

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Kapitel 5

Protestanten alles ordentlich vonstatten und die ausgeworfenen Netze sind mit Inschriften der Kardinaltugenden von Fides, Spes und Caritas versehen, während die katholischen Boote in der Gier ihres mönchischen Personals, die Seelen ins Boot zu zerren, zu kentern drohen. Die durch den Regenbogen signalisierte Einheit ist also keineswegs gegeben. Auf der linken Seite gedeihen die Bäume und versprechen eine helle Zukunft, während auf der rechten Seite die Äste verdorren und man noch im Halbdunkel des abziehenden Gewitters verbleibt. Es handelt sich hier um ein politisches Programmbild, das aus der Perspektive der jungen Republik den Vollzug der Trennung verkündet. Der politische und religiöse Antagonismus wird nicht mehr verhandelt oder bearbeitet; auch ist die Spaltung der beiden antagonistischen Positionen in keiner Weise aufgehoben. Der Überblick, den das Bild bietet, kennzeichnet keine einheitliche und ganzheitliche Welt mehr, sondern bestenfalls eine Totalität in der Spaltung. Die Welt ist nun endgültig zweigeteilt. Auf beiden Seiten bilden sich neue soziale Einheiten aus, und mit ihnen auch spezifische Vorstellungen nicht nur von Religion und Politik, sondern auch von Kunst.3 Die jeweilige gesellschaftliche Neugründung der beiden niederländischen Staaten findet also auf der Basis dieser Spaltung statt. Der Antagonismus, der Antwerpen im 16. Jahrhundert in Form von ökonomischen, religiösen und politischen Konflikten heimgesucht hatte und der sich als ein produktives Moment in die Malerei einschreiben konnte, hatte immer noch einen gemeinsamen Horizont, eine Totalität oder Koinzidenz der Gegensätze im Blick. Im Vergleich mit den vielfach zersplitterten politischen Einheiten des 15. Jahrhunderts wird klar, dass eine übergeordnete politische oder religiöse Einheit jenseits der hochmittelalterlichen Idee eines sacrum imperium damit überhaupt erst vorstellbar wurde. Mit dem Vollzug der Trennung der antagonistischen Parteien schwindet nun auch die Vision einer solchen Einheit. Wie generell für die Reformation gilt auch hier: Anstelle der angestrebten universellen Erneuerung der Religion kommt es zur konfessionellen ebenso wie zur politischen Spaltung und zur Ausbildung unterschiedlicher ökonomischer und kultureller Ausrichtungen. Im jeweiligen Neubeginn erscheint 3 Geeint bleiben sie bloß in der patriarchalen Anmutung, dass keine der beiden Seiten den Frauen einen eigenständigen Platz zuweist. Diese finden sich fast ausschließlich den jeweiligen Repräsentanten der Herrschaft, die sich im mittleren Bereich des jeweiligen Ufers versammeln, zugeordnet oder ein wenig in den Hintergrund eingestreut. Vor allem der Vordergrund der protestantischen Seite ist jedoch bereits wie in den Gruppenporträts als exklusiv männliche Versammlung definiert, und das, obwohl Frauen innerhalb des Aufstands eine wichtige Rolle spielten. Generell werden sich jedoch die sozialen Handlungsräume für Frauen im Rahmen der Republik deutlich erweitern. Hierzu: Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806, Oxford (Clarendon Press), 1995, S. 677–679.

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die jeweilige Gegenposition als überwunden; tatsächlich ist sie jedoch bloß in den anderen, ebenso neu beginnenden Sektor ausgelagert und muss deshalb nicht mehr im eigenen Imaginären verordnet werden. Die rigorose Abgrenzung von der Gegenseite ist also konstitutiv für jeden Anspruch eines Neu-Beginnens,4 sowohl in der Vorstellung einer niederländischen ‚Nation‘ als auch im nun territorial begrenzten Anspruch der spanischen Universalmonarchie.5 Beiden Vorstellungen bleibt die Spaltung eingeschrieben. Dementsprechend lassen sich auch die holländische und die flämische Kunst des 17. Jahrhunderts als Versuche verstehen, den Bildantagonismus des 16. Jahrhunderts durch jeweils definitive Lösungen hinsichtlich ihres Bild-, Malereiund Kunstverständnisses zu überwinden und damit die irritierend offene Wahrheitsfrage des Antagonismus zu stabilisieren. Sie bleiben jedoch gerade in der Abgrenzung voneinander auch aufeinander bezogen und realisieren sich letztlich in dieser Spaltung. Wahrheit kann nur auf einer Seite verortet werden und muss der anderen kategorisch abgeschrieben werden. Genau darin tritt das Grundmuster der kontradiktorischen Wahrheitsauffassungen der modernen Kunstkritik erstmals deutlich zutage.6 1581 hatten sich die Sieben Vereinigten Provinzen vom Souveränitätsanspruch Philipp II. losgesagt und damit de facto ihre Republik begründet; 1585, mit dem Fall Antwerpens, wird die Grenzziehung durch die Schelde immer deutlicher. Des anhaltenden Krieges wegen dauert es noch eine Weile, bis sich die neuen Formen des Staats-, Kultur- und Kunstverständnisses auf beiden Seiten ausbilden. Van de Vennes Bild ist selbst ein eigenartiges Hybrid. Es verweist nicht nur auf die Tradition der Altniederländer und die Reformationsmalerei der Cranach-Familie mit ihren „Gesetz und Gnade“-Bildern; stilistisch schließt es unmittelbar an die damals aktuellste Form der flämischen Landschaftsmalerei, insbesondere bei Jan Brueghel d. Ä an; gleichzeitig inkludiert es Aspekte des in den nördlichen Niederlanden bereits geläufigen Gruppenporträts. Es handelt sich daher noch keineswegs um ein typisch holländisches Bild-, Kunst- und Malereiverständnis. Ein solches wird sich jedoch bald 4 Im Sinne dessen, was Hannah Arend als „Novus Ordo Saeclorum“ diskutiert, siehe: Hannah Arendt, Über die Revolution, München, Zürich (Piper), 2011, S. 232–276. 5 In dieser Perspektive erscheint die moderne Idee der Nation insgesamt nicht als Organisationsform tatsächlich vorhandener, ethnisch definierter Kollektive, sondern als wechselseitig aufeinander bezogene Spaltungsprodukte kultureller, religiöser und politischer Art. 6 Das heißt nicht, dass es keinen Austausch zwischen dem Norden und dem Süden gegeben hätte. Dieser war, insbesondere zur Zeit des Waffenstillstandes sogar ziemlich intensiv. Rubens und van Dyck besuchten etwa Haarlem, und Frans Hals scheint einige Monate in seiner Geburtsstadt Antwerpen verbracht zu haben. Doch Kontakt bedeutet nicht Vermischung. Gerade zu dieser Zeit schreitet die Ausbildung alternativer Verständnisse von Malerei und Kunst rasch voran.

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ausbilden. Mit der massenhaften Emigration der Protestanten aus Antwerpen und anderen südniederländischen Städten war es auch zu einem Zustrom von Künstlern in die nördlichen Provinzen gekommen. Insbesondere Haarlem wird zum ersten großen Anziehungspunkt, zur „Wiege der holländischen Kunst“,7 weil dort nach dem kriegsbedingten Stillstand des gesellschaftlichen Lebens in den 1570er-Jahren seit den frühen 1590er-Jahren die Wirtschaft wieder im Aufwind war und wohl auch, weil dort seit dem frühen 16. Jahrhundert bereits eine starke, romanistisch ausgerichtete Malerschule tätig war. Die enge Verknüpfung der Immigranten mit der lokalen Tradition manifestiert sich in der Gründung einer ersten, reichlich informellen Akademie durch den aus Flandern stammenden, mennonitischen Flüchtling Carel van Mander, den bereits 1577 vom Niederrhein nach Haarlem gezogenen Hendrick Goltzius und Cornelis van Haarlem in den späten 1580er-Jahren.8 Auch das Schilderboeck van Manders, der zentrale kunsttheoretische Text der Niederlande, der im Wesentlichen als posthume Reflexion der Kunst Antwerpens gelten kann, erscheint hier im Jahr 1604.9 Aus diesem Umfeld heraus – Frans Hals soll etwa ein Schüler van Manders gewesen sein – entstehen in den 1610er- und 1620erJahren die zu Beginn noch äußerst unscheinbaren und doch entscheidenden Elemente, die wir bis heute als typisch für die gesamte holländische Malerei identifizieren können, interessanterweise in der deutlichen Zurückweisung sowohl der lokalen, romanistisch-manieristischen Tradition als auch der Antwerpener Bildformeln des 16. Jahrhunderts. Was sich aus diesen Anfängen heraus im Weiteren entwickelt, ist vielfach – vor allem im 19. Jahrhundert – als ein „Sonntag des Lebens“,10 „das holländische Wunder“ oder gar als ein „goldenes Zeitalter“ beschrieben worden, in dem die Malerei eine die gesamte Gesellschaft durchdringende symbolische Rolle 7 https://commons.wikimedia.org/wiki/Haarlem:_The_Cradle_of_the_Golden_Age. 8 Zur Akademie siehe: Firma Fox Hofrichter, „The Academy and the Art“, in: Firma Fox Hofrichter, Haarlem: The Seventeenth Century, Ausstellungskatalog Rutgers, The Jane Vorhees Zimmerli Art Museum, (The State University of New Jersey), 1983, S. 36–51. 9 Carel van Mander, Het Schilder-Boeck, Haarlem 1604; deutsche Übersetzung als: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler, München 1906. Hierzu siehe: Walter S. Melion, Shaping the Netherlandish Canon: Karel van Mander’s Schilder-Boeck, Chicago (The University of Chicago Press) 1992. 10 Als „Sonntag des Lebens“ beschreibt Hegel das pralle Leben an sich guter, arbeitsamer protestantischer Menschen, die den Tag des Herrn als Ruhetag genießen: das saubere Interieur, der geruhsame Blick auf die Landschaft, die geselligen Gruppenporträts, die Prunkstilleben, das genrehafte Leben des Volkes. Daran lasse sich das besondere Soziale, Alltäglich-Religiöse, Situative und Charakteristische festmachen. Hegel entwickelt hier Elemente einer spezifisch post-klassischen Ästhetik. Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1970, S. 130.

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einnimmt. In der Tat handelt es sich um eine äußerst spezifische und gleichzeitig vielfältige, über eine große Zahl von Städten verteilte Kultur, die viele gemeinsame Züge aufweist und dennoch kein ganz- oder einheitliches Gefüge darstellt. Johann Huizinga hatte bereits in den 1940er-Jahren ebenso gegen eine solche Form der Romantisierung – die Brutalitäten des Achtzigjährigen Krieges als eine goldenen Zeit aufzufassen – argumentiert wie gegen die Dominanz der Malerei in der Darstellung dieser Kultur, weil gerade in der kulturhistorischen Fixierung auf die Malerei jenes verzerrte Bild erst entstehen konnte.11 Doch wie wären diese Kultur und die tatsächlich besondere und neuartige Rolle der Malerei darin besser zu verstehen? Huizinga selbst hatte zur Zeit der deutschen Besatzung geschrieben und in einem Akt der Selbstbehauptung die nationalen Aspekte dieser Kultur – „den sozialen Typus der neuen, freien Nation“ – besonders hervorgehoben. In den 1980er-Jahren, in Simon Schamas großangelegtem Versuch einer Synthese der holländischen Kultur, war gerade eine solche Rückprojektion einer Kategorie des 19. Jahrhunderts, wie der Nation, als Anachronismus kritisiert und durch einen ebenso struktur- wie mentalitätsgeschichtlichen Ansatz ersetzt worden, in dem die geografischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Aspekte einander vielfach überlagern, aber keine gemeinsame, übergreifende Form mehr annehmen.12 Dieser Blick war jedoch immer noch auf das kleine Land an der Nordsee konzentriert und nicht auf die globale Hegemonialmacht, zu der sich die Republik bereits in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, insbesondere nach der Gründung der Vereinigten Ostindischen Kompanie 1602, entwickelt hatte.13 Auch die marxistische Diskussion über den Status des Aufstandes in den Niederlanden als einer „frühbürgerlichen Revolution“ im Kontext des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus14 rückt in Schamas Darstellung in den Hintergrund und stellt damit die Bedeutung auch von anderen Großkategorien wie Kapitalismus, Calvinismus oder Republik für die Historiografie in Frage. Diese spezifische Form der Kulturgeschichte sucht eher nach den Zwischenräumen und Überlagerungen der besonderen ökonomischen, politischen, sozialen und religiösen Formen. Dennoch bleibt die Diskussion wichtig, ob es sich in der Republik der Sieben Vereinten Provinzen 11 Johan Huizinga, Holländische Kultur im 17. Jahrhundert (1941), München (Beck) 2007. 12 Simon Schama, The Embarassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York (Random House) 1987. 13 Dies wird insbesondere von Susan Buck-Morss kritisiert: siehe: Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti, Berlin (Suhrkamp) 2012, S. 42–46. 14 Hierzu siehe: Pepijn Brandon, „The Dutch Revolt: a social analysis“, in: International Socialism. A quarterly review of socialist theory, Nr. 116, Oktober 2007. http://isj.org.uk/ issue-116/.

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bereits um eine Form des modernen Kapitalismus handelt oder nicht doch weitgehend noch um eine traditionelle, „kommerzielle Gesellschaft“,15 und wie der Zusammenhang der dominanten, aber keineswegs umfassend durchgesetzten calvinistischen Religion zu Ökonomie, Politik und Kultur zu denken sei.16 Damit in Zusammenhang steht die Frage, warum sich in Holland keine Industrialisierung ausbildete, es jedoch eine Art von „industrious revolution“ gegeben hat,17 die die Rationalisierung, Mobilisierung und Disziplinierung des Alltags vorangetrieben habe. Auch wurden sowohl in den Rhetoriken des Aufstands als auch durch den globalen Ausgriff das Eigene und das Fremde, die Nähe und die Ferne zu strukturell kulturbildenden Faktoren, die zur Ausbildung geschlechts- und kulturstereotyper Repräsentationen neigen.18 Anstelle einer wie auch immer gearteten nationalen Einheit stehen in der neueren Forschung Klassenverhältnisse,19 Geschlechterverhältnisse, aber auch bereits „Rassenverhältnisse“ – die Westindische Kompanie war 1674 massiv in den Sklavenhandel eingestiegen20 – zur Diskussion und damit die soziale Formation dieser Gesellschaft insgesamt. Von einem Goldenen Zeitalter bleibt in diesen Forschungen nicht mehr viel übrig. Dies macht es umso schwieriger, die Rolle der Kultur und speziell der Malerei als ein entscheidendes Moment dieser Kultur näher, das heißt bis in die einzelnen Werke hinein, zu bestimmen. Je nachdem, ob wir das Verhältnis zum Imaginären des Aufstands21 und zur politischen wie religiösen 15 16

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In diesem Sinne: Ellen Meiksins Wood, The Origin of Capitalism. A longer view, London, New York (Verso) 2002. Es konnte also keineswegs erreicht werden, was Richard Tawney als das eigentliche Ziel des Calvinismus beschreibt: „Calvinism was an active and radical force. It was a creed which sought, not merely to purify the individual, but to reconstruct church and state, and to renew society by penetrating every department of life, public as well as private, with the influence of religion.“ Zitiert nach Brandon 2007 (Anm. 14). Jan de Vries, The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge (Cambridge University Press) 2008. Generell zur Disziplinierung: Henry Kamen, The Iron Century. Social Change in Europe 1550–1660, London (Weidenfeld and Nicolson) 1971. hierzu siehe: Irene Cieraad, „Rocking the Cradle of Dutch Domesticity: A Radical Reinterpretation of Seventeenth-Century ‚Homescapes‘“, in: Home Cultures. The Journal of Architecture, Design and Domestic Space, Februar 2019, https://www.tandfonline.com/ doi/full/10.1080/17406315.2018.1555122. Die holländischen „Burgher“ sind, wie Schama richtig sieht, weder Bourgeois noch Citoyens. Siehe: Simon Schama, 1987 (Anm. 12), S. 7. Hierzu siehe vor allem: Simon Gikandi, Slavery and the Culture of Taste, Princeton NJ (Princeton University Press), 2014. Hierzu immer noch grundlegend: Anton van der Lem, Opstand! Der Aufstand in den Niederlanden, Berlin (Wagenbach) 1996.

Abb. 21 Hercules Segers, „Berglandschaft mit einem Plateau“, 1625 - 1630, Amsterdam, Rijksmuseum, Radierung, 13,5 × 18,8 cm.

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„Neugründung“ einer Gesellschaft, die viele spätere Versuche inspirierte, in den Blick nehmen, oder die rasch sich entwickelnde globale Hegemonialmacht,22 oder auch die Entstehung eines frühkapitalistischen Finanzzentrums, dessen Rolle Amsterdam von Antwerpen übernimmt, erhalten wir auch eine jeweils andere Sichtweise auf die Kultur. Letztlich ist diese nur mehr in einem Spannungsfeld aus den einander überlagernden: republikanischen und calvinistischen, kapitalistischen und kolonialistischen Elementen fassbar. Ein einheitliches Narrativ23 scheint in weite Ferne gerückt, und doch bedeutet dies nicht notwendigerweise, damit keine gesellschaftliche Situierung dieser Kultur mehr vornehmen zu können. Gerade in den Überlagerungen dieser verschiedenen Aspekte lassen sich die spezifischen Bedingungen, aber auch die Möglichkeiten dieser Kultur in ihren bereits höchst individuellen Akten der künstlerischen Selbstbehauptung angesichts einer Vielzahl von symbolischen Registern fassen. Eine tatsächliche Neugründung im Sinne eindeutiger Prinzipien als eine strikt kapitalistische, calvinistische oder koloniale Republik gelingt eben nicht. Neben der äußeren Abgrenzung zur katholischhabsburgischen Welt reproduzieren sich auch die inneren Differenzen zwischen den einzelnen politischen, religiösen und ökonomischen Formen. Alles bleibt konstitutiv in der Schwebe,24 und gerade in dieser konstitutiven Unbestimmtheit liegen die spezifischen Bedingungen der holländischen Kultur begründet, die gleichzeitig den fortwährenden Anreiz darstellen, diese Unbestimmtheit symbolisch, durch imaginäre Projektionen an Eindeutigkeit und Geschlossenheit zu überwinden. Dieses strukturelle Moment gibt sie an die Moderne weiter. Das heißt, die einzelnen künstlerischen Positionierungen und ihre praktischen Realisierungen können nicht eindimensional aus einer einzigen, 22 Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt, Berlin (Suhrkamp) 2015; Immanuel Wallerstein, The Modern World System II. Mercantilism and the Consolidation of the European WorldEconomy, 1600–1750, Berkeley, Los Angeles, London (The University of California Press) 2011. 23 nach dem Muster von Marx’ „ursprünglicher Akkumulation“ oder Webers „protestan­ tischer Ethik“. 24 Es gibt weder eine eindeutige politische noch religiöse oder auch ökonomische Form. Man wechselt zwischen oligarchischer Republik mit Regenten und eher militärisch ausgerichteten Stadthaltern; der Calvinismus wird zwar dominant, umfasst jedoch nie mehr als etwa 50% der Bevölkerung. Daneben sind andere protestantische Gruppen weiterhin aktiv, ebenso die Katholiken, auch wenn sie aus der Öffentlichkeit verdrängt werden. In der Ökonomie stehen in vielen Darstellungen die spektakulären Investitionen eines frühen Finanzkapitals im Vordergrund, die die kolonialen Eroberungen ebenso antreiben wie die Tulpenmanie; aber daneben gibt es eben auch die zunehmend modernisierte Landwirtschaft, das Textilgewerbe, die Brauereien etc.

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totalisierenden Bestimmung abgeleitet werden; weder im Sinne einer autonomen Selbsttätigkeit tatsächlich freier Subjekte im Rahmen einer einheitlichen und selbstbestimmten Nation, Religion oder Ökonomie noch im Sinne einer Entlarvung ihrer vollkommenen Verblendung als patriarchale Klasse oder Rasse. Eine solch harsche Ideologiekritik hatte etwa Roland Barthes zu Beginn der 1950er-Jahre in einem kurzen Aufsatz auf ebenso fulminante wie fundamentale Weise vorgelegt.25 Die holländische Kultur, und hierbei insbesondere die Malerei, gelten ihm als Keimzelle bürgerlicher Ideologie zwischen biopolitischer Mobilisierung und totaler Verwertbarkeit der Welt. Die Landschaften zeigen uns das Land so, als ob es nur darauf warte, ausgebeutet zu werden; die Stillleben servieren uns Dinge zum unmittelbaren Verzehr, und in den Gruppenporträts präsentieren sich feiste und selbstgerechte Bürger, deren Schattenseite in der Darstellung der Bauern und der niederen Klassen zum Ausdruck käme, denen keinerlei Individualität, sondern nur die derbe und bedrohliche Fratze eines in Entstehung begriffenen Proletariats zugeschrieben werde. Diese, aus den klassischen Quellen der katholischen Protestantismus-Kritik ebenso wie aus der marxistischen Kulturkritik stam­ mende Argumentation ist immer noch mit Gewinn zu lesen;26 sie verpasst jedoch fundamental die Differenz zwischen den subjektiv-autorschaftlichen Einsätzen, den praktischen Werken und den symbolischen: religiösen, politischen und ökonomischen Denk- bzw. Handlungsformen, und somit nahezu alles, was diese Bilder als Kunst ausmacht. Diese kategorische Differenz, die Unmöglichkeit, ein eindeutig und jeweils ausschließlich republikanisches, kapitalistisches, calvinistisches oder auch kolonialistisches Imaginäres an den einzelnen Werken festzumachen, lässt sich daher besser als ein Spielraum begreifen, durch den sich die holländische Malerei sowohl als Kultur als auch als Kunst etablieren konnte. Denn wie nirgendwo sonst haben sich Staat und Religion gerade im Akt ihrer Neugründung von den Künstlern so konsequent abgewandt und diese sich weitgehend selbst überlassen. Es gibt also keine ideologisch regulierende Instanz mehr, die um ihre wahre Repräsentation ringt und eine eindeutige Funktion vorgibt. Das calvinistische Bilderverbot hält die Kirchen frei von Kunstwerken, und auch der neue Staat bietet wenige repräsentative Aufgaben.27 Nur einzelne gesellschaftliche Gruppierungen wie die ­bürgerschaftlichen 25

Roland Barthes, „The World as Object“ (1953), in: Roland Barthes, Critical Essays, Evanston (Northwestern University Press) 1972, S. 3–12. 26 Da ist von Hegels sympathisierenden Blick allerdings nicht mehr viel zu spüren. 27 Ausnahmen stellen vor allem das Amsterdamer Rathaus von 1648 und das ab 1645 errichtete Huis ten Bosch in Den Haag dar.

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Milizen, die Institutionen der Wohlfahrt und der Disziplinierung und schließlich die Gilden bleiben noch als Auftraggeber, jeweils bloß für besondere Bildtypen. Alles andere läuft über den Markt bzw. einzelne Mäzene. Das heißt, die Stellung der Malerei in der neuen Gesellschaft ist äußerst ungewiss und undefiniert. Gleichzeitig kommt es über den zunehmend differenzierten Markt zu einer Durchdringung des Alltags in bisher unbekanntem Ausmaß: Die schiere Menge an Bildern hat kein historisches Vorbild.28 Dieser Alltäglichkeit und Verfügbarkeit der Bilder für breite Bevölkerungsschichten entspricht der zunehmend sichtbar werdende Alltag in den Bildern, den Landschaften und Seestücken, den Stadtansichten, Stillleben und Genre-Szenen. Dennoch wäre es falsch, darin eine Art von naivem Realismus sehen zu wollen, wie er sich etwa in einer Behauptung des 19. Jahrhunderts ausdrückte, dass, würde man alle Bilder ausbreiten, man ein wahres Bild des damaligen Lebens erhalten würde. Tatsächlich sind die Bilder nur als Teil einer besonderen Kultur und Ökonomie, insbesondere einer symbolischen Ökonomie hinsichtlich der Bedeutung des Alltäglichen für die programmatische Neugründung einer Gesellschaft zu verstehen. Dass der heroische Akt der Selbstbehauptung zu derart unheroischen Bildern führte, ist in der Tat erstaunlich.29 Der Umstrittenheit der moralisch-religiösen, ökonomischen und politischen Kategorien im 16. Jahrhundert entspricht nun eine neue, allerdings nur scheinbare Eindeutigkeit. Denn die Antagonismen, die äußeren wie inneren Differenzen, werden weitgehend ausgeblendet. Sie verlangen eine Spurensuche sowohl hin zu den religiösen Wurzeln der Bedeutung des alltäglichen Lebens, der Frömmigkeit und humilitas30 und ihrer subtilen Profanierung im 17. Jahrhundert als auch zu der funktionalen Indienstnahme dieser Bildformeln für das neu zu gestaltende Selbstbewusstsein. Denn wie die Gruppenporträts keineswegs ein wirkliches Bild der militärischen, institutionellen und ökonomischen Strukturen bieten, idealisieren auch die Interieurs immer schon die alltägliche Nähe, das traute Heim für die Seefahrer in der Ferne. Auch der poetische Reichtum in der Flüchtigkeit der Landschaften widerspricht keineswegs der 28 Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Bildern für die Zeitspanne von 1600 bis 1680 aus. Siehe: Michael North, Art and Commerce in the Dutch Golden Age, New Haven, Ct. (Yale University Press), 1999. 29 Es gibt durchaus heroische Bilder; sie sind jedoch geradezu untypisch für das, was wir als holländische Malerei verstehen. 30 Hierzu insbesondere: Jürgen Müller, „Die Welt als Bordell. Überlegungen zur Genremalerei Jan van Amstels“, in: Birgit Ulrike Münch, Jürgen Müller (Hg.), Peiraikos’ Erben: die Genese der Genremalerei bis 1550, Wiesbaden (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften) 2015, S. 15–50.

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Formbarkeit und ökonomischen Ausbeutung des Landes. Dennoch sollten wir jede Eindeutigkeit in der Zuschreibung vermeiden, weder als Ideal noch als Ideologie. Denn zweifellos schreibt sich etwas von beidem in jedes Bild ein. Svetlana Alpers hatte zu Beginn der 1980er-Jahre31 mit Recht die damals vorherrschende einseitig moralisierende, emblematische und textbasierte Interpretation der holländischen Malerei zurückgewiesen und von einer besonderen Visuellen Kultur gesprochen, die diese Bilder repräsentierten. In ihrer Fokussierung auf das Sehen und auf die beschreibenden Modalitäten der Repräsentation32 gelinge dieser Malerei ein neuartiger Wirklichkeitsbezug, wobei die rein empirische und mimetische Bravour der altniederländischen Malerei durch wissenschaftliche Instrumente und ein Wissen über das Sehen selbst ergänzt werde. Die Malerei stehe also im Austausch mit der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie, allerdings nicht im illustrativen Sinn, sondern als eine eigenständige Form der Repräsentation des Visuellen, die mittels der Durchdringung von Wissen und Können, einer geradezu beispiellosen Verfeinerung der Maltechniken, sowie des Einsatzes reflexiver und intermedialer Aspekte auf eine gleichzeitig komplexe und doch jedem zugängliche Form der Kultur ziele. Die Malerei wird hier selbst zu einer wissenschaftlich vermittelten Alltagskultur. Das war brillant erfasst und greift hinsichtlich der symbolischen Dimension dieser Bilder doch zu kurz. Nicht nur bleiben die religiösen und politischen Dimensionen der Kultur weitgehend außen vor, auch wird der spezifische künstlerische Einsatz dieser besonderen Form von Malerei unterschätzt. Malerei ist nicht einfach visuelle Kultur; sie bearbeitet diese auch. Genauso wenig geht sie im Alltag auf, sondern reflektiert diesen auf vielfältige Weise. Sie ist daher nicht einfach mit der neuen, holländischen Kultur identisch; sie ringt vielmehr mit ihr, aus den spezifischen Zwischenräumen und Ambivalenzen heraus, die dieser eingeschrieben sind. Erst darin werden das Kulturelle und das spezifische Künstlerische voneinander unterscheidbar. Diese symbolische 31 Svetlana Alpers, The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1984. 32 Alpers positioniert sich hier deutlich in Abgrenzung zur italianisierenden Tradition innerhalb der ikonologisch fokussierten Kunstgeschichtsschreibung. Indem sie die Beschreibung in Gegensatz zur Erzählung in der Alberti’schen Tradition des Historienbildes setzt, nimmt sie eine wichtige Unterscheidung von Georg Lukács auf, bewertet sie jedoch auf andere Weise. Allerdings wäre wohl auch Alberti nicht als rein erzählerisch, sondern eher als dramatisch zu verstehen. Hierzu siehe: Ivan Nagel, Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009. Erst Rubens wird zum Erzähler.

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Differenzierung scheint mir die besondere Leistung der holländischen Malerei zu sein. Es geht hierbei nicht alleine um das Sehen und das Malen, das Wissen und das Können. Ganz im Gegenteil sind hier die Konzeption des Bildes und eine Idee hinsichtlich seiner Bedeutung entscheidend. Erst darin können Repräsentation, Realismus und Reflexivität voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden. Wiederum scheint es mir eine zentrale Bildidee zu geben, durch die der Kunstanspruch der Malerei unter diesen spezifischen kulturellen Bedingungen reflektiert und verhandelt wird. Ich möchte sie – auf den spekulativen Begriff gebracht – das analytische Bild nennen. 5.2.

Bild und Analysis: Elemente, Relationen und Formen

Der Empirismus, den Alpers ihrer Interpretation der holländischen Malerei als einer „visuellen Kultur“ unterlegt, stellt zweifellos eines der entscheidenden, ideengeschichtlichen Momente des 17. Jahrhunderts dar, allerdings nicht das einzige. Neben der auf induktivem Weg gewonnenen, empirisch fundierten Erkenntnis, wie sie Francis Bacon in seinem „Novum Organum“ von 1620 als unverzichtbaren Ausgangspunkt jeder Wissenschaft gegen die Trugbilder der individuellen Situiertheit, der Kommunikation und der autoritären Konventionen in Stellung gebracht hatte, gibt es noch eine andere, methodisch geradezu konträre Position. 1637 war in Leiden anonym der „Discours de la méthode“ erschienen, jenes Hauptwerk von René Descartes, der bereits seit 1629 in Holland lebte, in dem ein strikt deduktives, jeder Form der Wahrnehmung zutiefst misstrauendes Vorgehen propagiert wurde. Diese Methode setzt am Denken – und der Mathematik als seiner reinsten Form – als dem einzig zuverlässigen Einsatz der Wahrheit an und der darin gegebenen Möglichkeit der Erkenntnis auch der primären, nicht bloß der sekundären, empirischen Qualitäten. Dieser Rationalismus beruht auf einer strikt analytischen Grundhaltung: dem Zerlegen jeder Frage in Teilprobleme und einfache Fragen, die mit Gewissheit entschieden werden können. Darauf folgend wird eine Integration dieser einfachen Elemente, die letztlich alle komplexen Phänomene durchziehen, in eine möglichst vollständige Ordnung vorgenommen. Als Analysis wird dieses Verfahren zur Grundkategorie mathematischer Operationen in den Differenzial- und Integral-Rechnungen bei Leibniz und Newton. Kann man diesen methodischen Ansatz auf die Malerei übertragen? Zweifelsohne nicht, wenn man an eine bewusste und direkte Übernahme denkt. Hierfür gibt es keinerlei Belege, weder von Seiten der Kunst- noch von Seiten der Wissenschaftstheorie. Es findet sich ebenso wenig eine ausgearbeitete, analytische Ästhetik (wenngleich durchaus eine Moral- und

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Naturphilosophie) wie eine artikulierte wissenschaftsbezogene Kunstauffassung.33 Es gibt jedoch Indizien in den Bildern selbst, die für ein spezifisches methodisches Interesse sprechen, das weit über die traditionell handwerkliche Ausbildung und auch die humanistisch-akademische Erziehung hinausweist. Der Unterschied springt ins Auge, wenn wir einige der Zeichnungen bzw. Radierungen von Hendrick Goltzius und Hercules Segers miteinander vergleichen, die beide entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der holländischen Landschaftsmalerei ausgeübt haben. Bei Goltzius34 sehen wir im Jahr 1603 bereits den typischen Blick von der Düne auf die vollkommen flache Landschaft bei Haarlem. Die Horizontlinie ist fast mit der Bildmitte identisch; es entsteht ein lebendiges Wechselspiel zwischen Himmel und Erde, und die einzelnen Dörfer, Felder und Wäldchen gruppieren sich rhythmisch auf der weiten Ebene. Alles wird dem Auge dargereicht. Nicht mehr eine kosmologische Ordnung, wie in den Weltlandschaften des 16. Jahrhunderts ist das Thema, sondern das Sehen selbst. Das Bild ist so aufgefasst, dass sich darin ein bestimmter Ausschnitt der Welt dem Sehen präsentiert. Dieses wird aufgefordert, gleichsam immersiv in das Bild einzutauchen und all seine empirischen Register, die Differenzen von Nähe und Ferne, Höhe und Tiefe, Materialität und Konsistenz aufzurufen und in ein balancierendes Wechselspiel miteinander zu bringen. Nichts davon findet sich hingegen bei Segers. (Abb. 21) Seine wohl ab 1615 entstandenen Radierungen sind motivisch deutlich konservativer als Goltzius’ Zeichnungen; sie arbeiten im Rahmen der seit dem frühen 16. Jahrhundert etablierten Formeln der Landschaftsmalerei, jenen imaginativen Felsformationen, Schluchten, gewundenen Wegen und knorrigen Bäumen. Methodisch hingegen sind die Segers’schen Radierungen auf geradezu unheimliche Weise modern.35 Sie zerlegen ihr repräsentatives 33 Victor Stoichita hat versucht, die Differenz zwischen der holländischen und der flämischen Malerei in Bezug auf ein, von Descartes inspiriertes „methodisches Sehen“ bei den Holländern und ein „neugieriges“, also eher empirisches Sehen bei den Flamen zu erfassen. Mir geht es weniger um das Sehen als um das Verständnis des Bildes. Das analytische Bild ließe sich in diesem Sinne als ein methodisches Erfassen des neugierigen Sehens verstehen. Siehe: Victor  I.  Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München (Fink) 1998, S. 178f. 34 Hendrick Glotzius, „Dünenlandschaft bei Haarlem“, 1603, Rotterdam, Museum Boymans van Beuningen, Federzeichnung mit brauner Tusche, 9,1 × 15,4 cm. https://www.boijmans. nl/en/collection/artworks/57840/dune-landscape-near-haarlem. 35 etwa: Hercules Segers, „Gebirgstal mit Wasserfall“, ca. 1620, Berlin, Kupferstichkabinett; Hercules Segers, „Das eingeschlossene Tal“, ca. 1620, Berlin, Kupferstichkabinett Hercules Segers, „Landschaft mit überhängender Tanne“, 1615–1630, Berlin, Kupferstichkabinett. Hercules Segers, „Berglandschaft mit einem Plateau“, 1625–1630, Amsterdam, Rijksmuseum, 13,5 × 18,8 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.37247.

Abb. 22 Jan van Goyen, Dünenlandschaft, 1631, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 39,5 × 62,7 cm.

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Vokabular in die kleinsten, abstrakten Einheiten, in Punkte, Kringel und Striche, und bauen davon ausgehend rein konstruktiv und Schicht für Schicht die einzelnen Elemente der Landschaften auf. Sie definieren hierbei nicht nur die jeweilige Gegenständlichkeit, sondern auch deren Funktion im Bild, etwa als Vorder-, Mittel- oder Hintergrund und stellen darüber hinaus jede Gegenständlichkeit in unmittelbaren Bezug zur Bildfläche.36 Nichts ist hier deskriptiv. Kein einziger, einzelner Strich bildet etwas Gesehenes nach. Entscheidend ist, dass diese Radierungen höchstens etwas Erinnertes wiedergeben, falls sie überhaupt etwas ‚wiedergeben‘ und nicht nur hervorbringen. Das Sehen wird nicht um des Sehens willen, sondern als ein notwendiger Durchlauf für das Vorstellen angesprochen. Mithin geht es um keine empirische Landschaft, sondern um die Idee einer Landschaft als Möglichkeit einer Hervorbringung durch Kunst. Bei Segers bekommen wir die analytische Methode höchst anschaulich zu fassen. Sie bleibt in dieser Anschaulichkeit freilich Ausnahme hinsichtlich des Gesamten der holländischen Malerei und Grafik. Und doch lässt sich diese in ihren wesentlichen Zügen nicht ohne sie verstehen. Die analytische Methode betrifft insbesondere die Art und Weise, wie das Bild selbst, mithin das Verhältnis zwischen den einzelnen, immer feiner voneinander unterscheidbaren Elementen und dem Bildganzen als einer Ordnung der Beziehungen dieser Elemente untereinander, gedacht wird. Das Bild lässt sich in diesem Sinne als ein konzeptuelles Schema verstehen, das nicht einfach einen Ausschnitt der Wirklichkeit auswählt und illusionistisch abbildet. Die Empirie bleibt zwar, wie für die gesamte Niederländische Malerei, letztlich unerlässlich; sie dringt aber nicht wie durch ein offenes Fenster ins Bild. Vielmehr wird sie als Empirie überhaupt erst innerhalb des konzeptuellen und letztlich rationalen Rahmens des Bildes aufgerufen.37 Das analytische Bild thematisiert sich selbst als ein solcher Rahmen des Vorstellens und der symbolischen Repräsentation. Das Bild als Schwelle und das antagonistische Bild hatten hinsichtlich dieses konstruktiven Aspekts des Bildes auf ihre Weise bereits vorgearbeitet.38 Im 36 Vor allem das Aquatinta-Verfahren, bei dem Segers häufig mehrere Abzüge mit unterschiedlicher Verteilung von Licht und Farben einsetzte, lässt dieses Konstruierte umso deutlicher hervortreten. 37 Der Gegensatz besteht deshalb nicht zwischen einer empirischen Kunst der Niederlande und einer Ideen- und Ideal-Kunst in Italien; vielmehr wird gerade in der holländischen Malerei die Empirie selbst ideenbezogenen gerahmt. 38 Dementsprechend finden wir in der holländischen Malerei viele Motive der altniederländischen und der flämischen Malerei des 16. Jahrhunderts – es kommt sogar zu einer Zunahme der Spiegel und der Licht-Reflexionen, der innerbildlichen Rahmen und der Vorhänge, und immer wieder werden auch inhaltliche, soziale Gegensätze aufgerufen, allerdings nicht mehr antagonistisch zugespitzt.

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analytischen Bild spitzt sich diese Tendenz jedoch noch deutlich zu, in dem Sinn, dass das Bild nun tatsächlich als eine weitgehend selbstgesetzliche Ordnung verstanden werden kann. Hier – in diesem Bild-Rationalismus – liegen zweifellos die Wurzeln des modernen Autonomie-Gedankens bzw. seiner weit verbreiteten Missverständnisse. Denn autonom ist das analytische Bild keineswegs in einem absoluten Sinn reiner Selbstbezogenheit und Abgeschlossenheit, sondern als eigenständige symbolische Form, der Malerei als Kunst, durch die die empirische Wirklichkeit gesehen bzw. interpretiert und symbolisch repräsentiert werden kann. Hier wird ein Denken mit dem Bild ebenso erst vorstellbar wie der Anspruch, mit den spezifischen Mitteln der Malerei als Kunst gesellschaftlich Relevantes oder philosophisch Bedeutsames, Wahrheit also, ausdrücken zu können.39 Das analytische Bild besteht mithin aus fünf Ebenen. An erster Stelle steht die eigentliche analytische Operation der Zerlegung des repräsentierenden Vokabulars in kleinste, differente Einheiten. Obwohl in der Malerei meist weniger deutlich als in den Radierungen zu sehen, ist die Isolierung der malerischen Mittel für die holländische Malerei dennoch grundlegend. Das kann die Sichtbarkeit der pastosen Pinselstriche ebenso betreffen wie die der transparenten Lasuren; in jedem Fall lassen sich Licht und Farbe, Licht und Raum, Farbe und Raum, Linie und Farbe, Linie und Fläche stets deutlich voneinander unterscheiden. Die empirisch-illusionistische Qualität, etwa Materialien und Konsistenzen in äußerster Präzision wiederzugeben, hebt diese strukturelle Differenz nicht auf; sie hat sie vielmehr zur Voraussetzung. Wenn etwa bei Vermeer die Fäden der Spitzenklöpplerin oder die ausfließende Milch faktisch identisch mit einer materiellen Farb-Spur werden, kippt die Wahrnehmung beständig zwischen Illusion und Buchstäblichkeit. Die Differenz zwischen der malerischen Darstellung und dem dargestellten Objekt ist entscheidend. Sie wird zum eigentlichen Spielraum der holländischen Malerei; und die durch sie vermittelte Kennerschaft betrifft gerade das tatsächlich neuartige Vermögen, diese Differenz lesen zu können. Die Isolierung der malerischen Mittel geht einher mit einer Spezialisierung auf bestimmte Gegenstände bzw. einer Reduzierung in der Auswahl dieser Gegenstände und Bildthemen bis hin zur weitgehenden Entleerung des Bildes im 39 Die Malerei bleibt als Kunst also keineswegs auf „Perzepte“ im Sinne von Deleuze beschränkt; sie generiert Konzepte, allerdings auf andere Art und Weise, als dies Wissenschaft und Philosophie tun und zwar mit und durch das Bild. Das Bild bleibt in diesem Sinn bis heute maßgeblich für jedes Verständnis von Kunst. Es wird nicht überschritten, sondern höchstens verschoben: die Bildfragen stellen sich auch in der Installation, in der Performance und in der Konzeptuellen Kunst. Siehe: Gilles Deleuze, Felix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt am Main (Suhrkamp), 2000.

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Sinne traditioneller Erzählformen. Ein solcher Reduktionismus lässt das Bild selbst nur umso stärker hervortreten. Das Format des jeweiligen Tableaus wird derart zu einem strengen, konzeptuell bedeutsamen Rahmen, bei dem kein Millimeter fehlen dürfte, um die Komposition nicht zu beeinträchtigen.40 Die zweite Ebene besteht in der Relation, das heißt in der Art und Weise, wie die einzelnen malerischen Elemente bzw. Mittel und die dargestellten Gegenstände zueinander in Beziehung gesetzt werden. Weder kann das Bild – gleichsam induktiv – aus seinen einzelnen Bestandteilen aufgebaut werden noch kann es rein deduktiv aus dem Bildganzen abgeleitet werden. Teile und Ganzes stehen vielmehr in einem unauflöslichen Beziehungsverhältnis ebenso wie Darstellung und Dargestelltes. Es gibt Beziehungen zwischen den Gegenständen und ihrer Erscheinung, zwischen den Gegenständen bzw. Personen und dem Raum bzw. den Räumen, in denen sie situiert sind, zwischen der Lichtführung und dem Raum, der Farbe und der Fläche. Gegenstand und Erscheinung üben darüber hinaus eine bestimmte Funktion im Bild aus; sie sind aus einer bestimmten Warte gesehen und an einer bestimmten Stelle im Bild wiedergegeben. Damit bezieht sich das innerbildliche Geschehen immer schon auf die Betrachtenden; es entstehen soziale Relationen zwischen den Gegenständen und den Personen, zwischen den Personen untereinander, zwischen ihren Gesten, Gefühlen und Bedeutungen, die immer erst im Akt der Betrachtung vergegenwärtigt werden können, also auch zwischen den dargestellten und den betrachtenden Personen und damit zur jeweiligen Kultur dieser Betrachtung. Relation lässt sich hier als ontologischer Grundbegriff der Malerei fassen.41 Die Malerei symbolisiert kategorisch Beziehungen und Verhältnisformen und verleiht diesen den Stellenwert einer besonderen Weise des Seins. Darin finden sich Empirie und Konzeption, Immanenz und Transzendenz, Bild und Wirklichkeit untrennbar aneinander gekoppelt und miteinander wechselseitig vermittelt wieder. Als dritte Ebene lässt sich der Begriff der Form anführen. Form wäre in diesem Verständnis die Gestalt, die die unterschiedlichen Beziehungen im Bild annehmen. Gegen den allgemeinen Aristotelischen Formbegriff, aber auch gegen den rein ästhetischen Formbegriff der Moderne, lässt sich Form 40

Vor allem bei Pieter Claesz, Pieter Saenredam, Carel Fabritius oder Jan Vermeer, im Gegensatz etwa zu Peter Paul Rubens, der einzelne Bilder programmatisch in ihren Formaten immer wieder verändert. 41 Seit dem späten Mittelalter werden Relationsontologien gegen die Aristotelische Substanzontologie in Stellung gebracht. Insbesondere bei Meister Eckart und Nikolaus von Kues. Siehe: Hiroki Matsuzawa, Die Relationsontologie bei Meister Eckart, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2018; sowie: Heinrich Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Hauptepochen der europäischen Geistesgeschichte Bd 2, Freiburg im Br. (Karl Alber) 2010.

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hier wesentlich als Beziehungs- oder Verhältnisform bestimmen. Daraus entwickelt sich erst die ästhetische Form. Es handelt sich mithin um keinen rein innerbildlichen Formbegriff im Sinne einer Komposition. Komposition stellt zwar eine notwendige Voraussetzung jeder Gestaltung von innerbildlichen Beziehungen dar; die Beziehungs- oder Verhältnisformen weisen jedoch darüber hinaus. Sie betreffen den Akt des Sehens bzw. Betrachtens ebenso wie das Konzipieren des Bildes selbst, und damit immer schon die spezifische Ebene der Bedeutung, die ein Gegenstand im Bild und als Malerei annehmen kann. Auch das jeweils nicht Geformte oder das, was eben nicht in Beziehung gesetzt wird, bleibt in der konstitutiven Zwei-Seitigkeit der Form als ihr Negatives anwesend.42 Form betrifft daher die Art und Weise, wie bestimmte Beziehungen privilegiert und andere negiert werden; sie ist kategorisch auf einen Standpunkt bezogen, von dem aus sie gedacht und rezipiert werden kann. Es handelt sich hier um einen ebenso konzeptuellen wie engagierten Formbegriff, um eine Praxis und eine Idee der Form,43 wie sie als Malerei verhandelt werden können. Als ein Bild lässt sich viertens die besondere Gestalt der Form und der Formen in Bezug auf das Tableau begreifen. Es verschafft den Elementen, Beziehungen und Formen einen gemeinsamen Rahmen, dessen innere Gestalt, die Bildgestalt im eigentlichen Sinn, nun zunehmend als spezifisch ästhetisch verstanden wird. Die Verhandlung dieser Bildgestalt wird als Balance der Beziehungen und der Formen vor allem in der Delfter Schule nach der Jahrhundertmitte zum Inbegriff einer Kunst der Malerei. Ein solches Bild ist stets Abbild, Vorstellungsbild und Denkbild zugleich. Es erfordert einen komplexen und anspruchsvollen Rezeptionsakt, ein gleichermaßen phänomenales wie reflexives Sehen. Die fünfte und letzte Ebene betrifft den Status und Wert eines solchen Bildes, nicht nur eine Kunst der Malerei, sondern die Malerei als Kunst. Denn die Transformation der symbolischen Kategorien schreitet im 17. Jahrhundert rasch voran; Religion und Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst beginnen sich voneinander zu differenzieren. Dementsprechend kommt es seit den 1640er-Jahren zunehmend zu Ansätzen, das jeweilige Verständnis von Malerei einer dieser Kategorien zuzuordnen, das heißt zu neuen Synthesen des analytischen Bildes. Durch symbolisierende und allegorisierende Methoden wird versucht, besondere Bedeutungsansprüche 42 George Spencer-Brown, The Laws of Form – Gesetze der Form, Leipzig (Bohmeier) 2004. 43 In diesem Sinne liest Rodolphe Gasché Kants dritte Kritik. Siehe: Rodolphe Gasché, The Idea of Form. Rethinking Kant’s Aesthetics, Standford, CA (Standford University Press) 2003.

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hinsichtlich von Politik und Natur, Kunst und Religion zu erheben. Dies führt zweifellos zu jenen großartigen Lösungen, die die holländische Malerei hinsichtlich politischer Repräsentation, einem beinahe romantischen Naturverständnis und einer ökumenischen Perspektive in der Religion zu bieten hat. Die Kunst bleibt jedoch das entscheidende und letztlich einzig ‚erfolgreiche‘ Symbolisierungsmoment der Malerei, durch das alle anderen gefiltert werden und so bis heute überleben konnten. Alle diese fünf Ebenen oder Dimensionen sind entscheidend für das analytische Bild. Wir haben es hierbei weder mit rein praktischen noch mit bloß deskriptiven, kunsthistorischen Kategorien, sondern mit grundlegenden philosophischen Begriffen zu tun. Diese betreffen zwar stets auch malpraktische und deskriptive Aspekte; sie implizieren darüber hinaus jedoch ontologische, phänomenologische, soziale oder sozialontologische Fragen. Sie bilden zwar keine einheitliche, streng geordnete Bild-Sprache aus, so doch ein strukturelles Gefüge – ein Dispositiv –, von dem ausgehend wir uns den Fragen nach Realismus und Wahrheit, aber auch nach Symbolismus, Funktion und Bedeutung der holländischen Malerei nähern werden. 5.3.

Die Analytik der Räume und der Gegenstände in Haarlem

In Haarlem kommt es zwischen 1600 und 1630 zur zunehmenden Auflösung der narrativen Zusammenhänge des traditionellen Historienbildes nach Alberti’schem Muster in seine einzelnen Bestandteile. Immer detaillierter, immer spezifischer und immer spezialisierter werden sowohl die Bildgegenstände als auch die Malweisen; was im akademischen Diskurs später mit vorwiegend negativen Konnotation „Genres“ heißt, wird programmatisch aufgewertet. Das heißt: das Land, die Stadt und das Meer, Essen und Trinken sowie die damit verbundenen Gegenstände, aber auch Blumen, Musikinstrumente und Raucherutensilien bilden sich auf äußerst produktive Weise zu jeweils eigenständigen, durch vielfache Wiederholung gleichzeitig bestätigte und differenzierte Bildgattungen aus. Was gleichsam übrig bleibt, das sind die Personen im Porträt oder bei der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten. Zwar gibt es auch weiterhin Historienmalerei, nicht nur in Utrecht und Amsterdam bzw. Leiden, sondern auch in Haarlem;44 der innovative Impuls geht jedoch vorerst deutlich von einzelnen Genres im Prozess

44

Verwiesen sei hier vor allem auf die sogenannten Utrechter Caravaggisten, die Schule von Pieter Lastman in Amsterdam und diejenige von Frans Pieterz de Grebber in Haarlem.

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zunehmender „Superspezialisierung“ aus.45 Auch wenn dieser Impuls nicht als positiver Ausdruck der neuen nationalen Kultur verstanden werden kann, so ist doch die entschiedene Abkehr von den heroischen Formeln der feudalen Repräsentation unübersehbar. Jedem dieser „Genrebilder“ wohnt daher ein solcher Abgrenzungsakt einfach durch den Anspruch, ein vollgültiges Bild zu sein, immer schon inne. Sie können deshalb tatsächlich nicht rein subtraktiv verstanden werden,46 sondern nur in ihrer besonderen Produktivität; gerade als Genres wohnt ihnen ein autorschaftlich-innovatives Moment inne.47 Um 1630 gelangen die Formulierungen des analytischen Bildes zu einem ersten Höhepunkt. Ich möchte dies anhand von drei Malern zeigen, die in unterschiedlichen Genres tätig waren: Jan van Goyen in der Landschaft, Pieter Claesz im Stillleben und Pieter Saenredam in der Malerei von Kircheninterieurs. Bei allen dreien finden sich eine radikal unheroische Haltung zu ihren Bildgegenständen, eine weitgehende Entleerung der Bilder und eine fast schon monochrome Reduktion der Farbpalette. Die Perspektive ist für jeden von ihnen nun eine unhintergehbare Voraussetzung; sie wird aber nicht benutzt, um einen Bühnenraum für ein heroisches Geschehen zu konstruieren. Vielmehr ist entscheidend, dass in diesen Räumen (fast) nichts geschieht; perspektivische Räumlichkeit und raumbildende Objekte werden vielmehr selbst zu den eigentlichen Gegenständen und ‚Handlungsträgern‘, unmittelbar an die Fläche und das Format des Tableaus rückgebunden. Das Bild selbst erfährt hierbei eine besondere Aufwertung; es stellt den entscheidenden, Bedeutung verleihenden Rahmen für das in sich weitgehend bedeutungsentleerte Bildgeschehen dar.48 Hatten wir bei Segers gesehen, wie in seinen 45

Unter dem Begriff der „Superspezialisierung“ versteht die Forschung die Spezialisierung innerhalb eines Genres, etwa nur eine bestimmte Art von Landschaften oder Stillleben zu malen. Siehe: Larrry Silver, Peasant Scenes and Landscapes: The Rise of Pictorial Genres in the Antwerp Art Market, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 2006, S. 8–12. 46 Zur Kritik der Subtraktionsthese siehe: Sebastian Egenhofer, „Grund und Territorium bei Hercules Segers“, in: Gottfried Boehm, Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München (Fink) 2012, S. 251–276. 47 Die moderne Filmtheorie hat das Verhältnis von Autorschaft und Genres auf einen strikten Gegensatz hin zugespitzt. Dagegen hat Thomas Schatz deren Wechselseitigkeit betont. Siehe: Thomas Schatz, The Genius of the System. Hollywood Filmmaking in the Studio Era, Minneapolis (University of Minnesota Press) 2010. 48 Man wäre versucht, hier bereits von einem „Nullpunkt der Malerei“ zu sprechen. Siehe: Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2006. Sebastian Egenhofer konstatiert ein „semantisches Nulllevel“, siehe: Sebastian Egenhofer, 2012 (Anm. 46), S. 253. Interessant, aber wohl unzureichend ist der Versuch, die zunehmende Entleerung und Monochromie der Bilder mit dem wirtschaftlichen Niedergang nach dem Ende des Waffenstillstandes in Zusammenhang zu bringen. In diesem Sinne: Jonnathan Israel, „Adjusting to Hard Times: Dutch Art

Abb. 23 Clara Peeters, „Stillleben“, 1611, Madrid, Prado, 52 × 73 cm.

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Radierungen eine Analytik der malerischen Mittel vorgelegt wurde, geht es hier darum, diese elementaren Mittel wieder mit dem Akt des Wahrnehmens und Sehens in Verbindung zu bringen. Das Sehen selbst wird gleichsam analytisch durchdrungen. Es entwickelt sich eine Analytik der Räume und der Gegenstände, die darin in ihrer vielfach neuartigen Gestalt als spezifische Formen von Landschaft, Stillleben oder Interieur überhaupt erst erfasst werden können. Hinzu kommt, dass sich von diesem konstruktiven, die Erscheinungswelt nicht beschreibenden, sondern durchdringenden Sehen der Künstler das Sehen der Betrachtenden zunehmend deutlich abheben lässt. Denn diese sehen nicht mehr nur einfach, was vom Künstler gesehen worden war; sie sehen vielmehr das bildliche Raster, durch das hindurch gesehen werden soll. Dies lenkt den Blick auch auf den Herstellungsprozess, durch den das Malmaterial moduliert, organisiert und aufbereitet wird. Die empirische Wiedergabe eines Gegenstandes lässt sich hier nicht mehr von seiner bildlichen Funktion trennen. Es fordert gleichsam ein konstitutiv doppeltes Sehen, dessen Sinn in der vermittelnden Interaktion des konstruktiven Sehens der Maler mit dem ästhetischen Sehen der Betrachtenden liegt. Erst darin können das analytische Bild und seine Abstraktionen spezifisch künstlerischen Sinn beanspruchen. Von Jan van Goyen (1596–1656) haben sich mehr als 1200 Bilder erhalten. Mit großer Schnelligkeit hat er diese Vielzahl an Gemälden in meist minima­ len, gegenständlichen wie formalen Variationen produziert und zu relativ niedrigen Preisen auf dem Markt angeboten.49 Zweifellos ist es ihm gelungen, immer wieder eine starke Nachfrage nach seinen Bildern hervorzurufen. Die häufigen Wohnungswechsel (vor allem zwischen Leiden, Hoorn, Haarlem und Den Haag) und die vielen Reisen erlaubten ihm, vielfach ortsspezifische Sujets anzubieten. Reich ist er davon dennoch nicht geworden. Da er – offensichtlich nicht besonders erfolgreich – auch als Immobilien- und TulpenSpekulant tätig war, hatte er, bei durchaus großem Haushalt, fast zeitlebens hohe Schulden. Ein typisch holländischer ‚burgher‘ also, und weit davon entfernt, ein modernes, romantisches Genie zu sein. Man könnte ihm eine handwerklich basierte und doch bereits proto-kulturindustrielle Produktionsweise zuschreiben. Gerade darin konnte er jedoch eine spezifische Idee des Bildes als Kunst entwickeln.

During Its Period of Crisis and Reconstructing (ca. 1621–1645)“, in: Art History 20 (1997), S. 449–476. 49 Zu Van Goyen siehe: Hans Ulrich Beck, Jan van Goyen. Ein Oeuvreverzeichnis  2 Bde., Amsterdam (van Gendt) 1972.

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Sein erster Aufenthalt in Haarlem, als er um 1617 bei Esaias van de Velde in die Lehre ging, stellte zweifellos die für ihn prägende Zeit dar. Dort lernte er das damals modernste Verständnis der Landschaftsmalerei kennen, wie es sich bei den verschiedenen Gruppierungen der flämischen Flüchtlinge in der Nachfolge Pieter Bruegel d. Ä. ausgebildet hatte.50 Im Gegensatz zu den kosmischen, religiösen oder auch zyklischen Naturauffassungen der Antwerpener Malerei des 16. Jahrhunderts, wird nun, vor allem bei dem in Kampen tätigen Hendrik Avercamp und bei van de Velde die Landschaft zur „Bühne menschlicher Aktivitäten“.51 Van de Veldes Bild „Die Viehfähre“ von 162252 zeigt etwa geschäftiges Treiben zwischen den beiden Ufern eines Flusses, die jeweils dicht von einer Kirche, einer Windmühle und anderen Gebäuden gesäumt sind. Es gibt hier tatsächlich keinen metaphysischen Sinn der Natur. Auch trennt der Fluss nicht mehr wie bei van de Venne; er verbindet vielmehr Land und Leute innerhalb eines Territoriums. Hierbei korrespondiert die Biegung des Flusses mit der Tiefenstaffelung der Gebäude und der Baumgruppen in einzelne Zonen. Die Bildmitte fungiert als Horizontlinie, wodurch es zu einer ausgewogenen Balance und einem wechselseitigen Austausch zwischen horizontalen und vertikalen Gliederungselementen kommt: Der Himmel spiegelt sich in der Wasseroberfläche und die hoch in den Himmel ragenden Baumkronen auf beiden Seiten verleihen der ausgebreiteten Alltäglichkeit stabilen Halt und ein fast schon klassizistisches Flair. Hieran schließt van Goyen in den ältesten seiner erhaltenen Bilder unmittelbar an. Allerdings dynamisiert sich das Geschehen bereits in diesen frühen Landschaften, indem er die einzelnen Elemente, die Fähren und Windmühlen, den Fluss und die Hügel mit ihren Baumgruppen anders gewichtet. Doch erst mit der Serie der Dorfstraßen von 162853 und vor allem mit den DünenLandschaften von 1629 bis in die frühen 1630er-Jahre bricht sich ein deutlich verändertes Bildverständnis Bahn. Die „Dorfstraße mit Rastenden an einem Steg“ (1628) zeigt bereits die typischerweise sehr tief liegende Horizontlinie, die gleichzeitig den in die Bildtiefe führenden Grat einer Folge von kleinen 50

Zu Gillis van Coninxloo, Jacob Savery und anderen Emigranten aus Antwerpen siehe: Larry Silver, 2006 (Anm. 45), insbesondere Kapitel 8: „Descent from Bruegel I. From Flanders to Holland“, S. 161–185. 51 Ich folge hier der brillanten Analyse von Sebastian Egenhofer, 2012 (siehe Anm. 46). 52 Esaias van de Velde, „Die Viehfähre“, 1622, Amsterdam, Rijksmuseum, 75,3 × 113 cm https:// de.wikipedia.org/wiki/Esaias_van_de_Velde#/media/Datei:Die_Viehfaehre.jpg. 53 Jan van Goyen, „Dorfstraße mit Rastenden an einem Steg“, 1628; Frankfurt, Städel Museum, 38,9 × 66,8 cm. https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/dorfstrasse-mitrastenden-an-einem-steg. Jan van Goyen, „Dorfstraße“, 1628; Frankfurt, Städel Museum, 35,7 × 63,0 cm. https:// sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/dorfstrasse.

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Dünen darstellt. Eine Straße zieht entlang dieser Dünen und quer über das dem Land vorbehaltene untere Drittel des Bildes mit starkem Zug in die Bildtiefe auf der linken Seite. Bildraum und Bildfläche sind also eng aufeinander abgestimmt. Das perspektivische Sehen wird durch verschiedene Personengruppen, Bäume und Gegenstände in abgestuften Größenverhältnissen aufgerufen; dennoch entsteht keine Bühne. Es gibt hier auch keine eifrige Geschäftigkeit mehr. Die einzelnen Figurengruppen interagieren nicht; sie sind eher bestimmten Gegenständen – dem Steg, dem Haus, einem Zaun oder einem Fuhrwerk – zugeordnet. Die Aktivität liegt nicht bei den Menschen, sondern bei den Kräften der Natur. Das Bild schafft einen Rahmen, innerhalb dessen das kategorisch entgrenzte Spiel von Wolken und Sand, Licht und Schatten, Werden und Vergehen auftreten kann. Es handelt sich hierbei weder um eine weltlandschaftliche Totalität noch um einen einzigen, ‚gefrorenen‘ oder kompositorisch streng gefassten Augenblick. Als ein strukturiertes Gefüge aus Flächigkeit und Tiefensog, Verdichtung und Ausbreitung lässt das Bild vielmehr die Prozessualität von Raum und Zeit selbst unabhängig von vorgegebenen Sinnstrukturen erscheinen. In den wenig späteren, reinen Dünenlandschaften54 (Abb. 22) spitzt sich dieser enthumanisierende Aspekt einer Dialektik zwischen bildlicher Begrenzung und motivischer Entgrenzung sogar weiter zu. Im Berliner Bild gibt es zwar noch den in die Bildtiefe führenden Weg; die im Vordergrund steil aufragende Düne hat jedoch bereits die menschlichen Behausungen gleichsam in die Tiefe geschoben. Im Bild der Tyssen-Bornemisza-Sammlung verliert der Weg an Bedeutung, auch wenn auf der rechten Bildseite noch ein Blick in den fernen Bildhintergrund gewährt wird. Hauptgegenstand sind jedoch die Düne im Bildvordergrund mit ihren verfallenen Umzäunungen und eine ebenso sich im Verfall befindliche größere Hütte im Mittelgrund. Die Bewegung des sandigen Bodens wird hier zum eigentlichen Thema; nur 54 Etwa: Jan van Goyen, Dünenlandschaft mit einer Hütte und Figuren, 1629, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, 48 × 70,5 cm. https://imagenes.museothyssen.org/ sites/default/files/imagen/obras/descarga/CTB.1994.22_paisaje-dunas-cabana-figuras. jpg?_ga=2.78844564.1875327458.1569400317-941679470.1569400317. Jan van Goyen, Dünenlandschaft, 1629, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, 29 × 51 cm. https://www.bildindex.de/document/obj02554423?medium=gg3354_045. Jan van Goyen, Dünenlandschaft, 1631, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 39,5 × 62,7 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dune_Landscape_(1631)_Jan_ van_Goyen.jpg. Jan van Goyen, Dünenlandschaft, 1630–1635; Wien Kunsthistorisches Museum, 36,3 × 54 cm. www.khm.at/de/object/02a32ad266/. Jan van Goyen, Bauerngehöft, 1632, Hamburg, Kunsthalle. https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/2/28/Goyen_Jan_Farmstead%40Kunsthalle_Hamburg.JPG.

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wenige Personen ‚entwachsen‘ diesem Boden wie die Bäume, und die Wolken scheinen das terrestrische Geschehen zu spiegeln. Nicht mehr der Blick von der Düne herab auf das offene Land wie bei Goltzius (und unzähligen späteren Malern), sondern der Weg immer tiefer in die Düne hinein wird das Thema der nun folgenden Bilder. Im Braunschweiger wie im Wiener Bild steht man auch als Betrachtender mit auf dem ungesicherten Territorium der Düne, dem ständigem Wechsel von Wasser, Luft und sandiger Erde ausgesetzt. Menschliche Behausungen und natürliche Anhäufungen lassen sich kaum mehr voneinander unterscheiden. Die Bretter und Planken der Zäune scheinen die ständigen Veränderungen in der Düne gerade noch aufrechterhalten zu können. Häufig drohen sie zu bersten. Tiere und Menschen tauchen nur als momentane Verdichtungen dieser Bedingungen auf. Im Bild gerät dabei die Fläche immer stärker in den Vordergrund, das heißt, Düne und Diagonale bzw. Schräge werden geradezu identisch. Gleichzeitig wird der Gegensatz von Himmel und Erde sukzessive in ein fast schon monochromes Feld eingeebnet. Der „Generalbass der Labilität“, von dem hier in der Kunstgeschichte gesprochen wird,55 betrifft daher die materielle Konsistenz der Gegenstände ebenso wie die formale Qualität; es kommt zu einer Äquivalenz zwischen dem sandigen Boden, dem verfallendem Menschenwerk und den Wolkentürmen auf der einen Seite und dem farbigen Material der Malerei selbst auf der anderen. Beides scheint nun wesentlich ephemer, vergänglich und grundlegend veränderbar. Nicht ein Gesehenes wird in diesen Bildern deskriptiv abgebildet; vielmehr wird der natürliche Prozess im Akt des Malens nachgebildet und damit ein Bild der Landschaft als Äquivalent zur Natur hervorgebracht. In den Zeichnungen derselben Zeit, die direkt die Anregungen von Segers’ Radierungen aufnehmen, ist der Abstraktionsprozess deutlich zu sehen.56 Aber auch in den Gemälden liegen die malerischen Mittel offen zutage. Durch mehrere Schichten hindurch wirkt der Malgrund an der Oberfläche, von den einzelnen, sichtbaren Pinselstrichen notdürftig überdeckt, akzentuiert oder auch überhöht. Wie aus der tonigen Farbmasse des Malmaterials selbst heraus scheint van Goyen seine Massen und Gegenstände zu modellieren. Der Seinsgrund der Dinge und der Bildgrund, so Egenhofers These, entsprechen einander – bis hinein in die Identität von Objektdefinition und Pinselstrich oder Farbtupfer. Wir haben es hier mit einem im strengen Sinn analytischen Bild zu tun: Das Sehen des Malers durchdringt das 55 Siehe: Sebastian Egenhofer, 2012 (Anm. 45). 56 Siehe etwa: Jan van Goyen, „Bauernhof an einer Straße“, 1629–31, Amsterdam, Rijksmuseum; Tusche auf Papier, 11,7 × 20 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001. COLLECT.50748.

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empirische Feld der Wahrnehmung mit einer Vorstellung von Landschaft, die sich wiederum im Akt des Malens selbst als eine Idee von Natur realisiert. In diesen Bildern bloß Abbilder typisch holländischer Dünenlandschaften zu sehen, wäre daher zweifellos verkürzt. Ganz im Gegenteil haben erst diese höchst anspruchsvollen Bilder eine Vorstellungsweise hervorgebracht, die seither als typisch holländisch gilt. Nicht der visuelle Eindruck, sondern die künstlerische Methode ist hierfür entscheidend, das In-Beziehung-Setzen der motivischen und der formalen Elemente, kraft dessen das Bild das Sehen mit dem Vorstellen, die malerische Hervorbringung mit dem Denken vermitteln kann. Dass hierbei die keineswegs selbstverständliche und eben erst etablierte Vorstellung einer Landschaft als eines kunstwürdigen Genres mit einer spezifischen Idee der Natur einher geht, mag mit der mythischen Begründung der holländischen Nation im heroischen Kampf gegen die Naturgewalten und die äußeren Feinde zu tun haben, gegen die das Land immer wieder absichtlich überflutet werden musste. Gleichzeitig stellen Dünen und Dämme auch den notwendigen Schutz dar, um dem Meer Land abgewinnen zu können, dieses nicht als gottgegeben, sondern als selbst geschaffen betrachten und es damit der agrokulturellen und spekulativen Verwertung zuführen zu können. Davon ist bei van Goyen unmittelbar nichts zu sehen; die Düne wird ihm jedoch zum existenziellen Symbol der höchst unsicheren Bedingungen, unter denen der junge Staat seinen Gründungsanspruch erhebt. Auch Pieter Claesz (1596/97–1561) hat sein Genre, das Stillleben, nicht erfunden. Er konnte, als er in den frühen 1620er-Jahren begann, sich für den Rest seines Lebens exklusiv diesem Thema zu widmen, bereits auf eine differenzierte Tradition in Haarlem zurückgreifen, die selbst wiederum wohl entscheidende Anregungen aus Antwerpen erhielt.57 Dort hatten unmittelbar nach der Jahrhundertwende insbesondere Osias Beert d. Ä. und Clara Peeters, wohl aus der Tradition der Küchenstücke des 16. Jahrhunderts heraus, eine erste klare Konzeption des ‚autonomen‘ Stilllebens entwickelt.58 Peeters wie Beert organisieren die gemalten Gegenstände durch Wiederholung und vielfach minimale Differenzierung bereits im Sinne eines Genres. Entscheidend 57 Zu nennen wären hier vor allem die drei Haarlemer Stillleben-Maler Nicholaes Gillisz, Floris van Schouten und Floris van Dijck. 58 Die Anfänge des autonomen Stilllebens sind in der Forschung umstritten. Immer wieder werden Jan Brueghels Zeit in Mailand, Georg Flegels Arbeiten in Frankfurt sowie Caravaggios zweifellos bereits in Rom gemalter Früchtekorb von 1595 genannt. Dieses Bild mag tatsächlich das erste ‚reine‘ Stillleben darstellen; es definierte jedoch keineswegs ein Genre, da ihm der für ein Genre entscheidende Aspekt von Variation und Wiederholung fehlt. Siehe hierzu: Pieter Biesboer, „Pieter Claesz in Haarlem“, in: Ausstellungskatalog Pieter Claesz. Stilleben. Kunsthaus Zürich, Zwolle (Waanders Verlag) 2005, S. 10–26.

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für beide ist der hoch angesetzte Blickpunkt, der durch die hintere Tischkante definiert wird und derart eine Aufsicht auf die präsentierten Gegenstände auf dem Tisch ermöglicht. Da der Tisch hierbei nach vorne zu klappen scheint, werden die Gegenstände auch unmittelbar an die Bildfläche ‚gedrückt‘. Die vordere Tischkante reicht meist nur knapp über den unteren Bildrand; sie wird stets von einigen Gegenständen überschritten, wodurch eine Art von trompe l’oeil-Effekt entsteht, der diese Gegenstände illusionistisch als aus dem Bild heraus kommend erscheinen lässt. Übersicht und Nähe, Fläche und Raum sind jeweils aufeinander bezogen, ohne wirklich ineinander zu greifen. Dies gilt auch für das etwas unvermittelte Verhältnis von Detail und Bildganzem. Denn zwischen den Gegenständen gibt es kaum Überschneidungen; sie werden ohne jede Hierarchie untereinander auf der Tischplatte ausgebreitet. Alles bleibt derart fein säuberlich voneinander getrennt und jedes Element wird jeweils für sich in seiner visuellen und haptischen Qualität definiert: die Gefäße und die Anhäufung der Dinge in ihnen; meist sind es Gläser mit Wein, Zinngeschirr oder Keramik voller Beeren, Pilze, Kastanien, Nüsse, Feigen, Datteln, Oliven, Austern, Fischrogen, oder Konfekt. Voneinander unterschieden werden der Konsistenz und Form nach das Feste und das Flüssige oder Weiche, das Gallertartige und das Strukturierte, das Feuchte und das Trockene. Die nackte Tischplatte, der dunkle Bildgrund und meist ein mattes, von der linken Seite einfallendes Licht sind die einzigen Momente der Vereinheitlichung. Der Fokus liegt jedoch deutlich erkennbar auf der möglichst genauen und klaren, geradezu wissenschaftlichen Erfassung der materiellen Bestimmungen der einzelnen Gegenstände.59 In ihrer gleichmäßigen, flächendeckenden Verteilung fungieren sie auch als die wesentlichen, strukturierenden Elemente des Bildes selbst. Bei Beert kann auch eine Fliege auf den geöffneten Artischocken sitzen, und es bleibt unklar, ob sie nicht auf dem Bild selbst sitzt. Peeters verstärkt die reflexive Dimension sogar noch, indem sie nicht nur Konfekt oder Brezeln in Form des Buchstabens „P“ zeigt, sondern in unmittelbarer Referenz an Jan van Eyck, vielfache Spiegelungen in die Zinnkannen malt, in denen ihr eigenes Bildnis in bis zu sechsfacher Brechung aufscheint.60 (Abb. 23) Viele Elemente des Schwellenbildes der altniederländischen Malerei schreiben sich derart in die Vorstellung dessen ein, was später „Stillleben“ genannt werden wird. 59 Die analytische Basisoperation lässt sich hieran gut festmachen. Wichtig scheint mir auch der Bezug zu den zeitgleichen wissenschaftlichen Illustrationen zu sein. 60 Osias Beert (zugeschrieben), „Stillleben“, 1600–1624, Amsterdam, Rijksmuseum, 46,5 × 79 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.5968. Clara Peters, „Stillleben“, 1611, Madrid, Prado, 52 × 73 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Clara_Peeters_-_Mesa_(Prado)_01.jpg.

Abb. 24 Pieter Claesz, „Stillleben mit Römer und einer Silberschale (Tazza)“, um 1635, Berlin, Gemäldegalerie, 42 × 59 cm.

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Für Claesz spielt noch eine andere Tradition eine wichtige Rolle. Sie lässt sich an der Figur Jacques de Geyns II. festmachen, der bereits 1585 von Antwerpen nach Haarlem geflohen und dort vor allem als Kupferstecher in den neostoischen Zirkeln tätig war, und der – wie Goltzius auch – sich nach der Jahrhundertwende auf die Malerei spezialisierte. Seine „Vanitas“ von 160361 stellt sicherlich noch kein Stillleben im heutigen Sinn dar; das Bild ist dennoch für das holländische Stillleben insgesamt von großer Bedeutung. Noch in der Tradition der Buchmalerei mit ihren vielfachen Rahmungen und der allegorischen Druckgrafik des 16. Jahrhunderts stehend, zeigt das Bild einen Totenkopf in einer steinernen Nische auf ein wenig Stroh gebettet und von einer Reihe weiterer Vergänglichkeitssymbole bildlich gefasst. Auf einer schmalen Brüstung vor der Nische liegen Münzen; links und rechts davon stehen zwei Gefäße, die die Nische einfassen; eines dient als Vase für eine Tulpe, aus dem anderen steigt etwas Rauch auf. Von der Brüstung herab hängen zu den Seiten zwei Wappensiegel. Auf dem Nischenbogen – gleichsam als Teil der architektonischen Ausstattung – sitzen in der oberen linken und rechten Bildecke der lachende und der weinende Philosoph, Demokrit und Heraklit, und zeigen jeweils auf eine große Blase, die sich über dem Totenkopf in der oberen Hälfte der Nische gebildet hat. Das Motiv der Seifenblase, das in den Vergänglichkeitsallegorien des 16. Jahrhunderts den Totenkopf begleitet hatte, wird hier zur Weltkugel, in der sich heilsgeschichtliche Momente spiegeln.62 Auch hier werden also die Konvexspiegel Jan van Eycks zitiert, die schon Barend van Orley im frühen 16. Jahrhundert mit der Weltkugel in Zusammenhang gebracht hatte. Claesz übernimmt nun sowohl den Totenkopf als auch die reflexive Welt-Blase in einigen seiner Bilder. Er transformiert jedoch die allegorische Dimension in eine neue Bildform, die ihn schließlich dazu bringen wird, auf diese drastischen Bedeutungsträger verzichten zu können, ohne jedoch ihre inhaltliche Dimension, die Frage nach der Zeitlichkeit des Bildes, preiszugeben. Diese Transformation betrifft gleichzeitig eine konzeptuelle Bewegung weg von der elementaren Reduktion in der Gegenstandsdefinition, wie wir sie bei Beert und Peeters gesehen haben, hin zu einer Thematisierung der Relationen, der Formen und schließlich des Bildes im Gesamten. Von der quasi wissenschaftlichen Genauigkeit in der empirischen Bestimmung der Gegenstände 61 62

Jacques de Geyn II, „Vanitas“, 1603, New York, Metropolitan Museum of Art, 82,6 × 54 cm; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Jacob_de_Gheyn_-_Vanitas.JPG. Siehe: Christian Klemm, „‚Mors ultima linea rerum‘. Vorgeschichte und Grundlegung der Totenkopf-Vanitas“, in: Ausstellungskatalog Pieter Claesz. Stilleben. Kunsthaus Zürich, Zwolle (Waanders Verlag) 2005, S. 70–90.

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ebenso wie von der heilsgeschichtlichen, christlich-allegorischen Zuordnung einiger dieser Objekte führt der Weg auf gleichsam dialektische Weise hin zu einer spezifisch künstlerischen Sinnfrage: Was bedeuten die Gegenstände im Bild und als Malerei? Waren seit der Antike immer wieder vereinzelte Gegenstände im dekorativen Zusammenhang eines Mosaiks oder einer Wandmalerei aufgetaucht, so stellt sich nun die Frage nach ihrem Sinn radikal anti-dekorativ hinsichtlich ihrer Isolierung im Bild, ihrer Qualifizierung als Malerei, ihrem Status als Kunst. Die Bedeutung des Bildes ändert sich hierbei ebenso wie diejenige der Gegenstände. Bei Claesz gehen die Gegenstände zunehmend in ihren Erscheinungsweisen sich vielfach spiegelnder Lichtreflexe ebenso auf wie in ihrer Bildfunktion. Es gibt keine klaren Trennungen mehr zwischen Materialität und Erscheinung, Erscheinung und Form, Form und Betrachtung. Die Qualitäten der einzelnen Gegenstände, Materialien wie Konsistenzen, bleiben zwar erhalten, sie sind nun aber dem relationalen Zusammenhang untergeordnet. Der rationale Rahmen des Bildes wird als Einheit eines relationalen Feldes selbst zum entscheidenden Bedeutungsträger. Daher geht es in diesen Bildern weder um die reine Zurichtung von Mahlzeiten zum Verzehr noch um die offenkundige Symbolik der Vanitas, sondern um das, was das analytische Bild als Malerei und schließlich als Kunst zu symbolisieren in der Lage ist. In den ersten Stillleben aus den 1620er-Jahren dominieren noch die Versuche, im großen Format sinnhafte Konstellationen von Gegenständen in der Tradition der Allegorien des 16. Jahrhunderts herzustellen. Die fünf Sinne oder die freien und die schönen Künste werden im Zusammenhang mit der Vanitas-Thematik in höchst komplexen Konstellationen und Kompositionen präsentiert.63 Auch fehlen die reflexiven Momente nicht, wie der Spiegel in der Bildmitte des Pariser Bildes oder der Vorhang im Bildhintergrund des Dresdener Bildes, bei dem unklar bleibt, ob er eine reale, nur am linken Bildrand knapp sichtbar werdende Genreszene verdeckt oder ob er selbst ein gemaltes Bild darstellt. Gegenüber Beert und Peters und ihrer Haarlemer Nachfolge wird der Blickpunkt in allen diesen Bildern niedriger angesetzt. 63 Pieter Claesz, „Tafel mit Rauchutensilien und Musikinstrumenten (Allegorie der fünf Sinne)“, 1623, Paris, Louvre, 69 × 122 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Claesz.,_ Pieter_-_Still_Life_with_Musical_Instruments_-_1623.jpg. Pieter Claesz, „Vanitas-Stillleben mit Meerschnecken und Goldpokal, 1624. Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, 65 × 55,5 cm. https://skd-online-collection.skd.museum/ Details/Index/243246. Pieter Claesz, „Reiche Tafel mit Truthahnpastete“ 1627. Amsterdam, Rijksmuseum, 75 × 132 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.collect.8143. Pieter Claesz, „Vanitas-Stillleben mit Spinario“, 1628, Amsterdam, Rijksmuseum, 71,5 × 80,5 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.8144.

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Somit wird der Tisch flacher; meist kommt eine weiße Tischdecke hinzu, auf der sich die präsentierten Gegenstände besonders effektvoll abheben. Immer noch gibt es das Nebeneinander der einzelnen Elemente; es finden aber zunehmend Berührungen und leichte Überschneidungen statt. Die Anordnungsweisen verkomplizieren sich bei einer Betonung geradezu klassischer Kompositionsweisen. Entscheidendes gelingt Claesz allerdings erst ab 1625 in der deutlichen Reduzierung von Format und gegenständlicher Fülle. In der Kunstgeschichte wird dieser neue Akzent meist als ein Übergang zu einer stimmungsvollen und atmosphärischen Darstellungsweise beschrieben, die Hand in Hand geht mit einer zunehmenden, bis hin zur Monochromie reichenden Tonalität in der Farbgebung und einer freieren Malweise. Dies ist alles richtig und doch nicht hinreichend, um jenes äußerst kompakte Bildverständnis zu erfassen, das sich in den Bildern der 1630er-Jahre zeigt und in dem das analytische Bild seinen ersten Höhepunkt findet. Das „Vanitas-Stillleben“ im Frans Hals Museum in Haarlem von 162564 wird von Christian Klemm nicht zu Unrecht als die „Inkunabel der Gattung“65 bezeichnet. Der Totenkopf fungiert hier nicht mehr als rein allegorisches Zeichen, sondern als ein konkretes, malerisch mit großer Raffinesse wiedergegebenes Objekt, wodurch seine besondere Materialität und geradezu „lebendige“ Erscheinungsweise in den Vordergrund treten. Auf einer nackten Tischplatte wird er einem Messingleuchter mit gerade noch brennender Flamme gegenübergestellt, während sich zwischen diesen beiden dominanten Objekten eine bereits gepflückte, aber noch in voller Pracht sich öffnende Anemone, eine Taschenuhr, eine aufgebrochene Walnuss und ein Brief samt Schreibfeder ausbreiten. Vergänglichkeit ist hier zweifellos das Thema, und zwar in aller Deutlichkeit und ohne symbolischen Hintersinn. Es fehlt jede heilsgeschichtliche Referenz. Ganz im Gegenteil scheinen sich die Kerze in Wachs und der Schädel in eine Art von geformter Erde zu verwandeln. Nicht der Augenblick des Endes allen Irdischen ist gekommen, sondern bloß der Augenblick einer beständigen Transformation zwischen unterschiedlichen Stadien einer natürlichen Prozessualität. Bleibt in diesem Bild noch eine Differenz zwischen dem Licht der Kerze und dem allgemeinen Bildlicht, das auch den Schädel erleuchtet, erhalten, so ändert sich dies im „Bücherstillleben mit brennender Kerze“.66 Hier 64 Pieter Claesz, „Vanitas-Stillleben“, 1625, Haarlem, Frans Hals Museum, 29,5 × 34,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_Claeszoon-_Vanitas_-_Still_Life_(1625,_29,5_×_ 34,5_cm).JPG. 65 Christian Klemm, 2005 (Anm. 62), S. 84. 66 Pieter Claesz, „Bücherstillleben mit brennender Kerze“, 1627, Den Haag, Mauritshuis, 26,1 × 37,3 cm. https://www.mauritshuis.nl/en/explore/the-collection/artworks/still-lifewith-lighted-candle-947/detailgegevens/.

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verschwinden auch die Vergänglichkeitsreferenzen, und die Brille auf dem an der vorderen Tischkante gelegenen, aufgeschlagenen Buch deutet bloß eine Unterbrechung des Lesens an – worin auch immer diese Unterbrechung bestehen mag. Durch die Verdichtung des Lichteffekts entsteht eine große Intimität, wobei der Hintergrund im Dunkel verschwindet. Die Dinge sind in deutlichen Konturen und ohne Verfallserscheinungen wiedergegeben; auf dem nun deutlich flacheren Tisch ordnen sie sich zu einander kreuzenden Diagonalen, kulminierend im weingefüllten, leicht aus der Bildmitte gerückten Römer, in dem sich die Kerze in der doppelten Spiegelung von Glas und Wein bricht. Auch hier scheint es nicht um den unmittelbaren Gebrauch der Dinge zu gehen, sondern um eine Art von „Zuhandenheit“67 in einem besonderen Augenblick, oder vielleicht besser um die Betrachtung einer solchen Zuhandenheit im Moment ihrer Unterbrechung. Denn als Betrachtende sitzen wir mit am Tisch; wir vertreten gleichsam die Person, die hier eben noch gelesen hat, und meditieren zwar nicht die Vergänglichkeit alles Irdischen, so doch die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen, wie sie sich im Akt des Sehens selbst zeigen: in der Flüchtigkeit von Kerzenlicht und Spiegelung, in der Dauer des Trinkens und des Lesens, und schließlich in der Stabilität der Bücher, der metallischen Gegenstände und des Glases. Im New Yorker Totenkopf-Stillleben68 hellt sich die Szenerie wieder etwas auf; die diagonale Anordnungsweise, nun mit dem Schädel im Bildzentrum, der mit seinen restlichen Zähnen auf Buch und Heft aufsitzt, wird jedoch aus dem Kerzenlicht-Stillleben übernommen. Der Römer steckt direkt mit seinem Fuß in der Seite des Schädels und fällt nach rechts vorne, wobei sich das Glas zur Schauseite des Bildes hin öffnet und sein Volumen ein vielfältiges Wechselspiel an Reflexionen anbietet. Auf der linken Bildseite am hinteren Bildrand überlagert das Heft die eben erloschene Öllampe, aus der noch eine Rauchspur aufzieht. Links vorne liegen ein Tintenfass und ein Lederetui, auf dem die Spitze der Schreibfeder ruht, deren weiße Feder bis zur Seite des Schädels und dem Römer reicht, in dem sie sich spiegelt. Diagonalen, Überschneidungen und direkte Berührungen zwischen den Gegenständen dominieren hier den Bildeindruck. Der scheinbaren Zufälligkeit, mit der die Dinge präsentiert werden, steht ihre äußerst genaue Konstruktion im Bild gegenüber. Der Augenblick der Vergänglichkeit ist also im Bild wahrlich festgehalten. In 67 Heidegger spricht im Kunstwerk-Aufsatz von der Zuhandenheit des Zeugs gegenüber dem reinen Ding und dem Werk. Siehe: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart (Reclam) 1986, insbesondere Kapitel 2: Das Zeug. 68 Pieter Claesz, „Vanitas-Stillleben mit Totenschädel, Schreibzeug, Buch, Heft, Römer und Öllampe“, 1628, New York, Metropolitan Museum, 24, 1 × 35,9 cm. https://www. metmuseum.org/art/collection/search/435904.

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seiner formal-inhaltlichen Spannung bzw. Verspanntheit ermöglicht das Bild die Dialektik einer solchen Dauer des Vergänglichen. Im Nürnberger Bild aus demselben Jahr69 werden alle Elemente der Bilder der 1620er-Jahre noch einmal im großen reflexiven Gestus zusammengeführt. Der Schädel rückt rechts in den Hintergrund, der Römer fällt diesmal direkt vom Heft nach rechts vorne. Das Zentrum des Bildes wird von einer großen flämischen Geige samt Bogen beherrscht, die auf Büchern und Heften ruht und eine starke Bilddiagonale markiert. Hinzu kommen die geöffnete Taschenuhr, eine Schreibfeder mit Tintenfass, die Öllampe und die aufgebrochene Walnuss. Entscheidendes Motiv ist jedoch die große Glaskugel auf der linken Seite des Tisches, in der sich nicht nur die Gegenstände, sondern das gesamte Atelier und der Maler selbst spiegeln. Die Allegorie der Vergänglichkeit transformiert sich hier vollends in eine Allegorie der Malerei, die der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens Bilder einer anderen Art von Dauer entnimmt und schließlich das Atelier selbst als „Welt“ präsentiert. Das paragonale Element ist unübersehbar: Während die Musik der Vergänglichkeit zugeordnet ist, reflektiert die Malerei diese, indem sie in Anlehnung an das Schwellenbild des 15. Jahrhunderts die Gegenstände im räumlichen „Kontext“ eines Bildes aufgehen lässt. Dabei transformiert sich das Tableau zum mentalen Rahmen, dem analytischen Bild, durch das hindurch Gegenständlichkeit und Materialität, Zuhandenheit und Zeit reflektiert werden können. Im wenig später entstandenen „Stillleben mit drei Zitronen, venezianischem Glaspokal und Römer“ von 1629,70 sind sowohl die allegorischen als auch die reflexiven Dimensionen weitgehend verschwunden. Erstmals tritt uns hier der fast vollkommen gleichförmig gemalte, wie aus sich selbst heraus leuchtende, matt-hellbraune Hintergrund entgegen, der fast zwei Drittel der Bildfläche einnimmt und zum dominanten Bildfaktor wird. Die Tischplatte ist hier sehr flach und in einem ähnlichen Farbton, allerdings mit härterer Materialkonsistenz, wiedergegeben. Die Gegenstände sind wiederum in einander überkreuzenden Diagonalen und weitgehend hintereinander angeordnet, wobei nur der stehende Römer über die hintere Tischkante hinaus in die obere Bildhälfte reicht. Zwei Gläser, ein Messer und eine lederne Messerscheide, 69

Pieter Claesz, „Vanitas-Stillleben mit Geige und Glaskugel“, 1628, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 35,9 × 59 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Claesz,_ Pieter_-_Vanitas-Stilleben_mit_Selbstbildnis_-_Germanisches_Nationalmuseum_ Nürnberg_-_1628.jpg. 70 Pieter Claesz, „Stillleben mit drei Zitronen, venezianischem Glaspokal und Römer“, 1629, Privatbesitz, als Leihgabe in New York, Metropolitan Museum of Art, 44,5 × 61 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fe/Pieter_Claesz_-_Still_Life_with_ Lemons_and_Olives_105N10007_936CQ.jpg.

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zwei Zinnteller, schließlich drei Zitronen und vier Oliven rhythmisieren das Geschehen. Das Licht sammelt sich im Römer, und die gelbe Farbe der mittleren Zitrone setzt genau in der Mitte der vordersten Bild-Zone den kräftigsten Farbakzent. Um sie herum entfaltet sich ein höchst komplexes Spiel von formalen Entsprechungen – zwischen Oliven und Zitronen, den Noppen des Römers und den Ausbuchtungen der Zitronen – und Entgegensetzungen, etwa zwischen dem Scharfen und dem Runden, natürlicher und künstlicher Form, metallischer, gläserner und fruchtiger Haptik. Die forcierte und in sich differenzierte Relationalität aller Teile zueinander stellt das eigentliche Bildthema dar, jeweils bezogen auf das Bildganze. Weder der allegorische Bedeutungsgehalt der Gegenstände ist entscheidend noch deren konkrete Benutzbarkeit, sondern einzig ihre Funktion im Bild. Es kommt zu einer Balance von Materialitäten und Qualitäten, Volumen und Massen, Fülle und Leere, Fläche und Tiefe, vertikaler, horizontaler und diagonaler Form. Zweifellos haben wir es hier mit einer zugespitzten Formalisierung zu tun, einer Formalisierung, die die moderne Idee der Abstraktion nicht vorwegnimmt, sie jedoch in Form eines besonderen Bildverständnisses überhaupt erst denkbar macht. Dieses Bildverständnis beschreibt die empirische Welt nicht nur, sondern durchdringt sie auf höchst analytische Weise. Es ruft den Akt eines rezeptiven Sehens auf, das nicht einfach sinnliche Qualitäten registriert, sondern diese in ihrer kategorischen Verhältnismäßigkeit zu erfassen versucht. Denn die Dinge werden von Pieter Claesz weder vereinzelt in ihrer wissenschaftlichen oder ökonomischen Objektivität wiedergegeben noch in ein mythisch-allegorisches Sinnganzes eingebettet; sie werden vielmehr als spezifisch künstlerische Konstellation aufbereitet und als Bild zu Erkundung und Erforschung angeboten.71 Die Malerei wird hierbei selbst zum dominanten symbolischen Sinnhorizont. Im Laufe der 1630er-Jahre variiert Claesz dieses formale Prinzip in einer Reihe weiterer Bilder.72 Stets stehen einander liegende und stehende Gegenstände, geöffnete, aufgebrochene oder aufgeschnittene Zustände und geschlossene 71

Die Differenz zu Albertis Idee der Komposition ist augenscheinlich: nicht die lebendigen Körper werden auf der Bühne der historia zueinander in Beziehung gesetzt; vielmehr geht es um die Relationen der ‚toten‘ Gegenstände zueinander in Bezug auf das Bildganze. Hier wird die Diskussion um Komposition in der französischen Akademie deutlich vorweg genommen. Siehe: Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition: Theories of Visual Order in Painting, 1400–1800, New Haven, Ct. (Yale University Press), 2000. 72 Pieter Claesz, „Großer Berkemeyer mit liegendem Silberbecher und goldener Taschenuhr“ um 1632, Zürich, Kunsthaus, 36 × 46,5 cm. https://mplus.kunsthaus.ch/ MpWeb-mpZuerichKunsthaus/v?mode=online&l=de. Pieter Claesz, „Stillleben mit Römer und einer Silberschale (Tazza)“, um 1635, Berlin, Gemäldegalerie, 42 × 59 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Claesz_ Stillleben_m_R%C3%B6mer.JPG.

Abb. 25 Pieter Saenredam, „Der Chor von St. Bavo in Haarlem mit imaginärem Bischofsgrab“, 1630, Paris (Louvre), 41 × 37 cm.

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Formen gegenüber. Im Zürcher Bild werden die wechselseitigen Reflexe und Spiegelungen zwischen dem kräftigen Glas des Römers, einem Silberbecher, zwei Zinktellern und einer goldenen Taschenuhr auf ein einziges metallisches Schimmern als dem hervorstechenden Bildthema hin konzentriert. Nur einige Eicheln und der Wein bewahren noch eine Art von Erinnerung an lebendige Substanzen. Der Silberbecher scheint so auf den Tisch gefallen zu sein, dass seine Öffnung fast in der Bildmitte zu liegen kommt und den Blick in das tiefdunkle Innere des Bechers freigibt, wodurch – auf die Bildfläche bezogen – sich an ein Loch im Bild selbst denken lässt. Die Transformation der Vanitas in ein rein malerisches Geschehen scheint hier tatsächlich vollzogen zu sein. Das Berliner Bild spitzt vor allem die „gestaltpsychologischen“ Dimensionen dieser Form- und Bildprinzipien zu. (Abb. 24) Nicht nur überlagern sich hier die diagonalen Anordnungsweisen lebender und toter Gegenstände – Nüsse, Fischrogen, Muscheln und eine einzige Olive auf der einen Seite, der Römer, zwei Zinkteller, eine Silbertazza und ein Messer auf der anderen –, ebenso spiegeln sich die unterschiedlichen metallischen Reflexe ineinander, wobei die Olive genau die Stelle markiert, an der das Silber der Tazza auf das Zink des Tellers trifft. Besonders akzentuiert wird jedoch das Spiel elliptischer Großformen, die fast durchgehend runde Gegenstände darstellen. Das heißt, die Differenz zwischen dem elliptischen Seheindruck und dem Wissen um die tatsächlich runde Form muss fortwährend rational vermittelt werden. Gleichzeitig wird eine Spannung zwischen diesen Großformen und einer geradezu besessenen Detailgenauigkeit im Fischrogen, in der Ornamentik der Tazza und in den Lichtreflexen aufgebaut. Hinzu kommt schließlich, dass der, über die vordere Tischkante geschobene Zinkteller in den Raum vor dem Bild zu reichen scheint, während die Tazza nach hinten fällt und ihre eigentliche Schauseite nur vom Hintergrund aus zu erkennen wäre. Der Raum der Betrachtung ist daher vom Bild bereits mitkonzipiert; das Bild denkt den Raum seiner Betrachtung als einen mentalen Rahmen, der es selbst umfasst. Auch hier haben wir es nicht mit einer rein innerbildlichen Formalisierung zu tun, sondern bereits mit einer Art von installativen Konstellation.73 73 Inhaltliche Bestimmungen müssen hierbei allerdings nicht vollständig entfallen. Vor allem das Rotterdamer Bild indiziert in seiner formalen Reduktion auch eine inhaltliche Aufladung. Hier werden mit Brötchen, Bier und Hering keineswegs unschuldige Gegenstände eines alltäglichen Frühstücks gereicht; Brot und Hering wurden der ausgehungerten Bevölkerung Leidens nach der langen Belagerung durch die spanischen Truppen als eine erste Mahlzeit dargeboten. Diese Speisung der Ausgehungerten ist auf einem frühen Bild von Otto van Veen zu sehen. Hier gründet sich ein nationaler Mythos; wir haben es mit einer Art von politischer Eucharistie zu tun. Pieter Claesz, „Stillleben mit einem Glas Bier und einem geräucherten Hering“, 1636, Rotterdam, Museum Boijmans

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Pieter Saenredam (1557–1665) galt lange Zeit als der Maler eines calvi­ nistischen Imaginären. Die weißgewaschenen Kircheninterieurs in ihren beigen und pudrigen Tönungen scheinen das Ideal der reformierten Kirche zu verkörpern und diesem eine besondere ästhetische Dimension zu verleihen.74 Roland Barthes hat darin sogar einen Maler des Absurden am Werk gesehen, der eine moderne Ästhetik der Stille entwickelt habe. Diese Stille zeige die metaphysische Leere der calvinistisch-kapitalistischen Welt an, in der nur mehr der Mensch und sein „Reich der Dinge“ übrig geblieben seien.75 Nichts könnte freilich verfehlter sein. Die Forschung konnte zeigen, wie vielschichtig die inhaltlichen Referenzen dieser Bilder und wie sehr sie von katholischen Motiven geradezu durchzogen sind. Doch auch diese Deutungen, die neben der Motivik vor allem an der besonderen technisch-mathematischen Methode der perspektivischen Wiedergabe ansetzen, verfehlen die entscheidende Leistung Saenredams. Zweifellos hat Saenredam als einer der ersten Maler komplizierte Messungen an den von ihm gemalten Gebäuden vorgenommen und diese konstruktiv in seine malerische Herangehensweise eingearbeitet. Er war jedoch kein Experimentator einer Wissenschaft des Visuellen im selben Sinn wie etwas später die Delfter Maler.76 Die Abweichungen von den perspektivischen Zeichnungen vor Ort und den systematischen Messungen sind meist erheblich, wenn das jeweilige Bild oft Jahre später ausgeführt wird. Saenredams Bilder sind nicht als Dokumente bedeutsam, obwohl sie am Dokumentarischen ansetzen, sondern in erster Linie hinsichtlich ihrer Idee von Malerei. In den kunsthistorischen Deutungen kommt zu kurz, dass die Entscheidung von 1628, sich nur einem einzigen Genre zu widmen, eine Entscheidung für eine bestimmte Form, Auffassung und Idee des Bildes als Malerei ist. Erst diese starke Bild-Idee erlaubt die Super-Spezialisierung auf ein Thema, das sich in der Wiederholung erst zum Genre ausbildet, die scheinbare Entleerung der Bildgegenstände sowie die formale und farbliche Reduktion. Entscheidend ist auch hier, dass Saenredam – von wenigen Ausnahmen abgesehen und in deutlichem Gegensatz zu den früheren Architektur-Malern,

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van Beuningen, 36 × 49 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_Claesz_003.jpg Otto van Veen, „Die Ausgabe von Brot und Hering nach der Belagerung von Leiden“, 1574, Amsterdam, Rijksmuseum, 40 × 60 cm. https://www.rijksmuseum.nl/nl/collectie/ SK-A-3911. Zur Schönheit der weißen Wand haben sich mehrere reformatorische Autoren geäußert. Ein schönes Zitat von Zwingli findet sich bei Victor I. Stoichita, 1998 (Anm. 33), S. 112: „Die Wänd sind hüpsch wyss“. Roland Barthes, 1972 (Anm. 25), S. 3. siehe: Gary Schwartz, Marten Jan Bok, Pieter Saenredam: The Painter and his Time, New York (Abbeville Press) 1990, insbesondere S.  79–82. Dort auch die ältere Literatur zur Debatte.

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die vor allem in Antwerpen tätig waren77 – die Perspektive nicht im Sinne der Konstruktion eines Bühnenraums einsetzt, auf dem ein heroisches Geschehen stattfinden kann. Vielmehr wird hier der Raum selbst gleichermaßen zum Gegenstand und zum Akteur, zum bestimmenden Moment jedes menschlichen Tuns. Wenn Saenredam immer wieder existierende, gotische und z.T. spätromanische Kirchen, insbesondere die großen niederländischen Kathedralen in Haarlem und Utrecht, aber auch Kirchen in ’s-Hertogenbosch, Alkmaar und Assendelft malt, so nicht im Sinne eines Prospekts, auf dem die freie Entfaltung menschlicher Handlungen ablaufen könnte. Es geht vielmehr um deren architektonisch-räumliche, institutionelle und schließlich historischsoziale Situierung. Keineswegs ist hier also eine metaphysische Leere zu sehen, sondern ganz im Gegenteil eine Fülle von Faktoren, die in ihrem Wechselspiel die kategorische Bedingtheit jedes Handelns thematisieren. Diese Bedingtheit kann wiederum nur mit den spezifischen Mitteln einer Malerei als Kunst erfasst werden, und zwar in Form einer systematischen Relationierung ihrer grundlegenden Elemente. Die formalen Relationen betreffen in erster Linie das Verhältnis zwi­ schen der realen Architektur und dem imaginierten Bildraum, zwischen perspektivisch-räumlicher Konstruktion und flächiger Organisation, zwischen architektonischer Struktur und ornamentalen Elementen, zwischen dem Standpunkt der Betrachtung im Bild und vor dem Bild.78 Hinzu kommen die Größenverhältnisse zwischen der Architektur und den Menschen, die sich in ihr aufhalten, aber auch die subtile Handhabung unterschiedlicher Lichtmilieus und die farbliche Differenzierung. Inhaltlich entscheidend ist, dass die symbolische Inversion, die sich bereits bei Rogier van der Weyden angedeutet hatte, nun vollzogen ist: Das Bild schmückt nicht mehr die Kirche; vielmehr ist die Kirche der nun alles dominierende Gegenstand der Malerei im Bild. Als Bildgegenstand stellt die Kirche einen historischen, ebenso architektonisch wie institutionell gefassten Raum dar, der wiederum nur in Ausschnitten, das heißt letztlich situativ erfasst werden kann. Saenredam malt keine Kirchenruinen, wie sie im 16. Jahrhundert im Kontext der reformatorischen Kritik populär geworden waren;79 dennoch zeigt sich in seinen Bildern ein klares historisches Bewusstsein hinsichtlich der Vergangenheit 77 Etwa Hans Vredeman de Vries und Hendrick van Steenwyck d. J. 78 Bei einem Bild ist der Augenpunkt so eingesetzt, dass man einen Betrachter vor der Kirche annehmen müsste, der durch die Außenmauern hindurch zu sehen in der Lage wäre. Siehe: Gary Schwartz, Marten Jan Bok, 1990 (Anm. 76), S. 80. 79 Siehe: Koenraad Jonckheere, Antwerp Art After Iconoclasm. Experiments in Decorum, 1566–1585, New Haven, London (Yale University Press), 2012, S. 228–261.

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der prächtigen, mittelalterlichen Kirchenbauten.80 Deren phantasmatische „Größe“ scheint sich in ihrer strukturell-tektonischen Qualität gerade durch ihre ikonoklastische Reinigung, in der konsequenten Ent-Funktionalisierung und Ent-Symbolisierung im Zuge ihrer Reformierung, erst eigentlich zu enthüllen. Zu sehen ist die Vergangenheit in ihrer gegenwärtigen Gestalt. Hinzu kommen immer wieder phantastische Elemente, wie etwa ein Bischofsgrab oder eine rituelle Handlung, die nichts mit der aktuellen Ausgestaltung und Funktion der Kirche zu tun haben. Das heißt, Vergangenheit und Gegenwart oszillieren in diesen Bildern ebenso wie Realität und Phantasie oder Calvinismus und Katholizismus. Das Bild kann gleichsam als Schnitt durch diese vielfältigen formalen wie inhaltlichen Verhältnisse verstanden werden. Es fungiert als mentaler Bezugsrahmen, durch den deren Bedeutungsspektrum analytisch differenziert und in seinen historischen, religiösen, ästhetischen und letztlich existenziellen Dimensionen erschlossen werden kann. Eines der frühesten Bilder, heute in Philadelphia,81 hat durchaus noch etwas von einer perspektivischen Bühne. Prächtig gekleidete Bürger und Bürgerinnen schreiten durch das Hauptschiff der St. Bavo-Kirche in Haarlem direkt auf die Betrachtenden zu. Sie schauen sich um und verweisen einander auf einzelne Details. Im linken Seitenschiff sehen sich zwei Männer ein frühgotisches Kapitel an, und im Mittelschiff lenkt ein Mann die Aufmerksamkeit seiner Frau auf ein im rechten Seitenschiff hängendes Gemälde, ein Architekturbild wohl aus dem 15. Jahrhundert.82 Sie alle sind eindeutig nicht als Gläubige, sondern als Besucher dargestellt, die sich die Kirche ansehen und sich hierbei auch selbst zur Schau stellen. Der monumentale Kirchenbau ist in ein fast gleichmäßiges Licht getaucht; die hellen Grauwerte variieren nur in wenigen Schattierungen. Einzig das Gewölbe ist durch einen hellen Braunton deutlich vom Rest der Architektur abgehoben, und in den Bodenplatten wechseln einander die Braun- und die Grautöne ab. Der Augenpunkt liegt tief, nur wenig über den promenierenden Bürgern, und erlaubt den Betrachtenden derart, die Ausmaße des Kirchenraums gut zu erfassen. Doch keines der weiteren Bilder führt diesen bühnenhaften Aspekt weiter aus. Vielmehr werden nun die einzelnen Architekturteile rhythmisch 80 81

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Und nicht ihrer Aktualität wie bei Rogier van der Weyden. Siehe Kapitel 3 (Das Bild als Schwelle). Pieter Saenredam, „Interieur von St. Bavo in Haarlem“ („Nave of the St. Bavokerk, Haarlem, from west to east, with promenading burghers“), ca. 1628–1631, Philadelphia (Philadelphia Museum of Art), 82,9 × 110,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/37/ Pieter_Jansz._Saenredam%2C_Dutch_%28active_Haarlem_and_Utrecht%29_-_Interior_ of_Saint_Bavo%2C_Haarlem_-_Google_Art_Project.jpg. Gary Schwartz, Marten Jan Bok, 1990 (Anm. 76), S. 66.

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gegeneinander und ins Verhältnis zur Bildfläche gesetzt. Das im Jahr 1630 gemalte Bild im Louvre83 (Abb. 25) lässt in seiner oberen Bildhälfte bereits Wandfläche und Bildfläche miteinander korrelieren, während in der unteren Bildhälfte die perspektivischen Fluchtlinien der Bodengestaltung dominieren und den Blick durch die Spitzbögen hindurch in die Seitenschiffe im Bildhintergrund führen. Von dort fällt ein starkes Sonnenlicht nach vorne, dessen Schatten mit den perspektivischen Linien des Bodens übereinstimmen. Das Bild ist perspektivisch so konstruiert, dass man als Betrachter ganz am rechten Bildrand situiert ist und somit selbst eine sehr subjektive, dem Gegenlicht ausgesetzte Position einnimmt. Wie als Gegenpol hierzu ist die linke vordere Bildseite gänzlich von dem fiktionalen, monumental-skulpturalen Grab eines betenden Bischofs beherrscht.84 Zwischen den Figuren im Bildhintergrund und in der Galerie, die die obere, flächige Bildzone durchbricht, der Grabskulptur und der Betrachtungsposition ergibt sich ein Netzwerk an Beziehungen, deren besondere Spannung zwischen Sehen und Gesehen- Werden liegt, denn vor allem die Figuren in der Galerie können auch die Betrachtenden sehen. Dieses Netzwerk an Beziehungen wird durch die Spannung zwischen der oberen, flächigen und der unteren, räumlichen Bildhälfte ebenso überlagert wie es zwischen den verschiedenen Lichtmilieus in den einzelnen Kirchenschiffen eingespannt bleibt. In den Bildern der 1630er-Jahre spitzen sich diese konstitutiven Verschränkungen räumlicher und flächiger, inhaltlicher und formaler, repräsen­ tierender und reflexiver, realistischer und imaginativer Momente noch weiter zu. Gleichzeitig kommt es zu einer weiteren Vereinheitlichung der Bildidee durch eine strenge, auf das jeweilige Format hin abgestimmte formale Fassung. Im Unterschied zu den vor Ort gefertigten Zeichnungen sieht man vor allem im Berliner Bild,85 wie wenig hier an einer rein deskriptiven Wiedergabe gearbeitet, sondern wie mit dem Bild und als Bild gedacht wird. Zu sehen ist ein Blick in den Chorumgang von St. Bavo, wobei der leicht aus der Bildmitte gerückte Eingangsbogen eine Art von innerbildlicher Rahmung des hochformatigen 83 Pieter Saenredam, „Der Chor von St. Bavo in Haarlem mit imaginärem Bischofsgrab“, 1630, Paris (Louvre), 41 × 37 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ a1/Pieter_Jansz._Saenredam_-_Interior_of_the_Church_of_St_Bavo_at_Haarlem_-_ WGA20623.jpg. 84 Es gab überhaupt nur zwei Bischöfe in Haarlem, und seit die Kirche im Jahr 1578 reformiert wurde natürlich keinen mehr. Ein solches aufwendiges Bischofsgrab hätte den Bildersturm zweifellos nicht überstanden. 85 Pieter Saenredam, „Blick in den Chorumgang von St. Bavo in Haarlem“, 1635, Berlin Gemäldegalerie, 48,2 × 37,1 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Jansz._ Saenredam_006.jpg?uselang=de.

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Bildes darstellt. Links führen die Pfeiler steil in die Bildtiefe, während sie auf der rechten Seite mehr in der Breite bis hin zur Bildmitte gestaffelt sind, bevor sie dann, von einer Orgel unterbrochen, im Bildhintergrund in den Umgang des Chors nach links einschwingen. Die winzigen Figuren – eine Darbringung im Tempel – bewegen sich horizontal in Richtung des Ausgangs auf der rechten Seite, und vom Gewölbe an langen Seilen abhängende Kerzenleuchter betonen den vertikalen Akzent und die feine Balance der Komposition insgesamt. Das Gewölbe selbst ist jedoch der eigentliche Hauptdarsteller. Während die Pfeiler und die gesamte untere Bildhälfte in ein sanftes und gleichmäßiges Licht getaucht sind, und die Farben nur geringfügig zwischen weiß, grau und gelb variieren, dramatisiert sich das Geschehen im Gewölbe auf eine fast kubistisch anmutende Weise. Das Ineinander-Greifen der einzelnen Gewölbebögen wird durch die starken Lichtkontraste hervorgehoben, wobei die einzelnen Zwickel und Bänder wie selbstständige Einheiten erscheinen. Nicht mehr ihre architektonische Funktion steht im Vordergrund, sondern ihre Funktion im Bild. Eine vergleichbare Dramatik umfasst das gesamte Amsterdamer Bild.86 Hier sehen wir aus dem südlichen Chorumgang durch zwei mächtige runde Pfeiler hindurch in den eigentlichen Chor, auf dessen Nordwand eine gewaltige Orgel prangt. Im nördlichen Chorumgang dahinter wird über einem Kapellenzugang noch eine weitere, kleinere Orgel sichtbar. Der Betrachtungsstandpunkt ist sehr subjektiv markiert, indem wiederum die innerbildliche Rahmung durch die Pfeiler aus der Bildmitte verschoben und gleichzeitig räumlich leicht versetzt ist. Hinzu kommt ein starker Lichtkontrast – man sieht aus dem dunklen Umgang in den hellen Chor; auch signalisiert eine auf dem Sockel des linken Pfeilers direkt am vorderen Bildrand sitzende Figurengruppe – eine Frau mit zwei Kindern – bereits eine gewisse Nähe zu den Betrachtenden. Mehrere Blickrichtungen sind hier möglich, entscheidend ist jedoch der Blick durch den Chor hindurch nach oben auf die große Orgel zu, deren Abdeckung geöffnet ist und die, wie der Seitenflügel eines katholischen Altars, das spätmittelalterliche Bild einer Auferstehung Christi zeigt. Die Orgel selbst war von den calvinistischen Predigern massiv abgelehnt worden. Als städtisches Eigentum wurde sie jedoch immer wieder von den Bürgern verteidigt. Sie durfte jedenfalls nur außerhalb der Messen gespielt werden, und kündigt somit ein bereits weitgehend säkulares ‚Vergnügen‘ an. Darüber hinaus muss 86 Pieter Saenredam, „Innenansicht der St. Bavo-Kirche in Haarlem mit Blick auf die Orgel“, 1636, Amsterdam, Rijksmuseum, 93,7 × 55,2 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Pieter_Jansz_Saenredam_-_Interieur_van_de_Grote_of_Sint_Bavokerk_te_Haarlem.jpg.

Abb. 26 Willem Buytewech, „Fröhliche Gesellschaft“, 1617–1620, Rotterdam, Museums Boijmans van Beuningen, 49,3 × 68 cm.

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es zweifellos als äußerst gewagt gegolten haben, ein, wenn auch historisches Bild innerhalb einer reformierten Kirche zu zeigen.87 Im Utrechter Bild88 wird Saenredam sogar das calvinistische Sakrileg einer direkten Bildanbetung malen, wiederum unter fiktiven Vorzeichen und beobachtet aus gleichsam sicherer Distanz. Von calvinistischen Programmbildern kann also keineswegs die Rede sein. Vielmehr wird hier die malerische Erschließung von äußerst umstrittenen Themen vorgeführt. Die Beobachtung selbst kann hierbei von keinem objektiven Standpunkt aus geschehen; sie wird selbst zum Thema. Das Amsterdamer Gemälde bringt einen architektonisch gerahmten Durchblick und ein Bild im Bild in unmittelbaren Zusammenhang; es inszeniert sich als ein situierter Blick auf ein Bild, das es an dieser Stelle eigentlich nicht geben dürfte. In solch vielfach vermittelter, relationaler Form gelingt es der Malerei Saenredams, inhaltlich einander widerstreitende Auffassungen in formale und strukturelle Verhältnisse umzusetzen, ohne diese mehr antagonistisch zuzuspitzen. 5.4.

Zustand, Situation, Handlung: Die Analytik des Sozialen. Von Haarlem nach Amsterdam

Roland Barthes hatte, wie zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnt, nicht nur die metaphysische Leere der holländischen Malerei beklagt, sondern auch eine Art von biopolitischer Zurichtung, die in den Porträts feister Bürger zutage trete, und der die entmenschten Fratzen der bäuerlichen Massen gegenüber stünden. Er sah hier zwei grundsätzlich verschiedene Anthropologien am Werk, fein säuberlich voneinander abgetrennt wie die zoologischen Klassifikationen eines Linnaeus.89 Biologische und soziale Klasse schienen sich zu überlagern und den spezifischen, vom Industriekapitalismus hervorgebrachten Klassenkonflikt des 19. Jahrhunderts bereits deutlich vorwegzunehmen. Tatsächlich lassen sich viele Bilder im Sinne einer besonderen Aufmerksamkeit für Klassenunterschiede lesen,90 allerdings wohl kaum im Sinne einer eindeutigen Polarisierung bzw. einer Entwicklung darauf hin. Bereits die 87

Zum möglichen Auftraggeber und der Geschichte der Renovierung der Orgel siehe: Gary Schwartz, Marten Jan Bok, 1990 (Anm. 76), S. 124–128. 88 Pieter Saenredam, „Chapel in the north aisle of the St. Laurentskerk, Alkmaar, with a man kneeling in prayer before a fictive Catholic altar“, 1635, Utrecht, Rijksmuseum Het Catharijneconvent, 45 × 36 cm. 89 Roland Barthes, 1972 (Anm. 25), S. 7–10. 90 Ronni Baer (Hg.), Class Distinctions: Dutch Painting in the Age of Rembrandt and Vermeer, Boston (MFA Publications), 2015.

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Einzelporträts differenzieren zunehmend zwischen sozialer, habitueller und zunehmend auch psychologischer Disposition. Auch werden kleine, freundschaftliche oder familiäre Gruppen von den professionellen Großgruppen der Gilden oder der militärischen Kompanien unterschieden; diese können rein repräsentativ, beim Bankett oder auch in ihrer jeweiligen Funktion dargestellt werden. Zu Beginn stehen jene sozial noch schwer einzuordnenden „fröhlichen Gesellschaften“ der 1610er- und 1620er-Jahre, die zumeist in Gärten und Interieurs wiedergegeben werden; hinzu kamen sozial äußerst vielfältige Karnevalsszenen oder die Auftritte der Massen beim Schlittschuhlaufen oder anderen Vergnügungen und schließlich die nicht so fröhlichen Gesellschaften: die Trink-, Rauch- und Raufszenen in den bäuerlichen Tavernen. Als besondere Verdichtung lässt sich die „Genremalerei“ verstehen, also jenes vor allem häuslichen Szenen des Alltagslebens gewidmete und darin wohl typischste und letztlich namengebende Genre der holländischen Malerei. Denn hier werden soziale Interaktionsformen zum eigentlichen Thema: zwischen Männern und Frauen, Patriziern und Bediensteten oder auch Bedürftigen, Erwachsenen und Kindern, dem Haus zugehörigen Personen und solchen, die von außen oder aus der Ferne kommen. Deutlich wird, wie sehr sich hier das Sensorium für soziale Differenzen schärft. Die Malerei registriert keineswegs bloß symptomhaft den Aufstieg einer neuen sozialen Klasse; sie wird vielmehr selbst als ein Instrument begriffen, um, nach dem Ende der heroischen feudalen Erzählung neue Formen des individuellen und des kommunale Seins zu erkunden. Analytisch wird das Bild auch in diesem spezifisch sozialen Sinn. Es versucht, die einzelnen Elemente des Gesellschaftlichen zu definieren und in ihrer vielfältigen Relationalität zwischen Individualisierung und Typisierung zu zeigen. Ausgehend vom deskriptiven Protokoll alltäglicher Besonderheiten geht es immer auch um einen kollektiven Zusammenhang. Von hier aus reichen die Ansprüche der holländischen Malerei bis hin zu den Versuchen, den neuen politischen Körper der jungen Republik repräsentativ zu fassen. Entscheidend hierfür ist, dass keine soziale Ordnung vorgegeben ist, die bloß abgebildet zu werden bräuchte. Das analytische Bild stellt im Gegenteil einen mentalen Rahmen dar, in und durch den sich die Gesellschaft als eine solche überhaupt erst erkennen kann. Im Spannungsfeld der individuellen künstlerischen Ansprüche und der repräsentativen Bedürfnisse von Kunden, Sammlern und Auftraggebern entsteht eine Art von Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die nicht ohne innere Konflikte und Abgrenzungen nach außen hin auskommt.91 91

Vielfach wurde die frühbürgerliche Moralisierung als entscheidende Quelle gesellschaftlicher Bindung angenommen, durch die neue Hierarchien und die massiven Formen der

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Hegel hatte in seinen Vorlesungen zur Ästhetik – und ohne an dieser Stelle bereits auf die holländische Malerei einzugehen – die notwendige Bewegung des Ideals der Kunst als von einem allgemeinen Weltzustand ausgehend über die partikulare Verankerung in einer Situation bis hin zur selbstbestimmten Handlung beschrieben.92 Tatsächlich lässt sich die soziale Dimension der holländischen Malerei sehr gut nach diesem Schema fassen: Sie bewegt sich aus dem starren Zustand feudaler Repräsentation, wie er die traditionelle Historienmalerei bestimmte, heraus, ohne jedoch in der selbstbestimmten Handlung ankommen zu können. Denn ein Novus Ordo Saeclorum konnte nicht realisiert werden.93 Der Aufstand, die politische Segregation und selbst die Gründung der Republik führen zu keiner wahrhaft politischen Gemeinschaft. Religiöse und soziale Differenzen bleiben bestehen; große gesellschaftliche Gruppierungen können nicht integriert und müssen zum Teil massiv unterdrückt werden. Regiert wird von wechselnden oligarchischen Gruppen, je nachdem, ob mehr die Verteidigung des Landes oder die ökonomische Expansion gefragt ist. Es ist dieses Scheitern einer wahrhaft politischen Neugründung, das sich als symbolisches Erbe einer konstitutiven Negativität weiter in die Moderne einschreibt. Dementsprechend kann die Malerei, auch wenn sie aus dem Zustand herausdrängt, nicht zur Handlung gelangen. Für sie ist deshalb die Situation entscheidend: in ihrer für die holländische Malerei so typischen „Harmlosigkeit“, aber auch in ihrer potenziellen Konflikthaftigkeit, Disziplinierung als legitim erscheinen konnten; sie ist zweifellos in der Malerei weit verbreitet und doch geht diese nicht darin auf. Malerei steht zwar häufig im Dienst einer Moralisierung. In ihrer konstitutiven Ambivalenz, in der das moralisch Verwerfliche gleichzeitig ästhetisch anziehend oder zumindest interessant erscheinen kann, unterwandert sie jede Moral jedoch auf notorische Weise. 92 Ich zitiere hier nach der von Rüdiger Bubner herausgegebenen, Hothos 2. Auflage von 1841 folgenden Ausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil, Stuttgart (Reclam) 1971, insbesondere Erster Teil. Drittes Kapitel. B. Die Bestimmtheit des Ideals. II. Die Handlung. 1. Der allgemeine Weltzustand. a. Die individuelle Selbständigkeit: Heroenzeit. b. Gegenwärtige prosaische Zustände. c. Die Rekonstruktion der individuellen Selbständigkeit 2. Die Situation a. Die Situationslosigkeit. b. Die bestimmte Situation in ihrer Harmlosigkeit. c. Die Kollision. 3. Die Handlung. a. Die allgemeinen Mächte des Handelns. b. Die handelnden Individuen. c. Der Charakter, S. 262–345. 93 Hannah Arendt erarbeitet sich ihren emphatischen Handlungsbegriff im Rahmen ihrer Vorstellungen eines Neu-Beginnens, wie sie im post-apokalyptischen Kontext der 1950erJahre nicht selten waren, und in klarer Abgrenzung vom Arbeiten und Herstellen. Siehe: Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1958), München, Zürich (Piper), 2001; insbesondere Kapitel fünf: Das Handeln, S. 213–317; sowie: Hannah Arendt, Über die Revolution (1963), München, Zürich (Piper) 2011, insbesondere Kapitel fünf: Novus Ordo Saeclorum, S. 232–276.

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jenen „Kollisionen“, von denen Hegel spricht.94 Genau darin ist sie so unübertroffen modern: Anstelle des Politischen beginnt sich das Soziale auszubilden und damit jene „gegenwärtigen prosaischen Zustände“, an denen Hegel sich abarbeitet.95 Dieses kategorisch Situative des Sozialen wird nun zum eigentlichen Thema der Malerei; auf der inhaltlichen Ebene durch die Fokussierung auf Szenen des alltäglichen Lebens, in denen das Private hervortritt und sich erstmals deutlich vom Öffentlichen abgrenzen lässt. Der soziale Stand zeigt sich – auch in den Porträts – zunehmend nicht mehr im Zustand reiner Repräsentation, sondern in situativer Einbettung und in besonderen Interaktionsformen. Darüber wiederum wird soziale Differenz, insbesondere die Klassen- und die Geschlechterdifferenz, zu einem vorherrschenden Thema, allerdings vornehmlich von einer bestimmten, bürgerlich-patriarchalen Position aus gesehen, die fast durchgehend auch die Position der Betrachtung betrifft. Innerhalb dieser situativen Einbettung kommt es zu einer enormen Differenzierung hinsichtlich individueller Facetten des Ausdrucks im Wechselspiel zwischen dem Charakteristischen und dem Typischen.96 Große Nähe kann so evoziert werden, innerhalb des Bildes durch die Betonung besonderer Nahverhältnisse zu und zwischen den einzelnen, dargestellten Personen und den Gegenständen. Schließlich rückt das Bild selbst nahe, vor allem dort, wo es in einigen Bürgerhäusern als alltäglicher Gegenstand gezeigt und seine Betrachtung explizit thematisiert wird. Wichtig für das Situative ist jedoch auch, was nicht zu sehen ist: die Abwesenheit und Ferne nahestehender Personen, die häufig durch Briefe oder auch Besucher angezeigt werden. Kaum mehr sichtbar sind schließlich jene niedrigen bzw. widerspenstigen Klassen, die nicht als Bedienstete oder Bedürftige in das Selbstbild des bürgerlichen Haushalts integriert werden können, und jene Personen, die in der Ferne angetroffen werden und nur in Einzelfällen in der Nähe aufscheinen können. Formal zeigt sich das Situative vor allem in den vielschichtigen Beziehungen der Figuren untereinander. Allerdings steht diesen nicht wie bei Alberti ein Bühnenraum 94

Bei Hegel führt die Bewegung des Geistes vom Zustand über die Situationslosigkeit, die Harmlosigkeit der Situation, die Kollision mehrerer Situationen auf mehreren Stufen bis hin zur Handlung. 95 Zum Begriff des Sozialen siehe: Jacques Donzelot, L’invention du Social. Essai sur le déclin des passions politiques, Paris (Seuil), 1994. 96 Das Individuell-Charakteristische und das Typische sind im Einzelnen oft kaum zu unterscheiden; dennoch hat die holländische Malerei mit der Unterscheidung von Porträt und Tronje ihrer kategorischen Differenz Rechnung getragen und damit ästhetische Markierungen vorgenommen, die bis hin zu Hegel und Lukács das Verständnis des Realismus prägen werden.

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zur freien Entfaltung ihrer ebenso individuellen wie heroischen Handlungsmacht zur Verfügung; vielmehr ist alles situative Tun durch das Wechselspiel der Personen ebenso wie durch die räumlichen Umstände bedingt und somit eingeschränkt. Die häuslichen Räume, die Höfe und Gärten und selbst die Straßen definieren die jeweilige Situation. Sie repräsentieren die zunehmende bürgerliche Normativität im Verhalten, der Patrizier wie Plebejer gleichermaßen ausgesetzt sind. Die sozialen Verhältnisse der Figuren sind daher immer schon auf die formalen Strukturen des Raums und letztlich auch auf die Bildfläche bezogen. Im analytischen Bild durchdringen einander formale und soziale Relationalität, die vielfach – in der Tradition des Schwellenbildes – in direkte Interaktionsformen mit den Betrachtenden ausgeweitet werden.97 Hier thematisiert sich die Malerei selbst als Situation. Sie bildet daher nicht das alltägliche Leben in seinem Sosein ab; vielmehr generiert sie das SituativAlltägliche als eine ganz bestimmte Vorstellung des Sozialen, die weder im oikos noch in der polis der Antike aufgeht. Gruppenporträt und häusliche Szenen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich: Sie bleiben beide situativ und markieren bloß unterschiedliche Aspekte von Gesellschaftlichkeit. Die Malerei wird gleichsam zum Medium dieses besonderen und entschieden modernen Sozialen, und darin zum Horizont eines konstitutiv unpolitischen Daseins. Einzelne Maler haben immer wieder versucht, diesen Horizont zu durchbrechen und damit die Situation in Handlung, das Soziale ins Politische und das analytische Bild in eine neue Synthese zu führen. Doch diese Versuche gelingen nicht bzw. sie gelingen nur als Malerei und zeigen somit die Grenzen auf, innerhalb derer sich diese Gesellschaft in und durch Bilder symbolisch zu verständigen in der Lage ist. Anstelle von Handlung, Politik und Synthese entsteht ein symbolischer Raum der Malerei und des Situativen, der zunehmend als Kunst synthetisiert wird. 5.4.1. Das Situative als Genre Haarlem wird in den 1610er-Jahren, zur Zeit des großen Waffenstillstands (1609–1621), zum Ausgangspunkt dieser besonderen Form von Sozialität in der Malerei. Wiederum sind es Emigranten aus Antwerpen, die die Entwicklung anstoßen, doch sehr schnell kommt es zur Umdeutung der flämischen Tradition und zur Hervorbringung sehr spezifischer, die holländische Malerei dominierender Bildthemen und -formeln. Durch alle Genres hindurch scheinen sich – als ein gemeinsamer Zug – ungezwungene Formen der Geselligkeit breit 97 Vorhänge und andere trompe l’oeil-Effekte werden häufig verwendet; auch das direkte Ansprechen der Betrachtenden durch die dargestellten Figuren kommt vor, etwa bei Nicolas Maes. Siehe unten im Abschnitt über die Malerei in Delft.

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zu machen, die als Ausdruck einer neu gewonnenen Lebensfreude zu deuten naheliegt, die jedoch häufig auch mit der moralisierenden Abwehr gerade einer solchen in Zusammenhang gebracht wurden und daher als Warnung vor einem Nachlassen der patriotischen Wachsamkeit verstanden werden müssten. Malerei scheint immer wieder in die Zwischenräume von ebenso calvinistischer wie patriotischer Sittenstrenge, bürgerlicher Anständigkeit und frenetischer Ausgelassenheit einzudringen. Sie wird zum Medium dieser besonderen Form der Ambivalenz und somit gleichsam eines Genusses zweiter Ordnung, durch die der reichlich fließende Wein noch in der moralisierenden Abwehr genossen werden kann. Die Bildformeln bleiben nicht an den jeweils unmittelbaren Kontext gebunden; sie bestimmen auch die wieder härter werdende Zeit danach in den 1620er- und 1630er- Jahren, als der Krieg wieder aufflammte und sich die ersten wirtschaftlichen Rezessionen abzeichneten. Als nun feststehende Typen werden sie noch in der zweiten Jahrhunderthälfte immer wieder aufgenommen und variiert. Zu Beginn stehen jene „Gartenpartys“ oder „Fröhliche Gesellschaften“, wie sie David Vinckboons noch ganz in der flämischen, vor allem auf Pieter Bruegel d. Ä.  zurückgehenden  Tradition bereits kurz nach der Jahrhundertwende malte. Esaias van den Velde, Willem Buytewech, wohl auch Frans Hals und sein jüngerer Bruder Dirck Hals nehmen dieses Thema auf und transformieren es hin auf klare genrehafte Formen.98 Vor allem Willem Buytewech gelingt es, mit der Verlagerung der „Party“ in den Innenraum einer Taverne die entscheidenden Elemente der späteren Interieurs zu definieren.99 (Abb. 26) Die Figuren sitzen um einen Tisch, hinter ihnen hängt ein Bild oder eine Landkarte, und zur Linken wird im Rotterdamer Bild bereits ein Fenster sichtbar: mithin das gesamte Setting dessen, was später in Delft zum Höhepunkt in der Genremalerei führen wird. Die Figuren selbst sind allerdings noch theatralisch vorgeführt, teils in manieristischen Körperdrehungen und immer wieder direkt um die Aufmerksamkeit der Betrachtenden heischend. Bereits bei Vinckboons und van de Velde100 kommt es zur Umdeutung 98

Als „conversation piece“ wird sich dieses Genre vor allem im England, aber auch im Frankreich des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuen. Siehe: Mario Praz, Conversation Pieces. A Survey of the Informal Group Portrait in Europe and America. University Park und London (Pennsylvania State University Press), 1971. 99 Willem Buytewech, „Fröhliche Gesellschaft“, 1617–1620, Rotterdam, Museums Boijmans van Beuningen, 49,3 × 68 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Willem_Pietersz._ Buytewech_Merry_Company.jpg. Willem Buytewech, „Fröhliche Gesellschaft“, 1620–1622, Budapest, Museum der Schönen Künste, 72,6 × 65,4 cm. https://www.mfab.hu/artworks/merry-company-2/. 100 David Vinckboons, „Musizierende Gesellschaft im Freien“, 1610, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, 41 × 68,3 cm. http://www.akademiegalerie.at/de/ Sammlung/Bildinformation/?image_name=81&mode=8&ART_Name=7&ARTIST_

Abb. 27 Frans Hals, „Willem van Huythuysen“, ca. 1634, Aufbewahrungsort unbekannt, bei Sotheby’s 2008 verkauft, 47 × 36,7 cm.

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dieses traditionell aristokratischen Vergnügens und seiner Herkunft aus der flandrischen Teppichkunst hin zu spezifisch bürgerlichen Vorstellungsweisen, die zwischen der Faszination eines ebenso eleganten wie idyllischen Seins und seiner Abwertung als aristokratische Dekadenz schwanken. Bei Buytewech werden die Figuren als frühmoderne Dandys gekennzeichnet, die nach der spanischen Mode gekleidet sind.101 Hier kommt zu den Themen der Dekadenz und der moralischen Verfehlung in der Tradition des Verlorenen Sohnes und der Bordelldarstellungen auch noch die Inszenierung eines gleichsam fremden Lebensstils. Denn die flandrischen Immigranten waren keineswegs nur willkommen. Die Abwehr ihrer Sprache und ihrer habituellen Gewohnheiten findet sich in vielen populären Texten, wohingegen die Einfachheit der autochthonen holländischen Bürger beschworen wird. Und doch stellen diese Bilder insgesamt eine besondere Form der Heiterkeit dar. Gerade in ihren Übertreibungen laden sie ein, an den dargestellten Belustigungen Anteil zu nehmen, sie als Farce, als bühnenhafte, theatrale Inszenierung und schließlich als ein umkämpftes Thema zu verstehen. Die Vielschichtigkeit in der Adressierung möglicher Betrachtungsweisen scheint entscheidend zu sein. Man kann sich an den Bildern vergnügen, aber gleichzeitig darauf verweisen, dass alles ja seinen moralischen Sinn habe.102 Dirck Hals wird, nachdem er in den 1620er-Jahren eine ganze Reihe von solchen „Fröhlichen Gesellschaften“ gemalt hatte, noch einen Schritt weiter in der Definition des spezifischen Interieurs der Genre-Malerei in seiner psycho-sozialen Bestimmtheit gehen. Das Mainzer Bild einer „Frau, die einen Brief zerreißt“ von 1631103 weist die auf Jan van Eyck rückführbare und später kanonisch werdende Fensterfront auf der linken Bildseite auf, durch die das 101 102

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Esaias van de Velde, „ Fröhliche Gesellschaft in einem Garten vor einem Palast“, 1614, Den Haag, Mauritshuis, 28,5 × 40 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Esaias_van_ de_Velde_002.jpg. Willem Buytewech, „Fröhliche Gesellschaft im Freien“, ca. 1615, Berlin, Gemäldegalerie, 71 × 94 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Willem_Pietersz._Buytewech_-_ Banquet_in_the_Open_Air_-_WGA3721.jpg. Wayne Franits, Dutch Seventeenth Century Genre Painting. Its Stylistic and Thematic Evolution, New Haven, London (Yale University Press) 2008, S. 30. Es scheint sich keineswegs um ein „Belehren und Unterhalten“ (Eddy de Jong) zu handeln, sondern um ein Unterhalten, das mit einem belehrenden Unterton versehen ist. Generell zur Diskussion um die moralische Interpretation der holländischen Genre-Malerei siehe: Gary Schwartz, „Senseless Sensibility“, in: http://www.garyschwartzarthistorian. nl/227-senseless-sensibility/. Dirck Hals, „Frau, die einen Brief zerreißt“, 1631, Mainz, Landesmuseum, 45 × 55 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dirck_Hals_-_Woman_Tearing_a_Letter_-_ WGA11046.jpg.

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Licht in einen kargen Innenraum fällt. Eine Bürgersfrau mit pelzbesetzter Jacke, Spitzenkragen und Haube sitzt am Fenster, den Kopf nach außen gewendet und gleichzeitig einen Brief in der Gegenbewegung ihrer Arme zerreißend. Das Querformat des Bildes ermöglicht einen Einblick in den Rest des Raumes, der von der Bildmitte an auf der rechten Seite kaum mehr etwas zeigt. An der Rückwand des Raums steht ein einsamer Stuhl und darüber hängt ein Bild, Schiffe auf hoher See darstellend. Die Botschaft scheint eindeutig zu sein. Der Stuhl wird zum leeren Stuhl; das Bild gibt einen weiteren Hinweis auf die Abwesenheit des Mannes, und der aus der Außenwelt kommende Brief enthält zweifellos eine schlechte Nachricht über dessen Verbleib. Durch eine strenge, fast antagonistische Aufteilung des Bildes in eine leere und eine volle Hälfte, unterstützt von einer weitgehenden Monochromie, evoziert das Bild insgesamt eine spezifische, in der holländischen Malerei sonst kaum sichtbare Form von Tristesse. Das konkret Situative erweist sich hierbei als Teil eines Netzwerks an Beziehungen sozialer, ökonomischer und politischer Natur, zwischen Nähe und Distanz, Anwesenheit und Abwesenheit, Häuslichkeit und Aufbruch in die Ferne und den damit verbundenen Gefahren. Bei Frans Hals (1582/83–1666) ist von solcher Tristesse nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil herrscht eine neue Lässigkeit und Unbekümmertheit, die sich durch alle seine Themen, die Genre-Szenen ebenso wie die Porträts und die unterschiedlichen Formen des Gruppenporträts zieht. Die Idee eines „Genres“ betrifft bei ihm nicht den Raum oder das Interieur eines häuslichen Geschehens, sondern in erster Linie die Personen selbst, die stets als bestimmte Typen dargestellt werden. Das Bild ist – wie in der italienischen Tradition – von den Figuren her gedacht, allerdings nicht im Sinne wohlgefälliger Kompositionen, sondern als ein dichtes Gedränge oder gar als ein ineinander verwickeltes Knäuel. Auch über die Bildfläche verteilte Köpfe kommen vor allem in den Familienporträts vor. Die „Karnevals-Jecken“ von 1616 /17 geben den Ton vor.104 Hinter einer stilllebenartig in den Vordergrund gerückten Tischplatte mit Brot, Würsten, einem Bierhumpen und einem Dudelsack bedrängen die bei Umzügen und im volkstümlichen Theater populären Figuren des „Hans Worst“ und des „Peeckelhaeringh“ – eine Art lustiger Zecher – eine lachende junge, extravagant kostümierte Frau.105 Hinter dieser zentralen Figurengruppe ist noch eine Menge weiterer, fratzenhafter 104 Frans Hals, „Shrovetide Revellers“, 1616/17, New York, Metropolitan Museum, 131,4 × 99,7 cm. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/436622. 105 Da bei solchen Umzügen Frauen nicht zugelassen waren, vermutet das Metropolitan Museum, dass es sich um einen verkleideten jungen Mann handeln muss. Siehe: https:// www.metmuseum.org/art/collection/search/436622.

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Gesichter zu erkennen. Im Vergleich mit Buytewechs Rotterdamer Bild, in dem der „Peeckelhaeringh“ einen ähnlichen Auftritt hat, zeigt sich nicht nur eine andere Kompositionsweise, in der es gar keinen freien Raum gibt – es ist somit gar nicht zu entscheiden, ob die Szene im Freien oder in einer Taverne spielt –, sondern auch eine deutlich freiere Malweise und damit auch ein entschieden realistischer Zug. Malweise und Thema scheinen einander zu entsprechen und – bei aller Anzüglichkeit in den Details – auch keinen Deutungsraum hinsichtlich einer moralisierenden Lektüre mehr übrig zu lassen.106 Die unterschiedlichen Versionen des „Rommelpot-Spielers“ von 1618–1622 und schließlich „Junges Paar vor der Taverne“ von 1623107 gehen von ähnlichen Gestaltungsprinzipien aus. Der Rommelpot-Spieler wird von fünf, in manchen Versionen gar von sechs lachenden Kindern bedrängt. Auch hier ist das Bild dicht vollgepackt mit Figuren, nur der obere Bildrand lässt etwas Luft für einen Ausblick in den Himmel auf der rechten Seite. Der sogenannte „Yonker Ramp“ hingegen ist in kühner, diagonal durch den Bildraum ausgreifender Gestik wiedergegeben. In seiner erhobenen rechten Hand hält er ein Glas in die obere linke Bildecke, während er mit der Linken einen Hund krault, der in der unteren rechten Ecke den Kopf ins Bild steckt. Von hinten scheint sich eine junge Frau um seinen Hals zu werfen. Hier wird nun rechts im Hintergrund eine Taverne sichtbar, von wo aus ein älterer Mann auf das Paar blickt. Die virtuose Komposition lässt mehrere Blickrichtungen einander überkreuzen, und mit großer Bravour sind die vom Lachen verzerrten Gesichter wiedergegeben. Die Figuren scheinen aus dem Bild heraus ins „Leben“ zu drängen; der Hund steht tatsächlich vor dem Bild; der Blick der jungen Frau trifft direkt die Betrachtenden, während der junge Mann diesen wohl zuprostet. Auch hier scheint mir die naheliegende, moralisierende Interpretation im Sinne des Verlorenen Sohnes nur mehr eine ferne Erinnerung darzustellen, die nicht mehr einzufangen in der Lage ist, was dieses Bild als Malerei kann und will. Im Laufe der 1620er- und frühen 1630er-Jahre verselbstständigen sich die Kinder und Jugendlichen, aber auch die Figuren des Peeckelhaeringh und des Hans Worst zu eigenständigen Bildthemen. Hinzu kommen weitere Varianten

106 Es ist auch kaum vorstellbar, dass Hals neben diesem Karnevalsbild auch noch ein FastenBild gemalt hätte, weil fast alle seine frühen Bilder eine karnevaleske Note tragen. 107 Frans Hals, „Der Rommelpot-Spieler“, 1618–1622, München, Privatbesitz, 106 × 80,3 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Rommelpotspieler#/media/Datei:Der_Rommel potspieler_mit_6_Kindern_von_Hals_M%C3%BCnchen_Privat.jpg. Frans Hals, „Junges Paar vor der Taverne“ („Yonker Ramp and his Sweetheart“), 1623, New York, Metropolitan Museum, 105,4 × 79,4 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:1623_Hals_Junger_Mann_und_Frau_in_einem_Gasthaus_anagoria.JPG.

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von Musikern und populären Figuren wie dem „Fröhlichen Trinker“.108 Alle diese Figuren sind situativ erfasst, das heißt, stets sind Ansätze zu einer Tätigkeit, einer Gestik oder zumindest ein unterschiedlich deutbares Lachen oder Lächeln erkennbar. In diesen Bildern erreicht Hals den Höhepunkt seiner malerischen Virtuosität, zumindest aus modernistischer Perspektive. Nicht nur entspricht hier die Lockerheit des direkten Farbauftrags der Unbekümmertheit der Figuren und der Lebendigkeit in der Erfassung eines je besonderen Augenblicks. Je freier oder experimenteller die Malweise mit den losen, deutlich sichtbaren Pinselstrichen wird,109 desto typisierter scheinen die Figuren zu werden. Genremäßig sind diese Figuren gerade in der Typisierung von Situation, Gestik und Ausdruck. Hals scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, gerade das Besondere und das Allgemeine, die malerische Technik und die Charakterisierung von Figuren in ein malerisches Verhältnis zu setzen. Gleichzeitig geht diese Typisierung hierbei mit einer Wahrnehmung sozialer Differenz einher. Die sogenannte „Zigeunerin“, die mit den Zeichen des Wahnsinns versehene „Malle Babbe“ oder auch die von Hofstede de Groot fälschlicherweise als „Mulatte“ identifizierte Figur, die wohl eher einen Peeckelhaeringh darstellt, der mit etwas Farbe im Gesicht einen Menschen afrikanischer Abstammung mimt, zeigen an, in welche Richtung die Typisierung geht.110 Allerdings lassen sich auch hier keine zwei, 108 Frans Hals, „Der Lautenspieler“, 1623, Paris, Louvre, 70 × 62 cm. https://en.wikipedia.org/ wiki/The_Lute_Player_(Hals). Frans Hals, „Lachender Junge“ ca. 1625, Den Haag, Mauritshuis, Durchmesser: 30,4 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Frans_Hals_-_Lachende_jongen.jpg. Frans Hals, „Singender Junge mit der Flöte“, 1623, Berlin Gemäldegalerie, 68,8 × 55,2 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frans_Hals_-_Singing_Boy_with_Flute_-_ Google_Art_Project.jpg. Frans Hals, „Der Raucher“, 1626, New York, Metropolitan Museum, 46,7 × 49,5 cm (oktogonal) https://en.wikipedia.org/wiki/The_Smoker. Frans Hals „Fischermädchen“, 1630–1632, Privatsammlung, 80,6 × 65,7 cm. https://en. wikipedia.org/wiki/Smiling_Fishergirl. Frans Hals, „Der fröhliche Trinker“, 1628–1630, Amsterdam, Rijksmuseum, 81 × 66,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_fr%C3%B6hliche_Trinker. Frans Hals, „Peeckelhaeringh“, nach 1630, Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, 75 × 61,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Frans_Hals_024.jpg. 109 Zweifellos hat Hals auch hier Untermalungen benutzt, aber die oberste Farbschicht weist eben diese „alla prima“-Qualität auf, für die sich das moderne Sehen so begeistern kann. Hals „experimentiert“ in dieser Zeit auch mit den Formaten und verwendet runde, oktogonale oder auch ovale Bildträger. 110 Frans Hals, „Die (sogenannte) Zigeunerin“, 1628–1630, Paris, Louvre, 57,8 × 52,1 cm. https:// en.wikipedia.org/wiki/The_Gypsy_Girl. Frans Hals, „Malle Babbe“, 1633–1635, Berlin, Gemäldegalerie, 75 × 64 cm. https://de. wikipedia.org/wiki/Malle_Babbe.

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d­ eutlich voneinander unterscheidbare Anthropologien im Sinne von Roland Barthes konstatieren, so doch ein weiteres analytisches Moment, das über die Typisierung eine Andersheit beschreibbar machen möchte. Die Porträts, Hals’ lebenslang bedeutsamstes Genre, sind hiervon deutlich unterschieden. Es überwiegen nicht nur die klare Individualisierung jeder einzelnen Person und die vielfach klassisch repräsentativen Gesten. Die Malweise bleibt deutlich ‚konventioneller‘; sie erweist sich jedoch gerade darin als besonders virtuos. Und doch gibt es immer wieder auch Überlagerungen zu den Genres und ihren Typisierungen, in den erstaunlichen Porträts einfacher Leute, der „Wirtin“ etwa von 1623, bei der kaum zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Genrebild oder ein Porträt handelt. Oder bei jenem „Lachenden Kavalier“ von 1624, der sich zwischen repräsentativem Gestus und theatraler Maskerade bewegt.111 Vielleicht handelt es sich sogar um beides zugleich. Denn das zweifellos ernst gemeinte Porträt von „Willem van Heythuysen“ von 1625112 zeigt den international erfolgreichen Tuchhändler in einer klar aristokratischen Pose, in der er sich vor einem üppigen, purpurnen Vorhang auf ein Schwert stützt, also durchaus in Form einer theatralisch anmutenden Inszenierung. Hiervon unterscheidet sich der „Lachende Kavalier“ nur geringfügig, nur sein verschmitztes Lächeln scheint eine ironische Komponente hinsichtlich des eigenen repräsentativen Gestus hinzuzufügen. Deutet sich hier mehr der Stolz auf den neuen Reichtum oder der Stolz auf die gelungene Maskerade an? Die Malerei navigiert hier geschickt als Medium einer Differenz zwischen Sein und Schein, zwischen der repräsentativen Konvention und der individuellen Verkörperung, zwischen einem Realismus in den Köpfen, Gesichtern und Händen und der Phantastik in der Kleidung und Ausstattung. Seit den späten 1620er-Jahren dominieren situative Momente auch im Porträt. Vor allem das Motiv des lässig aus einer Körperdrehung heraus über die Stuhllehne gebeugten Mannes kehrt immer wieder. Das Motiv scheint jenen Bankett-Bildern entnommen zu sein, wo sich die vorderste Sitzreihe zu den Betrachtenden wenden musste, um porträtiert werden zu können. In der Isolierung wird es zum Zeichen einer besonderen Verlebendigung, Nähe und Frans Hals, „Der (sogenannte) Mulatte“, 1628, Leipzig, Museum der bildenden Künste, 72 × 57,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frans_Hals_-_Mulatto_(so-called) _-_WGA11099.jpg. 111 Frans Hals, „Der lachende Kavalier“, 1624, London, Wallace Collection, 83 × 67,3 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Laughing_Cavalier#/media/File:Cavalier_soldier_Hals1624x.jpg. 112 Frans Hals, „Willem van Heythuysen“, 1625, München, Alte Pinakothek, 204,5 × 134,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Willem_van_Heythuysen#/media/Datei:Frans_Hals_042. jpg.

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Unbekümmertheit, die allerdings den Frauen versagt blieb.113 Vor allem das Bildnis des „Isaac Abraham Massa“ von 1626 dürfte hier stilbildend gewirkt haben.114 Der Porträtierte dreht sich nicht nur nach vorne; Kopf und Augen führen die Drehbewegung noch weiter, sodass der Blick links aus dem Bild hinausführt. Rechts im Hintergrund ist eine wohl russische Waldlandschaft zu erkennen, die auf die Handelsreisen und diplomatischen Aktivitäten des Dargestellten verweist. In der rechten Hand hält er einen Zweig, so als ob er ihn direkt aus dem Bild im Bild dahinter mitgebracht hätte. Das Bild fungiert somit insgesamt als mehrschichtige Schnittstelle, die ein Innehalten innerhalb einer Bewegung des Kommens und Gehens, aber auch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit zwischen dem Bild im Bild und der Bildbetrachtung anzeigt. Gleichzeitig lässt sich die Drehbewegung der Person wohl auch als Transformation von psychischen, sozialen und kulturellen Zuständen lesen. Ein weiteres Bildnis von „Willem van Heythuysen“, wohl von 1634, (Abb. 27) spitzt die Lässigkeit sogar noch zu, indem es den Porträtierten auf den Hinterbeinen seines Stuhls wippen lässt.115 Diesmal ist Heythuysen in bürgerlicher Reisekleidung mit Reitstiefeln wiedergegeben; mit beiden Händen scheint er ein Stöckchen zur Rute zu biegen, was die Labilität und die Spannung des Bildes weiter verstärkt. Die starre Repräsentation ist hier vollkommen in das labile Bewegungsmoment einer Situation überführt. Allerdings wird der Stuhl hier bildparallel gezeigt, was die Drehung der Figur reduziert und diese fester in der Bildfläche verankert. Zusätzlich wird die starke Diagonale der Figur durch gegenläufige Schrägen des Bodens und des Bettes hinter dem Stuhl etwas abgemildert. Auf dem Bett liegt ein Buch, dahinter hängt wiederum ein Landschaftsbild an der Wand. Die Rute scheint wohl mehr auf eine Form der Selbstdisziplinierung zu verweisen, zwischen Buch und Bild, Vorhang und Bett, einem sichtbaren und einem verborgenen, innerlichen und einem äußerlichen Bereich. Das Balancieren auf dem Stuhl scheint daher nicht bloß eine Laune auszudrücken, sondern wird selbst zum Thema eines abwägenden oder gar kalkulierenden Seins. 113 Eine Ausnahme bildet hier das Porträt der Isabella Coymans von 1650–1652, das über den Rahmen hinaus ihr Äquivalent, ein Porträt ihres Mannes, auf äußert entspannte Art begrüßen darf. Hier wird die aufeinander bezogene Interaktionsform zwischen zwei Personen zu einer Interaktionsform zwischen zwei Bildern. 114 Frans Hals, „Isaak Abrahamsz. Massa“, 1626, Toronto, Art Gallery of Ontario, 79,7 × 65 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Isaak_Abrahamsz._Massa#/media/File:Frans_ Hals_-_Isaac_Abrahamsz._Massa_-_Google_Art_Project.jpg. 115 Frans Hals, „Willem van Huythuysen“, 1634, Aufbewahrungsort unbekannt, bei Sotheby’s 2008 verkauft, 47 × 36,7 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Willem_van_Heythuysen#/ media/File:Willem_Heythuijsen_by_Frans_Hals_1634.jpg.

Abb. 28 Frans Hals, „Bankett der Offiziere der St. Georgs Bürgerwehr“, 1627, Haarlem, Frans Hals Museum, 179 × 257,5 cm.

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Die Gruppenporträts der Bürgerwehren, der Vorsteher der Handwerkszünfte und der Regenten wohltätiger Einrichtungen stellen nun das Genre dar, in dem die holländische Malerei sich die soziale Interaktion selbst unmittelbar zum Thema gemacht hat. Man sieht in diesen Bildern zweifellos nur Segmente der neuen Gesellschaft, doch der öffentlich-repräsentative Aspekt, das „Selbstverständnis der neuen herrschenden Bürgerschicht“,116 steht derart im Vordergrund, dass zumindest davon auszugehen ist, dass sich die Dargestellten als exemplarische Repräsentanten der Gesellschaft insgesamt verstehen wollten. Auch hier lässt sich ein Übergang vom statischen Zustand in Richtung einer zunehmenden Handlung konstatieren, ohne jedoch letztlich dort anzukommen. Die Gruppenporträts verbleiben im Rahmen des situativ und genremäßig gegebenen, nicht nur bei den Banketten, sondern auch in den Paraden oder wenn die Vorsteher und Regenten in ihren Funktionsweisen, etwa bei Sitzungen oder Besprechungen, wiedergegeben werden. Alois Riegl hatte in seiner klassischen, die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin mitbegründenden Studie von 1902117 bereits den deutlichen Unterschied zur italienischen Tradition im Sinne eines anderen „Kunstwollens“ gesehen. Seine Fragestellung nach den eher koordinierenden oder subordinierenden Gestaltungsweisen der Gruppen ging jedoch immer noch von der Dominanz der Figurenkomposition aus und nicht vom Bildverständnis, von der unser Interesse leitenden Frage nach der Funktion von Bild und Malerei im Sinne eines analytischen Bildes für die Selbstrepräsentation einer ‚neuen‘ Gesellschaft. Denn die zum Teil riesigen Formate führten sicherlich an die Grenzen dessen, was als Tableau noch handhabbar war; auch setzte die klare Auftragsstruktur dem reinen ‚Gestaltungswillen‘ enge Schranken. Und doch ist es auch hier das spezifische Bild- und Malereiverständnis, das gleichsam durch die Auftragsstruktur hindurchdringt. Das dominante Breitformat lässt etwa die Horizontalität und weitgehende Gleichrangigkeit in der Koordination der einzelnen Bürger erst deutlich zutage treten. Um gleichzeitig den im 17. Jahrhundert bereits sehr hohen Ansprüchen an Malerei gerecht zu werden, mussten allerdings die reine Aneinanderreihung einzelner Porträts aufgebrochen und komplexe Interaktionsformen zwischen den einzelnen Gruppen in Szene gesetzt werden. Selbst wenn ein einheitlicher Augenpunkt gewahrt bleibt, ist der Blick doch gefordert, in unterschiedliche Richtungen zu navigieren. Die Subjektivität betrifft somit nicht nur die 116 Marcus Dekiert, „Bürgerstolz und Bürgertugend im Bild. Das Gruppenporträt im Amsterdam des 17. Jahrhunderts“, in: Ausstellungskatalog Goldenes Zeitalter. Holländische Gruppenporträts aus dem Amsterdam Historisch Museum, Wien (Kunsthistorisches Museum), München (Alte Pinakothek) 2010, 2011, S. 27–36. 117 Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt (1902), Wien (WUV-Universitätsverlag) 1997.

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situative Verortung der Porträtierten – sie repräsentieren sich als Bürger genau in der momentanen Verlebendigung, die ihnen die Malerei ermöglicht118 –, sondern auch den wahrnehmenden Blick. Dieser wird häufig durch Blicke oder Gesten aus dem Bild heraus direkt adressiert, ja herausgefordert, und zwar nicht nur darin, das Repräsentationsbegehren der Bürger anzuerkennen, sondern darüber hinaus in die sozialen, psychologischen und letztlich auch formalen Zwischenräume der reinen Repräsentation einzutauchen. So wird letztlich im Akt der Betrachtung ein selbstreflexives Moment im Verhältnis zum Bild aufgerufen. Als Frans Hals im Jahr 1616 sein erstes Gruppenporträt malte,119 konnte er auf jenes außergewöhnliche Gemälde eines „Banketts der Schützen der St. GeorgsBürgerwehr“, das Cornelis van Haarlem 1583 geschaffen hatte, zurückgreifen, das sich bereits durch die Verknüpfung mehrerer genrehafter Szenen auszeichnete.120 Riegl hatte daran schon den eklatanten Bruch mit den eher steifen, seriellen Konventionen der älteren Gruppenporträts erkannt. Damit war das Soziale als ein Ineinandergreifen von Situationen definiert und konnte in seiner Vielfältigkeit analysiert werden. Auch Frans Hals nimmt diese Tendenz auf. Während Cornelis van Haarlem jedoch ein multifokales, dichtes Gedränge über die Bildfläche wirft, geht es ihm um eine deutliche Vereinheitlichung des Bildes insgesamt bei gleichzeitiger Banalisierung der einzelnen Interaktionsformen.121 Das Bild ist nach dem Modell eines christlichen Abendmahls konzipiert, also gleichsam als Historienbild. Auch bleibt der Oberst der dargestellten Bürgerwehr durchaus im Zentrum, ohne allerdings besonders hervorgehoben zu werden. Anstelle des eucharistischen Segensgestus schwingt er lässig ein Messer, während ein kahlköpfiger Mann seine Aufmerksamkeit auf ein Geschehen vor dem Bild zu lenken versucht. Was das Bild daher von der klassischen Historienmalerei unterscheidet, ist letztlich genau diese starke Orientierung auf den Raum vor dem Bild, den Raum der Bildbetrachtung, wie er sich in einer Reihe von Blicken und Gesten zeigt. Riegl wollte darin die 118 Insofern hatte Barthes Recht, hier ein gleichsam ‚biopolitisches‘ Moment zu erkennen. 119 Frans Hals, „Bankett der Offiziere der Sankt Georgs Bürgerwehr“, 1616, Haarlem, Frans Hals Museum, 175 × 324 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Banquet_of_the_Officers_ of_the_St_George_Militia_Company_in_1616#/media/File:Frans_Hals_-_Banket_van_de_ officieren_van_de_Sint-Joris-Doelen.jpg. 120 Cornelis van Haarlem, „Bankett der Schützen der St. Georgs Bürgerwehr“, 1583, Haarlem, Frans Hals-Museum, 135 × 233 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cornelis_ Cornelisz_van_Haarlem_-_Banket_van_korporaalschap_van_Jonge_Jan_Adriaensz_van_ Veen_-_Haarlem_Cloveniers_schutterij_1583.jpg?uselang=de. 121 Bei Cornelis van Haarlem geht es um Verbrüderungsschwüre und andere gruppenbezogene Rituale, während bei Hals vornehmend geplaudert wird. Dies lässt sich bereits bei Riegl nachzulesen.

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Begrüßung neuer „Ankömmlinge“ sehen, die an die Stelle des „Beschauers“ treten.122 In jedem Fall balanciert das Bild Posen der selbstgenügsamen Repräsentation mit solchen einer behutsamen Interaktion untereinander und schließlich mit den direkten Bezugnahmen auf die Betrachtenden. Der Tisch ist reichlich gedeckt; manche halten Gläser in der Hand, aber niemand scheint hier wirklich essen zu wollen. Die Tafel wirkt fast wie ein Stillleben. Dynamisiert wird das Bild vor allem durch drei markante Schrägen, dem Vorhang auf der linken Seite und den beiden Fahnen, die jeweils von links unten nach rechts oben weisen. Durch das starke Breitformat, die Anordnung fast aller Köpfe auf einer Höhe und den zentralen Ausblick in der Bildmitte des Hintergrunds in einen Garten überwiegt dennoch der statische Eindruck. In den beiden Gruppenporträts von 1627 dynamisiert sich das Geschehen deutlich. Nun interagieren fast alle Personen miteinander. Es scheinen sich sogar jeweils zwei Gruppen auszubilden, deren jeweiliger Zusammenhalt auf der linken und auf der rechten Bildseite betont wird. Auch zwischen den Stehenden und den Sitzenden intensiviert sich der Austausch. Die zentral hinter dem Tisch sitzende Person bleibt noch vorhanden; sie ist allerdings kaum mehr von den anderen zu unterscheiden. Die Anspielung auf das christliche Abendmahl verschwindet somit. Im „Bankett der Offiziere der St. Georgs Bürgerwehr“123 (Abb. 28) kommuniziert nur mehr die Gruppe auf der rechten Bildseite mit den Betrachtenden. Die einladenden Gesten sind jedoch deutlich zurückgenommen. Vorhang und Fahnen schließen nun den Raum ab, und ein starker Farbkontrast zwischen dem dunkel schimmernden Blau der Uniformen und den ockerfarbenen Bändern bestimmt den Bildeindruck. Die weißen Halskrausen rhythmisieren wie aufgesetzte Lichter das Geschehen. Äußerste Lebendigkeit in Ausdruck und Malweise korrespondieren mit der Komplexität in der Komposition. Das Genremäßige ist stark reduziert; es tritt hinter das rein Kommunikative zurück. Gefeiert wird das Soziale als Situation. Hinsichtlich des „Banketts der Offiziere der St. Adrian Schützengilde“124 sprach Riegl mit Recht von einer „außerordentlichen Zersplitterung in einzelne 122 Riegl spricht von der „Notwendigkeit doppelter Beziehungen“, den Beziehungen der Dargestellten untereinander und zu den Betrachtenden. Siehe Alois Riegl, 1997 (Anm. 117), S. 324. 123 Frans Hals, „Bankett der Offiziere der St. Georgs Bürgerwehr“, 1627, Haarlem, Frans Hals Museum, 179 × 257,5 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Banquet_of_the_Officers_of_ the_St_George_Militia_Company_in_1627#/media/File:Frans_Hals_013.jpg. 124 Frans Hals, „Bankett der Offiziere der St. Adrian Schützengilde“, 1627, Haarlem, Frans Hals Museum, 183 × 266,5 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Banquet_of_the_Officers_ of_the_St_Adrian_Militia_Company_in_1627#/media/File:WLANL_-_legalizefreedom_-_ Banket_van_de_officieren_van_de_Cluveniersdoelen,_1627.jpg.

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Teil-Genregruppen“.125 Die beiden Hauptgruppen sind noch deutlicher voneinander getrennt. Zwischen ihnen öffnet sich synkopisch eine Schneise, die den Blick auf das zentrale Fenster an der Rückwand des Raumes und durch dieses hindurch in einen Garten lenkt. Innerhalb der beiden Hauptgruppen herrscht dichtes Gedränge; die Staffelung der Figuren übereinander reicht bis zu drei oder gar vier Reihen. Gleichzeitig ist genug Raum vorhanden, um das Bild nicht ganz – wie bei Cornelis van Haarlem – mit Figuren vollzufüllen.126 Gesten und Blicke wechseln innerhalb und zwischen den beiden Hauptgruppen. Nur mehr zwei Personen blicken aus dem Bild heraus. Es werden wiederum genremäßig und auf lässige Weise Gläser und Speisen herum gereicht. Die Hände scheinen sich dabei zu verselbstständigen und tauchen hinter Körpern und Köpfen anderer Personen auf. Die blau-weißockerfarbenen Schärpen und die fast schwarzen Hutkrempen rhythmisieren das Geschehen zwischen helleren und dunkleren Partien.127 Es gibt durchaus auch Ansätze zu stabilisierenden, pyramidalen Kompositionselementen, doch der innerbildliche Trubel steht eindeutig im Vordergrund. Repräsentation löst sich hier in ein reines Geschehen auf, und die Situation kulminiert in einem frenetischen Augenblick, in dem sich das geschilderte Ereignis in ein Ereignis als Malerei verwandelt. Damit hat Hals die Analytik des Sozialen zu einem ersten kreativen Höhepunkt geführt. Er konnte die vorgegebene Aufgabe einer bürgerschaftlichen Repräsentation, wie sie in den lokalen Traditionen bis in die 1530erJahre zurückreichte, in ein gesellschaftliches Bild verwandeln. Interaktion, Kommunikation und eine Art von stellvertretender Repräsentation (für die weiteren „Ankömmlinge“) bestimmen die jeweiligen Gruppen. Die Gruppe selbst ist keine bloße Ansammlung einzelner, typisierter und einander stark ähnelnder Charaktere; ganz im Gegenteil werden die Einzelnen gerade in diesen Gruppen sowohl individualisiert als auch sozialisiert. Sie können so tatsächlich als individualisierte Repräsentanten einer Klasse im modernen Sinn auftreten. Nicht ihr biopolitisches Sein, aber ihre höchst persönliche Sozialität definiert ihren Klassenstatus. Die Malerei zeigt die Personen in ihren sozialen Vermögen, in einer Art von anti-feudaler, „herrschaftsfreier“ Kommunikation, und wendet so die Repräsentation ins Ereignishafte. Damit wird die Malerei 125 Alois Riegl, 1997 (Anm. 117), S. 328. 126 Die Tafel selbst liegt sehr tief, sodass der luftige Raum darüber noch betont wird. Auch die Größenverhältnisse scheinen mehr der Bildlogik als einer realistischen Abbildbarkeit zu entsprechen. Der Mann auf der linken Seite muss etwa wohl erhöht stehen, während bereits der Hund neben ihm deutlich tiefer situiert ist. 127 Das Schwarz in der Kleidung und das Weiß der Halskrausen werden beide als besondere Farbwerte eingesetzt.

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selbst zum gesellschaftlichen Ereignis. Allerdings fungiert gerade die Egalität in den sozialen Vermögen gleichzeitig als neue Modalität von Herrschaft. Hier stößt das Haarlemer Gruppenporträt an seine ideologischen Grenzen. Frans Hals wird noch eine Reihe weitere Gruppenporträts malen, ab den 1630er-Jahren übernimmt jedoch Amsterdam die Initiative unter deutlich veränderten Vorzeichen.128 Doch Haarlem hat noch weitere Aspekte des Sozialen als Situation zu bieten. Im unmittelbaren Umfeld von Frans Hals gab es Versuche, nicht den Aspekt des Gemeinsamen, sondern eher die Differenz im Sozialen zu thematisieren. Judith Leyster, Adriaen Brouwer und Adriaen van Ostade sind immer wieder als Schüler von Hals benannt worden, doch hierfür gibt es keine urkundlichen Belege. Judith Leyster (1609–1660) hat in Genreszenen und der genrehaften Darstellung von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Musikern und Theaterfiguren wie dem Peeckelhaeringh unmittelbar an die Hals’schen Bildformeln angeknüpft. In ihrem Aufnahmestück für die Sankt-Lukas-Gilde von 1633, einem „Selbstporträt vor der Staffelei“,129 (Abb. 29) geht sie jedoch deutlich darüber hinaus. Das Bild kombiniert auf raffinierte Weise zwei unterschiedliche Bildtypen: das lässig über die Stuhllehne gedrehte Porträt und die genremäßige Figur eines Musikers im gemalten Bild auf der Staffelei. Somit gelangen Porträt und Genre in einem einzigen Bild zur Darstellung und ihre Differenz wird reflexiv verhandelbar. Hinzu kommt der Aspekt eines Selbstbildnisses, das die Künstlerin als selbstbewusste Frau zeigt. Der Typus des Selbstporträts vor der Staffelei war im Antwerpen des 16. Jahrhunderts ebenfalls von einer Frau, Catharina van Hemessen, eingeführt worden. Schließlich zeigt das Bild nicht nur unterschiedliche Malweisen und präsentiert auf bzw. neben der gut einsehbaren Palette das Farbmaterial mit einem Bündel von sechzehn Pinseln, sondern darüber hinaus noch einen Wettstreit zwischen der Vergänglichkeit von Wort – die Künstlerin scheint bei geöffnetem Mund zu sprechen – und Ton auf der einen Seite und der Dauer der Malerei auf der anderen. 128 Im „Festmahl der Offiziere der St.-Hadrian-Schützengilde von Haarlem“ von 1633 kommt es zu einer Rückwendung hin zur kompakten Gruppe; sie ist stark subordiniert, einheitlich in einer von rechts ausgehenden Bewegung auf die führende Figur links vorne hin gerichtet. Alle Zersplitterung wird vermieden und auf eine straffe Zusammenziehung innerer und äußerer Einheit gesetzt. Das Bild setzt bereits das Amsterdamer Gruppenporträt voraus, auch wenn es noch keine vollkommen einheitliche Aktion wie bei Thomas de Keyers gibt. Riegl betont, dass die Subordination beim „Beschauer“ liege, und damit die Bedeutung auch für die „Nachtwache“. Siehe: Alois Riegl, 1997 (Anm. 117), S. 330–334. https://en.wikipedia.org/wiki/File:Frans_Hals_014.jpg. 129 Judith Leyster, „Selbstporträt“, 1632/33, Washington, National Gallery of Art, 74,6 × 65,1 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Self-portrait_by_Judith_Leyster.jpg.

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Adriaen Brouwer (1605/06–1638) war ein Grenzgänger zwischen den flämischen und holländischen Welten. Entscheidende Impulse hatte er ab Mitte der 1620er-Jahre in Haarlem empfangen und wohl auch weitergegeben, bevor er 1631 nach Antwerpen zog, und auch dort bis zu seinem Tod im Jahr 1638 in der flämischen Malerei tiefe Spuren hinterlassen konnte. Zu Beginn stehen kleinformatige Tavernen-Bilder mit trinkenden, rauchenden oder sich wechselseitig prügelnden Bauern. Einige übergeben sich, ein anderer pinkelt deutlich sichtbar an einen der hölzernen Pfeiler. Dies alles steht in der Tradition des Braunschweiger Monogrammisten, Pieter Bruegels d. Ä. und den moralisierenden Laster-Darstellungen in der Druckgrafik des 16. Jahrhunderts. Hieraus lassen sich ebenso die satirischen und belustigenden Elemente angesichts eines gleichsam anti-stoischen Verlusts der Selbstbeherrschung herleiten.130 Das heißt, die Differenz zu den dargestellten Personen ist in der Betrachtung entscheidend. Im strikten Gegensatz zu den populären Künstlerlegenden, die Person und Werk miteinander verschmelzen wollen, haben wir es hier mit einem bürgerlichen Blick zu tun, entweder bei Brouwer selbst oder bei der Käuferschicht, die er im Blickfeld hatte und die sich von solchen Bildern eine Art Abgrenzungsleistung erwartete. In den 1630er-Jahren, hauptsächlich wohl bereits in Antwerpen, individualisiert Brouwer jedoch zunehmend seine negativen Helden. Sie erscheinen nun vereinzelt oder in kleinen Gruppen, und die Darstellung konzentriert sich auf den besonderen Ausdruck und die Vielfalt der Emotionen von Schmerz und Angst, Wut oder Abscheu. Brouwer entwickelt in seiner Malerei das analytische Instrumentarium einer Affektkunde, weitgehend auf ‚negative‘ Affekte beschränkt. Auch gibt es nun direkte Bezüge auf die Bildbetrachtung. Kein distanzierter Blick auf lächerliche Figuren ist hier möglich, denn die Figuren blicken zurück, mitleidheischend wie im Fall der „Rückenoperation“ in Frankfurt131 oder auch aggressiv wie im Fall jenes, eine Fratze schneidenden Mannes mit einem Messer im Hut.132 Er scheint die Betrachtenden direkt herausfordern zu wollen. Fröhlich wird es bei Brouwer nur, wo der Maler und seine Kollegen selbst ins Bild kommen, sich in der

130 Konrad Renger, „Adriaen Brouwer. Seine Auseinandersetzung mit der Tradition des 16. Jahrhunderts“, in: Konrad Renger, Lehrhafte Laster. Aufsätze zur Ikonographie der niederländischen Kunst des 16. Und 17. Jahrhunderts, München (Bayerische Staatsgemäldesammlungen) 2006, S. 172–190. 131 Adriaen Brouwer, „Die Operation am Rücken“, 1636, Frankfurt am Main, Städel Museum, 34,5 × 27,0 cm. https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/die-operation-am-ruecken. 132 Adriaen Brouwer, „Mann der eine Grimasse schneidet“, 1632–1635, Washington, National Gallery of Art, 13,7 × 10,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adriaen_Brouwer_ -_Youth_Making_a_Face.jpg.

Abb. 29 Judith Leyster, „Selbstporträt“, 1632/33, Washington, National Gallery of Art, 74,6 × 65,1 cm.

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Taverne breit machen und die soziale Differenz in einer Art von bohemistischer Feier überwunden werden soll.133 Adriaen van Ostade (1610–1685) hat zweifellos die Anregungen Brouwers aus den 1620er-Jahren aufgenommen, ohne ihm auf dem Weg der Indivi­ dualisierung zu folgen. Ganz im Gegenteil spitzt er in den 1630er-Jahren die Darstellung raufender, trinkender und rauchender Bauern immer weiter hin zu fast gesichtslosen Fratzen zu.134 Ihn hatte Roland Barthes wohl im Blick, als er von der entwürdigenden und entmenschlichenden Darstellung eines bäuerlichen Proletariats sprach. Erstaunlich ist jedoch auch hier, mit welchem malerischen Aufwand van Ostade diese bäuerlichen Haufen auftreten lässt. An Handlungsdramatik bleibt – wie im Historienbild – nichts zu wünschen übrig. Im drastischen Spiel von Gesten und Licht und Schatten werden die Affekte abstrahiert, und auch die jeweilige räumliche Einbettung ist auf das Sorgsamste wiedergegeben – so als ob man in van Goyens verfallende Hütten gucken könnte. Als van Ostade nach 1640 die Drastik seiner Darstellungen reduziert, wird alles fast schon biedermeierlich und in jedem Fall deutlich ideologischer als es in den krassen Bildern der Fall ist. Diese zeigen in ihrer Intensität nichts Komisches oder Satirisches mehr an, durch das bürgerlicher Distanzgewinn möglich wird, sondern durchaus etwas Bedrohliches und darin wohl auch Begehrliches, nicht ein reines Symptom bürgerlicher Negativität, sondern bereits dessen Bearbeitung.135 133 Hierzu siehe: Kapitel 6 (Das synthetische Bild). 134 Etwa: Adriaen van Ostade, „Bauern in einer Taverne“, ca. 1635, München Alte Pinakothek, 26,8 × 36,3 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adriaen_van_Ostade_-_ Peasants_in_a_Tavern.jpg. Adriaen van Ostade, „Zechende und rauchende Bauern“, ca. 1635, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, 30 × 37 cm. https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Adriaen-vanOstade/Zechende-und-rauchende-Bauern/32DE80EB4F633D00A8BCAC900E65691A/. Adriaen van Ostade, „Bauern in einer Scheune“, 1630–1635, Privatsammlung, 33,7 × 27,3 cm. https://www.wikiart.org/de/adriaen-van-ostade/peasants-drinking-and-makingmusic-in-a-barn. Adriaen van Ostade, „Wirtshausszene“, 1636, 31 × 46 cm. https://www.wikiart.org/de/ adriaen-van-ostade/inn-scene. 135 Es wäre verführerisch, auch Albert Eckhouts sich heute in Kopenhagen befindliche neun Bilder, die er als Teilnehmer der ebenso militärischen wie wissenschaftlichen Expedition unter Johan Moritz von Nassau-Siegen in den frühen 1640er-Jahren in Brasilien gemalt hat, mit dem Haarlemer Bildverständnis in Zusammenhang zu bringen. Zweifellos handelt es sich um analytische Bilder, die nun im Dienste wissenschaftlich-anthropologischer Forschung stehen. Sie entwerfen bereits eine Typologie von ‚Rassen‘, gleichzeitig aber erkunden sie auch die Zwischenräume von Porträt und Typus; Selbstrepräsentation und Fremdrepräsentation, von Figuren und Situationen. Obwohl viele Klischees zur Anwendung kommen, gibt es doch gleichzeitig auch ein starkes, individualisierendes Interesse für die Figuren. Auch die einzige mehrfigurige Szene, ein ritueller Tanz von

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5.4.2. Auf dem Weg zur Handlung Erstaunlich an der Haarlemer Malerei insgesamt ist, in wie geringem Maß sie sich auf die konkreten religiösen, ökonomischen und politischen Turbulenzen der Zeit beziehen lässt. Reale Konflikte bleiben – im Gegensatz zum antagonistischen Bild – fast vollkommen ausgeblendet.136 Allerdings entfaltet sich gerade in ihrem analytischen Interesse eine große Bandbreite des Sozialen sowie der Ding- und der Raumwahrnehmung. Darin bildet sich die Malerei insgesamt als ein symbolisches Universum aus, das weder nur abbildhaft bzw. deskriptiv noch rein moralisierend verstanden werden kann. Vielmehr erschließt sich in ihr eine Welt, indem sie den Dingen, den Räumen und den sozialen Interaktionsformen spezifischen Sinn unterlegt. Dieser Sinn liegt weder in der empirischen Welt begründet noch in den moralischen Traktaten, sondern ausschließlich in der besonderen Medialität der Malerei selbst.137 Medialität heißt in diesem Zusammenhang, dass das nun konventionelle Format des Tableaus, die verfeinerten maltechnischen Mittel und die jeweiligen Bildkonzeptionen eine Schnittfläche gefunden haben, durch die hindurch Realismus, Repräsentation und Reflexivität als spezifische Einsätze von Malerei in ihrem Wechselspiel verhandelt werden können. Hier bildet sich daher weder eine Art von Autonomie noch eine direkte Funktionalität in der Repräsentation der jungen Republik aus. Diese findet in der Malerei vielmehr ein symbolisches Medium, durch das hindurch sie indirekt repräsentiert werden kann. Diese indirekte Repräsentation – basierend auf subjektiven Faktoren, den Bedingungen des Marktes und einzelner Kulturen oder Institutionen – kann daher weder im Sinn tatsächlich gelingender Repräsentation noch als bloß symptomatisches Indiz im Sinne von Roland Barthes verstanden werden.

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Kriegern mit zwei zusehenden Frauen, wirkt weniger exotisch als dies bei seinen späteren Nachfahren wie Paul Gauguin, Henri Matisse oder den Expressionisten der Fall sein wird. Albert Eckhout, „Tarairiu Tänzer“, 1643, Kopenhagen, Dänisches Nationalmuseum, 172 × 295 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Albert_Eckhout_1610-1666_Tarairiudansere.jpg?uselang=de. Albert Eckhout, „Porträt eines Mannes mit Muskete und Schwert“, 1643, Kopenhagen, Dänisches Nationalmuseum, 274 × 170 cm. (Abb. 30) https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/c/cc/MulatoAE.jpg. Hierzu siehe: Denise Daum, Albert Eckhouts „gemalte Kolonie“. Bild- und Wissensproduktion über Niederländisch Brasilien um 1640. Marburg (Jonas-Verlag), 2009. Zur Diskussion dieses Problems siehe: Svetlana Alpers, „Painting out of Conflict: Dutch Art in the Seventeenth Century“, in: Svetlana Alpers, The Vexations of Art. Velázquez and Others, New Haven, London (Yale University Press) 2007, S. 83–109. Zur Differenz von Mittel und Medium siehe vom Vf., Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Wien, Berlin (Turia+ Kant) 2017, S. 264–272.

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Indirekte Repräsentation wird so zur Voraussetzung dessen, was später Kunst heißen wird. In Amsterdam verschiebt sich diese grundlegende Konstellation auf signifikante Weise. Die Stadt war in kurzer Zeit noch größer und reicher geworden als Haarlem.138 Sie verkörpert den kapitalistischen Geist und den kolonialen Aufbruch in schier ungezügeltem Maß. 1602 war die Ostindische Kompanie als eine Art von Aktiengesellschaft gegründet worden, 1609 die Wechselbank, die bargeldlose Zahlungen vornahm und erstmals im Sinne einer Zentralbank fungierte; zwischen 1608 und 1611 wird das Börsen-Gebäude errichtet, das bereits als Waren- und als Wertpapier-Börse diente. Die Stadterweiterung rund um drei neu angelegte Grachten lässt viele palastartige Wohnhäuser entstehen, in deren Umfeld es zu massiven Immobilienspekulationen kommt. Die Politik wagt sich nach dem Friedenschluss von Münster im Jahr 1648 an ein wahrhaft repräsentatives Gebäude, den Neubau des Amsterdamer Rathauses, der eher wie ein Schloss wirkt und nicht nur die neu gewonnene Unabhängigkeit, sondern wohl auch die Dominanz Amsterdams innerhalb der Union verkörpern sollte. Nicht nur in ihrer institutionellen Struktur will die Stadt ihren neuen Reichtum und ihre politische Stellung zeigen; sie will sich an den Formen feudaler Repräsentation messen und doch nicht die religiöse Rechtschaffenheit und das republikanische Ethos ablegen. In den 1620er-Jahren kommt es noch zu harten, fast bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den ökonomisch orientierten Regenten und den calvinistischen Predigern, die überall Laxheit vor allem gegenüber den Remonstranten wittern, einer Bewegung innerhalb der reformierten Kirche, die sich der strengen Auslegung der Prädestinationslehre widersetzt hatte und auf der Synode von Dordrecht (1619) entmachtet wurde.139 1631, als der 25-jährige Rembrandt endgültig von Leiden, dem Zentrum der calvinistischen Dogmatik, nach Amsterdam zieht, hatten sich dort die toleranten Fraktionen bereits durchgesetzt. Jüdische, katholische, lutherische, mennonitische Gruppen und sogar die Remonstranten dürfen hier ihre Gottesdienste abhalten und nach öffentlichen Ämtern streben. In Rembrandts Werk wird sich diese vielfältige religiöse 138 Ein rasanter Bevölkerungszuwachs kennzeichnet die Stadt. Während Haarlem von 20.000 um 1580 auf 40.000 in der Mitte des 17. Jahrhunderts anwächst, kommt es in Amsterdam zu einer Steigerung der Bevölkerung von 40.000 im späten 16. Jahrhundert auf über 200.000 in den 1660er-Jahren. Generell zur sozio-ökonomischen Entwicklung siehe: Jonathan Israel, The Dutch Republic: Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806, Oxford, London (Oxford University Press) 1998; sowie Simon Schama, 1987 (Anm. 2). 139 zu Dordrecht siehe: Aza Goudriaan, Fred van Lieburg (Hg.), Revisiting the Synod of Dordt (1618–1619), Leiden (Brill) 2010; sowie Simon Schama, 1987 (Anm. 12), S. 250.

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Kultur nicht einfach zeigen;140 sie wird zum Ausgangspunkt einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der reformierten Religion – und mit Religion überhaupt. Die Malerei illustriert nicht mehr die christlichen Narrative oder drückt deren mehr oder minder humanen Potenziale aus; in ihrer spezifischen Medialität ringt sie vielmehr mit der Religion um die symbolische Deutungs-Hoheit innerhalb einer in vielerlei Hinsicht bereits modernen Gesellschaft. Ebenso werden die republikanische Politik und auch der immense Reichtum zum Thema einer Art von ‚engagierter‘ Malerei. Im Raum zwischen den Repräsentationsansprüchen einzelner Individuen und den imaginären Vorstellungsweisen der Gesellschaft insgesamt erobert Malerei sich einen besonderen symbolischen Ort. Damit wird sie selbst repräsentativ bzw. in ihrem repräsentativen Anspruch an das Gesamte der Gesellschaft deutlich direkter als in Haarlem, und damit auch umstrittener. Rembrandt war bereits 1625 ein halbes Jahr in Amsterdam gewesen, um bei Pieter Lastman (1583–1633), dem damals angesehensten Historienmaler der Stadt, zu lernen. Wie in Utrecht blieb auch in Amsterdam die Historienmalerei ein wichtiges Thema, weil man damit nicht nur die gewachsenen Ansprüche der eigenen Repräsentationskultur befriedigen, sondern auch weiterhin im internationalen Rahmen der entstehenden barocken Kultur um die höfischfeudalen Aufträge konkurrieren konnte.141 Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Tendenz aus Haarlem zu immer feinerer Differenzierung der Genres nicht mehr weitergeführt wurde. Die Genres sind nun bereits definiert; sie werden in Amsterdam den neuen Repräsentationsbedürfnissen angepasst. Das heißt, die Landschaften werden dramatischer, die Stillleben prunkvoller und selbst die Kircheninterieurs atmosphärischer und gleichzeitig in ihrer Funktionalität realistischer.142 In gewissem Sinn wird in diesem Kontext die Historienmalerei selbst zu einer Art von Genre. Rembrandt wird sich im Laufe seiner Karriere an fast allen Genres ­versuchen. Der frühe Impuls durch die Historienmalerei hinsichtlich der Dramatisierung eines besonderen, bedeutungsvollen Ereignisses bleibt jedoch entscheidend. Er wird diesen Ansatz auf die anderen Genres wie Porträt, Tronje, Gruppenporträt und selbst Stillleben oder Landschaft übertragen. Umgekehrt werden auch die Historienbilder zum Teil sehr genrehaft. Nicht die eindeutige Definition eines neuen Bildtypus als vielmehr ein kontinuierliches 140 Rembrandt porträtiert Rabbiner, Remonstranten, einen mennonitischen Prediger, Lutheraner und orthodoxe Calvinisten. 141 Lastman hatte etwa Aufträge von der Dänischen Krone. 142 Etwa in den Landschaften von Jacob Ruysdael, den Stillleben von Abraham van Beyeren oder Willem Kalf oder in den Kircheninterieurs von Emanuel de Witte.

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Changieren zwischen mehreren, bereits konventionellen Genres wird ihm zur eigentlichen Herausforderung. Von hier aus strebt seine Kunst immer wieder zu einer neuen Einheit: einer Synthetisierung der Genres und des analytischen Bildes insgesamt. Dieses Streben geht Hand in Hand mit Versuchen, das Situative durch eine neue Form von Handlung zu überwinden, die nicht im historischen Vorbild, sondern in der Gegenwart der holländischen Gesellschaft verankert ist. Es ist und bleibt jedoch dieses Transitorische selbst, die vielfältigen Übergänge zwischen Zustand und Situation, Situation und Handlung, Analyse und Synthese, Genre, Porträt und Historie, in denen sich seine eigentliche Leistung zeigt. In den Auseinandersetzungen mit der malerei- und bildspezifischen Darstellung der Wort-bezogenen Religion, generell mit dem Sprechen und der Erscheinungsweise des Wortes und der Schrift im Bild, und schließlich in der Verkörperung von Religion, Reichtum und Politik im Porträt entwickelt Rembrandt ein spezifisches Verständnis des Situativen. Er gelangt weder zum reinen Wort noch zum Aufbruch aus der Situation in die Handlung, sondern zu einer höchst differenzierten Rhetorik der Überredung, des Zeigens oder Schauens und zu einer besonderen Situation des Aufbruchs. Gerade darin bleibt seine Bildauffassung letztlich strikt analytisch. Wie Hals hat auch Rembrandt viele klassisch repräsentative Porträts gemalt. Die Ausstattung der Dargestellten, etwa mit den Zeichen ihres Reichtums, ihres Amtes oder ihrer Frömmigkeit, steht hierbei im Vordergrund. Es gibt jedoch eine Reihe von Bildern, in denen die Repräsentation selbst thematisiert zu werden scheint, allerdings nicht in Form jener für Hals und Leyster typischen Lässigkeit in der Haltung der Porträtierten, sondern in der Fokussierung auf den entscheidenden Moment, in dem sich der Zustand in eine Situation verwandelt. Bestens zu sehen ist dies in zwei Gemälden, die lange Zeit als zusammengehörig diskutiert wurden, es aber wohl nicht sind: im „Bildnis eines federschneidenden Mannes“ in Kassel und im grandiosen „Bildnis einer jungen Frau“ in der Wiener Akademiegalerie.143 (Abb. 31) In beiden Fällen sind die Dargestellten unbekannt. Auffallend ist, dass die sonst üblichen Attribute zurückgenommen und die Äußerlichkeiten durch einen starken Bezug auf Innerlichkeit ersetzt sind. Der federschneidende Mann scheint eben beim Schreiben innezuhalten. Er hat den Stuhl etwas vom Schreibtisch am rechten Bildrand weggerückt, um sich 143 Rembrandt van Rijn, „Bildnis eines federschneidenden Mannes“, 1632, Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, 103,5 × 84 cm. https://altemeister.museum-kassel.de/33758/. Rembrandt van Rijn, „Bildnis einer jungen Frau“, 1632, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, 92,5 × 71 cm. http://www.akademiegalerie.at/de/ Sammlung/Bildinformation/?image_name=72.

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den Betrachtenden mit nur geringer Drehung von Körper und Kopf zuwenden zu können. Hierbei blickt er gerade aus dem Bild heraus, scheint aber kaum etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Vielmehr wirkt der Blick so, als ob er nach innen gerichtet wäre; die ebenso asymmetrische wie asynchrone Dramaturgie der Augen – sie scheinen keinen gemeinsamen Fokus zu haben – erzeugt im feinen Wechselspiel mit der Gesichtsmuskulatur und einer subtilen Lichtregie jene sogartige Wirkung, durch die der Blick des dargestellten Mannes in sich selbst zurückzukehren scheint. Neben der schwarzen, den Körper verschluckenden Kleidung lässt auch die knapp sitzende Halskrause den Mann vergeistigt, an Äußerlichkeiten wenig interessiert erscheinen. Insgesamt wirkt er beinahe abwesend, nachdenklich; und selbst die Tätigkeit seiner Hände, das Spitzen des Federkiels, scheint routiniert zu erfolgen und keine besondere Konzentration zu erfordern. Dennoch ist gerade diese unbedeutende Tätigkeit notwendig, um die Arbeit des Schreibens fortsetzen zu können und um gleichermaßen die Bedeutung des Bildnisses zu erfassen. Denn zwischen dem Tintenfass und einigen Büchern liegt auf dem Schreibtisch ein noch fast leeres Stück Papier, das am oberen Rand die Signatur des Malers trägt, so als ob der Mann sie eben geschrieben hätte. Die Malerei schreibt sich derart selbst in die Charakterisierung der Person ein. In jedem Fall scheint Rembrandt den Zusammenhang zwischen Malen und Schreiben betonen zu wollen. Beides benötigt Augenblicke der Ruhe und der inneren Sammlung auf die Potenzialität einer Energie hin, die sich alsbald wieder mit aller Kraft in Form des Schreibens bzw. Malens entladen wird. Es geht hier also weder um einen statisch-repräsentativen Zustand noch um einen heroischen Akt des Schreibens oder Malens, sondern um den Moment dazwischen. Das Situative wird hier im Sinne eines höchst bedeutsamen Übergangs definiert; nicht genrehaft als Darstellung eines typischen oder typenhaften Geschehens,144 sondern als ebenso individuell wie symbolisch bedeutsam – als Repräsentation einer geistigen Potenz ausgerichtet hin auf ein kommendes Ereignis. Auch die junge Frau in Wien ist sitzend und als ein sogenanntes Kniestück wiedergegeben. Der Stuhl steht schräg zur Bildfläche und die Porträtierte dreht ihren Körper, die linke Hand auf die Armlehne gestützt, dynamisch nach rechts (auf die linke Bildseite hin), um schließlich fast frontal aus dem Bild blicken zu können. Vor dem homogenen dunklen Hintergrund hebt sich ihr schwarzes Kleid kaum ab; nur die Hände, die weißen Manschetten, die Halskrause und 144 Dies ist im Vergleich mit Gerrit Dous ähnlichem Thema deutlich zu sehen. Hierbei handelt es sich um ein genrehaftes Tronje, das einen Gelehrten beim Schärfen des Federkiels zeigt. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gerrit_Dou_-_Scholar_sharpening_a_ quill_pen.jpg.

Abb. 30 Albert Eckhout, „Porträt eines Mannes mit Muskete und Schwert“, 1643, Kopenhagen, Dänisches Nationalmuseum, 274 × 170 cm.

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die fast transparente Haube, die die Haare glatt nach hinten drückt und dabei die ovale Kopfform verlängert, rhythmisieren die Bewegung. Diese Bewegung kulminiert im blassen, streng konturierten Gesicht der Frau. Im Wechselspiel mit der spitzen Nase, dem leicht geöffnetem Mund und den erhöhten Wangen sind es wiederum die asymmetrisch und unfokussiert wirkenden Augen, die den Blick mehr nach innen als nach außen lenken. Hier repräsentiert sich niemand stolz in seinem Status oder Reichtum vor einem staunenden Publikum; vielmehr will jemand in seiner besonderen Persönlichkeit erkannt bzw. anerkannt sein. An die Stelle der distanziert-distinktiven repräsentativen Form, wie sie auch die meisten anderen Porträts Rembrandts bestimmt, tritt die Evokation einer geradezu unmittelbaren Anwesenheit. Das psychologische Moment des Bildes ist tatsächlich frappant. Man meint einer Seele zu begegnen, allerdings nicht im vernebelten, post-romantischen Sinn des 19. Jahrhunderts. Vielmehr geht es um eine typisch protestantische, nach außen hin orientierte Innerlichkeit. Die Seele steht dem rationalen Handeln in der Welt nicht entgegen, sie begründet dieses vielmehr. Dementsprechend korrelieren hier die Dynamik der Körperbewegung und die Innerlichkeit des Ausdrucks. Diese junge Frau repräsentiert sich so, als ob sie sich im nächsten Moment erheben wollte. Zwischen Anspannung und Entspanntheit signalisiert sie eine grundsätzliche Bereitschaft, die innere Freiheit als Signatur ihrer individuellen und darin doch typischen Persönlichkeit nach außen zu tragen. Was wir sehen, das ist die Situation eines jederzeit möglichen Aufbruchs, eines Übergangs vom kontemplativen zum aktiven Sein. Martha und Maria verschmelzen hier in eins. Ich möchte vorschlagen, in diesem labilen Moment der Situation zwischen Zustand und Handlung, wie es in diesen beiden Porträts aufscheint, eine Art von Grundkonstellation in Rembrandts Werk zu sehen, auf die er immer wieder zurückkommt. Allerdings scheint sie ihn nicht wirklich zu befriedigen; denn im Laufe der 1630er- und frühen 1640er-Jahre ringt er immer wieder damit, der Situation des Aufbruchs tatsächlich eine Handlung folgen zu lassen. Insbesondere in der Historienmalerei kann er sich in dieser Hinsicht austoben. Für die alttestamentarischen Themen als Schnittstelle zwischen Religion und politischer Geschichte145 scheint jedes Mittel recht zu sein, die Gewalt der Handlung exzessiv hervortreten zu lassen. Vor allem die Figur des Simson aus dem Buch der Richter, die schon bei Rubens zur Allegorie der aufständischen Niederlande erhöht worden war, bietet ihm ein heroisches Subjekt, an dem die Dialektik von Leid und Triumph exemplifiziert werden kann. Niemals wird jedoch – wie bei Rubens – ein siegreicher Held gezeigt, und selbst die 145 Sie waren selbst der calvinistischen Bildkritik weitgehend unverdächtig.

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drastische Darstellung des Leidens und der Demütigung des Helden in der „Blendung Simsons“146 bleibt eine Ausnahme. Besondere Aufmerksamkeit erfährt hingegen die besondere Gestik des Redens, des Argumentierens, des Drohens und schließlich – im „Gastmahl des Belsazar“ nach dem Buch Daniel – die Erscheinung von Schrift als Zeichen der Transzendenz im Bild. Eigentliche und exemplarische, bedeutungsstiftende Handlung findet daher auch hier nicht statt. Anstatt sich in Handlung zu transformieren, verschiebt sich die Situation vielmehr zu einer Art von kommunikativem Handeln bzw. zu einer visuellen Rhetorik des Sprechens, des Argumentierens, des Schauens und der Schrift, zwischen den irdischen Akteuren untereinander ebenso wie zwischen den irdischen Akteuren und einer transzendenten Instanz, die deren Handeln erst Bedeutung zu verleihen imstande ist. Im Dresdener Hochzeitsbild147 (Abb. 32) wird – ein höchst eigenartiges Thema für ein Historienbild – ein Rätsel gestellt; es wird jedoch nicht im Sinne eines fruchtbaren Augenblicks gelöst, in dem die Handlung Bedeutung zu stiften in der Lage wäre. Wie in Bruegels „Bauernhochzeit“ thront die Braut im Zentrum des Bildes in reiner Zuständlichkeit. Auf der linken Bildseite gruppieren sich – wie wiederum in den Abendmahldarstellungen – Paare in unterschiedlichen Kommunikationssituationen, während auf der rechten Bildseite Simson sich in dynamischer Körperdrehung einer Gruppe von aufmerksamen Personen zuwendet und ihnen unter plastischem Einsatz seiner Hände und Finger das Rätsel stellt. Zustand, Situation und ‚Handlung‘ sind hier gleichsam in ein Bild gefasst. Simsons demonstrative Abwendung von seiner Braut mag, unterstützt von einer dramatischen Lichtregie und dem sich zur rechten Seite hin öffnenden Raum, die eigentliche Handlung – das kommende Unheil – bereits andeuten. Im „Gastmahl des Belsazar“ ist ein solches kommendes Unheil sogar unmittelbar das Thema des Bildes.148 Belsazar, wiedergegeben im prächtigen, orientalisierten Gewand, wie es Rembrandt schon für einige seiner Tronjes verwendet hatte, beherrscht zwar das Bild in weit ausgreifender Gestik; er ist aber nicht der eigentlich Handelnde. Er reagiert bloß, indem er erschrocken von der Tafel hochfährt und sich zur Seite dreht. Im Hintergrund, in der rechten oberen 146 Rembrandt van Rijn, „Die Blendung Simsons“, 1636, Frankfurt am Main, Städel Museum, 205 × 272 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Rembrandt_Blendung_Simsons@St% C3%A4del_Museum_Frankfurt20170818.jpg. 147 Rembrandt van Rijn, „Simson, an der Hochzeitstafel das Rätsel aufgebend“, 1638, Dresden, Gemäldegalerie, 126 × 175 cm. https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/ 376236. 148 Rembrandt van Rijn, „Das Gastmahl des Belsazar“, 1635, London, National Gallery, 167 × 209 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Gastmahl_des_Belsazar#/media/Datei: Belshazzar%E2%80%99s_feast,_by_Rembrandt.jpg.

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Ecke des Bildes, ist aus einer dunklen Wolke kommend eine unheimliche Hand erschienen, die hebräische Bildzeichen in einem strahlenden Lichtkreis an die Wand schreibt. Auch die nur in Rückenansicht zu sehende Frau rechts neben ihm sieht die Erscheinung und verschüttet vor Schreck den Wein.149 Die übrigen Teilnehmer des Gastmahls blicken überrascht auf den hochfahrenden Belsazar, während die wiederum nur in Rückansicht zu sehende Frau am linken Bildrand die Beobachter zu beobachten scheint. Das Transzendenz-Motiv der ins Bild einbrechenden Schrift, die nur vom Propheten Daniel gedeutet werden kann und das nahe Ende der irdischen Herrlichkeit ankündigt, scheint Rembrandt einem Stich Otto van Veens zum Thema der Transzendenz entliehen zu haben.150 Dort war der paradoxe Versuch unternommen worden, dasjenige, was sich jeder Empirie entzieht, zum Thema einer bildlichen Darstellung zu machen, wobei Schrift und Bild – der einen Wolkenverbund durchbrechende Strahlenkranz – allegorisch miteinander verknüpft wurden. Rembrandt bindet diese Allegorie in seine besondere Erzählform ein. Die Schrift erklärt nun nicht mehr das Bild; sie wird zum Zeichen des Unerklärlichen, zur transzendentalen Dimension des Bildes selbst. Gerade in dieser Unerklärlichkeit kündigt sie die Grenzen der irdischen, bildlich repräsentierbaren Handlungsmacht an und evoziert die eigentliche und unsichtbare, letztlich göttliche Instanz eines jeden Handelns. Die Dimensionen von Bild und Schrift überlagern sich mit denen von Immanenz und Transzendenz, und die Aktualität der Repräsentation von Reichtum und Herrschaft erweist sich als äußerst vergänglich im Angesicht eines einbrechenden Realen, der in der Schrift manifestierten Ewigkeit. Näher als in diesen Historienbildern wird Rembrandt nicht mehr an den Barock und an das synthetische Bild gelangen. Huizinga hatte hierin – und speziell im „Belsazar“ – eine unentschuldbare Abweichung von der spezifisch holländischen Kulturaufgabe gesehen, die Rembrandts Rang insgesamt empfindlich einschränke. In unserem argumentativen Zusammenhang erscheinen die Historienbilder jedoch keineswegs als Verirrungen. Die Historien können geradezu als Probe auf die Gegenwart gelten. Denn die Frage des Handelns stellt sich auch in den gegenwartsbezogenen Formaten: vor allem in den Doppelporträts, die sehr situativ und fast genreartig werden und in den berühmten Gruppenporträts. Entscheidend ist jedoch, dass auch in den Historienbildern die Unmöglichkeit des irdischen, rein immanent definierten 149 Ebenfalls ein Motiv, das auf die „Bauernhochzeit“ von Pieter Bruegel d. Ä. verweist. 150 Otto van Veen, „Oculus non videt nec auris audivit“, aus: Emblemata horatiana, 1607. Rembrandt wird dieses Motiv auch in seiner sogenannten „Faust“-Radierung von 1648 verwenden. https://de.wikipedia.org/wiki/Transzendenz#/media/Datei:Emblem_-_ Oculus_Non_Vidit.jpg. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/67/Rem brandt%2C_Faust.jpg.

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Handelns thematisiert wird, und diesem Handeln eine transzendente Schranke gesetzt wird. Gut zu sehen ist dies auch in den beiden Versionen der „Opferung Isaaks“, wo jeweils aus dem Off des Bildes ein Engel eingreift, um den Vollzug der Handlung zu verhindern.151 Es geht hier also um etwas ganz anderes als um die mehr oder weniger dramatische Schilderung eines bedeutsamen Geschehens aus den neutestamentarischen oder mythologischen Themenfeldern, wie sie die italienische und schließlich auch die flämische Tradition bestimmen. Rembrandt ist weder Erzähler noch im eigentlichen Sinn Dramatiker.152 Vielmehr geht es meist um eine Rhetorik des Situativen, in der sich eine Bereitschaft zum Handeln oder gar ein Handeln-Wollen ausdrückt, das sich jedoch letztendlich als unmöglich erweist. In den gegenwartsbezogenen Formaten gibt es die transzendente Schranke nur in Andeutungen. Sie bleibt jedoch bestehen; sie verschiebt sich bloß auf das kommende Ereignis und etabliert somit jene Rhetorik des Aufbruchs, mit der Rembrandt für die Moderne so eminent bedeutsam geworden ist. Im Jahr 1633 hatte Rembrandt tatsächlich einen seiner Porträtierten sich aus dem Stuhl erheben lassen – ohne dass sich daraus irgendwelche Konsequenzen ergeben würden.153 Im selben Jahr dramatisiert er insbesondere das Doppelporträt auf beträchtliche Weise. Im Bostoner Bild154 präsentieren sich Mann und Frau zwar in erster Linie über den Reichtum ihrer Kleidung; es werden jedoch bereits situative Elemente eingearbeitet. So steht der Mann zwischen einem leeren Stuhl und einer kurzen Treppe im Bildhintergrund, neben der eine Landkarte hängt. Mit noch einem Handschuh an der Hand signalisiert er zweifellos ein Moment zwischen Ankunft und Aufbruch, während die Frau in ihrem deutlich bequemeren Sessel sitzend die Statik des Heims repräsentiert. Interessant ist der Abstand zwischen den beiden Personen; es gibt keinerlei 151 Rembrandt van Rijn, „Die Opferung Isaaks“, 1635, St. Petersburg, Eremitage, 193 × 132 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rembrandt_The_Sacrifice_of_Abraham.jpg. Rembrandt van Rijn, „Die Opferung Isaaks“, 1636, München, Alte Pinakothek, 195 × 132,3 cm. https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/rembrandt-harmensz-van-rijn/dieopferung-isaaks. 152 Siehe: Jacob Burckhardt, Erinnerungen aus Rubens (1898), Kritische Gesamtausgabe Band 11, München (C.H. Beck) 2006; Ivan Nagel, Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leondardo, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009. 153 Rembrandt van Rijn, „Porträt eines Mannes, der sich aus seinem Stuhl erhebt“, 1633, Cincinnati, Ohio, The Taft Museum of Art, 124,1 × 98,4 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/ Portrait_of_a_Man_Rising_from_His_Chair#/media/File:A_man_rising_from_his_chair,_ by_Rembrandt.jpg. 154 Rembrandt van Rijn, „Doppelporträt eines Herren und einer Dame in Schwarz“, 1633, Boston, Isabella Stewart Gardner Museum, gestohlen, 131,6 × 109 cm. https://de.wikipedia. org/wiki/Datei:A_lady_and_gentleman_in_black,_by_Rembrandt.jpg.

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Überschneidungen oder Berührungen, nur die Fußspitze des Mannes reicht in der Projektion auf die Bildfläche an den Saum des Kleides. Auch die Blicke überkreuzen sich, ohne einander zu treffen. Der Mann sieht herausfordernd aus dem Bild, während die Frau in leichter Schräglage ihres Kopfes am leeren Stuhl auf der linken Bildseite vorbei zu lächeln scheint. Das Porträt eines „Schiffbauers und seiner Frau“155 wirkt nun vollends wie eine Verknüpfung des Kasseler und des Wiener Bildes. Der Mann, ein Aktionär und Schiffbauer der Ostindischen Kompanie, sitzt zur linken Bildseite hin mit dem Zirkel in der Hand zwischen seinen Papieren an einem runden Arbeitstisch. Auch er hält in der Arbeit inne, um sich in starker Drehung des Oberkörpers seiner Frau zuzuwenden, die ihm, durch eine Tür im Hintergrund auf der rechten Bildseite kommend, einen Brief bringt. Die Frau ist hier aktiv geworden. Mit der linken Hand hält sie noch den Türknauf, während sie in der Rechten bereits über die Lehne des Stuhls hinweg den Brief an den Mann reicht. Ein Moment der Plötzlichkeit und Dringlichkeit bestimmt die aufeinander bezogenen Tätigkeiten von Mann und Frau. Sie machen zweifellos gemeinsame Sache, wobei hier die Frau die Außenbezogenheit – wohl die organisatorischen und kommunikativen Aspekte der Arbeit und der Mann deren konzentrierte Ausführung in seiner Klause repräsentiert. Die innere Spannung der Einzelporträts von Kassel und Wien geht hierbei allerdings weitgehend verloren. Acht Jahre später, in „Der Mennonitenprediger Cornelis Claesz Anslo und seine Frau Aeltje Gerritse Schouten“ wird diese eheliche Interaktion noch einmal anders definiert.156 Die offensichtliche Handlungsmacht kehrt zum Mann zurück, jenem mennonitischen Laienprediger Anslo,157 der seiner Frau eine Predigt hält. Von seinem erhöhten, üppig dekorierten Sessel aus wendet er sich in fast schon lässiger Körperdrehung der deutlich unter ihm, direkt am rechten Bildrand auf einem Stuhl sitzenden Frau zu. Mann und Frau sind in die rechte Bildseite gedrängt, während die linke einem mächtigen, mit üppigen Teppichen behangenen Tisch vorbehalten ist, auf dem mehrere schwere Bücher, eines von ihnen aufgeschlagen, auf einem hochragenden hölzernen Podest liegen. Die Lektüre scheint eben beendet zu sein, die Kerze hinter den Büchern ist erloschen und der Mann wendet sich sprechend der hörenden 155 Rembrandt van Rijn, „Der Schiffbauer und seine Frau“, 1633, London, Royal Collection, 113,8 × 169,8 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0a/2-1637%29_ and_his_Wife%2C_Griet_Jans_-_Google_Art_Project.jpg. 156 Rembrandt van Rijn, „Der Mennoniten Prediger Cornelis Claesz Anslo und seine Frau Aeltje Gerritse Schouten“, 1641, Berlin, Gemäldegalerie, 173,7 × 207,6 cm. https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/3/36/Rembrandt_-_The_Mennonite_Preacher_ Anslo_and_his_Wife_-_Google_Art_Project.jpg. 157 Die Mennoniten waren eine dem Täufertum entsprungene reformatorische Sekte.

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Frau zu. Entscheidendes Motiv hierbei ist der linke, mit dem Ellbogen auf der Armlehne ruhende Unterarm des Mannes und die zugehörige, vom Licht dramatisch erfasste Hand, die sowohl von rechts nach links zeigt – und wohl die Aufmerksamkeit der Frau auf die heiligen Bücher lenken soll – als auch in der Verkürzung die Bildfläche zu durchstoßen scheint und somit die Betrachtenden vor dem Bild direkt adressiert. Diese Hand wird hier gleichsam selbst zum Wort; sie trägt es nicht nur vor. In der starken Isolierung von ihrem konkreten Umfeld und in ihrer bilddramaturgischen Situierung knapp rechts von der Bildmitte verdichtet Rembrandt in ihr das gesamte ‚Vokabular‘ traditioneller Gestik. Die unterschiedlichen rhetorischen Funktionen des Zeigens, des Exemplifizierens und Belegens, des Argumentierens und des Beschwörens einer in Buch verankerten göttlichen Evidenz scheinen in eins zu fallen. Zudem ist diese Hand deutlich stärker an die Betrachtenden als an die Frau im Bild gerichtet, die letztlich an ihr nur vorbei in Richtung des aufgeschlagenen Buches auf dem Tisch sieht. Die Betrachtenden hingegen sehen Hand, Tisch und Bücher aus einer starken Untersicht, wodurch auch ihnen eine, gegenüber dem verkündeten Wort niedrigere Position zugewiesen wird. Vor dem Bild ist hier wie unter der Kanzel. Bücher, Hand und Wort sind jedoch keineswegs als immaterielle, innere Qualitäten dargestellt; sie gehören jemanden: Anslo und seine Frau sind mit Zeichen großen Besitzes ausgestattet. Als international gut vernetzte Tuchhändler konnten sie sich die kostbaren Teppiche, Folianten und Pelze, die beide schmücken, ohne Weiteres leisten. Was sich repräsentiert, das ist die innige Verschränkung von Reichtum und Rechtgläubigkeit in einer spezifischen Situation des Sprechens und des Hörens. Es gibt hier keinen Antagonismus mehr; Rembrandt strebt vielmehr nach einer Synthese im Sinne eines Historienbildes. In der visuellen Dramatisierung des Wortes sollen sich die Gegensätze zwischen Besitz und Religion, Wort und Bild, Sprechen und Hören, Porträt und Handlung auflösen. Der Prediger wird hier zum Helden. In ihm synthetisieren sich die Figuren des das Rätsel aufgebenden Simson, des Schiffbauers und die Figuren des Kasseler wie des Wiener Porträts. Aus der inneren Konzentration heraus und nach Vollendung der Lektüre will das Wort nach außen getragen werden. Als Betrachtende sehen wir allerdings nur dieses Wollen; wir hören das Wort nicht.158 Das heißt, die Lektüre der Schrift und das in dieser Lektüre ausgelegte und schließlich 158 Das war bereits der Einwand Joost van den Vondels gegen das Bild: „Nun denn, Rembrandt, male Cornelis’ Stimme, / Das Sichtbare ist der unwichtigste Teil von ihm: / Das Unsichtbare erfährt man nur durch die Ohren. / Wer Anslo sehen will, muß ihn hören.“, zitiert nach: https://smb.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=61451.

Abb. 31 Rembrandt van Rijn, „Bildnis einer jungen Frau“, 1632, Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, 92,5 × 71 cm. Foto: Museum

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gesprochene Wort werden bildgemäß dramatisiert. Es entsteht keine wirkliche „handlungsmäßige Geschlossenheit“,159 sondern eine genrehafte Rhetorik der Überredung und des Situativen. Darin zeigt sich nicht nur die innere Widersprüchlichkeit des bildhaft dargestellten, gesprochenen Wortes, der paradoxe Zusammenfall von schriftlich-theologisch fixierter Wahrheit und rhetorischem Ausdruck.160 Auch die in der ‚sprechenden‘ Hand verkörperte Handlung des verkündeten Wortes durchstößt und überwindet die Situation des Sprechens nicht. Es kommt zu keinem tatsächlichen „Wahrsprechen“, sondern wiederum zu einem relationalen und kommunikativen Handeln, das die Frau als eine erste Zuhörerin ebenso mit einschließt wie die dieses Zuhören sehenden Betrachtenden vor dem Bild. Anstelle der Verkündigung der Wahrheit erscheint bloß das durch die biblische Autorität gestützte patriarchale Wort. Bereits 1632 hatte Rembrandt versucht, auch das Gruppenporträt als Historienbild aufzufassen. Die „Anatomie des Dr. Tulp“ gab ihm die Gelegenheit, die Dramatisierung einer Gruppe ereignishaft zuzuspitzen.161 Doch auch hier wird nicht eigentlich und exemplarisch gehandelt. Ebenso wenig wird im Bild bereits gesprochen; Hände und Blicke kommunizieren jedoch sehr beredt. Sieben Männer sehen dem Anatomen zu, wie er anhand eines männlichen Leichnams die Funktionsweise von Sehnen und Muskeln des linken Unterarms demonstriert.162 Die Männer stehen um den nahezu bildparallel präsentierten, auf einer Holzbahre tief im Bild liegenden Leichnam. Links davon und in der Bildlogik gleichzeitig vor dem toten Körper finden noch zwei Männer Platz, während Dr. Tulp dahinter steht und nahezu die gesamte rechte Bildhälfte einnimmt. Über den Kopf des Leichnams hinweg 159 So die positiv verstandene Formulierung auf der website der Berliner Galerie; siehe auch: Kerstin Wittmann-Englert, „Die Sprache der Hand. Neue Erkenntnisse zum Doppelporträt des Mennonitenpredigers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau Aeltje Gerritse Schouten (1641)“, in: Jahrbuch der Berliner Museen 47 (2005), S. 149–157. 160 In einer Radierung, die Anslo alleine an seinem Schreibtisch zeigt, spitzt Rembrandt den Gegensatz von Schrift und Bild noch weiter zu. Im Bildhintergrund findet sich ein leerer Haken an der Wand; das Bild ist abgenommen worden und kündigt seine eigene Überwindung an. Hierzu: Werner Busch, „Zu Rembrandts Anslo-Radierung“, in: Oud Holland 86 (1971), S. 196–199. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/391685. 161 Rembrandt van Rijn, „Die Anatomie des Dr. Tulp“, 1632, Den Haag, Mauritshuis, 169,5 × 216,5 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Anatomie_des_Dr._Tulp#/media/ Datei:Rembrandt_-_The_Anatomy_Lesson_of_Dr_Nicolaes_Tulp.jpg. 162 Zum historischen realen Hintergrund der anatomischen Theater, der wissenschaftlichen Diskussion und der realen Handhabung, aber auch zur Geschichte der AnatomieDarstellungen und zur Geschichte der Interpretation des Bildes siehe: Simon Schama, Rembrandt’s Eyes, London (Penguin) 1999, S. 342–353. Dort auch die ältere Literatur zu dem Bild.

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blicken noch fünf weitere Männer, in drei Reihen übereinander angeordnet, aus dem Bildhintergrund auf das Geschehen. Ganz in der rechten unteren Bildecke, neben den Füßen des Toten und scheinbar an diese anschließend, ist ein geöffnetes Buch, wohl ein Werk mit anatomischen Illustrationen, zu sehen. Dr. Tulp – er trägt als einziger einen breitkrempigen Hut – hebt mit einer Art Zange in der rechten Hand die Muskeln des geöffneten Unterarms an und demonstriert gleichzeitig mit seiner linken Hand, wie diese Muskeln die Bewegung der Finger steuern. Diese dreifache, von der Lichtregie subtil unterstützte Demonstration – am toten Arm des Delinquenten, an der lebenden Hand des Anatomen und in der wissenschaftlichen Abbildung im Buch – erlaubt es Rembrandt, die Blicke der Zusehenden in ihren Richtungen, aber auch in der Intensität des Ausdrucks zwischen Konzentration, Erstaunen und Neugier zu variieren. Nur der am höchsten stehende Mann blickt direkt aus dem Bild heraus auf die Betrachtenden; ein wenig darunter und etwas weiter nach rechts in Richtung des Anatomen versetzt, lässt einer der Männer den Blick aus einer starken Drehung des Kopfes heraus über den rechten Arm des Anatomen hinweg auf die Betrachtenden schweifen. Diese sind somit in ihrem Sehen mit adressiert; sie nehmen gleichsam an der anatomischen Demonstration teil. Die theatrale Präsentationsform der Anatomie überträgt sich auf den Akt der Bildbetrachtung. In der Situation des sehenden Schauens scheint es keinen Unterschied zu geben. Doch während im Bild der Aufbruch vom Zustand des repräsentativen Seins in die Situation des Schauens gezeigt wird, sich die Männer also in ihrem Schauen repräsentieren lassen, gibt es für die Betrachtenden ein reflexives Moment, das das Sehen dieses Schauens betrifft. Man sieht als Betrachtender nicht nur die anderen beim Sehen; da man sich als Teil der Gruppe erfährt, begreift man auch sich selbst als zusehend. Zwischen dem Sehen des Bildes und dem Zusehen bei einer anatomischen Demonstration, zwischen den dargestellten Blicken und dem implizierten Blick auf das Bild entfaltet sich ein spezifischer, von der Bildkonzeption hervorgebrachter Spielraum. Aus ihm heraus lässt sich die Analytik der Anatomie in eine Analytik der menschlichen Physiognomik, eine visuelle bzw. malerische Anatomie des Sehens und des Schauens verwandeln. Doch es gibt noch eine weitere Dimension. Denn obwohl Dr. Tulp die meisten Blicke auf sich zieht, handelt auch er nicht wirklich, zumindest nicht im bedeutungsstiftenden und beispielgebenden Sinn der Historienmalerei. Er scheint sogar den Zustand der Repräsentation kaum zu verlassen; darin wird er zwar zum Zentrum der Situation – dem Spektakel der Blicke –, nicht aber zum Ausgangspunkt einer Handlung. Sein eigener Blick schweift sogar ins Leere; er transzendiert die Situation und bringt den eigentlich Handelnden ins Spiel: den göttlichen

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Schöpfer der Kreatur.163 Auch hier findet sich eine transzendente Schranke für das Handeln, denn die protestantische Wissenschaft hofft, im analytischen Zerteilen und Zerlegen letztlich den Plan Gottes zu finden. Doch zwischen dem empirischen Augenblick der Anatomie und der Ewigkeit des darin sichtbar werdenden Bauplans kann es keine Identität geben, ebenso wenig wie zwischen Religion und Wissenschaft. Die Differenz definiert jenen Zwischenraum im Symbolischen, aus dem heraus die Malerei zur Kunst werden kann. Zwischen zwei Wahrheitsregimen etabliert sie eine Art von konstitutiver Abweichung, eine Verschiebung der Handlung auf eine Analytik der Differenz hin, in der zwischen Schauen und Sehen, Vision und sezierendem Blick, Demonstration und Darstellung unterschieden werden kann. Gleichzeitig werden die Elemente der analytischen Physiognomik zu einem Theater der Affekte. Die Wahrheit der Malerei bleibt hier strikt rhetorisch. Zehn Jahre später, in der sogenannten „Nachtwache“,164 transformiert Rembrandt nun das Genre des Gruppenporträts vollends; er synthetisiert das Gruppenporträt und die Historienmalerei auf die Darstellung eines aktuellen Geschehens hin. Eine Bürgerwehr wird hier nicht beim Bankett, sondern tatsächlich in Aktion gezeigt.165 Nicht nur die sechzehn zahlenden Offiziere sind in ihren Porträts dargestellt, sondern noch weitere sechzehn Personen – durch Überschneidungen vielfach nur in Details zu erkennen –, die die volle Kompaniestärke bzw. generell eine große Menge repräsentieren sollen. Die Männer bewegen sich von der rechten Bildseite kommend auf die Mitte zu, um dort von ihren beiden Anführern, Hauptmann Frans Banninck Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburch, nach vorne geführt zu werden, direkt auf die Betrachtenden zu. Weitere Personen scheinen durch den Torbogen im Bildhintergrund zu strömen, während auf der linken Bildseite eher zusehende Figuren entlang eines Geländers platziert sind.166 Nahe dem Bildzentrum öffnet sich eine Art von Blicktunnel auf die beiden berühmten, sich inmitten des Getümmels bewegenden und von der Lichtregie dramatisch hervorgehobenen Mädchen. Bereits Riegl hatte hier die „Vernichtung“ der 163 Ich folge in dieser Lesart Simon Schama, 1999 (Anm. 162), S. 353. 164 Rembrandt van Rijn, „Offiziere und andere Schützen des Bezirks II in Amsterdam, unter Führung von Hauptmann Frans Banninck Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburch, bekannt als ‚Die Nachtwache‘“, 1642, Amsterdam, Rijksmuseum, 363 × 437 cm. https:// de.wikipedia.org/wiki/Die_Nachtwache#/media/Datei:Rembrandt_van_Rijn-De_ Nachtwacht-1642.jpg. 165 Als Anlass wird meist der Einzug der Maria von Medici 1638 in Amsterdam genannt. Diese Referenz scheint mir aber ohne jede Bedeutung für das Bild zu sein. 166 Als das Bild im Jahr 1715 vom Haus der Bürgerwehren in das Rathaus verlegt wurde, wurde es gerade auf der linken Seite am stärksten beschnitten.

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konventionellen Bildform des Gruppenporträts gesehen – im Triumph der subordinierenden Bildeinheit, repräsentiert in den beiden dominanten Anführern der Bürgerwehr, über die koordinierende Aneinanderreihung gleichrangiger Porträts. Und tatsächlich bringt Rembrandt etwas an sein Ende. Doch gleichzeitig begründet er etwas Neues, das allerdings nicht mehr im Rahmen der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts verstanden werden kann. Denn hier gibt es keine weiterführende Rezeption mehr. Erst im 19. Jahrhundert, bei Eugène Delacroix, Gustave Courbet und Guiseppe Pellizza da Volpedo transformiert sich die „Nachtwache“ zur Inkunabel der modernen Revolutionsbilder.167 Dieses Neue betrifft in erster Linie den subjektiven Einsatz des Malers hinsichtlich der Konzeption, der Struktur und der Ausführung des Bildes, durch den ein Ganzes oder Allgemeines in Erscheinung treten kann. Gegenüber der konventionellen Gruppe wird hier ein Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen, dem Maler, und einer imaginierten Gemeinschaft und Gesamtheit hergestellt.168 Es kommt zum Auftritt einer Menge, die später „Volk“ genannt werden wird aus strikt subjektiver Sicht. Diese Menge repräsentiert sich in einer fast schon chaotischen Vielfalt an gegenständlichen und gestischen Details und einer subtilen Differenzierung von farblichen, lichtdramaturgischen und tiefenscharfen Akzenten,169 bei gleichzeitig streng einheitlicher Bildstruktur und Bewegung. Was wir sehen, ist keine einfache Ansammlung von einzelnen Personen mehr, keine beliebige Bürgerwehr, die sich hier darstellen lässt, sondern eine idealisierte republikanische Gemeinschaft – vielleicht die Stadt Amsterdam

167 Eugène Delacroix bedient sich buchstäblich bei einer Reihe von Figuren, um daraus seine, „das Volk führende Freiheit“ zu konstruieren. Gustave Courbet übernimmt in der „ausrückenden Feuerwehr“ von 1851 das Kompositionsschema und Pellizza da Volpedo verwandelt die holländische Bürgerwehr in den „vierten Stand“, das Industrieproletariat des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auch Louis Lumières Film „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1895 könnte in diesem Zusammenhang gesehen werden. https://de.wikipedia. org/wiki/Die_Freiheit_f%C3%BChrt_das_Volk#/media/Datei:Eug%C3%A8ne_Dela croix_-_Le_28_Juillet._La_Libert%C3%A9_guidant_le_peuple.jpg. https://fr.wikipedia. org/wiki/Fichier:Pompiers_courant_au_feu_by_Gustave_Courbet_1851.png. https://de. wikipedia.org/wiki/Der_vierte_Stand#/media/Datei:Quarto_Stato.jpg. 168 Es kommt daher nicht nur zur Überwindung des konventionellen Gruppenporträts, sondern der bürgerlichen, städtischen Repräsentation generell, wie sie seit dem 14. Jahrhundert, vor allem in Siena und auch in Florenz aufgekommen war. Siehe: Ivan Nagel, 2009 (Anm. 152); sowie: Michael Kühr, Ambrogio Lorenzetti: Gute und schlechte Regierung. Eine Friedensvision. Bilder und Gedanken von Homer bis Dante. Ein Freskenzyklus im Palazzo Pubblico in Siena, Mandelbachtal 2002. 169 Daran hat sich die im Wesentlichen klassizistisch inspirierte Kritik des Bildes von Joachim von Sandrart bis Johan Huizinga festgebissen.

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selbst – in der Prunk und Wehrhaftigkeit miteinander verschmelzen.170 In der „Nachtwache“ geht es tatsächlich um ein Handeln, um ein gemeinsames und öffentliches, vor aller Augen stattfindendes Tun im Sinne Hannah Arendts.171 Sich im Handeln zeigen und in diesem Handeln gesehen werden sind die zentralen Themen des Bildes; sie betreffen jedoch auch das, was das Bild selbst für die Betrachtenden darstellen will. Denn das Bild strebt gleichsam zu einer Handlungsform. Im Schwenk von der klassisch erzählerischen, bildparallelen Bewegung zur frontalen Bewegung aus dem Bild heraus gelingt nicht nur die überzeugende Darstellung des Aufbruchs einer Menge. Darüber hinaus scheinen die Figuren aus dem Bild heraustreten zu wollen. Sie interagieren nicht einfach mehr über eine Schwelle hinweg oder mithilfe von Blickkontakten mit den Betrachtenden, sondern gehen direkt auf diese zu. Die linke Hand des Hauptmanns nimmt die dramatisierte Rhetorik der Hände des Dr. Tulp und des Predigers Anslo auf; sie ist hier allerdings in noch stärkerer Verkürzung wiedergegeben, sodass der Bewegungsimpuls direkt nach vorne geht. Diese Hand, deren Schatten auf den Leutnant fällt, und die Spitze des Speers, den dieser in seiner linken Hand hält, scheinen wirklich die vierte Wand der Bildfläche mittels eines 3D-Effekts zu durchstoßen. Derart wird der Vorstellungshorizont einer Handlung eröffnet, die jenseits des Bildes liegt. Hierin liegt die ultimativ moderne, höchst paradoxe Bild-Formel begründet – hinsichtlich der Idee eines Bildes, das mehr sein will als ein Bild. Nicht nur das Problem des Bildes in der Moderne taucht hier auf, sondern auch das Problem des Handelns selbst. Denn das in der „Nachtwache“ sichtbare Handeln ist ja letztlich nichts anderes als ein dekorativer Aufzug, aus welchem Anlass er auch immer stattfinden mag. Das Bild dynamisiert und dramatisiert, es subjektiviert und generalisiert das Geschehen rund um eine militärische Gruppe, die auf Befehl ihres Anführers in ihrem Ausrücken zum eigentlichen Handlungsträger wird. Diese Gruppe artikuliert jedoch wiederum nur mit großem rhetorischen Aufwand ihre Bereitschaft zum Handeln und bleibt letztlich in der Situation des Aufbruchs gefangen. Das eigentliche, republikanische oder politische Handeln selbst kann nicht im Bild dargestellt und wohl überhaupt nicht repräsentiert werden. Es müsste uns alle umschließen. In dieser Unmöglichkeit wurzelt die Idee der Avantgarde, verstanden als Überwindung des Bildes in Handlung bzw. in die Unmittelbarkeit einer Praxis. Doch auch diese Überwindungsversuche 170 Vielleicht soll sich hier der Stolz auf die republikanische Tugend gegenüber den Stadthaltern in Den Haag ausdrücken, denen sich Rembrandt in einer Skizze ebenfalls anempfohlen hatte: „Die Einheit des Staates“, 1635–1641, https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Rembrandt_van_Rijn_-_The_Concord_of_the_State_-_Google_Art_Project.jpg); hierzu siehe: Simon Schama, 1999 (Anm. 162), S. 482–485. 171 Hannah Arendt, 2001; Hannah Arendt, 2011 (Anm. 93).

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werden nicht gelingen und letztlich immer wieder auf die subjektiven und repräsentativen Bedingungen der modernen Kunstproduktion zurückverweisen. Kunst wird sich sogar als das eminente symbolische System erweisen, das es erlaubt, solche Paradoxien und Gegensätze – zwischen Bild und Praxis, Situation und Handlung, Subjektivität und Allgemeinheit – zu verhandeln.172 In der konstitutiven Unbestimmtheit, der Unmöglichkeit einer eindeutigen Zuordnung zu den jeweiligen Polen dieser Gegensätze liegt also keineswegs die Unmöglichkeit einer spezifischen Wahrheit der Kunst begründet; vielmehr wird sie dadurch erst ermöglicht. Diese kategorische Unbestimmtheit fordert jedoch stets eine konkrete Bestimmtheit, den ebenso realistischen wie reflexiven Einsatz einer spezifisch künstlerischen, also immer schon symbolisierten, vermittelten und bedingten Praxis. Das Amsterdamer Gruppenporträt steht hier allerdings noch nicht an seinem Ende. Riegl hatte in Bartholomeus van der Helsts zwischen 1639 und 1643 gemalten Schützenstück um den Hauptmann Roelof Bicker und den Leutnant Jan Michielsz. Blaeuw,173 das ebenfalls im großen Saal des Schützenhauses präsentiert wurde, eine gemalte Kritik an der „Nachtwache“ gesehen und das Bild als Rettung der Koordination und der präzisen, repräsentativen Porträtkunst hochleben lassen. Etwas später gelangt van der Helst jedoch tatsächlich zu einer höchst eigenständigen Interpretation einer Gruppe. Es handelt sich allerdings um kein Bildnis einer Bürgerwehr mehr.174 Das Bild „Zwei Regenten und zwei Regentinnen des Spinnhauses in Amsterdam“ von 1650175 (Abb. 33) schließt zwar in mancher Hinsicht an frühere Bildnisse dieses Typs an, die sich seit den 1620er-Jahren bereits deutlich von den Darstellungen der Bürgerwehren in ihrem Fokus auf die spezifischen Tätigkeiten der Dargestellten 172 Auch die „Nachtwache“ ‚versöhnt‘ also nicht die Riegl’schen Gegensätze zwischen innerer und äußerer Bildeinheit; sie spitzt sie vielmehr zu. Zu Riegls Begriffen siehe: Georg Vasold, „Alois Riegl und seine Studie Das holländische Gruppenporträt (1902)“ in: Ausstellungskatalog Goldenes Zeitalter. Holländische Gruppenporträts aus dem Amsterdam Historisch Museum, Wien (Kunsthistorisches Museum), München (Alte Pinakothek) 2010, 2011, S. 37–41. 173 Bartholomeus van der Helst „Officers and Other Members of the Militia of District VIII in Amsterdam Led by Captain Roelof Bicker and Lieutenant Jan Michielsz. Blaeuw“, https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Bartholomeus_van_der_Helst_-_Het_Compagnie_ van_kapitein_Roelof_Bicker_en_luitenant_Jan_Michielsz_Blaeuw_1639.jpg. 174 Van der Helst hat schließlich im Jahr 1648, aus Anlass des Friedensschlusses von Münster, das möglicherweise überhaupt letzte Gruppenbild einer Bürgerwehr beim Bankett geschaffen. 175 Bartholomeus van der Helst, „Zwei Regenten und zwei Regentinnen des Spinnhauses“, 1650, Amsterdam, Historisches Museum, 233 × 317 cm. https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/3/3b/SA_4367-Twee_regenten_en_twee_regentessen_van_het_ Spinhuis.jpg.

Abb. 32 Rembrandt van Rijn, „Simson, an der Hochzeitstafel das Rätsel aufgebend“, 1638, Dresden, Gemäldegalerie, 126 × 175 cm.

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unterschieden. Doch van der Helst gelingt hier eine programmatische Zuspitzung. Anstelle der versuchten Vereinheitlichung und Verallgemeinerung der Gruppe wie bei Rembrandt kommt es zu einer Differenzierung des Sozialen, des Situativen und der Tätigkeiten. Aus heutiger Sicht ist dieses Bild besonders interessant, weil hier ein strukturelles Netzwerk an Beziehungen als Grundlage der Repräsentation sichtbar wird. Die Riegl’schen Kategorien der inneren und der äußeren Bildeinheit, der Koordination und der Subordination reichen nicht aus, um dieses strukturelle Gefüge zu erfassen. Das Gestaltungsprinzip erinnert eher an das montageartige Zusammenführen heterogener Teile, wie wir es bei Pieter Aertsen kennenlernen konnten, nun allerdings jeder antagonistischen Zuspitzung beraubt. Wir sehen die Regentinnen und Regenten bei der Arbeit. Ihr Tätig-Sein geschieht ganz im protestantischen Sinne aus innerer Überzeugung und professioneller Zuständigkeit – und nicht im subjektiven Wollen eines politischen Imaginären. Während die ältere Regentin, ganz links am Tisch sitzend, mit dem Regenten in der Bildmitte verhandelt, scheint die zwischen diesen beiden Figuren situierte Regentin die Diskussion in einem Buch zu protokollieren. Der Mann ganz rechts am Tisch beteiligt sich nicht an dem Disput; er appelliert stattdessen mit dem Blick aus dem Bild und seiner wiederum äußerst sprechenden linken Hand direkt an die Betrachtenden, wobei ein Hündchen neben ihm diese Geste auch noch vollkommen anders zu verstehen scheint.176 Rechts im Hintergrund, hinter einer hohen, offenstehenden Tür, ist der Hausvater der Einrichtung zu sehen, der ein großes Buch, wohl das Einschreibebuch der Häftlinge, bringt. Direkt hinter den Regenten und Regentinnen öffnet sich ein Vorhang und gibt den Blick ins Innere des Spinnhauses frei. Dort sieht man links die jungen Arbeiterinnen, von denen eine von der Vorgesetzten mit einem Pantoffel gezüchtigt wird.177 Vom Arbeitsbereich durch ein hölzernes Gitter abgetrennt, sind schließlich einige Männer zu erkennen, die der im Spinnhaus angestrebten korrektiven Erziehung zu Fleiß und Arbeit als einem öffentlichen Schauspiel gegen Bezahlung beiwohnen. Das Bild integriert mithin fünf weitgehend selbständige Situationen, aus deren Zusammenhang sich erst die eigentliche Bedeutung erschließt. Die einzelnen Situationen werden weder genremäßig 176 Diese Hand verbleibt auch deutlich innerhalb des Bildraums. 177 Spinnhäuser waren fabrikmäßig organisierte Umerziehungsheime für unbotmäßige junge Frauen, deren Disziplinierung, als religiöser Auftrag verstanden wurde, jene Revolution des Fleißes voranzubringen, von der der Historiker Jan de Vries spricht. Siehe: Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge (Cambridge University Press), 2008; Generell zur Sozialdisziplinierung siehe: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin (Duncker & Humblot) 1980; sowie: Simon Schama, 1987 (Anm. 2).

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konventionalisiert noch im Sinne einer emphatischen Handlung zugespitzt, sondern zueinander in Beziehung gesetzt. Die Institution repräsentiert sich hier nicht einfach in ihrem Leitungsgremium, sondern in ihren eigenen, spezifischen Funktionsweisen. Selbst die Regenten und Regentinnen repräsentieren sich nicht vornehmlich selbst; sie agieren an der Schnittstelle unterschiedlicher öffentlicher Funktionen. Ihr Diskurs geschieht gleichsam im öffentlichen Auftrag, den wir als Betrachtende verkörpern. Der Augenpunkt liegt in Höhe der Szenen des Hintergrundes – wir blicken also von leicht erhöhtem Standpunkt aus, wohl stehend, auf die sitzenden Regenten und Regentinnen. Somit sind wir situativ ins Bild eingebunden und beteiligen uns qua funktionaler Differenzierung an deren Tätigkeiten; wir kontrollieren sie vielleicht. Das Verhältnis funktionaler Beziehungen zwischen unterschiedlichen Situationen stellt sich gleichzeitig als ein Netzwerk an sozialen Beziehungen vornehmlich in Hinblick auf Geschlecht, Alter und gesellschaftlich wünschenswertes oder akzeptables Verhalten dar: zwischen den Regenten und Regentinnen, diesen gemeinsam und den Betrachtenden, sowie dem Hausvater, den jungen Frauen und ihren Erzieherinnen im Hintergrund, und schließlich dem schaulustigen, vorwiegend männlichen Publikum. Nach dem Friedensschluss von Münster repräsentiert sich die Republik hier nicht mehr in trotziger Selbstbehauptung oder im emphatischen Aufbruch, sondern in ihrem alltäglichen, brutalen Funktionieren jenseits aller Idealität. Auch Rembrandt selbst hatte den Aktivismus der 1630er- und frühen 1640er-Jahre in seinem späteren Werk wieder aufgegeben. Bei ihm lässt sich zwar gelegentlich ebenso die Wahrnehmung kultureller und sozialer Differenzen konstatieren, doch niemals mehr wird er hierfür ein Bild des gesellschaftlichen Zusammenhangs finden oder sich auch nur mehr für den Aspekt emphatischen Handelns interessieren.178 Vielmehr scheint er sich auf den Weg von der Situation zurück in den Zustand begeben zu haben. Noch

178 Es gibt das eine Bild mit den beiden afrikanischen Männern und die Zeichnungen nach indischen Miniaturen. Sie bezeugen zweifellos ein intensives Interesse für soziale und kulturelle Differenz, das über jene Moden in den Stillleben, in denen chinesisches Porzellan auftaucht ebenso hinausgeht wie über das populäre Begehren nach den protoexotistischen Repräsentationen Brasiliens in den Bildern von Frans Post. Rembrandt van Rijn, „Zwei junge Afrikaner“, 1661, Den Haag, Mauritshuis, 77,8 × 64,4 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Rembrandt_Harmensz._van_Rijn_157.jpg. hierzu: Simon Gikandi, Slavery and the Culture of Taste, Princeton, NJ (Princeton University Press), 2011. ferner: Stephanie Schrader (Hg.), Rembrandt and the Inspiration of India, Los Angeles (Paul Getty Museum), 2018.

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in den „Staalmeesters“179 erhebt sich eine der Figuren etwas unmotiviert aus ihrem Stuhl; diese Bewegung kündigt jedoch keine umfassende Handlung mehr an. Sie stellt nur einen Akzent innerhalb eines gemeinsamen Zustandes dar.180 Die zweite, von Rembrandt gemalte Anatomie, macht diese Verschiebung, selbst in dem rudimentären Zustand, in dem sie sich seit dem Brand von 1715 befindet, mit aller Deutlichkeit sichtbar.181 Alle Dramatik und jeder Affekt sind zugunsten einer geradezu hieratischen Anordnung im Angesicht des bedauernswerten, kreatürlichen Zustands des Delinquenten verschwunden. Viele der späteren Bilder zeigen sogar ein Ineinander-Aufgehen mehrerer Figuren in einen Zustand.182 Zugespitzt findet sich dieses Motiv in der „Rückkehr des Verlorenen Sohns“ in St. Peterburg.183 An die Stelle des Aufbruchs tritt nun die Heimkehr. Der reuige Sünder, jene seit ihren Anfängen bei Ignatius von Loyola exemplarische Figur der Gegenreformation184 trifft hier auf den gnädigen Gott des Protestantismus. Vater und Sohn verschmelzen miteinander zu einer einzigen Figur. An die Stelle der für den frühen Rembrandt so wichtigen Vielfalt der Religionen und Bekenntnisse tritt nun die Fantasie ihrer ökumenischen Einheit. Auch das für Rembrandt ungewöhnliche Hochformat des Bildes unterstützt diesen versöhnenden Aspekt: Es lässt an das Paradox eines protestantischen Altarbildes denken. Schließlich könnte man „Die Verschwörung des Claudius Civilis“ als eine weitere Inkunabel der modernen Aufbruchs- und Revolutionsbilder betrachten.185 Doch diesmal gibt es keine 179 Rembrandt van Rijn, „Die Vorsteher der Tuchmacherzunft“, genannt „Die Staalmeesters“, 1662, Amsterdam, Rijksmuseum, 191,5 × 279 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei: Rembrandt_-_De_Staalmeesters_-_The_Syndics_of_the_Clothmaker%27s_Guild.jpg. 180 Deswegen stellt das Bild für Riegl der Höhepunkt der inneren, psychologisch vermittelten Bildeinheit dar. Zur kunsthistorischen Diskussion des Bildes siehe: Thomas Puttfarken, 2000 (Anm. 71); sowie Simon Schama, 1999 (Anm. 162), S. 646–650. 181 Rembrandt van Rijn, „Die Anatomie des Dr. Joan Deyman“, 1656, Amsterdam, Amsterdam Museum, 100 × 134 cm, Fragment. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Dr_ Deijman%E2%80%99s_Anatomy_Lesson_(fragment),_by_Rembrandt.jpg. 182 Etwa in Bildern wie „Der Jakobssegen“ von 1656, Kassel, Schloss Wilhelmshöhe; oder in der sogenannten „Judenbraut“, von 1662–1666, Amsterdam, Rijksmuseum, oder in „David nimmt Abschied von Jonathan“, 1642, St. Petersburg, Eremitage. 183 Rembrandt van Rijn, „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“, ca. 1668, St. Petersburg, Eremitage, 262 × 205 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rembrandt_ Harmensz._van_Rijn_-_The_Return_of_the_Prodigal_Son.jpg. 184 Siehe: Jan Sanders van Hemmessen, „Der Heilige Hieronymus“, 1529, Lissabon, Nationalmuseum für Alte Kunst, in dem möglicherweise Ignatius von Loyola als reuiger Sünder dargestellt ist. 185 Im Sinne der Schwurbilder von Gavin Hamilton, „Schwur des Brutus“, 1763–1764; Jacques Louis David, „Der Schwur der Horatier“, 1784–1785; Jacques Louis David, „Der Schwur im Ballhaus“, 1791 oder Guillaume Guillon Lethière, „Der Schwur der Vorfahren“, 1822.

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spätere Rezeption, zum einen, weil das Bild aus dem Amsterdamer Rathaus entfernt und wohl von Rembrandt selbst radikal verkleinert und eventuell verkauft wurde, im späten 18. Jahrhundert in Schweden wieder auftauchte und erst Jahrzehnte später Rembrandt zugeschrieben wurde, zum anderen, weil auch die Bilddramatik nicht auf Aufbruch und Handlung zielt, sondern die eindrückliche, aber äußerst statische Einschwörung der Getreuen auf ihren Anführer darstellt. Die Situation gefriert hier zu einem Zustand, in dem Innerlichkeit, Passivität und Potenzialität wichtiger sind als Äußerlichkeit, Aktivität und Aktualität. 5.5.

Die Analytik der Gegenstände, der Räume und der Situationen: Der Augenblick von Delft

Viele der holländischen Maler lassen sich nur schwer einer einzigen Stadt und ihrem kulturellen Profil zuordnen; sie haben ihren Wohnort mehrmals gewechselt, denn eine hohe Mobilität scheint bereits erstrebenswert gewesen zu sein und grundsätzlich zum ökonomischen Erfolg der Republik beigetragen zu haben. Und doch sind es einige wenige Zentren, in denen eine klare programmatische Zuspitzung hinsichtlich dessen erreicht wird, was unter einem analytischen Bildverständnis im Kontext der gesellschaftlichen Neugründung der jungen Republik verstanden werden kann.186 Es geht in diesem Zusammenhang daher weder um geniale Einzelleistungen noch um eine regionale bzw. stilgeschichtliche Charakterisierung im Sinne bestimmter städtischer „Schulen“187 oder gar um die nationale Eigenart des „Holländischen“ insgesamt, sondern darum, den konzeptuellen Anspruch einer Malerei innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen und urbanen Kontexts zu fassen, wie er sich in einer bestimmten Idee des Bildes ausdrückt und sich letztlich als Kunst synthetisieren wird. In Haarlem lag die Einheit des analytischen Bildes vor allem im ebenso entdramatisierenden wie entheroisierenden Impuls einer Malerei, die sich der Differenzierung der Gegenstände, Räume und sozialen Situationen durch genremäßige Wiederholung widmete. Die derart gewonnenen Strukturelemente eines besonderen Rembrandt van Rijn, „Die Verschwörung des Claudius Civilis“, 1661–1662, Stockholm, Nationalmuseum, 196 × 309 cm. (Fragment), https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Bataafseeed.jpg. 186 Gerade bei den besonders sesshaften Malern wie Frans Hals, Rembrandt oder Vermeer. 187 Zur Diskussion um den Begriff der „Schule“ im Hinblick auf die holländische Malerei insgesamt und Delft im Besonderen siehe: Walter Liedtke, A View of Delft. Vermeer and His Contemporaries, Zwolle (Waanders Publishers), 2000, S. 11–37.

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Ding-, Raum- und Geselligkeitsverständnisses konnten wiederum in Beziehung zueinander und insbesondere zu den malerischen Mitteln gesetzt werden, die selbst zum Gegenstand der Repräsentation wurden. Es gibt hier weder empirisch-wissenschaftliche Objektivität noch rein kapitalistische Zuhandenheit, aber auch keine metaphysische, religiöse oder spirituelle Wahrheit, sondern bloß eine systematische Verhältnisform zwischen den dargestellten Gegenständen, Räumen oder Situationen und den malerischen Mitteln, in erster Linie also zwischen Repräsentation und Reflexion. Der hierbei aufgerufene Realismus, wenn es denn einer ist,188 ist nicht engagiert im Sinne des 16. Jahrhunderts, das heißt positioniert im Streit zwischen zwei Parteien; er ist dennoch nicht vollkommen abwesend. Zwar scheint es hier keinen Widerstreit mehr zu geben, und deshalb bildet der realistische Anspruch die Welt weder ab, wie sie ist bzw. wie sie erscheint noch wie sie sein sollte. Er betrifft vielmehr die symbolische Emergenz einer neuen, durch und durch relationalen Gesellschaft, die sich in ihrem situativen So-Sein zeigt. Dieses Relationale ist gleichsam das gesellschaftliche Formprinzip, wie es in aller Deutlichkeit in der Malerei Haarlems hervortritt; es bleibt allerdings hinsichtlich der damit implizierten sozialen, ökonomischen und kulturellen Ausgestaltung noch weitgehend unartikuliert. In Amsterdam war das Ungenügen an dieser grundlegenden Idee einer sich selbst feiernden und sich in seiner Struktur subtil reproduzierenden Sozialität bald zu spüren. Dementsprechend kommt es zu Versuchen in Richtung einer neuen Synthetisierung der analytisch erschlossenen Elemente der gegenständlichen, räumlichen und sozialen Welt durch eine Art von Re-Dramatisierung. Mit Hilfe der Rhetoriken des Historienbildes gelangte Rembrandt sogar zu einer Re-Heroisierung des gegenwärtigen Lebens. Hier geht es nicht mehr um die Feier des einfachen Daund So-Seins, sondern um eine Transformation der Situation in Handlung oder in einen versöhnten Zustand wie in seinem Spätwerk, in jedem Fall aber um eine Aufladung der Gegenstände, Räume und sozialen Interaktionsformen hin zu den symbolischen Registern von Politik, Religion oder auch Natur.189 Doch diese Einschreibungen und Synthesen gelingen nicht und verweisen auch die Malerei Rembrandts immer wieder auf die Logik des Situativen, die Errungenschaften in der Analyse von Rhetorik, Affekt und Situation und mithin auf die 188 Barthes hatte den Realismus der holländischen Malerei grundsätzlich in Frage gestellt – mit Hinweis auf den engagierten Realismus im 19. Jahrhundert, insbesondere bei Courbet. Siehe: Barthes, 1972 (Anm. 25), S. 12. 189 Insbesondere Jacob Ruisdael wird versuchen, das extrem ephemere Naturbild, wie es uns bei Jan van Goyen entgegentrat, durch gewichtige Setzungen und Hervorhebungen wieder symbolisch aufzuladen. Er wird so zum Vorläufer eines romantischen Naturverständnisses.

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Symbolisierung der Malerei als Kunst zurück. Nur als Kunst kann Malerei von nun an politisch, philosophisch, religiös oder natürlich sein. In Delft kommt es nun zu einer anderen Reaktion auf die in Haarlem erreichte Definition des analytischen Bildes.190 Auch hier gibt es keine Fortschreibung der Differenzierung und der Superspezialisierung, allerdings ebenso wenig eine Re-Dramatisierung wie in Amsterdam. Vielmehr werden nun die einzelnen Genres und die analytischen Elemente, auf der inhaltlichgegenständlichen ebenso wie auf der malerischen und konzeptuellen Seite miteinander verschränkt und auf ein kompaktes Verständnis des Bildes hin zugespitzt. Die Malerei in Delft stellt nicht nur den Höhepunkt dessen dar, was mit den Mitteln einer Genre-Malerei erreichbar war; in der Durchdringung von Gegenständlichkeit, Räumlichkeit und Situation und somit in der programmatischen Verdichtung der Situation insgesamt verwebt sie Elemente, Relationen und Formen zu einer Idee des Bildes als einer symbolisch bedeutsamen Einheit. Die Bedeutung liegt weder im Inhalt noch im Stil oder in der technischen Könnerschaft, auch wenn diese imposant war, sondern im konzeptuellen Rahmen, den das Bild bereitstellt. Innerhalb dieses Rahmens lassen sich drei Modalitäten deutlich voneinander unterscheiden: Die erste betrifft die Verdichtung der Situation hin zu einem Zustand der Figuren in völliger Absorption; darin bleiben sie vereinzelt und werden nicht, wie in Rembrandts späten Werken, ineinander aufgelöst oder miteinander versöhnt. Sie werden jedoch stärker auf das Bild als einer formalen Einheit bezogen, das sich selbst als ‚absorbiert‘ oder autonom im Sinne einer weitgehenden Loslösung vom Akt der Betrachtung zeigt und deshalb eine hohe Konzentration in der Wahrnehmung einfordert. Hier werden entscheidende bildstrategische Momente der Moderne ausgebildet, etwa jene „supreme fiction“ einer dezidierten 190 Der sozioökonomische Kontext der Delfter Malerei ist in den letzten Jahrzehnten durch intensives Quellenstudium deutlich aufgehellt worden. Siehe: John Michael Montias, Vermeer and His Milieu: A Web of Social History, Princeton (Princeton University Press) 1991. Dennoch lassen sich kaum direkte Einflüsse dieser Umstände auf die Malerei benennen. Wichtig ist zweifellos auch die Nähe zum Hof der Oranier in Den Haag. Bis zur Ermordung Willems des Schweigsamen war Delft sogar deren Sitz gewesen; sein Grabmahl in der Oude Kerk taucht dementsprechend in vielen Gemälden auf. Ökonomisch lässt sich eine Bewegung weg von der reinen Bier- und Textilindustrie hin zum Handel mit Kolonialwaren konstatieren. Delft hatte auch einen Sitz der VOC. Generell scheint sich die Stadt mehr und mehr der Luxusproduktion zugewandt zu haben, wobei vor allem die Keramik berühmt geworden ist, die mit dem chinesischem Porzellan konkurrierte. Auch die Anwesenheit von Forschern und Wissenschaftlern und die Nähe zur Universität in Leiden wird in der Forschung immer wieder hervorgehoben. Siehe: Amy Golahny (Hg.), In His Milieu: Essays on Netherlandish Art in Memory of John Michael Montias, Amsterdam (Amsterdam University Press), 2007; Wayne Franits, 2008 (Anm. 101), S. 157–160.

Abb. 33 Bartholomeus van der Helst, „Zwei Regenten und zwei Regentinnen des Spinnhauses“, 1650, Amsterdam, Historisches Museum, 233 × 317 cm.

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Negierung der Bildbetrachtung bei gleichzeitig behutsamer Lenkung des betrachtenden Blicks, wie sie Michael Fried anhand der französischen Genremalerei des 18. Jahrhunderts diskutiert hat.191 Die zweite Modalität betrifft die Thematisierung des Verhältnisses von Situation und sozialer Differenz. Hier bleibt die Situation erhalten, wird jedoch als Verhältnis zwischen verschiedenen Personen, die in ihrem sozialen Status immer genauer definiert werden, gefasst. Dies findet sich nur in Ansätzen bei der kanonischen Trias der Delfter Maler Carel Fabritius, Pieter de Hooch und Johannes Vermeer, wird jedoch bei einer Vielzahl von Malern, die mit Delft in Berührung kamen und darauf reagiert haben, offensichtlich mit großem Eifer aufgenommen: insbesondere von Jan Steen, Gabriel Metsu, Nicholas Maes, Jacob Ochtervelt, Pieter Janssens Elinga und schließlich Samuel van Hoogstraten. Nach dem Friedenschluss von Münster scheinen nicht mehr die Selbstbehauptung und die Abgrenzung gegen den äußeren Feind, sondern die innere Differenzierung der neuen Gesellschaft das entscheidende Thema geworden zu sein. Und schließlich lässt sich ein dritter Modus bei Vermeer selbst festmachen: Er betrifft den Versuch, das kategorisch Unheroische und Anekdotische der Genre-Malerei durch eine Art von Re-Allegorisierung des Bildes selbst zu überwinden. Voraussetzung für alle drei Modalitäten ist ein neues Interesse für die perspektivische Konstruktion des Bildes. Über Saenredams empirisches Verständnis der Perspektive hinaus kommen nun technische Hilfsmittel wie gebogene Spiegel, die Camera obscura und wohl auch bereits die Camera lucida zum Einsatz.192 In Guckkästen wird mit anamorphotischen Verzerrungen, die sich durch krumme Präsentationsflächen auflösen lassen, experimentiert; generell geben optische Täuschungen und trompe l’oeil-Effekte wichtige Impulse.193 Entscheidend ist jedoch, dass nicht die optische Täuschung das Bild definiert, sondern dass es umgekehrt die nun klare Vorstellung des Bildes als einer im Format des Tableaus ruhenden symbolischen Einheit ist, in der die Augentäuschung nicht als dekorativer Effekt, sondern als ein ebenso 191 Dieses Moment hat Michael Fried an der französischen Genre-Malerei des 18. Jahrhundert festgemacht und ihm exemplarische Bedeutung für das Bild- und Kunstverständnis der Moderne zugeschrieben. Siehe: Michael Fried, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1980. 192 Siehe: Phillip Steadman, Vermeer’s Camera: Uncovering the Truth behind the Masterpieces, Oxford (Oxford University Press), 2002; sowie: David Hockney, Secret Knowledge: Rediscovering the Lost Techniques of the Old Masters, New York (Avery), 2001. Der gesamte Diskussionsstand findet sich hervorragend zusammengefasst auf: http://www. essentialvermeer.com/camera_obscura/camera_obscura_sources.html. 193 Vor allem für die, an die entscheidende Phase der Delfter Malerei zwischen den 1650erund frühen 1660er-Jahren anschließende Rezeption, etwa bei Samuel van Hoogstraten und Cornelis Gijsbrechts.

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analytisches wie konzeptuelles Element fungieren kann. Denn die Perspektive wird hier eben nicht bloß als technisches Hilfsmittel eingesetzt, sondern selbst zum Thema der Malerei gemacht. Mit Recht spricht Hanneke Grootenboer von einer „Rhetorik der Perspektive“,194 was sich in dem Sinn verstehen lässt, dass nicht mehr innerhalb des Alberti’schen Bildverständnisses des offenen Fensters gearbeitet wird, sondern mit diesem. Die perspektivischen Elemente bilden keinen tendenziell unsichtbaren Rahmen oder eine transparente Folie für das Bild; sie werden vielmehr als ein inzwischen selbstverständlicher Code zum Gegenstand des Bildes. Gleichzeitig tauchen in vielen jener Bilder, die die Perspektive in diesem gegenständlichen Sinn einsetzen, auch häufig die aus der altniederländischen Malerei bekannten Motive des Schwellenbildes auf, wie etwa der Vorhang vor dem Bild, der Spiegel, der den Raum vor dem Bild sichtbar macht oder die scheinbar aus dem Bild heraus schwingenden Fensterläden. Das analytische Bild ringt hier mit der Integration unterschiedlicher Bildverständnisse. Es setzt weder auf wissenschaftlich-objektive Distanz wie das perspektivische Bildverständnis der Renaissance noch auf devotionale Nähe wie das Schwellenbild. Es reguliert vielmehr Nähe und Distanz innerhalb seines eigenen konzeptuellen Rahmens. Erst darin kann es tatsächlich ‚absorbiert‘, das heißt radikal selbstbezüglich sein und doch die je eigene Konstruiertheit vorführen. Es wird daher weder unsichtbar oder transparent noch wahrlich opak oder autonom; es zeigt sich jedoch im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und macht sich selbst zum Medium einer bestimmten Vorstellung von Autonomie. In diesen Paradoxien scheint mir der eigentliche Grund für die besondere Faszination zu liegen, die die Delfter Malerei immer wieder auszulösen im Stande war. Eine ihrer weiteren Voraussetzungen besteht darin, das Licht nicht als dramaturgisches Element wie bei den Caravaggisten und bei Rembrandt einzusetzen, das wie ein Scheinwerfer von außen in das Bild einfällt oder dieses zumindest von einer einzigen Quelle her ausleuchtet, sondern es als eine räumlich-situative Gegebenheit zu betrachten. Es gibt daher nicht einfach Licht und Schatten, hellere und dunklere Partien; vielmehr durchdringt das Licht alle Gegenstände und Räume, und wird nur dem Grad seiner Absorption oder Reflexion nach unterschieden. Nicht umsonst sind es Maler von Kircheninterieurs wie Gerard Hoockgeest, Hendrick van Vliet oder Emanuel de Witte, die, unmittelbar an Saenredam anschließend, in Delft eine besondere

194 Hanneke Grootenboer, The Rhetoric of Perspective. Realism and Illusionism in SeventeenthCentury Dutch Sill-Life Painting, Chicago, London (The University of Chicago Press), 2005.

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atmosphärische Qualität des situativen Lichts hervorgebracht haben.195 In der Übertragung ihrer Methoden in die Genremalerei kommt es insbesondere zur Ausgestaltung der Situation durch die Differenzierung von Lichtmilieus. Unterschiedlich beleuchtete Räume werden zueinander in Beziehung gesetzt und ergeben komplexe Situations-Konstellationen, in die die Figuren eingebettet sind, bevor es dann wieder, vor allem bei Vermeer, zu einer neuen Vereinheitlichung kommt. Auch der immer wieder deutlich gemachte Bezug der Bildfläche auf eine Wandfläche wird von den Kircheninterieurs in die Genre-Malerei transferiert, und ähnliches gilt für jene Bild-im-Bild-Motive, die konstitutiv für die reflexive Dimension des analytischen Bildes in Delft sind.196 Das heißt, nicht einfach dargestellter Raum und die bemalte Bildfläche stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, so wie es die modernistische Legende will; vielmehr durchdringen einander im Medium des Lichts die darstellenden und die dargestellten Elemente immer schon. Jeder Gegenstand und jede Lichtbestimmung, jedes Volumen und jedes Farbmoment erhält über die konkret definierende Funktion hinaus auch eine Funktion im und als Bild.197 Motivisches und Formales, Materielles und Erscheinendes, Repräsentation und Reflexion sind in Delft fast bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschränkt. Dieses „fast“ kennzeichnet den Spielraum, den die Genre-Malerei als Kunst eröffnet. Fragen nach der Bedeutung rücken demgegenüber deutlich in den Hintergrund. 5.5.1. Die Absorption des Bildes Alle diese Elemente finden sich nun auf geradezu exemplarische Weise bei Carel Fabritius (1622–1654). Fabritius war in den Jahren 1649 oder 1650 von Amsterdam, wo er im direkten Umfeld Rembrandts tätig war, nach Delft gezogen. Er starb dort allerdings bereits 1654 bei der Explosion eines der geheimen holländischen Pulverdepots, bei der große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt worden waren. Nur vier Bilder sind deshalb aus dieser Zeit erhalten; diese vier Bilder ebnen jedoch den Weg zu jenem für Delft typischen Verständnis des Bildes und der Malerei. Anders als bei Paulus Potter oder Gerard Terborch, die ebenso viele motivische und maltechnische Spuren in der Delfter Malerei hinterlassen haben, geht es bei Fabritius gleichsam ums Ganze: 195 Bei gleichzeitig experimentell perspektivischen Einsatz. Siehe: Walter Liedtke, 2000 (Anm. 187), Kapitel 3: The Architectural Painters, S. 81–141. 196 Hierzu siehe: Daniel Arasse, Vermeer. Faith in Painting, Princeton, NJ (Princeton University Press), 1994; sowie: Daniela Hammer-Tugendhat, Das Sichtbare und das Unsichtbare: Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Weimar, Köln, Wien (Böhlau) 2009. Teil II.2: Das Bild im Bild oder die mediale Vermittlung der Welt, S. 193–218. 197 Noch über jene, bereits von Pieter Claesz gefundene Lösung hinaus.

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um das Verständnis des Bildes und der Malerei selbst. „Eine Ansicht von Delft“, jenes kleine Bildchen von 1652,198 das wohl auf einem halbrunden Träger innerhalb eines dreieckigen Guckkastens montiert war,199 zeigt bereits in aller Deutlichkeit, wozu das analytische Bild hier im Stande war. In seiner anamorphotischen Darstellungsweise, die ‚diagonale Perspektive‘ von Hoockgeest aufnehmend,200 gelingt es Fabritius, nicht nur zwei perspektivische Fluchten im Motiv der scheinbar geschwungenen, nach rechts hin ansteigenden Brücke im Vordergrund miteinander zu verbinden, sondern darüber hinaus die Enge und Nähe eines Verkaufsstands für Musikinstrumente links im Vordergrund mit der Weite und Ferne einer Stadtansicht rund um die Nieuwe Kerk, mit zwei Grachten und einer Häuserfront, zu integrieren. Insbesondere das Stillleben mit den beiden Musikinstrumenten, einer auf dem blauen Tischtuch liegenden Geige, deren vorderer Teil vom Bildrand abgeschnitten wird – und möglicherweise auf dem Boden des Guckkasten seine Fortsetzung fand – und eine dahinter an der Wand lehnende Viola da Gamba, deren Schlagschatten an der Wand von der Signatur Fabritius durchkreuzt wird, sowie die als Brustbild hinter dem Tisch zu sehende, nachdenklich-absorbierte Figur des Verkäufers, werden sich als besonders einflussreich für die Genre-Malerei in Delft erweisen. Die experimentelle Anordnung des Guckkastens und die äußerst detaillierte, miniaturhafte Ausführung lassen in Kombination mit einer geradezu konzeptuellen Aufteilung der Gegenstände und der Räumlichkeiten, der Farb- und Lichtverteilung eine Dichte an Beziehungen entstehen, die nicht rein formal, sondern eher bildlogisch zu verstehen ist. Auch hier gilt: Nicht der technische Apparat des Guckkastens erklärt das Bild; vielmehr wird der Apparat zum Auslöser, das Bild auf eine neue Art und Weise zu denken. Fabritius war zu seiner Zeit insbesondere als Maler von perspektivi­ schen Wandmalereien berühmt, die sich nicht erhalten haben. Sein heute bekanntestes Bild, der „Distelfink“, ein wiederum sehr kleines Bild von 1654, weicht hiervon signifikant ab.201 Das Bild besticht gerade nicht durch eine auf­ fallende perspektivische Konstruktion, sondern durch einen trompe-l’oeil-Effekt 198 Carel Fabritius, „Eine Ansicht von Delft“, 1652, London, National Gallery, 20,9 × 35,7 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/A_View_of_Delft#/media/File:FabritiusViewOfDelft.jpg. 199 Hierzu siehe: Walter Liedtke, 2000 (Anm.  187), Kapitel  2: A View in Delft by Carel Fabritius, S. 39–79; sowie: Ausstellungskatalog Carel Fabritius 1622–1654, Schwerin, Staatliches Museum, Den Haag, Mauritshuis, Zwolle (Waanders Publishers), 2005, S. 129–136. 200 Gerard Hoockgeest hatte in einer Innenansicht der Nieuwe Kerk aus dem Chorumgang heraus bereits die Blickrichtung in die beiden Schiffe zu Seiten des Chors gelenkt. Fabritius Perspektive liegt gleichsam nur etwa 100 Meter dahinter, sodass die gesamte Kirche sichtbar wird. Hierzu: Walter Liedtke, 2000 (Anm. 187), S. 41. 201 Carel Fabritius, „Der Distelfink“, 1654, Den Haag, Mauritshuis, 33.5 × 22,8 cm. https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/64/Fabritius-vink.jpg.

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anderer Art. Indem es die Bildfläche mit einer weiß gestrichenen Mauerwand identifiziert, verhindert es für das betrachtende Auge jeden Sog in die Bildtiefe. Umso näher rückt dabei jedoch das an der Mauer befestigte grüne Kästchen, das als Futternapf für einen Distelfink dient, der auf einer halbrund – um das Kästchen herum – nach vorne gebogenen, dünnen Holzstange sitzt, an die der Vogel auch durch eine herabhängende, dünne metallische Kette gebunden ist. Ein wenig darunter befindet sich noch eine zweite solche Holzstange, die das Kästchen etwas breiter umfasst und die dem Vogel wohl etwas Bewegungsfreiheit geben soll. Vielen Beschreibungen ist die feine Ponderation von Ungereimtheiten aufgefallen, die in diesem Bild herrschen: Die Holzstangen sind nicht streng parallel angelegt; beide jedoch in leichter Untersicht, während das Kästchen selbst in leichter Aufsicht gegeben zu sein scheint. Solche „polyperspektivischen“ Aspekte202 unterstützen gemeinsam mit der lockeren Malweise, den sichtbaren Pinselstrichen und den Kratzspuren in der Wand und im Gefieder des Vogels den Eindruck einer unmittelbaren Lebendigkeit. Nicht nur der wie ein Porträt aufgefasste Vogel203 wirkt aus der Distanz gesehen äußerst lebendig, sondern das Bild selbst. Wo auch immer das Bild ursprünglich angebracht gewesen sein mag – am überzeugendsten scheint die These einer Wandnische zu sein – das Bild geht nicht in seinem täuschenden Effekt auf. Gegenüber „wahren Augentäuschungen“204 bewahrt es seine reflexive Komponente: Es zeigt sich als ebenso effektvoll wie subtil gemaltes Bild.205 Noch gibt es hier das dramaturgische Licht, das unregelmäßige Schlagschatten an die Wand wirft; die Wand ist jedoch gleichzeitig bereits vom Licht durchdrungen und leuchtet aus sich selbst heraus. Hierbei kommen die blauen Untermalungen ebenso zur Geltung wie die sichtbaren Vermalungen an der Oberfläche; und der an manchen Stellen abbröckelnde Putz unterstreicht dieses Ineinandergreifen von Materialität und Phänomenalität dieser Wand/ Fläche. Die grellgelben Farbakzente im Gefieder des Vogels setzen sich davon in aller Deutlichkeit ab; sie bleiben dennoch in das feine Spiel der Farbkontraste zwischen den warmen, bräunlich-roten und den etwas kühleren, bläulichgrünen Tönen eingebunden. Bei aller Skepsis gegenüber modernistischen 202 Kornelia von Berswordt-Wallrabe, „Zur Kompositionsweise im Werk von Carel Fabritius“, in: Ausstellungskatalog Carel Fabritius, 2005 (Anm. 199), S. 78–87. 203 Mit hellem Hintergrund ist auch das vierte Bild jener Zeit, ein Selbstporträt, gearbeitet. 204 Ausstellungskatalog Carel Fabritius, 2005 (Anm. 199), S. 146. 205 Kornelia von Berswordt-Wallrabe, 2005 (Anm. 202) S. 82: „Zusätzlich benutzt Fabritius in Distelfink die Bedingungen der Farben als grundsätzlich lichtabhängige und deren Wahrnehmung als Stimulans des Betrachterauges. Er referiert die Bedingungen des Auges im Modus von Bewegtheit. Damit macht er die Bedingungen der Betrachtung, die auch die Bedingungen des Malens sind, zum Thema des Bildes.“

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Lesarten – in der Verbindung von Abstraktion und Realismus – ist doch frappant, wie sehr an dem Bild die Möglichkeit moderner Malerei vorstellbar wird.206 Entscheidend ist jedoch, dass wir es weder mit einer bloßen Augentäuschung im Sinne des seit der Antike beliebten Topos der Kunstliteratur zu tun haben noch bereits tatsächlich mit einem selbstgenügsamen, modernen Bild – trotz seiner Flächigkeit und seiner Licht- bzw. Farbwirkung. Vielmehr handelt es sich im strengen Sinne um ein typisch frühmodernes, analytisches Bild, das den repräsentierten Gegenstand ins unmittelbare Verhältnis zu seiner Betrachtung setzt und sich dabei reflexiv auf sich selbst – nicht im Sinne einer kunstvollen Technik der Augentäuschung, sondern im Sinne einer Kunst der Malerei – bezieht, wie sie in der stolzen Signatur sichtbar wird. Hier geht es um einen autorschaftlichen Anspruch, um ein höchst reflektiertes Machen und gleichzeitig um ein praktisches Denken mit und durch das Bild. Im Unterschied zur Moderne sind Konzeption und Realisierung, Abstraktion und Realismus noch nicht antagonistisch aufgefasst; diese Kategorien werden jedoch voneinander unterscheidbar und im Bild miteinander verwoben. Fabritius muss sich in dieser Zeit mit unterschiedlichen Bildauffassungen beschäftigt haben, denn das Schweriner Bild, „Die Torwache“, ebenfalls von 1654,207 (Abb. 34) stellt gegenüber der „Ansicht von Delft“ und dem „Distelfink“ eine weitere, prägnant formulierte Bildidee, ja geradezu ein Programmbild dar. Auf den ersten Blick haben wir es mit einer gewöhnlichen Genre-Szene zu tun, in der ein Soldat auf einer sehr niedrigen Bank vor einem Stadttor sitzt und vor sich hin dösend an seinem Gewehr sich zu schaffen macht. Hierbei wird er von einem Hündchen aufmerksam beobachtet. Jenseits dieser eher banalen Motivik scheint das Bild jedoch die Frage aufzuwerfen, was ein Bild grundsätzlich hinsichtlich der Integration äußerst heterogener Elemente zu leisten im Stande ist. Denn nicht nur die räumlich-architektonischen Gegebenheiten weisen eine Reihe unlogischer bzw. widersprüchlicher Momente auf; auch lassen sich die vielfältigen, durch Bild-im-Bild-Motive aufgerufenen inhaltlichen Bezüge nicht schlüssig auflösen und haben von einem „enigmatischen“ Bild sprechen lassen. Die Malweise ist an manchen Stellen dünn und lasierend, an anderen Stellen pastos aufgetragen. Wiederum gibt es „polyperspektivische“ Momente, das heißt, es fehlen sowohl ein einheitlicher Augenpunkt wie eine konstante Tiefenschärfe; hinzukommen teils gegenläufige Schlagschatten. Insbesondere unterstreicht jedoch die Aufteilung der Szenerie in unterschiedliche 206 Kein Wunder, dass, als Thoré-Bürger das Bild 1866 erstmals öffentlich zeigte, die Begeisterung groß war und seinen populären Mythos begründete. 207 Carel Fabritius, „Die Torwache“, 1654, Schwerin, Staatliches Museum, 67 × 58 cm. https:// www.museum-schwerin.de/museum/highlights/fabritius/.

Abb. 34 Carel Fabritius, „Die Torwache“, 1654, Schwerin, Staatliches Museum, 67 × 58 cm.

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Lichtmilieus den äußerst disparaten, ja dissonanten Eindruck der gesamten Tafel. Das Bild fasst alle diese Ungereimtheiten zusammen, ohne sie in eine übergeordnete Einheit einzubetten. Es fungiert nicht als Totalität, sondern als ein konzeptueller Rahmen, die analytisch differenzierten Elemente in ihrem Zusammenhang erscheinen zu lassen. Zweifellos ist auch dieses Bild sorgsam konstruiert, ohne jedoch seine perspektivischen Kenntnisse offen zur Schau zu stellen.208 Es scheint Aspekte der Kircheninterieurs in eine Straßen-Szene übertragen zu haben. Die hohe dorische Säule, die fast genau – räumlich wie flächig – in der Mitte des Bildes steht, mag durchaus an die Säulen des Chorumgangs erinnern, wie sie Hoockgeest gemalt hatte. Allerdings wird der Blick hier nicht um die Säule herum geleitet. Von rechts vorne führt eine niedrige Wand, vor der der Soldat sitzt, auf die Säule zu. Ihre gelbliche Bemalung setzt sich im unteren Teil der Säule fort. Über dieser Wand sprießen Weinranken, und dahinter wird eine zweite, deutlich hellere, grell weiß leuchtende Wand sichtbar, über der eine Treppe zu einem sehr dunklen Eingang – wohl zur Wohnung des Torwächters – in der oberen rechten Bildecke führt.209 Links von der Säule öffnet sich ein Durchblick unter dem Torbogen hindurch in den Hintergrund des Bildes. Der Blick durch den Torbogen ist allerdings durch eine weitere Wand – einen Wall oder einen Bretterverschlag – versperrt, sodass nur ein schmaler Weg zur rechten Seite hin frei zugänglich zu bleiben scheint. Auf dieser Wand stehend, werden nun, seit der Restaurierung von 2004, die Beine eines zweiten Soldaten mit Degen und üppigen Stulpenstiefeln sichtbar und dahinter zwei Hausdächer und ein Baum. Nur ein kleiner, freier Himmelsabschnitt verbleibt, um den Blick noch weiter nach hinten zu ziehen. Häuser und Wände gibt es auf beiden Seiten des Tores und der Durchgang scheint weitgehend blockiert zu sein; das Tor stellt daher keine eindeutige Grenze zwischen Stadt und Land dar; und mit Recht ist gefragt worden, was hier eigentlich bewacht wird.210 Auch die Säule ist weitgehend dysfunktional mit ihrem aus dem Kapitell am oberen Ende sprießenden Efeu, möglicherweise aus einem anderen Gebäude und einer anderen Zeit stammend. Auf der ebenso weißlichen, jedoch dunkleren Wand über dem Torbogen ist ein Relief mit der Darstellung des Heiligen Antonius mit seinem Attribut, einem Schwein, dargestellt, wobei der Kopf des Heiligen durch den oberen Bildrand abgeschnitten ist. Auf der Säule sind noch 208 Technische Untersuchungen haben Konstruktionspunkte an der Rückseite des Bildes erkannt. 209 „die Gestaltung der Mauer durch die aufgetragene Farbmasse kommt fast einem Nachschaffen der dargestellten Oberfläche gleich.“ Ausstelllungskatalog Carel Fabritius, 2005 (Anm. 199), S. 151. 210 Ausstellungskatalog Carel Fabritius, 2005 (Anm. 199), S. 153.

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zwei Papiere ausgehängt, die allerdings unlesbar gehalten sind. Wir haben hier mit mehreren, ineinander verschränkten Räumlichkeiten rund um stark fragmentierte Architekturteile zu tun – vor, unter, hinter, neben und über dem Torbogen; auch die beiden Figuren und die Bild-im-Bild-Motive lassen kein einheitliches Thema oder eine schlüssige Situation erkennen. Hinzu kommt, dass im Vordergrund, beim sitzenden Soldaten und seinem Hund, ein weiches, von der Gegenständlichkeit absorbiertes Sonnenlicht vorherrscht, während dahinter ein, von der weißen Wand reflektiertes, gleißendes Licht erscheint. Rechts darüber wird es im Eingang zur Wohnung ganz dunkel, die Wand links davon mit dem Relief liegt hingegen im Halbschatten. Unter dem Tor, vor allem im Gewölbe zwischen den beiden Torbögen und dem dazwischenliegenden Gatter, dominiert ein etwas dunklerer Halbschatten, während die Szene dahinter mit dem zweiten Soldaten auf dem Wall wieder in ein etwas helleres Licht getaucht ist, nicht ganz so hell und weich allerdings wie im Vordergrund. Schließlich wird es bei den Dächern und dem Himmelsauschnitt im Hintergrund noch einmal sehr hell. Insgesamt lassen sich also mindestens sieben Lichtmilieus voneinander unterscheiden, die dennoch den Gesamteindruck des Bildes als einigermaßen natürlich erscheinen lassen. Der Zusammenhang zwischen den äußerst heterogenen Teilen von Architektur und Raum, Motivik und Licht auf der einen Seite und dem Bildganzen auf der anderen lässt sich nur durch eine Art von doppeltem Sehen verstehen, das hier adressiert wird. Denn zum einen gibt es den Eindruck des Beiläufigen, zufällig Gesehenen, nur fragmentarisch im Augenblick des Vorbeigehens Erfassten; hier sind wir als Betrachtende gleichsam mit im Bild und erhaschen einen alltäglichen Augenblick. Dem steht jedoch auf der anderen Seite die auffallende Konstruiertheit des Bildes selbst in seiner klaren Aufteilung von Horizontalen und Vertikalen, rechter und linker Seite, Vorder- und Hintergrund, runden und eckigen, natürlichen und künstlichen Elementen gegenüber, die man sich nur als vor dem Bild stehend bewusst machen kann. Auch die hohen Ambivalenz-Werte innerhalb des Bildes, etwa zwischen der ‚phallische‘ Stärke signalisierenden Säule, aus der der Efeu sprießt, und der Laxheit des Wächters im Umgang mit seinen durchaus scharfen Waffen. Seine eigenartige Position mit dem aufrechten, nur leicht geneigten Oberkörper und dem ausgestreckt-liegenden Bein verkörpert diese Ambivalenz. Er hantiert zwar am Schloss seines Gewehrs; es bleibt aber unklar, was genau er eigentlich tut. Er ist gleichsam tätig-untätig, durchaus gefährlich in seiner Bewaffnung und doch fast vollkommen passiv. Von einem Aufbruch wie bei Rembrandt findet sich keine Spur. Das Bild ist als eine Art „Ruhender Mars“ und als Warnung vor dem Nachlassen der Wachsamkeit nach dem Friedenschluss von Münster interpretiert worden, was gegenüber dem heiligen Antonius als Inbegriff des Eifers

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stimmig zu sein schien.211 Doch solche Deutungen bestimmen nicht mehr den Sinnhorizont des Bildes; sie berühren höchstens noch inhaltliche Aspekte, mit denen das Bild als referenziellen Codes zu spielen scheint. Entscheidend ist vielmehr die völlig absorbierte Figur. In ihr kulminiert die Situation als Schnittstelle der Ambivalenzen und Heterogenitäten. Sie adressiert nicht den beiläufigen, tendenziell störenden oder vielleicht auch alarmierenden Blick, sondern ausschließlich das distanzierte Sehen vor dem Bild.212 Der Soldat bietet sich uns in seiner Versunkenheit dar, ohne darin überhaupt gestört werden zu können. Er gibt uns gleichsam Zeit, uns dem Bild als einer kunstvoll anspruchsvollen Form der Malerei zu widmen. Exemplarisch verdichtet sich diese Relation zwischen dem Motiv und dem Akt des Gesehen-Werdens im Helm des Soldaten, worin sich die Umgebung zu spiegeln scheint. Doch wird hier nicht mehr der Maler selbst, seine Umgebung oder sein Atelier sichtbar, wie in der Tradition von Jan van Eyck bis Pieter Claesz, sondern ‚bloß‘ eine abstrakte Farb- und Lichtanordnung wie im Gefieder des Distelfinken. Ich möchte vorschlagen, in diesem Helm das Emblem des analytischen Bildes zu sehen. Reflexive und repräsentative Elemente vereinigen sich hier zu einem Realismus des Malmaterials. Welche Lektionen konnten die jüngeren Delfter Maler nun aus der Hinterlassenschaft des früh verstorbenen Fabritius ziehen? Häufig werden die Aufhellung der Farbpalette und der dünnere Farbauftrag, mithin die programmatische Abkehr von der Rembrandt-Schule als entscheidende Momente genannt. Doch die Differenz zu Amsterdam ist nicht rein stilistisch zu fassen, und viele der Elemente, die bei Fabritius wichtig geworden waren, wie die komplexe Räumlichkeit, die Lichtmilieus oder die Reflexivität finden sich auch bei zahlreichen anderen Malern der Zeit, die sich nach 1648 daran machten, die Formeln der Haarlemer Genre-Malerei der 1620er- und 1630erJahre zu modernisieren. Hierbei bekommt das häusliche Interieur einen neuen Stellenwert gegenüber den „fröhlichen Gesellschaften“ und den Garten-Partys, und damit die perspektivisch exakte Definition eines Innenraums ebenso wie die genaue Bestimmung sozialer Verhältnisse. Nirgends jedoch ist die Bildidee von so zentraler Bedeutung wie bei Fabritius. Und es ist dieser Aspekt, der sowohl für de Hooch als auch für Vermeer ab 1655 entscheidend wird. Es 211 Siehe: Walter Liedtke, 2000 (Anm. 187), S. 35; Christopher Brown, Carel Fabritius, Oxford (Oxford Univesity Press), 1981; Ausstellungskatalog Carel Fabritius, 2005 (Anm. 199), S. 152. 212 Ich teile also nicht die Auffassung von Kornelia von Berswordt-Wallrebes, dass wir es hier mit einem „Ereignisbild“ zu tun haben oder zumindest müsste das Ereignis in dem Sinn definiert werden, dass das Nicht-Stattfinden eines Ereignisses im Bild zur Voraussetzung des Ereignisses des Sehens des Bildes als Kunst wird. Siehe: Kornelia von BerswordtWallrebe, 2005 (Anm. 202), S. 84.

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geht für beide nicht nur um die Verbindung von Gegenständlichkeit, Raum und Figur durch das Licht, sondern in der Konzentration auf die besondere Absorbiertheit der Figuren, um das Verdichten, ja „Einfrieren“ der gesamten Situation im Bild. Bei de Hooch bleibt das Situative stets erhalten ohne mehr anekdotisch gefasst zu sein; er entwickelt besondere Interaktionsformen, wobei die Figuren weniger durch direkte kommunikative Akte als durch die räumliche Situierung und das entsprechende Lichtmilieu definiert werden und darin gleichsam verharren. Neben dem Interieur mit seinen Aus- und Durchblicken ist es vor allem der Hof, der als Schnittstelle zwischen Interieur und städtischem Raum sich als ein Ort von Begegnungen anbietet. In seinen besten Bildern gelangt de Hooch zu einer komplexen Dialektik von bildbezogenen und gegenständlichen Verhältnissen, nicht nur zur Aufladung der häuslichen Szenen durch ein quasi transzendentes Licht, wie es immer wieder beschrieben wurde, sondern zu einer Transzendierung des Orts im Bild. Vermeer wird versuchen, diese Verhältnisformen noch weiter zu verdichten, indem er die innerbildlichen Relationen von Gegenständen und Raum, Figur und Licht bzw. Farbe auch zeitlich zuspitzt – zu einem Augenblick der Ewigkeit. Das heißt, in beiden Fällen wird das Disparat-Dissonante, das bei Fabritius auftaucht, wieder gezähmt. Bei de Hooch durch die „Harmlosigkeit der Situation“, wie Hegel es nennt, die jedoch durch ihre dialektische Bildform gebändigt erscheint; bei Vermeer durch eine stärkere Vereinheitlichung und Bezogenheit aller bildrelevanten, gegenständlichen wie formalen Elemente im Sinne einer relationalen Ontologie. Das Bild wird hier selbst zum eigentlichen Gegenstand der Malerei. Pieter de Hooch (1629–1684) war 1652 von Rotterdam nach Delft gezogen. In den frühen 1650er-Jahren arbeitet er noch ganz in der Haarlemer Tradition eines Adriaen Brouwer oder Adriaen van Ostade mit dunklen, durch ein einziges Licht aufgehellten Tavernen-Szenen. Aus diesen räumlich kaum spezifizierten Lokalitäten entwickelt sich jedoch bald schon eine Art von Interieur als zunehmend dominierender Rahmen des situativen Geschehens aus, also jene auf drei Seiten begrenzte Raum-Schachtel mit dem Fenster meist auf der linken Seite, wie wir es seit Jan van Eyck und Robert Campin als Inbegriff eines bürgerlichen Heimes kennen. Doch erst mit den Bildern, die de Hooch nach dem Tod von Fabritius und in Auseinandersetzung vor allem mit dessen „Torwache“ malt, gelangt er zu seinen entscheidenden Gestaltungsprinzipien, nämlich ein einfaches und alltägliches Geschehen in einem äußerst komplexen Bild darzustellen. Gegenstand ist wie bei Fabritius nicht einfach das Geschehen selbst, sondern die Verschränkung von Raum- und Lichtverhältnissen mit den Interaktionen der Figuren, wobei das Bild selbst durch eine Vielzahl von ebenso buchstäblich-repräsentativen und referenziell-reflexiven Fenstern und Türen

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thematisiert wird. Die beiden Versionen einer „Frau mit Kind im Hinterzimmer eines bürgerlichen Hauses“213 zeigen die Richtung der Transformation an. Es handelt sich wohl um einen Nebenraum der Küche, von wo aus ein Durchgang in den Hof führt; dort kehrt eine Magd den Boden, und dahinter schließen weitere Nebengebäude an. Es handelt sich noch keineswegs um ein bürgerliches Interieur, sondern um Arbeitsräume mit starken Referenzen an die Tavernen und Ställe der früheren Bilder. Doch die Raumorganisation ist nun deutlich komplexer. Die Rückwand des Raums mit seinen fünf Fenstern und der Tür fungiert wie das Tor in der „Torwache“, auch die Treppe rechts, deren dunkle Unterseite wir über der rechts vorne sitzenden, Gemüse schälenden Frau sehen können, lässt sich ebenso wie die im Hof sichtbar werdende weiße Wand und der schmale Himmelsausblick darüber als direkte Übernahme von Fabritius verstehen. Auch hier führt der Blick entlang einer Wand, vor der die arbeitende Frau an ihrem Tischchen sitzt, von rechts in das Bild hinein. Der Türpfosten markiert – ähnlich der Säule bei Fabritius – die Bildmitte und führt rechts davon die Treppe hoch, während links der Blick durch die Türe hindurch in den Hof gelenkt wird, wo eine zweite Frau steht. Die beiden Varianten unterscheiden sich vor allem durch die Position des Kindes; dieses steht in der Version von 1655/56 etwas von der Mutter entfernt und blickt in den Hof, von wo aus ihr die den Hof kehrende Frau entgegensieht. In der Pariser Version von 1657 ist das Kind nahe an die Mutter gerückt und die Frau im Hof wendet sich von den Betrachtenden ab. Neben dem Kind steht nun ein Eimer mittig fast am vorderen Bildrand und verstärkt so die Tiefendimension des Bildes. Hier wird auch die Farbigkeit in den Kleidern reduziert und ein einheitlicher Lichteindruck hervorgerufen, der allerdings durch eine Vielfalt an Nuancen definiert wird. Das Bild zeigt uns das stärkste Licht in der weißen Seitenwand des Hofes, von wo aus das Licht durch die offene Türe und das halb geöffnete Fenster direkt in den Innenraum fließt. Durch die verglasten Fenster darüber wird es gefiltert. Die Fenster selbst wirken wie Membranen, in denen sich das Licht beider Räume fängt. Für die Betrachtenden bietet sich ein Blick durch dieses vielfach vermischte Licht des Innenraums hindurch in den hellen Hof an. Man sieht gleichsam durch ein Lichtmilieu hindurch in ein anderes. Auch hier gibt es also die Differenz zwischen der Lichtführung im Bild und der Blickführung 213 Pieter de Hooch, „Frau mit Kind im Hinterzimmer eines holländischen Hauses“, 1655/56, Privatsammlung, 59,7 × 47 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Interior_with_ a_Woman_and_Child_and_through_doorway_a_Maid_sweeping.jpg. Pieter de Hooch, „Gemüse schälende Frau im Hinterzimmer eines holländischen Hauses“, 1657, Paris, Louvre, 66 × 49 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/ fa/Pieter_de_Hooch_-_Woman_Peeling_Vegetables_in_the_Back_Room_of_a_Dutch_ House_-_WGA11683.jpg.

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auf und durch das Bild. Vor allem in der Pariser Version fallen die Schatten des Eimers und des Mädchens deutlich nach vorne; wir sehen also gegen das, aus dem Hintergrund einfallende Licht, wobei die Figur der Magd im Hof durch ihre schwarz-weiße Kleidung den stärksten Lichtkontrast verkörpert und durch den Türrahmen gerahmt bereits wie ein Bild im Bild erscheint. Weitere Bilder dieser Zeit variieren diese Raum-Bild-Konstellation. Langsam verschiebt sich der Schwerpunkt in den bürgerlichen Wohnbereich. Damit verstärkt sich der geschlossene Interieur-Charakter und auch die soziale Differenz zwischen einer „Frau mit Kind“ und einer „kehrenden Magd“ scheint zuzunehmen.214 Doch das Spiel mit den ineinander greifenden Räumen und Lichtmilieus als streng strukturierender Rahmen für die situative Anordnung der Figuren bleibt auch hier erhalten. Bildlogisch noch einmal zugespitzt findet sich dieses Prinzip in einer Reihe von Bildern, die ab 1658 entstanden sind. In „Frau mit Kind an der Speisekammer“ sehen wir einen reichlich unspezifischen, aber mit Bodenfliesen ausgestatteten ‚Übergangsraum‘, in dem eine Magd einem herrschaftlich gekleideten Mädchen einen Krug reicht, den sie wohl aus der Speisekammer, die links hinter ihr sichtbar wird, geholt hat. Rechts neben dem Mädchen und etwas zurück versetzt öffnet sich eine weitere Tür, durch die, leicht erhöht, ein deutlich gehobener Wohnbereich mit einem schönen Stuhl an einem offenen Bleiglasfenster sichtbar wird. Auf dem Stuhl liegt ein üppiges blaues Kissen, und darüber hängt das Porträt eines Mannes. Durch das offene Fenster hindurch ist die grell-weiß leuchtende Wand eines gegenüberliegenden Hauses zu sehen. Die perspektivischen Linien des Fliesenbodens im vorderen Raum definieren die Position der Betrachtung eindeutig. Wir stehen gleichsam am linken Bildrand und sehen gerade in die Speisekammer und auf deren tiefliegendes Fenster hinunter, durch das nur wenig Licht eindringt. Der Augenpunkt liegt in der Höhe des Kopfes der Magd, sodass, wenn wir nach rechts blicken, wir über das Mädchen hinweg nach hinten sehen und dabei in der diagonalen Blickachse auf den Blick des Mannes im Porträt treffen. Wiederum wird also der betrachtende Blick in mindestens zwei Richtungen – rund um bzw. über das zentral im Bild stehende Mädchen – in die Bildtiefe geführt. Die Bewegungsrichtungen der Figuren – die Magd kommt von ‚unten‘ aus der Speisekammer, das Mädchen von oben, aus dem bürgerlichen 214 Ein Vergleich der beiden Versionen von „Frau mit Kind und einer kehrenden Magd“ könnte dies deutlich machen. Die erste Version erscheint trotz eines Kamins und eines Spiegels noch eher wie ein Arbeitsraum, und die Frau mit Kind – möglicherweise eine Amme – wird noch nicht deutlich von der Magd unterschieden. Die zweite Version zeigt hingegen ein bürgerliches Interieur mit Bildern in goldenen Rahmen an den Wänden, denen auch die Frau mit Kind zugeordnet ist.

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Wohnbereich – sind also der Blickrichtung entgegengesetzt.215 Sie werden hierbei vom Lichteinfall durch die beiden Fenster unterstützt, wobei der vordere Raum noch durch ein weiteres, nicht sichtbares Fenster, das in etwa rechts vom Betrachter sein müsste, ausgeleuchtet wird. Wieder gibt es die unterschiedlich abgetönten weißen Wände, die vielfach abgestuften Raumhöhen, die Treppen, Türen und Fenster, eine starke ‚Verschachtelung‘ von Gegenständen, Räumen und Lichtmilieus, wodurch die situative Anordnung der Figuren gefasst wird, wobei insbesondere der bürgerliche Wohnbereich wie ein kubistisch verdichtetes Bild im Bild erscheint. Gänzlich im bürgerlichen Interieur sind wir dann in „Frau, die das Haar eines Mädchens reinigt“ von 1658–1660216 (Abb. 35) angekommen. Immer noch handelt es sich um ein schlichtes, doch betont sauberes Zimmer, in dem nun die direkten Zeichen der Arbeit fehlen und in dem es um die Hygiene der Körper geht. Die Frau könnte aufgrund der innigen Verbindung mit dem Kind nun tatsächlich die Mutter sein, doch auch eine solche Zuschreibung ist letztlich höchst ungewiss.217 Jedenfalls bleibt die Grundstruktur der doppelten Blickführung fast unverändert erhalten, doch weist dieses Bild nun eine perspektivisch einheitliche und in der Fläche geradezu geometrische Bildordnung auf. Es gibt hier keine quasi-kubistische Verschachtelung der Gegenstände und der Räume mehr, sondern eine sorgsame Aufteilung von Räumen und Gegenständen und ein äußerst subtiles Lichtregime durch mehrfach gefilterte und reflektierte Lichtquellen, sowie eine geradezu kontrapunktische Aufteilung der hellsten und der dunkelsten Stellen im Bild. Rechts im Bild sehen wir eine, mit dem Rücken zur Bildmitte hin sitzende Frau, die ein in ihrem Schoß liegendes Mädchen entlaust. Hinter den beiden wird ein kleiner SchlafAlkoven sichtbar, dessen Vorhänge beiseite gezogen sind und dessen oberer Teil nicht vom Tageslicht, das durch ein Fenster in der rechten oberen Bildecke einfällt, erreicht wird und deshalb ein dunkles, fast schwarzes Rechteck markiert. Vor den beiden Figuren ist noch ein aufwendig geschnitzter Töpfchen-Stuhl zu sehen. In der linken Bildhälfte sitzt nur ein kleines Hündchen auf dem Boden und blickt durch eine geöffnete Tür in einen anschließenden Raum, von dem aus ein offenes Fenster in den Garten führt. Von dort fällt das Licht einer hoch 215 Trotz des Größenunterschieds zwischen Magd und Mädchen wird die soziale Differenz also auch bildlogisch ausgedrückt. 216 Pieter de Hooch, „Frau, die das Haar eines Mädchens reinigt“, 1658–1660, Amsterdam, Rijksmuseum, 52,5 × 61 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_de_Hooch_-_ Binnenkamer_met_een_moeder_die_het_haar_van_haar_kind_reinigt,_bekend_ als_%27Moedertaak%27_-_Google_Art_Project.jpg. 217 Das Bild hatte im 19. Jahrhundert den sentimentalen Titel „Pflicht einer Mutter“ erhalten.

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stehenden Sonne – durch den Schatten des Fensterbalkens auf dem offenen Fensterladen markiert – direkt auf den Boden des hinteren Raums. Durch die Reflexion auf der wiederum offen stehenden Tür wird das Licht sodann in den vorderen Raum weitergeleitet; rechts von dieser Tür befindet sich über einem mit Delfter Keramik verkleideten Wand-Teil ein Fenster mit zur Seite geschobenen Vorhang, durch dessen Bleiglasscheiben zusätzlich das Licht in den vorderen Raum dringt. Da bereits das offene Fenster des hinteren Raums eine geschlossene Glasreihe über der Öffnung aufweist, wird das Licht hier nun mehrfach gefiltert, bevor es sich im eigentlichen Interieur ausbreiten kann. Die Betrachtungsposition ist wiederum klar durch die Verkürzungslinien der Bodenfliesen definiert. Wir stehen am linken Bildrand und blicken diesmal über das Hündchen hinweg dem einfallenden: direkten, reflektierten und gefilterten Sonnenlicht entgegen. Der Blick nach rechts wird vom deutlich kühleren Licht des Fensters in der rechten oberen Bildecke angezogen. Die Figuren werden von diesen beiden, einander überlagernden Lichtmilieus umfangen; sie gehen vollkommen absorbiert in ihrer aktiv-passiven Tätigkeit auf. Darüber hinaus erhalten sie keine besondere bildliche Aufmerksamkeit und vergegenständlichen gleichsam. Denn zwischen der lichten Sauberkeit der Räume und der Geometrie des Bildes gibt es keine Hierarchien an Bedeutung. Jedes Detail bleibt gleich wichtig, und die Intimität der Szene geht gänzlich in der polaren Struktur von Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Körper und Raum auf. Vielfach ist dieses Bild als Wiedergabe der eigenen Lebensumstände de Hoochs interpretiert worden,218 und zweifellos haben wir es hier mit einer ideologischen Konstruktion von häuslichem Raum, Weiblichkeit und Körperpflege für einen als männlich imaginierten und möglicherweise kontrollierenden Blick zu tun.219 Doch offensichtlich propagiert das Bild keine vorgegebene, höhere Ordnung, sondern eine, nur durch das Bild und im Bild im Akt des Sehens erfahrbare Anordnungsweise. Es stellt keine empirischen Gegebenheiten fest; es analysiert vielmehr die bildlich möglichen gegenständlichen, räumlichen und situativen Verhältnisformen auf höchst subtile Weise. Auffallend sind auch die drei in der linken Bildhälfte ausschnitthaft sichtbar werdenden Gemälde, die deren Anteil an der Ordnung des bürgerlichen Lebens herausstreichen.

218 Hierzu siehe: Walter Liedtke, 2000 (Anm. 187), S. 148–151. 219 Mit Bezug auf Rembrandt spricht Daniela Hammer-Tugendhat vom „Verschwinden der männlichen Protagonisten aus dem Feld der Repräsentation“. Das gilt auch hier. Siehe: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196) S. 15.

Abb. 35 Pieter de Hooch, „Frau, die das Haar eines Mädchens reinigt“, 1658–1660, Amsterdam, Rijksmuseum, 52,5 × 61 cm.

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Die grundlegende Bildidee für das Interieur ist hiermit für de Hooch ausformuliert. Zwar werden in den nach 1660 in Amsterdam gemalten Bildern die bürgerlichen Wohnräume immer reicher ausgestattet und es kommt auch noch einmal zu einer Verfeinerung in der Wiedergabe der Lichtmilieus.220 Generell werden die Aufgaben für eine reiche Klientel nun deutlich repräsentativer; hinzu kommen die höchst seltsamen Bilder, die die Innenräume des neuerbauten Amsterdamer Rathauses wie ein Interieur zeigen, in dem die Besucher jedoch jede Intimität verlieren und wie fremde Touristen durch das sie selbst repräsentierende Gebäude laufen.221 Doch die Bildidee verändert sich nicht mehr. Ihre entscheidende Zuspitzung erfährt sie noch in Delft im Jahr 1658, allerdings nicht im Interieur, sondern in jenen beiden Versionen eines „Hofes mit Gartenlaube“, in denen die konzeptuelle Transformation von Fabritius’ Torwache ganz direkt fassbar wird.222 Beide Versionen zeigen in der linken Bildhälfte einen architektonisch etwas eigentümlichen Durchgang durch ein Haus, der auf beiden Seiten mit je einem Rundbogen abgeschlossen ist und innerhalb dessen auf der linken Seite der eigentliche Eingang in das Haus sichtbar wird. Wir sehen den Durchgang jeweils vom Hof aus und blicken durch die beiden geöffneten Türen hindurch auf die Straße, wo in der Londoner Version hinter einem Zaun ein gelbliches Haus sichtbar wird, während die sich heute in einer Privatsammlung befindende Version den Blick über eine Gracht hinweg auf eine weitere Straße mit einem Baum und einer ziegelroten Fassade lenkt. Der dem Hof und somit dem betrachtenden Blick zugewandte Torbogen ist in seiner abwechselnd aus gemauerten Ziegeln und weißem Stein aufgeführten Bauweise streng bildparallel wiedergegeben. Bevor er im unteren Bildviertel auf den verfliesten Boden des Hofes trifft, scheint er sogar mit der Bildfläche identisch zu sein, was insbesondere in der Londoner Version den hellroten Fensterladen, der direkt am linken Bildrand ansetzt und sich vor den Torbogen öffnet optisch gleichzeitig als in den Raum der Betrachtung schwingend erscheinen lässt. Die Version in der Privatsammlung verschiebt die gesamte Ansicht etwas nach links, wodurch die Lokalisierung des Fensterladens im illusionistischen Raum des Bildes deutlicher wird, weil 220 Deutlich zu sehen in Bildern wie „Die Mutter“, 1661–1663, Berlin, Gemäldegalerie, oder „Interieur mit zwei Frauen am Wäscheschrank“, 1663, Amsterdam, Rijksmuseum. 221 Hierzu siehe: Simon Schama, 1987 (Anm. 12), S. 386–388. 222 Pieter de Hooch, „Hof mit Gartenlaube“, 1658, London, National Gallery, 73 × 60 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_de_Hooch_-_The_Courtyard_of_a_ House_in_Delft.jpg. Pieter de Hooch, „Hof mit Gartenlaube“, 1658, Edinburgh, Scottish National Museum (Privatsammlung), 66,5 × 56,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_de_ Hooch_024.jpg.

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nun ein Teil des Fensters ebenso sichtbar wird wie ein Fass und ein Bottich davor. Über dem Torbogen setzt sich ein in Ziegelstein gemauerter Aufsatz fort, in den ein ovales Fenster und eine steinerne Inschrift-Tafel eingelassen sind, die aus einem aufgelassenen Kloster stammt und die Jahreszahl 1614 trägt. In der rechten Bildhälfte ist in der Version in der Privatsammlung eine Gartenlaube zu sehen, die von einem nach links hin ansteigendem Gerüst, auf dem sich ein Weinstock ausbreitet, überdeckt ist und in der zwei Männer an einem Tischchen sitzen und der stehenden Frau zusehen, wie sie ein Glas Wein hochhebt. Dahinter befindet sich eine vom Sonnenlicht hell erleuchtet Mauer. In der Londoner Version gibt es den Weinstock auch, doch das diesmal nach rechts hin ansteigende Gerüst wirkt baufällig und der Raum darunter verliert seinen Laubencharakter. Er wird zu einem Übergangsraum, denn auf der rechten Bildseite kommt nun eine offene grüne Tür ins Sichtfeld, die über Treppen zu einem weiteren Gebäude führt. Davor ist noch ein Stück der Mauer dieses Gebäudes sichtbar, sowie ein Futtertrog, ein Eimer, ein auf dem Boden liegender Besen und ein Stück eines Gärtchens. Über eine Stufe steigt eine Frau, wahrscheinlich eine Magd, mit einem Teller in der Linken, ein Mädchen an der Rechten führend und wohl aus dem Nebengebäude kommend, in den Hof hinab. Eine weitere Person steht im Durchgang und blickt mit abgewandtem Gesicht in den Hintergrund des Bildes. Nirgendwo sonst als in diesen beiden Bildern wird deutlicher, dass wir es mit keinem empirischen Bild, mit der deskriptiven Wahrheit eines visuellen Eindrucks zu tun haben, sondern mit einer höchst kunstvollen Konstruktion, die nur als „Malerei und nicht als Mimesis“ Sinn macht.223 Obwohl es sich offensichtlich um denselben Ort handelt, sind einzelne Elemente, wie etwa die Art der Fliesen am Boden des Hofes oder der Charakter und der Zustand der Laube, austauschbar. Die Version in der Privatsammlung betont die genremäßige Interaktion der Figuren; das gesamte Bild ist einem einheitlichen, rötlich-braunen Ton gehalten, der farblich nur wenig variiert wird, während die Londoner Version stark mit den komplementären Farbkontrasten von Rot und Grün, Gelb und Blau arbeitet und das Hell-Dunkel dem Spiel der Farben unterordnet. Die Betrachtungsposition ist in beiden Varianten direkt in der Bildmitte auf den gemauerten rechten Pfeiler des Torbogens ausgerichtet, was allerdings nur im Londoner Bild durch die Verkürzungslinien der Bodenfliesen deutlich wird. Die diagonal angeordneten Fliesen der anderen Version erlauben keine Spezifizierung. Dieser Pfeiler markiert die Stelle von Fabritius Säule und lässt den Blick wiederum in zwei Richtungen im Sinne einer „doppelten Perspektive“ laufen. Doch nun werden auch das Davor und das Dahinter 223 Siehe: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196), S. 173: „Malerei, nicht Mimesis“.

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vertauscht. Wir sehen vom Hof aus die Rückseite des Hauses und blicken durch den Durchgang hindurch in den öffentlichen Raum vor dem Haus. Das Hintere des Hauses wird so zum Vordergrund. Doch auch die durchgängige Raumflucht links und der geschlossene Raum rechts, die kulturelle Struktur und die wuchernde Natur, das geordnete Wohnhaus und das ‚unordentliche‘ Stallgebäude werden einander gegenübergestellt. Vor allem das Londoner Bild vermittelt mindestens fünf deutlich voneinander unterscheidbare Lichtmilieus, wobei der Durchgang im Haus in seinem reflexiv-schimmernden Boden besonders hervorgehoben ist. Hier unterstützen auch die uns zugewandten und abgewandten Figuren die bildliche Dialektik zwischen links und rechts, vorne und hinten, oben und unten, Fläche und Raum, Eingängen und Ausgängen. Jede inhaltliche und selbst eine ideologische Bestimmung scheint hier zweitrangig zu sein. Sicherlich könnte man in diesen Umkehrungen das calvinistische Ethos der sauberen Innenwelt, die nichts zu verbergen hat, auffinden oder wiederum die patriarchale oder koloniale Kultur eines heilen Eigenen, doch das eigentliche Ereignis ist zweifellos das Bild selbst, das gerade eine solche Dialektik im Denken von Differenzen und Gegensätzen mit der visuellen Evidenz und durch sie hindurch zu entwickeln im Stande ist. Vermeer schließt in vielem unmittelbar an Fabritius und de Hooch an; gelegentlich übernimmt er sogar einzelne Motive.224 Und doch entwickelt er ein ganz eigenes Bildverständnis. Während Fabritius und de Hooch auf Differenzierung setzen und das Bild dementsprechend als Einheit von heterogenen: gegenständlichen, räumlichen, lichtbezogenen und situativen Bestimmungen denken, setzt Vermeer auf Integration. Meist gibt es nur einen Raum, ein Lichtmilieu und häufig auch nur eine Person. Allerdings bleibt die Differenz Voraussetzung seiner Arbeitsweise. Er scheint sogar immer wieder auf die differenzierenden Methoden von Fabritius und de Hooch zurückzugreifen, um von hier aus zu einer zunehmenden Verdichtung zu schreiten. Dies führt zu einer weiteren Aufwertung und symbolischen Aufladung des Bildes selbst. Die Anfänge von Johannes Vermeer (1632–1675) haben wohl weniger mit Haarlem als mit der Utrechter Malerschule zu tun.225 Die frühesten Bilder schließen direkt an die dortige Historienmalerei an. Vor allem das Bild „Jesus im Haus von Martha und Maria“226 weist stilistische Bezüge hierzu auf; 224 Auch andere Maler wie etwa Gerhard ter Borch und Dirck van Baburen werden zitiert. 225 Das ist die These von John Michael Montias. Siehe: John Michael Montias, 1991 (Anm. 190); auch: Walter Liedtke 2000 (Anm. 187) S. 187–191. 226 Johannes Vermeer, „Jesus im Haus von Martha und Maria“, 1654–1656, Edinburgh, Scottish National Gallery, 158,5 × 141,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/

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darüber hinaus steht es noch ganz im Horizont der Darstellungen des 16. Jahrhunderts. Allerdings wird deutlich, dass es bereits dem jungen Vermeer nicht um einen Antagonismus zu tun ist. Die beiden Frauen werden weniger durch die Art ihres Tuns, ihre Bewegung und Gestik voneinander unterschieden als durch ihre Position im Bild. Der Maler scheint sich hier eher Tintorettos Darstellung von ca. 1580227 und die sich darauf beziehende flämische Tradition zum Vorbild genommen zu haben als die stärker mit Gegensätzen arbeitenden Versionen von Pieter Aertsen und Joachim Bueckelaer. Bei Tintoretto unterbricht Martha die Kreisform, welche Jesus und Maria gemeinsam bilden. Auch bei Vermeer tritt Martha mit ihrem Brotkorb aus dem Bildhintergrund kommend ‚störend‘ an den Tisch.228 Jesus wendet ihr zwar den Kopf zu; sein Körper und die großen, ausdrucksstarken Hände bleiben aber Maria zugewandt, die vor ihm in nachdenklich-melancholischer Gestik auf einem Schemel sitzt. Ihr Profil hebt sich – ebenso wie die auf sie weisende rechte Hand Jesu – im scharfen Kontrast vom weißen Tischtusch ab. Die Szene ist in einem Innenraum angesiedelt; sie stellt jedoch keineswegs ein Interieur dar. Denn die Komposition – mit gegeneinander gesetzten Dreiecksformen arbeitend – ist fast ausschließlich von den Figuren her gedacht. Der Raum dient bloß als Staffage, nicht als bestimmendes Element wie bei Fabritius und de Hooch. Inhaltlich stellt die Bevorzugung der vita contemplativa gegenüber der vita activa allerdings eine Herausforderung für diese Art der Historienmalerei dar. Denn die programmatische Abkehr von der Handlung muss hier mit den Mitteln einer Handlung dargestellt werden; auch der junge Vermeer kann sich diesem Paradox nur durch eine reiche, situative Rhetorik entziehen. Fabritius und de Hooch waren mit ihren absorbierten Figuren hier bereits weiter, um mit den Mitteln der Genremalerei die Überführung der Situation in einen Zustand reinen Seins, der nicht nur die Figuren, sondern das Gemälde selbst betrifft, zu vollziehen. Dieses Moment wird Vermeer alsbald aufgreifen; zukunftsweisend hierfür wird nicht die kontemplative Figur der Maria sein, sondern eher die Figur der Martha, an der sich der innere Widerspruch einer kontemplativ ausgeführten Handlung darstellen lässt.

commons/4/4f/Johannes_%28Jan%29_Vermeer_-_Christ_in_the_House_of_Martha_ and_Mary_-_Google_Art_Project.jpg. 227 Jacopo Tintoretto, „Jesus im Haus von Martha und Maria“, ca. 1580, München, Alte Pinakothek, 200 × 132 cm. https://www.pinakothek.de/kunst/jacopo-tintoretto/christusbei-maria-und-martha. 228 Sie wird jedoch in keiner Weise negativ charakterisiert. Immerhin trägt sie mit dem Brotkorb ein eucharistisches Symbol. Hierzu: Nils Büttner, Vermeer, München (Beck), 2010, S. 24f.

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Eines der frühesten Interieurs, die „Schlafende junge Frau“ von 1557,229 übernimmt allerdings erst noch die Maria-Figur aus dem etwas älteren Historienbild und platziert sie alleine hinter einem Tisch auf der linken Bildseite. Der aufgestützte Unterarm, in dessen Hand die Wange ruht, wird nun vom Zeichen melancholischer Nachdenklichkeit zum Indiz des Eingeschlafen- oder gar des Betrunken-Seins umgedeutet, denn vor der Frau steht ein fast leeres Glas Wein. Die Figur unterscheidet sich auch dahingehend, dass sie mit den Zeichen bürgerlichen Wohlstands, glänzenden Ohrringen und einem prächtigen Kleid ausgestattet ist. Der Tisch, in deutlicher Aufsicht wiedergegeben, ist mit zwei wertvollen, türkischen Teppichen bedeckt; darunter wird am vorderen Bildrand noch eine Decke mit langen Fransen sichtbar. Auf diesen Teppichen steht ein – leider schlecht erhaltenes – Stillleben mit einer Obstschale, zwei Weinkrügen und wohl einem Römer-Glas. Rechts davon, ganz in den Vordergrund gerückt, wird in Seitenansicht die Rückseite einer reich verzierten Stuhllehne sichtbar. Obwohl das Stillleben leicht nach vorne gekippt ist, wirkt es auf die Betrachtenden genauso wenig einladend wie der Stuhl. Wir werden von der schlafenden Frau eher weggehalten, und nur unser Blick kann über den Tisch hinweg oder zwischen Tisch und Stuhl hindurch in den Hintergrund des Bildes gleiten. Eine sorgsame Blickführung ist zweifellos hier bereits das Thema. Auf der Wand direkt hinter der Frau wird ein angeschnittenes Gemälde sichtbar, das eine wohl die Lüge darstellende Maske und noch das Bein eines Amors erkennen lässt.230 Rechts neben dem Bild lässt eine halb geöffnete Tür einen ähnlich ausgestatteten und beleuchteten Raum erkennen. Das Licht wird reflektierend vom Boden aufgenommen und dringt von dort aus auch in den vorderen Raum, der selbst wiederum von links vorne beleuchtet wird. Es gibt keine weiteren Figuren.231 Die Deutungen variieren dahingehend, dass die Frau als sich verstellend – wegen der Darstellung der Lüge im Bild im Bild –, als enttäuscht von der Liebe oder als träge und faul im Sinne des mittelalterlichen Lasterkatalogs aufgefasst wurde.232 Keine dieser Deutungen ist wirklich überzeugend. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, dass hier ein Stillleben, ein Interieur und eine Figur in der besonderen Absorption des Schlafes miteinander verknüpft und aufeinander bezogen werden. Die Figur 229 Johannes Vermeer, „Schlafende junge Frau“, 1557, New York, Metropolitan Museum of Art, 87,6 × 76,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2f/Vermeer_young_ women_sleeping.jpg. 230 Zu den Details der Interpretationsgeschichte siehe die exzellente website: http://www. essentialvermeer.com/catalogue/maid_asleep.html. 231 Technische Untersuchungen haben ergeben, dass zwei weitere Figuren übermalt wurden. 232 Wiederum: http://www.essentialvermeer.com/catalogue/maid_asleep.html; auch: Walter Liedtke 2000 (Anm. 187) S. 202–205, sowie: Nils Büttner, 2010 (Anm. 227), S. 67–70.

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sitzt an der Schnittstelle zwischen dem rein gegenständlichen vorderen bzw. unteren Teil des Bildes und dem eher räumlichen Teil dahinter und darüber. Hierbei korrespondiert die Schräge ihrer versunkenen Körperhaltung mit den gegenständlichen Schrägen von Teppich, Stuhl und Stillleben, während der aufrechte rechte Arm, auf den sie ihren Kopf stützt, bereits die vornehmlich geometrische Ordnung des Raumes dahinter mit seinen strikten Horizontalen und Vertikalen aufnimmt. Auch die inhaltlichen Bestimmungen scheinen gerade in ihrer Vielfältigkeit zu liegen, die sich aus der Übertragung der Gesten und der Posen von Kontemplation und Melancholie hin zu Trägheit und Müßiggang ergeben. Es kommt also nicht nur zu einer Verdichtung durch eine Fokussierung von Gegenständlichkeit und Räumlichkeit auf die Figur hin, sondern darüber hinaus zu einer semantischen Verdichtung von Buchstäblichkeit und Referenz, von visueller Evidenz und bedeutungssuggestiven Anspielungen. Die „Briefleserin am offenen Fenster“, wohl zwischen 1657 und 1659 gemalt,233 (Abb. 36) zeigt das Interieur nun auf etwas andere Weise. Hier steht die Figur vor der flachen, bildparallel situierten Rückwand eines Innenraums, im Profil einem offenen Fenster auf der linken Bildseite zugewandt; es gibt hier keine Nebenräume mehr. Darin hat Vermeer gleichsam sein Standard-Modell für ein Interieur gefunden, das er immer wieder variieren wird. Im Dresdener Bild gibt es auch den Tisch mit den Teppichen und dem Stillleben im Vordergrund. Gemeinsam mit einem grünlich schimmernden Vorhang, der fast das gesamte rechte Drittel des Bildes einnimmt, fungieren sie nun als Barriere den Betrachtenden gegenüber. Vorhang und Vorhangstange sind jedoch nicht als reine trompe l’oeils vor dem Bild situiert; sie bleiben durchaus Gegenstände des Bildes; die Fransen des Vorhangs fallen etwa auf den Tisch, und gemeinsam mit dem auf dem Tisch liegenden Teppich, der vom Bildrand beschnitten wird, wird der Raum der Betrachtung als Teil dieses Interieurs zumindest angedeutet. Wir sind zwar mit im Bild, werden aber von dem geschützten Bereich, in den nur das durch das Fenster strömende Licht eindringt, ferngehalten. Auch ist das Bleiglasfenster so weit nach hinten geöffnet, dass sich nicht der Raum vor dem Bild darin spiegelt, sondern das gesamte Gesicht der Frau, die als Figur im strengen Profil wiedergegeben ist, sichtbar wird. Unser gleichsam voyeuristischer Blick kann jedoch die Barrieren des Vordergrunds überwinden und die Frau im intimen Moment des Lesens eines Briefs erfassen. Das konzentrierte Lesen erscheint hier als Inbegriff einer aktiv-passiven Form der Absorption. Der Brief 233 Johannes Vermeer, „Briefleserin am offenen Fenster“, 1657–1659, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, 83 × 64,5 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ ea/Jan_Vermeer_van_Delft_003.jpg.

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wird passiv empfangen; er kommt gleichsam durch das geöffnete Fenster aus dem Außenraum; er muss aber auch gelesen und angeeignet werden. Obwohl die erotischen Anspielungen – auch ohne die große Amor-Figur, die Vermeer als Bild im Bild an die Rückwand gemalt und später wieder übermalt hatte234 – überdeutlich sind, zeigt die Frau keine Gemütsregung; die „Verhüllung der Gefühle“ wird sogar programmatisch.235 Anstelle des Affekts dominieren die stark kontrastierenden Konturlinien – die helle Stirn vor der dunklen Wand, der dunkle Nacken vor dem hellen Grund – den Ausdruck der Frau. Hierin mag man Zeichen der Ambivalenz gegenüber dem Inhalt des Briefes erkennen können. Entscheidend ist jedoch, was sich zwischen Stirn und Nacken abspielt. Aus einem, das Haar hoch an den Hinterkopf schnürenden Haarnetz fallen einzelne Locken bis an die Schulter, wobei darin eingeflochtene Glaskügelchen durch aufgesetzte Glanzlichter hervorgehoben werden. Ähnliche Lichtpunkte finden sich in den Bleiverstrebungen des Fensterglases und in den Ärmeln des reich verzierten Kleides, in den Fransen des Vorhanges und schließlich vor allem in den Teppichen, wo sie auf Punkte in leuchtenden Primärfarben treffen. Wir sehen hier, wie Vermeer die analytische Basisoperation der Zergliederung des Malmaterials in kleinste, atomare Elemente aufnimmt und darin eine Durchdringung von Malmaterial, Gegenständlichkeit und Erscheinung anstrebt. Die voyeuristische Bildkonstruktion des Interieurs wird derart zum Anlass einer, höchste Konzentration erfordernden Bildbetrachtung. Die analytische Bildauffassung weist uns zwar nicht den Weg vom Inhalt zur formalen Autonomie, so doch zu einem komplexen Wechselspiel zwischen Repräsentation und malerischer Reflexion, in der das voyeuristische Sehen im Bild vom analytischen Sehen des Bildes insgesamt unterscheidbar wird. Als Betrachtende sind wir zugleich innerhalb und außerhalb der Bildkonstruktion. Wir nehmen hierbei die Materialität des Farbmaterials als immaterielle Erscheinungsweise von Licht und Farbe wahr. Die Licht- und Farbpunkte durchdringen und überhöhen die visuelle Präsenz von Gegenständen, Raum und Figur, in die die materiellen Bestimmungen des Gewichts, der Textur und der Konsistenz ebenso eingehen wie ihre formale Fassung und inhaltliche Bestimmung. Es ist die Medialität der Malerei selbst, die hier in Erscheinung tritt und den repräsentativen Prunk – es sind die Kostbarkeiten der Welt, die hier zwischen den Fruchtbarkeit signalisierenden Früchten des Stilllebens, den türkischen Teppichen und dem chinesischen Porzellan das holländische Innenleben 234 Sie wird derzeit wieder freigelegt. Siehe: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/ dresdner-gemaeldegalerie-neue-entdeckung-in-vermeers-briefleserin-16175572.html. 235 Nobert Schneider, Vermeer 1632–1675. Verhüllung der Gefühle, Bergisch Gladbach (Lingen) 1996.

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definieren – in den ‚Glanz‘ von Malerei transformiert.236 Die Ruhe der Figur und die Einfachheit der Bildkonstruktion – im Vergleich mit Fabritius und de Hooch – kontrastieren hierbei mit einer intensiven Lebendigkeit in den Details der Repräsentation, den Licht- und Farbpunkten ebenso wie in den Unregelmäßigkeiten und programmatischen Unschärfen, die in den Faltungen der Teppiche und Vorhänge, den Rändern der elliptischen Schalen-Form und den Rundungen der darin angehäuften Früchte auftreten. Die „Dienstmagd mit Milchkrug“, wohl zwischen 1658 und 1660 gemalt,237 greift nun die Figur der Martha auf. Nicht nur ihre mit größter Konzentration ausgeführte Tätigkeit des Ausgießens von Milch aus einem Krug in eine Tonschale spricht für diese Herkunft, sondern auch der Brotkorb, der vor ihr auf einem Tisch steht und der in ganz ähnlicher Form im früheren Bild von Martha an Jesus gereicht wurde. Diese Milchmagd wird hier in leichter Untersicht und im Halbprofil gesehen, wobei sich der Kopf noch weiter der Mitte zu und nach unten dreht, sodass das Gesicht im Halbschatten zu liegen kommt. Der Tisch vor ihr mit dem Stillleben aus Brotkorb und Krügen ist nun zur Seite des Fensters hin gerückt, sodass der Blick nicht mehr blockiert, sondern entlang der Tischkante zur Figur hingeführt wird. Diese erscheint in statuarischer, fast schon monumentaler, den kräftigen Körper betonender Form. Der Raum, in dem sie steht, ist vom Typus her ähnlich dem der „Briefleserin“; nur handelt es sich um keinen bürgerlichen Wohnraum, sondern um einen reinen Arbeitsraum mit vielen Gebrauchsspuren wie Löchern und Nägeln, Kratzern und Schmutz an Wänden und Boden. Vielleicht hingen hier auch einmal Gemälde oder Spiegel; sie sind jedenfalls verschwunden und lassen gut ein Drittel der rechten Bildseite im nackten Weiß der Rückwand erscheinen. Die Konturlinie der Figur hebt sich vor diesem Hintergrund umso markanter ab. Das Fenster ist geschlossen; nur durch eine kleine Bruchstelle dringt ungefiltert das Tageslicht. Dementsprechend herrscht ein relativ homogenes, fast fahles Licht, was auch durch die kühleren Farbtöne betont wird. Neben dem Weiß der Wand, der Kopfbedeckung der Magd und der ausfließenden Milch sind es die Blautöne der Tischdecke, des darauf liegenden Tuches und vor allem die spektakulär im teuersten Farbpigment der Zeit, dem

236 Die exotischen Objekte definieren nicht nur das Bild der Republik von sich selbst; gleichzeitig begreift sich das darstellende Können der Malerei als dem handwerklichen Können der Teppichweber und Porzellan-Hersteller übergeordnet. Hierzu siehe insbesondere: Svetlana Alpers, 1984 (Anm. 31) S. 114–118. 237 Johannes Vermeer, „Dienstmagd mit Milchkrug“, 1658–1660, Amsterdam, Rijksmuseum, 45,5 × 41 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/20/Johannes_Vermeer_ -_Het_melkmeisje_-_Google_Art_Project.jpg.

Abb. 36 Johannes Vermeer, „Briefleserin am offenen Fenster“, 1657–1659, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, 83 × 64,5 cm.

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Ultramarin, wiedergegebenen Schürze,238 die den Eindruck bestimmen. Dazwischen liegen die etwas wärmeren Gelbtöne von Korb und Broten auf dem Tisch, des Oberteils der Magd sowie des Tragekorbes und der Lampe, die hinter dem Fenster, in den dunkelsten Stellen des Bildes aufleuchten. Immer wieder wurde betont, wie hier die zeitliche Dimension der Malerei adressiert wird, indem jener äußerst vergängliche Moment des Ausgießens, wie er von Bruegel und dem frühen Rembrandt bekannt ist, in der Malerei gleichsam den Status einer Ewigkeit erhält.239 Dieses Rinnsal einer rein weißen Farb-Spur stellt zweifellos das Zentrum des Bildes dar, in dem sich die Blicke der Magd und der Betrachtenden treffen. Besonders der Blick in das Innere des Kruges, dessen Öffnung wiederum fast wie ein Loch im Bild wirkt, übt eine faszinierende Wirkung aus. Hier transformiert sich der voyeuristische Blick in einen vom Bild selbst aufgerufenen und gleichsam angesaugten Blick. Der Eindruck eines Intimen fehlt vollkommen; dennoch bleibt die innerbildliche Blicklenkung vom Blick auf das Bild im Gesamten unterscheidbar. Das immersive Eintauchen ins Bild und die distanzierte Abwägung der erfassten situativen, gegenständlichen und formalen Gegebenheiten halten einander die Waage. Generell zeigt sich das Bild daran interessiert, Gegensätze zwischen dem Gegenständlichen und dem Formalen, dem empirisch Erfassten und dem Gewussten, der Darstellung und der Bedeutung zu artikulieren und sogar zuzuspitzen. So etwa in der eigenartigen, nach hinten sich trapezförmig erweiternden Form des Tisches, die kaum mehr erlaubt, die reale Form von der perspektivischen Verkürzung in der Darstellung zu unterscheiden; oder im Einsatz des Ultramarins, das traditionell ausschließlich der Repräsentation der Gottesmutter vorbehalten war. Auch die Malweise spitzt sich gegenüber der „Briefleserin“ noch einmal zu: Farbpunkte und kleine Flecke überziehen nicht nur die Brote, die Ränder von Körben und Krügen, auch die Schürze und das Oberteil der Magd werden weitgehend daraus aufgebaut.240 Hinzu kommen die Schmutz indizierenden Farbklekse auf dem Boden und den Wänden. Dennoch wäre es verfehlt, hier bereits eine Art proto-impressionistische Malweise erkennen zu wollen. Die Punkte, Flecke und Klekse unterstützen die Erscheinungsweise von Materialität, Haptik und Volumen der Dinge und lösen diese keineswegs auf. Gegenständlichkeit und Körperlichkeit stehen in einem konstitutiven, doppelten Spannungsverhältnis zu ihren Erscheinungsweisen im Raum und im Bild. 238 Ultramarin stellte das wertvollste Pigment der Zeit dar. Es wurde aus geriebenem Lapis lazuli gewonnen, der aus Afghanistan herbeigeschafft werden musste. 239 Hierzu siehe: Sara Hornäk, Spinoza und Vermeer: Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2004. 240 Siehe die sehr schöne Beschreibung bei Nils Büttner, 2010 (Anm. 227), S. 31–38.

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Hierbei werden nicht einfach Gegenstände in ihrer Zuhandenheit gezeigt sowie eine Magd, die – absorbiert in ihre Tätigkeit – im protestantischen Ethos der Arbeit aufgeht; Gegenstände wie Figur werden vielmehr jenseits ihrer traditionellen Bedeutungszuschreibungen als bildwürdig gekennzeichnet. Zweifellos pro­faniert sich hier das Sakrale – weder symbolisiert sich in diesen Broten die Eucharistie noch steckt in der Magd eine Maria als Magd Gottes. Man könnte dem Bild einen geradezu heroischen Zustand der Banalität zuschreiben; doch umgekehrt geschieht hier auch eine Sakralisierung des Alltäglichen mit den spezifischen Mitteln der Malerei.241 Die geradezu ‚alchemistische‘ Verwandlung des Alltäglichen, Schmutzigen oder Derben und seine symbolische Überhöhung im Bild und als Malerei scheinen zentrale Anliegen des Bildes zu sein. Jedenfalls zeigt es diese Alchemie der offengelegten Malweise und der Blickführung, insbesondere in der Differenzierung von immersivem und distanziertem Blick. Derart repräsentiert die „Dienstmagd mit Milchkrug“ zuallererst die malerische Selbstreflexion und unterstreicht das symbolische Gewicht der Malerei. Aus den frühen 1660er-Jahren gibt es noch weitere Bilder, die dieses Spiel zwischen immersivem und blockiertem oder distanziertem Blick anhand einer vollkommen auf ihre Tätigkeit konzentrierten Frauenfigur aufführen. Nun sind es wieder die bürgerlichen Interieurs und die überaus prächtige Kleidung, die im Vordergrund stehen. Im Berliner Bild242 gibt es jedoch noch eine weitere Dimension, denn die Absorption besteht hier darin, dass sich die Frau selbst in einem ihr gegenüber an der Wand noch vor dem Fenster hängenden Spiegel betrachtet. Wir sehen also jemanden beim Sehen zu. Die Frau ist in leichter Untersicht wiedergegeben, wobei der leicht schräg gestellte Stuhl rechts vorne und die scheinbar nachlässig auf den Tisch drapierte Stoffanhäufung – wohl ein dunkelgrüner Vorhang – den betrachtenden Blick zur Figur und dort an der dreieckigen Form ihrer Jacke hoch in ihr Gesicht führen. Es ist also wieder ein immersiver Blick, der uns an einen bestimmten Punkt im Bild, das Auge der Frau, zieht. Damit wird, wenn wir dem Blick der Frau folgen, eine andere, strikt bildparallel und horizontal gefasste Blickachse zwischen der Frau und dem Spiegel, der, der perspektivischen Verkürzung wegen, für die Betrachtenden 241 Charles Taylor hat immer wieder auf diese doppeldeutige Operation verwiesen, dass es eben keine eindimensionale Säkularisierung, sondern stets gleichzeitig eine Art von Re-Sakralisierung gebe, die die Mittel der Kunst selbst betrifft. Siehe: Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, Mass. (Havard University Press) 2007; sowie: Daniel Arasse, 1994 (Anm. 196). 242 Johannes Vermeer, „Junge Frau mit Perlenhalsband“, 1662–1665, Berlin, Gemäldegalerie, 55 × 45 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/09/Jan_Vermeer_van_ Delft_008.jpg.

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nicht einsehbar ist, aufgerufen. Die leere Hintergrundwand bildet die Folie für diese unsichtbare Blickachse, die wohl als der eigentliche Bildgegenstand zu begreifen ist. Hierbei verläuft die Blickrichtung der Frau genau gegen das durch das Fenster einfallende Licht, wodurch die vollkommen plane und gleichmäßig in ein gelbliches Weiß getauchte Hintergrundwand und schließlich die Figur selbst überhaupt erst sichtbar werden. Blick- und Lichtführung überkreuzen einander und offerieren somit die Frau als Subjekt und Objekt des Sehens zugleich. Vor der Hintergrundwand hebt sich der strahlend-weiße Hermelin-Pelzbesatz ebenso deutlich ab wie der satingelbe Stoff der Jacke selbst, die die Frau trägt. Die Malweise wirkt, gegenüber der „Milchmagd“, in ihrer Komplexität etwas zurückgenommen, auf den visuellen Effekt der kostbaren Materialien hin zugespitzt. Nicht so sehr einzelne Glanzlichter und Farbpunkte stehen im Vordergrund, sondern viel eher die ‚sekundäre‘ analytische Operation einer konsequenten Relationierung aller Elemente. Jedes Detail ist sowohl gegenständlich hinsichtlich seiner materiellen Qualität und seiner Erscheinung in Licht und Raum definiert als auch bildlogisch im Sinne seiner Funktion für die komplexe Blickregie. Denn neben dem Blick der Frau und dem immersiven Blick auf diesen Blick, gibt es immer noch den blockierten Blick – die Gegenstände des Vordergrunds führen nicht nur den Blick ins Bild, sie verhindern auch, dass wir den Raum betreten können. Sie schaffen so erst die Möglichkeit, das Bild im Gesamten in seiner farblichen, räumlichen und flächigen Komposition zu sehen. In der Amsterdamer „Briefleserin“243 rücken Tisch und Stuhl etwas auseinander, sodass der unmittelbare Umgebungsraum der Frau nicht mehr als unbetretbar erscheint. Auch ist die Blickführung nicht direkt auf die Frau hin konzentriert. Vielmehr öffnet sich, durch die Schrägen von Stuhl und Tisch angedeutet, eine Art von Zwischenraum, durch den hindurch sich der Blick zwar der fast in voller Körpergröße zu sehenden, stehenden Frau nähern, gleichzeitig aber über die Gegenstände hinweg auch an ihr vorbeischweifen kann. Die Schräge des Tisches wird formal von der Lehne eines zweiten Stuhls aufgenommen, der hinter dem Tisch positioniert ist. Die Frau steht also gleichsam zwischen zwei leeren Stühlen; und der Tisch, wiederum beladen mit einem schweren Tuch, einem Schmuckkästchen, Büchern und einigen Perlen bildet, mit der Landkarte Hollands, die hinter der Frau an der Rückwand hängt, eine weitere Achse, durch die Ambivalenzen ausgedrückt werden: zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Nähe und Ferne, materieller Evidenz und bloß 243 Johannes Vermeer, „Briefleserin in Blau“, 1662–1664, Amsterdam, Rijksmuseum, 46,5 × 39 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Briefleserin_in_Blau#/media/Datei:Vermeer,_Johannes_-_ Woman_reading_a_letter_-_ca._1662-1663.jpg.

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vorstellbarer Wirklichkeit. Generell ist das Bild deutlich schlichter gehalten als die vorangehenden. Es überwiegen die kühlen Blautöne, ohne mehr spektakulär in einem Ultramarin zugespitzt zu werden. Der Blick in den Raum ist leicht nach rechts verschoben, sodass das Fenster und die zugehörige Wand verschwinden und nur mehr in der Lichtaufteilung an der bläulich-weißen Hintergrundwand indirekt erschlossen werden können. Wandfläche und Bildfläche werden hier gleichsam identisch. Dies ermöglicht eine forcierte, fast schon geometrische Flächenaufteilung des Bildes, durch die das Bild eine modernistische Interpretation bzw. Rückprojektion geradezu zu provozieren scheint. In der „Frau mit Waage“, gemalt wohl um 1664, geschehen drei gravierende Veränderungen innerhalb dieses bereits sehr eng definierten Bildtypus. Zum ersten versperrt hier nichts mehr den direkten Zugang zur Figur. Der Stuhl im Vordergrund fehlt, und auch der theatralisch auf dem Tisch drapierte, violette Stoff verweist zwar noch in seiner flächigen Dreiecksform in Richtung der Figur auf der rechten Bildseite, aber er ‚stößt‘ uns als Betrachtende nicht zurück im Sinne eines repoussoir. Wir stehen zwar nicht direkt mit am Tisch, aber auch nicht allzu weit davon entfernt; und wir sehen die massiv-hölzerne Schmalseite der Tischplatte bildparallel vor uns sowie die daneben stehende Frau fast in voller Körpergröße, wobei die leichte Untersicht ihre Statuarik betont. Es gibt hier kein voyeuristisches Sehen mehr. Wir sehen das Bild als solches, leicht distanziert und doch ein wenig immersiv. Zum zweiten ist der Raum nun halb abgedunkelt, in indirektes, durch einen gelblichen Vorhang gefiltertes Licht getaucht. Die von diesem Vorhang verhangene Fensterlaibung ist zumindest erahnbar, und lässt, gemeinsam mit dem Spiegel davor, wieder ein kleines Stück der linken Wand erkennen. Dementsprechend ist die Rückwand nicht mehr strikt bildparallel und weiß leuchtend, sondern minimal verschoben und großflächig grau schattiert. Und zum dritten enthält die Wand im Hintergrund nun ein Bild im Bild. Bereits in der Dresdener „Briefleserin“ hatte Vermeer mit diesem Thema gerungen; gelegentlich taucht auch die Landkarte an der Wand hinter der Figur auf, und in einigen seiner mehrfigurigen Interieurs wird das Bild im Bild seit den späten 1650er-Jahren wie selbstverständlich als ein Ausstattungsstück verwendet.244 Doch hier erhält das Bild-im-Bild-Motiv nun eine entscheidende, ebenso inhaltliche wie bildlogische Funktion. An der Hintergrundwand hängt das Gemälde fast bildparallel, und es nimmt fast genau das rechte obere Bildviertel ein. Strenge Bildstruktur und leichte Abweichung scheinen ein formales Prinzip darzustellen, das auch inhaltliche 244 In diesem Sinne wird das Motiv eines Bildes im Bild auch bei anderen zeitgenössischen Malern, insbesondere bei Emanuel de Witte, Gabriel Metsu oder Jan Steen, verwendet.

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Konsequenzen zeitigt. Als ein religiöses Werk – der Darstellung eines Jüngsten Gerichts im Stil der Antwerpener Malerei des 16. Jahrhunderts – wirkt es etwas deplatziert im Kontext eines Interieurs und fungiert zweifellos als Gegensatz zu der profanen Tätigkeit des Wiegens von Geld oder Perlen, womit die Frau beschäftigt zu sein scheint. Wir sehen ihren Körper wieder in der spitz zulaufenden Dreiecksform, wobei Oberkörper und Kopf in das Bild hineinzuragen scheinen und somit den Erzengel Michael, die Figur also, die im Bild im Bild die Seelen wägt, überdeckt.245 Minimal aus dem Profil in Richtung der Betrachtenden gedreht, den Kopf noch etwas weiter geneigt und die Augenlider gesenkt, geht die Frau im hellgrünen Kleid und dunkelgrüner Jacke mit weißen Pelzbesatz hoch konzentriert in der Tätigkeit eines Wiegens oder Wägens auf. Die auf dem Tisch und einer Schmuckschatulle ausgebreiteten Perlen und Geldstücke ließen die Vermutung aufkommen, dass hier tatsächlich materielle Gegenstände gewogen werden und es deshalb um den Gegensatz zwischen dem eitlen, irdischen Wiegen und dem ewigen Gewogen-Werden der Seelen geht. Doch zweifellos wiegt diese Frau keine materiellen Gegenstände – mikroskopische Untersuchungen haben bestätigt, dass die Schalen leer sind –, sie balanciert die Waage selbst und wägt somit durchaus etwas Immaterielles ab.246 Vermeer knüpft hier zweifellos an die Tradition des antagonistischen Bildes an, an jene Bilder mit einer Waage, wie sie seit Quinten Metsijs’ Bild von 1514 populär geworden waren, aber auch an Pieter Aertsens montageartige Gegenüberstellungen von Vorder- und Hintergrund. Entscheidend scheint mir jedoch zu sein, dass wir es trotz dieser Anspielungen eben nicht mit einer Montage oder einer direkten Gegenüberstellung zweier Prinzipien zu tun haben. Daniela Hammer-Tugendhat hat die interessante These ins Spiel gebracht, dass es gerade der veraltete Stil des Bildes im Bild sei, der hier bedeutungsgenerierend im Sinne einer Historisierung der Malerei selbst wirkt. Diese These deckt sich mit den Einsichten von Victor Stoichita und Daniel Arasse hinsichtlich des vornehmlich selbstreferenziellen Charakters des Bildes. Denn das Bild ruft zwar Gegensätze auf; es integriert und verdichtet sie jedoch gleichzeitig im Sinne des analytischen Bildes. Nicht

245 Die Leibesfülle der Frau hat immer wieder zu Spekulationen über eine mögliche Schwangerschaft Anlass gegeben, doch geht die Forschung heute von einem Modephänomen aus. 246 Während bei de Hoochs fast gleichzeitigem und sehr ähnlichem Bild tatsächlich das Gewicht des Goldes gewogen wird. Pieter de Hooch, „Die Goldwägerin“, ca. 1664, Berlin, Gemäldegalerie, 61 × 53 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pieter_de_Hooch_005.jpg. Generell zur kunsthistorischen Diskussion um beide Bilder siehe: Daniela HammerTugendhat, 2009 (Anm. 196), S. 193–218.

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die Eindeutigkeit einer Zuordnung als katholisch oder protestantisch, alt oder neu, heilig oder profan, als situativ-absorbierte Tätigkeit in der Zeit oder als entscheidendes Handeln am Ende aller Tage ist das Thema, sondern gerade die im Bild möglich gewordene Verknüpfung von gegenstrebigen Fügungen. Im Akt des Wiegens oder Wägens kulminieren solche Verknüpfungen. Er ist mit höchster Subtilität wiedergegeben: Die Frau stützt die linke Hand auf den Tisch, um mit der rechten die Waage freihändig ausbalancieren zu können, was die Waage wie in der Luft schwebend erscheinen lässt.247 Man kann gleichsam das Gefühl spüren, mit dem Blick und Hände der Frau ihre Tätigkeit verrichten. Die schier unglaubliche, im Augenblick äußerster Labilität erfasste Waage korrespondiert mit der Strenge der Bildordnung, denn der Waagebalken und der diesen tragende Stift in der Hand der Frau treffen genau im Zentrum des Bildes aufeinander. Weder werden hier die Perlen oder Münzen auf dem Tisch noch die Seelen zum Jüngsten Gericht gewogen, sondern wohl nichts anderes als die Relationen, die das Bild selbst stiftet. Die gemalte Waage und der Akt des Wägens aktualisieren die strukturelle Balance der malerischen Mittel, die Relationen zwischen Fläche und Raum, zwischen Gegenstand, Raum, Licht, Farbe, Figur und Situation, zwischen Intimität und Bedeutung sowie Augenblick und Ewigkeit. Mithin wird das Sehen, Fühlen und Erkennen als Herausforderung eines ebenso distanzierten wie immersiven Blicks ins Zentrum des Bildes gerückt. „Die Frau mit der Waage“ verdichtet die Situation auf dieses Zentrum hin, und wägt so den Zustand der Malerei als ein symbolisches Bezugsfeld, das weder im religiösen Heil noch im materiellen Besitz aufgeht. 5.5.2. Soziale Differenz im analytischen Bild In ihren mehrfigurigen Interieurs hatten de Hooch und Vermeer in den späten 1650er-Jahren soziale Differenz auf bereits durchaus mehrschichtige Weise dargestellt. Im Aufeinandertreffen einer erwachsenen Magd und eines bürgerlichen Kindes etwa, wie es de Hooch mehrmals malte, überkreuzen einander unterschiedliche soziale Verhältnisse wie Alter und Klasse. Auch in den Begegnungen zwischen Männern und Frauen, wie sie in den an die moralisierende Tradition der Genre-Malerei angelehnten Darstellungen bei Vermeer auftauchen, kommt es nicht nur zur Verschiebung der Szenen von der Taverne in das bürgerliche Interieur, sondern auch zu einer Überlagerung von Aspekten der Nähe und der Ferne, permanenter Anwesenheit und vielfacher Abwesenheit. Aufgrund seines pelzbesetzten Hutes, den der Offizier in „Der Offizier und das lachende Mädchen“ trägt, ist dieses Bild zum Ausgangspunkt einer

247 Die linke untere Ecke des vergoldeten Innenrahmens des Bilds im Bild scheint wie ein Pfeil diese Hand anzustoßen oder gar seinen Inhalt in sie einfließen zu lassen.

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historischen Darstellung über den Beginn des globalen Zeitalters geworden.248 Selbst die vollkommene Abwesenheit der Männer – wie in den meisten der „absorbierten“ Interieurs – lässt sich als soziales Verhältnis lesen, wenn man die Darstellung unmittelbar an den Akt der Betrachtung knüpft .249 Hinsichtlich der konkreten Interaktionsformen zwischen den Figuren hatte insbesondere Gerard ter Borch in seinen nach 1648 entwickelten Interieurs mit raffinierten Interaktionsformen zwischen den Figuren vorgearbeitet. Nuancenreich und subtil thematisiert er zunehmend klassen- und geschlechterspezifisch akzentuierte Gesten und Ausdrucksqualitäten, wobei durchaus bildreflexive Aspekte mit im Spiel sind. So wird etwa mehrfach die moralische Ermahnung einer jungen Frau durch einen älteren Mann, möglicherweise dem Vater, dargestellt, womit gleichzeitig der moralisierende Bildzweck selbst adressiert ist. Häufig ist bei diesen Themen allerdings, wie bei den Bildern insgesamt, kaum zwischen Ermahnung und Verführung zu unterscheiden. Konzeptuell und bildlogisch bieten die mehrfigurigen Interieurs insgesamt jedoch relativ wenig Neues gegenüber den strikt absorbierten, auf eine Figur konzentrierten Bildauffassungen.250 Selbst Nicolaes Maes, der Mitte der 1650er-Jahre einige Bilder malte, in denen Interaktionsformen zwischen Dienerschaft und Herrschaft – etwa ein das Belauschen oder ein Sich-Verstecken – in äußerst komplexen, möglicherweise ebenso an Fabritius wie an van der Weyden anknüpfenden räumlichen Settings thematisiert wurde, verbleibt hierbei weitgehend innerhalb der Tradition des Schwellenbildes.251 Es gibt jedoch einige Bilder im Umfeld der Delfter Malerei, in denen die soziale Differenz noch stärker bildlogisch im Sinne des analytischen Bildes adressiert wird. Ich möchte dies anhand von zwei Beispielen diskutieren: Sie stammen von Jan Steen und Jacob Ochtervelt. Jan Steen (1626–1679), der, aus Leiden stammend, wohl nur kurze Zeit in Delft zugebracht hat, malte dort im Jahre 1655 ein Porträt des reichen Getreidehändlers Adolf Croeser und seiner dreizehnjährigen Tochter Catharina.252 Das 248 Siehe: Timothy Brook, Vermeer’s Hat – The Seventeenth Century and the Dawn of the Global World, London (Profile Books), 2009. 249 In diesem Sinne: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196). 250 Dies gilt auch für jene Bilder, in denen wie bei de Hooch gelegentlich mehrere Figuren auftauchen, ohne jedoch miteinander zu kommunizieren. 251 Jeweils adressiert die lauschende Magd, für die Belauschten hinter einem in der Bildmitte situierten Pfeiler versteckt und gleichzeitig gut für die Betrachtenden sichtbar, diese, indem sie sie zum Schweigen auffordert. Eine Version zeigt zusätzlich das trompe l’oeil eines Vorhangs vor dem Bild, der über den gemalten Rahmen reicht. Die Betrachtenden werden also auf sehr anekdotische Weise gleichzeitig zurückgehalten und ins Bild mit einbezogen. 252 Jan Steen, „Porträt des Adolf Croeser und seiner Tochter Catharina“, früher als „Der Bürgermeister von Delft und seine Tochter“ bekannt, 1655, Amsterdam, Rijksmuseum, 106 × 96 cm. http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.422482.

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Bild war früher unter dem Titel „Der Bürgermeister von Delft und seine Tochter“ bekannt und hat, seit Simon Schama es 1986 auf dem Cover seines Buches „The Embarrassements of Riches“ präsentierte, eine Fülle an wissenschaftlichen Erörterungen und populärwissenschaftlichen Spekulationen auf sich gezogen. 2004 wurde das Bild aus einer englischen Privatsammlung für das Rijksmuseum in Amsterdam angekauft, und 2006 gelang schließlich eine überzeugende Identifizierung der dargestellten Personen.253 Das Bild ist in unserem argumentativen Zusammenhang besonders interessant, weil es einerseits ein öffentliches Porträt und somit eine Art von „Exterieur“ im Gegensatz zu einem Interieur darstellt, und weil in ihm soziale Differenz unmittelbar zum Thema wird. Wir sehen Herrn Croeser schwarz gekleidet auf dem niedrigen Treppenvorbau zum Eingang seines Hauses auf einer Bank sitzen, die Beine breit gespreizt und den rechten Arm in die Hüfte gestemmt. Der linke Arm ruht lässig auf dem schmiedeeisernen Geländer und hält zwischen den Fingern ein beschriebenes Blatt Papier. Auf seiner rechten Seite schreitet die schmächtige, jedoch prächtig gekleidete Tochter die Treppe hinab, während sich ihm von seiner linken Seite – der rechten Bildseite – eine bedürftige Frau mit ihrem Sohn nähert, die linke Hand auf einen Stock gestützt, die rechte bittend ihm entgegengestreckt. Wie bei den Interieurs gibt es auch hier ein Fenster auf der linken Bildseite mit einem halb aufgeschlagenen Fensterladen, nur führt dieses Fenster nach innen, in den dunklen und geschützten Bereich des Hauses. In der Fensterlaibung ist ein Strauß Blumen in einer bauchigen, gläsernen Vase zu sehen. Die bedürftige Frau und ihr Kind stehen auf der gepflasterten Straße, die an einer Front herrschaftlich-bürgerlicher Wohnhäuser entlang auf der linken Seite hinter dem Mann in die Bildtiefe führt und dort auf eine in einem ehemaligen Kloster untergebrachte karitative Institution trifft. Rechts wird die Straße von einem Kanal begrenzt, über den im Mittelgrund eine Brücke führt über die ein gut gekleideter Mann zu eilen scheint. Sein Blick ist auf das Geschehen im Vordergrund gerichtet. Dahinter, aus den üppig grünen Bäumen taucht schließlich der Turm der oude kerk von Delft auf. Es ist immer wieder betont worden, dass Steen uns hier eine sehr spezifische Vermischung verschiedener Genres anbietet,254 indem er Porträt, Gruppenporträt und Genre-Szene ebenso miteinander verbindet wie Elemente des Interieurs und eines Stilllebens mit jenen einer Stadtlandschaft. Es handelt 253 Frans Grijzenhout, Niek van Sas, The Burgher of Delft, Amsterdam (Nieuw Amsterdam) 2006. 254 Hierzu siehe den Katalogeintrag von H. Perry Chapman, in: Ausstellungskatalog Jan Steen. Painter and Storyteller (Guido  M.C.  Jansen, Hg.), National Gallery of Art, Washington, Rijksmuseum, Amsterdam, 1996/97, S. 119–121.

Abb. 37 Jacob Ochtervelt, „Straßenmusikanten am Eingang eines Hauses“, 1665, Saint Louis Art Museum, 68,5 × 57,1 cm.

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sich mithin um ein situatives Porträt, in dem sich Situationen, Milieus und soziale Interaktionsformen kreuzen und gerade an den Schnittstellen zwischen Innen- und Außenraum, privater und öffentlicher Sphäre, familiärer und sozialer Zuständigkeit der eigentliche Anspruch des Bildes festgemacht wird. Entscheidend für die Charakterisierung des Porträtierten ist, dass Steen den Lässigkeitsgestus der Haarlemer Porträt-Malerei in einen Gestus der Macht oder zumindest der politischen Souveränität überträgt. Die gespreizten Beine und der in die Hüfte gestemmte Arm sind traditionell der Repräsentation von Herrschenden vorbehalten. Das heißt, der Mann sitzt nicht einfach entspannt vor seinem Haus; er repräsentiert sich selbst in einer öffentlichen Funktion. Was immer das Papier in seiner linken Hand sein mag; es scheint offensichtlich, dass es einen öffentlichen Auftrag anzeigt. Wenn er schon nicht Bürgermeister ist, so doch zweifellos eine öffentliche Figur, deren familiale und karitative Repräsentation unter allgemeiner Beobachtung steht.255 Der Mann auf der Brücke, die Kirche und die karitative Institution im Hintergrund geben hier den Rahmen vor. Steen überführt daher keineswegs die Situation in eine Handlung – der Porträtierte gibt ja nicht einmal ein Almosen –; er verdichtet das Situative aber auch nicht in dem Sinn, wie wir es bei Vermeer und de Hooch im Wechselspiel von absorbierten Figuren und immersiven Blick sehen konnten. Vielmehr differenziert und spezifiziert er die Situation. Die räumlichen, kulturellen und sozialen Differenzen werden zum eigentlichen Anliegen und zum konkreten Ansatz, den sozialen Stand in seinen unterschiedlichen Funktionsweisen zu definieren. Reichtum und bürgerschaftliches Engagement bilden die Voraussetzungen dieses Porträts; darin will die zentrale Figur anerkannt werden. Dem Blickwechsel zwischen Croeser und der bedürftigen Frau entspricht daher der Blick der Tochter direkt in Richtung der Betrachtenden, allesamt beobachtet vom Mann auf der Brücke. Weder isolieren sich die Figuren voneinander in reiner Zuständlichkeit noch integrieren sie sich zu einer gemeinsamen Handlung. Die Situation lässt vielmehr Gesten und Blicke als mehrschichtige Interaktionsformen erscheinen, die inmitten eines bedeutungsvoll aufgeladenen urbanen Settings zwischen dem dunklen Innenraum und dem sonnigen Außenraum angesiedelt sind. Differenzen sind hier konstitutiv für die soziale Identität der Porträtierten. Eine Individualisierung wird nur für den Porträtierten selbst und seine Tochter angestrebt, während die Bedürftige und ihr Sohn stark 255 Die neuere archivalische Forschung hat auch zeigen können, warum hier Vater und Tochter als einzige Mitglieder einer bürgerlichen Familie gezeigt werden, waren doch Frau und vier weitere Kinder erst unlängst verstorben; siehe: Frans Grijzenhout, Niek van Sas, 2006 (Anm. 252).

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typisiert wiedergegeben werden. Individualisierung und Typisierung werden also entlang der Differenz des Besitzes einander gegenübergestellt. Bei dem Typus handelt es sich um die Darstellung einer guten, sauberen, sich um ihr Kind kümmernden und damit der Fürsorge würdigen, armen Frau, die sich deutlich von den gefährlichen Klassen abhebt, für die Disziplinierung und nicht Fürsorge das adäquate Mittel wäre.256 Vielleicht wägt Herr Croeser ihren Anspruch noch ab oder er verleiht ihr das Recht, in der Stadt um Almosen zu bitten bzw. sich an die lokalen Fürsorge-Institutionen zu wenden. Die patriarchale oder paternalistische Anmutung des Bildes hat immer wieder dazu geführt, darin ein verborgenes Unbehagen aufzuspüren. Doch von irgendeiner Form von Peinlichkeit oder gar ironischer Kritik an den Dargestellten findet sich im Bild tatsächlich keine Spur.257 Das sind reine Rückprojektionen eines im Universalismus der Aufklärung und der Menschenrechte wurzelnden, modernen Egalitarismus. Ganz im Gegenteil ist es erst die soziale Differenz, die die bürgerliche Klasse und ihren repräsentativen Herrschaftsanspruch definiert und gleichzeitig legitimiert. Feudale Repräsentation musste demgegenüber soziale Differenz nicht unbedingt darstellen, weil sie immer schon als göttliche, kosmische oder natürliche Ordnung der Dinge vorausgesetzt werden konnte. Für die holländischen Bürger ist dies nicht der Fall. Soziale Differenz, wie sie sich in Reichtum und bürgerschaftlichem Engagement zeigt, wird zum Zeichen ihrer Auserwähltheit. Sie ermöglicht überhaupt erst, sich in der erfolgsbasierten Identität einer Klasse zu behaupten. Darauf will Herr Croeser zweifellos stolz sein, gerade im Angesicht der privaten Tragödien, die sein Leben heimgesucht zu haben scheinen. Die Ungereimtheiten des Bildes liegen nicht in der Peinlichkeit der Hauptfigur, sondern in der komplexen Disposition des Bildes selbst. Der tiefe Augenpunkt, der etwa in Höhe des Bauches des Mannes liegt, lässt diesen in einer monumentalisierenden Untersicht erscheinen; dadurch wirken die Haustüre und die Front der Patrizierhäuser wie in die Höhe gezogen. Auch springen die Fehler in der perspektivischen Darstellung von Treppe und Geländer ins Auge und machen deutlich, dass der junge Jan Steen Fabritius’ „Ansicht von 256 Zur Differenz zwischen guten und schlechten Armen und zur bürgerlichen Obsession ihrer Unterscheidung siehe: Simon Schama 1987 (Anm.12), S. 17–24; Ausstellungskatalog Jan Steen, 1996/97 (Anm. 253) S. 121; sowie Henk van Nierop, „The Anatomy of Society“, in: Ronni Baer (Hg.), 2016 (Anm. 90), S. 23–38. 257 Kunsthistoriker haben mit Recht die Ansicht Simon Schamas zurückgewiesen, hier intentionale Aspekte einer Ambivalenz zu sehen, die tatsächlich von einer Peinlichkeit zu sprechen berechtigten. Die Peinlichkeit liegt ausschließlich bei uns. Siehe: Eddy de Jong, „Jan Steen. So Near and Yet So Far“, in: Ausstellungskatalog Jan Steen, 1996/97 (Anm. 253) S. 39–49.

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Delft“ durchaus gekannt haben mag, dass ihm aber die Mittel für eine ähnlich gekonnte Umsetzung fehlten.258 Der Mangel an kompositorischer Ausgewogenheit unterstreicht jedoch die besonderen Ambivalenzen und die Komplexität der Beziehungsverhältnisse, die hier vorgeführt werden. Der durch die perspektivische Konstruktion und den Blick der Tochter situierte betrachtende Blick bleibt in einer gewissen Spannung zum Blick auf das Bild im Gesamten, durch den wir Herrn Croeser – wenn wir diesen Blick in der Bildmitte ansetzen – auch gleichsam von oben sehen können. Denn die Figuren sind, ganz untypisch für ein Porträt, in die untere Bildhälfte gedrängt, was wiederum ermöglicht, sie in Verbindung zu den architektonischen, institutionellen und natürlichen Gegebenheiten des Hintergrundes setzen zu können. Auch hier gibt es also ein doppeltes Sehen, eines, das auf die Figuren bezogen ist, und ein anderes, das deren Einbindung ins Bild und die darin vermittelten Kontexte betrifft. Auch inhaltlich ist diese Differenz von Belang, weil die Betrachtenden auch als jene öffentliche, kontrollierende Instanz angesprochen werden, für die diese Inszenierung überhaupt nur aufgerufen wird. Leider hat Steen sich kaum mehr mit der hier zumindest ansatzweise formulierten Bildidee beschäftigt. Der Treppenaufgang zum Haus als Schwelle sozialer Differenz wird zwar im Bild „Die Wandermusiker“ von 1659 noch einmal bearbeitet, allerdings handelt es sich hierbei bereits um eine reine GenreSzene. Über das Geländer hinweg treffen auch hier die Klassen aufeinander, die bürgerlichen Frauen und die wandernden, ärmlichen Musiker; doch über diesen Moment hinaus gibt es keine weitere ethisch-politische Perspektive. Generell bewegt sich Steen in Richtung einer eher humoristischen Darstellung sozialer Differenzen, etwa im „Fantasie-Interieur mit Jan Steen und der Familie von Gerrit Schouten“, in dem eine Fülle von Repräsentationselementen ausgebreitet und gleichzeitig eine strenge soziale Hierarchie bewahrt wird. Im üppig mit Gemälden, Skulpturen und Tapeten ausgestatteten, repräsentativen Wohnraum diskutieren der Maler und der Hausherr, währen die Frauen mit Musizieren oder Lesen beschäftigt sind. Darüber hinaus gibt es jedoch auch den als Kind dargestellten afrikanischen Pagen und die Magd, die im Hintergrund das Essen anrichtet.259 Der dienstbare Gestus ist wiederum einem höflichen Kavalier vorbehalten, der der Dame des Hauses eine Zitrone anbietet. In den Bildern der 1660er-Jahre, insbesondere in den unterschiedlichen 258 Bereits Hofstede de Groot hatte 1908 dem Bild abgesprochen, ein Meisterwerk zu sein: „The picture is authentic, but not a masterpiece“. Siehe: https://archive.org/stream/catalo gueraisonn01hofsuoft#page/241/mode/1up. 259 Zur Darstellung von meist erwachsenen Dienern afrikanischer Herkunft als Kindern siehe: Marieke de Winkel, „Ambition and Apparel“, in: Ronni Baer (Hg.), 2016 (Anm. 90), S. 70–73.

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Versionen der „Verkehrten Welten“ oder des „Welttheaters“ verschwindet die bildlogisch akzentuierte soziale Differenz schließlich weitgehend, um einer ebenso theatralen wie universalen Rhetorik Platz zu machen. Es gibt eigentlich nur eine Reihe von Bildern, die die Anregung durch das frühe Bild von Steen aufgenommen und konstruktiv im Sinne des analytischen Bilddenkens weiter geführt hat. Sie stammt von Jacob Ochtervelt (1634–1682), der in den 1650er- und 1660er-Jahren in Rotterdam gelebt hat, aber zweifellos mit der Delfter Malerei in Kontakt stand. In seinen Bildern sind es wiederum vielfach wandernde Straßenmusikanten oder auch Fischhändler, die an ein bürgerliches Wohnhaus treten. Ochtervelt bewahrt jedoch das Modell des Interieurs – meist ist es eine Eingangshalle und kein Wohnraum –, das jeweils durch eine Tür sich ins Freie öffnet und den Blick auf die herantretenden niederen Klassen ermöglicht. Die Tür kann, wie das Fenster in den meisten Interieurs auf der linken Seite des dargestellten Raums liegen; sie kann aber, und drin ist Ochtervelt äußerst originell, auch an der Rückwand des Innenraums positioniert sein, die sich somit in den städtischen Raum hinein öffnet. Im wohl gelungensten Bild260 (Abb. 37) ist die Rückwand strikt bildparallel gehalten und nahezu mit der Bildfläche identisch, bevor im unteren Bilddrittel der Boden im diagonalen Muster aus weißen und schwarzen Marmorfliesen eine stärkere räumliche Dimension in der perspektivischen Verkürzung ankündigt.261 Hier sitzt nun links von der Türe die Dame des Hauses und reicht ein Almosen an ihr Kind weiter, das von einer Magd an der Hand geführt, von rechts ins Bild kommt. Die Magd scheint das Kind, das sich ihr zuwendet, anzuweisen, sich die Münze von der Mutter zu holen und an die beiden Musiker, die in der offenen Tür stehen, weiterzureichen. Auffallend ist vor allem die Differenz der Gewänder: die herrschaftliche Ausstattung von Mutter und Kind gegenüber der deutlich schlichteren Bekleidung der Magd und den vielfach geflickten Lumpen der beiden Musiker. Dieser Differenz in der Kleidung entspricht auch eine ebenso scharfe Differenz im Licht und im Raum. Der Innenraum ist durch ein unnatürlich wirkendendes Licht ausgeleuchtet, das die Figuren und den Boden beinahe wie von einem grellen Scheinwerfer erfasst erscheinen lässt. Die Lichtquelle müsste im imaginären Raum vor dem Bilde – wohl über der Position der Betrachtenden – lokalisiert werden. Dieses Licht bringt die überwiegend weißen Marmorfliesen ebenso zum Leuchten wie die 260 Jacob Ochtervelt, „Straßenmusikanten am Eingang eines Hauses“, 1665, Saint Louis Art Museum, 68,5 × 57,1 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacob_Ochtervelt_-_ Street_Musicians_at_the_Door.jpg. 261 Die Türe ist so weit geöffnet und obendrein in den schattigen Bereich gelegt, dass sie beinahe mit der Wand zu verschmelzen scheint.

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prächtigen Gewänder der Herrschaft in ihren bläulichen und roten, seidig schimmernden Stoffen. Im Freien herrscht ein diffuses, dämmriges Licht, das die beiden Musiker ebenso wie die Fassaden der Patrizier-Häuser und den fernen Kirchturm in vorwiegend bräunliche Töne hüllt. Die Musiker lächeln und verbeugen sich; sie wagen nicht, die Schwelle des Hauses tatsächlich zu überschreiten.262 Auch hier wäre es vollkommen verfehlt, nur einen Hauch von moderner Sozialkritik zu erkennen. Das analytische Bild schärft zweifellos die Wahrnehmung sozialer Differenz. Gleichzeitig versucht es jedoch, diese Differenz bildlogisch, etwa durch die strikt geometrische Bildordnung rund um den zentralen Türrahmen, der wie ein Bild im Bild oder auch als eine Art „Loch im Bild“ erscheint, zu integrieren und in ein stabiles Referenzsystem einzubinden. Die Aufteilung des Raums und des Lichts, orchestriert durch ein komplexes Spiel der Gesten, der herrschaftlichen und der dienstbeflissenen, der leh­ renden und der lernenden, wird Teil eines Bild-Dramas, in dem die bürgerliche Ordnung erst eigentlich zutage treten kann. Perspektivische Bodenlinien und der in Höhe des Gesichts der Bürgersfrau liegende Augenpunkt situieren den betrachtenden Blick fast punktgenau im Zentrum des Bildes. Meine spekulative These wäre, dass sich in diesem Blick der Blick des im Bild abwesenden Mannes, des pater familias, und somit die bürgerlich-patriarchale Ordnung verkörpert. Als Betrachtende sehen wir in seinem Sinne, dass nämlich alles seine Ordnung hat, dass sich alle gemäß ihres vorgezeichneten Ortes im sozialen Heilsplan der holländischen Republik verhalten und letztlich, dass der Auftritt der niederen Klassen im Bild diese Ordnung nicht verstört, sondern zuallererst ermöglicht. 5.5.3. Allegorie der Verdichtung Vermeer hatte sich in seinen mehrfigurigen Interieurs ebenfalls mit Momenten sozialer Differenz beschäftigt. Das Aufeinandertreffen von Männern und Frauen oder von bürgerlichen, prächtig ausgestatteten Frauen mit ihren schlicht gekleideten Dienstmägden wird immer wieder in Szene gesetzt. Die Begegnungen von Männern und Frauen verbleiben allerdings im strikt konventionellen Rahmen von Verführung und moralischer Warnung,263 während es bei den bürgerlichen Frauen und ihren Mägden um die Herausarbeitung der Differenz in der Bekleidung und Gestik, um eine Hervorhebung des Reichtums 262 Hierzu siehe: Norbert Schneider, „Schwellenängste. Zu einem Vestibül-Bild Jacob Ochtervelts“, in: kritische berichte 4/99, S. 37–48. 263 Insbesondere in „Das Mädchen mit dem Weinglas“ 1659/60, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum und in „Herr und Dame beim Wein“, 1658–1660, Berlin, Gemäldegalerie.

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und der Kultiviertheit geht. Es kommt jedoch zu keiner bildlogisch besonders artikulierten Thematisierung der sozialen Differenz. Auch Gabriel Metsu (1629–1667), der sich in den 1660er-Jahren vom nahen Leiden aus intensiv mit Vermeer und de Hooch auseinandersetzte, thematisiert auf durchaus vielschichtige Weise soziale und kulturelle Differenzen, ohne dabei den zu dieser Zeit bereits klar definierten Rahmen des Delfter Interieurs infrage zu stellen. In seiner „Brieflesenden Frau“ von 1664 oder 1665264 sehen wir wiederum eine Raumecke mit einer nahezu bildparallelen, bläulich-weißen Rückwand und einer im Anschnitt noch sichtbaren Seitenwand mit einem großen Fenster. Etwas erhöht sitzt eine bürgerliche Frau auf einem Podest; sie hält einen Brief gegen das einfallende Licht und liest darin höchst konzentriert mit leicht nach vorne und zur Seite geneigtem Kopf. Rechts neben ihr steht auf dem gefliesten Boden eine Magd, die sich von den Betrachtenden abwendet und mit ihrer rechten Hand einen Vorhang vor einem Gemälde anhebt, auf dem – für sie wie für uns – eine stürmische Seelandschaft sichtbar wird. Unter ihrem linken Arm hält sie einen Eimer an die Hüfte geklemmt und zwischen den Fingern – fast genau im Zentrum des Bildes – das Couvert des Briefes, mit der Signatur, so als ob der Maler der Absender des Briefes wäre. Die beiden Frauen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Kleidung, sondern auch bezüglich ihrer Tätigkeit – dem Lesen eines Briefes und der Betrachtung eines Gemäldes – und schließlich in ihrer Position in Bezug auf die Betrachtenden. Eingefasst von den referenziellen Codes des Bildes wie dem Fenster mit dem blauen Vorhang, dem Spiegel über der sitzenden Frau, in dem das Fenster reflektiert wird, und schließlich dem Gemälde mit dem grünen Vorhang, ‚performen‘ die Figuren geradezu kontrapunktisch Differenzen des Sitzens und Stehens, des konzentrierten Lesens und des gelangweilten Schauens, der Zu- und der Abwendung, anekdotisch angereichert durch referenziell aufgeladene Objekte wie Korb und Stuhl, Hündchen und Pantoffel im Vordergrund. Die Position der Betrachtung liegt auf der rechten Bildseite; wir stehen also gleichsam direkt vor der Magd und auch für uns wird ein unsichtbarer Vorhang gelüftet. Nicht nur im Bild korrespondieren Bild und Brief als Vermittlungs-Medien von Wahrnehmungen und Gefühlen;265 das Bild selbst wird zu einer Art von Brief mit einer dechiffrierbaren, wenngleich durchaus ambivalenten Botschaft. Denn ob das Bild nun allgemein und emblematisch im Sinne eines „Sturmes der Liebe“, 264 Gabriel Metsu, „Brieflesende Frau“, 1664–1666, Dublin, National Gallery of Ireland, 52,5 × 40,2 cm. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Woman_Reading_a_Letter_by_ Gabri%C3%ABl_Metsu.jpg. 265 Siehe: Petra Hornung, „Briefe als Gefühlsmedien“, in: http://www.mediality.ch/galerie. php?id=21.

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den das Bild im Bild ankündigt,266 gelesen werden soll oder doch eher konkret und indizienhaft in Bezug auf die Abwesenheit des Hausherren, bleibt unklar. Das Gegenstück, der „Briefschreibende Mann“,267 lässt zumindest vermuten, dass der Absender nicht allzu weit entfernt ist. Vermeer zeigt sich an einer solchen anekdotischen Ausschmückung des Interieurs wenig interessiert. Er arbeitet stets am Bild selbst; die soziale Differenz stellt nur eine Ebene der Beziehungsgenerierung im Bild dar. Anstatt um eine immer weitere Differenzierung sozialer Verhältnisse geht es ihm stets um eine Verdichtung von Figur, Gegenstand und Raum. Gerade die mehrfigurigen Interieurs zeigen ein besonderes Interesse an der geometrischen Konstruktion des Raums; die Raumecke wird nicht einfach vollgestellt; sie wird selbst thematisiert, wobei die Bildebene, die vierte Wand der jeweiligen Raum-Bühne, besondere Aufmerksamkeit erfährt. Bereits „Herr und Dame beim Wein“ von 1658–1660 und das ähnliche Braunschweiger Bild „Das Mädchen mit dem Weinglas“ von 1659–1660268 arbeiten mit einem nach vorne hin abfallenden Boden, der mittels einer leicht gekrümmten Perspektive erst im hinteren Raumteil flach wird. Dadurch vergrößert sich der Tiefenraum deutlich und die Größenverhältnisse der Figuren und der Gegenstände können räumlich viel realistischer in Bezug zueinander gesetzt werden. Vielfach ist vermutet worden, dass Vermeer hier eine Camera obscura benutzt hat, was allerdings nicht erklärt, dass und wie die Verzerrungen gemäßigt wurden, um auch in der Bildfläche glaubwürdig zu erscheinen. Für die Verwendung einer Camera obscura scheint mir allerdings zu sprechen, dass in diesen Bildern dem betrachtenden Blick gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Bereits im Berliner Bild scheint der im Augenpunkt adressierte Blick über den Dingen zu schweben und keiner realen, im Raum stehenden Person mehr zuzuordnen zu sein. Deutlicher wird diese kategorische Unsicherheit der Betrachtungsposition noch in „Die Musikstunde“ von 1662–1665.269 Hier fällt der 266 Siehe: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196), S. 219–232. 267 Gabriel Metsu, „Briefschreibender Mann“, 1664–1666, Dublin, National Gallery of Ireland, 52,5 × 40,2 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Man_Writing_a_Letter_by_ Gabri%C3%ABl_Metsu.jpg. 268 Johannes Vermeer, „Herr und Dame beim Wein“, 1658–1660, Berlin, Gemäldegalerie, 67,7 × 79,6 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jan_Vermeer_van_Delft_-_The_ Glass_of_Wine_-_Google_Art_Project.jpg. Johannes Vermeer, „Das Mädchen mit dem Weinglas“, 1659–1660, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum, 78 × 67 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jan_ Vermeer_van_Delft_006.jpg. 269 Johannes Vermeer, „Die Musikstunde“, 1662–1665, London, Royal Collection, 74,1 × 64,6 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Johannes_Vermeer_-_Lady_at_the_Virginal_ with_a_Gentleman,_%27The_Music_Lesson%27_-_Google_Art_Project.jpg.

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Boden besonders steil nach vorne ab; dies verlängert die sichtbare Fensterfront und schafft viel atmosphärischen Raum auf der linken Bildseite, während die rechte Bildseite durch eine besonders kunstvolle Anordnung der Gegenstände hervorsticht. Der leicht rechts von der Bildmitte situierte Blick wird links entlang der Fensterfront rasch in die Bildtiefe gezogen während er rechts behutsam von einer prächtigen Teppichfalte zu einer extrem flachen Tischplatte hochgeführt wird, auf der, als einem ersten Höhepunkt, ein weiß leuchtender Keramikkrug steht, in dem sich das einfallende Licht fängt. Entlang der Tischkante wandert der Blick über eine zweite Teppichfalte zu einem quer dazu stehenden, blau bezogenen Stuhl und streift, auf dem Weg zu den Figuren im Bildhintergrund, noch das auf dem Boden liegende Cello. Die Figuren stehen am frontal sichtbaren Virginal und werden von einem Spiegel und einem Gemälde an der Rückwand gerahmt. In Virginal, Spiegel und Gemälde wird durchaus eine geometrisch-rechtwinkelige Bildordnung angesprochen; diese bleibt jedoch nur mehr auf einen kleinen Teil des Bildes bezogen und wird durch die vielen Schrägen und Diagonalen in den Fenstern, dem Boden und den Gegenständen gebrochen. Es gibt überhaupt kaum eine wirklich gerade Linie in dem Bild, was insbesondere an den Balken der hölzernen Decke sichtbar wird. Räumliche und flächige Organisation stehen daher konstitutiv im Widerstreit zueinander. Zweifellos geht es auch hier um eine Balance der ästhetischen Mittel; deren Spannungen zueinander werden jedoch nicht tatsächlich ausgewogen, sondern rund um ein äußerst labiles, gegenständlich nicht fassbares Zentrum zugespitzt. Auch scheint die Szene zwar weitgehend in sich abgeschlossen und möglichst weit vom betrachtenden, situationslosschwebenden Blick entfernt zu sein; doch bleibt das Bild unmittelbar an diesem Blick ausgerichtet; er ist sogar mit im Bild adressiert. Im Spiegel über der in Rückenansicht wiedergegebenen Frau wird nicht nur ihr Gesicht in einer ‚falschen‘ Ansicht sichtbar,270 sondern darüber hinaus der Fuß einer Staffelei. Der Maler ist also, wie einst bei Jan van Eyck, zumindest metonymisch mit im Bild; unser Blick scheint sein Blick zu sein, allerdings auf höchst irritierende Weise: Wir sehen ja den Raum vor dem Spiegel in großer Tiefe, und dementsprechend müsste die Staffelei sehr weit vor dem Spiegel stehen, sodass alleine ihr Fuß unmöglich darin sichtbar werden könnte. Vermeer beschreibt hier keineswegs eine objektive Wirklichkeit; er legt vielmehr konzeptuelle Indizien aus, die die Position der Bildbetrachtung selbst betreffen. Er arbeitet gleichsam an der vierten Wand. Das Erbe des Schwellenbildes wird hier mit den Mitteln der Perspektive aktualisiert, nun systematischer miteinbezogen 270 Die Frau steht gerade vor dem Spiegel; in der Spieglung wendet sie jedoch den Kopf zur rechten Seite hin. Hierzu siehe: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196) S. 177–181.

Abb. 38 Johannes Vermeer, „Die Malkunst“, 1666–1668 oder 1673, Wien, Kunsthistorisches Museum, 120 × 100 cm.

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als eines der Elemente des analytischen Bildverständnisses. Es geht also nicht um eine devotionale oder bezeugende Nähe zum Bild, sondern gerade darum, eine solche Nähe zu verunsichern und die Repräsentation selbst hervortreten zu lassen. Die reflexiven Elemente von Fenster, Spiegel und Bild im Bild werden nicht, wie bei Metsu, einfach als kodifizierte Zeichen aufgerufen, sondern taktisch und bildlogisch eingesetzt, um den Akt des Sehens selbst in der Differenz seiner empirischen und analytisch-rationalen Form ebenso wie seiner rezeptiven und produktiven Funktion hervortreten zu lassen. Was der Maler sieht, ist nicht mit dem identisch, was er uns zeigt, und was er uns zeigt, impliziert einen Standpunkt, der nicht fixiert werden kann. Die vierte Wand ist somit keineswegs als reiner Schnitt durch die Sehpyramide definiert; sie ist als Bildfläche aufgefasst, zu der sich das betrachtende Sehen positionieren muss. Es kann nicht mit dem Sehen des Malers identisch werden; es reagiert vielmehr auf das, was uns der Maler zeigt, und was er uns zeigt, das ist unser Sehen selbst in seiner realistischen, reflexiven und repräsentativen Dimension. Mit der Raumkonstruktion im und als Bild im Sinne einer „Rhetorik der Perspektive“ zu arbeiten, darin sind Vermeer auch andere Maler gefolgt. Vor allem Pieter Janssens Elinga und Samuel van Hoogstraten haben mit perspektivischen Guckkästen sowie mit dem Gegensatz von tiefen perspektivischen Fluchten und ganz nahen trompe l’oeil-Effekten gearbeitet.271 Als letzte Zuspitzung lassen sich hier auch jene, zwischen 1668 und 1672 für die Königliche Perspektive-Kammer in Kopenhagen gemalten Trompe l’oeils des flämischen Malers Cornelis Gijsbrechts verstehen, in der die reflexive Dimension des Tableaus auf geradezu spektakuläre Weise verhandelt wird.272 271 Pieter Janssens Elinga, „Guckkasten“, 1660–1680, Den Haag, Bredius Museum, 84 × 82 × 42 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Elinga-perspective-bredius.jpg. Pieter Janssens Elinga, „Interieur mit Maler, lesender Dame und kehrender Magd“, 1668, Frankfurt am Main, Städel Museum, 82 × 99 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:1668_Elinga_Interieur_mit_lesender_Dame_und_kehrender_Magd_anagoria.JPG. Samuel van Hoogstraten, „Blick auf einen Korridor“, 1662, Dyrham Park, 260 × 140 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:View_of_a_Corridor_1662_Samuel_van_ Hoogstraten.jpg. Samuel van Hoogstraten, „Trompe l’oeil-Stillleben“, 1655, Wien, Akademie Galerie, 92,5 × 72 cm. http://www.akademiegalerie.at/de/Sammlung/Bildinformation/?image_ name=76&active_image=8&GALLERY_ORDER=36. Samuel van Hoogstraten, „Die Pantoffeln“, 1660–1678, Paris, Louvre, 103 × 70 cm. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:The_slippers,_by_Samuel_van_Hoogstraten.jpg. 272 Berühmt ist die Rückseite eines Bildes, oder die gemalte Staffelei, Siehe: Victor I. Stoichita, 1998 (Anm. 31), S. 299–312; sowie: Ulrich Pfisterer, „Das Werkzeug in der Sammlung – oder: der König vor Cornelis Gijsbrechts Staffelei“, in: Philippe Cordez  (Hg.), Werkzeuge und Instrumente, Berlin (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte; 8) 2012, S.  67–92. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/5688/.

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Doch niemals wird eine ähnliche Komplexität hinsichtlich der Synthese der analytisch erschlossenen Bildelemente und der unterschiedlichen Formen des Bilddenkens wie bei Vermeer erreicht. Er selbst hat in zwei Bildern noch eine weitere, erstaunliche Wendung vollzogen, in denen klar wird, dass es ihm nicht um perspektivische Effekte geht, sondern um die symbolische Dimension der Malerei selbst. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, die Verdichtung von Gegenständlichkeit, Raum und Situation noch einmal inhaltlich aufzuladen, ohne dafür in die Rhetoriken des Historienbildes oder der rein allegorischen Repräsentation zurückzufallen. Seine Lösung besteht darin, das Genre des Interieurs selbst zu ‚allegorisieren‘, und das heißt nichts anderes, als es mit den symbolischen Dimensionen der Religion und der Kunst zu versehen. Beide Bilder werden heute allzu selbstverständlich als Allegorien bezeichnet; entscheidend ist jedoch, dass Vermeer eher mit der allegorischen Tradition arbeitet als in ihr. Er ruft die allegorischen Figuren auf, um mit und an ihnen die Bedeutungssteigerung seiner Interieurs ins Werk setzen zu können. Diese Bedeutungssteigerung liegt nicht in der inhaltlichen Referenzialität der Figuren und auch nur bedingt in den gegenständlichen Indizien, die die beiden Bilder ausbreiten; sie bleibt auf den Akt des Sehens selbst bezogen. Denn nur im Akt des Sehens kann die allegorische Dimension der Figuren auf das Bild selbst bezogen werden, und das Bild somit nicht als reine Erscheinung, sondern als bedeutungsstiftende Einheit, als Anlass eines Seh-Ereignisses reflexiv wahrgenommen werden. In der Dimension der vierten Wand, repräsentiert durch eine, jeweils das linke Bilddrittel beherrschende und als Vorhang fungierende Tapisserie, allegorisiert sich ein solcher bedeutungsstiftender Seh-Akt, in dem die Malerei sich als Kunst ausweist. Die sogenannte „Allegorie des katholischen Glaubens“, wohl um 1670–1672 gemalt,273 stellt dementsprechend nicht einfach eine allegorische Personifikation des Glaubens im Sinne des damals berühmten Handbuchs von Cesare Ripa (1593) dar;274 es situiert vielmehr eine solche Personifikation in einem Interieur. Was hier in auffallender Weise fehlt, das ist das Fenster; Licht fällt nur Cornelis Norbertus Gijsbrechts, „Trompe l’oeil (Die Rückseite eines Gemäldes)“, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, 66,4 × 87 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Cornelis_Norbertus_Gysbrechts_003.jpg. 273 Johannes Vermeer, „Allegorie des katholischen Glaubens“, 1670–1672; New York, Metropolitan Museum of Art, 114,3 × 88,9 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/1/19/Johannes_Vermeer%2C_Allegory_of_the_Catholic_Faith%2C_The_ Metropolitan_Museum_of_Art.jpg. 274 Cesare Ripa, Iconologia overo Descrittione Dell’imagini Universali cavate dall’Antichità et da altri luoghi, 1593, hierzu: C. Logemann; M. Thimann, Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit, Zürich 2011; die erste niederländische Übersetzung erschien 1644. Vermeer verwendet eine Reihe von Details daraus. Hierzu: Daniel Arasse, 1994 (Anm. 196),

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von vorne, aus dem Raum der Bildbetrachtung, ins Bild. Links wird der Blick von der von der Decke herabhängenden Tapisserie, die von einem Stuhl noch etwas zur Seite geschoben wird, zurückgehalten, während er rechts davon ungehindert in die Bildmitte gleiten kann, wo die weibliche Personifikation des Glaubens etwas erhöht, auf einer Art von Altar sitzt. Den rechten Fuß setzt sie auf einen Globus, der unter ihrem strahlend weißen Kleid hervorscheint; der linke Arm ruht auf dem Tisch neben dem aufgeschlagenen Missale, einem Kelch und einem Kruzifix. Die rechte Hand drückt die Figur an ihr Herz und der Blick ist mit überdrehten Augen nach oben, auf eine Glaskugel gerichtet, die von der Decke herab hängt. Vor der Figur wird auf dem wiederum schwarz-weiß gefliesten Marmorboden eben eine Schlange von einer Steinplatte zerquetscht. Das Blut spritzt ihr aus dem Mund und der verführerische Apfel ist ihr bereits herausgefallen. Insgesamt überwiegen die kühlen, blauen, weißen und grauen Töne, die bereits eine Rezeption des französischen Klassizismus nahelegen, während die wärmeren Töne vor allem jenen dekorativen und bildtragenden Medien vorbehalten sind, die die Szene einrahmen: dem großformatigen Kreuzigungs-Bild von Jacob Jordaens, das direkt hinter der allegorischen Figur an der Rückwand des Interieurs hängt, dem vergoldeten und reich verzierten Panel, vor dem sich das Kruzifix auf dem Altar abhebt und insbesondere der Tapisserie links vorne, die ebenfalls gegenständliche Motive, etwa einen ein Kamel führenden Mann enthält. In der Glaskugel selbst reflektieren sich Lichtreflexe, die eventuell auch eine Fensterreihe vor dem Bild anzeigen. Der inbrünstige Blick auf die Glaskugel deutet jedoch an, dass wir es hier nicht nur mit reinen Lichtreflexen zu tun haben, sondern dass sich das reflexive Emblem hier in ein theologisches verwandelt, in eine Art von spirituellem Globus, der dem irdischen Globus unter dem Fuß der allegorischen Figur entgegentritt.275 Der enge Zusammenhang von Bild und Glaube, wie er sich hier als zutiefst katholische Idee darstellt, muss für Vermeer, auch wenn es sich zweifellos um ein Auftragswerk handelt, von Interesse gewesen sein. Bilder umfassen gleichsam die Allegorie; sie werden zum Resonanzraum des Glaubens. Insgesamt ist ein solches, militant katholisches und möglicherweise jesuitisches Programmbild im Delft der frühen 1670er-Jahre erstaunlich, repräsentiert die Schlange doch stets auch die protestantische Häresie. Dies hat viele Spekulationen über Vermeers Glauben nach seiner Konversion zum Katholizismus aus S. 41–44; sowie: Eric Jan Sluyter, „Vermeer, Fame, and Female Beauty, The Art of Painting“, in: Studies in the History of Art (Washington, D.C.) v. 55 (1998), S. 265–283. 275 In diesem Sinne: Serena Cant,  Vermeer and His World 1632–1675, London (Quercus Publishing), 2009. S. 153: „the sphere is symbol of the human mind and its capacity both to reflect and to contain infinity“.

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Anlass seiner Verheiratung ausgelöst. In jedem Fall führt ein weiter Weg vom calvinistischen Imaginären in der in ihrer Tätigkeit vollkommen absorbierten „Magd mit dem Milchkrug“ zur theatralen, möglicherweise an römische Barockmalerei anschließenden Geste der Allegorie des Glaubens. Und doch bewegen wir uns immer noch im selben Setting, im Interieur als einer Raumbühne und im Rahmen des analytischen Bildverständnisses. Wie lässt sich die religiöse Vereindeutigung und Aufladung des Bildes verstehen? Handelt es sich um eine private Allegorie? Zweifellos wird hier, im dunklen Innenraum hinter der zur Seite geschobenen Tapisserie, die Verborgenheit der katholischen Religion in Delft angesprochen. Das religiöse Bild kann innerhalb der calvinistischen Republik keine Öffentlichkeit beanspruchen, weswegen es hier auch kein offenes Fenster geben kann; das spirituelle Licht muss im Akt der Betrachtung selbst mitgebracht und aktualisiert werden. Doch das Bild zeigt uns nicht nur, wie die Geborgenheit des Interieurs den katholischen Glauben schützt und manifestiert; es zeigt uns auch den Glauben als Bild und an das Bild als Malerei, mithin den „Glauben in die Malerei“.276 Dieser ‚Glaube‘ mag in der katholischen Bilderverehrung wurzeln; er geht jedoch darin nicht auf. Bereits bei der ersten Versteigerung wird das Bild von einem protestantischen Sammler erworben. Nicht mehr der religiöse Inhalt, sondern nur mehr die Symbolisierungsform als Kunst scheint nun zu zählen. In „Die Malkunst“, wohl kurz zuvor entstanden,277 (Abb. 38) tritt die allegorische Figur noch weiter in den Hintergrund. Sie personifiziert auch nicht unmittelbar eine Idee; sie wird vielmehr selbst dargestellt: Eine junge Frau mimt Clio, die Muse der Geschichte und des Ruhms278 und dient so als Modell für einen Maler, der in Rückenansicht inmitten des Bildes, vor einer Staffelei auf einem Schemel sitzend zu sehen ist. Im Vergleich zur „Musikstunde“ scheint hier die Staffelei gleichsam ins Bild gerutscht zu sein. Der geflieste Boden ist nun wieder flacher und die Tapisserie schwingt weit nach vorne in den Raum der Bildbetrachtung aus, so als ob sie aus dem Bild hinausgezogen würde. Sie dient als Schwelle zwischen dem Bild und seinem Umfeld, dem Bildraum und dem Betrachtungsraum. Kräftig umgeschlagen lässt die Tapisserie ihre Ober- und ihre Unterseite sichtbar werden; die dekorativen 276 Siehe: Daniel Arasse, 1994, (Anm. 196). 277 Johannes Vermeer, „Die Malkunst“, 1666–1668 oder 1673, Wien, Kunsthistorisches Museum, 120 × 100 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jan_Vermeer_-_The_ Art_of_Painting_-_Google_Art_Project.jpg. 278 Von Hans Sedlmayr wurde die Figur als Ruhm, von Kurt Badt als Clio, neuerdings auch als Poesie interpretiert. Clio scheint am überzeugendsten, allerdings sieht sie nicht zurück wie bei Ripa. Zur Forschungslage: Daniela Hammer-Tugendhat, 2009 (Anm. 196) S. 210–213.

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Muster verknäueln sich in den tiefen Falten ineinander. Insgesamt ergibt diese dynamische Bewegtheit in der Fläche eine starke Schräge, die den Blick gleichzeitig von vorne nach hinten und von unten nach oben führt. Im Kontrast hierzu erscheint das nun sichtbar werdende Interieur in geradezu absoluter Ruhe. Die Tapisserie hat noch eine weitere Funktion: Sie verdeckt die linke Wandseite und das Fenster, durch die das helle Tageslicht in den Raum strömt. Der Blick tastet sich vom Dunklen ins Helle, über den Stuhl und den Tisch, auf dem eine gipserne Maske, ein Buch und ein Tuch liegen, bis zur hellsten Stelle im Bild, der weiß leuchtenden Rückwand des sichtbaren Raumes. Die schattigste Stelle der Tapisserie dient als Kontrastfolie; gemeinsam mit der linken Kante der großen Landkarte, die auf der Rückwand hängt und der von der Frau gehaltenen Trompete bildet sie eine nahezu geometrische Dreiecksform, in der die Wand wie selbstleuchtend erscheinen kann. Auch die junge Frau reflektiert das einfallende Licht; in einen blauen Umhang gehüllt ist sie in Seitenansicht wiedergegeben, den Kopf leicht nach vorne gedreht und den Blick gesenkt. In der Rechten hält sie die Trompete, mit der Linken drückt sie ein gelbes Buch an ihren Körper. Das Haupt ist mit einem bläulich-grün schimmernden Lorbeerkranz bekränzt, unter dem die Haarlocken herabfallen. Die Landkarte hinter ihr gibt detailliert die noch siebzehn vereinigten Provinzen der Niederlande aus dem 16. Jahrhundert wieder, umgeben von achtzehn Stadtansichten.279 Mit großer Raffinesse sind die Falten und die starken Risse in dem alten Stück gemalt. Manche Deutungen bringen die Risse mit der Teilung des Landes in Zusammenhang. Die Signatur, seine größte insgesamt, befindet sich am unteren Randstreifen der Landkarte, direkt an die allegorische Figur anschließend. Auch der von der Decke herabhängende Kerzenleuchter weist eine historisierende Referenz auf: einen habsburgischen Doppeladler an seiner Spitze.280 Die Staffelei ragt in die Landkarte hinein; der Maler sitzt vor ihr in schwarzem Wams und Barett, darauf konzentriert, den Lorbeerkranz seines Modells auf eine kleine Leinwand zu bannen. Der Fluchtpunkt liegt tief, unter der Landkarte auf der linken Bildseite; es ist vermutet worden, dass wir als Betrachtende auf dem Stuhl links vorne Platz nehmen sollten, um das Bild perspektivisch korrekt wahrnehmen zu können.281 Tatsächlich blicken wir von hier aus über den Tisch hinweg auf eine 279 Brüssel ist zweimal dargestellt. 280 Norbert Schneider hat vorgeschlagen, hier eine politische Referenz zu sehen hinsichtlich der Koalition, die der Stadthalter Willem III. nach dem Katstrophenjahr (dem „rampjaar“) von 1672 mit den Habsburgern gegen die Franzosen einging, und dementsprechend das Bild ins Jahr 1673 datiert. 281 In diesem Sinne: Christiane Rambach,  Vermeer und die Schärfung der Sinne.  Weimar (VDG) 2007, S. 107.

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Stelle unter der Hand der allegorischen Figur, die derart in leichter Untersicht erscheint, und gleichzeitig nach rechts über die Schulter des Malers hinweg auf seine malende Hand und den Malstock. Doch auch hier kommt es zu einer Spaltung des Blicks; denn was wir derart von der im Bild vorgegebenen Betrachtungsposition aus sehen könnten, ist nicht das Bild, das wir tatsächlich sehen. Genauso wenig sehen wir das Bild, das der Maler malt, sondern den malenden Maler in seiner Situation. Wir haben es nicht mit einem Selbstporträt an der Staffelei zu tun, wie es Catharina van Hemessen im 16. Jahrhundert eingeführt und populär gemacht hatte, sondern mit einer besonderen Form der Spaltung, die das Motiv des malenden Malers in seinem Atelier hier erfährt. Im perspektivisch markierten Blick lässt uns der Maler unmittelbar an der Intimität des Malakts teilhaben; wir sitzen gleichsam mit im Bild und haben die Tapisserie im Rücken. Der Blick auf das gesamte Bild ‚kontextualisiert‘ diese intime Situation auf besondere Weise. Erst hier, vor dem Bild stehend, sich nicht auf die perspektivische Konstruktion einlassend und die gemalte Schwelle als solche erkennend, wird die besondere Dramaturgie von Theatralität und Absorption, die Differenz von Gegenständlichkeit und Referenzialität, von Licht und Sehen, Allegorie und Realismus fassbar. Und erst von hier aus lässt sich die allegorische Dimension der Figur, die der Maler malt, auf ihn selbst und schließlich auf das Bild im Gesamten übertragen. Auch bleiben beide Figuren vollkommen in sich absorbiert und definieren doch ein soziales Verhältnis zueinander, der ältere Mann und die jüngere Frau, der Maler und das Modell, und darüber hinaus zu den beiden Betrachtungspositionen. Wir haben es daher mit Absorption und sozialer Differenz, mit Perspektive und Schwelle, mit innerbildlichem und außerbildlichem Blick zu tun. Wiederum ist es die kategorische Relationalität, die hier die Malerei als eine besondere Kunst definiert. Das analytische Bildverständnis erschließt eine Fülle an Differenzen; es begründet eine Kunst der Differenzierung von elementarer Gegenständlichkeit und personaler Verkörperung, von räumlicher und sozialer Situiertheit, und es versucht, die jeweils erschlossenen Elemente in eine neue Form relationaler, formaler und bildlicher Einheit zu integrieren. In „Die Malkunst“ ist das Malen eines Bildes nur das vordergründige Thema; es geht – im Sinne der fünften und letzten analytischen Operation – um die Malerei selbst als einer historisch und geografisch lokalisierbaren Kunst. Format wie Titel des Bildes282 unterstreichen diesen Anspruch: Wir haben es hier mit gemalter Kunsttheorie zu tun, in der noch einmal die historische und geografische Einheit der Niederlande beschworen wird, zumindest in ihrer Malerei. Die Risse in 282 Das Format ist ungewöhnlich groß und schließt an die frühen Historienbilder an. Der Titel: „De Schilderconst“ ist schon im Nachlass überliefert.

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der Karte sind in der Malerei aufgehoben. Es ist und bleibt jedoch eine Einheit von Gegensätzen, keine tatsächliche Synthese im religiösen oder politischen Sinn. Die Symbolisierungsform der Kunst erlaubt die Integration von Differenz als Differenz;283 die Unterscheidbarkeit von Elementen und Relationen, Form und Bild wird zum entscheidenden Merkmal dieser Malerei als Kunst. Genauso wenig können in ihr Repräsentation, Realismus und Reflexivität vollkommen zur Deckung gebracht werden; diese Kategorien bestätigen einander in ihrer Bezogenheit gleichzeitig auch in ihrer Differenz. Dieser Malerei als Kunst bleibt schließlich eingeschrieben, dass sie ihre eigene Differenz – ihre Abgrenzung etwa zu Religion und Politik – konstitutiv mit sich führt, und dass sie sich deshalb in ihrem Entbergen, in dem was sie zu zeigen vorgibt, immer auch gleichzeitig selbst verbirgt. Dieses kategorische Verbergen kann auch von der theoretisch-analytischen Rekonstruktion nicht eingeholt werden, weil es die analytische Operation, die Hervorbringung von Differenzen, selbst betrifft. Wie in einem Vexierbild erscheint die Wahrheit der Kunst hier ebenso integrativ und substanziell wie kontingent und subjektiv. Sie ruft ein rezeptives Engagement des Sehens und Verstehens auf, das immer wieder in Nicht-Sehen und Nicht-Verstehen mündet, und gerade darin die praktische Aneignungsform von Kunst im Allgemeinen in der Moderne begründet hat.

283 Im Unterschied zu Diego Velázquez, dessen „Las Meninas“ von 1656, Madrid, Prado, sich tatsächlich als Synthese des altniederländischen Schwellenbildes und des italienischen, perspektivischen Bildverständnisses verstehen lässt. Hierin scheint auch die Repräsentation in sich selbst zu gründen. Das war Michel Foucaults Punkt.

Abb. 39 Jan Brueghel d. Ä., „Allegorie des Feuers“, 1608, Mailand, Ambrosiana, 46 × 66 cm.

Kapitel 6

Der Augenblick der Ewigkeit und das synthetische Bild 6.1.

Rekonstruktion der Gesellschaft aus Malerei:1 Das Antwerpen der Reconquista

1585 hatte Alessandro Farnese, der Eroberer von Antwerpen, den Protestanten eine Frist von vier Jahren gewährt, um die Stadt zu verlassen. Nur wenige von ihnen wurden hart bestraft; die meisten durften sogar ihren Besitz verkaufen, und nur wer unbedingt bleiben wollte, musste zum Katholizismus konvertieren. Das galt, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, als äußerst human.2 Über die Hälfte der Einwohner verließ daraufhin die Stadt, die nun mit ca. 45.000 Einwohnern auf das Niveau des frühen 16. Jahrhunderts schrumpfte.3 Durch die Wirren des Krieges, durch den mehrmaligen Wechsel der Regierungen und der Konfessionen, durch Plünderung, Feuer und die Sperre der Schelde durch die Holländer war von der boomenden Wirtschaft ohnehin nichts mehr zu spüren. Wer es sich leisten konnte, hatte die Stadt bereits vor der Eroberung durch Farnese verlassen. Doch die Rekonstruktion der Gesellschaft im Sinne der Spanisch-Habsburgischen Herrschaft schritt rasch voran.4 Es waren vor allem die militanten Mönchsorden, die nun die Stadt übernahmen und sie zur Frontstadt der Gegenreformation machten. Für die verbliebenen Künstler war dies keine schlechte Zeit: Es gab Aufträge und Förderungen in Hülle und Fülle. Die von den Calvinisten leer geräumten Kirchen wollten aufgefüllt, die Klöster wieder aufgebaut und neue Kirchen errichtet werden. In Abgrenzung zur bilderstürmerischen Rhetorik der Calvinisten wurde dem Bild und den 1 Paraphrase auf: Eckhard Leuschner (Hg.), Rekonstruktion der Gesellschaft aus Kunst. Antwerpener Malerei und Graphik in und nach den Katastrophen des späten 16. Jahrhunderts, Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2016. 2 Violet Soen, „Das aufsässige Antwerpen versöhnen? Friedensstrategien der Habsburgischen Generalstatthalter während des Aufstands der Niederlande (1566–1586)“, in: Eckhart Leuschner (Hg.), 2016 (Anm. 1), S. 24–37. 3 Herman van der Wee, Jan Materné, „Antwerp as a World Market in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: Jan Van der Stock (Hg.), Antwerp. Story of a Metropolis. 16th–17th Century, Ausstellungskatalog Antwerpen (Hessenhuis, Martial & Snoeck) 1993, S. 19–32. 4 Hierzu siehe: Eckhard Leuschner (Hg.), 2016 (Anm. 1); sowie: Peter C. Sutton, „The Spanish Netherlands in the Age of Rubens“, in: Peter C. Sutton (Hg.), The Age of Rubens, Ausstellungskatalog Boston (Museum of Fine Arts), Gent (Ludion Press), 1993, S. 106–130.



  

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repräsentativen Künsten sogar ein besonderer Stellenwert zugesprochen. Einige Künstler kehrten bald wieder zurück; andere zogen hierher, sogar aus den nördlichen Provinzen.5 Auch ökonomisch erholte sich Antwerpen, zumindest nach 1600, rasch und wurde im Lauf des frühen 17. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Luxusindustrie.6 Eine reiche Sammlerkultur begann sich hier zu etablieren, die vom Großbürgertum bis hin zu den regierenden Statthaltern in Brüssel reichte und die einen regelrechten Kult der Bilder zu zelebrieren begann bzw. sich in diesen Bildern repräsentierte. In diesem Kontext entstand eine neue Kunst: die flämische Malerei. Sie steht bis heute sowohl hinsichtlich des öffentlichen Interesses als auch im kunsthistorischen Diskurs ganz im Schatten der holländischen Malerei. Institutionell ist sie jedoch nach wie vor präsent, weil sie bereits seit dem 17. Jahrhundert ein begehrtes Sammlerobjekt gewesen war und deshalb viele der fürstlichen Sammlungen prägte und darüber auch in die modernen Museen gelangte. Allerdings trifft man heute in jenen Prunkräumen der Museen, in denen die flämische Malerei meist gezeigt wird, häufig auf ratlose Blicke angesichts der meist riesigen Formate, der seltsamen religiösen und mythologischen Themen, der üppigen Körperideale und heroischen Gesten, die kaum mehr den modernen Standards sozialer Normativität und der Erfahrungsweisen von Kunst entsprechen. Dies alles scheint aus einer fremd gewordenen, vormodernen Welt zu stammen. Obwohl vor allem Peter Paul Rubens in der Kunstliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts7 als Meister einer geradezu alchemistischen Farbgebung, grandioser Kompositionen und einer fulminanten Erzählweise große Beachtung fand,8 und bei Wilhelm Heinse sogar zum Inbegriff eines modernen Genies avancierte,9 kann sich die Menge an kritischer Reflexion der flämischen Malerei insgesamt seither in keiner 5 Der bekannteste unter ihnen ist Otto van Veen, der Lehrer Rubens’. Siehe: Nils Büttner, „Antwerpen 1585. Künstler und Kenner zwischen Krieg und Neubeginn“, in: Eckhard Leuschner (Hg.), 2016 (Anm. 1), S. 45–55. 6 Alfons K.L. Thijs, „Antwerp’s Luxury Industries: The Pursuit of Profit and Artistic Sensitivity“, in: Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 3), S. 105–113; sowie: Arnout Balis, „Antwerp. Foster Mother of the Arts: its Contribution to the Artistic Culture of Europe in the Seventeenth Century“, in: Jan Van der Stock (Hg.), 1993 (Anm. 3) S. 115–127. 7 Giovanni Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, Rom 1672; Roger de Piles, Dialogue sur le coloris, Paris 1673. 8 Der „Rubenismus“ erreicht sogar erst im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt, etwa im nationalstaatlichen Projekt der Vereinigten Niederlande (1815–1830), in dessen Rahmen Rubens und nicht Rembrandt die entscheidende Bezugsfigur wurde, oder auch in der Malerei bei Eugène Delacroix. Selbst Cézanne kopiert noch ausgiebig Figuren des Medici-Zyklus in der Luxemburgischen Galerie. 9 Wilhelm Heinse, Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie. Aus Briefen an Gleim, 1776/77.

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Weise mit den Auseinandersetzungen um die holländische Kunst messen. Meist aus einer protestantisch-holländischen und letztlich modernen bzw. modernistischen Perspektive geschrieben, wird sie vielfach – und durchaus nicht zu Unrecht – als eine Kunst der Kirchen- und der Fürstenknechte beschrieben, in der gegenreformatorische und absolutistische Propaganda ganz ungebrochen in Erscheinung träten.10 Ihre Rhetorik, ihr Prunk und ihre offensichtliche Funktionalität erscheinen ebenso militant anti-modern wie die sich darin ausdrückenden Klassen- und Geschlechterverhältnisse. Sie scheint dementsprechend kaum einer modernitätstheoretischen Betrachtung wert. Bereits mit der Attacke der bürgerlich-sentimentalen, klassizistischen und moralischen Kunstauffassungen gegen das Barock im späten 18. Jahrhundert wird die flämische Malerei zunehmend zum Inbegriff einer falschen Kunst in der Moderne. Ihr ebenso allegorischer wie rhetorischer Impuls macht sie kategorisch des Betrugs verdächtig;11 ihr Mangel liegt genau in jener – authentischen, autonomen, souveränen oder originellen – Wahrheitsfähigkeit, die von nun ab bestimmen sollte, was als Kunst zu gelten habe. Die interessanteste Deutung dieses Mangels stammt von Martin Warnke, der 1965 vorschlug, das in und mit der ‚Lüge‘ leben bei Rubens als besonderen taktischen Einsatz einer kategorischen „Verstellung“ zu verstehen, durch die der bürgerliche Künstler in der Lage war, in der Welt des entstehenden Absolutismus zu überleben.12 Der Mainstream der modernen Kunstgeschichte versuchte allerdings, Rubens dadurch zu retten, dass sie sich auf seine Skizzen konzentrierte und darin – historisch vollkommen verfehlt – das Eigentliche und Authentische seiner Kunst zu erkennen meinte. So konnte Rubens zum Vorläufer des Expressionismus mutieren und eines malerischen Subjektivismus wegen verehrt werden, der 10 Svetlana Alpers konstatiert zu Beginn ihres Buches The Making of Rubens, New Haven, Ct. (Yale University Press) 1995, dass Rubens gerade seines Erfolges als höfischer Künstler wegen heute eher bewundert als geliebt werde – im starken Gegensatz etwa zu einer derart gebeutelten Existenz wie Rembrandt. Sie wolle sich daher auf die, dem modernen Empfinden eher nachvollziehbaren Widersprüchlichkeiten seiner sozialen Seinsweise konzentrieren. Martin Warnke hatte Rubens bereits in den 1960er-Jahren in einen progressiven bzw. „kritischen“ Künstler zu verwandeln versucht und damit das massive gegenreformatorische und dynastische Engagement des Künstlers relativiert. Siehe: Martin Warnke, Kommentare zu Rubens, Berlin (de Gruyter), 1965, insbesondere S. 93. 11 Bereits aus dem 17. Jahrhundert gibt es Berichte entsetzter Besucher über die, im protestantischen Sinne absolut blasphemische Darstellung von Heiligen in Wunder bewirkenden und an Christus gemahnenden Posen, wie etwa auf den beiden Altarbildern, die Rubens für die Jesuitenkirche in Antwerpen gemalt hatte. 12 Martin Warnke, 1965 (Anm. 10), diskutiert den Begriff der dissimulatio, wie ihn Rubens in seinen Briefen verwendet, um sein Verhalten der höfischen Kultur gegenüber zu beschreiben.

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seiner Kunst im Ganzen weitgehend fremd ist.13 Beide Deutungsrichtungen halten letztlich am Kriterium einer künstlerischen Wahrheit fest, das unter den gegebenen Bedingungen – im Unterschied zur holländischen Malerei – nur in einer Form von Innerlichkeit bzw. im intimen Rahmen der Werkstatt-Welt zu erfüllen war und nicht nach außen dringen konnte. Dies scheint mir das auf äußere Formen der Repräsentation und der Anerkennung zielende Subjektivitätskalkül der flämischen Malerei ebenso zu verkennen wie die Funktion der Skizzen im ausdifferenzierten, weitgehend auftragsorientierten Werkstattbetrieb. Deshalb ist heute ein differenzierteres Bild der flämischen Malerei vonnöten, das sowohl der sozial-historischen Situation als auch den spezifisch künstlerischen Leistungen, die sie erbracht hat, gerecht wird. Denn an ihr lässt sich eine Reihe von spezifischen Bildauffassungen und -strategien festmachen, die noch in vielen Formen der Gegenwartskultur wirksam sind, die allerdings erst in einer auf die Aspekte des Films, der Pop- und Medienkultur erweiterten Perspektive moderner Kunst sichtbar werden. Der lokalen Selbstbezogenheit der holländischen Maler und ihrem Patriotismus in Hinblick auf eine neu zu gründende Gesellschaft steht zuallererst der kategorische Internationalismus der flämischen Malerei entgegen. Sie war von Anfang an in ein Netzwerk von Beziehungen zwischen Auftraggebern und Sammlern eingebunden, wobei die Tätigkeiten der Maler selbst diplomatische Aspekte im Dienste der Gegenreformation und der dynastischen Politik umfassen konnte.14 Die Aufenthalte in Rom und anderen italienischen Städten sind selbstverständlich; die Kontakte dorthin werden auch von Antwerpen aus gepflegt, ebenso zu den Höfen der Habsburger in Prag und Madrid oder zu den Höfen und aristokratischen Milieus in Paris und London. Rubens ist selbst unmittelbar an der Entwicklung des römischen Barock beteiligt, und Anthonis van Dyck initiiert gleichsam die englische Malerei. Wie in der Kultur der spanischen Niederlande insgesamt herrscht auch in der flämischen Malerei eine sprachliche Vielfalt, das heißt eine grandiose Souveränität in der Aneignung und Beherrschung malerischer Stilmittel und des Austausches zwischen ihnen. Wie selbstverständlich wird etwa die Körpersprache Michelangelos mit dem farblichen Raffinement der venezianischen Malerei gekreuzt, oder Humanismus, Stoizismus und katholische Reformideen miteinander verschränkt. Es gibt hier keine regionale oder proto-nationale Beschränktheit. Die südlichen 13 14

Zur aktuellen Diskussion über die Skizzen von Rubens siehe: Friso Lammertse, Alejandro Vergara (Hg.), Rubens. Painter of Sketches, Ausstellungskatalog Madrid, Museo Nacional del Prado, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, 2018. Hierzu siehe: Luc Duerloo, Malcolm Smuts (Hg.), The Age of Rubens. Diplomacy, Dynastic Politics and the Visual Arts in Early Seventeenth-Century Europe, Tunhout (Brepols Publishers), 2016.

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Niederlande sind Teil einer großen Welt mit universalem Anspruch.15 Und doch unterscheidet sich die flämische Malerei beispielsweise deutlich von der allgemeinen Entwicklung der Barockmalerei in Italien, Spanien und Süddeutschland, denn sie definiert ihren Universalismus durchaus von einer besonderen lokalen Position aus, die durch das Erbe der Antwerpener Malerei des 16. Jahrhunderts und der altniederländischen Malerei insgesamt bestimmt ist. Sie konkurriert mit der holländischen Malerei um dieses Erbe und lässt sich dementsprechend als Versuch einer Reformulierung des antagonistischen Bildes und des Schwellenbildes verstehen. Das heißt, entscheidend für die flämische Malerei scheint mir nicht ihr internationaler Barock-Stil zu sein – dahingehend unterscheiden sich Jan Brueghel d. Ä. und Rubens, van Dyck und Jacob Jordaens, David Teniers, Jan Davids de Heem, Adriaen Brouwer und Michaelina Wautier deutlich voneinander –, sondern wiederum eine besondere Bildidee. Ich möchte sie das synthetische Bild nennen. 6.2.

Bild und Synthesis: Kraft und Kräfteverhältnisse

Dieses synthetische Bild verhält sich in vielerlei Hinsicht komplementär zum analytischen Bild der Holländer. Zwar wird auch hier die seit dem frühen 16. Jahrhundert in Antwerpen fassbare Differenzierung und ‚Genrefizierung‘ der einzelnen Bildthemen aufgenommen, und dementsprechend agieren viele Künstler als Spezialisten für Landschaften, Figuren, Tierdarstellungen oder Stillleben; diese Formen der Spezialisierung werden jedoch umgehend in neue Weisen der Zusammenarbeit übersetzt. Die Antwerpener KünstlerWerkstätten entwickeln sich zu hochspezialisierten Manufaktur-Betrieben, die von einer Logik der Kooperation bestimmt sind. Nicht die individuelle Marke, die als ein identifizierbares Segment auf dem Markt Bestand haben könnte, ist das zentrale Anliegen, sondern die Integration der individuellen Fertigkeiten und Ausdruckspotenziale hin auf ein gemeinsames Profil und Produkt. Häufig arbeiten mehrere Maler an einem Bild, nicht nur die Auszubildenden und die Spezialisten innerhalb der einzelnen Werkstätten, sondern auch mehrere Meister oder sogar Werkstätten.16 Vielfältige Methoden der 15 Vor allem im Missionsanspruch der Jesuiten tritt dieser Universalismus auch in der flämischen Malerei zu Tage, nicht jedoch in der konkreten Politik. Durch die weitgehende Sperre der Schelde und die zunehmende Dominanz der Holländer und Engländer zur See hatte Antwerpen nun keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die kolonialen Eroberungen und den damit verbundenen Handel. 16 Es gibt hier einen deutlichen Unterschied zwischen den Werkstätten von Rubens oder Jan Brueghel in Antwerpen und etwa der Rembrandt-Werkstatt in Amsterdam. Vor allem

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Kombinatorik, der stilistischen Verschleifung und Verschmelzung und sogar der Montage kommen zur Anwendung, stets im Dienst einer übergreifenden Bild-Rhetorik und Effekt-Ästhetik. Derart fungieren die Bilder im Sinne einer umfassenden Mobilisierung der Betrachtenden und als Medien einer Durchdringung sozial-gemeinschaftlicher, politischer und kulturell-religiöser Aspekte. Hierbei gehen die inhaltlichen und die stilistischen Synthesen Hand in Hand mit den Produktions- und sogar jenen ‚Präsentationssynthesen‘, wie sie in den für die flämische Malerei endemischen Galeriebildern sichtbar werden. Wir haben es daher mit unterschiedlichen Formen und Methoden der Synthetisierung zu tun. Grundlegend für das synthetische Bild sind nicht die isolierbaren Elemente, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, woraus sich die Formen und schließlich das analytische Bildverständnis und seine Symbolisierung als Kunst ergeben, sondern alles durchdringende Kräfte und Kraftverhältnisse, die auf eine ständige Transformation zielen. Kein statisches, sondern ein äußerst dynamisches, vielfach ‚gefaltetes‘ Universum zeigt sich hier, durchdrungen von einer, mit Leibniz gesprochen, „lebendigen Kraft“.17 Diese Kraft kann sich in der Dynamisierung von Linien und Kompositionsprinzipien ebenso zeigen wie im transformatorischen oder alchemistischen Potenzial der Farben; es kann in der Verdichtung elementarer Gegenständlichkeit auftreten und in der immersiven Betrachtungsstruktur. Die Betrachtenden sollen gleichsam in das Bild hineingezogen werden. Hier sind keine konzeptuellen Platzhalter zu deren Adressierung – Vorhänge, Fenster, Türen oder Rahmen wie im Schwellenbild und im analytischen Bild – notwendig. Das Bild wird insgesamt nicht vom Rahmen her gedacht, sondern von jenen elementaren Kräften, die in ihm freigesetzt werden. Das Tableau selbst ist diesen Kräften unterworfen; es kann verändert werden, wie bei Rubens zu sehen ist, der immer wieder die Formate den sich verändernden Bildideen anpasst. Ebenso bleibt seine grundlegende Pluralität erhalten – von den Triptychen bis zu den großangelegten Bildzyklen. Winzige Formate, wie sie Jan Brueghel bevorzugte, können von Hand zu Hand gereicht werden und äußerst intime Aneignungsformen anregen, während riesige Formate Kirchen und Paläste füllen und als Durchgang zur Transzendenz verstanden werden können.18 Das Bild wird stets als bei Rubens mag man bereits an ein arbeitsteiliges Hollywood-Studio denken. Zur RubensWerkstatt siehe: Sasha Suda, Kirk Nickel (Hg.), Early Rubens, München (Prestel) 2019; zu Rembrandt: Svetlana Alpers, Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt, Köln (Dumont) 2003. 17 Ich beziehe mich hier auf die Leibniz-Interpretation von Gilles Deleuze; siehe: Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2000. 18 Die mittleren, am ehesten marktförmigen Formate gibt es zwar durchaus auch; sie sind jedoch nicht so dominant wie in Holland.

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Schnittstelle einer fundamentalen Transformation angesehen: des Einzelnen in die Gemeinschaft, des Menschlichen ins Tierische, Teuflische oder ins Göttliche, des Bildes selbst in ein Universum der Bilder, und der Gegenstände in die präformierte Logik einer transzendenten Ordnung. Der reformkatholische Kardinal Federico Borromeo meditiert etwa in Mailand anhand von Jan Brueghels Blumenstillleben über die Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung. Zugespitzt findet sich diese transformatorische Bildlogik in einzelnen, besonders beliebten Motiven wie dem transfigurierten Leib des auferstandenen Christus oder in der Hostie als Realobjekt. In beiden Fällen wird die Eucharistie zum zentralen Mythologem sowohl gegenreformatorischer als auch – im Fall der Habsburger – dynastischer Legitimation. Wenn wir die Kraft, die sich in den Modalitäten der Dynamisierung, der Transformation, der Verdichtung und der Immersion zeigt, als den Grundbegriff des synthetischen Bildes bestimmen, dann wird deutlich, dass dieses Bildverständnis auf die Überwindung seiner eigenen Bedingtheit in Repräsentation, Realismus und Reflexivität zielt. Im Anspruch auf Lebendigkeit und auf unmittelbare ‚Affizierung‘ der Betrachtenden soll das Bild selbst eine Art von Realobjekt werden, das nicht einfach auf den gegenreformatorischabsolutistischen Komplex verweist – und darin ideologiekritisch erfasst werden könnte – sondern diesen tatsächlich verkörpert; er realisiert sich gleichsam im Bild. Hier deutet sich ein konsequent heteronomes Bildverständnis an, das vollkommen in seiner Bestimmung bzw. Bestimmtheit aufgeht und darin tatsächlich real zu werden verspricht.19 Das symbolische Universum, auf welches das synthetische Bild zielt, ist daher keineswegs die autonome und authentische Kunst, sondern jener umfassende, absolutistisch-gegenreformatorische Komplex, den es selbst erst in einer Art des symbolischen Real-Werdens aufruft.20 Dieser Komplex bedarf jedoch der sozialen, kulturellen, politischen oder religiösen Differenzen, um sich als einheitsstiftende Macht profilieren und durchsetzen zu können. Das heißt, Differenzen müssen, um integriert werden zu können, stets auch aufgerufen werden; sie reproduzieren sich 19

Es geht hier um eine andere Art von Realität als im analytisch-autonomen Bild. Es lässt sich am besten mit den Bildtheorien von Henri Bergson und Gilles Deleuze erfassen. Auch dort gibt es kein referenzielles: repräsentatives, reflexives oder realistisches Außen des Bildes mehr; es wird vielmehr von seiner inneren Materialität und Intensität her gedacht. Siehe: Anne Sauvagnargues, Ethologie der Kunst. Deleuze, Guattari und Simondon, Berlin (August) 2019; sowie: Mirjana Vrhunc, Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München (Fink) 2002. 20 Im Bild des Königs, darauf hat Louis Marin verwiesen, zeigt sich die eigentliche königliche Macht. Es repräsentiert nicht nur, es ist der dritte Körper des Königs. Siehe: Louis Marin, Das Porträt des Königs, Berlin (diaphanes) 2005.

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daher noch in ihren Überwindungsversuchen. Es gibt eine letztlich unaufhebbare Differenzialität innerhalb des synthetischen Bildes. Gleichzeitig geht es darum, das sich rasch ausbreitende Wissen, das die globalen Entdeckungsbzw. Eroberungsfahrten, die entstehenden Wissenschaften und der Humanismus hervorgebracht hatten, wieder einzuholen und eine integrale Instanz jenseits des Streits der Meinungen, der Parteien und der Konfessionen herzustellen. Doch gerade die in der Malerei zelebrierten Formen der enzyklopädischen Wissens-Anordnungen und der prunkhaften Zurschaustellung von Sammlungen bringen wiederum neues Wissen und eine Dynamisierung der Reflexion hervor. Das heißt, es können weder die sozialen, konfessionellen oder politischen Differenzen aufgehoben noch kann das Wissen eingehegt bzw. abgeschlossen werden. Deswegen gelingt das heteronome Real-Werden des gegenreformatorisch-absolutistischen Komplexes im synthetischen Bild der flämischen Malerei letztendlich nicht. Die Möglichkeit der Kunst ist diesen Bildern – ganz gegen ihr Wollen – immer schon eingeschrieben und gerade dadurch haben die Bilder auch ihren Entstehungs-Kontext überdauert und können heute weitgehend, wenn auch widerstrebend, nur mehr als Kunst symbolisiert und angeeignet werden.21 Das Unbehagen, das die flämische Malerei im Museum auslöst, könnte durchaus mit ihrem inneren Widerstand gegen diese, spezifisch moderne Kunstwerdung zu tun haben. Denn als Kunst, und dies ist das Erbe der altniederländischen Malerei, wurzelt die flämische Malerei unaufhebbar in Repräsentation, Reflexivität und Realismus. Es ist diese innere, zutiefst vermittelte und relationale Struktur der Malerei, die ihre Kunstwerdung erst vorantreibt. Als Kunst wird Malerei nur im Zwischenraum von absoluter Autonomie und absoluter Heteronomie möglich, und darin bleibt sie kategorisch an Repräsentation, Reflexivität und Realismus gebunden. Das heißt, die Realitätsanmutung von Malerei als Kunst und schließlich von Kunst insgesamt kann nicht absolut werden, oder, anders ausgedrückt, ihre Absolutheit besteht in ihrer kategorischen, das heißt unaufhebbaren Fiktionalität, Metaphorik und Relativität, worin wiederum Repräsentation, Reflexivität und Realismus gründen.22 Doch genau diese Absolutheit des Relativen wird immer 21 Dort, wo die Bilder in den Kirchen verblieben sind, gibt es natürlich auch noch eine religiöse und manchmal, in kirchlichen wie musealen Kontexten, auch noch eine dynastische Rezeption. Beide Formen sind jedoch durch die Rezeption als Kunst weitgehend marginalisiert. 22 Auch der Realismus kann nur im Vergleich mit etwas Unrealistischem oder mit anderen Realismus-Verschlägen sinnvoll begründet werden und kann somit nicht in sich selbst absolut werden. Er benötigt Aspekte der Repräsentation und auch der Reflexion, um realistisch sein zu können. Ein „Absolutismus der Wirklichkeit“ im Sinne von Hans Blumenberg wäre eben kein Realismus mehr.

Abb. 40 Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Paradieslandschaft mit dem Sündenfall“, ca. 1617, Den Haag, Mauritshuis, 74,3 × 114,7 cm.

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wieder, sowohl auf Seiten des analytisch-autonomen als auch auf Seiten des synthetisch-heteronomen Bild-, Malerei- und Kunst-Verständnisses zum Auslöser imaginärer Überwindungsversuche ihrer selbst. Gleichzeitig realisiert sich jedoch noch eine andere Form der Symbolisierung der flämischen Malerei, die nicht an die Museen und die institutionell-diskursive Struktur von Kunst gebunden ist. Sie lässt sich als eine Art von untergründiger, bisher kaum reflektierter Kontinuität in Hinblick auf autoritäre Bildpolitiken jedweder Art bis in die Gegenwart hinein aufzeigen; in diesem Sinne wäre die flämische Malerei insbesondere als Grundform der modernen Spektakel-Ästhetik und der Kulturindustrie zu verstehen, worin sich ein Real-Werden der Bilder auf neue Art vollzieht. 6.3.

Die Grammatik des synthetischen Bildes

Wir hatten anhand der Entwicklung des autonomen Stilllebens, der Landschaft und der Genre-Szenen gesehen, dass bis ins frühe 17. Jahrhundert auch in Antwerpen eine Tendenz zur Spezialisierung und Elementarisierung auszumachen ist, die in mancherlei Hinsicht der Entwicklung in Holland sogar vorangeht. Doch bleibt hier, dank der vielen Aufträge, das monumentale Altarbild und damit die Historienmalerei das dominante Aufgabengebiet. Die Besonderheit der flämischen Malerei entwickelt sich genau an dieser Schnittstelle, nämlich im Versuch, das Historienbild mit Stillleben und Landschaft und sogar dem Porträt zu verknüpfen oder umgekehrt, in Stillleben und Landschaften Aspekte der Figurenmalerei einfließen zu lassen. Es kommt zu einer Durchdringung der Themen, der Genres, der Stile und der Malweisen. Blumenstillleben scheinen gelegentlich mit der sie umgebenden Landschaft zu verwachsen, die Landschaften breiten sich als enzyklopädische Wissensanordnungen aus und kulminieren in allegorischen Figuren, Blumenarrangements können aber auch Figuren oder Kelch und Hostie umschließen wie in den GirlandenBildern, die Interieur-artigen Galeriebilder entstehen wiederum aus Stilllebenartigen Anordnungsweisen von Gegenständen und Gemälden, und in den großen Erzählformaten verschmelzen schließlich historische, mythologische und allegorische Aspekte. Der produktive Gegensatz von Historie und Genre, wie er die holländische Malerei bestimmt und in der situativen Genremalerei seine punktuelle Aufhebung findet, wird hier von Anfang an gleichzeitig aufgerufen und aufgelöst. Durchdringung und Verschränkung der unterschiedlichen Genres ist das methodische Leitprinzip des synthetischen Bildes und seiner vielfältigen Kooperationslogik. Dieses Prinzip zeitigt auch inhaltliche Konsequenzen: Während etwa in Italien die Gegenreformation sich

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zumindest in ihren Anfängen weitgehend anti-humanistisch geriert – und die nackten Figuren Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle ‚bekleiden‘ lässt -, durchdringen einander in Antwerpen die spezifischen Ideen des nördlichen Humanismus – mit seiner starken Orientierung an der Stoa – und die reformkatholischen, vielfach jesuitischen Ideen. Hier entsteht ein geistiges Milieu, das die sinnliche Wirkung von Bildern voll ausschöpfen möchte und damit eine Intensivierung und eine ebenso mytho-poetische wie religiöse Aufladung nackter Körper weit über den antiken Körper-Kult hinaus betreibt, die, zum Entsetzen gelegentlicher protestantischer Besucher, sogar die Altäre erobern. Zumeist wird der Beginn der flämischen Malerei mit der Rückkehr von Rubens aus Italien nach Antwerpen im Dezember des Jahres 1608 angesetzt, also kurz bevor der zwölfjährige Waffenstillstand mit den Holländern in Kraft tritt, an dessen Aushandlung Rubens selbst beteiligt war. Damit wäre eine klare Zäsur gegeben, die auch Rubens’ eigene frühere Arbeiten beträfe und die insbesondere auf eine punktuelle Überwindung seiner Lehrer und Vorgänger wie Marten de Vos, Otto van Veen oder Abraham Janssens zielt. Doch entscheidende Elemente der Transformation der altniederländischen Malerei – des Schwellenbildes und des antagonistischen Bildes – im Sinne des synthetischen Bildverständnisses geschehen deutlich früher. Es ist vor allem Jan Brueghel d. Ä. (1568–1625), der jüngere Sohn von Pieter Bruegel d. Ä., der hier prägend wirkte:23 Im Jahr 1589 war er von Antwerpen aus über Köln nach Italien gezogen und hatte sich für längere Zeit in Neapel, Rom und Mailand aufgehalten. Dort gelang ihm rasch eine Karriere bei einflussreichen Gönnern und Förderern als typischer fiammingo, also als einer jener vielen in Italien tätigen hochspezialisierten, flämischen Künstler, die von den lokalen Malern kaum als Konkurrenz wahrgenommen wurden, weil sie sich nicht – wie Rubens etwas später – auf die großfigurige Historienmalerei konzentrierten. Für Jan Brueghel muss alleine sein Name die Erinnerung an seinen Vater aufgerufen haben, der, wie von Vasari in der zweiten Auflage der Viten erwähnt, selbst in Italien gewesen war und dort Freundschaft mit lokalen Malern geschlossen hatte. Interessant ist nun, dass er in Italien, bevor er 1595 oder 1596 wieder nach Antwerpen heimkehrte, bereits auf den von ihm bevorzugten kleinen Kupfertafeln fast ausschließlich mythologische und religiöse Themen gemalt hatte. Es handelt sich hierbei um eine miniaturhaft reduzierte Historienmalerei, in der das heroische Geschehen stets in weitläufige Weltlandschaften 23

Die große Bedeutung von Jan Brueghel d. Ä. für die flämische Malerei insgesamt ist erst unlängst von Elizabeth Honig herausgestrichen worden; siehe: Elizabeth A. Honig, Jan Brueghel and the Senses of Scale, University Park, PA (The Pennsylvania State University Press), 2016.

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eingebettet ist. Eine Vielfalt an Figuren und gegenständlichen Details kennzeichnet diese Bilder ebenso wie die typische, leuchtende Farbgebung. Insbesondere in den in dieser Zeit dominierenden Höllenbildern, die die Tradition der Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch und seinem Vater Pieter Bruegel gleichzeitig aufnehmen und verändern, kommt das Moment einer „universellen Verdichtung“ – nicht bloß einer Verkleinerung – zum Tragen.24 Diese Höllen liegen nun nicht mehr jenseits von Raum und Zeit. Sie evozieren vielmehr eine Art von dunkler Gegenwelt, in der es die irdischen Elemente ebenso gibt wie Tag und Nacht, Städte und Natur.25 Weder handelt es sich um ein reines Schattenreich noch ausschließlich um die postapokalyptische, christliche Folterkammer. Vielmehr überlagern einander mythologische und christliche Vorstellungen und werden auf ein vielgestaltiges und doch einheitliches Universum hin synthetisiert. Vielfach strukturieren antike Ruinen oder riesige Felsmassive die unterschiedlichen Örtlichkeiten. Einzelne, flammende Schauplätze, der Tartarus etwa, sorgen für die ebenso dramatische wie schaurige Atmosphäre an diesen gewaltigen Räumen. In dieser Hinsicht ist die Darstellung des irdischen, untergehenden Troja kaum von jener Szenerie zu unterscheiden, in der Aeneas seinen Vater Anchises in der Unterwelt aufsucht oder die Sybille den Dichter Vergil dort hindurch führt. Odysseus und Juno meistern hier ihre unterirdischen Aufgaben; Orpheus singt vor Pluto und Proserpina und gelegentlich bricht der auferstandene Christus in diesen Ort ein, der deutlich mehr als ein „Limbus“ ist, um die Seelen der Patriarchen zu retten.26 Selbst eine „Allegorie des Lebens“ unterscheidet sich 24 Honig unterscheidet hier die Verdichtung von einer bloßen Verkleinerung und spricht von einer „condensation of an infinite universe“, siehe: Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 81. 25 Die traditionelle Auffassung der Hölle fasst Honig folgendermaßen zusammen: „… the Last Judgement occurs in an eternal emptiness. The positions of heaven and hell are stipulated relative to the judge, not to a geographically conceived earth, and neither has much sense of place: hell is not a topography but rather the sum of the suffering that occurs there, as heaven consists of the ranks of saints and angels. This makes sense because heaven and hell are without time, which translates visually into being without space. The Last Judgement ends history and so is always a conclusion, never a story.“ Siehe: Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 85. 26 Jan Brueghel d. Ä., „Das brennende Troja“, ca. 1595, München, Alte Pinakothek, 26 × 35,4 cm. https://www.janbrueghel.net/object/aeneas-carrying-anchises-from-the-burning-troymunich. Jan Brueghel d. Ä., „Die Hölle“, 1595, Mailand, Ambrosiana, 25 × 35 cm. https://www. janbrueghel.net/object/hell-scene. Jan Brueghel d. Ä., „Die Sybille führt Aeneas durch die Unterwelt“, 1594, Rom, Galleria Colonna, 25,7 × 35,3 cm. https://www.janbrueghel.net/object/aeneas-and-sibyl-in-theunderworld-rome.

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nur geringfügig von der düsteren Anmutung einer Hölle und verweist wohl auf die dunklen Quellen, aus denen jenes entspringt.27 Die Dämonen werden meist direkt von Bosch und Bruegel übernommen, doch in der, Elemente der venezianischen Malerei aufnehmenden Darstellungsweise deutlich verlebendigt. Gelegentlich malt der Freund und Kollege Hans Rottenhammer die stark bewegten Figuren. Dynamische Impulse durchziehen sowohl die Verdammten als auch die diese heimsuchenden Monster. Meist zu größeren Gruppen zusammengefasst, korrespondieren deren Bewegungsimpulse mit der räumlichen Gewichtung der unterschiedlichen Örtlichkeiten. Die Hauptfiguren sind in den Größenverhältnissen nur wenig hervorgehoben, sodass es nicht ihre Handlungen sind, die das Geschehen bestimmen, sondern diese Handlungen selbst vom Dynamismus der gesamten Szenerie getragen werden. Wir haben es hier mit spektakulären Bildern, wie sie das Imaginäre bis hinein in die Blockbuster-Produktionen Hollywoods unserer Tage bestimmen werden, im Kleinformat zu tun. Sie entstehen aus einer Synthese von Boschs Höllen und Patiniers Landschaften, angereichert um die Verschränkung von Geschichte, Mythologie und christlicher Heils- bzw. Unheils-Geschichte; ebenso finden sich detaillierte ‚Beschreibungen‘ von phantastischen Details mit großangelegten Erzählweisen verknüpft. Es handelt es sich hierbei nicht mehr um Bilder der unmittelbar drohenden Verdammnis angesichts einer zutiefst der Sünde verfallenen Hölle auf Erden wie bei Bosch. Jan Brueghels Einsatz ist eher allegorischer als moralischer Natur: Mit Vergil als gleichsam spirituellen Führer betreibt er eine Poetisierung der Hölle im Spannungsfeld von produktiver Einbildungskraft und furchteinflößender Vision.28 Die Bilder sind bei den italienischen Sammlern, vor allem im Umfeld der katholischen Reformbewegung, äußerst beliebt – vielleicht, weil sie die Suche nach einer Wahrheit jenseits der Sinneserfahrung thematisieren und wohl auch selbst anstreben. Ein mögliches Wissen um das Nicht-Wissen scheint sich hier der spirituellen Meditation in Form einer integralen Vision anzubieten, in der die wissenschaftlich-naturalistische Darstellungsweise, die humanistische und schließlich die apokalyptische Tradition ineinander fallen.

Jan Brueghel d. Ä., „Orpheus singt für Pluto und Proserpina“, 1594, Florenz, Palazzo Pitti, 27 × 36 cm. https://www.janbrueghel.net/object/orpheus-sings-for-pluto-and-proserpina. Jan Brueghel d. Ä., Hans Rottenhammer, „Abstieg Christi in die Unterwelt“, 1595, Rom, Galleria Colonna, 25, 2 × 24, 7 cm. https://www.janbrueghel.net/object/christ-in-limborome. 27 Jan Brueghel d. Ä., „Allegorie des Lebens (Der Traum Raffaels)“, 1595. Toronto, Art Gallery of Ontario, 35 × 51 cm. http://www.janbrueghel.net/object/allegory-the-dreamof-raphael-circe-ulysses. 28 hierzu siehe: Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 91.

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Zurück in Antwerpen setzt Jan Brueghel die Arbeit an den Höllenbildern noch eine Weile fort, vornehmlich wohl weiterhin für italienische Auftraggeber. Doch rasch etabliert er sich hier im Rahmen des städtischen Patriziats und der Lukasgilde, obwohl er nicht an den großen kirchlichen Aufträgen partizipiert. Das Repertoire seiner Themen erweitert sich in diesem Kontext; hinzukommen vorerst Schlachtenbilder, in denen eine an die Höllenbilder ebenso wie an die bereits kanonische Lösung Albrecht Altdorfers anschließende dynamische Regie von Massenbewegungen im Rahmen spektakulärer Landschaften vorherrscht.29 Generell intensiviert sich nun die Auseinandersetzung mit der in Antwerpen äußerst lebendigen Tradition seines Vaters in der Landschaftsmalerei und in vielfigurigen, bäuerlichen Szenen. Während sein etwas älterer Bruder Pieter Brueghel d. J. in erster Linie Kopien für den freien Markt verfertigt, variiert und verändert Jan jedoch zumeist die väterlichen Bildformeln. Er scheint sich eine anspruchsvollere Patronage gesucht zu haben und investiert insbesondere in die atmosphärischen Qualitäten seiner Landschaften, den farbintensiven Wirkungen von Licht und Luft, aber auch in die dichte und stimmungsvolle Beschreibung von Waldlandschaften. Gelegentlich wird die intime Geschlossenheit einer Waldszene geradezu antagonistisch mit einer licht- und luftdurchfluteten weiten Landschaft kombiniert. Eine „Bergpredigt“ von 1600 zeigt etwa eine solche Gegenüberstellung einer Menschenmenge im Wald mit einer weiten, bedeutungsvollen Weltlandschaft, zu der sich die rechte Bildseite hin öffnet. Noch stärker wird der Kontrast in einer jener Kooperationen mit dem nun in Venedig lebenden Hans Rottenhammer ausgeführt, bei denen die Bilder zwischen Antwerpen und Venedig hin- und hergeschickt werden.30 Deutlich ist im Antwerpener Kontext die Tendenz zu einer stärkeren Spezialisierung zu spüren, allerdings nicht im Sinne einer eindimensionalen Ausrichtung. Zwar scheinen die Landschaften und nach 1600 auch die Stillleben in den Vordergrund zu treten, doch Jan Brueghel entscheidet sich nie für ein einziges Genre. Als 1598 die erste Zusammenarbeit mit dem jungen Rubens entsteht, scheint die Arbeitsteilung bereits klar zu sein. Rubens malt das Figurengewühl der Amazonenschlacht, während Brueghel die Landschaft 29 Jan Brueghel d. Ä., „Der Großmut des Scipio“, 1600, München, Alte Pinakothek, 72,5 × 106,5 cm. http://www.janbrueghel.net/object/the-continence-of-scipio. Jan Brueghel d. Ä., „Die Schlacht bei Issos“, 1602, Paris, Louvre, 80 × 136 cm. http://www. janbrueghel.net/object/the-battle-of-issus. hierzu siehe: Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 82f und S. 99–121. 30 Schönes Beispiel: Jan Brueghel d. Ä., Hans Rottenhammer, „Flusslandschaft mit der Ruhe auf der Flucht“, um 1600, Neuburg, Donau, Staatsgalerie, 21,1 × 30,7 cm. https://www.sammlung. pinakothek.de/de/artist/jan-brueghel-d-ae/flusslandschaft-mit-der-ruhe-auf-der-flucht.

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beisteuert; die Kooperation funktioniert ähnlich wie mit Rottenhammer oder mit Hendrick van Balen. Doch nur wenig später beginnt die äußerst produktive Kooperation mit dem Landschaftsmaler Joos de Momper. Hier ist es Brueghel, der die Figuren malt. Es geht also nie um eine reine Spezialisierung; eher werden die Konzentration auf eine genaue Naturbeobachtung bestimmend und eine bestimmte Flexibilität hinsichtlich der Formate und Genres. Von hier ausgehend kommt es in den Jahren nach 1600 zu einer neuerlichen kreativen Wende, vor allem nachdem Jan 1604 Prag besucht hatte und dann ab 1605 wieder in verstärkten brieflichen Kontakt mit Federico Borromeo, dem Gönner in Mailand trat. In Prag, am konfessionell toleranten Hof Rudolfs II., konnte er nicht nur viele der originalen Arbeiten seines Vaters sehen, sondern wohl auch ein einzigartiges, künstlerisch-wissenschaftliches Milieu kennenlernen, in dem die Idee einer Integration allen Wissens gedieh.31 Der Kaiser hatte eine wahrhaft enzyklopädische Sammlung an Naturalien und Kunstwerken anlegen lassen, die zu ordnen, zu bearbeiten und zu ergänzen die Aufgabe vieler Künstler wurde, die an den Hof berufen wurden. Darüber hinaus ließ er, auf Drängen seines Hausarztes Thaddaeus Hayek, auch führende Wissenschaftler und Philosophen wie Giordano Bruno, Tycho Brahe und schließlich Johannes Kepler kommen. Prag wurde so zu einem Zentrum der entstehenden Naturwissenschaften und gleichzeitig der spekulativen Naturphilosophie. Die Tätigkeiten der Wissenschaftler und der Künstler lassen sich hier bereits deutlich voneinander unterscheiden, und doch erscheinen sie noch in einem gemeinsamen ‚pansophischen‘ Projekt integrierbar, in dessen Zentrum die kaiserliche Sammlung steht. Es gibt also durchaus Differenzen, aber noch keine kategorischen Gegensätze zwischen humanistischer bzw. empirischer Naturbetrachtung und theologisch-mystischer Spekulation oder zwischen Astronomie, Astrologie und Alchemie. Unter den Künstlern finden sich Figuren wie der Holländer Joris Hoefnagel, der die empirisch genaue Naturnachahmung insbesondere im Format der Buchmalerei kultivierte, aber auch die Großmeister der manieristischen Figurenmalerei wie Hans von Aachen und Bartholomäus Spranger, die mit ihren gewagten Kompositionen und einem stark erotisch geprägten Bildwitz den Vorlieben des Kaisers bestens entsprachen.32

31

Siehe: Thomas DaCosta Kaufmann, „Remarks on the Collections of Rudolf II: the Kunstkammer as a form of Representatio“, in: Art Journal XXXVIII/1, S. 22–28. 32 Ein geradezu queeres Beispiel wäre: Bartholomäus Spranger, „Herakles und Omphale“, 1585, Wien Kunsthistorisches Museum, 24 × 19 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/16/Bartholom%C3%A4us_Spranger_004b.jpg.

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Besondere Bedeutung für Jan Brueghel hatte zweifellos die Hinterlassenschaft des Mailänder Malers Guiseppe Archimboldo, der bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1593 in den Diensten des Kaisers gestanden hatte. Dessen verblüffende Bildfindungen bestehen vor allem darin, allegorische Verkörperungen der vier Jahreszeiten etwa oder der vier Elemente aus einzelnen Objekten zusammenzusetzen. Jeweils werden im strengen Profil Brustbilder der jeweiligen Personifikation wiedergegeben, wobei etwa das Wasser weitgehend aus Fischen besteht oder die Luft aus Vögeln. Schließlich hatte er 1591 Rudolf II. als Vertumnus, den etruskisch-römischen Gott der Verwandlung in Frontalansicht dargestellt.33 Vertumnus galt als das vereinheitlichende Prinzip der Jahreszeiten und der Elemente, mithin als Prinzip der Natur als Einheit in der Vielfalt ihrer Wandlungen. Nicht das Gottesgnadentum, sondern die Verkörperung der Natur selbst wird hier zur Grundlage der dynastischen Legitimation.34 Es ist eine ähnliche Kombination von Faktoren, die Jans produktivste Phase einläuten. Vor allem im direkten brieflichen Austausch mit Federico Borromeo in Mailand entwickelt er spezifische Genres wie das Blumenstillleben, das Girlanden-Bild und etwas später das Galerie-Bild. Darüber hinaus arbeitet er an einer besonderen Idee der Kooperation und der allegorischen Integration der unterschiedlichen Bildelemente. Ausgangspunkt ist jeweils die empirisch genaue Naturbeobachtung, die sich, vermittelt über eine experimentelle Bildidee, im Sinne eines integralen, ebenso philosophischen wie mystischkontemplativen Verständnisses von Natur, aber auch von Religion und dynastischer Repräsentation, erfahren lässt. Für Borromeo malt Jan Brueghel 1606 ein geradezu spektakuläres Blumenstillleben,35 an dem die meisten dieser Faktoren deutlich werden. Es handelt sich nicht mehr darum, ein gewaltiges Geschehen im kleinen Format darzustellen; vielmehr herrscht eine strikte Äquivalenz zwischen der natürlichen Größe der Blumen und ihrer bildlichen Darstellung. In diesem Fall, um eine Vase mit einem üppigen Blumenbouquet ins Bild zu bringen, muss 33 Guiseppe Arcimboldo, „Rudolf II. als Vertumnus“, 1591, Schloss Skokloster, Schweden, 70 × 58 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vertumnus_%C3%A5rstidernas_ gud_m%C3%A5lad_av_Giuseppe_Arcimboldo_1591_-_Skoklosters_slott_-_91503.tiff. 34 Arcimboldo repräsentierte also die Verbindung der Milieus von Prag und Mailand, in das auch Federico Borromeo 1595 als etwas verspäteter Nachfolger seines berühmten Cousins Carlo Borromeo eintrat. Auch Caravaggios 1593, kurz nach seiner Übersiedlung von Mailand nach Rom gemalter „Knabe mit Fruchtkorb“ wird als Vertumnus gedeutet. Federico Borromeo war auch ein Förderer von Caravaggio. 35 Die ersten Blumenstillleben datieren noch von knapp vor der Pragreise und der neuerlichen Kontaktaufnahme mit Federico Borromeo.

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das Format des Bildes der Form des Gegenstandes angepasst werden, was ein mittelgroßes Hochformat ergibt.36 Das heißt, nicht der Rahmen definiert das innerbildliche Geschehen, sondern umgekehrt ergibt sich der Rahmen aus den Dimensionen der Gegenstände. Die Bildfläche ist kaum komponiert, sondern, abgesehen von der leicht abfallenden Tischplatte, auf der die tönerne Vase steht, von einer Vielfalt an Blumenblüten fast vollständig übersät. Es herrscht eine „all over“-Struktur ohne Zentrum;37 vor dem schwarzen Hintergrund leuchten die Farben, und selbst deren Verteilung ist weitgehend regelmäßig; nur die Größenverhältnisse der Blüten scheinen nach oben hin etwas zuzunehmen. Die kleineren Blumen drängen sich vor allem am Rand der Vase. Dargestellt sind über hundert verschiedene Variationen, aus dem damaligen Alltag vertraute ebenso wie Raritäten, die Jan in den botanischen Gärten der Residenz in Brüssel studierte. Es dominieren Rosen, Tulpen, Lilien, Schwertlilien und Pfingstrosen, dazwischen flattern einzelne Schmetterlinge, und auf der Tischplatte liegen einige wenige Münzen, Muscheln und ein Schmuckstück. Es gibt Frühlingsblumen ebenso wie solche, die im Sommer oder im Herbst blühen, jeweils in ihrem Zustand in voller Blüte.38 Kein konkret existierender, dekorativ arrangierter Blumenstrauß ist hier wiedergegeben – noch ganz oben finden sich kleine Exemplare, deren Stile unmöglich in der Vase stecken können –, sondern ein geradezu enzyklopädisches Universum der Blumen. Nicht so sehr die dynamische Bewegtheit einer Menge scheint hier das formgebende Prinzip zu sein, sondern eine Verdichtung und Intensivierung in formaler wie farblicher Hinsicht. Bereits die einzelnen Blüten erscheinen als Verdichtungen von einzelnen Blütenblättern, Fruchtstengeln und -stilen; und auch wenn sich die Blüten in ihrer Fülle über die gesamte Bildfläche hinweg ausbreiten, so werden sie doch gleichzeitig vom Rahmen her wie notdürftig zusammengehalten, was zusätzlich die in ihnen wirksame Kraft symbolisiert. Derart werden die Blumen zum Inbegriff natürlicher Vitalität, Variabilität und Schönheit, in dem jedes Detail sowohl in seiner Besonderheit als auch in seinem Zusammenwirken mit anderen Details sichtbar wird. Das Bouquet erfordert eine nahsichtige, gleichsam abtastende Betrachtung, die der Kontemplation nahekommt. Dennoch bleibt auch hier eine Differenz zwischen ästhetischer Wahrnehmung und 36 Jan Brueghel d. Ä., „Blumen in einer Vase mit Juwelen, Münzen und Muscheln,1606, Mailand, Ambrosiana, 65 × 45 cm. http://www.janbrueghel.net/object/flowers-in-a-vasewith-jewels-coins-and-shells-milan. 37 Als „all over“ hat die moderne Kunstkritik die gleichförmig-flächenfüllende Malweise des Abstrakten Expressionismus beschrieben; man könnte historisch genauer auch von einem horror vacui im Sinne des Manierismus sprechen. 38 Caravaggio hat im Gegensatz hierzu in seinen Frucht- und Blumenbildern versucht, bereits das Moment des beginnenden oder drohenden Verfalls wiederzugeben.

Abb. 41 Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Sehsinn“, 1617, Madrid, Prado, 64,7 × 109,5 cm.

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spiritueller Erfahrung erhalten, denn je näher man sich der objektiven Bestimmtheit der Details zu nähern versucht, desto stärker lösen sich diese in den Duktus der Pinselstriche auf.39 Die Kraft der Natur transformiert sich in eine Kraft der Malerei. Das erste Girlandenbild, 1607 und 1608 gemeinsam mit Hendrick van Balen und im Auftrag Borromeos geschaffen, schließt unmittelbar an das Blumenstillleben an; es expliziert jedoch dessen theologischen Gehalt.40 Deutlich lässt sich in dieser Zeit eine Transformation des post-tridentinischen Denkens, ein Übergang von katholischer Reform zu expliziter Gegenreformation, feststellen.41 Nach der Phase eines „christlichen Optimismus“, der Feier der kreatürlichen Schönheit als Zeichen von Gottes Schöpfung, ist nun eine stärkere, anti-protestantische theologische Ausrichtung gefragt.42 Im Sinne einer „christlichen Archäologie“, wie sie bereits Borromeos Onkel und Vorgänger Carlo Borromeo gefordert hatte, ging es darum, frühe Formen der kultischen und meditativen Praxis wiederzubeleben, um sie der protestantischen Kritik am Katholizismus generell und der Bildproduktion im Besonderen entgegenzuhalten. In dieser Hinsicht ist dieses erste Girlandenbild exemplarisch. Es handelt sich wieder um ein für Jan Brueghel typisches Kleinformat; es ist jedoch insofern außergewöhnlich, weil es auf der hochformatigen und rechteckigen Kupferplatte, auf der Jan seine Blumengirlande platziert hat, eine silberne, ovale Einlage gibt, auf der die von van Balen gemalte Madonna mit Kind zu sehen ist. Ursprünglich gab es noch eine goldene Abdeckung, wodurch Kupfer, Silber und Gold in einem Objekt vereinigt waren. Die Wiederaufnahme materialintensiver Verfahren des Mittelalters im Dienste der Devotion ist unübersehbar. Wir haben es daher mit einer scheinbaren 39 In diesem Sinne: Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 71. 40 Jan Brueghel d. Ä., Hendrick van Balen,„Blumengirlande rund um eine Jungfrau mit Kind“, 1607–1608, Mailand, Ambrosiana, 27 × 22 cm. http://www.janbrueghel.net/object/ flower-garland-around-the-virgin-and-child-milan. 41 Diese Unterscheidung ist in der Forschung umstritten, scheint mir jedoch anhand der Bildpolitiken evident zu sein. Auf die zeitgleiche Auseinandersetzung um die Bilder von Rubens für die Kirche der Oratorier, die in engem Austausch mit Borromeo standen, Santa Maria in Vallicella e Gregorio in Rom, hat Victor Stoichita verwiesen. Siehe: Victor  I.  Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München (Fink) 1998, S. 88–97. Siehe auch meine Deutung der Rosenkranzmadonna von Caravaggio in: H.D., Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Wien, (Turia + Kant) 2017, S. 273–280. 42 Siehe: Susan Merriam, Seventeenth Century Flemish Garland Painting. Still Life, Vision, and the Devotional Image, Burlington, VT (Ashgate Publishing), 2012, S. 23; sowie generell zu Borromeo: Pamela M. Jones, Federico Borromeo and the Ambrosiana: Art Patronage and Reform in Seventeenth-Century Milan, Cambridge, UK (Cambridge University Press) 1993.

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Rückkehr in die Zeit vor dem Tableau zu tun,43 und doch ist das Bild ganz modern im Sinne eines synthetischen Bildverständnisses: nicht nur hinsichtlich der Kooperation der beiden Maler, sondern gleichzeitig auch als eine Art von Bild-Assemblage, wobei der materiale Aspekt der Objekthaftigkeit besonders betont wird. Zusätzlich gibt es eine Integration mehrerer Genres, von Stillleben, figürlichem Devotionsbild und Landschaft zu beobachten, denn Borromeo sandte das Bild nach Erhalt zurück nach Antwerpen, um noch eine Landschaft als Hintergrund der Madonna auf dem ovalen Insert von Brueghel hinzufügen zu lassen. Schließlich ist die Blumengirlande im Vergleich mit der Blumenvase stärker als ein Trompe l’oeil aufgefasst. Die Plastizität der einzelnen Blüten ist stark betont; sie treten gleichsam in den Betrachtungsraum. Auch ist die Aufhängung an einem eisernen Ring auf der Bildfläche zu sehen, und Ameisen krabbeln über einzelne Blüten wie einst die Fliege auf dem gemalten Rahmen des Kartäuser-Porträts von Petrus Christus. Im Gegensatz zu dieser täuschenden Anmutung der Girlande steht das Madonnenbild im Zusammenhang mit Borromeos Vorliebe für die sogenannten Acheiropoieta, jenen „wahren“, nicht von menschlichen Händen geschaffenen Bildern wie etwa dem Schweißtuch der Veronika, dem Turiner Grabtuch, der HodegetriaIkonen und z.T. auch der Lukasbilder.44 Doch offensichtlich ist dieses neue Kultbild von Menschenhand gemalt; die Offensichtlichkeit des gemalten und darin neuen Kultbildes ist sogar das eigentliche Thema. Jesuitische Schriften, denen sich Borromeo verbunden fühlte, hatten bereits im 16. Jahrhundert argumentiert, dass durch die Menschwerdung Christi das alttestamentarische Bilderverbot aufgehoben sei und dass deshalb auch die protestantische Bildkritik zu kurz greife. Gerade die Sichtbarkeit Jesu, insbesondere nach der Auferstehung, sei hinreichender Grund einer bildhaften Vergegenwärtigung, sei doch der Sohn Gottes selbst Erscheinung geworden.45 Gerade am Bild kann demnach das Mysterium der Auferstehung und der Transzendenz meditiert werden. Das erste Girlanden-Bild ‚internalisiert‘ somit die protestantische 43 Doch in der Rezeption des Bildes in der Antwerpener Malerei der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verschwindet genau dieser Materialbezug wieder und das Girlanden-Bild schreibt sich als ein Genre in die Geschichte des Tableaus und der Malerei ein. Selbst in den eucharistischen Stillleben des Jan Davidsz de Heem, in denen an Stelle der Madonna ein Kelch oder eine Hostie erscheint, wird dieser grundsätzlich repräsentative Aspekt als Malerei nicht wieder zurückgenommen. Hierzu siehe: Susan Merriam, 2012 (Anm. 42), S. 4f und S. 125–146. 44 Im Jahr 1616 werden etwa fünf Kopien des Vatikanischen Schweißtuches geschaffen; eines davon befindet sich heute in der Wiener Schatzkammer. Hierzu siehe: Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München (Beck) 2011. 45 Siehe: Koenraad Jonckherre, „‚Levende beelden Gods‘: A Note on the Depictions of Saints in Netherlandish Art after 1585“, in: Eckhard Leuschner (Hg.), 2016 (Anm. 1), S. 111–116.

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Bildkritik46 und konterkariert sie im selben Atemzug. Es insistiert auf der Künstlichkeit und Gemachtheit des Bildes gegenüber den Protestanten – man bete keine Idole an, sondern man meditiere anhand von Bildern die wahre Natur Christi. Das Bild verkörpert ganz buchstäblich diese Wahrheit, eben weil es in der tief verwurzelten Tradition des wahren Bildes steht. Gerade als ein neues Bild bezieht es sich auf alte, ehrwürdige Bilder und kann darin zugleich artifiziell und authentisch sein. Im Gegensatz von Trompe l’oeil und Vera Icon zeigt das Bild seine eigene Konventionalität; es führt den Prozess seiner Produktion47 vor und synthetisiert derart die Gegensätze von Material und Malerei, Bild und Objekt, Stilen und Genres, schließlich von Täuschung und Wahrheit, Natur und Glaube. Borromeo muss mit dem Ergebnis sehr zufrieden gewesen sein. Der dritte Typus von Bildern, die Brueghel für den Kardinal in Mailand schuf und die sich auch heute noch in der Ambrosiana befinden, besteht in Allegorien. Bereits das erste Bild, das Brueghel nach Wiederaufnahme des Kontakts im Jahr 1605 nach Mailand schickte, war eine Allegorie der vier Elemente, die sich um die mythologische Figur der Ceres herum gruppierten. Stillleben-artige Elemente wie Blumen und Fische verschmelzen hierin mit der sie umgebenden Landschaft, während die Figur der Ceres geschützt vor einem Schilfbündel sitzt. Das Feuer scheint in diesem Bild allerdings gänzlich zu fehlen. Eine isolierte Allegorie des Feuers von 160848 (Abb. 39) ist es dann, an der sich die Problematik des synthetischen Bildes in aller Deutlichkeit zeigt. Interessant an diesem Bild ist vor allem, dass die zentrale allegorische Figur fehlt. Damit verlässt das Bild den Modus der traditionellen AllegorieDarstellungen, wie sie bei den niederländischen Romanisten des 16. Jahrhunderts zwischen Frans Floris und Marten de Vos gebräuchlich waren.49 Hingegen rückt das Vokabular der früheren Mythologien und der Höllenbilder Brueghels wieder in den Vordergrund und wird gleichzeitig deutlich verändert. Es gibt hier eine Stillleben-artige Anhäufung von Gegenständen im Vordergrund, die in Verbindung mit einem klassischen, dem Kolosseum entlehnten Ruinenbild mit starkem Zug in die Bildtiefe auf der linken und einem Ausblick in eine gebirgige Landschaft auf der rechten Bildseite steht. 46 47

In diesem Sinne: Susan Merriam, 2012 (Anm. 42), S. 71. Susan Merriam, 2012 (Anm. 42), S. 70 spricht von „convention on display“; sie verwendet generell Beschreibungsformeln aus der heutigen Kunstkritik, wenn sie von „objecthood“ oder einem „revealing the process of production“ oder „truth in making“ u.ä. spricht. 48 Jan Brueghel d. Ä., „Allegorie des Feuers“, 1608, Mailand, Ambrosiana, 46 × 66 cm. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Jan_Brueghel_(I)_-_Allegory_of_Fire.jpg. 49 Stich von Nicholaas de Bruyn nach Marten de Vos, „Ignis“, ca. 1600, British Museum https://www.bmimages.com/preview.asp?image=01487161001.

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Wieder sind Fülle und Variabilität hier das Thema und der Anlass einer detailreichen malerischen Ausführung; es ist jedoch nicht die Produktivität der Natur selbst, die thematisiert wird, sondern die Transformation von Natur in Kultur mit allen ihren höchst ambivalenten Konsequenzen. Die produktive Seite des Feuers wird hier ebenso gezeigt wie die zerstörerische. Wir sehen detailliert die Arbeitsprozesse am Hochofen, am Amboss, an den vom Wasserrad angetriebenen Schleifsteinen und schließlich in der Feinfertigung auf einer Art von sonnenbeschienener Lichtung am Rand der Ruinenarchitektur im Mittelgrund, während in der Landschaft auf der rechten Seite mehrere Häuser lichterloh brennen. Insgesamt überwiegt wohl eher die negative Seite der Kultur, denn im Mittelteil des Vordergrundes finden sich vor allem Waffen und Geldmünzen ausgestreut. Und auch wenn im Durchgang zum Hintergrund Kirchenglocken aufgestellt sind, so stehen diese doch direkt neben den Kanonen, als den mächtigsten, selbst wiederum Feuer hervorbringenden Produktionen aus der Metallschmiede. Die Ruinen werden in diesem Zusammenhang selbst zu indikativen Zeichen einer zerstörten Kultur. Und die wertvollen Metalle sind keineswegs so positiv konnotiert wie im GirlandenBild. Zwar liegen Prunkgefäße, Schmuckstücke und kultisches Gerät auf Tisch, Bank und Stuhl links im Vordergrund – wie einst im Fleischerladen von Pieter Aertsen zur Ansicht ausgebreitet –, doch bleibt alles letztlich dem Kriegsgerät assoziiert. Die Anhäufung erinnert mehr an eine Kunstkammer als an einen Verkaufsstand und weckt eher Assoziationen von Beute als von Handel oder Handwerk. Allerdings findet sich eine Fülle von mechanischem Werkzeug zwischen den präsentierten Gegenständen eingestreut, denen wiederum auf der rechten Bildseite eine Ansammlung von alchemistischen Instrumenten und Substanzen entspricht.50 Wir sehen daher insgesamt ein durchaus bereits stark differenziertes Bild der Kultur zwischen mechanischer und chemischer Produktion, zwischen Hervorbringung und Zerstörung, zwischen Produktion bzw. Arbeit und Präsentation oder Repräsentation. Keineswegs wird hier ein integratives Ideal von Kultur beschwört; ganz im Gegenteil werden die 50 Siehe: Elisabeth  A.  Honig, Eintrag vom 25.4.2014 https://www.janbrueghel.net/object/ allegory-of-fire-milan: „Many of the vessels here bear legible inscriptions relating to alchemical work: I could read Magiscana Perlaram, Sal Momia, Mercuria Coralatus fe, Aqua Paradiso & others. Of all the works in the Four Elements series, this is the one that is clearly about man-made things (not nature) and in particular its theme seems to be transformation and artifice. Apart from the money and the weapons, which are in the center, the two sides each treat means of transformation, what we would call mechanical on left and chemical on right. The kunstkammer-ish collection on left seems to have an unusual number of tools in it – lots of little tools for hand crafts, the tools that are used in various ways to make the vessels that are also shown. Pliers and hammers and various things that grasp or saw; there are more of those in with the weapons.“

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Grenzen einer möglichen Synthese von Natur und Kultur erreicht. Ein zerstörerischer Dynamismus scheint zu herrschen, der kaum mehr mit den natürlichen Prozessen des Werdens und Vergehens in Einklang zu bringen ist. Momente einer Kulturkritik scheinen hier unübersehbar zu sein, sowohl in der chaotischen Anordnung der kulturellen Hervorbringungen als auch in den architektonischen und landschaftlichen Settings. Das Bild selbst synthetisiert diese Zusammenhänge nicht wirklich; seine einzelnen Bestandteile scheinen eher disparat zueinander zu stehen. Insbesondere wird dies an jenem bronzenen, sechsarmigen Kerzenleuchter deutlich, der vom oberen Bildrand – scheinbar aus dem Nirgendwo – in die Szenerie hängt.51 Eine tatsächliche Aufhängung in der ruinenartigen Architektur ist jedenfalls kaum anzunehmen. Der Leuchter trägt an seinem oberen Ende den habsburgischen Doppeladler; von den noch vorhandenen vier Kerzen brennt nur mehr eine, und seine kugelförmige Basis enthält Reflexionslichter, bei denen allerdings unklar bleibt, ob sie den dargestellten Lichtverhältnissen entsprechen sollen oder dem Studio des Malers. Genauso wenig kann geklärt werden, ob der Innenraum, den der Leuchter zweifellos assoziieren soll, sich auf den Präsentationsraum der Gegenstände im Vordergrund oder auf die ruinöse Architektur dahinter, durch die ja das Sonnenlicht einfällt, bezieht. Auf die Bildfläche bezogen fungiert er wohl vor allem als Gegengewicht zu den brennenden Häusern in der Landschaft auf der rechten Bildseite. Das Bild steht daher mehr für ein Aufrufen der Dissonanzen als für deren tatsächliche synthetische Aufhebung. Die harmonischen kosmologischen Aspekte, wofür die vier Elemente eigentlich einstehen, mussten daher auf die anderen drei Tafeln, die sich der Erde, dem Wasser und der Luft widmeten, ausgelagert werden, die Brueghel noch bis 1621 nachliefern wird. Dieses Bild schert daher deutlich aus der Reihe synthetischer Bildfindungen aus und macht doch deutlich, worum es hierbei überhaupt geht. Gerade die detailgenaue Beschreibung der Produkte, aber auch der Wirkungen des Feuers unterstreichen dessen höchst ambivalente Funktion als Grundlage menschlicher Kultur. Die Anhäufung der Gegenstände lässt eine Vielzahl an Gegensätzen hervortreten, die nicht in eine neue Einheit integriert werden können. Derart bleiben die dissonanten Aspekte des antagonistischen Bildverständnisses spürbar. Andere Varianten52 des Themas, zumeist etwas später gemalt, 51 Anne  T.  Woollett spricht von einem „mysterious chandelier“; siehe: Anne  T.  Woollett, Ariane van Suchtelen (Hg.), Rubens an Brueghel. A Working Friendship, Los Angeles (Getty Publications) 2006, S. 143. 52 Etwa: Jan Brueghel d. Ä., Hendrick van Balen, „Allegorie des Feuers. Venus in der Schmiede Vulkans“, 1608–1611, Rom, Galleria Doria Pamphili, 55 × 95 cm. http://www.janbrueghel. net/object/allegory-of-fire-venus-in-the-forge-of-vulcan-rome.

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harmonisieren die Szene, indem sie sie zu einer Schmiede des Vulkan umdeuten. Das heißt, es werden wieder das mythisch-allegorische Personal – gemalt von van Balen – in Gestalt von Venus, Vulkan und Amor eingeführt, die Menge der Gegenstände reduziert und die brennenden Häuser in den ausbrechenden Ätna verwandelt. Der Realismus in der Darstellung der einzelnen Arbeitsvorgänge wird deutlich abgemildert, wie auch die dramatischen Effekte insgesamt. Dass dieser Umschwung im Bildverständnis genau in die Zeit kurz vor und nach dem Waffenstillstand von 1609 fällt, mag kein Zufall sein.53 Denn im Jahr 1608 dauert der Krieg um die Unabhängigkeit der Niederlande bereits vierzig Jahre an. Antwerpen ist zwar nicht mehr unmittelbar von den Kampfhandlungen betroffen, doch noch kurz nach der Einsetzung von Erzherzog Albrecht und Erzherzogin Isabella Clara Eugenia, der Tochter Philipp II., als souveräne Landesfürsten im Jahr 1599 kommt es im Sommer 1600 zu einer großen Schlacht am Strand von Nieuwpoort, die die Holländer bei herben Verlusten auf beiden Seiten gewinnen, ohne daraus großen Nutzen ziehen zu können. Auch greifen die Holländer 1604 von der See aus Cadiz an, was die Friedensbereitschaft selbst in Spanien erhöht. Albrecht und Isabella zeigen sich von nun an äußerst friedensbemüht. Mit dem für zwölf Jahre vereinbarten Waffenstillstand mit den abtrünnigen Provinzen schien tatsächlich eine neue Ära anzubrechen. Die Spanischen Niederlande entwerfen sich in dieser Zeit als eine Art von Idealstaat hinsichtlich katholischer Religiosität, dynastischer Zuverlässigkeit und einer exorbitanten, in erster Linie von der Malerei getragenen Bildkultur. Brueghel war bereits 1606 zum Hofmaler in Brüssel ernannt worden und Rubens wurden beste Bedingungen gewährt, um ihn im Land zu halten. Beide erhielten die Erlaubnis, fernab des Hofes weiterhin in Antwerpen zu leben und dort keine Steuern bezahlen zu müssen. Rubens war auch nicht mehr an die Zunftregeln hinsichtlich der Zahl an auszubildenden Malern gebunden und konnte so seinen großen Werkstattbetrieb entfalten. Während Brueghel weiterhin einen Kreis aus Freunden pflegt, dem auch Rubens angehört und in dem die Idee einer „Konversation im Bild“ kultiviert wird,54 nimmt Rubens seinen, von den Hierzu: Anne  T.  Woollett, in: Anne  T.  Woollett, Ariane van Suchtelen (Hg.), 2006 (Anm. 50), S. 140–145. 53 Die Lyoner Version wird in er Forschung allerdings bereits ins Jahr 1606 datiert: http:// www.janbrueghel.net/object/allegory-of-fire-venus-in-the-forge-of-vulcan-lyon. 54 Während ein moderner Connaisseur wie Walter Friedländer noch in den 1960er-Jahren die Kollaborationen weitgehend negativ bewertete, weil sie dem Ideal der authentischen Produktion zuwiderlaufen schienen, werden sie heute sehr hoch eingeschätzt. Siehe: Anne T. Woollett, „Two Celebrated Painters. The Collaborative Ventures of Rubens and Brueghel, ca. 1598–1625, in: Anne T. Woollett, Ariane van Suchtelen (Hg.), 2006 (Anm. 50),

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Eltern bereits behaupteten Platz im Antwerpener Patriziat ein. Von dort aus sind ihm die Kontakte zu den führenden Politikern wie dem langjährigen Bürgermeister Nicolaas Rockox, den kirchlichen Organisationen und, über den alten Schulfreund Balthasar Moretus, dem Erben von Christophe Plantin, zur größten Druckerei Antwerpens, selbstverständlich, auch und gerade weil dort inzwischen die Jesuiten das Sagen hatten. Die alten Netzwerke funktionieren und Rubens wird sie rasch ausweiten. Seine Werkstatt wird in den ersten zehn Jahren ein gigantisches Auftragsvolumen über ganz Flandern hinweg und bis nach Süddeutschland bewältigen.55 Nebenher macht er noch die italienische Korrespondenz für Brueghel. Die erste der zahlreichen Kooperationen von Brueghel und Rubens greift die Allegorie des Feuers noch einmal direkt auf. In dem nun deutlich größeren Bild „Die Rückkehr aus dem Krieg: Mars von Venus entwaffnet“ von 1610–161256 wird gleichsam in die Katakomben der Ruinenarchitektur hinein gezoomt, und wir stehen als Betrachtende bereits nahe an den Kanonen, vor denen sich das übrige Kriegsgerät von Waffen und Rüstungen zumindest auf der linken Seite des Vordergrunds ausbreitet. Rubens hat sich jedoch ganz anders als van Balen dem Kooperationsangebot Brueghels gegenüber verhalten. Er hat seine Figuren nicht einfach in das vorgesehene Schema eingefügt, sondern große Teile der rechten Bildseite übermalt und bildfüllende Figuren, eine nackte, ‚aggressiv‘ verführerische Venus57 und einen gepanzerten Mars hinzugefügt: Er ‚degradiert‘ Brueghels Szene zum Hintergrund für seine eigene Erzählung. Aus einer Schmiede des Vulkans wird eine Venus, die den heimkehrenden Mars entwaffnet, und aus einer Allegorie des Feuers wird eine Allegorie des Friedens mit deutlichen Anspielungen auf den Waffenstillstand, bei dem die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Krieges nicht ausgeschlossen werden kann, denn die Waffenproduktion läuft im Hintergrund weiter. Allerdings hat Brueghel einige Stellen der Rubens’schen Übermalung wiederum mit der für ihn typischen kleinteiligen Gegenständlichkeit und den beiden Meerschweinchen im Vordergrund übermalt und so die Integration der unterschiedlichen Malweisen verbessert. Auch scheint diese eher spannungsvolle Art S. 1–41; Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 163–177 betont den dialogischen Aspekt und verweist auf die Freundschafts- und Konversationsideale der italienischen Renaissance. 55 Hierzu siehe: Nils Büttner, Rubens, München (Beck) 2007, S. 38–60. 56 Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Die Rückkehr vom Krieg: Mars von Venus entwaffnet“, 1610–1612, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, 127,3 × 163,5 cm. http://www.getty.edu/art/ collection/objects/130326/peter-paul-rubens-and-jan-brueghel-the-elder-the-return-f rom-war-mars-disarmed-by-venus-flemish-about-1610-1612/?dz=0.5000,0.3856,0.81. 57 Anne T. Woollett, in: Anne T. Woollett, Ariane van Suchtelen (Hg.), 2006 (Anm. 50), S. 57 spricht von einer „aggressively seductive goddess“.

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der Kooperation keineswegs ein tiefgreifendes Problem dargestellt zu haben, bildete sie doch den Startschuss für eine ganze Serie an Koproduktionen, in denen es tatsächlich zu einer synthetisierenden Konversation zwischen den beiden Malern und ihren höchst unterschiedlichen Bildauffassungen kommt. Dieses Bild scheint für beide nicht nur der kooperativen Methode wegen bedeutsam gewesen zu sein, sondern auch hinsichtlich seiner inhaltlichen Programmatik. Für Brueghel markiert es den Abschied von seinem höllischen Themenkreis hin zu den friedlichen und paradiesischen Landschaften, die ihn in den folgenden Jahren beschäftigen werden; für Rubens wird „Krieg und Frieden“ ein wichtiges Thema seiner malerischen und seiner diplomatischen Tätigkeiten bis hinein in seine letzten Lebensjahre bleiben. Ebenso ist für ihn die starke Sexualisierung des Themas hier bereits evident. Denn die Allegorisierung des Themas geschieht entsprechend einer strikt geschlechterbezogenen Aufteilung zwischen Gewalt und Verführung oder Hingabe. Die Kraft wird nicht einfach aus den natürlichen Potenzialen des Wachstums, wie in den Blumenstillleben Brueghels oder aus der devotionalen Natur des Bildes selbst gezogen; sie wird vielmehr unmittelbar als soziale und patriarchale Gewalt definiert. Auch wenn Rubens stets im Namen des Friedens malerisch argumentiert, sein eigenes Interesse und das seines Milieus im Sinne der weiblichen Position artikuliert bzw. allegorisiert, so repräsentiert er doch gleichzeitig stets die strukturelle Gewalt des Geschlechterverhältnisses selbst. Die Botschaft seiner Bildrhetorik scheint zu sein, dass Gewalt und Krieg zwar böse sind und deshalb möglichst eingedämmt werden müssen; dass sie allerdings in einer natürlichen Aufteilung der Geschlechter wurzeln. Die Verführungskraft des Bildes wurzelt selbst in dieser Aufteilung; die nackte Venus, die sich in virtuos verschraubter Körperdrehung sowohl Mars als auch den Betrachtenden anbietet, wird zum entscheidenden Anziehungspunkt des gesamten Bildes, als mythologisch-allegorisch handelnde Figur ebenso wie als passiv-laszives Bildobjekt. Für den reformkatholischen Sammlerkontext Brueghels muss diese Verschiebung der allegorischen Thematik hin auf das Verhältnis von Gewalt und Erotik, und schließlich die massive Erotisierung des Wahrnehmungsakts selbst zumindest verstörend gewesen sein.58 Darin wird jedoch zweifellos ein grundlegendes Problem jeder Synthetisierung sichtbar, dass nämlich nicht nur die Einheit der Differenzen nicht ohne Gewalt zu haben ist, sondern dass die Wahrnehmung der Differenzen selbst bereits in gewaltförmigen Aufteilungen des sozialen und des kulturellen Raums verankert ist. In vielen Bildern von Rubens kommt es – im Vergleich etwa zu Otto 58

Federico Borromeo konnte sich tatsächlich nie mit Rubens anfreunden. Für ihn blieb er der „secretario“ Brueghels.

Abb. 42 Peter Paul Rubens, „Simson und Delila“, 1609, London, National Gallery, 185 × 205 cm.

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van Veen oder Bartholomäus Spranger59 – zu einer deutlichen Zuspitzung des geschlechtlichen Antagonismus, auch wenn sich die Ambivalenzen, wie wir noch sehen werden, doch nicht gänzlich unterdrücken lassen. In den weiteren Kooperationen bleibt dieser erotische Antagonismus allerdings noch weitgehend gezähmt. Es dominieren vorerst üppige Girlandenbilder, in denen die Blumenkränze entweder in einer Landschaft aufgehen, von mythologischem Personal bevölkert werden oder von einer Girlande an Putti eingefangen werden. Hierbei wird die Methode der Interaktion immer komplexer. Bilder gehen mehrmals zwischen den Studios hin und her. Auch stehen die Figuren nicht einfach mehr vor dem landschaftlichen Hintergrund oder sind von diesem umgeben; sie stehen nun tatsächlich darin. Im Kasseler Bild verfolgt Pan eine Nymphe im Schilf; das heißt, pflanzliche und figürliche Momente überlagern einander ebenso wie die Malweisen und die inhaltlichen Anspielungen auf eine wiederum triebhaft verstandene Natur. In der „Paradieslandschaft mit dem Sündenfall“, wohl von 1617,60 (Abb. 40) dem einzigen von beiden Malern signierten Bild, spitzt sich der Austausch noch einmal zu. Hier malt Rubens neben den beiden Hauptfiguren auch einige der Tiere, ein Pferd etwa und die Schlange, während Brueghel für Pflanzen und Tiere, Wald und Himmel zuständig ist; er kombiniert Stillleben, Landschaft und Tierbild mit Anspielungen an die Elemente der Erde, des Wassers und der Luft. In den Pfauenfedern im vorderen Bildzentrum kulminiert diese, Blumen und Tiere gleichsam verschmelzende Logik; generell lassen sich Pflanzen, Tiere und Menschen nur mehr graduell voneinander unterscheiden. Auch ist die Anordnungsweise der Tiere nicht mehr streng enzyklopädisch nach Arten und Paaren gegliedert wie noch in früheren Paradiesbildern,61 sondern stärker dynamisch, auf Interaktionen und formale Analogien bezogen. Nicht nur 59

Hier wären vor allem jene beiden, erst kürzlich wiederentdeckten Bilder „starker Frauen“ von Otto van Veen zu nennen. Hierzu siehe: Gerlinde Gruber, „Starke Frauen: Amazonen und Perserinnen des Otto van Veen“, in: Ansichtssache #18, Wien, Kunsthistorisches Museum, 2017, S. 8–18. Otto van Veen, „Amazonen und Skythen“, 1597–1599, Wien, Kunsthistorisches Museum, 135,7 × 193,6 cm. https://www.khm.at/objektdb/detail/1335/. Otto van Veen, „Die Persischen Frauen“, 1597–1599, Wien, Kunsthistorisches Museum, 132 × 195,2 cm. https://www.khm.at/objektdb/detail/1336/. 60 Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Paradieslandschaft mit dem Sündenfall“, 1617, Den Haag, Mauritshuis, 74,3 × 114,7 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Garden_of_Eden_ with_the_Fall_of_Man#/media/File:Jan_Brueghel_de_Oude_en_Peter_Paul_Rubens_-_ Het_aards_paradijs_met_de_zondeval_van_Adam_en_Eva.jpg. 61 etwa im Bild: Jan Brueghel d. Ä., „Einzug in die Arche Noah“, 1613, London, Wellington Museum, 25,7 × 37 cm. https://www.janbrueghel.net/object/entry-into-noahs-arklondon-wellington-museum.

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Eva, sondern auch Adam wird in der für Rubens typischen lasierenden Malweise in seiner körperlichen Präsenz zum Leuchten gebracht. Die blutdurchströmte Lebendigkeit dieser Körper wird in ihrer Bezogenheit aufeinander durchaus hervorgehoben; sie bleibt dennoch in das Spiel der pflanzlichen und tierischen Körper eingebunden. Adam scheint mit dem Pferd hinter ihm fast zu verschmelzen, während Eva im Leoparden auf der rechten Bildseite ein ähnlich durch Licht hervorgehobenes Äquivalent erhält. Insgesamt herrscht wiederum eine große Dichte; es handelt sich jedoch nur mehr bedingt um ein all over der Gegenstände, sondern eher um ein all over der malerischen Mittel. Das gesamte Bild scheint in seinen Pinselstrichen zu vibrieren. Gerade in der sinnlichen Pracht wollen die beiden Maler einander überbieten. Hier wurde nicht einfach nach dem Leben gezeichnet oder gemalt; vielmehr ging es darum, die Lebendigkeit als Prinzip einzufangen – sowohl in der Differenz der Malweisen und Bildauffassungen als auch hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmungen. Der prekäre Augenblick, in dem die Unschuld verloren geht, lässt die paradiesischen Umstände noch einmal in ihrem wahren Glanz erscheinen. Die Schönheit der göttlichen Schöpfung vor dem Sündenfall wird als gleichsam polymorph-perverse Sinnlichkeit vorgestellt, angereichert um jene eben erst aus den Entdeckungsfahrten um die Welt erschlossenen Arten: den Papageien, Pfauen und Paradiesvögeln, dem Truthahn und dem Strauß62 oder den Meerschweinchen. Es ist auch das Paradies einer vorkolonialen Welt, das hier zu sehen ist, so wie sich umgekehrt die koloniale Eroberung anhand dieses Bildes als ein religiöses Projekt zur Wiedergewinnung des Paradieses mit den Mitteln der Malerei verstehen ließe. Das Thema der Sinnlichkeit bestimmt nun auch den eigentlichen Höhepunkt in der Kooperationslogik der flämischen Malerei, jene von Brueghel und Rubens ­ nterschiedlichen gemeinsam gemalten fünf Bilder,63 die jeweils einen der u 62 Brueghel muss lebende Exemplare der sogenannten Paradiesvögel zur Hand gehabt haben, weil sich seine Darstellung deutlich von den Graphiken unterscheidet. In Brüssel und bereits in Prag konnte er präparierte Exemplare sehen. Hierzu siehe: Ariane van Suchtelen, in: Anne T. Woollett, Ariane van Suchtelen (Hg.), 2006 (Anm. 50), S. 70. 63 Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Sehsinn“, 1617, Madrid, Prado, 64,7 × 109,5 cm. https://www.janbrueghel.net/object/the-sense-of-sight. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Gehörsinn“, 1617/18, Madrid, Prado, 64 × 109 cm. https://www.janbrueghel.net/object/the-sense-of-hearing. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Tastsinn“, 1617/18, Madrid, Prado, 64 × 111 cm. https://www.janbrueghel.net/object/the-sense-of-touch. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Geruchsinn“, 1617/1618, Madrid, Prado, 65 × 111 cm. https://www.janbrueghel.net/object/the-sense-of-smell. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Der Geschmacksinn“, 1618, Madrid, Prado, 64 × 109 cm. https://www.janbrueghel.net/object/the-sense-of-taste.

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Sinne repräsentieren, sowie die zwei großformatigen, ursprünglich auf Brueghels Initiative hin von zwölf Antwerpener Malern gefertigten Werke, die das Sehen und das Riechen bzw. das Hören, Tasten und Schmecken behandeln.64 In allen diesen Bildern werden die einzelnen Sinne jeweils durch eine allegorische Personifikation dargestellt, die in einem meist palastartigen Interieur, das sich durch Terrassen oder monumentale Durchblicke in die umgebende Natur öffnet, situiert ist. Nur der „Geruch“ ist gänzlich in einem Garten voller duftender Blumen dargestellt, allerdings ist hier wiederum der Garten architektonisch eingefasst. Der Tastsinn wird in der uns bereits bekannten Ruinenarchitektur lokalisiert, allerdings wird diese zu einer Art von Interieur ausgebaut, wo viele Waffen darauf warten, berührt zu werden. Der Geschmack ist als reiche Tafel mit einer Überfülle an Wild-Gerichten wiedergegeben, die sich als ein prunkvolles Stillleben ausbreiten, und das Hören durch eine Vielzahl an Musikinstrumenten. Mit Ausnahme des „Geruchs“ gibt es überall auch Bilder und eine Vielzahl an Objekten, die die Szenen einrahmen. Insbesondere in „Der Sehsinn“ (Abb. 41) bzw. in „Das Sehen und der Geruch“ werden diese Räume im Sinne jenes damals neuen Genres des Galeriebildes aufgefasst. Wer immer es erfunden haben mag, Frans II. Francken oder Jan Brueghel selbst, es war wohl zuerst als ein bürgerliches Interieur bzw. als ein intimes Kabinett verstanden.65 In der Übertragung in einen höfischen Kontext präsentiert es sich hier als ultimative Synthese enzyklopädischen Wissens, als Integration von Natur und Kultur ebenso wie von antiken und modernen Wissenschaften und Künsten; alles eingebettet in jene prächtigen Räume und ein allegorisches bzw. rhetorisches Sinn-Versprechen. In den Jahren zwischen 1615 und 1620, in denen die Bildserien zu den fünf Sinnen entstanden, waren die Galeriebilder noch nicht exklusiv der Malerei vorbehalten wie später bei Willem van Haecht und vor allem bei David Teniers d.J.; dennoch wird hier bereits ganz klar eine Welt aus Malerei angesprochen. Die Malerei repräsentiert nicht nur eine dem Sehsinn entsprechende Kunst, sondern gleichsam eine Meta-Kunst der 64 Diese zwei Bilder waren ein Geschenk der Antwerpener Maler an den Erzherzog und die Erzherzogin; sie sind im Palast von Tuveren im Jahr 1731 verbrannt. Die beiden heute im Prado befindlichen Bilder sind Kopien, möglicherweise wiederum von Brueghel und Rubens gemalt. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Allegorie des Sehsinns und des Geruchsinns“, ca. 1620, Madrid, Prado, 175 × 263 cm. http://janbrueghel.net/object/allegory-of-sight-and-smell. Jan Brueghel d. Ä., Peter Paul Rubens, „Allegorie des Gehörsinns, des Tastsinns und des Geschmacksinns“, ca. 1620, Madrid, Prado, 176 × 264 cm. http://janbrueghel.net/object/ allegory-of-touch-hearing-and-taste. 65 Zur Genese des Galeriebildes siehe: Ursula Härting, „‚doctrina et pietas‘. Über frühe Galeriebilder“, in: Jaarboek 1993. Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen, S. 95–134.

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Integration, in der die anderen Sinne erst zur Darstellung gelangen können. Denn das eigentliche Thema bildet die Gemeinsamkeit der Sinne als jenen Organen, durch die hindurch die Welt empirisch erfasst, erkannt und die ursprüngliche Schönheit der göttlichen Schöpfung erfahren werden kann. Es mag hier durchaus eine Reflexion über einen eigenen gemeinsamen Sinn – den Common Sense – geben, im doppelten Sinn als ein gemeinsames, allen Sinnen zugrunde liegendes Vermögen und als soziale Kompetenz der kooperierenden Maler; oder auch eine Aufwertung der anderen Sinne, vor allem des Tastsinns;66 doch scheint mir der Sehsinn weiterhin klar als der dominante Sinn adressiert.67 Auch auf der allegorischen Ebene reicht die Thematisierung des Sehens weiter als diejenige der anderen Sinne. In der Personifikation der Juno Optica und Pictura wird die Malerei als Organ von Wahrnehmung und von Repräsentation angesprochen68 und ihr ebenso im mythologischen wie im wissenschaftlichen Kanon des Wissens ein hervorragender Platz zugeordnet. Im Wettstreit mit den anderen Künsten liegt sie weit vorne; sie kann ihre Potenziale jedoch nur im Austausch mit diesen voll zur Geltung bringen. Es handelt sich also um kein rationales Sehen wie im perspektivischen oder z.  T. auch im analytischen Bildverständnis, das die Welt objektiv erfasst, sondern um ein höchst subjektives und differenzierendes Sehen, das von den Gegenständen affiziert ist und somit deren andere sinnlichen Dimensionen zu vermitteln im Stande ist.

66 Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23), S. 53–58 diskutiert die Auseinandersetzung um den Common Sense des Aristoteles in der Philosophie der italienischen Renaissance, insbesondere die anti-aristotelische Wende bei Bernardino Telesio, der dem Tastsinn im Sinne einer materialistischen Vorstellung von Erfahrung Priorität zuschrieb. Im Bild „Allegorie der fünf Sinne“, das Jan Brueghel d. Ä. gemeinsam mit Hendrick van Balen in den Jahren 1617/18 schuf, sieht sie in der männlichen Figur, die von den weiblichen Repräsentationen der fünf Sinne umgeben ist, eine Repräsentation des Common Sense. http://janbrueghel.net/object/allegory-of-the-five-senses. 67 „Den Gesichtssinn ansprechend, öffnet die Malerei die Augen für die christliche Heilswahrheit, und, ihr untergeordnet, für die gesamte Schöpfung, die durch ein Ensemble aus Kunstwerken, Naturalia und wissenschaftlichen Instrumenten, bei denen wiederum die optischen Geräte den wichtigsten Platz einnehmen, verkörpert sind. In der Hierarchie der Sinne kommt hierbei dem Gesichtssinn die führende Rolle zu.“ Karl Schütz, „Europa und die vier Erdteile bei Jan van Kessel“, in: Klaus Bußmann, Elke A. Werner (Hg.), „Europa“ im 17. Jahrhundert: Ein politischer Mythos und seine Bilder, Stuttgart (Franz Steiner) 2004, S. 296f. 68 Justus Müller Hofstede, „‚Non Saturatur Oculus Visu‘ – Zur ‚Allegorie des Gesichts‘ von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d. Ä.“, in: Herman Vekemann, Justus Müller Hofstede (Hg.), Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur im 16. und 17. Jahrhundert, Erftstadt (Lukassen) 1984.

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Derart betrifft im Galeriebild die sinnliche Präsenz letztlich stets auch das jeweilige Bild selbst. Es handelt sich weder um empirische Dokumentationen von existierenden Kunstkammern oder Kabinetten noch um rein allegorische Abstraktionen, sondern um Programmbilder einer geradezu frenetischen Sinnlichkeit, die vielfach gegen die „ikonoklastischen Esel“69 gerichtet waren und die eigene Kultiviertheit im Umgang mit den sinnlichen Qualitäten hochhielten. Die Galeriebilder stehen im Kontext einer intimen bürgerlichen Repräsentationskultur, einer im Sinn einer meditativen spirituellen Praxis erneuerten ars sacra wie bei Borromeo, und schließlich einer sich im Medium der Sammlung totalisierenden Herrschaftslegitimation, wie sie vor allem Rudolf II. betrieben hatte. Reiche Bürger konnten hiermit Seite an Seite mit Adel und Klerus ihr Repräsentationsbegehren stillen. Entscheidend für das Galeriebild ist daher nicht die Eindeutigkeit einer sozialen Zuordnung und somit ein ebenso eindeutiger Abgrenzungsakt, der die ästhetische Unterscheidungsfähigkeit ein für alle Mal als soziale Distinktion festschriebe; vielmehr zeigt es die Überlagerung ästhetischer und sozialer, sinnlicher und reflexiver, profaner und spiritueller Sphären und thematisiert die Schnittstellen dazwischen. Das Bild selbst, wie es uns in Gemälden wie „Der Sehsinn“ und „Das Sehen und der Geruch“ entgegentritt, stellt daher nicht den rationalen Rahmen einer spezifischen, malerischen Form dar, sondern eine sinnliche Fläche voller „intertextueller Verzahnungen“, rhetorischer Verweise und konkreter Intensitäten. Hierbei handelt es sich jedoch dezidiert nicht um Säkularisierungsweisen in Richtung eines rein künstlerischen, autonomen und selbstreflexiven Zusammenhangs.70 Der selbstreflexive, „meta-pikturale Diskurs“ steht weder der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung der Gemälde noch deren spiritueller Aufladung entgegen; ganz im Gegenteil bildet er deren Voraussetzung und steht in deren Diensten. Die Reflexivität betrifft gleichsam das Sinnlich-Spirituelle in seiner modernen Form. Dementsprechend repräsentiert das Galeriebild keineswegs einen „entzauberten“ Ort; ganz im Gegenteil handelt es sich um einen Ort voller „theologischer Mucken“,71 wie sie 69 Wie sie in mehreren Galeriebildern von Frans II. Francken als Antipoden der kultivierten Sammlerkultur zu sehen sind. Siehe: Frans II. Francken, David Teniers d. J., „Kunstkabinett mit ikonoklastischen Eseln“, ca. 1615 und ca. 1650, London, The Courtauld Gallery, 58,5 × 79 cm. https://www.courtauldprints.com/image/188014/ francken-ii-frans-teniers-david-ii-the-interior-of-a-picture-gallery. 70 In diesem Sinne hatte Victor Stoichita die Galeriebilder interpretiert. Siehe: Victor  I. Stoichita, 1998 (Anm. 41), insbesondere S. 149–169. 71 Es handelt sich hierbei um keine reine Säkularisierung, anhand derer der Übergang von ikonischen Bildtypen zum modernen, autonomen Gemälde ablesbar wäre. Zu den „theologischen Mucken“ siehe wiederum Karl Marx über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ aus dem ersten Band des Kapitals.

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auch seine modernen Abkömmlinge als Museum und Ausstellungsraum nicht loszuwerden im Stande sein werden. Zwar werden sakrale und profane Gegenstände scheinbar wahllos miteinander in Verbindung gebracht – religiöse oder ikonische Bilder wie das Girlandenbild mit reinen Landschaften, paganen Mythologien und historischen Themen –, doch führt dies keineswegs zu einer Auflösung aller Unterschiede in einer spirituell entleerten Welt. Die Vielfalt der Differenzen und deren feine Ausbuchstabierung ist vielmehr Voraussetzung, ein gemeinsames, vereinheitlichendes Prinzip zu formulieren. Das Galeriebild repräsentiert derart gerade in seiner kaum fassbaren Fülle auf exemplarische Weise den gegenreformatorisch-dynastischen Komplex. Erst die Ähnlichkeit der einzelnen Phänomene erzeugt darin die Unterscheidbarkeit, etwa zwischen den im Bildraum situierten ‚wirklichen‘ Blumen und den in einzelnen Gemälden dargestellten Blumen, zwischen dem Bildlicht der einzelnen Landschaften und dem in die Palastarchitektur einfallenden Licht oder zwischen den verschiedenen: architektonischen, bildlichen und innerbildlichen Rahmungen, die jeweils unterschiedliche Ausblicke gewähren. Die einzelnen Gemälde des Galeriebildes schreiben sich nicht nur in die Logik der Sammlung ein; sie eröffnen stets auch Horizonte möglicher Bilder und Welten. Derart wird eine Kunst der ästhetischen Unterscheidung eingefordert, die die religiösen und politischen Dimensionen des Bildes nicht überwindet, sondern zu deren Qualifizierung im Dienste der Liebhaber bzw. der Connaisseure, des Patriziates ebenso wie des Klerus und der regierenden Fürsten, mit beiträgt. Der sinnliche, optisch-ästhetische Schein der Malerei tritt hier nicht einer Wahrheit entgegen, die notorischer Weise hinter ihm liegen müsste; er fungiert viel eher als das Organon einer Wahrheit, die sich nur auf der sinnlichen Fläche eines Gemäldes zeigen kann. Diese Fläche darf nicht im Sinne einer immanenten Ebene reiner Verkettungen an sich gleichwertiger Teile missverstanden werden; vielmehr bringt sie Differenzen überhaupt erst hervor und beinhaltet so eine strukturell-dynamische Dimension, durch die das Wechselspiel zwischen Fläche und Raum, Innen und Außen, Raum und Zeit,72 Detail und Ganzem, zwischen dem Realen, dem Repräsentierten und dem Reflexiven erfasst werden kann. Die Gesamtheit dieser Differenzen lässt sich jedoch ebenso wenig wie die Fülle an Details in Gegenständlichkeit wie Malweise im Sinne einer geschlossenen Totalität verstehen. Gerade der extrem differenzierende und nahsichtige Blick, wie ihn Jan Brueghel kultiviert hat, wird immer wieder 72

In „Das Riechen und das Sehen“ steht man im Hauptraum einer Bilderwand gegenüber, auf der viele Bilder hängen und vor der weitere gestapelt sind. Sie sind mit einem Blick erfassbar; auf der linken Bildseite öffnet sich jedoch eine tiefe Raumflucht, die man abschreiten müsste um ihre Schätze – letztlich nur in einer zeitlichen Abfolge – zu erfassen.

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neue Facetten entdecken, die die Aufmerksamkeit von jeder totalisierenden Operation zumindest abzulenken im Stande sind. Auch die schiere Anhäufung von Blumen oder Wild, Schmuckstücken und Instrumenten oder auch den Gemälden, wie vor allem in „Das Sehen und der Geruch“, weisen über jede abschließende Totalität hinaus. Dennoch sollte das synthetisierende Begehren auch in diesen Bildern nicht unterschätzt werden.73 Ganz im Gegenteil haben wir es hier mit einer dynamischen Totalität im Sinne eines „offenen Universums“ zu tun, das sich mikroskopisch in unendlichen Details verzweigt und gleichzeitig makroskopisch sich in immer weiter öffnende Räume ausweitet. Nicht umsonst sehen wir in diesen Bildern das neueste Arsenal an optischen Messinstrumenten wie Teleskop und Mikroskop, Quadranten und Sextanten, Astrolabe und Armillarsphären ausgebreitet. Diese Ansammlung impliziert über die konkrete Aktualität des Wissens hinaus eine ebenso historische wie transzendentale Dimension,74 der zufolge jedes zukünftige Wissen, jede empirisch-visuell erfahrbare Gegenständlichkeit immer schon im ebenso katholischen wie dynastischen Prinzip eines Universums der Bilder eingefangen werden kann. Zweifellos wird sich dieses Universum später nur mehr als Kunst symbolisieren können; es überwindet seine spirituell-politischen Konnotationen jedoch nicht, sondern verschiebt sie und schreibt sie in das symbolische Universum der Kunst mit ein. Das Unendliche im Endlichen zu repräsentieren wird sich von hier aus in der Idee von Kunst einnisten und ihr eine spezifische Form von Wahrheit verleihen. 6.4.

Verklärung und Gewalt. Die Pragmatik des synthetischen Bildes

6.4.1. Der nackte männliche Körper als Mythem Victor Stoichita hatte vorgeschlagen, zwei Arten der Integration von heterogenen Text- bzw. Bild-Teilen zu unterscheiden. In der zeitgenössischen Kunstliteratur gäbe es die Metapher des Blumenstraußes, die für „das Additive, die Assemblage und die ‚Bricolage‘“ stehe; im Gegensatz hierzu versammle die Biene nicht einfach die einzelnen Blumen zum Strauß, sie entnähme ihnen vielmehr einen Teil und verwandle ihn in Honig. Die Metapher des „poetischen 73 Elisabeth A. Honig, 2016 (Anm. 23) S. 198 bringt im letzten Absatz ihres Buches den schier unendlichen Detailreichtum der Brueghel’schen Malerei als ein anti-synthetisierendes Argument ins Spiel. Dadurch scheint mir ein wenig an seiner inneren Dialektik verloren zu gehen. 74 Hierzu siehe: Hans-Jörg Rheinberger, „A Tousend Flowers“, in: Lorraine Daston, Jürgen Renn, Hans-Jörg Rheinberger, Visions, Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 1998, S. 3–16.

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Honigs“ indiziere daher „Assimilation und Transformation“ und setze einen „alchemistischen“ Künstler-Typus voraus.75 Diese Unterscheidung ließe sich zumindest auf den ersten Blick gut auf die Mal- und Arbeitsweisen von Jan Brueghel und Rubens anwenden. Doch zweifellos transformiert auch Brueghel seine Ansammlungen von Gegenständen mittels dynamischer Formen der Verdichtung, kompositorischer Gewichtungen, der Intensivierung der Farbgebung oder einer Verschmelzung der Genres; und auch Rubens ‚versammelt‘, wie noch zu zeigen sein wird, immer wieder bestimmte Formen der Gegenständlichkeit, insbesondere das Tableau selbst. Voraussetzung für die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den beiden Künstlern scheint durchaus eine gewisse Differenz in den Auffassungen und Arbeitsweisen gewesen zu sein, allerdings auch eine bestimmte Nähe hinsichtlich der grundsätzlichen Zielsetzungen. Rubens mag in Brueghels Vorgaben durchaus etwas gefunden haben, was seinen eigenen Neigungen entsprach. Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, wie das synthetische Bild bei Rubens verstanden wird, dann stoßen wir im Vergleich mit Jan Brueghel zuallererst auf die Unterschiede in der Malweise, in den Formen der Kooperation, in den Themen und Formaten, und insbesondere in den Funktionsweisen der Gemälde. Und doch gibt es eine ähnliche Bildlogik, von der ausgehend allerdings vollkommen andere Akzente gesetzt werden. Wenn Brueghel die grundlegenden Elemente einer Grammatik des synthetischen Bildes ausbuchstabiert, dann hat Rubens diese Grammatik durch eine besondere Form der Pragmatik und der Performanz ergänzt; er hat sie mit seinem besonderen Temperament gleichsam zum Sprechen gebracht. Anfangs ist das synthetische Bildverständnis bei ihm noch stark auf die Dynamisierung der Kompositionen bezogen. Es handelt sich hierbei um monumentale Figurenkompositionen nach italienischem Vorbild, angelehnt an Michelangelo und Tintoretto, und somit möglichst weit von der Tradition der Niederländischen Malerei entfernt. Allerdings wird dieses Kompositionsprinzip auf die Formgelegenheiten Antwerpens, etwa das Triptychon übertragen.76 Hinzu kommen Aspekte einer besonderen Sinnlichkeit und Lebendigkeit in Malweise und Farbgebung, in denen sich eine genaue Rezeption der venezianischen Malerei zeigt, sowie eine Affektsteigerung im Ausdruck der Figuren, die bald schon alle italienischen Vorbilder, selbst Caravaggio, hinter sich lassen wird. Jeweils werden hier ganz im Sinne der ‚Biene‘ einzelne stilistische, maltechnische und ausdrucksbezogene Elemente aufgegriffen und in die eigene Malerei transformiert. 75 Victor I. Stoichita, 1998 (Anm. 41), S. 154. 76 Sehr schön ist dies am Beispiel der „Kreuzaufrichtung“, eines der ersten Antwerpener Bilder zu sehen. Hierzu siehe unten.

Abb. 43 Peter Paul Rubens, „Die Kreuzabnahme“, 1612–1614; Antwerpen, Kathedrale, 421 × 311 cm (Mitteltafel).

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Allerdings reicht die Bienen-Metapher nicht aus, um die Spezifik der gesamten Rubens’schen Bild-Pragmatik zu erfassen, denn der Prozess der Transformation, den die Biene bewerkstelligt, ist immerhin noch ein chemischbiologischer Prozess, während bei Rubens der Akt der Verwandlung zu einem quasi theologischen Prinzip wird, ein in der Malweise, aber auch im Bildverständnis verinnerlichtes Prinzip, durch das die Idee der Verwandlung selbst spezifiziert und wiederum verwandelt wird. Die in ihr wirkenden Kräfte transformieren nicht einfach natürliche Stoffe; sie verändern die Natur des Stoffes im Sinne einer Transfiguration oder Transsubstantiation. Meine These wird sein, dass bei Rubens die Vielzahl an Themen, die eine solche grundlegende Verwandlung der Stofflichkeit betreffen, symptomatisch für den gesamten malerischen Ansatz steht, auf den die einzelnen methodischen Elemente der Dynamisierung und der Intensivierung hinstreben.77 Theologisch wird eine solche grundlegende Transformation zumeist als eine Verklärung oder Verherrlichung des christlichen Leibes nach der Auferstehung beschrieben. Dieser Leib ist immer noch ein irdischer Körper, der die Zeichen der Kreuzigung trägt; er hat aber gleichzeitig den Tod bereits überwunden und strahlt somit eine andere, transzendente Substanzialität aus. Mithin betrifft der verklärte Leib die entscheidenden Glaubensgrundsätze des gesamten Christentums. Wenn Rubens die ‚Verklärung‘ zur entscheidenden Herausforderung seiner Malerei macht, „verstellt“ er sich daher nicht; er betreibt keineswegs oberflächliche Propaganda, zu der er innerlich distanziert bliebe. Vielmehr verinnerlicht er den Glauben als künstlerische Methodik und bringt somit eine besondere Dynamisierung des gegenreformatorisch-dynastischen Komplexes zur Geltung. Die Mobilisierung der Sinne, der Affekte und einer körperbetonten Sinnlichkeit stellen den entscheidenden Modus einer solchen Malerei als Transsubstantiation dar. Ihre sinnliche Oberfläche ist gleichzeitig ihr spiritueller Gehalt, der wiederum im Effekt der Bildwirkung zutage tritt. Dieser Ansatz reicht weit über jede traditionelle Bild-Pädagogik hinaus. Die Betrachtenden wollen nicht belehrt, sondern in ihrer Emotionalität gepackt, gleichsam selbst transfiguriert und in einen verklärten existenzialen Zustand versetzt werden. Im Sinne einer jesuitischen Mobilisierung78 scheint es hier keinen 77 Deshalb ist es nicht genug, generell von einer universellen „Kraft der Verwandlung“ als wesentliche Qualität der Rubens’schen Kunst zu sprechen. Siehe: Gerlinde Gruber, Sabine Haag, Stefan Weppelmann, Jochen Sander (Hg.), Rubens. Kraft der Verwandlung, Ausstellungskatalog, Wien, Kunsthistorisches Museum, Frankfurt am Main, Städel Museum, 2017, 2018. 78 Hierzu siehe: J. Michelle  Molina, To Overcome Oneself: The Jesuit Ethic and the Spirit of Global Expansion, 1520–1767, Berkeley, Los Angeles (The University of California Press) 2013.

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kategorischen Gegensatz zwischen dem Irdischen und dem Transzendenten mehr zu geben. Gerade im allzu Irdischen kann das Transzendente in Erscheinung treten. Die Rubens’sche Malerei wird zum Organon einer solchen Verklärung; sie verknüpft alles analytisch Getrennte und bietet sich selbst als eigentliche Realisierung einer spirituellen Synthesis an. Allerdings zeigen sich hier zwei grundlegende Probleme. Zum einen hatte nicht nur das Konzil von Trient, sondern darüber hinaus noch das gesamte post-tridentinische Schrifttum bis hin zu den Synoden von Mechelen (1607) und Antwerpen (1620) neben der Darstellung von apokryphen Heiligen auf den Altären gerade diese sinnlichen Momente in der Darstellung religiöser Themen untersagt. Der einflussreiche reformkatholische Schriftsteller Johannes Molanus (1533–1585) wollte die Nacktheit selbst noch des neugeborenen Jesus vermieden sehen, und alle Kleidung sollte so schlicht wie möglich ausfallen, um jede Anzüglichkeit zu unterbinden.79 Und doch finden wir bei Rubens beides. Er wird nicht nur die jesuitischen Gründungsväter Ignatius und Franz Xaver noch vor ihrer Heiligsprechung auf dem Hauptaltar der Jesuiten-Kirche in Antwerpen in der heilenden und Wunder vollbringenden Pose Christi darstellen, er wird sogar die körperliche Sinnlichkeit gerade des auferstandenen Christus, in der Begegnung mit Maria Magdalena etwa, auf bisher unbekannte und geradezu unerhörte Weise zuspitzen. David Freedberg spricht hier von einem grundsätzlichen und letztlich nicht lösbaren Problem oder Paradox, dass nämlich trotz oder vielleicht auch wegen dieser gezielten Vorschriften sich die flämische Malerei genau auf deren Gegenteil hin bewegte.80 Das zweite Problem besteht darin, dass dem Akt der Transfiguration notwendigerweise ein Moment der Gewalt hinsichtlich dessen innewohnt, das verwandelt oder verklärt werden soll. Ein ganzes Repertoire an unterschiedlichen Gesten der Überwindung und der Verwerfung, der Negierung und der Unterwerfung taucht hier auf. Wir werden bei Rubens eine bis dato unbekannte Performanz einer ebenso expliziten wie impliziten Gewalt sehen, in der politisch-absolutistische, sexuelle und religiös-missionarische Aspekte ineinander greifen. Tatsächlich ist hier wenig von einem „kritischen Rubens“ zu spüren. Gewalt wird in seinen Bildern durchaus auch erlitten, und es fehlt nicht an Empathie hierfür; sie wird aber immer auch ausgeübt und häufig gerade in Form einer zügellosen Ausübung legitimiert. Im Eucharistie-Zyklus der 1620erJahre ist es die Gewalt der Wahrheit selbst, die alle Gegner zermalmt; sie tritt in Form einer Allegorisierung des Lichts auf, das die Dunkelheit endgültig zu 79 Zu Molanus siehe: David Freedberg, „Johannes Molanus on Provocative Paintings“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes,Band XXXIV, 1971, S. 229–245. 80 David Freedberg, „Painting and the Counter Reformation in the Age of Rubens“, in: Peter C. Sutton, 1993 (Anm. 4), S. 139f.

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vertreiben im Stande sein soll. Wir befinden uns hier an den reaktionären Ursprüngen der Aufklärungs-Metaphorik. Einer der ersten Aufträge, die Peter Paul Rubens (1577–1640) nach seiner Rückkehr von Bürgermeister Nicolaas Rockox erhält, betrifft eine monumentale „Anbetung der Könige“ für das Antwerpener Rathaus.81 Es handelt sich hierbei um das seit dem frühen 16. Jahrhundert populärste Thema der Antwerpener Malerei, das die Versöhnung von Reichtum und religiöser Inbrunst sowie die Anerkennung der irdischen durch die himmlische Macht bezeugt. Die Erinnerung an den Reichtum der Stadt steht hier zweifellos programmatisch für das Ansinnen einer ökonomischen Rekonstruktion in den nun anbrechenden Zeiten des Waffenstillstands und unter den gegebenen politisch-religiösen Bedingungen. Das Bild versammelt und verdichtet eine große Menge an Menschen und Tieren; es kontrastiert statische Aspekte – den klassizistisch gefassten und durch mächtige Säulen markierten Raum der Heiligen Familie auf der linken Bildseite – und äußerst dramatische Momente in der Bewegtheit der Figuren im Rest des Bildes, in der komplexen, rot, gelb und blau variierenden Farbgebung und insbesondere in den, in den Himmel gehaltenen, flackernden Fackeln. Dynamisiert wird das gesamte Geschehen durch eine markante Schräge, die von den Köpfen der Kamele und der auf ihnen sitzenden Reiter in der oberen rechten Bildecke ausgehend nach links unten auf das entscheidende Ereignis zu hinführt. Dort bietet Maria das göttliche, auf einer Wiege liegende Kind der Anbetung durch den ersten König an, der dem Kind kniend ein geöffnetes, goldenes Gefäß reicht, mit dem es spielen zu wollen scheint. Der Glanz des Metalls und das heilige Strahlen des Kindes verschmelzen miteinander; der irdische Reichtum verwandelt sich derart in einen himmlischen Schatz.82 Kräftige Männer laden weitere Geschenke ab, und selbst die Pferde und Kamele scheinen an der Anbetung teilzunehmen; sie werden jedoch ebenso wie die aus dem Hintergrund andrängenden Männer von den beiden anderen, in der Bildmitte situierten und in leuchtende Gewänder gehüllten Königen in ihrer Dynamik gebremst.83 Alle scheinen aufgerufen, aber nur wenige auserwählt, sich dem Kind nähern zu dürfen. 81 Peter Paul Rubens, „Die Anbetung der Könige“, 1609 und 1628/1629, Madrid, Prado, 355,5 × 493 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Adoration_of_the_Magi_(Rubens,_Madrid)#/ media/File:La_adoraci%C3%B3n_de_los_Reyes_Magos_(Rubens,_Prado).jpg. Hierzu siehe: Hans Ost, Malerei und Friedensdiplomatie: Peter Paul Rubens’ „Anbetung der Könige“ im Museo del Prado zu Madrid, Köln (Venator und Hanstein), 2003. 82 Siehe: Peter Brown, Der Schatz im Himmel: Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs, Stuttgart (Klett-Cotta), 2018. 83 Das Bild ist dynamisch äußerst komplex komponiert. Die Figur des zweiten Königs, genau in der Bildmitte stehend und in leuchtend rotes Gewand gehüllt, schützt den Nahbereich der Heiligen Familie gleichsam vor dem, von der rechten Bildseite her nachrückendem Gefolge, während der dritte König links von ihm und frontal wiedergegeben

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Die kräftigen Männer im Vordergrund dieser Anbetung, die sich sicherlich der Rezeption von Michelangelo und antiker Skulpturen verdanken, werden im Folgenden zum eigentlichen Schauplatz von Transformation und Transsubstantiation. In den ineinander verknäulten Leibern des „Bethlehemitischen Kindermordes“ oder in der gemeinsamen Anstrengung der Schergen in der „Kreuzaufrichtung“84 stehen die äußerst muskulösen Körper noch für irdische Kräfte, die eine souveräne, jedoch im Bild nicht sichtbare Gewalt exekutieren. Der ebenfalls muskulöse Körper des gemarterten Jesus bleibt dieser Gewalt unterworfen; er unterscheidet sich nur durch die Lichtführung von den anderen Leibern. Dynamische Formen der Verdichtung kommen hierbei zum Tragen, die die Gewalt des Bildes selbst evozieren. In der „Kreuzaufrichtung“ scheint es eher die strikt diagonale Form des dargestellten Moments in seiner gebündelten Gewalt als das Ereignis selbst zu sein, das die Frauengruppe auf dem linken Seitenflügel und das Pferd auf dem rechten zurückweichen lässt. Das Bild bindet so nicht nur das Hauptbild und die beiden Flügel erzählerisch ineinander; es verknüpft gleichzeitig Aktion und Reaktion, das Ereignis und die rezeptive Erfahrung vor dem Bild. Doch bereits im nächsten Auftrag von Rockox tritt ein anderes Moment in den Vordergrund: nicht die durch die körperliche Kraft bewirkte Gewalt, sondern die Verwandlung der körperlichen Kraft selbst. Für sein privates Haus in der Keizerstraat hatte der Bürgermeister ein Kaminbild über den alttestamentarischen Helden Simson bestellt. Rubens wählte den Moment, in dem der Held in postkoitaler Erschöpfung im Schoße Delilas, seiner verräterischen Geliebten, schläft, wobei ihm die Haare geschnitten werden und er dadurch seine übernatürlichen, magischen Kräfte verliert.85 (Abb. 42) den Bildhintergrund abdeckt. Er ist in blau-weißes, stark orientalisiertes Gewand gehüllt und repräsentiert dunkelhäutig den afrikanischen Kontinent. 84 Peter Paul Rubens, „Der Bethlehemitische Kindermord“, 1611/12, Ontario, Art Gallery, 142 × 182 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Peter_Paul_Rubens_Massacre_of_the_ Innocents.jpg. Peter Paul Rubens, „Die Kreuzaufrichtung“, 1610 /11, Antwerpen, Kathedrale, 462 × 361 cm (Mitteltafel), 462 × 150 cm (Seitenflügel). https://en.wikipedia.org/wiki/The_Elevation_ of_the_Cross_(Rubens)#/media/File:Rubens_-_The_Raising_of_the_Cross.jpg. 85 Peter Paul Rubens, „Simson und Delila“, 1609, London, National Gallery, 185 × 205 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Samson_and_Delilah_(Rubens)#/media/File:Samson_ and_Delilah_by_Rubens.jpg. Das Bild ist auf einem Galeriebild von Frans II. Francken zu sehen, wo es über dem Kamin im repräsentativen Salon von Nicolaas Rockox hängt. Generell zum Kontext siehe: David Jaffé, „Rubens‘ Samson and Delilah, An Antwerp Chimney Piece in Context“, in: Katalog Samson and Delilah: a Rubens painting returns, Antwerpen, Rockoxhuis; Wien, Liechtensteinmuseum, 2007, S. 11–18.

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Wiederum verknäueln sich die Leiber, und Rubens lässt die Hände der Delila, des geschickten Barbiers und der hinter ihnen stehenden älteren Frau ineinander greifen; die gesamte Szenerie ist in das flackernde Licht mehrerer Kerzen getaucht, und im Hintergrund stehen die Soldaten der Philister bereit, die Simson in wenigen Augenblicken gefangen nehmen und blenden werden. Der eigentliche Schauplatz des Bildes bleibt jedoch der noch vollkommen entspannte, wiederum in verschraubter Haltung wiedergegebene Körper des Helden, dessen gewaltiger linker Arm und die gebirgige Rückenmuskulatur das Bildzentrum in pyramidaler Anordnung bestimmen. Doch diese Muskeln symbolisieren nur mehr eine schwindende Kraft, sie lassen die Größe des Verlusts dieser heldischen Potenz erahnen; sie üben jedoch keinerlei Gewalt mehr aus. In der Malweise dominiert nicht mehr die skulpturale Definition der einzelnen Muskeln durch Licht und Schatten im Sinne Michelangelos, sondern ihre malerische Erfassung durch die umschließende, in ihrer lasierenden Transparenz farblich differenzierte und selbst verletzlich wirkende Haut sowie deren situative Einbindung vor allem mit dem rosafarbenen Gewand der Delila und dem gelblichen Teppich, auf dem das rechte Bein des Simson ruht. Ich möchte vorschlagen, diesen schlafenden, ‚entmächtigten‘ Held nicht allgemein moralisch, sondern konkret und kontextbezogen zu verstehen, nämlich im Sinne eines Sich-Einlassens und –Arrangierens mit den ‚verführerischen‘ Bedingungen der spanischen Herrschaft. Simson ist ja immer wieder als jene rebellische Figur beschworen worden, die den Aufstand der Niederlande verkörperte. Nicht nur Rubens‘ Vater, der die Stadt fluchtartig verlassen musste, sondern auch Rockox selbst hatten noch dem ‚alten‘ Regime der calvinistischen Republik gedient; Rockox war sogar unmittelbar an der Verteidigung der Stadt gegen die Truppen von Farnese beteiligt. Es könnte sich also bei diesem privaten Auftrag durchaus um eine „verborgene“ Allegorie86 handeln, in der die Synthesis von skulpturalen und malerischen Aspekten mit der Transfiguration eines Körpers einhergeht. Damit in Einklang könnte auch die Bejahung des Liebesaffekts – im Gegensatz zu einer moralischen Verurteilung – stehen, wie sie Martin Warnke im Kontext der anti-stoischen Wende der Lipsius-Schüler auszumachen meinte.87 Denn auf ähnliche Weise werde auch in jenem programmatischen Bild zur stoischen Ethik, dem „Tod des Seneca“ von 1612/13,88 eine subtile Unterwanderung des stoischen ApathieIdeals mit den Mitteln der Malerei geleistet. In diesem Bild bildet tatsächlich 86 87 88

In einem ähnlichen Sinn wie Panofskys „disguised symbolism.“ Martin Warnke, 1965 (Anm. 10), S. 29. Peter Paul Rubens, „Der Tod des Seneca“, 1612/13, München, Alte Pinakothek, 185 × 155 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rubens-_Der_sterbende_Seneca.jpg.

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eine antike Skulptur, die damals für den sterbenden Seneca gehalten wurde, das direkte Vorbild. Auch in der Übertragung in die Malerei bleibt die skulpturale Qualität erhalten. Seneca steht aufrecht, fast nackt und frontal in der Bildmitte, die Arme kontrapostisch bewegt. Der muskulöse Körper scheint jedoch seine Spannung zu verlieren, denn Hüfte und Knie deuten bereits eine sinkende Bewegung an. Zu seiner Rechten ist ein befreundeter Arzt zu sehen, der ihm die Ader am Unterarm öffnet; unterstützt von dem wärmenden Wasser in der Wanne, in der der Philosoph steht, scheint das Blut rasch abzufließen. Auf der linken Seite protokolliert ein kniender Jünger noch die letzten Worte – in seinem Buch sind die ersten Buchstaben des Wortes VIRTUS zu erkennen, während im Hintergrund die Repräsentanten der staatlichen Gewalt, zwei Soldaten Neros, das Geschehen aufmerksam beobachten. Warnke wollte hier „hinter der Maske stoischer Tugendhaftigkeit“ eine „eisige Erstarrung des Menschen unter dem Postulat der Apathie“ erkennen.89 Dass in dieser Figur keine positive Transfiguration des Körpers erkennbar ist, sondern nur ein Verlust an körperlicher Kraft, der wiederum den Verlust an Attraktivität der stoischen Ethik andeuten könnte, mag diese Deutung stützen. Tatsächlich scheint Rubens die Hässlichkeit der Figur in ihren, im Verfall sichtbar werdenden Falten und ungelenken Bewegungen mit den spezifischen Mitteln der Malerei zumindest andeuten zu wollen. Als heroisches Tugend-Beispiel taugt Seneca ohnehin wenig, führt dieser hier doch noch die eigene Selbsttötung auf Geheiß des Kaisers, seines ehemaligen Zöglings, durch. Das Bild konfrontiert also das heroische, durch die skulpturale Form überlieferte Selbstbild der stoischen Philosophie mit einer malerischen Interpretation, in der die Selbsttötung weniger als ein transformierendes, heroisches Opfer denn als eine sich selbst preisgebende Anpassung an die Verhältnisse erscheinen mag.90 In jedem Fall scheint Rubens sich in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr nach Antwerpen stark mit solch passiven, sterbenden, gequälten, schlafenden oder auch nur betrunkenen männlichen Figuren beschäftigt zu haben. Neben Simson und Seneca sind es vor allem der gefesselte Prometheus, der schlafende Silen und etwas später der römische Held Decius Mus, die jeweils die Kontrolle über ihre Kräfte durch unterschiedliche Formen äußerer Einwirkung verlieren. Die alttestamentarischen, historischen oder mythologischen Quellen für die jeweilige Erzählung sind äußerst divers, doch die Schicksale der Helden ähneln 89 Martin Warnke, 1965 (Anm. 10), S. 26. 90 Warnke verweist auf die vielen Todeserfahrungen von Rubens im familiären wie im freundschaftlichen Umfeld, die die Unzulänglichkeit des stoischen Ideals erkennen ließen: der Lehrer des stoischen Ideals, Lipsius stirbt 1606, die Mutter stirbt 1608, der Freud Adam Elsheimer 1610 und der Bruder Philipp im Jahr 1611.

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einander.91 Sie alle verlieren ihre körperliche Kraft, jedoch nicht notwendigerweise ihre heldische Potenz; manche scheinen gerade durch diesen Verlust ihre besondere Qualität erst zu gewinnen. Zumeist ist es die Sinnlichkeit des nackten männlichen Körpers zwischen Kraft und Verletzlichkeit, moralischvernünftigem Anspruch und triebhafter Begierde, die zum Austragungsort eines immer wieder neu akzentuierten Ambivalenz-Konflikts wird. Im Bild mit dem gefesselten Prometheus scheint dessen grausame Bestrafung für den Diebstahl des Feuers durch den überaus effektvoll von Frans Snyders gemalten Zeus’schen Adler zur Voraussetzung der menschlichen Kultur zu gehören;92 diese beruht gleichsam auf List und Strafe. Und der trunkene Silen verliert nicht nur Vernunft und Bewusstsein, er gewinnt auch Inspiration und Weisheit im Rausch.93 In einem etwas späteren Bild wird Rubens sich selbst als ein solcher, wankender Silen porträtieren.94 Anstelle einer Überwindung der Affekte im Sinne der Stoa, scheint Rubens in allen diesen Bildern eine Vielzahl von einander widersprechenden Affekten zu erforschen. Er versammelt gleichsam die unterschiedlichen Facetten eines Mythems95 und richtet sie auf ein gemeinsames Moment hin aus: Er inszeniert somit kein reines Affekt-Theater, sondern das Zutage-Treten der passiven Potenzen des nackten männlichen Körpers im Angesicht übergeordneter Gewalten. Diese passiven Potenzen bleiben jedoch noch in ihrer jeweiligen Spezifik und Situiertheit gefangen, das skulpturale Erbe transformiert sich noch nicht vollkommen in eine malerische Rhetorik des Bildes. Die entscheidende Figur in diesem Drama um das Pathos, die Leidensfähigkeit und Affektivität des männlichen Körpers zwischen Kraft und Gewalt, wird der tote bzw. wieder auferstandene Christus sein. In der „Kreuzabnahme“ von

91 Zu diesen Quellen siehe insbesondere: Aneta Georgievska-Shine, Rubens and the Archaeology of Myth, London, New York (Routledge) 2009. 92 Peter Paul Rubens, Frans Snyders, „Der gefesselte Prometheus“, 1611/12, Philadelphia Museum of Art, 243,5 × 209,5 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Prometheus_Bound_ (Rubens)#/media/File:Rubens_-_Prometheus_Bound.jpg. 93 Zum Wiener „Silen“ von 1610–1612 siehe: Christine Göttler, „‚Bootsicheyt‘: Malerei, Mythologie und Alchemie im Antwerpen des frühen 17. Jahrhunderts. Zu Rubens’ Silen in der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste in Wien“, in: Valeska von Rosen (Hg.), Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Wiesbaden (Harassowitz) 2012, S. 259–301. 94 Zu diesem Bild mehr im nächsten Abschnitt: Die unaufhebbare Differenzialität des synthetischen Bildes. 95 Als Mytheme bezeichnet Claude Lévi-Strauss die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Mythen, vergleichbar den Phonemen in der Sprache.

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1612–1614 kulminiert die anti-stoische Affektlehre;96 (Abb. 43) es kommt zu einer Zuspitzung der versammelten affektiven Qualitäten hin auf eine zentrale Idee der Transfiguration oder Transsubstantiation, in der die Malerei selbst zur entscheidenden Agentin einer neuen Kraft jenseits des Antagonismus von körperlicher Kraft und staatlicher Gewalt wird. Bereits in der zeitgenössischen Kritik am Ideal der Apathie wird Christus als Gegenfigur zum stoischen Weisen bestimmt.97 Nicht der Rückzug von der Welt im Angesicht von deren Sündhaftigkeit und Gewalt, sondern nur der aktive Durchgang durch die am eigenen Körper erlittene Gewalt kann jene Idee einer göttlichen Selbstopferung im Dienste der Erlösung aller hervorbringen. Ein solcher, durch und durch irdischer und menschlicher Tod bedeutet keineswegs eine Resignation in Hinblick auf ein abstraktes Tugendideal, sondern die Verwandlung der Resignation oder Trauer in einen starken Affekt eines letztlich ultimativen Optimismus hinsichtlich der realen Präsenz Gottes im toten Körper Jesu. Genau das wollte die tridentinische Bilderlehre nicht nur dargestellt, sondern kommuniziert wissen. Die Einfühlung in die christologische Leidensgeschichte wird zur vornehmsten Aufgabe der Malerei erklärt, einer Kunst, die das Pathos nicht auf Distanz hält oder im Akt der Betrachtung ‚abführt‘; auch sollen die frommen Leidenschaften nicht durch illustrative Erzählungen eingelullt, sondern durch die Evokation der zentralen Glaubensinhalte selbst geweckt oder entfacht werden. Eine solche Malerei produziert keine Idole; sie verleiht der Idee der Transsubstantiation eine weit über das bloß verkündete Wort hinausreichende unmittelbare Evidenz in der Erfahrung. Rubens realisiert hier die tridentinischen Vorgaben nicht im Sinne fester Regeln, sondern in der synthetisierenden Aneignung von mythologischen, alchemistischen und theologischen Quellen. Die Kunst der Malerei wird zum Schauplatz der grundlegenden Verwandlung eines Körpers und der Welt insgesamt; und die Wahrheit kann so zu einer Sache der Erscheinung in Bild und Malerei werden. Das gewaltige Bild der „Kreuzabnahme“ stellt das Mittelstück eines Trip­ tychons dar, wobei die Seitenflügel hier als weitgehend eigenständige Bilder fungieren. Die Integration der drei Bilder geschieht nicht mehr formal wie in der „Kreuzaufrichtung“, sondern durch das Zusammenführen unterschiedlicher Bilder im Namen einer gemeinsamen Idee, nämlich des Tragens oder der Trägerschaft Christi. Der Heilige der Schützengilde, die den Altar in Auftrag gegeben hatte, war Christophorus, der der Legende nach im Christuskind 96 97

Peter Paul Rubens, „Die Kreuzabnahme“, 1612–1614; Antwerpen, Kathedrale, 421 × 311 cm (Mitteltafel) https://en.wikipedia.org/wiki/The_Descent_from_the_Cross_(Rubens)#/ media/File:Descent_from_the_Cross_(Rubens)_July_2015-1a.jpg. Martin Warnke, 1965 (Anm. 10), S. 22.

Abb. 44 Peter Paul Rubens, „Die Wunder des Heiligen Franz Xaver“, 1617/18, Wien, Kunsthistorisches Museum, 535 × 395 cm.

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das Gewicht der Welt über einen Fluss trägt und der als apokrypher Heiliger nach den Regeln des Tridentinums nur mehr auf der Rückseite des Triptychons dargestellt werden durfte. Auf den Seitenflügeln sind eine Visitations-Szene – die schwangere Maria besucht Elisabeth, die Mutter des Täufers – und eine Darbietung im Tempel zu sehen, wobei ein alter Priester das göttliche Kind trägt.98 Hier herrscht, durch klassizistische Architekturteile ebenso wie durch eine verhaltene Gestik der Figuren und eine prächtige Farbgebung bestimmt, ein jeweils feierlicher, renaissance-artiger Ton vor. Im Gegensatz hierzu regiert auf der Mitteltafel das reine Pathos. Ein greller Lichteffekt, fokussiert auf das leuchtend weiße Leinen, auf dem der Gekreuzigte vom Kreuz herabgelassen wird, akzentuiert das Geschehen vor einem weiten, dunklen Himmel, über dessen niedrig angesetzter Horizontlinie noch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu sehen sind. Wir haben nun tatsächlich einen Leichnam vor uns, aus dem alle irdischen Kräfte gewichen sind. Er trägt noch die Wundmale seines Leidens, und das austretende Blut ist bereits gestockt und bräunlich gefärbt. Doch gerade dieses Tot-Sein ist mit äußerster malerischer Lebendigkeit und Ausdrucksstärke wiedergegeben, sowohl hinsichtlich der Form, in der dieser kraftlose Leib durch das Bild gleitet, als auch hinsichtlich seiner fleischlichen Substanz. Die kräftigen Arme von zwei auf Leitern stehenden Helfern lassen den toten Jesus vom Kreuz herab, wobei einer von ihnen das Leinen mit den Zähnen hält. Seitlich flankiert von Josef von Arimathäa und Nikodemus wird der Leichnam schließlich von den drei Marien und dem Apostel Johannes, dem hier in leuchtendes Rot gekleideten Lieblingsjünger Jesu, aufgefangen, wobei Johannes, der geradezu mühelos das gesamte Gewicht hält, und Maria Magdalena, die sich zärtlich des linken Fußes annimmt, hervorgehoben sind. Wir haben es hier nicht einfach mehr mit einer Erzählung aus dem Leben und Sterben Jesu zu tun, sondern mit einer entscheidenden christologischen Dimension. Die urchristliche Gemeinde nimmt hier den Corpus Christi in Empfang. Ihre gemeinsame Aktion stiftet die Kommunion und nimmt so das Sakrament der Eucharistie aus dem Abendmahl auf.99 Christus wird g­ leichsam 98 Rockox sieht ihm über die Schulter. Als Mitglied der Schützengilde war er auch an diesem Auftrag beteiligt. 99 Hierzu siehe: Jan Bialostocki, „The Decent from the Cross in Works by Peter Paul Rubens and His Studio“, in: The Art Bulletin, Vol. 46, No. 4 (Dec., 1964), S. 514: „A Baroque unity of dynamics and action prevails in the Antwerp picture. Eight persons frame Christ’s body, each one matching the one opposite. They extend their hands, which, although in general do not touch the body, constitute an expression of the intentional sharing in the action, of „communion“ in service of the Corpus Christi, i.e., the Eucharist: it is an image of the community of the Church. The body of Christ is endowed with its own dynamics. In spite of his death there is no sign of the weight of the body or even of physical effort to support it; the dynamic effect is concentrated in the fluent gliding down of the bright form of the

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ins Herz der Gemeinde gelegt, wie es in zeitgenössischen Predigten heißt. In seiner malerischen Erfassung bringt dieser Corpus selbst bereits die Idee der Transsubstantiation zur Erscheinung. Nicht nur schaffen die vom Todeskampf geprägten, ekstatisch verzerrten Züge und die vielfach geknickte rechte Körperseite, der ein durchgehender halbkreisförmiger, das Gleiten ermöglichender Schwung auf der linken Körperseite entspricht, eine Pathosformel, wie sie der antiken Skulptur unbekannt war.100 Es ist vor allem die nun ganz buchstäblich als Inkarnat verstandene, blau unterlaufene, rosa schimmernde Haut, an der sich die fundamentale Verwandlung des Fleisches vollzieht, und somit die göttliche Präsenz im menschlichen Leib, das ewige Leben im toten Körper erscheinen kann.101 Mit dieser Betonung des gemeinschaftlichen Handelns mag durchaus noch eine Referenz an die protestantische, antihierarchische und kongrega­ tionalistische Auffassung von der Natur der Kirche verbunden sein; die eucharistische Fassung des Themas und ihrer malerische Ausführung wenden diese jedoch entschieden ins Reformkatholische. Auch sind die Struktur und Saviour’s body. St. John does not so much support as receive Christ’s body. His share and that of Mary Magdalene are the most important. The Virgin, as usual in Rubens’ pictures of this subject, does not play an essential role. Rubens did not take up the human motif of her suffering. Precisely that motif dominated in Italian versions, as a secondary but important theme. Together with the image of the Redemption the Italians showed the human and emotional aspect of the scene. Rubens’ Mary takes part in the chief action; she partakes in the divine work of Redemption. But the human motif shifts in Rubens’ pictures to the relation: Christ-Magdalene. The importance of Mary Magdalene, even in this first version of the subject, may be seen in the fact that the Consecration of the triptych took place not on St. Christopher’s day, but three days earlier, on the feast of St. Mary Magdalene, July 22, 1614.“ 100 In vielen Varianten hat Rubens versucht, sich dieser entscheidenden Pathosformel anzunähern und damit jene Leidensgesten, wie sie in der Malerei und Skulptur des 14. Jahrhunderts aufkamen zu modernisieren. 101 Daniela Bohde und Mechthild Fend beschreiben das Inkarnat folgendermaßen: „In der Kunsttheorie wie der Kunstgeschichtsschreibung bezeichnet es in der Regel die Hautfarbe. Doch verweist es dem Wortsinn nach auf das Fleisch (carne) und wurde im 14. Jahrhundert mit der christlichen Inkarnation enggeführt. Die Darstellung des Fleisches wird damit nicht nur zu einem Paradigma künstlerischen Schaffens erhoben, sondern dem Mysterium der Fleischwerdung des Wortes angeglichen. Mit dem Begriff „Inkarnat“ wird zudem auf die repräsentierte Substanz (Fleisch) angespielt, ohne die eigentlich dargestellte Oberfläche (Haut) zu erwähnen. Doch auch der Begriff Farbe ist auf eigentümliche Weise abwesend. Denn Inkarnat meint ja nicht das Fleisch selbst, sondern das mittels der Farbe dargestellte Fleisch oder genauer die gemalte Haut. Der Akt der Repräsentation wird also verschleiert und als ein metaphysischer Prozess der Fleischwerdung hingestellt. Auf der anderen Seite ist das Inkarnat im Laufe der Malereigeschichte häufig zu einem Ort geworden, an dem durch den sichtbaren Farbauftrag sowohl der mediale Charakter des Bildes wie die individuelle Handschrift des Künstlers zum Ausdruck kommen können.“ in: kritische berichte Bd. 31. Nr. 1, 2003, S. 95.

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die Monumentalität des zentralen Bildes deutlich von Daniele da Volterras Kreuzabnahme von 1541 und anderen italienischen Beispielen geprägt; der herabgleitende Leib scheint sogar direkt von Michelangelos Florentiner „Pietà Bandini“ von 1555 übernommen. Doch Rubens versammelt diese Vorbilder nicht einfach; er transformiert sie in ein bestimmtes Bildverständnis und eine spezifische Idee von Malerei. Statische Monumentalität und dynamisches Ereignis werden hierbei ebenso miteinander verschränkt wie das zentrale Affektbild mit seiner konzeptuellen Rahmung auf den Seitenflügeln, wobei alles auf das entscheidende theologische Faktum der Inkarnation im Zentrum des Bildsystems hin bezogen wird. Denn erst von hier aus gewinnt der göttliche Fall in die Welt zu deren Bedingungen ihren Sinn,102 was nichts anderes heißt, als den Kreuzestod als aktive Selbstopferung Christi zu verstehen. Es ist dieses Opfer, das von der Gemeinde im Dienste der eigenen Erlösung aufgefangen werden muss. Die betrachtende Gemeinde vor dem Bild muss dem Vorbild der im Bild repräsentierten Gemeinde folgen; wie diese vom Corpus Christi selbst wird jene vom Bild affiziert. Die Bildbetrachtung wird so zur kollektiven Gemeindeerfahrung, in der sich die Kommunion am Bild vollzieht. 6.4.2. Von der Überwindung der irdischen Gewalt zu deren triumphaler Verherrlichung Im dritten, sich heute in der Kathedrale von Antwerpen befindlichen Tripty­ chon von Rubens, das allerdings deutlich kleiner als die „Kreuzaufrichtung“ und die „Kreuzabnahme“ ist, bildet die Auferstehung das Thema.103 Auf der Mitteltafel tritt der Auferstandene mit triumphalem Schwung und in voller irdischer Leiblichkeit aus der rechts hinter ihm angedeuteten Grabeshöhle ins grelle Sonnenlicht. Den hoch erhobenen linken Arm auf eine Fahnenstange gestützt, in der rechten Hand, eng an den Körper gedrückt, eine Märtyrerpalme, und das bärtige Haupt umgeben von einem Strahlenkranz, präsentiert er den Betrachtenden einen vollkommenen und unversehrten Leib. Hier gibt es keinen Leichnam mehr und kein Leiden; selbst die Wundmale sind kaum zu sehen. Diese Erscheinung lässt die Wächter, wiederum kräftige, weitgehend nackte Männer, und einige römische Soldaten in ihren Rüstungen zurückweichen und gleichsam nach vorne und zur Seite hin aus 102 Im Sinne jener Sühneopfertheologie, wie sie Anselm von Canterbury begründet hat. 103 Peter Paul Rubens, „Die Auferstehung Christi“, Triptychon mit Johannes dem Täufer und der heiligen Martina von Rom auf den Außenflügeln, 1611/12, Antwerpen, Kathedrale, 138 × 178 cm. Ein Auftrag von Martina Moretus, der Witwe von Jan Moretus, dem Erben der Plantin-Druckerei in Antwerpen. https://en.wikipedia.org/wiki/Resurrection_(Rubens,_ Antwerp)#/media/File:Peter_Paul_Rubens_-_The_Resurrection_of_Christ_-_WGA20209. jpg.

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dem Bild herausfallen. Manche wenden sich vom blendenden Licht ab, andere blicken erstaunt oder erschrocken auf das Ereignis, das die beiden Heiligen auf den Seitenflügeln bezeugen. Eine der Kreuzabnahme vergleichbare christologische Dimension will sich dennoch nicht einstellen; zu sportlich und effektorientiert scheint das Thema gefasst. Besser gelingt es Rubens, im etwas späteren Rockox-Epitaph den verklärten Leib zu evozieren.104 Auch hierbei handelt es sich um ein Triptychon, das auf der Mitteltafel die Szene zeigt, bei der der auferstandene Christus den Jüngern in einem geschlossenen Raum erscheint, um dem ‚ungläubigen‘ Thomas, der bei der ersten Erscheinung nach der Auferstehung nicht anwesend gewesen war, seinen verklärten Leib und die Wundmale zu zeigen. Auf den Seitenflügeln bezeugen Nicolaas Rockox und seine Frau Anna Perez das Ereignis. Das Bild verdankt sich zweifellos einer Anregung durch Caravaggios berühmte Version des Themas von 1601/02, das Rubens in Rom gesehen haben mag.105 Caravaggio hatte in seinem querformatigen Bild Christus und drei Apostel als Halbfiguren wiedergegeben und sie ganz nahe an den vorderen Bildrand gebracht, sodass der abstehende linke Ellenbogen des Thomas die Bildfläche zu durchstoßen scheint. Christus steht, in eine weiße Tunika gehüllt, auf der linken Bildseite, die Apostel rechts. Den Kopf gesenkt und das Gesicht ganz im Schatten schiebt der Auferstandene mit der Rechten die Tunika beiseite und führt die Hand des Thomas und den ausgestreckten Finger direkt in die offene Seitenwunde. Die neugierigen und äußerst konzentrierten Blicke der Apostel sind auf diese Wunde gerichtet, die Thomas in ihrer Fleischlichkeit erspüren kann. Gleichzeitig ergibt die Neigung der vier Köpfe zueinander eine Rautenform, durch die die Gemeinsamkeit der Anstrengung des Sehens, Berührens und des Glaubens betont wird. Durch eine leichte Körperdrehung offeriert Christus die Wunde – und den Finger des Thomas in ihr – auch den Betrachtenden, die selbst unmittelbar an dem Ereignis teilzuhaben scheinen und dieses wohl bezeugen sollen. Dieses Ereignis selbst betrifft jedoch eher das Erstaunen der Apostel, dass dieser Körper, den sie sterbend am Kreuz gesehen haben, hier wieder lebend vor ihnen steht, als die christologische Dimension der Transsubstantiation. Es geht um das Wunder, 104 Peter Paul Rubens, „Das Rockox-Epitaph (Der ungläubige Thomas)“, 1613–1615, Antwerpen, Königliches Museum der Schönen Künste, 143 × 123 cm (Mitteltafel). https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a6/Peter_Paul_Rubens_-_The_Incredulity_of_St_ Thomas_-_WGA20193.jpg. 105 Michelangelo Merisi da Caravaggio, „Der ungläubige Thomas“, 1601/02, Potsdam, Gemäldegalerie Sanssouci, 42,1 × 57,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Caravaggio_-_The_Incredulity_of_Saint_Thomas.jpg. Für die große Beliebtheit des Bildes spricht, dass von dem Bild alleine 22 Kopien aus dem 17. Jahrhundert existieren.

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dass dieser durch und durch irdische, materielle und fühlbare Körper die Zeichen seiner Verwundung und seines Gestorben-Seins zeigen kann, deren Berührung Thomas von seinem Unglauben heilen soll. Unser Sehen bezeugt nur das Berühren des Thomas und dass dieser durch das Berühren – nicht durch das Sehen – zum Glauben geführt wird. Auch wir sehen einen verwundeten, männlichen Körper, von dem wir nur wissen, dass es der auferstandene Corpus Christi ist.106 Bei Rubens hingegen sehen wir den transfigurierten Leib Christi. Nur leicht ins Hochformat gerückt dynamisiert sich das Bild auf vollkommen andere Weise. Die Körper scheinen zu fließen und zwischen Christus und den Jüngern gibt es ebenso viel Distanz wie zu den Betrachtenden. Die leuchtend rote Tunika an die Hüften gerutscht, präsentiert sich der Auferstandene als Erscheinung. Es gibt hier kein Berühren mehr und es wird kein Wissen vorausgesetzt; alles offenbart sich im Sehen.107 Wiederum dreht sich dieser nun pneumatische Leib leicht nach vorne, und die einladende Gestik richtet sich an die Apostel und die Betrachtenden gleichermaßen. Zwar wird die Szene noch von einem extradiegetischen Beleuchtungslicht ausgeleuchtet, dessen Schlagschatten allerdings nur die Umrisse betonen, innerhalb derer der verklärte Leib wie von innen leuchtend erstrahlen kann. Die klassizistische Wende in Rubens’ Malweise betont weniger die plastische Muskulatur als dass sie ein weichgezeichnetes klassisches Idealbild hervorbringt. Die Haut scheint in ihren dominanten Rosatönen über dem pulsierenden Blau der Adern zu vibrieren; und es ist diese intensivierte Sinnlichkeit des ewigen Lebens, die die beiden Stifter auf den Seitenflügeln in Gesten andächtiger Frömmigkeit bezeugen. Wenig später, in „Christus und die reuigen Sünder“,108 variiert Rubens das Thema der Rockox’schen Mitteltafel in einer freien, nicht mehr durch eine Bibelstelle belegten Szene. Christus steht nun, von den Knien aufwärts an sichtbar, auf der rechten Bildseite und wendet sich wiederum drei Männern zu; diesmal sind es der Apostel Petrus, König David und der reuige Sünder Dysmas, der neben Jesus gekreuzigt worden war und deshalb ein Kreuz als 106 Das Gleichnis wird von Christus in dem Sinn beschlossen, dass diejenigen selig seien, die auch ohne zu sehen glauben. Wir als Bildbetrachter bleiben somit in der ThomasPosition und potenziell ungläubig. Denn der Glaube kann am Bild letztlich nicht bestätigt werden. Wir bezeugen im Bild nur, was ohne Bild geschehen sollte, und bestätigen hiermit unseren Unglauben. 107 Wie in den Noli me tangere-Szenen haben wir hier einen grundsätzlich unberührbaren Leib vor uns. 108 Peter Paul Rubens, „Christus und die reuigen Sünder“, 1616/17, München, Alte Pinakothek, 147,2 × 130,1. https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/peter-paul-rubens/ christus-und-die-reuigen-suender.

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Attribut in seinen Armen hält. Hinzu kommt jedoch mit Maria Magdalena eine weitere Person, die vor den stehenden Männern mit stark vorgebeugtem Oberkörper auf die Knie zu sinken scheint. Während die Männer mit ekstatischen Blicken auf den Erlöser blicken, wendet sich ihm Maria Magdalena in ihrer gesamten Körperlichkeit zu. Wie die rote Tunika Christi scheint auch ihr weißliches Bekleidungsstück von ihrem Körper zu rutschen; Rücken und Schulter sind bereits nackt; die Hände, über die Brüste geschlagen, scheinen deren Bedeckung gerade noch festhalten zu können, und die Haare fließen aufgelöst über den ekstatisch verzückten Körper. Das nach vorne, in Richtung der Hüften des Auferstandenen gesunkene Haupt überschneidet den linken Arm Christi – zumindest im Bild ist somit die Unberührbarkeit aufgehoben. Christus und Maria Magdalena bilden eine, erotisch höchst aufgeladene, gemeinsame S-Form, durch die die drei Männer gleichsam hindurch sehen. Zwar bezieht sich Christus durchaus mit Blick und einladender Gestik auf sie; sein Körper bleibt aber, zwischen den ausgestreckten Armen hindurch ausschließlich auf Maria Magdalena hin gerichtet.109 Es ist kaum ein sinnlicheres religiöses Bild vorstellbar. Lassen sich die bisherigen Bildstrategien der körperlichen Intensivierung durchaus im Rahmen der tridentinischen Gebote verstehen oder sogar als deren pointierte Erfüllung, so scheint Rubens nun weit über dieses Ziel hinauszuschießen. Denn hier ist nichts mehr dezent.110 Und doch betrifft der Inhalt des Bildes eines der Kernanliegen der katholischen Reform, die individuelle Reue, die von einer „Zerknirschung des Herzens“ (contritio cordis) ausgehen muss. Diese „Zerknirschung“ steht im Zentrum der spirituellen Praktiken der Jesuiten. Es kann ihrer allerdings nie genug sein; denn wenn das Heil nicht an der göttlichen Gnade, sondern an der innerlich gefühlten Reue festgemacht wird, dann kann es kein Innehalten in der Selbsterforschung geben. Diese ebenso individuell wie innerlich gefühlte, aber gemeinschaftlich artikulierte Reue im Angesicht des Erlösers stellt dementsprechend auch das eigentliche Thema des Bildes dar. Notwendigerweise veräußerlicht das Bild jedoch die inneren Gefühls-Qualitäten, und zielt bereits die spirituelle Funktion der Selbsterforschung in ihrer Unerschöpflichkeit auf fortwährende Überschreitung, so gilt dies umso mehr für das äußerliche Erscheinen der Gefühle im Bild als Affekt und als virtuos-malerisch inszenierter

109 Damit werden auch die Betrachtenden nicht mehr direkt adressiert. 110 In diesem Sinne auch: Willibald Sauerländer, Der katholische Rubens. Märtyrer und Heilige, München (Beck) 2011.

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Sinnlichkeits-Effekt. Hier wird die eigentliche Zielsetzung der Exerzitien, die „Unterscheidung der Geister“, immer schwieriger.111 Ähnlich erotisierte Konstellationen waren bis dahin ausschließlich dem profanen Themenkreis vorbehalten, etwa jenem strukturell sehr ähnlichen Bild „Venus um Adonis trauernd“ von 1614.112 Hier kommt es tatsächlich zu zärtlichen Berührungen, mit denen diese nun hockende und gänzlich nackte, ansonsten jedoch der Magdalena in Ausdruck, Gestik und Körperform gleichende Venus den vor ihr liegenden, toten Adonis betrauert. Auch dieser ist fast vollkommen nackt; die Wunde in der Leiste, die ihm der Eber geschlagen, ist kaum zu sehen – ein noch im Tod idealschöner, äußerst lebendiger und begehrenswerter Körper. Ganz ähnlich dem toten Christus der „Kreuzabnahme“ oder der vielen Beweinungs- und Grablegungs-Szenen, die Rubens in diesen Jahren gemalt hat, fehlt ihm dennoch die transformative Dimension. Er wird nicht auferstehen, sondern bloß in eine Blume verwandelt werden. Erotik definiert hier gleichsam die Spiritualität der Mythologie, wie sie an der Schnittstelle von Trauer und weiblichem Begehren im Bild zutage tritt. Venus und Adonis bilden keine formale Einheit. Dem als zentrales Begehrensobjekt präsentierten Leichnam sind Venus auf der linken Bildseite und ihre drei Gefährtinnen in der Bildmitte als zwar selbst auch nackte, allerdings weniger offensichtlich präsentierte Frauenkörper beigegeben,113 wozu noch der gleichfalls trauernde Amor und die beiden Hunde auf der rechten Bildseite kommen. In der Betrachtungsposition kann man sich den Frauen in ihrer Trauer um den schönen Mann zugesellen; man kann aber natürlich auch die in ihrer Trauer begehrenden Frauen begehren. Es ist diese aktiv-passive Position der Frauen, die Maria Magdalena übernehmen wird, sowohl im Verhältnis zum auferstandenen Christus im Bild als auch zu den Betrachtenden. Es kommt jedoch nicht nur zu einer Übertragung erotischer Aspekte vom profanen in den religiösen Bereich, sondern auch umgekehrt dringt die besondere Aufladung transfigurierter Körper von der Religion in den Bereich von Mythologie und Historie. Gleichzeitig kann hierbei eine Art von ‚Verklärung‘ 111 Die Unterscheidung der Geister betrifft drei Formen: das eigene Denken, Fühlen und Wollen und die äußeren Einflüsse, hier wiederum die Einflüsse des guten und des bösen Geistes. Die starke Erotisierung der religiösen Erfahrung nimmt Berninis berühmte Skulptur mit der „Verzückung der Heiligen Teresa von Avila“, 1645–1652 ebenfalls in einem jesuitischen Kontext entstanden, vorweg. 112 Peter Paul Rubens, „Venus, um Adonis trauernd“, 1614, Jerusalem, Israel Museum, 212 × 325 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Peter_Paul_Rubens_-_The_Death_of_Adonis_ (with_Venus,_Cupid,_and_the_Three_Graces)_-_Google_Art_Project.jpg. 113 Eine der drei Gefährtinnen der Venus ist in Gestus und Körperhaltung identisch mit der Maria Magdalena.

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des weiblichen Körpers geschehen. Besonders deutlich wird dies in jenem, aus heutiger Sicht schlicht unerträglichen Bild „Der Raub der Töchter des Leukippos“, in dem der ‚verklärte‘ weibliche Körper als Auslieferung an und als ein Genießen der männlichen Kraft und Gewalt in Szene gesetzt wird. Dieses spektakulär komponierte Bild, das vor einer weiten Landschaft mit niedriger Horizontlinie ein monumentales, quasi skulpturales Gebilde aus zwei Pferden, zwei Männern und zwei Frauen sowie einem Putto in Szene setzt, hat zumindest seit Wilhelm Heinse stets die Bewunderung der Rubens-Jünger auf sich gezogen.114 Dieser malerische Gewaltakt inszeniert sich über eine Reihe von kontrapunktischen Differenzen, vor allem in Bezug auf die kalkuliert konzentrierte Aktion der beiden Heroen Castor und Pollux und die affektgeladenen Reaktionen der beiden Frauen Phoebe und Hilaera; Differenzen gibt es auch hinsichtlich des Temperaments der Pferde, der Sterblichkeit dieser Helden – Castor muss eine Rüstung tragen, während Pollux als Sohn des Zeus darauf verzichten kann –, und schließlich hinsichtlich der Haut- und Haarfarben, wobei die Männer im sonnengegerbten Teint erscheinen und die Frauen in jener rosa-bläulich unterlaufenen Blässe, die wir bisher als Inkarnat verstanden haben. Doch was inkarniert sich hier eigentlich? Die am Boden kniende Frau wehrt sich noch in ebenso ausgreifender wie abwehrender Gestik; sie ist aber bereits in eine unvorteilhafte Rückenlage gebracht; während ihre Schwester gleichsam über ihr schwebt, von Castor mit einem Tuch zwischen den Beinen hochgehoben und an Pollux gelehnt. Sie scheint ihr ‚Schicksal‘ bereits hingebungsvoll und ekstatisch anzunehmen. Das glühende Rot ihrer Backen, der leicht geöffnete Mund, der ins Leere zielende ausgestreckte linke Arm und schließlich die zärtliche Berührung des sie packenden, phallischen Arms des Mannes zeigen den Zustand höchsten Genießens an.115 Als eine Art von weiblichem Laokoon oder als Äquivalent zur Kreuzabnahme wird sie hier nicht einfach ‚geraubt‘,116 sondern in diesem Geraubt-Werden vorgeführt. Die Gewalt hinter der handgreiflichen, männlichen Kraft, der beide Frauen ausgesetzt 114 Eine Auflistung der euphemistischen Beschreibungen von Kunsthistorikern findet sich bei Margaret  D.  Carroll, „The Erotics of Absolutism: Rubens and the Mystification of Sexual Violence“, in: Margaret  D.  Carroll, Painting and Politics in Northern Europe. Van Eyck, Bruegel, Rubens, and Their Contemporaries, University Par (The Pennsylvania State University Press), 2008, S. 90. 115 Sie stellt zweifellos ebenso ein Vorbild für Berninis „Heilige Teresa“ dar (siehe: Anm. 109), anhand derer Lacan seine Theorie des weiblichen Genießens entwickelte. Siehe: Jacques Lacan, „Gott und das Genießen der Frau“, in: Jacques Lacan, Encore. Das Seminar Buch XX, Berlin (Quadriga) 1986, S. 71–84. 116 Der englische Begriff „rape“ trifft die doppelte Bedeutung von Raub und Vergewaltigung besser als der deutsche Begriff des Raubs.

Abb. 45 Peter Paul Rubens, „Der Sieg der Wahrheit über die Häresie“, ca. 1625, Madrid, Prado, 64,5 × 90,5 cm.

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sind, ist der Mythos selbst. Was sich hier inkarniert, ist somit die im Mythos ‚verklärte‘ strukturelle patriarchale Gewalt, die zu genießen geboten ist. Dieser Gewalt unterworfen zu sein wird als Voraussetzung der eigenen ‚Natur‘ verinnerlicht, und in dieser Überblendung von Mythos und Schicksal wird noch Freud den Kern einer männlichen Phantasie, den femininen Masochismus, erkennen. Margaret Carroll hat in ihrer exzellenten Analyse des Bildes117 die Überlagerung von politischer und sexueller Gewalt betont. Fürstliche Prinzen statteten bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ihre Paläste zunehmend mit Vergewaltigungs-Szenen aus, um ihre eigene, auf Gewalt beruhende Dominanz und ihre Unabhängigkeit von jedem Rechtsanspruch zu betonen. Giambolognas berühmte Figurengruppe „Der Raub der Sabinerin“ in der Loggia dei Lanzi in Florenz118 verkündete in diesem Sinn ebenso die unbeschränkte Herrschaft der Medici-Fürsten wie die künstlerische Virtuosität in der ‚souveränen‘ Beherrschung des Materials.119 Rubens huldigt mit seinem Bild dem Giambologna, gerade in der monumental-skulpturalen Anmutung der Gruppe. Doch sind die Frauen zu einem Swastika-artigem Muster in die Fläche, der einzigen Schauseite des Bildes, montiert und somit unmittelbar dem betrachtenden Blick ausgeliefert. Dieser Blick wird so mit der ausgeübten Gewalt bzw. mit deren Verinnerlichung als je eigene Natur identifiziert. Während in der Zusammenarbeit mit Jan Brueghel die Geschlechterdifferenz, etwa bei der den Mars entwaffnenden Venus, von der weiblichen Position aus von Rubens noch als Agentin des Friedens thematisiert oder gar zum paradiesischen Wechselspiel zwischen Adam und Eva idealisiert werden konnte, wird sie nun selbst zum Schauplatz des Krieges. Es scheint hier tatsächlich keine Ambivalenzen mehr zu geben, keine Uneindeutigkeit hinsichtlich der möglichen Identifizierungen wie bei Simson, Silen oder Seneca. Dort wurden die Gegensätze zwischen heroischer Kraft und Erschöpfung in der Liebe, zwischen Rausch und Weisheit, Tugend und Starrsinn ineinander verwoben und als Ambivalenzkonflikte den Betrachtenden angeboten. Auch der Christus der „Kreuzabnahme“ schillert noch zwischen manifestem Tod und latentem ewigen Leben. Bei Hilaera hingegen meint die ekstatische Verklärung die Einschreibung in den Mythos gleichermaßen 117 Margaret D. Carroll, „The Erotics of Absolutism. Rubens and the Mystification of Sexual Violence“, in: Margaret D. Carroll, 2008, (Anm. 112), S. 88–101. 118 Giambologna, Der Raub der Sabinerin, 1579–1582 Florenz, Loggia die Lanzi. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Giambologna_sabine.jpg. 119 Im Begriff der Virtù, wie ihn vor allem Machiavelli geprägt hat wird die Tugend des Herrschens als männliche Kraft verstanden; davon leitet sich auch die Vorstellung einer Virtuosität der Künstler ab. Siehe: Margaret D. Carroll, 2008 (Anm. 112), S. 92–94.

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als Schicksal und Natur, und somit eine höchst eindeutige Zuordnung. Auch die männliche Kraft der Dioskuren repräsentiert unmittelbar die Gewalt der mythischen Verhältnisse. Nur in den Pferden bleibt die aktiv-passive Bestimmung erhalten; sie sind der Gewalt unterworfen und unterstützen sie gleichzeitig, und ihre Erregung repräsentiert sowohl Begehren als auch Angst. Bei aller Vielfalt in der Differenzierung spitzt das Bild somit den Antagonismus der Geschlechter auf neuartige und brutale Weise zu. Das synthetische Bildverständnis versammelt und integriert hier nicht einfach unterschiedliche Differenzen; es ordnet diese vielmehr einem neuen, zentralen Gegensatz unter. Der Kampf zwischen den Geschlechtern wird jedoch nicht, wie im antagonistischen Bild des 16. Jahrhunderts, den Betrachtenden zur Entscheidung angeboten; er erscheint als bereits entschieden und aufgehoben in einer Form von mythisch verstandener Ordnung. Diese Ordnung betrifft die Positionen im Kampf und eine möglichst eindeutige Aufteilung und Zuordnung des sinnlichen Genießens zum aktiven Gebrauch von Gewalt und deren weitgehend passiver Hinnahme. Rubens erzählt oder illustriert hier nicht einfach einen Mythos aus der Ovid’schen Liebeskunst; im Zeichen des Frühabsolutismus transformiert er den Mythos dahingehend, dass die Vereindeutigung der Geschlechterdifferenz zum buchstäblichen Muster und Modell jeglicher Ordnung wird. Die Bildsynthese arbeitet hier im Zwischenbereich von mythisch-naturhafter Kosmologie und dynastischer Legitimation.120 Generell scheint die Einbindung der manufakturartigen Rubens’schen Bildproduktion in den dynastisch-gegenreformatorischen Komplex ab Mitte der 1610er-Jahre stärker zu werden. War die Zeit des Waffenstillstands zu Beginn noch als Friedenszeit willkommen geheißen worden, wie sie in den Kooperationen mit Brueghel auch weiterhin als eine geradezu paradiesische, wenn auch bedrohte Periode erscheint, tritt nun in Rubens’ eigener Produktion immer stärker eine neuerliche Mobilisierung, eine Indienstnahme der synthetischen Bildidee im Sinn von Propaganda und finaler Siegesgewissheit zutage. Die Spielräume persönlicher Ambivalenzen, wie sie in den Bildern unmittelbar nach der Rückkehr nach Antwerpen aufgetreten waren, verschwinden wieder. Bereits die beiden Bilder zur „Krönung des Tugendhelden“ sprechen eine deutliche Sprache,121 nicht nur in Bezug auf die Repräsentation 120 Carroll hat vorgeschlagen, das Bild mit der Doppelhochzeit des französischen Königs Ludwig XIII. und des zukünftigen spanischen Königs Philipp IV. im Jahr 1615 mit ihren jeweiligen Schwestern Elizabeth und Anne in Verbindung zu bringen, jenem ehrgeizigen Projekt Maria von Medicis einer dynastischen Versöhnung zwischen den katholischen Mächten Spanien und Frankreich. Siehe: Margaret D. Carroll, 2008 (Anm. 112) S. 96–98. 121 Peter Paul Rubens, „Die Krönung des Tugendhelden“, 1613–1615, Kassel, Schloss Wilhelmshöhe, 161 × 236 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens-Die_ Kr%C3%B6nung_des_Tugendhelden.jpg.

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der Geschlechterdifferenz, sondern hinsichtlich einer Rhetorik der Wahrheit generell. Es gibt hier keine antagonistische Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge und keine Entscheidungskompetenz für die Betrachtenden mehr; alles ist längst entschieden und nur der finale Triumph bzw. die Vernichtung der Gegner wird zelebriert. Auch in den nunmehr vermehrt produzierten Jagd- und Kampfszenen lässt sich nicht bloß eine Zuspitzung der Gewalt, sondern gleichzeitig auch eine direkte Beziehung zur frühabsolutistischen Gesetzgebung erkennen, durch die die regierenden Fürsten etwa die Jagd als aristokratisches Privileg zementieren wollten.122 Nach dem Ende des Waffenstillstandes von 1621, dem Tod von Erzherzog Albrecht und der nunmehr alleinigen Herrschaft der Erzherzogin und Infantin Isabella Clara Eugenia als spanischer Statthalterin123 wird die Wiederaufnahme der Kriegsrhetorik unübersehbar: Die Synthesen werden immer gewaltförmiger, immer stärker auf eine Rhetorik des Triumphs hin ausgerichtet. Entscheidenden Impuls verdankt diese ideologische Zuspitzung ohne Zweifel der Arbeit an der Ausstattung der Kirche der Jesuiten in Antwerpen. Dieser programmatische Kirchenbau war seit 1615 in Planung, wurde zu Beginn der 1620er-Jahre errichtet und 1625 dem eben erst heiliggesprochenen Ignatius von Loyola geweiht. Rubens war von Anfang an in das gesamte Projekt involviert. Er stand den Architekten beratend zur Seite, steuerte zwei riesige Altarbilder bei, die der propagandistischen Vorbereitung der Selig- und Heiligsprechung von Ignatius und Franz Xaver dienen sollten; und schließlich lieferte er achtzehn Deckengemälde für die beiden Mittelschiffgalerien der Kirche, in denen die Rolle der Jesuiten als den herausragenden Kämpfern der Gegenreformation und des päpstlich-dynastischen Universalismus in eine neue heilsgeschichtliche Perspektive gerückt wurde.124 Die Bildfindungen und -programme setzen intensive Auseinandersetzungen mit den jesuitischen Theologen voraus; in ihren Rhetoriken spitzt sich die Gewalt gegenüber den sogenannten Häresien und jeder anderen Form von Religionsausübung dramatisch zu. Es herrscht ein ungezügelter Vernichtungswille, der in nichts mehr mit der Toleranz und dem aufmerksamen Zuhören anderen

Peter Paul Rubens, „Die Krönung des Tugendhelden“, 1613/14, München, Alte Pinakothek, 221 × 200 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kr%C3%B6nung_des_Tugendhelden.jpg. 122 Susan Koslow, „Law and Order in Rubens’ Wolf and Fox Hunt“, in: The Art Bulletin, Vol. 78, December 1996, S. 680–706. 123 Formell war die Regentschaft nach dem Tod von Albrecht wieder an Spanien zurückgefallen. Isabella regierte nun nicht mehr als souveräne Fürstin, sondern als Statthalterin bis zu ihrem Tod im Jahr 1633. 124 Hierzu siehe: Alexander Linke, „Typologische Rochaden in der Antwerpener Jesuitenkirche. Peter Paul Rubens und die Jesuiten entwerfen eine neue Heilsgeschichte“, in: David Ganz, Felix Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural, Berlin (Reimer) 2010, S. 289–309.

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Argumenten gegenüber, wie sie etwa eine der ersten Auftragsarbeiten nach der Rückkehr, „Die Disputation über das Heilige Sakrament“ von 1609 zeigt, verglichen werden kann. Dieses Bild war im Kontext eines Streitgesprächs über die Realpräsenz in der Hostie entstanden, zu dem die Jesuiten Antwerpens zwei calvinistische Prediger aus Rotterdam geladen hatten und das wohl in durchaus freundlicher Atmosphäre stattfand.125 Die beiden Altarbilder – „Die Wunder des Heiligen Ignatius von Loyola“ und „Die Wunder des Heiligen Franz Xaver“ (1617–1619) – konnten, gemeinsam mit zwei weiteren Gemälden, abwechselnd auf dem Hochaltar der Kirche gezeigt werden.126 Durch ihre schiere Größe von über fünf Metern in der Höhe und fast vier Metern in der Breite entfachen sie ein Affekt-Theater, das den gesamten Kirchenraum erfassen und auf die zentrale Botschaft hin ausrichten sollte. Wie bereits bei den „reuigen Sündern“ andeutungsweise zu sehen, zeigt sich hier nun in aller Deutlichkeit, dass sich die Jesuiten nicht mehr an jene defensiven Dekrete des Tridentinums gebunden fühlten, die im Sinne einer katholischen Reform noch Aspekte der reformatorischen Bildkritik zu berücksichtigen versuchten. Ganz im Gegenteil rücken andere, offensivere Aspekte des Tridentinums, wie die Schaffung neuer Heiligenkulte, in den Vordergrund. Die Kampagnen zur Selig- bzw. Heiligsprechung des Ordensgründers und seines frühen, vor allem in der Mission tätigen Kampfgefährten Franz Xaver stellten hierfür hervorragende Gelegenheiten dar. In diesem Kontext kommt es zu einer deutlichen Überschreitung der gemäßigten tridentinischen Vorgaben hinsichtlich der Dezenz in der Darstellungsweise, der Zurückhaltung in der Propagierung magischer Praktiken und in der Präsentation von Heiligen auf den Altar-Bildern. Im Gegensatz hierzu erscheinen die neuen Heiligen der Jesuiten als privilegierte Vermittler und Agenten göttlicher Potenzen und rücken somit ins Zentrum einer neuen, kultischen Bild-Verehrung. Diese Heiligen handeln exemplarisch und definitiv: Hier gibt es nichts mehr zu disputieren; es wird ausschließlich exekutiert. Das Affekt-Theater dient der heteronomen Realisierung des päpstlich-absolutistischen Universalismus. Wir haben es mit einer strikten Funktionalisierung des Bildes im Dienste einer 125 Hierzu siehe: Cynthia Lawrence, „Confronting Heresy in Post-Tridentine Antwerp. Coercion and Reconciliation as Opposing Strategies in Rubens’ Real Presence in the Holy Sacrament“, in: Nederlands Kunthistorisch Jaarboek/Netherlands Yearbook for History of Art, Vol. 55, 2004, S. 86–115. 126 Durch einen Hebe-Mechanismus konnten die Altarbilder ausgetauscht werden. Die Pluralität wurde nicht mehr wie im Triptychon durch ein Nebeneinander der Bilder als vielmehr durch ein Nacheinander erzielt. Rubens reagiert hier bereits auf den moderneren, italienischen Altar-Typus, der eine stärkere Konzentration auf ein Bild ermöglichte.

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propaganda fide127 zu tun. Dabei fallen die Gewalt dieser ebenso mythischen wie politischen Glaubens-Ordnung, die Kraft bzw. die göttliche Potenz der Heiligen und schließlich die affektive, kultische Wirkung der Bilder in eins. In „Die Wunder des Heiligen Ignatius von Loyola“128 knüpft Rubens unmittelbar an eines der damals berühmtesten Bilder der italienischen Hochrenaissance, Raffaels „Transfiguration“ von 1516–1520, an.129 Wie die „Transfiguration“ ist auch das Wiener Bild deutlich in zwei Zonen unterteilt, wobei die untere jeweils die von Dämonen besessene Welt, die obere die heilende Macht verkörpert. Bei Raffael ist es ein Junge, der ekstatisch gestikulierend und von seinen Eltern gestützt, den Zustand seines Besessen-Seins ausdrückt. Der Rest der unteren Zone ist großteils von den Aposteln besetzt, die aufgeregt gestikulierend ihre eigene Hilflosigkeit angesichts des Auftretens des Bösen eingestehen und auf den Erlöser über ihnen verweisen. Das Heil kann nur vom transfigurierten Christus selbst ausgehen. Die Spitze des Berges Tabor, auf der sich die Verklärungs-Szene abspielt, fungiert als Trennlinie zwischen den beiden, fast antagonistisch entgegengesetzten Zonen, wobei durchaus über diese Trennlinie hinweg von der unteren Zone aus verwiesen werden kann.130 Bei Rubens sind die beiden Zonen nicht so strikt getrennt; das Bild zeigt einen einheitlichen Kirchenraum, wobei die Flächen- und die Raumaufteilung des Bildes miteinander korrelieren. Im unteren und vorderen Bereich ist nun auf der linken Seite eine ganze Gruppe von Besessenen zu sehen, denen im Zustand des exzessiven und ekstatischen Wahns, im akuten Verlust körperlicher, gestischer und mentaler Kontrolle die Dämonen entweichen, die man als monströse Geister im oberen Bildhintergrund in den Chorraum der Kirche entweichen sieht.131 Eine der Frauen zeigt einen geradezu hysterischen

127 Die Congregatio propaganda fide wurde im Jahr 1622 von Papst Gregor XV. gegründet. Propaganda ist hier ganz buchstäblich als Verbreitung zu verstehen und somit als Programm der Rückgewinnung der Protestanten und einer forcierten Weltmission. 128 Peter Paul Rubens, „Die Wunder des Heiligen Ignatius von Loyola“, 1617/18, Wien, Kunsthistorisches Museum, 535 × 395 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_ Paul_Rubens33.jpg. 129 Raffaello Sanzio, „Die Transfiguration“, 1516–1520, Rom, Vatikanische Museen, 405 × 278 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Transfiguration_Raphael.jpg. 130 Die Anmutung einer, beide Zonen umfassenden, einheitlichen Landschaft wird beibehalten, allerdings keineswegs im Sinne eines perspektivisch korrekt wiedergegebenen einheitlichen Bildraums. 131 Papst Paul  V. hatte 1614 im Zuge einer posttridentinischen Liturgiereform in seinem Rituale Romanum den Ritus für den Exorzismus an Besessenen, den sogenannten „großen Exorzismus“ festgelegt.

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Bogen;132 die Augen verdreht und die Zunge weit ausgestreckt, reißt sie sich an den eigenen Haaren und gleichzeitig die Kleider vom Leib, während hinter ihr eine Seneca-Figur auch selbst vom Verlust stoischer Affekt-Kontrolle betroffen zu sein scheint. Nach vorne hin fällt ein Mann mit Schaum vor dem Mund die Treppen hinab, scheinbar aus dem Bild heraus. Durch eine schmale Schneise von dieser Gruppe aus dreizehn Figuren getrennt, die ein Panorama intensiver Affekte zeigen, nähern sich von der rechten Seite zwei bürgerliche Frauen, die in ruhiger und bedachter Gestik ihre Kinder dem neuen Heiligen zuführen. Dieser steht im prächtigen bischöflichen Ornat und deutlich monumentalisiert an einem Altar, der hinter einer Balustrade und über weitere Stufen deutlich erhöht auf der rechten Bildseite sichtbar wird. Die linke Hand nah am eucharistischen Kelch auf dem Altar, die Rechte zur Wunder bewirkenden Geste ausgestreckt, den Blick ins Transzendente erhoben und das Haupt von einem Strahlenkranz umgeben, führt Ignatius vor den versammelten Ordensbrüdern, die in einer langen, in die Bildtiefe führenden Reihe hinter ihm aufscheinen, seinen magischen Reinigungsakt aus. Der entscheidende Unterschied zwischen Raffael und Rubens liegt jedoch nicht im Formalen, denn bei Raffael scheitern die Vermittler. Die Apostel können nichts anderes tun, als auf die Quelle allen Heils, den verklärten Christus, zu verweisen. Nicht umsonst ist die „Transfiguration“ als das erste Bild der katholischen Reform bezeichnet worden.133 Gerade der Zeigegestus wird in der reformatorischen Kunst selbst eine große Rolle spielen.134 Bei Rubens hingegen triumphiert der Vermittler. Ignatius selbst kommt nun die Wunder bewirkende Potenz zu. Nur wenige, den paganen Eroten ähnliche Cherubim unterstützen seine Aktion. Er treibt auch nicht irgendwelche Dämonen aus; jedem Betrachter in der Jesuitenkirche muss damals klar gewesen sein, dass diese von Dämonen besessenen Menschen – das Dämonische stellt gleichsam die negative Form der Inkarnation dar – nur die Protestanten meinen konnten, zu deren Bekämpfung der Orden erst gegründet worden war. Die Protestanten erscheinen daher nicht als verlorene Seelen, die man bloß auf den rechten Weg zurückführen sollte, sondern in Form eines krassen Irre-Seins, das man ihnen mit 132 Dementsprechend interessiert sich der französische Neurologe und Psychiater JeanMartin Charcot sehr für das Bild. Hierzu siehe: James C. Harris, „Exorcism: the Miracles of Saint Ignatius of Loyola“, in: Art and Images in Psychiatry, August  2014, https:// jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/1895645. 133 Damian Dombrowski, „Raffaels Transfiguration – das erste Bild der Katholischen Reform?“, in: Andreas Tacke (Hg.), Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563, Regensburg (Schnell & Steiner) 2008, S. 320–347. 134 Zum Zeigegestus in der Malerei der Reformation siehe: Joseph Leo Koerner, Die Reformation des Bildes, München (Beck), 2017.

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allen zu Gebote stehenden Mitteln austreiben muss. Dieser Wahnsinn hat also durchaus Methode. Zwischen dem protestantischen Irre-Sein und der devotional-katholischen Hingabe, wie sie an den beiden Frauen im Vordergrund und an den Ordensbrüdern sichtbar wird, gibt es keinen Spielraum, nichts, was noch verhandelt, abgewogen oder aus einer ambivalenten Position heraus erst entschieden werden könnte. Im zweiten Bild, das eine ähnliche formale Struktur aufweist, kommt die missionarische Dimension hinzu.135 (Abb. 44) Franz Xaver (Francisco de Xavier) war zwischen 1541 und 1552 im Auftrag des Papstes Paul II. und im Gefolge der portugiesischen Kolonisation in Asien als Verkünder des katholischen Glaubens und des universellen Repräsentations-Anspruchs des Papstes tätig. Von Goa aus gelangte er bis nach Japan und hatte große, allerdings äußerst instabile ‚Missionserfolge‘ vorzuweisen, was ihn dazu veranlasste, die Inquisition auch nach Asien zu rufen. In diesem Zusammenhang wurden erstmals jene für die jesuitische Missionstätigkeit typischen Taktiken der Anpassung an die fremden Kulturen erprobt, die zuallererst auf deren Durchdringung und Infiltrierung setzten, um sie schließlich von innen her übernehmen bzw. überwinden zu können. Rubens stellt auch diesen neuen Seligen/Heiligen erhöht auf die rechte Bildseite. Wie eine Skulptur steht er, ganz in schwarz gekleidet und effektvoll im Gegenlicht in Szene gesetzt, auf einem Podest, unterstützt von einem Ordensbruder hinter ihm. Auch Franz Xaver ist ein überaus mächtiger Vermittler, der die Gewalt der Wahrheit zu lenken weiß. Den linken Arm erhoben, um von der über ihm schwebenden Personifikation des Glaubens mit dem eucharistischen Kelch die magische Potenz zu erhalten, übt er diese mit der Rechten aus. Die Macht ist mit ihm.136 Wie Jesus den Lazarus erweckt Franz Xaver hier nun die Toten, er heilt die Blinden, Lahmen und Pestkranken und zerstört gleichzeitig die ‚heidnischen‘ Tempel. Menschen in arabischer, koreanischer, indischer, aber auch römischer Kleidung137 drücken ihr Erstaunen, aber auch ihre Ergriffenheit angesichts der Wunder aus, die der Heilige bewirkt. Die untere Bildzone ist wiederum dem Affekt-Theater vorbehalten. Von rechts torkeln die Blinden mit ausgestreckten Armen ins Bild, von vorne oder unterhalb des Bildes schaufelt der Totengräber ein Grab frei; nach links oben staffeln sich die Grabsteine und Krankenbahren, von denen sich die Erweckten erheben, und aus dem Hintergrund drängt eine 135 Peter Paul Rubens, „Die Wunder des Heiligen Franz Xaver“, 1617/18, Wien, Kunsthistorisches Museum, 535 × 395 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_ Paul_Rubens_-_The_miracles_of_St._Francis_Xavier_-_Google_Art_Project.jpg. 136 Anders als Ignatius benötigt er allerdings stärkere himmlische Unterstützung. 137 Es gibt durchaus hellere und dunklere Hauttöne, eine weiter reichende Ethnifizierung findet jedoch nicht statt.

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Menschenmenge heran. Die Aufmerksamkeit des Jesuiten ist ganz auf dieses vielfältige Geschehen bezogen, während sich die himmlischen Mächte, seiner Weisung folgend, direkt der Zerstörung des phantastisch-hinduistischen Tempels auf der linken oberen Bildseite widmen. Ein ‚Götzenbild‘ zerbricht bereits138 und die brahmanischen Tempel-Priester fliehen über die Terrasse.139 Großer Wert wird hier auf die Vielfalt der Differenzen gelegt, die alle von der Einheit der eucharistischen Macht erfasst werden. Die fremden Kulturen und Religionen werden deutlich milder als die europäischen Häresien behandelt; die Alternativlosigkeit zwischen katholischem Heil und totaler Zerstörung bleibt allerdings dieselbe. Die Bildsynthese in Form einer Verklärung der Gewalt, wie wir sie in den beiden Jesuiten-Bildern gesehen haben, wird von Rubens noch ein weiteres Mal zugespitzt. Kurz nach der Inthronisierung der Erzherzogin Isabella als spanische Statthalterin in Brüssel bekam er von ihr den Auftrag, Entwürfe für eine Reihe von Tapisserien zu erarbeiten, die sich dem zentralen Mythos des gegenreformatorisch-dynastischen Komplexes, dem „Triumph der Eucharistie“, widmen sollten. Die insgesamt zwanzig Entwürfe werden zwischen 1622 und 1625 hergestellt und dann von zwei Teppichwebereien in Brüssel in jahrelanger Arbeit äußerst kunstvoll realisiert und schließlich dem Kloster Descalzas Reales in Madrid übergeben, einer den hochadeligen Frauen vorbehaltenen Gründung ihrer Tante Juana de Austria, wo Isabella als Jugendliche einige Zeit verbracht hatte und deren Mitglied sie als franziskanische Nonne nach dem Tod ihres Ehemanns geworden war.140 Rubens entwirft in enger Absprache mit der Infantin ein inhaltlich wie formal äußerst komplexes Bildprogramm, das die räumlichen Gegebenheiten des Klosters in Madrid berücksichtigt. Zweigeschossig angeordnet, auf die lokalen Lichtverhältnisse und einen gemeinsamen Betrachtungspunkt auf einer der Emporen hin ausgerichtet, kulminiert die Serie in einer „Anbetung der Eucharistie“ durch musizierende Engel in der oberen und durch die weltlichen und die kirchlichen Autoritäten in der unteren Zone. Die triumphale Zurschaustellung der Hostie war 138 Interessanterweise wird hier die Bildrhetorik der Ikonoklasten aufgenommen, um die Bildwürdigkeit des Heiligen zu legitimieren. 139 Zu Rubens Quellen in Bezug auf Asien siehe: Barbara Uppenkamp, „‚Indian‘ Motives in Peter Paul Rubens’ The martyrdom of Saint Thomas and The miracles of Saint Francis Xavier“, in: Netherlands Yearbook of Art History, Volume 66, Issue 1, 2016, S. 112–141. 140 Es ist Isabellas aufwendigste und teuerste Patronage, die neueren Schätzungen zufolge in etwa dem monatlichen Etat entsprach, den die Infantin für militärische Operationen ausgeben konnte. Hierzu siehe: Anne  T.  Woollett, „Faith and Glory. The Infanta Isabel Clara Eugenia and the Triumph of the Eucharist“, in: Alejandro Vergara, Anne T. Woollett, Spectacular Rubens. The Triumph of the Eucharist, Ausstellungskatalog The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Museo Nacional del Prado, Madrid, 2014, S. 18.

Abb. 46 Jakob (Jacques) Jordaens, „Moses und seine äthiopische Frau“, ca. 1650, Antwerpen, Rubenshuis, 104 × 116,3 cm.

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im Konzil von Trient als zeremonieller Kern der neuen Liturgie bestimmt und somit die sogenannte „Realpräsenz“, die Transsubstantiation des gebackenen Brotes der Hostie in den realen Leib Christi während der Messe als dogmatischer Kern der Gegenreformation festgelegt worden. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer besonderen Materialität und Medialität bringen die Tapisserien diese zeremonielle Funktion zum Ausdruck, wurden sie doch nur während der höchsten Feste, an Karfreitag und zu Fronleichnam, dem Fest des Corpus Christi, gezeigt.141 Die Anwesenheit der gesamten königlichen Familie zu diesen Festen unterstreicht ihre theologisch-politische Funktion, denn die Habsburger hatten den Kult um die Eucharistie längst zu ihrer eigenen, dynastischen Mythologie gemacht.142 Wie in den Deckengemälden der Jesuitenkirche dienen auch in diesem Bildprogramm typologisch verstandene Szenen des Alten Testaments zur Fundierung und Legitimierung der aktuellen theologisch-politischen Praxis. Besonders deutlich wird dies in jener Szene, die die „Begegnung von Abraham und Melchisedek“ zeigt.143 Hierin wird nicht nur die alttestamentarische Vorwegnahme der Eucharistie dargestellt, indem Melchisedek, jener Priester des höchsten Gottes, nicht mehr Tiere opfert, sondern Brot und Wein bringt, um Abraham, den hebräischen Kriegsherrn, zu segnen. Entscheidend ist darüber hinaus, dass hier ein „Bund“ zwischen dem Priester und dem Kriegsherrn geschlossen wird, wobei Abraham deutlich Melchisedek untergeordnet bleibt. Gerade diese symbolische Unterordnung der weltlichen unter die himmlische Macht legitimiert den universellen, innerweltlichen Machtanspruch der Habsburger als in der geistlichen Macht des Papstes ruhend und begründet derart den dynastisch-gegenreformatorischen Komplex.144 141 Die genaue Art der Aufhängung ist in der Forschung umstritten. Die Tapisserien waren wohl im Inneren des Klosters und an den Außenseiten zu sehen. Im Kloster waren auch bereits die von Jan Vermeyen entworfenen Tapisserien über den Kriegszug Kaiser Karl V. gegen Tunis zu sehen. Siehe: Anne T. Woollett, 2014 (Anm. 138), S. 19. 142 Rubens hatte gemeinsam mit dem Landschaftsmaler Jan Wildens 1625 auch ein Bild zum zentralen Habsburgischen Mythos der Eucharistie gemalt, die Begegnung Rudolf von Habsburgs mit einem eine Monstranz tragendem Priester, dem er sein Pferd überlässt, damit dieser einen Hochwasser führenden Fluss durchqueren und einem Sterbenden noch das letzte Sakrament verabreichen kann. Peter Paul Rubens, Jan Wildens, „Rudolf von Habsburg und der Priester“, ca. 1625, Marid, Prado, 199 × 286 cm. https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens,_Jan_Wildens_-_Act_of_devotion_of_ Rudolf_I_of_Habsburg.jpg. 143 Peter Paul Rubens, „Die Begegnung von Abraham und Melchisedek“, ca. 1625, Madrid, Prado, 65,5 × 68 cm. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/themeeting-of-abraham-and-melchizedek/c83a26fc-68b4-4d84-b397-00c1b4401b95. 144 In einem weiteren Bild schreibt sich Isabella direkt in die heilsgeschichtliche Perspektive ein, indem sie ihre Gesichtszüge der Heiligen Clara leiht, die mit der Monstranz in der

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Im gesamten Bildzyklus realisiert sich dieser dynastisch-gegenreforma­ torische Komplex in einer exaltierten Performanz von Gesten des Triumphs und der Gewalt. Drei Szenen sind hierbei von besonderem Interesse. In ihnen zeigt sich auf unterschiedliche Weise ein unmittelbarer und wechselseitiger Zusammenhang von Siegesgewissheit und unerbittlicher Vernichtung. Rubens inszeniert diesen intrinsischen Zusammenhang von Triumph und Gewalt auf virtuose Weise. Im „Sieg der Eucharistie über die Idolatrie“145 bricht die von einem fliegenden Genius hochgehaltene Eucharistie – als Kelch mit darüber schwebender Hostie – vor einem grell strahlenden, transzendenten Licht in die vom irdischen Tageslicht beleuchtete Szene eines antiken Stier-Opfers ein. Der Schlachter und zwei Priester weichen in dramatisch-abwehrenden Gesten zurück; die Kultgegenstände und eine weitere Person, wohl ein Musiker, scheinen über die Bildgrenzen hinweg zumindest in den Raum der rahmenden, architektonischen Bordüren zu fallen. Im „Sieg der Wahrheit über die Häresie“146 (Abb. 45) wird in der Bildmitte, direkt über einem in seinen letzten Zuckungen liegenden, satanischen Drachen eine weibliche Personifikation der Wahrheit – eine Art Schwester der Hilaera – vom geflügelten Chronos nach oben, aus den irdischen Bedingungen heraus gehoben. Ihre wiederum grell leuchtende Glorie mit der Inschrift VERITAS stößt bereits an ein Spruchband, das von den Girlanden der Bordüre hängt, auf dem HOC EST CORPUS MEUM zu lesen ist, jener Satz also, mit dem Jesus beim Abendmahl die Eucharistie eingesetzt haben soll. Von rechts folgen gelehrte Theologen mit schweren Folianten in den Armen und in demütigen, den Rücken gebeugten Gesten der Wahrheit, während auf der linken Seite Calvin und Luther – sie sind deutlich erkennbar – sowie ein dritter Mann, wohl Tanchelm von Antwerpen,147 zu Boden gestürzt sind, und ein Muslim und ein Jude noch zu fliehen versuchen. Scheinbar unter der Bordüre am unteren Bildrand taucht schließlich ein Löwe auf, der die Personifikation der Häresie, den listigen Fuchs, Hand sich zu den „Verteidigern der Eucharistie“ gesellt und neben berühmten Theologen wie Thomas von Aquin und Kirchenvätern wie Augustinus und Ambrosius zu stehen kommt. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/the-defenders-of-theeucharist/c6a0ed37-f1ba-4781-9258-8eabd87ff1c2. 145 Peter Paul Rubens, „Der Sieg der Eucharistie über die Idolatrie“, ca. 1625, Madrid, Prado, 65 × 91 cm. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/the-triumph-ofthe-eucharist-over-idolatry/0c02b2a6-1562-45b0-b921-428a1a9941c0. 146 Peter Paul Rubens, „Der Sieg der Wahrheit über die Häresie“, ca. 1625, Madrid, Prado, 64,5 × 90,5 cm. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/the-victory-of-trut h-over-heresy/2dfc9ba3-6873-45af-a2a6-aa8d14b6fea4. 147 Tanchelm von Antwerpen, ein Mönch des frühen 12. Jahrhunderts, der die Eucharistie geleugnet hatte und so zum Widersacher des Heiligen Norbert geworden war, der wiederum unter den Verteidigern der Eucharistie auftaucht.

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mit mächtigem Prankenschlag erledigt.148 Im „Triumph der Kirche“,149 in dem die Ecclesia nach dem Vorbild römischer Triumphzüge auf einem prächtigen Wagen sitzt, die Monstranz hochhält und gleichzeitig von einem Engel mit der Tiara gekrönt wird, werden die Gegner ganz buchstäblich von den Rädern des Wagens zermalmt bzw. als blinde und eselsohrige Jammergestalten nebenher geführt. Rubens benutzt also unterschiedliche Pathosformeln mit großer kompositorischer Kraft, um die jeweilige Dynamik und Bewegungsrichtung in Szene zu setzen. Selbst im Breitformat gelingt es ihm mühelos, eine vertikale Bildspannung – wie im „Sieg der Wahrheit über die Häresie“ – aufzurufen. Die triumphale Aktion kann abwehrende Reaktionen, wie im „Triumph über die Idolatrie“, hervorrufen; sie kann sich aber auch von den Feinden abstoßen und durch deren Überwindung Fahrt aufnehmen. Entscheidend bleibt jeweils, dass sich die Wahrheit nicht einfach vorbehaltlos bekennen lässt; sie liegt vielmehr in der Überwindung bzw. in der Vernichtung der Gegner begründet. Jede Bestimmung der Wahrheit beruht derart auf einer radikalen Negation.150 Mit Fug und Recht lässt sich auch hier wie schon bei Bosch von einem „enmity painting“151 sprechen, einer Malerei im Dienste der Feindbild-Generierung, die tatsächlich ihresgleichen sucht. Innere Widersprüche werden in diesem bild-theologischen Programm systematisch ausgeblendet, dass etwa das Opfer eines Lammes in der Szene des „Opfers des Alten Bundes“ durchaus als gerechtfertigt erscheint, während eine ähnliche Szene beim römischen Stieropfer als Idolatrie gebrandmarkt wird. Gleichzeitig werden wiederum die brutalen, antiken Triumphzüge als Vorbild der allerchristlichsten zeremoniellen Prozessionen beansprucht.152 Die zunehmende Militanz der Gegenreformation, wie sie sich in den neuen Heiligenkulten, der liturgischen und ideologischen Mobilisierung zwischen Eucharistie und Exorzismus ebenso zeigt wie im ersten, 1616 stattfindenden, gegen das kopernikanische Weltbild gerichteten und somit anti-wissenschaftlichen Gerichtsverfahren, kulminiert hier in einer neuen, bildgestützten Wahrheits-Politik, die sich über 148 Siehe: Alejandro Vergara, „High and Passionate Songs. Thoughts on Rubens’s Pictorial Language“, in: Alejandro Vergara, Anne T. Woollett, 2014 (Anm. 138) S. 49–59. 149 Peter Paul Rubens, „Der Triumph der Kirche“, ca. 1625, Madrid, Prado, 63,5 × 105 cm. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/the-triumph-of-the-church/ a07ba8b0-f1db-4d9a-a7cd-c103422d8f16. 150 Wie im berühmten Satz des Spinoza ersichtlich wird: Omnes determinatio est negatio. 151 Joseph Leo Koerner, Bosch and Bruegel. From Enemy Painting to Everyday Life, Princeton, Oxford (Princeton University Press) 2016, S. 153f. 152 Rubens hatte seit seiner Mantuaner Zeit Andrea Mantegnas zwischen 1484 und 1492 geschaffene, neunteilige Serie des „Triumphs Cäsars“ als eine moderne Adaptionen römischer Triumphzüge vor Augen.

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alle Widersprüche hinwegsetzt.153 Das synthetische Bild scheint in seiner transformierend-verklärenden Form ebenso wie in seinen mythisch-religiösen und politischen Inhalten einen letzten, dynamischen Fluchtpunkt zu erreichen, indem alles Nicht-Integrierbare im Akt der Gewalt verstoßen wird. Die Malerei tritt jedoch nicht mehr als unmittelbare Offenbarung der Wahrheit auf, wie man etwa noch Michelangelos Decke in der Sixtina verstehen könnte – mithin als gewaltige, in Erstaunen versetzende Erscheinung des geoffenbarten Wortes –; sie muss vielmehr buchstäblich als solche benannt werden. Es wird kein wahres Ereignis vorgeführt, sondern die Wahrheit selbst in ihrem Lauf. Dementsprechend ist hier auch kein wahres Bild – im Sinne eines vera icon – zu sehen, sondern ein Bild der Wahrheit. Die Wahrheit wird selbst bildförmig, und die Mittel zur ihrer Darstellung bekommen hierbei eine gleichsam zeremonielle Funktion. So beinhalten die meisten der einzelnen Szenen etwa ein selbstreflexives Element, indem sie Cherubim zeigen, die die jeweilige Tapisserie an der gemalten bzw. gewebten Architektur aufhängen. Die Malerei entwirft hier ein Bild für die Tapisserie, das sich selbst als Bild und als Medium thematisiert. Doch darf dieses Moment der Selbstreflexion gerade nicht im modernen Sinn als eine Art von ‚Dekonstruktion‘ seines mimetischen Wahrheitsgehalts verstanden werden; vielmehr thematisiert die Malerei/ Tapisserie hier ihre eigene zeremonielle Funktion. Es sind ja die Engel selbst, die die Bilder ausbreiten und die liturgische Zurschaustellung der Eucharistie somit als Zurschaustellung ihrer Wahrheit im Bild garantieren. Mithin gibt es zwei Realitätsebenen, die sich wechselseitig unterstützen. Der Dynamismus der einzelnen Kompositionen ruft einen stark immersiven Effekt auf, der die Betrachtenden in seinen Bann zieht. Doch dieser dynamisch-illusionistische Effekt lässt die Realitätswirkung der Engel nur umso deutlicher hervortreten. Das Aufhängen der Tapisserien und somit die Präsentation der Bilder wird zum eigentlichen, zeremoniellen Akt. Denn wie der auferstandene und erscheinende Christus im Sinne der Gegenreformation bildwürdig geworden ist, kann auch die Zurschaustellung der Eucharistie im Bild zur Schau gestellt werden. Es gibt sogar eine innere Äquivalenz zwischen der Hostie und dem Bild. So wie im alltäglichen, gebackenen Brot der Hostie der Leib Christi „realpräsent“ anwesend sein kann, besitzt auch die Malerei mittels ihrer reflexiven und repräsentativen Mittel eine besondere, transformative Potenz, Wahrheit

153 Galilei war von dem Verfahren noch nicht direkt betroffen; allerdings werden im Prozess von 1632/33 dann Briefe aus dieser Zeit gegen ihn verwendet. Mit der vorübergehenden Eroberung von Breda 1625 schien auch der Sieg über die nördlichen Provinzen wieder denkbar.

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zu generieren.154 In der zeremoniellen Performanz der Bilder spitzt sich diese Potenz weiter zu. Hier zeigt sich die Realpräsenz der Malerei nicht nur auf metaphorischer Ebene; Reflexivität, Repräsentation und die besondere Form der darin artikulierten Bildakte155 befördern vielmehr einen unbedingten, neuen Realismus, tief verwurzelt in einem Glauben an die und in der Malerei. 6.5.

Platz schaffen. Die unaufhebbare Differenzialität des synthetischen Bildes

Rubens scheint in diesen Projekten – durch die schiere Größe der Bilder bei den Jesuiten, durch den Medienwechsel bei den Tapisserien für Descalzas Reales und schließlich durch die Serialität der Bildprogramme insgesamt156 – über die Grenzen des Tableaus und seiner formbestimmenden Möglichkeiten hinausdrängen zu wollen. Hier drückt sich mehr aus als bloß ein Ungenügen am Tableau und seinen marktförmigen Bedingungen, aber wohl auch mehr als bloß ein Spiel mit den phantastischen Möglichkeiten im Rahmen der Gegenreformation und des entstehenden Absolutismus. Vielmehr scheint es um eine Re-Funktionalisierung des Bildes mit den Mitteln der Malerei in einem bereits sehr modernen Sinn zu gehen, so wie wir sie aus den Rhetoriken von Idealismus und Avantgarde kennen.157 Nicht erst seit dem späten 18. Jahrhundert dürfte die Frage nach einer möglichen Funktion der Bilder im Rahmen eines neuen Realen oder einer neuen Totalität im Sinne einer als fragmentiert und gespalten erlebten Gegenwart brisant gewesen sein. Der Absolutismus bzw. der gegenreformatorisch-dynastische Komplex ist in diesem Sinne nicht das, was durch die Moderne überwunden wird, nämlich eine geschlossene, in sich ruhende, vormoderne Welt, sondern strukturell selbst bereits ein typisch modernes und dynamisches Phänomen, das auf die Synthetisierung ihrer theologisch-politischen Momente und auf die Erreichung einer neuen 154 In diesem Sinne diskutiert Susan Merriam die eucharistischen Girlanden-Bilder von Jan Davidz de Heem. Siehe: Susan Merriam, 2012 (Anm. 42), S. 138–143. 155 Im Sinne von: Horst Bredekamp, Der Bildakt, Berlin (Wagenbach) 2015. 156 Nach der Serie zum Tod des Decius Mus in den 1610er-Jahren hatte Rubens in den 1620erJahren noch Aufträge für das „Leben der Maria von Medici“ und das „Leben Heinrich IV.“, ferner zum „Leben Konstantins“ und schließlich für die Deckengemälde des Banqueting House in Whitehall, Westminster, die in den frühen 1630er-Jahren realisiert wurden. 157 Ich diskutiere diesen „funktionsästhetischen“ Zusammenhang zwischen Idealismus und Avantgarde, zwischen der Suche nach einer neuen Mythologie und dem Aufgehen im Produktivismus der postrevolutionären sowjetischen Gesellschaft in: Verf., Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books) 2007.

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Einheit zielt.158 Darin ist auch die Funktion der Bilder nicht einfach kultisch und damit im Althergebrachten begründet, sondern die Funktion liegt gerade im programmatischen Anspruch, den Verlust der als einheitlich imaginierten Gestalt des mittelalterlichen, lateinischen Christentums durch einen neuen Mythos und einen neuen Kult zu kompensieren. In der vom Tridentinum programmatisch geforderten Zurschaustellung der Eucharistie als Realpräsenz kulminieren Mythos wie Kult. Deshalb geschieht die Re-Funktionalisierung der Bilder hier nicht durch deren simple, illustrative Einbettung in einen althergebrachten mytho-politischen Zusammenhang; die Bilder propagieren ein neues „Weltbild“159 oder eine „Weltanschauung“, dessen Neuheit gerade darin besteht, dass es im Alten zu wurzeln scheint. Hier wird tatsächlich Tradition erfunden.160 Letztlich sind es die besonderen Mittel der Malerei, die den mythischen wie den kultischen Zusammenhang überhaupt erst hervorbringen und darin selbst wirklich werden wollen. Rubens’ Malerei verleiht dem Mythos erzählerischen Glanz; sie verherrlicht seinen Triumph und die Vernichtung seiner Gegner; und sie betreibt den Kult der Zurschaustellung in ihrer eigenen Performanz. So kommt es zu einer symbolischen Mobilisierung der Bilder, in denen sich der dynastisch-gegenreformatorische Macht-Komplex als Malerei realisieren kann. Wären die Bilder in dieser Form von Funktionalisierung aufgegangen, wir würden sie heute nicht als Kunst sehen können. Der Macht-Komplex, dem sie ihre Entstehung ebenso verdanken wie sich dieser in ihnen realisieren konnte, verschwindet jedoch nicht mit dem Verlust seiner historischen Wirkmächtigkeit und der Übertragung der Bilder ins Museum.161 Er bleibt in ihnen 158 in diesem Sinne: Benno Teschke, Mythos 1648: Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2007; sowie Heide Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2006. 159 Das spezifisch Neue des „Weltbildes“ der sogenannten Neuzeit herauszuarbeiten war Heideggers Anliegen im berüchtigten Vortrag „Die Zeit des Weltbildes“ von 1938, der deutlich verändert nach dem Krieg als Aufsatz erschien. Siehe: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 1950. 160 Im Sinne von: Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge (Cambridge University Press) 1983. 161 Die beiden Jesuiten-Bilder wurden nach der vorübergehenden Auflösung des JesuitenOrdens 1773 von Josef II. für die Wiener Galerie requiriert. Sie dürften noch die Größe des Museumsbaus im 19. Jahrhundert bestimmt haben und bringen diesen an seine Grenzen. Die Tapisserien sind heute noch im musealisierten Kloster als ein „nationales Erbe“ zur Schau gestellt; doch ohnehin sind es die Entwürfe von Rubens im Prado, die als die eigentlichen Kunstwerke gelten. Auch ein weiterer der großen Zyklen der 1620erJahre, der Medici-Zyklus in Paris, ließ sich problemlos aus dem Palais de Luxemburg in den Louvre übertragen.

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Kapitel 6

anwesend, auch wenn die Bilder ihre performative Kraft verloren haben und ins rein Repräsentative zurückfallen. Was wir an ihnen heute sehen können, ist daher nicht die Wahrheit und die Totalität eines kultisch zelebrierten Mythos, sondern einen Wahrheits- und Totalitätsanspruch in seinem inhaltlich wie strukturell äußerst bedenklichen und extrem gewalttätigen Ausdruck. Von Interesse kann deshalb nicht die rein künstlerische oder malerische Form sein, die diesen Exzess an Gewalt und Überwältigung hervorgebracht hat. Vielmehr ist es die Differenz von Mythos und Malerei, Kult und Kunst, Inhalt und Form, Wahrheit und Durchsetzung,162 die diesen Bildprogrammen unweigerlich eingeschrieben ist. Nur aus dieser Differenz heraus konnte sich der MachtKomplex überhaupt erst in Form von Malerei realisieren, und sie bleibt noch in der kultischen Performanz erhalten. Denn diese kann – auch hierin könnte man eine Vorwegnahme moderner Überschreitungs-Logiken sehen – nicht auf Dauer gestellt werden. Die Kult-Handlung endet, doch die Malerei bleibt. Das Museum ist die institutionalisierte Form dieser Dauer, in der die Mittel nicht einfach die Zwecke überleben, sondern selbst zum Zweck werden. Deshalb verschwindet der Kultwert im Museum nicht einfach, sondern reproduziert sich im Ausstellungswert.163 Die heteronomen Bedingungen der flämischen Malerei – Anlass, Inhalt, Mythos und Kult – fließen noch in das ‚autonome‘ Verständnis von Malerei, Kunst und Form ein. Die Differenz bleibt hier erhalten, und darin liegt letztlich der Grund, dass wir die Bilder immer noch mit Interesse – als modernitätsrelevante Realisierungen – studieren können. Denn die mytho-kultische Bild-Synthese kann nicht gelingen; sie beendet nicht die Spaltung der religiösen, politischen und ökonomischen Positionen, sondern spitzt diese zu und trägt so zur weiteren Differenzierung und Dynamisierung der Moderne bei. In dieser Tradition bleibt die Malerei auch als Kunst stets mythisch-kultisch geprägt, und dieses Erbe schreibt sich zunehmend sogar in die modernen fotografischen bzw. postfotografischen Bildwelten ein. Es gibt innerhalb der flämischen Malerei jedoch Bilder, in denen diese Differenzen nicht einfach überwunden werden sollen, sondern direkt thematisiert werden. Dies betrifft vor allem das Verhältnis zwischen dem 162 Im wohl von Adorno verfassten „Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ wird die Differenz von Epos und Mythos bzw. von Inhalt und Form in der Odyssee selbst verortet. Siehe: Max Horkheimer, Theodor  W.  Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main (Fischer), 1988, S. 52. 163 Benjamins Begriffe des Kultwerts und des Ausstellungswerts sind daher äußerst hilfreich, die besonderen Dimensionen der Symbolisierung von Malerei in der Moderne zu verstehen; sie dürfen nur nicht strikt antagonistisch aufgefasst werden. Siehe: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1996.

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Bildganzen und seinen Teilen im Rahmen der synthetischen Bildidee, in Bezug auf die materiellen Bedingungen des Tableaus oder die unterschiedlichen Genre-Konventionen ebenso wie als Kompositionsfrage. Besonders virulent wird die Frage nach dem Umgang mit der Differenz hinsichtlich der Thematisierung sozialer Verhältnisse, denn sie betrifft die Subjektivität selbst, das heißt die Frage danach, wie man sich als Künstler bzw. Künstlerin im Rahmen der spanisch-niederländischen Gesellschaft und seiner Kultur situieren konnte. Es gibt hier ja kaum das proto-bürgerliche Selbstverständnis, wie wir es in der holländischen Malerei finden, wo sich das Individuum am Markt behaupten muss, aber auch in der geselligen bzw. gesellschaftlichen Gruppe auftreten kann. Rubens und Van Dyck streben über ihre bürgerliche Herkunft zu aristokratischen Rängen hinaus; es gibt aber auch die Identifikation mit dem flämischen Volk und dessen Idealisierung, doch Sicherheit scheint letztlich nur die Familie zu gewähren. Die einzelnen Positionen schwanken zwischen höfischer und volkstümlicher, privater und öffentlicher, kritischer und affirmativer Behauptung. Das bürgerliche Bewusstsein tritt eher unterschwellig auf, etwa in Briefen und Selbstzeugnissen; keine autonome Selbstbestimmung lässt sich daran festmachen, sondern ein Sich-Einschreiben in heteronome Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Klassen und Milieus, das zuweilen die Form einer listigen Selbstbehauptung im Feld sozialer Spannungen und Widersprüche annehmen kann. Paradigmatisch in dieser Hinsicht ist ein Bild von Rubens, „Der trunkene Silen“ in München, wohl um 1618 begonnen und später mehrmals überarbeitet.164 Das Thema war für Rubens zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig neu wie die transformative Dimension des nackten männlichen Körpers. Doch die Identifikation mit der Gestalt des betrunken schwankenden Silens durch den Maler selbst setzt einen besonderen Akzent.165 Silen, als alter, fettleibiger und barhäuptiger Mann wiedergegeben, kann sich seines Zustandes wegen kaum auf den Beinen halten und schleppt sich mühsam vorwärts in seinem bacchantischen Zug. Den Oberkörper weit vorgeneigt und das rechte Bein nachschleifend ergibt die Figur nahezu eine Diagonale in dem annähernd quadratischen Bild, in dem der mächtige Bauch mit dem Nabel das eigentliche Zentrum bilden. Sein Gefolge neckt und verspottet ihn. Ein junger, schwarzer Mann drängt sich von hinten an ihn und kneift ins schlaffe Fleisch an den 164 Peter Paul Rubens, „Der trunkene Silen, um 1618 und 1625, München, Alte Pinakothek, 212 × 214,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens_-_The_ Drunken_Silenus_-_WGA20297.jpg. 165 Svetlana Alpers hat in ihrer sehr erhellenden Studie zu dem Bild diesen Aspekt der Identifikation hervorgehoben. Siehe: Svetlana Alpers, The Making of Rubens, New Haven, London (Yale University Press), 1995, S. 140.

Abb. 47 Adriaen Brouwer, „Die Raucher“, ca. 1636, New York, Metropolitan Museum, 46,4 × 36,8 cm.

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Oberschenkeln,166 während er den Rest der Gruppe hinter ihm, allen voran eine junge, rotbackige und blonde Frau, anlacht. Von vorne reicht eine alte Frau dem Silen den Weinkrug während ein Satyr üppige Weintrauben unter dem rechten Arm des Silens direkt in Richtung der Betrachtenden hält. Ein nackter und äußerst blasser Junge kommt von rechts unten ins Bild, direkt neben einem Paar kopulierender Ziegen. Ganz links sind Kopf und Pranke eines Tigers zu sehen, der ins Bild zu springen scheint, direkt auf die schwankende Hauptfigur zu. Und ganz vorne säugt eine Satyr-Frau stark vornüber geneigt ihre beiden bocksbeinigen, auf dem Boden liegenden Babys, wobei sie das Geschlecht des einen streichelt. Wir sehen diesen Silen hier also eingebettet in eine Vielfalt von Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, Männern und Frauen, Jungen und Alten, hellhäutigen und dunkelhäutigen Menschen, wobei die vielen halbmenschlichen, halbtierischen und halbgöttlichen Kreaturen manche dieser Differenzen bereits überwunden zu haben scheinen.167 Der herausgehobene Einzelne – die zentrale Figur des Silens, die Rubens’ eigene Züge trägt – ist hier nicht durch Familie, Status, Rang und Privileg gekennzeichnet, sondern durch seine fleischliche Materialität, seine Verfallenheit an Sinne und Gelüste und seine Abhängigkeit vom Gefolge. Und doch ist dieser Silen keineswegs als eine negative Figur zur moralisch-erbaulichen Abschreckung entworfen. Bereits Platon hatte seinen Sokrates mit ihm, seiner unter der Hässlichkeit der Erscheinung verborgenen Weisheit wegen, verglichen, und Vergil preist seine Künste im Gesang. Wir haben hier eine, bei all ihrer Lächerlichkeit doch auch mächtige Figur vor uns. Seine Macht scheint in seiner Schwäche zu liegen bzw. aus dieser hervorzugehen. Letztlich ist es die Gebundenheit durch die Verhältnisse, die ihn zum Singen bringt. Der Münchener „Silen“ ist ein äußerst kompaktes, ebenso detail- wie kontrastreiches Bild. Siebzehn Figuren, Menschen, Tiere und Mischwesen eingerechnet, füllen die Fläche und bieten wenige Durchblicke auf die Landschaft. Nur an einer Stelle, vor Bauch und Lende des Silens, brechen die Sonnenstrahlen als grelles Gegenlicht durch das dichte Gefüge. Entscheidend ist, dass es hier keine synthetische Einheit oder Totalität gibt. Weder werden die Details einem Ganzen untergeordnet noch stehen sie beziehungslos nebeneinander. 166 In der deutlich kleineren Kasseler Version (siehe unten, Anm. 166) hat der Silen satyrartige Bocksfüße und der junge Mann fasst ihn am Fell. 167 Siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163) S. 121: „As a creator, Silen was an isolate. He had no mate, and his songs were his alone. Rubens begins by positing him in this asocial state. And then he eases up on it. When he adds figures, he expands beyond the mythic or bacchic world: nature and culture, black and white, youth and age, peasant and burgher, beasts wild and domesticated, and the sartyress and her kids in between. Silen has relinquished his bestial hide to become a captive at the center of the world.“

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Vielmehr bleibt die Spannung, etwa zwischen dem herausgehobenen Silen und den anderen Figuren ebenso erhalten wie zwischen Menschen und Tieren, Figuren, Gegenständen und Landschaft. Rubens hatte ursprünglich die zentrale Figur auf einer deutlich kleineren, hochformatigen Holztafel in weitgehender Isolation dargestellt,168 um sodann mehrere Teile, den jeweiligen kompositorischen Interessen entsprechend, anzufügen. Das Ganze des vollendeten Bildes besteht daher ganz buchstäblich aus einzelnen, materiellen Bild-Teilen. Mit diesen Erweiterungen sozialisiert sich auch die Figur des Silens. Die Materialität des Bildträgers und die Komposition der Figuren stehen in engem Austausch miteinander. Obwohl das Bild fast ausschließlich aus einer solchen Figurenkomposition besteht, könnte es dennoch nicht weiter entfernt von Albertis Idee der historia sein. Keine heroische Handlung wird den Betrachtenden auf einer distanzierten Bühne dargeboten; vielmehr werden diese in ein schlechthin anti-heroisches Geschehen, ein weitgehend passives Sichtreiben-Lassen, eingebunden. Die Figuren drängen sich auf der vordersten Bildebene, ebenso schiebend wie bremsend, wobei zwei der Figuren, der Sartyr und die junge Frau auf der rechten Bildseite, die Betrachtenden direkt anblicken und aufzufordern scheinen, an dem Zug und der Verspottung des Silen teilzunehmen. Diese für die Niederländische Malerei so typische Nähe der Bildgegenstände zur Bildfläche und die Gleichzeitigkeit von Bewegung und Innehalten hebt die Gegenwärtigkeit des Geschehens hervor. Wir wohnen weder einem räumlich noch zeitlich fernen mythischen Geschehen bei; vielmehr nehmen wir im Akt der Bildbetrachtung aktiv am Bild-Geschehen teil. Die ‚Absorbiertheit‘ des Silens in seinem Rausch wird zum Auslöser, die Identifikation von Rubens mit dieser Figur zu bestätigen. Wir bezeugen hierbei weder ein rationales Bildkonstrukt noch einen heroischen Künstler-Typus, sondern die Kraft des Bildes selbst, die sich einem „ekstatischen Zustand“, dem „kreativen Modus“ des Dionysischen verdankt. Alpers will bei Rubens sogar eine Art von „Silenischen Produktionsmodus“ erkennen, der sich in der

168 Davon hat sich eine Werkstattkopie erhalten: Peter Paul Rubens, „Der trunkene Silen“, ca. 1618, Kassel. Gemäldegalerie Alte Meister Schloss Wilhelmshöhe, 140 × 119,5 cm. https://altemeister.museum-kassel.de/33821/. Zu diesem Verfahren siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163), S. 114–118. Generell, zu ähnlichen Verfahren in der Landschaftsmalerei siehe: George Bisacca, „Rubens’ Puzzle“, in: Gerlinde Gruber, Sabine Haag, Stefan Weppelmann, Jochen Sander (Hg.), Rubens. Kraft der Verwandlung. Ausstellungskatalog Wien, Kunsthistorisches Museum; Frankfurt am Main, Städel Museum, 2017, S. 103–110.

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seriellen Hervorbringung von Bildern, in der transformativen Kraft der Malerei und im unmittelbaren Real-Werden der Bildideen ausdrücke.169 Mit Recht wird immer davon gesprochen, dass es sich beim „trunkenen Silen“ wie etwa auch bei der „Rückkehr des verlorenen Sohnes“ um ein sehr persönliches Bild handle.170 Die Differenz zu den großen Auftragsarbeiten ist inhaltlich und in der Bildauffassung deutlich. Hier wird kein Sieger oder Tugendheld gekrönt, und auch wenn Silen einen Kranz um das Haupt trägt, so besteht dieser nicht aus Lorbeer-, sondern aus Weinblättern. Genauso wenig zeigt die Komposition irgendeine Form von Dominanz und Überwindung. Der Zug des Silens ist kein Triumphzug und es gibt hier keine Feinde. Die unbedingte Relationalität aller Verhältnisse begründet eine Dialektik von Macht und Ohnmacht, Selbstverlust und Selbstbehauptung. Wir haben kein spektakuläres und virtuoses, aber ein höchst interessantes Bild vor uns. Zweifellos will auch dieses Bild eine Einheit, doch diese Einheit löst die Differenzen nicht auf, sondern bringt sie erst eigentlich zur Erscheinung. Aus der Fülle dieser Differenzen heraus wird eine Form von malerischer Performanz entworfen, die zwischen dem körperlich-fleischlich-materiellen Realismus der Figuren und der Reflexivität der Bildlogik mit ihren Identifikationsangeboten durch Erkennen, Nähe und Teilhabe angesiedelt ist. Das Dionysische ist hier auf der inhaltlich-erzählerischen und der darstellenden Ebene angesiedelt, nicht auf der Ebene der Bildlogik. Der „Silenische Produktionsmodus“ betrifft daher eher die großen Auftragswerke als gerade dieses Bild selbst. Hier scheint vielmehr eine Art von alchemistischer Logik zu herrschen: Erst im Durchgang durch die Niederungen des Seins kommt es zu den visionären und kulturellen Höhepunkten, in diesem Fall zur Entfaltung der Kraft der Malerei als Kunst. Die derbe Sinnlichkeit seiner Erzählung überträgt sich hierbei auf die raffinierte sinnliche Präsenz der Malerei. Rubens bettet die sozialen Differenzen in eine Fülle kategorialer Differenzen ein, zwischen Natur und Kultur, dem Körperlichen und dem Geistigen, dem Unmittelbaren und dem Reflexiven. Derart begibt er sich mit seinem Silen in einen grundsätzlichen ‚repräsentativen‘ Zwiespalt, um sich darin ebenso seiner sozialen wie seiner malerischen und intellektuellen Positionen zu versichern. Diese sind tief in der Ambivalenz

169 Zur Diskussion der dionysischen Elemente bei Rubens siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163), S. 140–142. 170 Peter Paul Rubens, „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“, 1618, Antwerpen, Königliches Museum der Schönen Künste, 108 × 156 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:De_verloren_zoon,_Peter_Paul_Rubens,_(1618),_Koninklijk_Museum_voor_Schone_ Kunsten_Antwerpen,_781.jpg Beide Bilder hatte Rubens wohl für sich behalten. Sie tauchen im Nachlass auf.

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zwischen Gelehrsamkeit und handwerklicher Praxis, öffentlich-politischer und privater Existenz, kreativem Furor und innerem Vorbehalt verankert. Das Thema der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft und Kultur, und somit die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe, beschäftigt Rubens noch in späteren Bildern. Insbesondere als er nach langen Aufenthalten in Spanien und England in diplomatischen Missionen zu Beginn der 1630er-Jahre gleichsam ein zweites Mal nach Antwerpen zurückgekehrt war und dort auch ein zweites Mal heiratete. Doch die Bedingungen hatten sich in der Stadt grundlegend verändert. Denn trotz seines Erfolges bei den Friedensverhandlungen zwischen Spanien und England scheitert Rubens mit seiner eigentlichen diplomatischen Zielsetzung, einen neuen Waffenstillstand mit den nördlichen Provinzen auszuhandeln. Nach dem Tod von Isabella Clara Eugenia im Jahr 1633 kommt es zu einer verfahrenen Situation, weil sich weder die Holländer friedensbereit zeigen, solange die Spanier in Brüssel säßen, noch der spanische König Philipp IV., der von einem Kompromiss mit den abtrünnigen Häretikern nichts wissen will, allerdings auch nicht bereit ist, Mittel für eine erfolgreiche Fortsetzung des Krieges zur Verfügung zu stellen. Die Schelde bleibt daher gesperrt, und der Elan der gegenreformatorischdynastischen Rekonstruktion der Stadt erlahmt. Das städtische Patriziat zieht sich vermehrt auf seine Landsitze zurück, und Rubens, inzwischen geadelt und in England zum Ritter geschlagen, erwirbt das südlich von Mechelen gelegene Schloss Het Steen.171 In seiner Malerei rücken nun ländlich-bukolische Themen in den Vordergrund, auch wenn der Werkstattbetrieb fast ungebremst weiterläuft. Im Rückgriff auf Pieter Bruegel d. Ä. sind es besonders das flämische Alltagsleben, Bauerntanz und Kirmes, sowie mythologisch aufgeladene Landschaften, die sein Interesse wecken. Das bäuerliche Leben wird hierbei meist äußerst derb dargestellt. 1631 hatte Rubens von dem eben von Haarlem nach Antwerpen gezogenen Adriaen Brouwer mehrere Bilder erworben, die sein Interesse an der Darstellung von drastischen Affekten geweckt haben müssen. Im „Kirmes“172 gibt es wieder, wie im Silen oder im „Verlorenen Sohn“ die Annäherung an tierische Seinsweisen, an das Derb-Sinnliche im Säugen und Sich-Lieben, im Raufen, Saufen und Erbrechen. Gleichzeitig werden jedoch die tanzenden Paare zu Girlanden verschlungen, wie sie sich auf ähnliche 171 Zum politischen und ökonomischen Kontext der 1630er-Jahre siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163) S. 25–33. 172 Peter Paul Rubens, „Die Flämische Kirmes“, 1635–1638, Paris, Louvre, 149 × 261 cm. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens_-_The_Village_F%C3%AAte_ (Flemish_Kermis)_-_WGA20406.jpg Zur formalen Analyse des Bildes siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163), S. 44–47.

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Weise auch in den mythologischen Themen, dem „Venusfest“173 oder einem der Bacchanale finden. In der Figurengirlande werden Bacchanal und Kirmes, die hohe Kultur der humanistischen Gelehrten und die niedrige Kultur des flämischen Volkes gleichsam kurzgeschlossen. Die Differenz verschwindet jedoch nicht. Vielmehr repräsentieren beide Darstellungsmodalitäten eine jeweils für sich stehende, idealisierte Einheit. Sowohl in der sittsameren, bürgerlichen Variante des „Venusfestes“, in der der Girlanden-Tanz der ineinander verschlungenen Paare von Nymphen und Satyrn mythologisiert wird, während zwei junge bürgerliche Frauen von rechts kommend vorsichtig den Hain der Venus betreten,174 als auch in der derb-bäuerlichen Variante der „Kirmes“ ist die Gewaltförmigkeit des Aufeinandertreffens der Geschlechter jeweils in einer höheren Einheit aufgehoben, sei es die ferne, mythisch verklärte Natur der Antike, sei es die ‚Natur‘ des flämischen Volkslebens. Jeweils wird eine distanzierte und erhöhte Sichtweise eingenommen, die vor allem im Fall der „Kirmes“ nichts mehr mit der Nähe und Teilhabe an den volkstümlichen Vergnügen zu tun hat, wie sie Jan Sanders van Hemessen und Pieter Bruegel d. Ä. im 16. Jahrhundert sowie Adriaen Brouwer und Adriaen van Ostade in Haarlem propagiert hatten. Hier ist es wiederum der Blick aus dem Schloss, mit dem die malerische Erforschung des Alltagslebens im frühen 15. Jahrhundert begonnen hatte. Während Rubens im „Venusfest“ zum Höhepunkt seines „internationalen“, an den Madrider Tizians geschulten Stils gelangt, ringt er in der „Kirmes“ mit dem lokalen Idiom der flämischen Tradition.175 Die synthetische Bildauffassung kann in beiden Fällen weder in ein dominantes Wahrheits-Ereignis, wie im Fall der Eucharistie, überführt werden, noch bleiben die existenzialen, sozialen und kulturellen Differenzen für sich bestehen wie im „Silen“. Diese sollen durchaus eingebunden und zumindest imaginär überwunden werden. Hier wird mythische, kulturelle und malerische Tradition erfunden. Die jeweilige Einheit wird zum Fluchtpunkt der einzelnen Bilder, die nur aus der ebenso erhöhten wie distanzierten Position der Betrachtung erfassbar ist. Auch in der etwa zeitgleich vollendeten „Landschaft mit Philemon

173 Peter Paul Rubens, „Das Venusfest“, 1636–1637, Wien, Kunsthistorisches Museum, 217 × 350 cm. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1a/Peter_Paul_Rubens_-_ The_Feast_of_Venus_-_Google_Art_Project.jpg. 174 Eine ältere, von Eroten und Girlanden umgebene Frau vollzieht als Priesterin ein Ritual in der Mitte des Bildes, während die äußerst lebendig wirkende Statue der Venus hinter ihr von zwei weiteren Frauen geschmückt wird. 175 Alpers betont die Ungereimtheiten des Bildes und betont die Schwierigkeiten Rubens’ mit diesem lokalen Idiom zu Rande zu kommen. Siehe: Svetlana Alpers, 1995 (Anm. 163), S. 58.

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und Baucis“176 gibt es keinen Standpunkt für die Betrachtenden, eher ein an die Weltlandschaften erinnerndes Panorama, in dem sich das Drama des sintflutartigen Untergangs der Welt in Szene setzt. Denn was diplomatisch nicht erreicht werden kann, wird hier mytho-poetisch mit den Mitteln der Malerei beschworen. Diese Bilder zeigen in sich zwar weitgehend abgeschlossene Welten, die in ihrem Nebeneinander jedoch als jeweils alternative Formen und Vorstellungen einer finalen Zugehörigkeit gelesen werden können. Hier werden Weltbilder im Augenblick einer tief erlebten Krise entworfen,177 und die transformative Potenz der Malerei verklärt nun ihre eigene Machtlosigkeit. Bei Jakob (Jacques) Jordaens (1593–1678), einem der frühen WerkstattMitarbeiter, der nach dem Tod von Rubens noch den letzten großen Auftrag für den spanischen König fertigstellte,178 finden wir die Auseinandersetzung um die Natur der Gemeinschaft ebenso wie die Frage nach der satyrhaften Existenz des Menschen. Satyr und Satire stehen bei ihm in einem unmittelbaren Zusammenhang. Zwischen dem Alltag des bäuerlichen Lebens und der besonderen literarischen Tradition des nördlichen Humanismus gibt es keinen Gegensatz; wie schon bei Jan Sanders van Hemessen und Pieter Aertsen im 16. Jahrhundert verschmelzen die Fabeln Aesops, die Satiren Juvenals und Bildbeschreibungen von Plinius d. Ä. mit der zeitgenössischen Wahrnehmung der lokalen, flämischen Welt.179 Die Derbheit der Themen und der Darstellungsweisen hat also durchaus Methode. Es gibt keine Differenz zwischen einem hohen und einem niedrigen Stil, und daher keine Spannung, die irgendwie zu bändigen wäre. Dementsprechend finden sich bei Jordaens, obwohl er sich in seinem eigenen Werk zeitlebens eng an die Vorgaben der Rubens’schen Figurenmalerei hält, kaum Spuren einer transformativen bzw. transfigurativen

176 Auch dieses Bild ist über einen langen Zeitraum hinweg entstanden, wobei Rubens immer wieder Teile an das Tableau angestückelt hat. Peter Paul Rubens, „Gewitterlandschaft mit Jupiter, Merkur, Philemon und Baucis“, zwischen 1620 und 1635, Wien, Kunsthistorisches Museum, 147,1 × 209,6 cm. www.khm.at/de/object/46031b3d04/. 177 Alpers betont mit Recht den grundlegend krisenhaften Aspekt dieser Bilder. Siehe: Svetlana Alpers 1995 (Anm. 163), S. 27. 178 Es handelte sich um eine Serie von sechzig Gemälden, die für das königliche Jagdschloss Torre de la Parada bestellt worden waren. Zu Jordaens Rolle in der Ausführung siehe: Hans Vlieghe, „Jacob Jordaens’s Activity for the Torre de la Parada“, in: The Burlington Magazine, Vol. 110, Nr. 782, Mai 1968, S. 262–268. 179 Generell zum Bezug Jordaens auf antike Quellen siehe: Joost vander Auwera, Justus Lange, Irene Schaudies (Hg.), Jordaens und die Antike, Ausstellungskatalog, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Museumslandschaft Hessen Kassel, München (Hirmer), 2012.

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Dimension und nur sehr wenige von Gewalt.180 In Bezug auf das synthetische Bildverständnis lässt sich bei ihm eher von einer Verdichtung sprechen. Er überträgt gleichsam das Gestaltungsprinzip Jan Brueghels in das Feld der großformatigen Figurenmalerei. Hierbei verdichtet er jene aus dem 16. Jahrhundert stammenden Genres wie Stillleben, Tierdarstellungen, Küchenstücke und Marktbilder, vielfach wiederum unmittelbar an van Hemessen und Aertsen anknüpfend, ebenso wie Figurenansammlungen. Die Bauern werden in der monumentalen Darstellungsweise der Historienmalerei und gleichzeitig in genrehaften Szenen gezeigt. Die derart kondensierte, bäuerliche Gemeinschaft kann euphorisch zelebriert werden – in Bildern wie etwa „Der König trinkt“ oder „Wie die Alten sungen, so pfeifen auch die Jungen“ –, sie scheint aber auch das Problem der Positionierung des Einzelnen aufzuwerfen. Vor allem in den wenigen städtischen Szenen wird dies sichtbar: Platz schaffen inmitten des Gewühls von Menschen, Tieren und auf Marktständen angebotenen Waren wird in mehreren Bildern das eigentliche Thema. Insbesondere in „Diogenes mit der Laterne, auf dem Markt Menschen suchend“ von 1642181 scheint der kynische Philosoph (Diogenes von Sinope) als eine Verbindung der Senecaund der Silen-Figuren von Rubens auf.182 Fast nackt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, tritt er als alter Mann mit loderndem Haar, wallendem Bart und faltigem Oberkörper, frontal und zentral ins Bild gesetzt, den Betrachtenden entgegen. Die rechte Hand mit der Laterne erhoben, die linke auf einen Stock vor dem Körper gestützt, schiebt er sich durch das Getümmel von Menschen, Tieren und Früchten auf dem Athener Marktplatz. Die Menschen verspotten ihn, nur einige wenige geben sich nachdenklich angesichts der Suche nach einem „wahren Menschen“, die der Philosoph mit den Mitteln eines schwachen Kerzenlichts am helllichten Tag betreibt. Zweifellos soll das Anliegen dieser Suche auch an die direkt adressierten Betrachtenden gerichtet werden. Wir haben gleichsam die Wahl, in das Gelächter über die Figur des kynischen Philosophen, seine Methode oder die Frage selbst einzustimmen, was angesichts des wenig ernsten Ausdrucks des Diogenes und des Charakters des Bildes insgesamt nicht verwunderlich wäre, oder aber wir erkennen uns als 180 Fast wie ein Zitat aus den Tapisserien für Descalzas Reales taucht in der „Apotheose von Frederick Hendrick“, die Jordaens 1652 für das Huis ten Bosch in der Nähe von Den Haag gemalt hat, ein solches Moment der Zermalmung der Gegner auf – allerdings wohl deutlich ins Burleske gewendet. 181 Jakob (Jacques) Jordaens, „Diogenes mit der Laterne auf dem Markt Menschen suchend“, 1642, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, 233 × 349 cm. https://skd-online-collection. skd.museum/Details/Index/331165. 182 In diesem Sinne: Ulrich Heinen, „Psyche, Satyrn, Philosophen. Jordaens und die Weisheit der Alten“, in: Joost vander Auwera, Justus Lange, Irene Schaudies, 2012 (Anm. 177) S. 138.

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die von Diogenes gemeinten „wahren Menschen“, die nun über die Lachenden und Spottenden wiederum lachen können und somit eine moralisierende und tendenziell kulturkritische Position beziehen.183 In der wenig später entstandenen „Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel“184 geht es zweifellos etwas ernster zu, doch der burleske Charakter bleibt auch hier erhalten. Anstelle des Diogenes ist es nun Jesus, der sich im Gedränge der Bauern, die im Tempel die Früchte ihrer Arbeit anbieten, Geltung zu schaffen versucht. Eine Stelle des JohannesEvangeliums fast wörtlich aufgreifend, setzt Jordaens hier das Rubens’sche Vokabular der stürzenden Figuren virtuos in Szene, ohne ihm allerdings eine besondere Richtung zu geben. Jordaens’ Jesus treibt keinen Dämonen aus; vielmehr scheint er bloß ein großes Durcheinander anzurichten; die Bauern und Händler fallen durcheinander, eher aus dem Bild heraus als aus dem Tempel. Der Erfolg der gottmenschlichen Aktion scheint keineswegs gewährleistet zu sein, nehmen doch einige der Beteiligten die Sache von der eher heiteren Seite. Im Vergleich mit van Hemessens geradezu fanatischer Version des Themas von 1557 bleibt hier die Sympathie bei den Bauern und Händlern. Es gibt keinen Ausblick, keinen reinigenden Furor, sondern eher eine etwas hilflose Aktion. Nur die über dem Geschehen thronenden bürgerlichen Geldwechsler in ihren bereits stark antisemitisch anmutenden Physiognomien wirken ernsthaft beunruhigt. Gerade die wörtliche Bezugnahme auf den Text des Evangeliums scheint deren Sinn somit auf den Kopf zu stellen. Dennoch wäre damit das religiöse Engagement von Jordaens unterschätzt. Um 1650 konvertierte er zur reformierten Kirche und musste, der Verbreitung häretischer Schriften wegen, sogar ein beträchtliches Bußgeld bezahlen. Dennoch malte er weiterhin mit seiner zu diesem Zeitpunkt bereits großen Werkstatt auch für katholische Auftraggeber. Die Frage nach der Differenz muss für ihn daher über die Bildlogik hinaus stets auch eine religiöse und politische Dimension gehabt haben. Es gibt in seinen Bildern keine Aufhebung der Differenz in einer Form von Totalität; selbst die einheitlichsten Kompositionen, bäuerlicher oder mythologischer Natur, bewahren eine grundsätzliche Differenz zumindest im Verhältnis zu den Betrachtenden. Wenn es eine Einheit gibt, dann ist es eine Einheit in der Differenz. Dies wird 183 Diese Lesart entspricht derjenigen der Dresdener Galerie: „Die derben, karikaturhaft überzeichneten Marktbesucher verspotten den Philosophen und werden in Jordaens’ Szene zugleich zum Gegenstand des Spottes des Betrachters.“ https://skd-online-collection.skd. museum/Details/Index/331165. 184 Jakob (Jacques) Jordaens, „Die Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel“, 1645–1650, Paris, Louvre, 288 × 436 cm. https://www.louvre.fr/en/oeuvre-notices/ jesus-driving-merchants-temple.

Abb. 48 Michaelina Wautier, „Bacchanal“, vor 1659, Wien, Kunsthistorisches Museum, 270 × 354 cm.

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besonders in einem geradezu einzigartigen Bild der frühneuzeitlichen Malerei deutlich, das Jordaens um 1650 malt. Es stellt Moses mit seiner äthiopischen Frau dar.185 (Abb. 46) Nicht die sympathisierende Darstellung einer schwarzen Frau ist hier außergewöhnlich – Rubens hatte in den 1610er-Jahren bereits eine Reihe von sympathisierenden Darstellungen von Menschen afrikanischer Herkunft gemalt186 –, sondern der programmatische Charakter des Bildes, der der Thematik einen entscheidenden Stellenwert in den damals anbrechenden Auseinandersetzungen um die Sklaverei ebenso verleiht wie um die religiöse Bedeutung von Liebe und Nächstenliebe im Kontext dessen, was wir heute als „interracial relationships“ bezeichnen würden. Das in der Bibel nur kurz erwähnte Thema (Numeri  12) – Moses hatte in seiner ägyptischen Zeit an einem Feldzug ins Land Kush/Äthiopien teilgenommen und Tharbis, die Tochter des dortigen Königs, geheiratet, noch bevor er gegen die Midianiter, wohl in Arabien zog und dort dann Zippora/Sephora ehelichte – hat bis in die reformatorischen Bibelübersetzungen hinein große Verwirrung gestiftet, sowohl hinsichtlich der Identität bzw. Differenz von Tharbis und Zippora als auch hinsichtlich der Frage, ob Tharbis Afrikanerin und von schwarzer Hautfarbe oder arabisch und somit weiß gewesen sei.187 Der Sinn des Protestes von Mirjam und Aaron gegen die Heirat ihres Bruders Moses, in dessen Rahmen diese Hochzeit erst Erwähnung findet, lässt sich allerdings kaum anders als mit ihrer afrikanischen Herkunft erklären, wird doch Mirjam für diesen Protest von Gott mit der sinnbildlich „weißen Lepra“ bestraft. Jordaens positioniert sich hier eindeutig. Das Bild situiert Moses leicht aus der Bildmitte gerückt und doch fast bildfüllend im Vordergrund, die linke Hand besitzergreifend auf die Gesetzestafeln gelegt, und die rechte Hand argumentierend in Richtung der Betrachtenden ausgestreckt. Die dunkelhäutige Tharbis, wohl nach einer realen Person gemalt, tritt ihm in afrikanischer Kleidung von hinten zur Seite; ihr Blick scheint leicht an den Betrachtenden vorbei zu streifen, die rechte Hand hat sie an ihr Herz gelegt. Als Frau bleibt sie so dem „Mann Moses“ klar untergeordnet; gleichzeitig fungiert ihr breiter Hut mit seinen drei Bändern wie ein Heiligenschein, der ihre besondere, symbolische Rolle unterstreicht. 185 Jakob (Jacques) Jordaens, „Moses und seine äthiopische Frau“, ca. 1650, Antwerpen, Rubenshuis, 104 × 116,3 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacob_Jordaens_-_ Moses_and_his_Ethiopian_wife_Sephora.jpg. 186 Allerdings vorwiegend Männer, so in der „Anbetung der Könige“, im Neuburger „Jüngstem Gericht“, und im „trunkenen Silen“. Exemplarisch ist die Skizze mit den vier Kopfstudien eines jungen schwarzen Mannes in Brüssel, die immer wieder in den großen Bildern Verwendung finden. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens_-_Four_ Studies_of_the_Head_of_a_Negro_-_WGA20382.jpg. 187 In Calvins Bibelübersetzung ist die Frau weiß, in derjenigen Luthers ist sie schwarz.

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Elizabeth McGrath hat überzeugend argumentiert, dass wir Moses nicht als den Gesetzgeber des Alten Bundes vor uns haben, dass vielmehr die Gesetzestafeln mit Bedacht zur Seite geschoben werden, um Platz zu schaffen für ein neutestamentarisches Verständnis von Liebe bzw. Ehe und Nächstenliebe, die auch Fremde betrifft und hier mit der Heiligkeit von Tharbis, die Maria und die gesamte Kirche vorwegzunehmen scheint, begründet wird.188 Spezifisch reformatorische Vorstellungen der priesterlichen Ehe gehen hier Hand in Hand mit jener Auffassung der Jesuiten von der Heilsfähigkeit aller Menschen, die bereits seit dem 16. Jahrhundert gegen die Sklaverei Stellung bezogen und für die Missionierung der Afrikaner und Afrikanerinnen sowie der indigenen Bevölkerung in den Amerikas geworben hatten.189 Das Bild propagiert keinen neuen Glauben oder Mythos; es argumentiert vielmehr und versucht die Betrachtenden von der Einheit des Alten und des Neuen Testaments, von Mann und Frau, weiß und schwarz, hier und anderswo, Kirche und Prophet, Liebe und Nächstenliebe, mithin von der Einheit in der sozialen und religiösen Differenz, zu überzeugen. Dieses Bild will die Betrachtenden nicht immersiv in seinen Bann ziehen; es scheint vielmehr mit seiner argumentativen Struktur aus dem Bild herauszutreten. Auf ähnliche Weise adressieren auch einige Bilder von Adriaen Brouwer und Michaelina Wautier ihre je eigene Wahrnehmungssituation. In „Die Raucher“, ein Bild, das Brouwer wohl um 1636 in Antwerpen gemalt hat,190 (Abb. 47) sieht man den Maler selbst und einige seiner Freunde oder Kumpane in der Kneipe. Es sind nicht die Bauern oder Soldaten, wie sonst im Genre der Tavernen-Bilder üblich, die sich hier dem Vergnügen des Rauchens und Trinkens hingeben und dafür von einem moralisierenden Blick bestraft werden, sondern die Künstler selbst. Durchaus bürgerlich gekleidet, imitieren sie in Verhalten und Gestik das derbe Treiben des ‚einfachen Volks‘ und konfrontieren derart den betrachtenden Blick. Brouwer selbst sitzt in der Bildmitte, das rechte Bein auf einem niedrigen Schemel, wodurch er, wie bei einigen der Porträts von Frans Hals oder Judith Leyster, in eine leichte, höchst instabil wirkende Schräglage gerät. Den Bierhumpen in der rechten, die Pfeife in der linken Hand, blickt er mit offenem Mund, aus dem die Rauchschwaden entweichen und mit weit aufgerissenen Augen direkt in Richtung der Betrachtenden. Neben ihm, selig vor sich hin grinsend und eine Pfeife stopfend, 188 Elizabeth McGrath, „Jacob Jordaens and Moses’s Ethiopian Wife“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 70, 2007, S. 247–285. 189 Wie bei Rubens zu sehen war, ist die Mission nur eine andere, allerdings weniger direkte Form der Gewalt. 190 Adriaen Brouwer, „Die Raucher“, ca. 1636, New York, Metropolitan Museum, 46,4 × 36,8 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adriaen_Brower_-_The_Smokers.jpg.

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sitzt Jan Davids de Heem, der Stillleben- und Girlandenbild-Maler, und in seinem Rücken drückt sich ein weiterer Kumpan das eine Nasenloch zu, um den Rauch durch das andere entweichen zu lassen. Das Rauchen selbst wird so jeweils zur Grimasse, mit der die Betrachtenden konfrontiert werden. Und schließlich folgen die beiden weniger porträthaft wiedergegebenen Charaktere am hinteren Ende des Tisches191 mit ‚transzendent‘ überdrehten Blicken den Rauchschwaden über ihnen. Obwohl sie dicht aneinander gedrängt sitzen, kommunizieren die fünf Männer nicht miteinander. In ihrer Geselligkeit macht sich bereits ein asoziales Moment breit, das sich in der akuten Abgrenzung zu den Betrachtenden noch zuspitzt. Die Imitation des bäuerlichen Lebens bzw. desjenigen Lebens, das sich diese bürgerlichen Maler als bäuerlich vorgestellt haben, mutet tatsächlich bohèmehaft an.192 Es zeigt zumindest die Unsicherheit der sozialen Zuordnung zwischen der projektiven Identifizierung mit den niederen Klassen, die durch die geöffnete Tür im Hintergrund sichtbar bleiben, und einer herausfordernden Haltung der entstehenden ‚hohen‘ Kultur der Bildbetrachtung und des Sammelns gegenüber an. Die repräsentative SelbstEntstellung einzelner Personen und eines Milieus insgesamt vermittelt diesen Konflikt zwischen dem Davor und dem Dahinter des Bildes nicht; sie schafft jedoch Platz für eine soziale Idee des Künstler-Seins, die letztlich im Medium der Malerei als einer symbolischen Schwelle selbst begründet liegt. Auch wenn Michaelina Wautier (1620–82),193 aus Wallonien stammend und im Umfeld des Hofs von Erzherzog Leopold Wilhelm in Brüssel tätig, ihr großes Bacchanal mit bereits deutlich klassizistischem Einschlag in den 1650er-Jahren malt,194 (Abb. 48) bleibt die soziale Differenz als Frage nach der je eigenen Zugehörigkeit und spezifisch künstlerischen Position erhalten. Dieser nun deutlich humanisierte Zug des Bacchus wälzt sich über viele Figuren hinweg durch das breite Format des großen Bildes. Wieder tauchen Tiere und Menschen auf, doch sie scheinen an ihrem Platz in der Hierarchie der Seinsweisen zu 191 Unter ihnen möglicherweise Jan Lievens und Jan Kossiers. 192 Walter  A.  Liedtke, Flemish Paintings in the Metropolitan Museum of Art, New York (The Metropolitan Museum of Art) 1984, S.  7: „In Brouwer’s day, smoking was a new, controversial, and still asocial activity that was compared (not without reason, given the tobacco of the time) to getting drunk. Dutch authors and still-life painters treated smoking as a vanitas theme. The same is clear for in all of Brouwer’s smoking scenes but the present one, where the painters unapologetically celebrate – or so, it seems at first – a Bohemian lifestyle.“ 193 Zu Michaelina Wautier siehe: Katlijne van der Stighelen (Hg.), Michaelina Wautier 1604– 1689: Gloryfying a Forgotten Talent, Ausstellungskatalog Antwerpen, Museum aan de Stroom, 2018. 194 Michaelina Wautier, „Bacchanal“, vor 1659, Wien, Kunsthistorisches Museum, 270 × 354 cm. www.khm.at/de/object/4e62e752ae/.

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verbleiben, und insgesamt ist die versammelte Gesellschaft deutlich homogener als bei Rubens. Selbst der bocksbeinige Satyr zeigt seine menschlichen, arbeitsamen Seiten, indem er den Schubkarren schiebt, auf dem sich der trunkene Gott in seiner prallen, nackten Männlichkeit auf einem Leopardenfell räkelt. In das Gefolge des Bacchus und somit in diese humanistisch verklärte Variante des naturhaften Seins reiht sich nun die Malerin selbst als Mänade ein. Als einzige Figur mit porträthaften Zügen – sie ist durch den Vergleich mit einem Selbstporträt klar erkennbar – adressiert sie auch als einzige Figur die Betrachtenden mit ebenso spöttischem wie herausforderndem Blick. Die Malerin projiziert sich selbst ins Bild und blickt gleichzeitig aus diesem heraus. Sehen und Gesehen-Werden werden ins Verhältnis zueinander gesetzt, ebenso wie die soziale Zugehörigkeit zum Gefolge und einer bloß zusehenden Position. Vielleicht lässt sich das Bild als ironischer Kommentar zum höfischen Leben lesen. In jedem Fall parallelisiert es die sozialen und bild- bzw. betrachtungsbezogenen Relationen und lokalisiert somit die (Selbst-)Reflexivität auf der Ebene der Repräsentation selbst. * * * Das letzte Wort zur flämischen Malerei gebührt ihrer symbolischen Selbstabschaffung. Im Frühjahr 1647 war Erzherzog Leopold Wilhelm aus der österreichischen Linie der Habsburger zum spanischen Statthalter in Brüssel ernannt worden. Er suchte schnell den Friedensschluss mit den Holländern, um sich mit diesen gemeinsam dem neuen Feind, der expansiven Politik Ludwig XIV., entgegenzustellen. Tatsächlich erzielt er anfangs militärische Erfolge und kann einige wallonische Städte von den Franzosen wiedergewinnen. Größeres Renommee zieht er jedoch aus der Niederlage der Royalisten im Englischen Bürgerkrieg, als es ihm gelingt, einen Großteil der Kunstsammlung des 1649 hingerichteten Duke of Hamilton und viele Werke aus den Sammlungen des Duke of Buckingham, des Earl of Arundel und auch von König Karl I. zu erwerben. In England war, ausgehend wohl von der obsessiven Begeisterung195 für die venezianische Malerei durch Anthonis van Dyck, der auch Rubens gefolgt war und die ihn zu seinen vielen Kopien der Gemälde Tizians während seines Aufenthalts in Madrid 1628 angeregt hatte, der Ankauf von Werken und ganzen Sammlungen aus Venedig und einigen anderen Städten Italiens in den 1630er-Jahren zum äußerst kompetitiven Prestigeprojekt unter den Adeligen 195 Zu van Dycks Einfluss auf die englischen Sammler siehe: Jonathan Brown, Kings and Connaisseurs. Collecting Art in Seventeenth Century Europe, New Haven, London (Yale University Press) 1995.

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geworden.196 Als nun im Jahr 1651 der Antwerpener Genre-Maler David Teniers d. J. (1610–90) als Hofmaler nach Brüssel berufen wurde, bestand seine Hauptaufgabe darin, die neu erworbenen Sammlungen des Erzherzogs zu betreuen und zu dokumentieren. Hierfür greift Teniers zuerst das in Antwerpen bereits etablierte Genre des Galeriebildes auf, um dieses der neuen Aufgabe anzupassen. Es geht nun nicht mehr darum, mit Gemälden geschmückte Interieurs darzustellen, sondern darum, Räume zu erfassen, die fast ausschließlich aus Bildern bestehen und nur für deren Präsentation angelegt sind.197 (Abb. 49) Geschlossene Bilderreihen füllen die Wände vom Boden bis zur Decke. Davor lehnen weitere Gemälde und im Hintergrund kann sich eine Tür zu einem weiteren mit Bildern gefüllten Raum hin öffnen. Gerade noch ein Tisch und vielleicht die zur Beleuchtung notwendigen Fenster sind zu sehen, jedoch kaum mehr oder gar keine Skulpturen, keine Globen und wissenschaftliche Instrumente, keine Naturalien. Nur mehr Malerei. Das Tableau als sammelbares Objekt erscheint hier als der entscheidende Anlass der Malerei. Es begründet eine Repräsentation, die sich nicht im mimetischen Bezug auf die äußere Welt erschöpft, sondern nur im Bezug der Bilder aufeinander ihre Funktion für den Fürsten wie seinen Hofmaler erfüllen kann. Der Fürst lässt sich nicht mehr von der Malerei in seinem feudalen Stand und seiner gottgewollten Legitimität repräsentativ fassen; vielmehr repräsentiert er sich durch die Malerei, durch ihren Besitz und sein Wissen um ihren Wert. Hier treten uns weder ein Kuriositätenkabinett noch ein bürgerliches oder adeliges Heim, und auch kein phantastisch ausgeschmückter imaginärer Salon entgegen, sondern eine konkrete Kunstsammlung als Früh- oder Vorform des Museums, die zumindest ansatzweise taxonomisch, nach Größe und Genre, geordnet ist. Die Präsentationssynthesen der flämischen Malerei kulminieren in diesen Bildern. Wir sehen die Totalität einer Bildwelt, die gleichzeitig ein repräsentatives 196 Generell zur Ankaufspolitik von Leopold Wilhelm und den englischen Lords siehe: Margret Klinge, „David Teniers and the Theatre of Painting“, in: Ernst Vegelin van Claerbergen (Hg.), David Teniers and the Theatre of Painting, Ausstellungskatalog London, Courtauld Institute of Art Gallery (Paul Holberton Publishing) 2006, S. 10–39. 197 Vor allem die ersten drei Bilder dieser Art: David Teniers d. J., „Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Gemäldegalerie“, ca. 1650, Wien, Kunsthistorisches Museum, 124 × 165 cm. www. khm.at/de/object/af3303f852/. David Teniers d. J., „Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Gemäldegalerie in Brüssel,“ ca. 1651, Madrid, Prado, 104,5 × 130,4 cm. https://www.museodelprado.es/en/the-collection/ art-work/the-archduke-leopold-william-in-his-picture/461e64f1-71a3-46fb-961b3958286a12c5. David Teniers d. J., „Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Gemäldegalerie in Brüssel“, ca. 1651, Petworth House, West Sussex, 127 × 163 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Gallery_of_Archduke_Leopold_Wilhelm_in_Brussels_-_Petworth_House.jpg.

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Weltbild darstellt. Weit davon entfernt, die Autonomie der im einzelnen Tableau wurzelnden Auffassung der Malerei als eines singulären Kunstwerks zu begründen, zeigt sich im strukturellen Zusammenhang der Bilder aufeinander ein allgemeiner Begriff von Malerei, der später zum Allgemeinbegriff von Kunst mutieren wird. Das heißt, die Differenz innerhalb der Teniers’schen Bildsynthese betrifft nun die Differenz der Bilder untereinander, woraus sich auch eine Vorstellung von Einheit ergibt, die sowohl die konkrete Anhäufung von einzelnen, voneinander gut abgegrenzten Gemälden als Sammlung betrifft wie die paradigmatische Repräsentation dieser Sammlung als Malerei- oder Kunstsammlung im Allgemeinen. Die Sammlung versammelt nicht nur einzelne, mehr oder weniger beliebige Objekte zu einem Bilder-Strauß, sie transformiert diese Objekte wie die Biene in eine Idee von Malerei im Allgemeinen oder von Kunst schlechthin. Als geschlossene Einheit einer konkreten Ansammlung ist sie zugleich grundsätzlich offen und erweiterbar, weil sie den Allgemeinbegriff der Malerei jeweils nur beispielhaft repräsentieren kann. Die Sammlung als Repräsentation des Allgemeinbegriffs von Malerei fordert daher auch eine Kunst des Kopierens und Dokumentierens ein. Dementsprechend arbeitet Teniers an einer Art von Katalog, dem Theatrum Pictorum, der 1660 als erste, bebilderte Dokumentation einer Malerei-Sammlung publiziert wurde und ein entscheidendes Dokument für die Entstehung des modernen Kunstbuchs darstellt.198 Form, Format und Genre dieser Galeriebilder stehen deutlich in der flämischen Tradition von Jan Brueghel d. Ä., dem Schwiegervater Teniers’, oder von Frans II. Franken und Willem van Haecht. Den Bedürfnissen des Brüsseler Hofes unter Leopold Wilhelm entsprechend, entwickelt Teniers das Genre weiter und spitzt es auf die Repräsentation einer reinen Sammlung zu. Über diese behutsame Erweiterung der Tradition hinaus gibt es jedoch einen fundamentalen Unterschied auf der inhaltlichen Ebene, der die Ambitionen der früheren Galeriebilder gleichsam auf den Kopf stellt. Denn dort war es vornehmlich darum gegangen, die Kabinette und Sammlungen in ihrem lokalen Umfeld und dieses in seiner geschichtlichen Entwicklung darzustellen. In den beiden Bildern, die Willem van Haecht 1628 und 1630 gemalt hat,199 scheint der Stolz auf die Tradition der Niederländischen Malerei und speziell die Antwerpener Malerschule durch die Darstellung von Werken Jan 198 Francis Haskell, The Painful Birth of the Art Book, London (Thames & Hudson) 1987; sowie: Giles Waterfield, „Teniers’s Theatrum Pictorum: Its Genesis and its Influence“, in: Ernst Vegelin van Claerbergen, 2006 (Anm. 193), S. 40–57. 199 Wilhelm van Haecht, „Die Galerie des Cornelis van der Geest“, 1628, Antwerpen, Rubenshuis, 99 × 129,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Gallery_of_ Cornelis_van_der_Geest.JPG.

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Kapitel 6

van Eycks und Quinten Metsijs’ sogar das eigentliche Thema auszumachen. Es gibt hier bereits Werke der italienischen Hochrenaissance, von Tizian und Correggio etwa, sie werden aber in keiner Weise hervorgehoben. Bei Teniers hingegen verschwindet nun die Niederländische Malerei fast vollkommen aus dem repräsentativen Horizont seiner Galeriebilder. Warum? Zweifellos spielt der Stolz des Erzherzogs auf seine neuen Erwerbungen aus England hierbei eine große Rolle. Es ist auch die Vermutung geäußert worden, dass es ein weiteres Theatrum Pictorum für die flämischen Gemälde geben sollte, die Leopold Wilhelm in durchaus großem Umfang angekauft hatte. Es gibt hierfür jedoch keinerlei konkrete Hinweise, und vor allem gibt es kein einziges Galeriebild, das mit einem entsprechenden Anspruch aufträte. Ganz im Gegenteil beinhaltet eines der frühen Galeriebilder, das an den Cousin des Erzherzogs, den spanischen König Philipp IV., geschickt wurde, (Abb. 49) durchaus einige flämische Gemälde, allerdings nur mehr drei von insgesamt dreiundvierzig dargestellten Bildern, ein Altarbild von Rubens, ein Porträt von Isabella Clara Eugenia von der Hand van Dycks und als ebenso historische wie reflexive Referenz ein Bild von Jan Gossaert aus dem frühen 16. Jahrhundert, das den Heiligen Lukas die Madonna malend zeigt. Hier scheint sich die Niederländische Malerei nun tatsächlich aus ihrem eigenen Repräsentationsformat weitgehend zu verabschieden und somit die künftige Dominanz der italienischen Malerei in Sammlungspolitik und kunstkritischer Reflexion selbst mit vorzubereiten. Doch verbleibt die venezianische Malerei, bei all ihrer Eleganz und ihren maltechnischen, farblichen und kompositorischen Errungenschaften, bildlogisch strikt im Rahmen des Alberti’schen Bildverständnisses. Deshalb sind die Galeriebilder von Teniers in einer modernitätstheoretischen Perspektive immer noch deutlich interessanter als das, was auf ihnen zu sehen ist.

Willem van Haecht, „Apelles malt Kampaspe“, 1630, Den Haag, Mauritshuis, 104,9 × 148,7 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Willem_van_Haecht_(II)_-_Apelles_ painting_Campaspe_-_2.jpg.

Abb. 49 David Teniers d. J., „Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Gemäldegalerie in Brüssel,“ ca. 1651, Madrid, Prado, 104,5 × 130,4 cm.

Kapitel 7

Die Transformation der Niederländischen Malerei und die Emergenz moderner Kunst 7.1.

Ein Nachleben zwischen imaginärer Überwindung und symbolischer Transformation

Als die Malerei im Rahmen der kunsttheoretischen Reflexion des 18. Jahrhunderts in den Rang einer der fünf „Schönen Künste“ erhoben und damit auch die Kunst im Allgemeinen zu repräsentieren für fähig gehalten wurde,1 hatte sie bereits eine lange Geschichte hinter sich, sich selbst als Kunst zu begreifen. In den unterschiedlichen historischen Territorien der Niederlande wurden die Symbolisierungsweise und der Anspruch von Malerei als Kunst praktisch auf vielfältige Weise erprobt. Diese praktische Erprobung war deshalb von entscheidender Bedeutung, weil in jenen turbulenten Zeiten keineswegs klar war, was eigentlich unter Kunst zu verstehen sei und in welcher Weise Malerei als Kunst Sinn zu generieren in der Lage sein sollte. Der Unterschied zur Tradition der italienischen Renaissance ist eklatant. Denn diese Tradition war bereits im 16. Jahrhundert von Vasari als eine Folge von unbedingten Wahrheitsereignissen zwischen Giotto und Michelangelo aufgefasst worden, durch die der Malerei ein enormes Prestige zukam, das in gottähnlichen Schöpfernaturen ebenso wie in grandiosen, vornehmlich in Fresko ausgeführten Bildprogrammen wurzelte mit dem Anspruch, eine Erneuerung der Antike unter den Vorzeichen eines universalen Christentums zu begründen. Im Gegensatz zur absoluten Bestimmtheit dieser Malerei als einer religiösen Kultur,2 steht die Symbolisierung der Malerei als Kunst in den Niederlanden unter dem Diktat aktuell und situativ zu sein, das heißt, sich unter den gegebenen Bedingungen sozial, kulturell, religiös, ökonomisch und politisch überhaupt erst verorten zu müssen. Diese kategorische Unbestimmtheit hinsichtlich ihrer 1 Zur Entstehung des „modernen Systems der Künste“, das auf fünf „Schönen Künsten“ basiert, die jeweils wiederum auf den Allgemeinbegriff von Kunst bezogen werden konnten, siehe die klassische Studie von Paul Oskar Kristeller, „The Modern System of the Arts: A Study in the History of Aesthetics“, in: P. O. Kristeller, Renaissance Thought and the Arts. Collected Essays, Princeton, New Jersey, 1990, S. 163–227. Hierzu vom Vf., Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books) 2007, S. 37f. 2 In diesem Sinne: Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München, (Beck) 2014.



  

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Kapitel 7

Funktion, ihres Wertes und ihrer Bedeutung, wurzelnd in der Ortlosigkeit des Tableaus, schreibt sich in die Bestimmung der Malerei als Kunst ein; sie wird zur Bedingung der Möglichkeit der Malerei, gleichermaßen Kunst und modern zu sein und damit zum Leitmedium moderner Kunst zu werden.3 Das Prestige der italienischen Tradition bleibt durchaus erhalten. Es transformiert sich hin zu Geniekult und Kunstreligion in Idealismus und Romantik, und bestimmt somit das imaginäre Selbstverständnis von Kunst in der Moderne in Form von Verkörperungen von Autonomie, Authentizität oder Originalität. Doch die im Symbolisierungsmodus der Religion begründete Sicherheit eines Wahrheitsereignisses geht ebenso verloren wie die Eindeutigkeit einer praktischen Erfüllung dieser Ansprüche.4 Selbst die größten ‚Genies‘ der Moderne – wofür in ritualartiger Wiederholung immer wieder die Namen Picasso, van Gogh oder Cézanne genannt werden – können gerade in ihren autonomen, authentischen und originellen ‚Realisierungen‘ keine Welt und keine Wahrheit begründen. Das Neue wird zum mythischen Fluchtpunkt ihrer Individualität, einer alle traditionellen Fesseln abstreifenden Subjektivität, wie sie seit Adam Smith die liberale Perspektive auf die Moderne dominiert. Diese Subjektivität kann nur mehr kultisch zelebriert, nicht aber gesellschaftlich vermittelt werden.5 Die kategorische Unbestimmtheit der Niederländischen Malerei schreibt sich hingegen auf andere, tiefgründige Weise in die Moderne ein. Eine ‚archäologische‘ Rekonstruktion ihrer grundlegenden, künstlerischen Einsätze, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln sehr detailliert versucht

3 Ein Sprechen von der Kunst, wie es heute alltäglich geworden ist, indiziert keineswegs einen Sammelbegriff für alle Künste, sondern selbst einen bestimmten Bereich. Der sogenannte „Kunstbereich“ unterscheidet sich von der Literatur, der Musik, dem Tanz, dem Theater. Die Malerei ist zum Leitmedium dieses Kunstbereichs geworden – zwischen ihrer Idealisierung als einer „Sonderstellung“ (Isabelle Graw) und ihrer radikalen Infragestellung. 4 Nachdrücklich hat sich die italienische Tradition in die moderne und zeitgenössische Kunst weniger in ihren konkreten Praktiken als in der Idee einer urbanen Öffentlichkeit eingeschrieben, die sich deutlich vom Ausstellungswert der niederländischen Sammlungskultur und der französischen Salons unterscheidet. Sie ist zum entscheidenden Moment so unterschiedlicher künstlerischer Bewegungen wie dem sowjetischen Produktivismus der 1920er-Jahre, der in den 1950er- Jahren entstehenden „Kunst im öffentlichen Raum“ bis hin zur post-minimalistischen bzw. partizipativen Installationskunst seit den 1960er-Jahren geworden. 5 Die Konsequenz des Tableaus als der dominanten Formgelegenheit der modernen Malerei stellt somit keineswegs deren Autonomie dar, sondern bloß die Unbestimmtheit von Funktion, Bedeutung und Wert. Diese Unbestimmtheit wird seit dem 18. Jahrhundert zunehmend im Wechselspiel von Autonomieansprüchen und Kritik begriffen. Noch das Genie bleibt bei Kant auf die „Zucht des Geschmacks“ angewiesen.

Die Transformation der Niederländischen Malerei

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habe,6 zeigt nicht nur, wie wir Malerei als Kunst und somit Kunst überhaupt verstehen können, sondern auch eine andere Vorstellung von Moderne, einer symbolischen Moderne, die nicht in den imaginären Selbstbildern radikalliberaler Künstler-Subjekte aufgeht.7 In dieser Sichtweise transformiert sich die Niederländische Malerei vor allem in ihren spekulativen Bildideen selbst in Richtung des Allgemeinbegriffs von Kunst. Sie ist gezwungen, ihren je eigenen Symbolisierungszusammenhang zu generieren, der selbst dort, wo er auf eine Erneuerung der Religion, eine Fundierung der Politik, eine Bestimmung der Natur oder der Gemeinschaft zielt, stets auf einen zunehmend abstrakt verstandenen Begriff von Kunst zurückverwiesen wird. Wenn das analytische Bild dieselbe Bildidee im Stillleben, in der Landschaft, im Kircheninterieur und zunehmend auch im privaten Interieur, in der häuslichen Szene sowie in Porträt, Genredarstellung und Gruppenporträt findet, dann drückt sich darin ein gemeinsamer Horizont der Bedeutungsstiftung aus. Und wenn im Rahmen eines solchen spekulativen Sinnhorizonts das Situative und das Typische als entscheidende Elemente einer Suche nach dem „Erscheinungsraum“ der neuen Republik verstanden werden können, dann gelingt diese Suche nicht im direkt politischen Sinn, sondern bloß in der indirekten Repräsentation als Kunst. Auch wenn das synthetische Bild eine Reintegration der differenzierten, handwerklichen Vermögen unter dem Dach einer dynastisch-gegenreformatorischen Politik anstrebt, so realisiert sich diese Integration nur auf höchst zwiespältige Weise als Kunst oder als eine Bildkultur, in der zunehmend die hierfür notwendige Gewalt und letztlich die Unaufhebbarkeit sozialer Differenz sichtbar wird. Bereits anhand des antagonistischen Bildes war klar geworden, dass die jeweils aufgerufenen Gegensätze einen gemeinsamen, einheitlichen Fluchtpunkt bzw. Rahmen brauchen, der sie überhaupt erst als solche verständlich macht. Das heißt, der Allgemeinbegriff von Kunst wird nicht intentional erfunden oder angestrebt; er muss immer schon vorausgesetzt werden, um die je eigenen Operationen als sinnvoll erscheinen lassen zu können. Vor allem die reflexive Dimension der Niederländischen Malerei arbeitet dieser Bestimmung vor.

6 Diese Detailliertheit betrifft nicht die kunsthistorische Interpretation der einzelnen Gemälde – in dieser Hinsicht könnte meine Darstellung noch wesentlich detaillierter sein –, sondern den Aspekt eines je spezifischen Bild-Denkens, der sich in diesen Gemälden zeigt. 7 Indem die einzelnen Subjekte sich ihren symbolischen Bedingungen im Sinne einer imaginären Bestimmtheit entziehen wollen, reproduzieren sie deren Strukturen. Hierzu siehe vom Vf., „Traumatic or Utopian Other? Conditions of Emancipation: Phantasy, Reality, and Depression“, in: Filozofski vestnik, Vol. 38 No. 3 (2017), S. 79–90. https://ojs.zrc-sazu.si/ filozofski-vestnik/article/view/6695.

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Kapitel 7

Unter den veränderten Bedingungen seit dem 18. Jahrhundert schreibt sich dieser historisch äußerst spezifische Begriff von Kunst als verallgemeinerte Form der jeweiligen Bildideen in die symbolische Ordnung der Moderne mit ihren typischen Aufteilungen zwischen Wissenschaft und Kunst, Politik und Ökonomie, Geschichte und Gesellschaft ein. Die fundamentale Unbestimmtheit der Niederländischen Malerei verwandelt sich hierbei in ein transzendentales Prinzip von Kunst, das stets nur retrospektiv in seiner Einheit verstanden und einzig durch konkrete praktische Beanspruchungsversuche immer wieder erprobt, jedoch kategorisch nicht erfüllt werden kann.8 Dementsprechend lassen sich die Malerei und die Kunst der Moderne nicht als zielgerichtete, fortschrittliche oder triumphale Realisierung liberaler Subjekte in ihren idealen Zielsetzungen erfassen, sondern bloß als taktische, ebenso punktuelle wie situative Einsätze, die ihren eigenen symbolischen Existenzbedingungen mehr oder weniger gerecht zu werden versuchen. Solche Einsätze betreffen notwendigerweise spekulative Überlegungen über die ‚Natur’ der Kunst ebenso wie empirisch-praktische Beanspruchungen derselben. Die imaginäre Moderne sucht hier immer wieder nach konzeptuellen Mitteln, diese beiden Dimensionen des modernen Kunstbegriffs zu harmonisieren und eine feste Verknüpfung – etwa in der Medienspezifik des Modernismus, im transgressiven Akt der Avantgarde oder in der objektiven Figuration des Realismus – zu finden. Der rekonstruktive Blick auf eine symbolische Moderne hingegen muss sich solcher Versuche einer finalen Aneignung des Unbestimmten enthalten.9 Er akzeptiert die grundlegende, empirisch-transzendentale Spannung als das eigentlich produktive Problem, aus dem heraus sich Kunst im modernen und gegenwartsbezogenen Sinn überhaupt nur entwickeln konnte. Erst von hier aus kommt die symbolische Transformation der Unbestimmtheit ins Blickfeld, in der die Unmöglichkeit eines finalen Wahrheitsereignisses zur Bedingung der Möglichkeit einer Wahrheit dieser Spannungen und Spaltungen wird. Modernitätstheoretisch scheint es daher zwingend zu sein, sich mit dem „Nachleben“ der Niederländischen Malerei zu beschäftigen,10 nicht nur 8 Zum Aspekt der Erprobung siehe: Sabeth Buchmann, „Geschichte auf Probe“, in: Eva Kernbauer (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn (Fink) 2015, S. 169–184. 9 Die imaginäre Moderne kann jedoch in ihren Überwindungsversuchen nicht selbst überwunden werden; dies wäre wiederum nichts anderes als ein Projekt des Imaginären. Es bedarf einer Verschiebung der Perspektive, um die symbolischen Strukturen der einzelnen Projekte des Imaginären in ihrem Zusammenhang erfassen zu können. 10 Mit dem Begriff des Nachlebens versuche ich, die modernitäts- bzw. gegenwartsbezogene Relevanz der Niederländischen Malerei vom Warburg’schen Projekt eines Nachlebens der Antike abzugrenzen.

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um die eigentliche Modernität moderner Kunst historisch besser zu verstehen, sondern auch, um sich im Feld von Möglichkeit und Unmöglichkeit auf künstlerische, kunstkritische oder auch philosophische Weise aktuell positionieren zu können. Hierbei muss die vielschichtige Wirkung der Niederländischen Malerei sowohl in den individuell-künstlerischen Erfahrungen, die sie tradiert hat, als auch in der Potenzialität ihrer strukturell-symbolischen Transformation, die selbst wiederum zur Herausforderung jeder individuellpraktischen Beanspruchung geworden ist, bedacht werden. Das Nachleben der Niederländischen Malerei steht in diesem konstitutiven Widerstreit. Indem die Praktiken zunehmend jede rein handwerkliche Bestimmung überwinden, erweisen sie sich in ihren konzeptuellen, imaginativen und taktischen Einsätzen bis in den Vorstellungshorizont von Gegenwartskunst hinein als inspirierend hinsichtlich der Frage, was überhaupt als Kunst zu gelten habe. Die symbolische Transformation konkreter Bildideen zu einem allgemeinen Begriff von Malerei und schließlich von Kunst definiert nicht einfach einen autonomen Bereich von Kunst – das seit dem 18. Jahrhundert entstehende Kunstfeld –; sie bestimmt diese relative Autonomie auch um den Preis tiefer struktureller Spaltungen im Symbolischen. Die für die Moderne konstitutiven Aufteilungen, etwa zwischen hoher und niedriger Kultur, Kunst und Kultur, Autonomie und Funktionalität oder Industrie, Authentizität und Entfremdung oder Fortschritt und Verfall, sind deshalb nicht nur als Reflex auf die spezifischen Bedingungen seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere in Form von Kapitalismus und Kolonialismus zu verstehen, sondern stets auch als kulturelle Muster, die tief in der frühmodernen europäischen Geschichte verankert sind. Insbesondere scheint das Jahr 1585 mit seiner fundamentalen Spaltung zwischen politischen, religiösen, ökonomischen und kulturellen Einheiten prägend geworden zu sein.11 Grundlegend für die Einschreibung der Niederländischen Malerei in den symbolischen Raum der Moderne ist ihre kontinuierliche Präsenz als Sammlungsgegenstand. Fast überall in Europa und zunehmend auch in dessen globalem Machtbereich wurde die Niederländische Malerei, auch wenn ihr kreativer Impuls in den Jahrzehnten nach 1670 weitgehend zum Erliegen kommt, zu einem Teil der materiellen Alltagskultur.12 Als solche 11 Siehe Kapitel 5 (Das analytische Bild). 12 Die italienische Malerei musste man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor Ort studieren, was die berühmten Italienreisen erforderte. Niederländische Malerei hatte man nördlich der Alpen bis in die entlegensten Schlösser stets gleichsam vor der Haustüre. Wie wir bereits in den Galeriebildern von David Teniers sehen konnten, wird die italienische Malerei jedoch zunehmend zu einem äußerst begehrten Sammlungsgegenstand, was die duale Sammlungsstruktur der großen Sammlungen und Museen bis heute

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definierte sie ein besonderes soziales Feld, das in der Antwerpener Sammlerkultur, wie wir sie in den Galeriebildern sehen können, begründet liegt, und zwar als Schnittstelle zwischen großbürgerlicher, klerikaler und adeliger Repräsentation, die wiederum alsbald zum Modell höfischer Repräsentation werden konnte. Durch die Nationalisierung der Museen im 18. und 19. Jahrhundert sind diese materielle Bild-Kultur und das zugehörige soziale Feld zum Teil des öffentlichen Erbes moderner National-Staaten geworden. Entscheidend hierfür ist, dass die einzelnen Tableaus in den Sammlungen stets in einem besonderen Zusammenhang erscheinen. Die jeweilige Anordnung nach Genres, Schulen, Genies oder Geografien, die seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend durch die zeitliche Dimension einer Abfolge bestimmt wird, wirft die Frage nach der Bedeutung und nach dem Stellenwert des jeweiligen Zusammenhangs auf. Die Sammlung ruft allgemeine Kategorien wie die Malerei oder die Kunst auf und bildet derart das entscheidende Narrativ moderner Kunst aus. Dieses ist grundlegend von einer solchen Logik der Sammlung bestimmt;13 ihre ästhetischen Lösungen verdanken sich keineswegs tatsächlich autonomen, authentischen, originellen oder souveränen Entscheidungen, sie stellen vielmehr stets Reaktionen auf andere Lösungen dar, zu denen sie sich ins Verhältnis setzen und die sie zumeist auf spezifische Weise überbieten wollen. Moderne Kunst ist kategorisch die Kunst eines imaginierten Zusammenhangs; die großen Narrative der modernen Kunstkritik – Modernismus, Avantgarde und Realismus – erzählen und interpretieren diesen Zusammenhang jeweils auf ihre Weise. Damit beziehen sie zueinander widersprüchliche Positionen und schreiben derart auf vielfältige Weise die tiefen Spaltungen fort, wie sie in der Niederländischen Gesellschaft und ihrer Malerei, etwa im antagonistischen Bild des 16. Jahrhunderts, erstmals sichtbar wurden und im analytischen bzw. synthetischen Bild des 17. Jahrhunderts sich jeweils als Alternativen ihrer Überwindung festsetzten. Die Frage stellt sich daher, wie man diesen Zusammenhang der Bilder – die Logik der Sammlung, in ihrer historischen Dimension – denken kann, ohne den eindimensionalen und immer schon gespaltenen Narrativen der modernen Kunstkritik verhaftet zu bleiben. Wie also kann ein historischer Zusammenhang ohne geschichtsphilosophisches Telos, ohne feste Periodisierungen, ohne streng voneinander isolierbare Sequenzen und vor allem ohne absolute Zäsuren vorgestellt werden? Und wie können prägt. Französische, spanische oder deutsche Sektoren entstehen meist erst viel später, und der Rest Europas ist ohnehin nur marginal vertreten. 13 Siehe: Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München (Hanser) 1997. Ich verstehe diese Logik jedoch in einem deutlich anderem, weniger apokalyptischen Sinn als Groys.

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Wirkungen jenseits konkreter Einflüsse, ein Nachleben jenseits des originalen Entstehungszusammenhangs überhaupt postuliert werden? Wohl nur, indem Wiederholung und Transformation auf den verschiedenen, praktischen, diskursiven und institutionellen Ebenen lokalisiert werden und damit die Moderne nicht als heroische und in sich konsistente geschichtliche Periode erscheint, sondern als ein vielschichtiger Problemzusammenhang, der auf ähnliche Fragen immer wieder neue Antworten unter den jeweils veränderten historischen Umständen sucht. In dieser Perspektive zählen strukturelle Verschiebungen im Symbolischen ebenso wie die konkreten Praktiken der Aneignung. Damit schwindet der kategorische Epochenbruch einer Moderne oder einer Postmoderne, denn auf der symbolischen Ebene gibt es keine rigiden Zäsuren. Dies impliziert keineswegs eine revisionistische Geschichtsauffassung;14 es indiziert vielmehr die Bedingung der Möglichkeit moderner Geschichtlichkeit im Spannungsfeld von imaginärer Beanspruchung und symbolischer Realisierung. 7.2.

Die praktische Dimension der Aneignung: Erneuerung und Dynamisierung als Kunst

7.2.1. Das Neue der Erneuerung Von dieser grundlegenden Konstellation einer sich in den Sammlungen manifestierenden dauerhaften Präsenz ausgehend, möchte ich im Folgenden die unterschiedlichen, ebenso praktischen wie diskursiven Facetten des Nachlebens der Niederländischen Malerei als Geschichte einer kontinuierlichen Transformation hin auf einen Vorstellungshorizont von moderner Kunst bzw. von Gegenwartskunst skizzieren.15 Was wir als moderne Malerei, Kunst oder 14 Zur Diskussion um den Geschichtsrevisionismus, wie sie vor allem Francois Furet mit seinem Anspruch, die Revolution sei zu beenden, ausgelöst hatte, siehe: Francois Furet, 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main, Wien, Berlin (Ullstein) 1980; Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt am Main (Fischer), 1994; Domenico Lesurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen. Nolte, Furet und die anderen, Köln (PapyRossa) 2013. 15 Methodisch versuche ich, die Emergenz von moderner Kunst im Spannungsfeld zwischen ihren praktischen und diskursiven Aspekten zu fassen. Gerade weil sich diese kaum voneinander abtrennen lassen, scheint es mir notwendig, sie in der Darstellung jeweils für sich zu behandeln. Auch gibt es für mich keinen kategorischen Unterschied zwischen moderner Kunst und Gegenwartskunst bzw. Zeitgenössischer Kunst. Auf der empirischen Ebene scheinen mir die Begriffe durchaus sinnvoll voneinander abgrenzbar zu sein, nicht jedoch auf der spekulativ-transzendentalen. Generell siehe: Peter Osborne, Anywhere or

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auch als modernes Bilddenken im Film und anderen fotografischen Medien verstehen, soll dementsprechend nicht als Überwindung der Niederländischen Malerei, sondern als deren Fortschreibung und ständige Adaption und Verwandlung begriffen werden: Es ist dieser Prozess selbst, der zunehmend als modern begriffen wurde und in seiner zielgerichteten, imaginären Ausrichtung seine eigene Herkunft und Geschichtlichkeit weitgehend hat vergessen lassen. Das Problem, das die Niederländische Malerei aufgerufen hat, liegt darin, dass die Verselbstständigung der malerischen Mittel aus ihren mittelalterlichen, symbolischen Kontexten und die Entwicklung eines spezifischen Bild-Denkens einherging mit einem akuten gesellschaftlichen Gründungsbedarf, der den sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Konflikten des 16. Jahrhunderts entwuchs. Moderne Kunst will die Antwort auf dieses perennierende Problem sein; sie stellt jedoch keineswegs dessen Lösung dar. Ein neuer ontologischer Grund ist nicht in Sicht, weder in politischer noch in ästhetischer Hinsicht, weder im Sinne einer als „Weltsprache“ verstandenen Abstraktion oder einer Überwindung bzw. Selbstabschaffung von Kunst im Sinne der avantgardistischen Tradition noch in einer rein materialistisch und realistisch gefassten „objektiven Wahrheit“ gesellschaftlicher Verhältnisse und historischer Tendenzen. Vielmehr stellt die Abwesenheit des Grundes die Bedingung der Möglichkeit von Kunst im modernen Sinn dar.16 Anstatt eines tatsächlich Neuen etabliert sich eine Tradition der Erneuerung,17 die zum Kernbestand aller unterschiedlichen Modalitäten von moderner Kunst – und vielleicht der Moderne insgesamt – gehört, und die sich selbst relativ stabil und unverändert über mehrere Jahrhunderte hinweg etabliert hat. Die Differenz zwischen dem imaginären Akt einer bedingungslosen Neugründung und einer faktischen Erneuerung lässt sich beispielhaft anhand von Jacques Louis Davids „Der Tod des Marat“ von 1793 diskutieren.18 (Abb. 50) Denn dieses Bild verkündet nicht nur programmatisch den Beginn einer neuen Zeit (das Jahr II des Revolutionskalenders); es wird darüber hinaus in vielen historischen Darstellungen als ein tatsächliches Gründungsdokument der modernen Kunst

Not at All: A Philosophy of Contemporary Art, London (Verso) 2013; Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg (Junius) 2015. 16 Siehe: Kapitel 1 (Einführung I). 17 ich paraphrasiere hier Harold Rosenberg, The Tradition of the New (1959), Boston (Da Capo Press), 1994. 18 Jacques Louis David, „Der Tod des Marat“, 1793, Brüssel, Königliches Museum der Schönen Künste, 162 × 128 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Death_of_Marat_by_ David.jpg.

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verstanden.19 Vieles spricht auch tatsächlich dafür: An ihm lässt sich eine modernistische Form – im nahezu monochromen Hintergrund – ebenso festmachen wie ein avantgardistisches Ethos oder ein realistischer Einsatz. Der Akt einer gesellschaftlichen Neugründung in der Malerei geschieht jedoch nicht nur – wie schon beim „Ballhausschwur“ von 1791 – im direkten Auftrag der revolutionären Nationalversammlung, sondern ebenso mit den spezifischen Mitteln des Niederländischen Bildverständnisses. Die Nachahmung Christi, wie sie das altniederländische Andachtsbild in seiner radikal heteronomen und aktualistischen Bestimmung gefordert hatte, wird zum Appell einer Nachahmung des revolutionären Selbstopfers, zu dem David die Ermordung des Marat durch Charlotte Corday stilisiert. In diesem Sinne wäre die trompe l’oeilhafte Nähe des Toten und der ihm zugeordneten Gegenstände weniger durch Michelangelos Pietà als durch van der Weydens Kreuzabnahme angeregt zu verstehen. Anstatt einer reinen Säkularisierung christlicher Pathos-Formeln haben wir es mit einer Re-Aktualisierung Niederländischer Bildformeln zu tun. Vor allem die Integration von Andachtsbild und Stillleben gibt dem Bild seine besondere Pointe. In dieser Perspektive erscheint der Hintergrund weniger als ein Vorschein auf die monochrome Malerei denn als ein Widerschein des im Stillleben, vor allem bei Pieter Claesz, evozierten Grundes der Malerei als eines analytischen, welterschließenden Einsatzes. Wir haben es hier mit einem Grund des Grundes zu tun, dem paradoxen Versuch, aus der Tradition des Niederländischen Bilddenkens heraus jede Tradition zu kippen und tatsächlich den Akt eines Neu-Beginnens ins Bild zu setzen. Doch das Bild begründet keinen neuen Kult. Vielmehr greifen imaginäre Neuschöpfung und wiederholende Aneignung auf eine besondere Weise ineinander; der individuelle, künstlerisch-politische Einsatz will sich im dynamischen Kräftefeld des höchst aktuellen politisch-sozialen Geschehens positionieren und symbolisiert sich letztlich doch im Engleiten seines Sinns. Bereits kurz nach seiner konsequent funktionalen Anbringung in der revolutionären Nationalversammlung verschwindet das Bild wieder und überlebt Thermidor, Kaiserreich und Reaktion letztlich nur kraft seiner Rettung nach Brüssel ins museale Exil. Dort stehen wir noch heute leicht verkatert vor einem Bild, das als Kunst Dokument seines grandiosen Scheiterns ist. Die frühen Bilder Davids zwischen „Belisar bittet um Almosen“ von 1781 und dem „Schwur der Horatier“ von 1784/85 zeigen noch den klassischen

19 Exemplarisch hierfür: T.  J.  Clark, Farewell to an Idea: Episodes form the History of Modernism, New Haven (Yale University Press) 1999.

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Bühnenraum.20 Allerdings stellt bereits der „Schwur der Horatier“ eine „Situation des Aufbruchs“ dar, wie wir sie aus der holländischen Malerei kennen. Das heißt, ihr Handlungsmoment verdichtet nicht einfach eine Erzählung im Sinne eines ‚fruchtbaren Augenblicks‘; sie zielt vielmehr auf eine Handlung jenseits des Bildes. Im „Brutus“21 von 1789 wird die Bühne gleichsam zur Seite geschoben, wodurch auf der linken Bildseite der Eingangsbereich des Hauses, in den von den Liktoren gerade die toten Söhne des Brutus getragen werden, als besondere Zone zwischen der privaten Bühne und dem öffentlichen Raum außerhalb des Hauses erscheinen kann. Die Leichname sind vom Bildrand abgeschnitten, sodass dem off screen ebenso strukturelle und inhaltliche Bedeutung zukommt. Denn gerade im Namen der Öffentlichkeit der römischen Republik – im Bild durch die Statue der Roma direkt an der Eingangstüre repräsentiert – hat Brutus seine konspirierenden Söhne hinrichten lassen. Er selbst sitzt vor diesem Zwischenraum mit dem Rücken zum Geschehen als ein negativer, von Tragik umschatteter Held, der sich mit verzweifeltem Ausdruck direkt an die Betrachtenden wendet. In Bezug auf den Raum vor und zu Seiten des Bildes entsteht ein an viele Niederländische Kompositionen, insbesondere diejenigen von Jan Sanders van Hemessen erinnerndes Bild-Konstrukt, in dem die vorderste Säule als ein Scharnier fungiert, das den Bühnenraum und die darin lokalisierten, klagenden Frauen mit dem Eingangsbereich ebenso verknüpft wie den Erzählbereich des gesamten Bildes mit seinem Betrachtungsbereich. Im „Ballhausschwur“22 von 1791 kommt es wieder zu einer scheinbaren Rückkehr zum klassischen Bühnenraum. Doch auch hier handelt es sich um eine Situation des Aufbruchs, und gleichzeitig wird die Bühne zu einem riesigen Saal ausgeweitet, in dem neben der Masse an Akteuren an den hochgelegenen Fensterreihen noch Zuseher und wehende Vorhänge als Zeichen der öffentlichen Bedeutsamkeit der Handlung sichtbar werden. In den Bildern Davids nach dem Thermidor – zwischen dem „Raub der Sabinerinnen“ von 1797 und dem „Leonidas“ von 1814 – verschwinden alle diese experimentellen

20 Jacques Louis David, „Belisar bittet um Almosen“, 1781, Lille, Palais de Beaux Arts, 312 × 288 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:David_-_Belisarius.jpg. Jacques Louis David, „Der Schwur der Horatier“, 1784/85, Paris, Louvre, 330 × 425 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schwur_der_Horatier#/media/Datei:David-Oath_of_ the_Horatii-1784.jpg. 21 Jacques Louis David, „Die Liktoren bringen Brutus die Leichname seiner Söhne“, 1789, Paris, Louvre, 323 × 422 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:David_Brutus.jpg. 22 Jacques Louis David, „Der Ballhausschwur“, 1791, Federzeichnung, Versailles, Musée National du Chateau, 66 × 102 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Le_ Serment_du_Jeu_de_paume.jpg.

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Referenzen an die Niederländische Malerei wieder. Dies macht deutlich, dass der revolutionäre und erneuernde Impuls gerade von ihr ausgegangen war. Auf vergleichbare Weise sollte das gesamte Nachleben der Niederländischen Malerei in der Praxis der Malerei und deren Transformation in Moderne Kunst untersucht werden. Der Nachweis konkreter Bezüge und Entlehnungen, Spuren und Indizien wäre zweifellos ein Desiderat der Forschung und ein eigenes Buch wert.23 Ich kann dies hier nicht leisten, keinesfalls in Form einer kunsthistorischen Erzählung, doch nicht einmal als kursorisches Referat. Mir geht es wiederum eher um die spekulative These, dass alle innovativen Aspekte der Malerei seit dem frühen 18. Jahrhundert nur im Sinne einer solchen Genealogie erfasst werden können. Moderne Malerei sollte daher seit ihren Anfängen bei Hogarth, Watteau oder Chardin, vor allem aber bei Courbet,24 Manet, Cézanne und deren Folgen, stärker von ihrer ‚konservativen‘ Seite her adressiert werden, hinsichtlich ihrer praktischen Aneignungsformen von Malweisen, Genres und Bildideen der Niederländischen Malerei, aber auch in Bezug auf deren Erfahrungen im Umgang mit sozialen, politischen und ökonomischen Differenzen. Erst aus dieser Perspektive ließe sich ihr Neues als spezifische Form einer Erneuerung fassen.25 Erneuerung markiert daher keine ‚mildere‘ oder weniger radikale Form des Neuen, sondern eine spezifische Tradition, in der das Neue erst denkbar wird. Gleichzeitig bleibt am Begriff der Erneuerung sichtbar, was am Neuen nicht neu ist, und wie sehr das 23

Grundlegend hierfür ist Horst Gersons 1942 in Haarlem erstmals erschienene Studie Ausbreitung und Nachwirkung der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, die bereits die globale Präsenz der holländischen Malerei im Auge hat. Einzelne Hinweise finden sich vielfach in der kunstgeschichtlichen Literatur, etwa bei Thomas Crow, „The Simple Life: Pastoralism and the Persistence of Genre in Recent Art“, in: Thomas Crow, Modern Art in the Common Culture, New Haven (Yale University Press), 1998, S. 173–242; Norman Bryson, Looking at the Overlooked: Four Essays on Still-Life Painting, London (Reaktion) 1990, doch keine zusammenfassende Darstellung. Diese ist auch kunsthistorisch schwierig, weil sie weder reine Form- noch Motivgeschichte sein kann, sondern ein konzeptuelle Geschichte, die das transformative Potenzial selbst erschließen müsste. 24 Michael Fried versucht in seinem Buch über Courbet gerade diese Bilder Courbets aus seinem, auf flatness und absorption gerichteten Kanon auszuscheiden, bei denen sich direkte Übernahmen Niederländischer Bildformeln nachweisen lassen. Dies gilt insbesondere für das Bild mit der ausrückenden Feuerwehr von 1851. Siehe: Micheal Fried, Courbet’s Realism, Chicago (The University of Chicago Press) 1990. 25 Einer meiner kunsthistorischen Lehrer, Günther Heinz, sah in Courbet noch das Ende der Geschichte des Stilllebens; heutige Konferenzen zu Courbet sehen ihn jedoch fast ausschließlich als Beginn der modernen Malerei. Beide Perspektiven sind ungenügend. Es würde gerade darum gehen, das transformierende Potenzial seiner Kunst zu bestimmen, nicht alleine auf der malpraktischen Ebene, sondern ebenso auf derjenigen des symbolischen Sinns.

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Neue keineswegs jede Form der Historisierung aufhebt, sondern letztlich nur von dort aus verstanden werden kann. Cézannes Ringen mit der Tradition des Stilllebens, der Landschaft und der situativen Erfassung von Gruppen spricht in dieser Hinsicht ebenso für sich wie die vielfachen Bezüge von Manet auf das Bild als Schwelle. Zweifellos stellt „Une Bar aux Folies Bergères“ (1882) eine direkte Übernahme der van Eyck’schen Bildideen mit dem über einen Spiegel ins Bild projizierten Betrachter dar. Doch bereits die „Olympia“ von 1863 ließe sich,26 ebenso wie Davids „Marat“, als ein modernes Andachtsbild verstehen, wobei die Flächigkeit in der Darstellung der Körper die unmittelbare Nähe zu den Betrachtenden gewährleisten soll – hier allerdings eher im Sinne einer derben Aufdringlichkeit. Auch die vielfältigen situativen Arrangements, wie sie ab „Der Balkon“ oder „Das Frühstück im Atelier“, beide von 1868, bis hin zu „Die Eisenbahn“ (1873), „Im Wintergarten“ (1877) oder „Bei Pére Lathuiellie“ (1879) die Bildfindungen bestimmen, lassen sich nicht einfach als „Malerei des modernen Lebens“ begreifen;27 sie werden als solches erst möglich durch eine Transformation des Niederländischen Bilddenkens. Rembrandts Figurenarrangements im Sinne einer „Situation des Aufbruchs“ scheinen mir in dieser Hinsicht für Manet ebenso wie die verdichtenden Situationen der Delfter Schule besonders wichtig zu sein.28 Tatsächlich modern sind diese Bilder eher auf der inhaltlichen Ebene im Sinne eines Entfremdungsdenkens, das 26

Eduard Manet, „Bar in den Folies Bergère“, 1882, London, Courtauld Institute of Art, 96 × 130 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Bar_in_den_Folies_Berg%C3%A8re#/media/Datei: Edouard_Manet,_A_Bar_at_the_Folies-Berg%C3%A8re.jpg. Eduard Manet, „Olympia“, 1863, Paris, Musée d’Orsay, 130,5 × 190 cm. https://de.wikipedia. org/wiki/Olympia_(Gem%C3%A4lde)#/media/Datei:Edouard_Manet_-_Olympia_-_ Google_Art_Project_2.jpg. 27 Eduard Manet, „Der Balkon“, 1868, Paris, Musée d’Orsay, 169 × 125 cm. https://de.wikipedia. org/wiki/Der_Balkon_(Manet)#/media/Datei:Edouard_Manet_-_The_Balcony_-_Google_ Art_Project.jpg. Eduard Manet, „Das Frühstück im Atelier“, 1868, München, Neue Pinakothek, 118 × 154 cm. https://en.wikipedia.org/wiki/Luncheon_in_the_Studio#/media/File:Luncheon_in_the_ Studio_-_Manet.jpg. Eduard Manet, „Die Eisenbahn“, 1872/73, Washington, National Gallery of Art, 93 × 111,5 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edouard_Manet_-_Le_Chemin_de_fer_-_ Google_Art_Project.jpg. Eduard Manet, „Im Wintergarten“, 1877, Berlin, Alte Nationalgalerie, 115 × 150. https://de.wikipedia.org/wiki/Im_Wintergarten#/media/Datei:In_the_Conservatory.jpg. Eduard Manet, „Beim Pére Lathuille, im Freien“, 1879, Tournai, Musée des Beaux Arts, 92 × 112 cm. https://de.wikipedia.org/wiki/Beim_P%C3%A8re_Lathuille,_im_Freien#/media/ Datei:Edouard_Manet_031.jpg. 28 Die situative Anordnung der Figuren des „Frühstücks im Grünen“ erinnert an Rembrandts „Hamann“, andere Figurenkonstellationen an de Hooch. Besonders interessant ist auch die kleine Kopie Manets nach der „Anatomie des Dr. Tulp“.

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jeden Aufbruch bereits im Vorhinein als vergeblich akzentuiert. Und schließlich hat wohl das analytische Bildverständnis die formalen Reduktionen, wie wir sie von Impressionismus und Postimpressionismus, Kubismus und Abstraktion kennen, erst denkbar gemacht.29 Auch hier zeigt sich, dass die wichtigsten Kategorien der modernen Kunst wie Abstraktion, Suprematismus, Neo-Plastizismus, Expressionismus oder Konstruktivismus keineswegs die Repräsentation überwinden und ein tatsächliches Neu-Beginnen manifestieren. Sie können ihren jeweiligen Bedeutungsanspruch jeweils nur auf Basis der grundlegenden Bedingungen des Tableaus und des damit verbundenen ‚Spiels‘ von Repräsentation, Realismus und Reflexion artikulieren. Allerdings spitzen sie einzelne dieser Aspekte jeweils zu, meist diametral gegen einen der anderen gerichtet, und vor allem weiten sie den Repräsentationsanspruch erheblich aus, bei Mondrian und Malewitsch bis hin zur Möglichkeit der Darstellung kosmisch-universeller Ordnungsprinzipien.30 7.2.2. Dynamisierung durch die Projektideen Doch selbst wenn wir entscheidende Aspekte moderner Malerei und Kunst in einer solchen Perspektive praktischer Aneignung der Niederländischen Malerei nachweisen könnten, erklärt sich daraus noch nicht gänzlich die Tendenz zur Dynamisierung dieser Aneignungsformen, zur Wiederholung einer immer wieder zu beginnenden Erneuerung über historisch spezifische Situationen und Kontexte hinweg, die letztlich über die Malerei selbst hinaus bis zu den post-minimalistischen und post-konzeptuellen Praktiken von heute führt. Diese Dynamisierung kann wiederum nur in der doppelten Bestimmung moderner Kunst erfasst werden, nämlich einerseits in ihrem Bezug auf das Scheitern der politischen Gründungsereignisse und damit einer neuen Funktionalisierung beziehungsweise Stabilisierung von Wert, Sinn und Bedeutung, und andererseits in Hinblick auf die entstehenden Strukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die zum entscheidenden sozialen und symbolischen Raum des Nachlebens der Niederländischen Malerei 29 Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Van Gogh einen Salonmaler wie Meissonier, der die Leidener Feinmalerei eines Gerard Dou perfektioniert hatte, bewundern konnte. Auch hier gibt es keinen kategorischen Unterschied zwischen moderner Malerei und bürgerlichem Realismus, sondern nur einen graduellen. Hierzu siehe: Werner Hofmann, „Es gibt keine Kunst, sondern nur Künste“, in: Werner Hofmann, Gegenstimmen. Aufsätze zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1979, S. 317–327. 30 Hierzu siehe vom Vf., „Modern Art: Its Very Idea and the Time/Space of the Collection“, in: Jean-Paul Martinon, The Curatorial. A Philosophy of Curating, London (Bloomsbury) 2013, S. 163–167.

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als moderner Kunst werden. Die offene Wahrheitsfrage wird in diesem Spannungsfeld zur treibenden Kraft, zum dynamisierenden Einsatz der einzelnen Praktiken und ihrer kompetitiven, einander überbietenden Rhetoriken. In beide Richtungen hatte die Niederländische Malerei vorgearbeitet. Sie hat sich selbst, vor allem in der holländischen Malerei, als gesellschaftliche Neugründung verstanden oder zumindest als in deren symbolische Operationen involviert;31 und sie hat in ihrer konversierenden Struktur, im Wechselspiel zwischen praktischem Einsatz und rezeptiver Erwartung das Modell öffentlicher Verhandlung eines Gemäldes entwickelt. Im Galeriebild konnte sie bereits die Dimensionen der Präsentation und der Verhandlung thematisieren und somit die Frage der Repräsentation vom einzelnen Gemälde auf ihren Zusammenhang als Sammlung hin verschieben. Doch so wie das anhaltende Scheitern einer fundamentalen gesellschaftlichen Neugründung stets neue Versuche hierzu aufzurufen scheint – und sich somit als negative Bedingung in den Vorstellungshorizont moderner Kunst einschreibt –, lassen sich auch in der konversierenden Verhandlung Funktion, Wert und Bedeutung nicht definitiv stillstellen. Bürgerliche Öffentlichkeit entsteht in erster Linie als Versuch einer Sicherstellung von Werten durch kontinuierliche und objektivierbare Prozesse der Auswahl und Bewertung; doch gerade diese auf Dauer gestellte Verhandlung führt letztlich nicht zum sicheren Wert, sondern zur Verselbstständigung von Institutionen und diskursiven Disziplinen, die ihre je eigene Betriebsamkeit – etwa in Form von Ausstellungen und Publikationen – erzeugen. Darin verschiebt sich der produktive Akzent zunehmend von der malerischen oder künstlerischen Praxis hin zur wertsicherstellenden Institution bzw. zum Diskurs. Nicht mehr die Praxis dominiert das Geschehen, indem sie etwa einen Ort der Wahrnehmung und seine symbolische Bedeutsamkeit imaginiert, über den sie sich mit den Betrachtenden in Austausch setzt, sondern der Diskurs bestimmt und entscheidet zunehmend über die imaginären Anmutungen von Wahrheit und Sinn, Funktion und Wert. Waren die Gemälde der Haarlemer oder Delfter Maler noch wesentlich komplexer gewesen, als sie in der zeitgenössischen Kunstliteratur rezipiert wurden, so sind im 18. Jahrhundert die Bilder eines Jean-Baptiste Greuze, die durchaus von Niederländischen Vorbildern ausgehen, doch deutlich weniger interessant als die Texte, die ein Denis Diderot über sie verfasst. Die zunehmende Diskursivierung von Malerei und von Kunst insgesamt steht daher im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausbildung von Institutionen wie dem Salon oder dem Museum und den diskursiven Disziplinen von Kunstkritik, Kunstgeschichte oder philosophischer Ästhetik. Die frühmodernen, lokalen Konstellationen verwandeln sich in 31

Siehe Kapitel 5 (Das analytische Bild).

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strukturelle Gefüge, in denen das Unbestimmte in Institution und Diskurs ausgetrieben und die spezifische Intelligibilität der Malerei zurückgedrängt werden soll.32 Die Praktiken sind gezwungen, sich mehr und mehr mit diesen neuen Formen einer kontrollierenden, diskursiven sowie institutionellen Realität und den damit verbundenen medialen und marktförmigen Bedingungen der eigenen Produktion auseinanderzusetzen, und gleichzeitig dem Mangel eines unmittelbar gesellschaftlich vermittelten Sinns und seiner Wahrheit gegenüber gerecht zu werden. Moderne Kunst etabliert sich im Zwiespalt dieser beiden Bestimmungen: zwischen dem anhaltenden Scheitern gesellschaftlicher Gründung und des Erreichens eines unbestreitbaren und verbindlichen Anspruchs an Kunst im Namen einer bestimmten Praxis einerseits und der institutionell-diskursiven Produktivität andererseits, die jeden Anspruch einer Praxis auf Funktion, Bedeutung und Wert in ihren Registern einzuhegen sucht und somit Ausstellungswert und Diskurs zu den entscheidenden Kriterien ihrer regulativen Verfahren werden lässt. Innerhalb dieses Zwiespalts versuchen die meisten Praktiken sich vermehrt im Sinne eines Projekts: einer gleichsam verinnerlichten diskursiven, institutionellen oder auch politischen Idee, als ein Vor-Schein oder als eine Rückkehr zu einem sicheren Wert, als ein Stil oder ein Ismus zu verstehen. Beginnend mit dem Klassizismus reichen diese Projektideen bis hin zur Postmoderne, die sich als ein Projekt verstehen ließe, das mit den Projekten Schluss zu machen verspricht.33 Hierbei beanspruchen die Praktiken einen historischen Ort, einen suggestiven Augenblick und eine besondere Handlungsmacht, um sich im Sinne eines Projekts zu realisieren und somit dem jeweiligen praktischen Einsatz Sinn bzw. den einzelnen Werken einen Zusammenhang zu unterstellen.34 Hierin liegt zweifellos der empirisch-transzendentale Kern von moderner Kunst begründet, nicht nur in einer Idee hinsichtlich der Bestimmung von Kunst unter den ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen der Moderne, sondern darüber hinaus in einem Modell von Praxis, das die jeweilige Idee zu verkörpern verspricht. Im Projekt verschmelzen gleichsam Idee und Praxis auf die Gefahr hin, dass die praktischen Realisierungen leicht als Belegstücke für die Ideen und die Ideen 32 Die „Dummheit der Malerei“ – mit Duchamp gesprochen – wäre dementsprechend Ergebnis ihrer Diskursivierung. 33 Dementsprechend mangelt es auch heute nicht an Projekten; gerade die Überwindungslogik des künstlerischen Projekts hat eine eigene Projektkultur entstehen lassen, wie sie sich in der heutigen Biennalen- und Festivalkultur zeigt. 34 Ich diskutiere Ort, Augenblick und Handlungsmacht in: vom Vf., „Jenseits des Augenblicks. Geschichte, Kritik und Kunst der Gegenwart“, in: Eva Kernbauer, Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwart, Paderborn (Fink) 2015, S. 129–144.

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als Rezepte für die Praktiken verstanden werden können.35 Die unterschiedlichen Projektideen ähneln einander darin, dass sie ein Versprechen hinsichtlich einer gelingenden Vermittlung aufrufen ohne doch ihre Differenzen zueinander oder ihre Abfolge – etwa vom Klassizismus zur Romantik, von der Romantik zum Realismus, von Impressionismus, Symbolismus, Kubismus und Expressionismus zu Dadaismus, Suprematismus, Surrealismus und Konstruktivismus – wirklich denken zu können.36 Das heißt, ein Wassily Kandinsky malt nicht einfach abstrakt; er verkörpert exemplarisch Abstraktion als von ihm ‚erfundene‘ oder zumindest in Szene gesetzte Idee und Haltung, was ihm wiederum in den letzten Jahren durch Hilma af Klint streitig gemacht werden konnte.37 Er folgt darin einem Modell, demzufolge bereits David den Klassizismus, Courbet den Realismus und Monet den Impressionismus verkörpert haben. Picasso triumphiert über Braque nicht, weil er besser kubistisch malt, sondern weil er den Kubismus als programmatische Realisierung moderner Kunst annimmt und bereit ist, diese als eine bestimmte, durchaus widersprüchliche und auf andere Optionen hin offene Haltung zu leben. Die Projektidee wird hier zur Lebenspraxis. Gerade dies lässt sich auch marktbezogen, diskursiv und institutionell durchsetzen. Im Einzelfall mag es schwer zu entscheiden sein, ob etwa ein impressionistisches 35

Keine konkrete künstlerische Praxis kann jedoch vollkommen im Projekt ihres imaginären Sinnanspruchs aufgehen, weder als tatsächliche gesellschaftliche Gründung noch als diskursive oder institutionelle Verkörperung von Wert und Bedeutung verstanden. Stets bleibt etwas Unverfügbares, selbst dem je eigenen, autorschaftlichen Anspruch gegenüber, und retrospektiv müssen kunstkritische bzw. kunsthistorische Diskurse immer wieder die Entwicklungen glätten, um ihre zumeist recht eindimensionalen Narrative im Sinne einer ‚logischen‘ Abfolge von Stilen, formalen Prinzipien oder auch von erstrebenswerten Zielen im Sinne des Erreichens etwa von Abstraktion, dem wahren, funktionalen Leben oder einer wie auch immer gearteten „wahren Wirklichkeit“ aufrechterhalten zu können. Diese strukturelle Unbestimmtheit oder Unverfügbarkeit rettet viele Werke moderner Kunst davor, letztlich nichts anderes als Belegstücke eines künstlerischen oder institutionell-diskursiven Projekts zu sein. 36 Diese Projektideen der künstlerischen Praxis interagieren immer schon mit kunstkritischen Bestimmungen, denen sie in den meisten Fällen ihren Namen verdanken und mit kunsthistorischen Erzähl- oder musealen Anordnungsweisen. Seit dem späten 18. Jahrhundert dominiert ein genalogisches Modell von Schulen und Stilen, das sich später in der Stilgeschichte zu einem abstrakte Modell verselbständigen sollte, das jeder neuen Projektidee einen historischen Ort und Anspruch zuzuweisen in der Lage sein wollte. Die Stilgeschichte verkennt jedoch als kontinuierliche, fortschrittsbezogene Abfolge grundlegend die dynamisierende Dimension der Projektideen in ihrem Verhältnis zueinander und insbesondere ihren eigenen Einfluss auf das praktische Geschehen. 37 Siehe die Wiederentdeckung von Hilma af Klint als „Erfinderin“ der Abstraktion. In diesem Sine: Julia Voss, Hilma af Klint: „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“, Frankfurt am Main (Fischer) 2020.

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oder kubistisches Bild eher durch eine praktisch-maltechnische Entschei­ dung oder durch eine spekulative Projektidee, durch ein kunstkritisches Narrativ oder eine kunstgeschichtliche Genealogie motiviert ist. Entscheidend ist, dass sich nur in diesen Verflechtungen das Problem der Dynamisierung der Praktiken adäquat stellen lässt. Denn moderne Kunst stellt keineswegs eine logische, kontinuierliche und zielgerichtete Abfolge dar, die sich als Stil-, Material- oder auch Ideengeschichte objektiv beschreiben ließe. Sie bewegt sich vielmehr durch Positionierungs- und Durchsetzungskämpfe konstitutiv im Wechselspiel von Behauptungs- und Abgrenzungsakten, nicht nur zwischen den Künstlern und Künstlerinnen selbst, sondern auch zwischen diesen und ihren kunstkritischen oder kunsthistorischen Interpreten oder Interpretinnen.38 Das gesamte Kunstfeld ist daher in jede praktische Entscheidung immer schon involviert, und es ist dieser systemische Zusammenhang, der keine endgültige Stillstellung duldet und die Dynamisierung der praktischen Einsätze vorantreibt, wobei sich durchaus institutionell-diskursive, ökono­ mische und schließlich politische Dynamisierungsformen voneinander unterscheiden lassen. Hinsichtlich dieser Dynamisierungsformen, aber auch in Bezug auf ihr jeweiliges Bild- bzw. Kunstverständnis und auf die eigene Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhang lassen sich die praktischen Projektideen in drei großen Gruppen zusammenfassen. Analog zu den kunstkritischen Narrativen könnten wir sie – in heuristischer Vereinfachung – die modernistischen, die avantgardistischen und die realistischen Projektideen nennen.39 Beginnend mit dem Impressionismus zielen etwa die modernistischen Projektideen auf eine weitgehende Autonomisierung der malerischen Mittel, wobei die Abfolge der einzelnen Werke und Entscheidungen zunehmend im Sinne eines fortschreitenden Prozesses verstanden wird. Von einem reduktionistischen Impuls getrieben – wie wir ihn aus dem analytischen Bildverständnis kennen40 – wird dieser Prozess als auf immer ausgeprägtere Formen der Abstraktion, der Flächigkeit und des Purismus bis hin zur Monochromie gerichtet verstanden,

38 Kunstkritiker wie Kunsthistoriker haben immer wieder versucht, sich selbst als die eigentlichen Verkörperungen der Moderne zu positionieren. 39 In den Anfängen, etwa bei bei Courbet, lassen sich modernistische, avantgardistische und realistische Strategien kaum voneinander unterscheiden; zunehmend grenzen sich Modernismus und Realismus, später dann Avantgarde und Modernismus im deutlicher voneinander ab. 40 Man könnte den Zusammenhang versuchen so zu formulieren: Die modernistische Malerei verselbständigt jene elementaren Einheiten der Malerei, die das analytische Bild sich noch im Dienste einer spezifischen Form der Welterschließung erarbeitet hatte.

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wobei die Idee eines letzten Bildes41 ins Blickfeld gerät, in dem diese Tendenzen kulminieren könnten. Vom Schaffen genialer Persönlichkeiten vorangetrieben liegt der eigentliche Wert dieser Serie an Abstraktionen als Kunst genau darin, die jeweils aktuelle Realisierung als Spitze einer langen Entwicklung zu verstehen.42 Gerade die Immanenz dieser Logik verbirgt jedoch ebenso das Spannungsfeld zwischen Idee und Werk, zwischen Theorie und Praxis, Geschichte und Gegenwart – und somit die gesamte institutionell-diskursive Dimension, die Durchsetzungsfrage im Kunstfeld – wie auch die Möglichkeit anderer Entscheidungen und Entwicklungen. Gerade als kompetitive Durchsetzungs-Narrative lassen sich die modernistischen Projektideen im Sinne eines erweiterten dealer-critic-systems43 begreifen, sowohl im Rahmen institutionell-diskursiver Öffentlichkeit als auch hinsichtlich eines entstehen­ den Marktes für moderne Kunst. Künstlerisch-existenzielle Ansprüche, kunstkritische Narrative und institutionelle oder marktbezogene Positionierungen greifen hier ineinander. Die einzelnen Gemälde werden im Sinne eines fundamental Neuen begriffen, das sich in einer ebenso visionären wie kulturkritischen Potenz ausdrückt, die über jede gegebene institutionelle Repräsentation hinausweist und somit dem Markt ein Versprechen auf eine künftige Anerkennung, einen sich prozessual realisierenden Wert und eine kommende Wahrheit einschreibt. Marktlogik und Kulturkritik erscheinen in dieser Perspektive keineswegs als absolute Gegensätze. Auch sie haben in dieser Verbindung eine Vorgeschichte in der Niederländischen Malerei.44 Demgegenüber sind die avantgardistischen Projektideen zweifellos stärker an Formen der politischen Dynamisierung ausgerichtet beziehungsweise an den Problemen, die sich daraus ergeben. In dieser Hinsicht lassen sich wiede­ rum drei deutlich voneinander abgrenzbare Herangehensweisen unterscheiden. Die erste ringt in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem revolutionären Prozess um eine neue Funktionalität der Malerei. Die zweite versucht, die 41

Das letzte Bild wird insbesondere in den 1950er-Jahren zum Phantasma, dem wiederum ein Neubeginn, das Bild nach dem letzten Bild entsprechen muss. Hierzu siehe: Peter Weibel, Christian Meyer (Hg.), Das Bild nach dem letzten Bild, Ausstellungskatalog (Galerie Metropol) Wien 1991. 42 Exemplarisch in dieser Hinsicht ist Adornos Konstruktion in der Philosophie der Neuen Musik, in der Schönberg als die logische Konsequenz von materialbezogenen Entscheidungen seit Monteverdi erscheint. 43 Zum dealer-critic-system siehe: Harrison White & Cynthia White, Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1993. 44 Hierzu siehe vor allem die in Kapitel 4 (das antagonistische Bild) diskutierten Beispiele zwischen Quinten Metsijs, Marinus van Reymersvaele, Jan Sanders van Hemessen und Pieter Aertsen.

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Kunst selbst zum eigentlichen Begründungsort einer neuen Gesellschaft zu machen; auch dies impliziert eine Dynamik, die über das Bild, die Malerei und die Kunst insgesamt hinausweist. Während diese beiden avantgardistischen Projektideen auf keinen transformativen Prozess, sondern auf einen möglichst radikalen Bruch mit der Überlieferung rekurrieren, geht ein dritter Ansatz bereits von ihrem Scheitern aus. Er versucht sich auf die bürgerlichen Bedingungen einzulassen, ohne jedoch in ihnen aufgehen zu wollen. Die Identifizierung mit dem politischen bzw. revolutionären Prozess im Sinne einer Revolutionskunst lässt sich exemplarisch am Werk von JacquesLouis David, an der (post-) revolutionären amerikanischen Porträt- und Historienmalerei sowie auch noch am Produktivismus, wie er im Anschluss an die bolschewistische Revolution der frühen Sowjetunion entstanden ist, festmachen. Bei John Singleton Copley,45 Benjamin West und John Trumbull gelingt es sogar bis zu einem gewissen Grad, die Heroen der amerikanischen Revolution zu mythischen Wesen eines neuen Gemeinwesens zu stilisieren,46 während David sich durch die rapide Dynamik der Französischen Revolution gezwungen sieht, sich fortlaufend neu zu justieren und sich den veränderten Bedingungen anzupassen, was ihn letztendlich wiederum auf eine Vorstellung von Autonomie oder Kunst zurückwirft, innerhalb derer sein Werk einzig im Gesamten Sinn zu generieren imstande sein wird. Noch die sowjetische Revolutionskunst, ob sie sich nun eher als politische Propaganda (Agit Prop), als selbst unmittelbare Produktivkraft oder als strikt operationalisiertes Verfahren im Dienste der kollektiven Produktion versteht, findet sich mit der Dynamik des revolutionären Prozesses konfrontiert, der sich keineswegs in ihrem Sinn entwickelt, und überlebt den stalinistischen „Thermidor“ letztlich nur im bürgerlichen Museum. Die Kunst selbst zum eigentlichen Begründungsort einer neuen Gesellschaft zu machen, das ist im Kern die Idee einer Avantgarde aus dem Geiste des Idealismus. Wir können sie zum ersten Mal im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“47 fassen, und zwar als Verschiebung des Schiller’schen 45

Copley hat im „Bildnis von Paul Revere“ von 1768 bereits eine Art Marat der amerikanischen Revolution gemalt, der mit einer Tischplatte als Schwelle und der reflexiven Dimension eines Kupferkruges arbeitet. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:J_S_Copley_-_ Paul_Revere.jpg. 46 Indem die amerikanische Revolution gelingt und tatsächlich ein neues Gemeinwesen begründet wird bzw. repräsentiert werden kann – bis hin zu Emanuel Leutzes „Washington crosses the Delaware“ von 1851 – schwindet auch die Notwendigkeit moderner Kunst. Doch bekanntlich misslingt die amerikanische Revolution genau in ihrem Gelingen, weshalb dann doch irgendwann moderne Kunst notwendig wird. 47 Das sogenannte „Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ ist ein kurzer, in der Handschrift Hegels überlieferter Text, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden

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Anspruches auf einen ästhetischen Staat hin zu einer „ästhetischen Kraft“, die eine „neue Mythologie“ jenseits des „mechanischen Staates“ ins Werk setzen soll. Die Vorstellung einer solchen ästhetischen Kraft soll leisten, was in der praktischen Politik der Revolution bis 1794 nicht möglich gewesen war, nämlich einen ontologischen Grund und eine grundlegende Versöhnung jeder Spaltung im Sinne einer neuen „naiven“ Kultur ins Werk zu setzen. Auch in seiner Form – als ein proto-avantgardistisches Manifest – betreibt diese Idee die Verwandlung der politischen Negativitätserfahrung – das Scheitern der französischen Revolution in terreur und thermidor aus der Sicht der Tübinger Stiftsgenossen – in eine neue, ästhetische Positivität, die konstitutiv Realisierungen jenseits der Parameter klassischer Kunstpraktiken verlangt. Indem das „Älteste Systemprogramm“ den Schiller’schen Bildungsauftrag vom Staat auf die Ebene praktischer Hervorbringungen verschiebt, schreibt es den konstitutiven Aufschub noch in jede mögliche Realisierung ihres Anspruchs als Kunst ein. Ein solches Avantgarde-Verständnis durchdringt die meisten der modernen Projektideen in der strukturellen Ambivalenz von Verheißung und konkreter Einlösung. Noch die großen avantgardistischen Projekte der Zeit nach dem 2. Weltkrieg – Aktionismus, Minimalismus oder Konzeptualismus – sind davon zutiefst geprägt. Sie sind ohne eine solche idealistische Markierung letztlich nicht zu verstehen, auch wenn nun meist eine ästhetische Negativität die politische Positivität vorantreiben oder zumindest deren Notwendigkeit indizieren soll. Ein Scheitern hinsichtlich der revolutionären Zielsetzungen und ein Rückfall in die institutionell-diskursiven Strukturen der bürgerlichen Kunstwelt sind auch hier vorhersehbar. Die idealistische Verkunstung der Politik und die avantgardistische Negativität im Sinne einer „Entkunstung“ bleiben somit strukturell aufeinander bezogen, und zwar als ein entscheidender symbolischer Modus von Kunst, in dem sie ihre Dynamisierung vorantreibt.48 Die Spannung zwischen dem Mangel an politisch-ontologischem Grund und der Abhängigkeit von den institutionell-diskursiven, medialen und marktförmigen Bedingungen der bürgerlichen Welt hat noch eine dritte Variante avantgardistischer Projektideen hervorgebracht, die weder die Revolution unmittelbar verkörpern oder darstellen noch die Kunst zu einem Ort der gesellschaftlichen Gründung machen wollte. Sie lässt sich auch nur bedingt

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und 1917 von Franz Rosenzweig erstmals publiziert wurde. Die Fragen der Autorschaft – Hegel, Schelling oder Hölderlin – und des von Rosenzweig vorgeschlagenen Titels – ob es sich wirklich um das „älteste Systemprogramm“ handle – sind bis heute umstritten. Entkunstung stellt einen der zentralen Termini in Adornos Ästhetischer Theorie dar; hierzu siehe: Kerstin Stakemeier, Entgrenzter Formalismus. Verfahren einer antimodernen Ästhetik, Berlin (b_books) 2017.

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im Sinne eines Projekts verstehen, weil sie von keinem übergreifenden historischen Zusammenhang mehr ausgeht. Sie lebt weitgehend innerhalb der Strukturen bürgerlicher Öffentlichkeit, ohne allerdings – wie die sich vorwiegend stilistisch verstehenden Projekte – im Sinne reiner Erfolgsstrategien darin aufzugehen. Ihr geht es eher darum, sich reflexiv innerhalb dieser Strukturen behaupten zu wollen. Bereits im 18. Jahrhundert positionierten sich einzelne Künstler in Bezug auf die sich ausbildenden institutionellen und diskursiven Felder. Der irische Maler Nathaniel Hone etwa war einer der Ersten, der – lange vor Courbet – in London sowohl eine Ausstellung seiner eigenen Werke organisierte, um die Royal Academy zu umgehen, als auch mit einem satirischen Bild gegen die diskursive Dominanz eines Joshua Reynolds zu Felde zog.49 Von hier aus entwickelt sich ein bedeutender Strang moderner Malerei und Kunst im Wechselspiel zwischen der Tradition praktischer Erneuerung einerseits und taktischer Positionierung im Feld von Ausstellung und Diskurs andererseits. Von Courbet und Manet bis hin zu Duchamp lässt sich die zunehmende Gewichtung der taktischen Positionierung mit Händen greifen. Hier wird zumindest punktuell eine Form der Dynamisierung fassbar, die bis heute wirksam ist, indem sie sich selbst in einer neuen Art von Medialität – Ausstellung und Diskurs als den entscheidenden Medien der Gegenwartskunst – manifestiert.50 Auch inhaltlich verschiebt sich die Perspektive hier: An die Stelle politischer Gründungsereignisse und einer ihnen entsprechenden Ikonografie tritt das Soziale als umfassender Zusammenhang, der nicht mehr ganzheitlich und von außen repräsentiert, sondern nur mehr hinsichtlich seiner inneren Differenzen und der je eigenen Situiertheit darin analysiert werden kann.51 Es kommt zu einer Inversion des Politischen ins Soziale, durch die die taktische Positionierung das je eigene Subjektivitätskalkül immer schon mit betrifft. Insbesondere der Zwiespalt zwischen der „schönen“ Revolution vom Februar 49 Nathaniel Hone, „The Conjurer“, 1775, Dublin, National Gallery of Ireland, 145 × 173 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nathaniel_Hone_The_Conjurer.jpg. Konstantinos Stefanis, „Nathaniel Hone’s 1775 Exhibition: The First Single-Artist Retrospective.“ In: Visual Culture in Britain 14.2 (2013), S. 131–153. https://dx.doi.org/10.108 0/14714787.2013.787213. 50 Ich entwickle die These von der zentralen Bedeutung des Exhibitionary und des Diskursiven in: „The Turn from the Turns. An Avant-Garde Moving Out of the Centre (1986– 1993)“, in: Decter, Joshua; Draxler, Helmut u.a., Exhibition as Social Intervention. ‚Culture in Action‘ 1993, London (Afterall Books, Exhibition Histories and Koenig Books), 2014, S. 44–64. 51 Exemplarisch in dieser Hinsicht ist das Scheitern des Wettbewerbs für eine Darstellung der 2. Republik im Frühjahr 1848, an dem auch Daumier teilnahm. Siehe: Albert Boime, „The Second Republic’s Contest for the Figure of the Republic“, in: The Art Bulletin, Vol. 53, No. 1 (March 1971), S. 68–83.

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1848 und der „häßlichen“, proletarischen vom Juni 1848 hat die Künstler in eine Zwickmühle gebracht, die sie nicht mehr emphatisch die Idee bürgerlicher Revolution hat umarmen lassen. Schließlich sind an dieser Stelle noch die realistischen Projektideen zwischen Realismus und Naturalismus, Neuer Sachlichkeit und Präzisionismus, Sozialistischem Realismus und Neuem oder Kapitalistischem Realismus zu erwähnen. Hier gibt es zweifellos am wenigsten Dynamik, eher ein sich unter verändernden Umständen wiederholendes Insistieren auf einer Fragestellung. Courbets Anspruch, den Realismus nicht aus einer Ästhetik der Nachahmung abzuleiten, sondern durchaus im Sinne der Niederländer als einen ebenso welterschließenden wie politisch zu verkörpernden Einsatz aufzufassen, hat gerade in Hinblick auf diese konzeptuelle Selbstpositionierung tiefe Spuren bis in die Gegenwart hinein hinterlassen. Auch wenn die unmittelbare Nachfolge, etwa in Deutschland, eher stilbezogen als politisch agierte und die realistische Projektidee in der Folge weitgehend von Modernismus und Symbolismus zurückgedrängt wurde, bleibt der Anspruch, gesellschaftliche Dynamiken darstellen zu können – das Bild der Malerei soll zum Bild der Gesellschaft und ihrer Dynamiken werden – ebenso entscheidend wie die künstlerische SelbstPositionierung im Spannungsfeld sozialer und politischer Kräfte.52 Spätestens seit den 1920er-Jahren erneuert sich das Courbet’sche Projekt auf vielfältige Weise wieder in konkreten künstlerischen Ansätzen zwischen Neuer Sachlichkeit, Post-Expressionismus und Präzisionismus. Politische Positionierung und die Erfassung neuer sozialer, aber auch technisch-alltäglicher Wirklichkeiten im Tafelbild gehen hier Hand in Hand und wirken darin auch auf viele der modernistischen und avantgardistischen Projektideen zurück.53 Sogar Picasso kann plötzlich zum Realisten werden. Dies alles geschieht im Rahmen der für die bürgerliche Gesellschaft typischen Positionierungskämpfe. Zum programmatischen Ausdruck einer post-revolutionären bzw. post-bürgerlichen Gesellschaft wird der Realismus erst in den 1930er-Jahren im programmati­ schen Anspruch des Sozialistischen Realismus, die sich bereits entfaltende 52 Auch wenn Courbet an der Commune teilnimmt, so doch nicht im Sinne eines Revolutionskünstlers oder eines Avantgardisten. Schon sein Bild „Das Atelier des Künstlers. Eine wirkliche Allegorie einer siebenjährigen Phase in meinem künstlerischen (und moralischen) Leben“ von 1855 situiert ihn selbst im Spannungsfeld sozialer Kräfte, eher der sozialinversiven Avantgarde verwandt als der Revolutionskunst, doch mit einem deutlichen realistischen Anspruch. 53 Siehe insbesondere: Andrew Hemingway, Artists on the Left: American Artists and the Communist Movement 1926–1956, New Haven (Yale University Press) 2002. Andrew Hemingway, The mysticism of money: Precisionist painting and machine age America. Pittsburgh (Periscope) 2009.

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sozialistische Gesellschaft zu repräsentieren und damit tatsächlich einen neuen ontologischen, politischen und ästhetischen Grund zu legen. Dies mag auf vielfach fatale Weise misslingen, doch bleiben die konkreten malerischen Ansätze hierfür – wie bei den ähnlich scheiternden bürgerlichen AvantgardeIdeen – in ihrer materialen Widersprüchlichkeit durchaus interessant. Vor allem, weil sich in ihrem Umfeld auch die theoretisch fruchtbarste Debatte über die Möglichkeit und politische Notwendigkeit einer realistischen Kunst entspann: zwischen Georg Lukács, Michail Lifschitz und Sergej Eisenstein auf der einen Seite und Anna Seghers, Ernst Bloch und Bertolt Brecht auf der anderen.54 Diese Diskussionen wirkten über den Untergang der stalinistischen Kulturpolitik und ihrer künstlerischen Ableger hinaus. Sie definieren bis heute das Spannungsfeld zwischen der Frage, was es heißen könnte, die Wirklichkeit zum Bild zu machen oder sie „auf ein Bild zu bringen“ und der Analyse einer technischen, medialen und ideologischen Bildlichkeit, die den Blick auf die Wirklichkeit eher zu verstellen scheint. Dieser Zwiespalt definiert in fast allen heutigen Kunstsparten – zwischen Theater, Film, Malerei, Photographie und den post-minimalistischen bzw. post-konzeptuellen Ansätzen – den Problemhorizont ihrer formalen wie inhaltlichen Fragestellungen.55 Modernistische, avantgardistische und realistische Aspekte greifen zunehmend ineinander, ohne jedoch letztlich ein einheitlich-normatives Schema zu finden, in dem sich die Moderne insgesamt abbilden würde. Es mag gewagt erscheinen, die modernistischen, die avantgardistischen – ob als Revolutionskunst, als idealistische oder als inversive bzw. situierte Avantgarde – und die realistischen Projektideen in einer gemeinsamen Perspektive aus dem Nachleben der Niederländischen Malerei heraus verstehen zu wollen. Mir geht es keineswegs um die Ableitung konkreter Ansprüche, Praktiken oder Werke und damit um deren Relativierung, sondern darum, die transzendentale Dimension der modernen und gegenwärtigen künstlerischen Formen in einer historischen Problemperspektive zu sehen. Denn eine Archäologie der modernen Kunst und der Gegenwartskunst kann nicht alleine von den empirischen Gegebenheiten konkreter Kunstwerke ausgehen, sondern nur von der Frage, wie diese möglich geworden sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der uns heute die einzelnen Werke in den Museen moderner Kunst oder der Gegenwartskunst entgegentreten, verdankt sich im Wesentlichen den 54

Eine gute Zusammenfassung dieser Diskussionen findet sich bei: Daniel Göcht, Mimesis– Subjektivität–Realismus. Eine kritisch-systematische Rekonstruktion der materialistischen Theorie der Kunst in Georg Lukács’ Die Eigenart des Ästhetischen, Bielefeld (LukácsStudien) 2017. 55 Vor allem im Anschluss an Brecht etwa bei Jean-Luc Godard, Harun Farocki oder Hito Steyerl.

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Projektideen dieser Werke selbst oder den dominanten Narrativen der Kunstkritik und den kunsthistorischen Genealogien, in die sie sich einschreiben und die von den institutionellen Strukturen als weitgehend gegeben vorausgesetzt werden. Trotz aller Kritik an den geschichtsphilosophischen Implikationen und den patriarchalen bzw. kolonialen Ausschließungsmechanismen dieser Narrative hat sich daran bis heute kaum etwas geändert. Doch diese Selbstverständlichkeit bleibt trügerisch, setzt sie doch eine Kongruenz von empirischer Materialität und transzendentaler Begründungsfigur voraus. Doch gerade diese Kongruenz verdeckt das Problem, dass nur in dieser Differenz die kategorische Unbestimmtheit von Kunst verankert ist. Diese Unbestimmtheit verhindert zwar, dass sich eine der Projektideen tatsächlich als ein normativer Grund etablieren könnte; sie ermöglicht damit jedoch Kunst in dem spezifisch modernen Sinne im Spannungsfeld von enormen imaginären Ansprüchen und tendenziell beliebigen und vorbehaltlichen, in ihrer Konsequenz stets überbietbaren Realisierungen.56 Denn jedes Werk moderner Kunst und der Gegenwartskunst realisiert seinen jeweiligen Wahrheitsanspruch nur für ein kurzen historischen Moment und riskiert, gerade in seiner akuten Gegenwärtigkeit, in bodenlose Banalität zurückzufallen, sobald ihr transzendentaler Begründungshorizont überholt wirkt oder nicht mehr verstanden wird.57 Wer etwa heute abstrakt, kubistisch oder surrealistisch malt, hat für gewöhnlich etwas vom Kunstanspruch dieser Ideen nicht verstanden. Und doch spricht dieses potenzielle Banal-Werden moderner Kunst nicht grundsätzlich gegen sie.58 Es macht lediglich deutlich, wie grundlegend die empirischtranszendentale Spannung für sie ist. In ihr wurzelt die fundamentale Unbestimmtheit moderner Kunst – die Wahrheit ihres Mangels an Wahrheit – als der treibende Grund ihrer Möglichkeiten und ihrer Unmöglichkeiten. Noch die aktuellen Ansprüche an eine spezifisch künstlerische Politik, sei es in Form von Kunstaktivismus oder Institutionskritik, an eine künstlerische Forschung oder ein künstlerisch vermitteltes Soziales im Sinne kollektiver Zusammenhänge oder einer relational aesthetics definieren sich häufig als imaginäre, letzte Anstrengungen zur Überwindung dieser Spannung. Und doch wiederholen sie dabei bloß spezifische Muster des Symbolischen, wie wir sie aus 56 Es gibt in diesem Sinne immer ein noch abstrakteres, noch moderneres, noch realisti­ scheres, noch politischeres Kunstwerk. Die jeweilige Relativierung liegt im je eigenen Anspruch bereits beschlossen. 57 Dieses Problem wird exemplarisch diskutiert in: T. J. Clark, 1999 (Anm. 19). 58 Vielfach scheint mir die Banalität den entscheidenden taktischen Einsatz darzustellen, der einzelne Praktiken davor rettet, in ihren imaginären Projektionshorizonten aufzugehen bzw. von Kunstkritik oder Kunstgeschichte als tatsächlich gelingende Realisierungen verstanden zu werden.

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den unterschiedlichen historischen Projektideen von Modernismus, Realismus und Avantgarde kennen, die selbst wiederum auf den Problemhorizont verweisen, den die Niederländische Malerei aufgeworfen hatte. Denn diese hatte sich erstmals – im Unterschied zur italienischen Tradition – mit dem gravierenden Problem der eigenen Begründung und dem Mangel einer transzendenten, kosmologischen oder funktional-hierarchischen Wahrheit auseinandergesetzt und hierfür spekulativ-transzendentale Bildbegriffe als Form einer malerischen Praxis entwickelt, die sich zunehmend als Kunst im Sinne einer übergreifenden begrifflichen Einheit symbolisiert haben. Diese transzendentale Dimension hat sich als positive Bestimmung in das moderne Verständnis von Kunst eingeschrieben. Es geht wohl auch heute noch darum, diese positive Bestimmung der Unbestimmtheit nicht aufzuheben, sondern sie im Spiel zu halten. Deshalb reicht es nicht mehr, kubistisch oder abstrakt zu malen im Sinne eines endgültig etablierten, modernen oder revolutionären Stils oder auch nur zu definieren, worin Institutionskritik wirklich bestehe; vielmehr muss der Frage nachgegangen werden, auf die Kubismus wie Institutionskritik die Antwort sein wollten. Gegenwartskunst ist nichts anderes als diese offene Frage. Differenzierung und Dynamisierung stellen nicht mehr nur ihre strukturellen Bedingungen dar, sondern die Herausforderung und Aufgabe, die es zu adressieren gilt, weil in ihnen die Relativierung der eigenen Ansprüche an Wahrheit und Sinn bereits angelegt ist. 7.3.

Die diskursive Dimension der Aneignung: Ausblendung und Überbietung in der Kunstkritik

7.3.1. Die spekulative Idee der Kritik Somit drängt die Niederländische Malerei, wenn wir sie als symbolische Einheit ebenso fassen wollen wie als historisch spezifische Erscheinungsform, in ihrem Nachleben über sich selbst hinaus. Sich differenzierend und dynamisierend durchdringt sie moderne Malerei und Kunst als eine Art von Dispositiv, das sich aus ihren künstlerischen Einsätzen und Methoden, ihren spekulativen Ideen und offenen Fragestellungen, und vor allem aus ihren tief eingeschriebenen Spaltungen heraus gebildet hat. Malerei und Kunst werden modern im „Erscheinungsraum“ dieses Dispositivs zwischen der Negativität politischer Gründung auf der einen Seite und der Positivität der institutionellen und diskursiven Diversifizierung, wie sie im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden ist, auf der anderen. In diesem Durchdringen und Transformieren verliert sich die Niederländische Malerei selbst jedoch gleichzeitig in ihren entscheidenden Errungenschaften, insbesondere hinsichtlich

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ihrer Bildideen, ihrer besonderen Überlagerung von Denken und Machen in Form von Bild und Malerei, ihrer prekären Balancen zwischen Autonomie und Heteronomie, produktivem Einsatz und kritischer Response. Denn in den Praktiken der Erneuerung und der Aneignung geht ebenso wie im zunehmend sich dynamisierenden Prozess der symbolischen Transformation stets und unwiederbringlich etwas verloren. Moderne Kunst ist weder eine Überwindungsgeschichte des Alten noch eine Triumphgeschichte, in der die Vergangenheit sublimiert und in einem höheren Sinn aufgehoben wäre.59 Vor allem der weitgehende Verlust der spekulativen Bildideen scheint im Rahmen von modernistischer Abstraktion, avantgardistischer Überschreitung und realistischer Figuration uneinholbar. Und doch wirft gerade dieser Verlust die Frage auf, welche Kategorien die spekulativen Bildideen im Rahmen des Vorstellungshorizonts von moderner Kunst abgelöst haben: Sicherlich ist es die spekulative Idee der Kunst selbst, die nun als grundlegender Code und gleichzeitig als regulativer Rahmen jedweder Praxis fungiert.60 Die Negativität, wie sie jeder Idee von Avantgarde eingeschrieben ist, steht dem keineswegs entgegen und ließe sich selbst als symbolische Positivität fassen, wie sie sich heute insbesondere in der vielfach imaginierten Abschaffung bzw. Überwindung von Kunst in Begriffen kultureller, medialer oder politischer Praxis zeigt; auch die neuen Medialitäten von Ausstellung und Diskurs wären in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen. Entscheidend scheint mir jedoch die spekulative Idee der Kritik zu sein, wie sie in den diskursiven Verschiebungen des 18. Jahrhunderts erstmals fassbar wird: zu Beginn als eine Instanz des distanzierten Denkens, das die Frage von Wahrheit, Sinn und Wert gegen jede dogmatische Behauptung und mittels besonderer Verfahren der Analyse, der Erfahrung und der Bewertung sicherzustellen sucht. Als Kunstkritik vermittelt sie in ihren besonderen Begrifflichkeiten und Narrativen zwischen den empirischen Aspekten malerischer Praxis und den transzendentalen Dimensionen dieser Praktiken als Kunst ebenso wie zwischen den individuellen, künstlerischen Ansprüchen und den Wahrheits-, Sinn- und Wertbedürfnissen des Publi­ kums. Kunstkritik agiert als besondere diskursive Formation nicht mehr bloß 59

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In diesem Sinn waren lange Zeit die kubistische und abstrakte Kunst der Moderne verstanden worden, so als ob darin die ‚primitive‘ Kunst aufgehoben wäre und als ein Teil einer allgemeinen Menschheitsgeschichte symbolisiert werden könnte, und nicht als ein spezifischer Aneignungsmodus mit all seinen politisch bedenklichen Konnotationen. Dies betrifft die bäuerliche Kunst bei Kandinsky und Brancusi ebenso wie die aus den ethnologischen Sammlungen stammenden Artefakte, von denen sich Picasso und vielen Expressionisten anregen ließen. Ich diskutiere dies in: Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books) 2007; insbesondere im Kapitel „Substanz als Medium“.

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konversierend im Austausch mit einzelnen Gebildeten, sondern mehr und mehr stellvertretend und exemplarisch im Namen eines Laienpublikums im Sinne einer „ersten Rezeption“. Sie filtert gleichsam das, was in großer Vielfalt in den Ausstellungen zu sehen ist; sie nimmt Unterscheidungen zwischen dem wahren und dem falschen Kunstanspruch vor. Hierfür bedarf es besonderer Kriterien, Argumentationsweisen und historischer Erzählformen. Keineswegs lässt sich Kunstkritik jedoch in diesem Bemühen rein funktional im Dienste verschiedener Vermittlungen begreifen; sie bringt sich vielmehr stets auch selbst in Stellung, und zwar mehr und mehr als das eigentliche Organ der Wahrheitsfindung. Die Entscheidung über die Wahrheit wird in ihr selbst zum Anspruch auf Wahrheit.61 Darin erhebt sich Kunstkritik über jede Vermittlung hinaus zu einer transzendentalen Kategorie. Bereits die romantische Kunstkritik imaginiert sich in diesem Sinne als der eigentliche Schauplatz des Werks und als die Erfüllung von dessen Wahrheit als Kunst. Die Differenz von künstlerischer Praxis und kunstkritischer Reflexion wird scheinbar aufgehoben62 und über die Kunstwerdung der Malerei hinaus kommt es zu einer Kritikwerdung der Kunst bzw. eines Künstlerisch-Werdens der Kritik, worin wiederum die heroische Gestik moderner Kunstkritik begründet liegt. Doch solche Rhetoriken der Überbietung, die letztlich auf eine Aufhebung der empirisch-transzendentalen Spannung und somit auf das Phantasma einer tatsächlich kritischen Kunst oder einer künstlerischen Kritik zielen, scheitern notwendigerweise. Die angestrebte Wahrheit kann sich in der Kritik genauso wenig wie in der Kunst oder in der Malerei definitiv erfüllen, weil jeder Wahrheitsanspruch darin selbst wiederum kritisiert werden kann. Kritik im Allgemeinen und Kunstkritik im Besonderen63 können deshalb weder funktional noch substanziell, weder bloß empirisch noch bedingungslos transzendental, weder rein praktisch noch rein diskursiv verstanden werden. Nur in der Differenz und im Arbeiten mit diesen Differenzen kann 61

Dies könnte man durchaus im Sinne Kierkegaards verstehen: Die Entscheidung selbst ist das Entscheidende, nicht die Differenz von Gut und Böse. 62 Diese Aufhebung der Differenz von Praxis und Kritik scheint sich heute noch zuzuspitzen, sowohl im Triumph einer weitgehend selbstbezogenen ‚Kritikalität‘ als auch in Form von künstlerischen Praktiken, die selbst so kritisch geworden sind, dass sie sich gegen jede Kritik von außen abzudichten scheinen. Sie warten nicht mehr als stumme Objekte auf den kunstkritischen Akt der Bewertung; sie vollziehen ihre Bewertung immer schon selbst. 63 Ich werde mich im Folgenden auf die Kunstkritik unter den diskursiven Formaten, wie sie sich im 18. Jahrhundert ausgebildet haben, konzentrieren, weil sie mir im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Kunst am bedeutendsten zu sein scheint, ohne jedoch die Verbindung zu anderen Formen der Kritik und den Bezug zu Kunstgeschichte, philosophischer Ästhetik oder allgemeiner Kunstliteratur aus dem Auge zu verlieren.

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die offene Frage der kategorischen Unbestimmtheit von Kunst (und den anderen symbolischen Kategorien der Moderne) verstanden und produktiv in ein Verständnis der Gegenwart eingebracht werden. Sowohl in der Vorstellung von kritischer Kunst als auch von künstlerischer Kritik ginge die Differenz zwischen Praxis und Kritik verloren und somit das Spannungsfeld zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen. Denn der Aufstieg der Kritik im symbolischen Horizont der Moderne hat für die Praktiken ein Problem geschaffen, ihren eigenen Anspruch an Kunst nicht mehr realisieren zu können. Hierin gründet ein Ungenügen bzw. ein Leiden an sich selbst, das jedoch selbst wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses von Praxis werden konnte: In einer solchen practice beyond itself64 könnte man den Beginn jener zunehmend dynamisierten Praxisformen bis hin zu den konstruktivistischen, minimalistischen oder konzeptuellen Ansätzen sehen, in denen jedes historische Praxis-Verständnis überwunden zu sein scheint. Kunstkritik bewertet oder reflektiert nicht nur die Praktiken; sie treibt sie gleichsam über sich selbst hinaus. Damit hat sie selbst jeden objektiven Standpunkt von Bewertung immer schon verloren. Dieser Verlust stellt sogar die Bedingung ihres Einsatzes dar. Sie ist letztlich ebenso subjektiv wie die Praktiken, über die sie urteilt, auch wenn sie im Namen eines subjektiven Allgemeinen argumentiert. Das heißt, Kunstkritik muss in ihren kategorischen Ambivalenzen zwischen Theorie und Praxis, Behauptung und Bewertung, Subjektivität und Allgemeinheit verstanden werden; sie ist weder nur das Schlechte, das jede tatsächlich autonome Begründung von Kunst als Praxis verhindert, noch ist sie selbst die eigentlich autonome Instanz und damit etwas essentiell Gutes. Gerade weil sie selbst so fanatisch zwischen dem Guten und dem Schlechten unterscheiden möchte, kann sie selbst nicht nur gut sein. Sie hat sich längst als ein eigenes Feld zwischen Theorie und Praxis etabliert – als konstitutiv scheiternde Form von Vermittlung. Sinnvoll kann sie sich darin nur im Austausch mit Praktiken und mit spekulativen Theorien, zwischen politischen Einsätzen und ästhetischen Ansprüchen behaupten. Gegenüber den Tendenzen zur emphatisch-imaginären Selbstbezüglichkeit der Kritik, zur Moralisierung ihrer je eigenen Wertansprüche und vor allem zum Ausblenden der eigenen Historizität bedarf es zweifellos einer Kritik der Kunstkritik im Sinne einer ebenso reflexiven wie historisch-archäologischen Bestimmung ihrer jeweiligen Kriterien und spekulativen Einsätze. Erst von hier aus kann zwischen ihrer 64 Ich paraphrasiere hier: Isabelle Graw, Ewa Lajer-Burchardt, Painting beyond itself: The Medium in the Post-Medium Condition, Berlin (Sternberg), 2016, ein Buch, das sich selbst wiederum auf einen Text von David Joselit bezieht, nämlich „Painting beside itself“, in: October Vol. 130 (Fall 2009), S. 125–134.

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symptomatischen Tendenz, die offene Frage der Moderne hinsichtlich der kategorischen Unbestimmtheit von Kunst zum Verschwinden zu bringen, und ihrer produktiven Möglichkeit, die symbolische Dimension dieser Frage überhaupt erst zur Darstellung zu bringen, unterschieden werden. 7.3.2. Die ‚Urszenen‘ der modernen Kunstkritik und ihre Folgen Bei Gotthold Ephraim Lessing, Denis Diderot und Jean-Jacques Rousseau lassen sich konzeptuelle Muster im jeweiligen Verständnis von Kunstkritik festmachen, die man versuchsweise als die ‚Urszenen‘ der modernen Kunstkritik begreifen könnte.65 Ihnen gemeinsam ist, dass sie das spekulative Bild, das Bild als Rahmen eines spezifisch malerischen und künstlerischen Denkens, geradezu kategorisch ausblenden und entwerten. Die Leistung des Bildes als empirisch-transzendentale Schnittstelle, die sich im Wechselspiel von Repräsentation, Realismus und Reflexion ausgebildet hatte, wird somit systematisch negiert, und damit verstellt sich der Blick sowohl auf die Malerei als einer spezifischen, empirisch-transzendentalen Praxis als auch auf die Historizität der eigenen Ansätze, sich reflexiv und transitiv auf diese praktischen Einsätze hin zu verhalten. Indem sie sich immer wieder auf diese Urszenen rückbezieht, schreibt die moderne Kunstkritik diese Verleugnung bis auf den heutigen Tag fort. Hierbei wird das Bild zumeist entweder als transparente Folie oder als opake Fläche begriffen, wogegen man etwa in kritischer Absicht einen Rahmen, ein framing oder einen Kontext einklagen muss, was darauf verweist, dass dieses Bild eben nicht als Rahmen, mithin als etwas, das selbst einen Kontext konzeptuell herstellt, begriffen wird.66 Lessing bleibt etwa in seiner Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten hinsichtlich der Malerei vollkommen unspezifisch. Er argumentiert zwar vehement gegen die auf Horaz rückführbare Tradition des ut pictura poesis und damit gegen alle Äquivalenzbestimmungen zwischen den unterschiedlichen 65 Zum psychoanalytischen Begriff der Urszene siehe: Jean Laplanche,  J.B.  Pontalis, Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie, Frankfurt am Main (Fischer), 1992; Marcus Coelen (Hg.), Die andere Urszene, Zürich, Berlin (diaphanes) 2008. 66 Hierin lässt sich noch das Problem einer Kontext Kunst festmachen: sie überwindet das Bild nicht, indem sie seinen Rahmen oder Kontext ins Aug fasst; sie ersetzt vielmehr den spekulativen Begriff des Bildes als eines Rahmens durch den des Kontexts oder des Rahmens. Implizit wird damit festgeschrieben, dass das Bild selbst keinen Rahmen darstelle, sondern dessen erst bedürfe. Siehe: Peter Weibel (Hg.) Kontext Kunst. Kunst der 1990er-Jahre, Ostfildern (Dumont) 1995; Hans Haacke, Framing and being framed. 7 Works 1970–1975, New York (New York University Press) 1975; sowie: Craig Owens, „From Work to Frame, or: Is there Life after „The Death of the Author“?, in: Craig Owens, Beyond Recognition – Representation. Power, and Culture, Berkeley, Los Angeles, London (University California Press), 1994, S. 117–141.

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Künsten, doch sein exemplarisches Beispiel für die Raumkünste ist eine Skulptur – jene 1506 in Rom entdeckte, antike Figuren-Gruppe, die den trojanischen Priester Laokoon darstellt, der gemeinsam mit seinen Söhnen mit den von den Göttern geschickten Schlangen ringt.67 An diesem Beispiel exemplifiziert Lessing seine Theorie des „fruchtbaren Augenblicks“ ebenso wie seine Vorstellung einer gewissen ästhetischen Dezenz im Ausdruck, die den Raumkünsten zukomme, um die Schönheitsideale nicht allzu sehr zu verletzen. Die Raumkünste hinken deshalb den Ausdrucksmöglichkeiten der Poesie hinterher, doch auch diese darf sich nicht verräumlichen und in allzu detaillierten Beschreibungen verlieren. Die Malerei ist in diesem Verständnis jedenfalls nichts anderes als eine in den perspektivischen Bild-Raum transformierte Skulptur. Konkrete Beispiele der Malerei werden meist nur als Negativbeispiele diskutiert, wie jenes von Lessing Tizian zugeschriebene Bild, das mehrere Szenen aus dem Gleichnis des Verlorenen Sohns enthält und wohl zweifellos aus einem Niederländischen Kontext stammen musste. Mehrere Zeiten darf es in den Raumkünsten nicht geben. Die Theorie des „fruchtbaren Augenblicks“ schreibt daher konsequent Albertis Theorie der historia fort. Das Bild ist und bleibt eine transparente Folie für einen Bühnenraum, auf dem ein einziges, absolut bedeutsames, heroisches Geschehen stattfindet.68 Für Clement Greenberg, der sich im Jahr 1939 in seinem Aufsatz „Towards A Newer Laocoon“ als direkter Nachfahre Lessings zu erkennen gab, ist Lessings Kritik an einer „confusion of the arts“ entscheidend; sie verlangt für jedes Medium spezifische Kriterien. Und in diesem Sinne versucht er solche Kriterien – über Lessing hinaus – auch für die Malerei zu gewinnen. Gleichzeitig weitet er die Kritik an dem Horaz’schen Diktum zum Panorama eines kulturkritischen

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Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, 1766. Hierzu siehe: Inka Mülder-Bach, „Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte  66 (1992), S.  1–30; sowie: Dana König, Das Subjekt der Kunst: Schrei, Klage und Darstellung. Eine Studie über Erkenntnis jenseits der Vernunft im Anschluss an Lessing und Hegel. Bielefeld (transcript) 2011. 68 Gerade weil der Malerei keine wirklich spezifische Intelligibilität und Medialität zugeschrieben wird, scheint auch der Schritt vom Laokoon zum „Raffael ohne Hände“, wie er in der Emilia Galotti, 1772 uraufgeführt, auftaucht, nicht weit zu sein. Das TransparenzIdeal wird hier so weit zugespitzt, dass die reine Vorstellung des Bildes bedeutsamer sein kann als dieses selbst. Nichts ist Anti-Niederländischer gedacht. Und obendrein verschmelzen in dieser literarischen Figur eines Malers wiederum Fantasie und Realität, Poesie und Malerei – Horaz feiert darin eine Art von Wiederauferstehung.

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Entscheidungskampfes zwischen Wahrheit und Täuschung, Reinheit und Vermischung, Erneuerung und Dekadenz aus.69 Greenberg spezifiziert die Malerei in erster Linie als Fläche; mithin wird das transparente Bildverständnis durch ein opakes abgelöst. Dieses opake Bild mit seiner dominant gesetzten Flächigkeit wird zum eigentlichen Medium der Malerei erklärt und muss in dieser Funktion adressiert werden. Malerei ist in dieser Sichtweise dort wahr, wahrhaft modern und somit Kunst, wo sie in dieser für sie spezifischen Medialität thematisiert wird und sich von jeder inhaltlichen, literarischen oder illusionistischen Bezüglichkeit verabschiedet. Der Purismus moderner Malerei, der dem Verfall und der Degeneration der Malerei unter der Vorherrschaft sowohl der Literatur als auch des kulturindustriellen Kitsches entgegentreten will, wird so zur moralischen Notwendigkeit stilisiert.70 Heroische Figuren werden von Greenberg aufgerufen, die sich dieser doppelten und fatalen Bedrohung jeder Kultur und Kunst widersetzen. Sie sind es, die von Courbet und Manet ausgehend, als „modernist painters“ den Purismus als die letzte Bastion genuiner und wahrer Kultur im Namen einer „avantgardistischen“ Gegenkultur aufrechterhalten. Es ist diese große „Sorge“ um die Kunst und eine authentische Kultur insgesamt, die die modernistischen Maler und Malerinnen umtreibt.71 Geschrieben zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes verteidigen die beiden zentralen Essays Greenbergs die modernistische Avantgarde72 als ringsum bedrohte Form einer authentischen Hochkultur, die erst in einem wahren Sozialismus als genuin allgemeine erscheinen können wird. Nach dem Krieg verschwindet die sozialistische

69 Clement Greenberg, „Towards A Newer Laocoon“, in: The Partisan Review, July– August 1940; Clement Greenberg, „ Avant Garde and Kitsch“, in: The Partisan Review 1939. Beide Essays finden sich wiederabgedruckt in: Clement Greenberg, The Collected Essays and Criticism. Volume I. Perceptions and Judgements 1939–1944, Chicago, London (The University of Chicago Press), 1986. 70 In „Avant Garde and Kitsch“ geht es gegen den kulturindustriellen Kitsch, in „Towards a Newer Laocoon“ gegen die Literarisierung der bildenden Kunst. 71 Zu Beginn von „Towards a Newer Laocoon“ heißt es: „The dogmatism and intransigence of the ‚non-objective‘ or ‚abstract‘ purists of painting today cannot be dismissed as symptoms merely of a cultist attitude towards art. Purists make extravagant claims for art, because usually they value it much more than anyone else does. For the same reason they are much more solicitous about it. A great deal of purism is the translation of an extreme solicitude, an anxiousness as to the fate of art, a concern for its identity. We must respect this.“, in: Clement Greenberg, 1986 (Anm. 69), S. 23. 72 Avantgarde und Modernismus werden bei Greenberg noch synonym verwendet. Die Differenzierung der Begriffe beginnt erst mit der Kritik an Greenberg, wie sie in den 1960er-Jahren Fahrt aufnimmt.

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Perspektive rasch und die Argumentation wird zum blueprint einer teleologisch verstandenen amerikanischen Kultur-Hegemonie.73 Die Malerei wird hier also umstandslos mit dem Tableau bzw. mit der Tafelmalerei gleichgesetzt. Für Wand-, Buch-, Glas- oder Höhlenmalerei ergäbe die Flächigkeit keinen spezifisch medialen Sinn. Erst in der Abgrenzung gegen die durch die Dominanz der Literatur bedingte „Konfusion der Künste“ erhält die Flächigkeit als mediale Bedingung von Malerei Sinn. Auf sie scheinen alle Bewegungen der Moderne ausgehend von den zunehmen flachen Malweisen und Bildarrangements bei Courbet oder Manet und dem kategorischen Anti-Illusionismus, dem „Ende der wissenschaftlichen Perspektive“ bei Cézanne,74 hin zuzulaufen. Darüber hinaus unterminiert und überwindet die konsequente Semiotisierung der Bildzeichen im Kubismus, bei Paul Klee und den Surrealisten die virtuose, vornehmlich an den holländischen und flämischen Meistern des 17. Jahrhunderts geschulte Abbildungsqualität der bürgerlichen Repräsentationskunst und deren scheinbar naive Erzählfreude. Demgegenüber wird nun ein Jenseits der Repräsentation angepeilt und die Materialität der malerischen Zeichen als Signifikanten betont, die weder in ihrer Abbildungs- noch in ihrer Erzählfunktion aufgehen und jeden Verweis zuallererst reflexiv auf sich selbst und ihre Verankerung in der Bildfläche lenken. In dieser Sichtweise verbirgt moderne Malerei somit nicht die je eigenen Mittel im Sinne einer illusionistischen immediacy-Strategie; die Mittel werden vielmehr als spezifisch malerische Zeichen offengelegt („Ars est artem demonstrare“),75 und in diesem sich zeigenden Selbstbezug auf die besonderen Qualitäten des eigenen Mediums erwacht die Kunst aus ihrem degenerativen Dämmerzustand. Sie wird ebenso puristisch wie authentisch und eröffnet derart ihr Wahres und Wesentliches. Man kann an dieser historischen Sequenz zwischen Lessing und Greenberg deutlich sehen, wie sowohl das transparente als auch das opake Bildverständnis alle spezifischen Leistungen der Niederländischen Malerei in ihren spekulativen Bildbegriffen ausschließt. Bei Greenberg bleibt zumindest das Tableau als Ausgangspunkt präsent; die damit verbundenen historischen Bildideen werden jedoch kursorisch und historisch vollkommen unzutreffend dem Verdikt der Degeneration unterstellt. Doch sein Begriff des Mediums stellt 73 Hierzu siehe: Serge Guilbault, How New York Stole the Idea of Modern Art: Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1985. 74 Fritz Novotny, Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive, Wien 1938. 75 In „Towards a Newer Laocoon“ verweist Greenberg auf das angebliche Renaissance-Motto: „Ars est artem celare“, dem er das modernistische Credo: „Ars est artem demonstrare“ gegenüberstellt. Siehe: Clement Greenberg, 1986 (Anm. 69), S. 27.

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zweifellos selbst eine Bildidee dar, die jedoch in ihrer scheinbar objektiven Materialität implodiert. Michael Fried und Rosalind Krauss konnten seit den 1960er- und 1970er-Jahren durchaus produktiv an Greenberg anknüpfen. Fried, indem er das historische Narrativ der Medienspezifik erweiterte; Krauss, indem sie die strukturellen und historischen Bedingungen eines jeden Mediums, insbesondere von Skulptur und Fotografie herausstellte und damit vor allem auch die von ihr als post-medial, kontextuell und vielfach als anti-puristisch verstandenen Praktiken der 1960er- und 1970er-Jahre nicht mehr kategorisch zurückweisen musste.76 Der Begriff des Mediums öffnet sich hier; die direkte Verbindung mit der Materialität eines Bildträgers und der „Reinheit“ einer ästhetischen Auffassung schwindet, und dennoch bleiben auch bei Krauss die Qualitäten in der Bearbeitung eines Mediums, verstanden im Sinne einer werkhaften Verdichtung seiner strukturellen Bedingungen, die Voraussetzung, um adäquat über Kunstwerke urteilen zu können. Empirisch bleibt dies durchaus sinnvoll; künstlerische Qualität zeigt sich häufig daran, wie mit der jeweiligen Medialität im Sinne von Repräsentation, Realismus und Reflexivität umgegangen wird; doch die transzendentale Dimension kommt zu kurz, solange die grundlegende Differenz von Medium und Kunstanspruch und damit die Frage, was überhaupt ein bestimmtes Medium zur Kunst disponiert, nicht berücksichtigt wird. Denn empirisch können das Bild oder das Medium der Malerei verschwinden, transzendental – im Sinne einer ebenso grundlegenden wie rahmenden Idee – bleiben sie auch dort vorhanden, wo sie als empirische nicht mehr zu fassen sind, wie etwa im Minimalismus, in der Performance oder in der Konzeptkunst. Frieds Position ist in unserem Zusammenhang besonders interessant, weil er die Greenberg’sche Kulturkritik fortschreibt und gleichzeitig den Purismus abstrakter Malerei historisch neu begründet. Bei ihm ist die Malerei als hohe Kunst nicht mehr von der Literatur und vom Kitsch als ihr äußerlichen Feinden bedroht, sondern von einer anderen malerischen Auffassung, einem ihr selbst innewohnenden Virus, dem Theatralischen, gegen das fortwährend angekämpft werden muss.77 Das Gegengift gegen das Theatralische in der Malerei besteht darin, dass das Bild die Betrachtenden mittels einer Art von 76 Rosalind  E.  Krauss, The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths. Cambridge, Massachusetts (MIT Press), 1985; Rosalind E. Krauss, A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London (Thames & Hudson) 1999. 77 Das Argument findet sich bereits in Frieds legendärem Essay von 1967: „Art and Objecthood“, in: Michael Fried, Art and Objecthood: Essays and Reviews, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1998, S.  148–172; historisch ausgearbeitet wird es in: Michael Fried, Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago, London (The University of Chicago Press), 1980.

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supreme fiction in seiner physischen Präsenz verleugnet: Gerade im Feld des Ausstellungswerts, in dem es vor Blicken nur so wimmelt, tut das Bild so als ob es nicht betrachtet würde. Nur wenn die allzu neugierigen Blicke nicht direkt adressiert oder gar theatralisch überwältigt werden sollen, kann große Kunst, d.h. eine spezifische Wahrheit der Kunst gelingen und darin letztlich von einem einzelnen, wahren Kritiker anerkannt werden.78 Abstrakte Malerei und die ihr zuarbeitende Kunstkritik leisten dies am überzeugendsten. Ihre Vorgeschichte verortet Fried jedoch nicht in einzelnen abstrahierenden Momenten der Gestaltung, sondern in einer besonderen ästhetischen Auffassung, der Absorption, wie sie seiner Meinung nach im 18. Jahrhundert bei Malern wie etwa Jean-Baptiste-Siméon Chardin oder Jean-Baptiste Greuze ebenso auftrete wie in der entstehenden Kunstkritik im Umfeld von Diderot.79 Als innerbildliche Strategie tritt diese Auffassung in Form von Figuren auf, die nicht nur in ihren jeweiligen Handlungen aufgehen, sondern darin geradezu „versunken“ sind. In dieser extremen Form der Konzentration rufen sie ein Existenzideal wach, mit dem sich die Betrachtenden vor dem Bild identifizieren können, gerade weil sie ignoriert und nicht umworben werden. Der Begriff der Absorption beschreibt somit eine Art von Äquivalenz zwischen den Geschehnissen im Bild – Einheitlichkeit der Handlung, ‚Wahrheit‘ des Gefühlsausdrucks, innerbildliche 78

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Fried ordnet alle künstlerischen Qualitäten diesem kontradiktorischen und normativen Schema unter. Die Moderne wird als eine einzige Schlacht um die Wahrheit der Absorption als Kunst begriffen. Innerhalb einzelner künstlerischer Projekte, wie etwa bei Courbet wird dahingehend hinsichtlich der gelingenden und der scheiternden Momente unterschieden. Einzig Manet bekommt eine Extrabehandlung, wohl weil er der flatness seiner Malweise wegen für das modernistische Narrativ unverzichtbar ist; gleichzeitig findet sich in seinen Hauptwerken die theatralische Adressierung der Betrachtenden auf bisher unbekannte Weise zugespitzt wird: Die Betrachtenden werden von Manet allerdings nicht umworben, sondern durch direkte und unverblümte Blicke herausgefordert, eine Strategie, die Fried als „presentational theatricality“ beschreibt. Diese Strategie ist der Tatsache geschuldet, dass der Kapitalismus die protestantisch-bürgerliche Ethik (und damit die Absorption als eine Ästhetik aus dem Geiste der protestantischen Ethik) verlassen hat, und deswegen auch der Ausstellungsbesuch selbst zu einem jener Vergnügen geworden ist, die sich der zunehmenden Verschärfung der Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung verdankt. Vor diesem Hintergrund wird die Provokation der Betrachtenden zu einem entscheidenden Moment künstlerischer Selbstbehauptung. Hierzu siehe: Michael Fried, Manet’s Modernism, or, The Face of Painting in the 1860s, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1996; sowie: Robert B. Pippin, After the Beautiful. Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism, Chicago, London (The University of Chicago Press) 2014. Fried sieht den innigen Zusammenhang von Kunstpraxis und Kunstkritik, wie er im 18. Jahrhundert entsteht, bereits nicht im Sinne einer generellen Kommentarbedürftigkeit der Malerei, sondern als ein strukturelles Gefüge, das durch die Bedingungen des Ausstellungswerts gegeben ist.

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Geschlossenheit, die zunehmend durch bildparallele, flächige Anordnungsweisen erreicht wird – und den Ereignissen vor dem Bild, der Bildbetrachtung. Bildlogik und Rezeption scheinen in Akten der Identifikation miteinander zu verschmelzen; über die rein visuelle Wahrnehmung hinaus kommt es zu einer Verkörperung und Präsenz des Malers wie des Publikums in den Figuren im Bild.80 Diese doppelte Bewegung einer scheinbaren Abschottung des Bildes von seinem Publikum im Dienste einer umso stärkeren Wirkung in Richtung von Identifizierung und einer absorbierten Form der Bildbetrachtung findet sich in der Tat bei Diderot deutlich vorgeprägt. Bei ihm wird klar, dass auch die Absorption von einer Ästhetik der Bühne ausgeht. Gegenüber Lessing spitzt Diderot die Analogie von Bild und Bühne sogar noch weiter zu. Ihm ist das Bild explizit eine Bühne und ein Drama nichts anderes als eine Folge von Tableaus.81 Seine entscheidenden theater- und malereitheoretischen Theoreme – die Annahme einer „vierten Wand“ der Bühne, das „Paradox des Schauspielers“82 und die Absorptionstheorie der Malerei – korrelieren deshalb miteinander. Sie alle zielen auf eine möglichst große Autonomie der Darstellung mittels einer besonderen Distanz zu den Betrachtenden. In seinem Bildverständnis folgt Diderot also weitgehend dem Alberti’schen TransparenzIdeal. Als vierte Wand betrachtet kommt dem Bild jedoch eine besondere Bedeutung zu: Es wird zunehmend dichter und opaker. Diderots Bildverständnis wäre deshalb gleichsam auf halbem Weg zwischen dem transparenten und dem opaken Bildverständnis anzusiedeln. Gelegentlich, wie bei den Landschaften Vernets dominiert das transparente Bild, in das der Kritiker – und mit ihm das Publikum – problemlos eintauchen kann, sei es mithilfe einer Lünette oder mittels literarischer Fiktionen;83 dem steht jedoch die Distanz vor den in sich abgeschlossenen Handlungen oder Dingkonstellationen – in den 80 Die Präsenz des Malers im Bild arbeitet Fried vor allem in seiner Studie zu Courbet heraus. Siehe: Michael Fried, Courbet’s Realism, Chicago, London (The University of Chicago Press) 1992. 81 in diesem Sinne: Roland Barthes, „Diderot, Brecht, Eisenstein“, in: Roland Barthes, Image, Music Text. Essays, New York (The Noonday Press) 1977. Zu den dramaturgischen Folgen dieses Bild- und Bühnenverständnisses zwischen Rahmen und Schwelle siehe: Beate Söntgen, „Ins Bild kommen, im Bild sein. Versuch über den Auftritt in un-/bewegten Bildern“, in: Juliane Vogel, Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin (Theater der Zeit), 2014, S. 189–215. 82 Hierzu siehe insbesondere die beiden Schriften Diderots: „Über die dramatische Dichtung“ (1758) und „Das Paradox über den Schauspieler“, geschrieben zwischen 1770 und 1778. 83 Diderot beschreibt die Landschaften so, als ob er in diesen wandern würde und sich verzaubern ließe.

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Stillleben ebenso wie in den Genrestücken von Chardin oder Greuze – gegenüber. Hier wird die Distanz zur Voraussetzung der Identifikation im Sinne eines Mitleidens, Einfühlens oder eines Berührt-Werdens. Die vierte Wand wird so zur Schnittstelle zwischen einem weitgehend autonomen Bild und seiner Betrachtung. Indem das Bild sich scheinbar von der Betrachtung abwendet, symbolisiert es auch nicht den Raum vor und außerhalb des Bildes, wie wir es im Bild als Schwelle sehen konnten. In diesem, die Bildautonomie – eine transzendentale Kategorie – begründenden Als ob wird das Bild zum Erscheinungsort einer besonderen Wahrhaftigkeit. Weder eine bloß abzubildende Natur noch universell-rationale Gesetze des Schönen, Wahren und Guten sind in einem solchen Bild zu sehen, sondern die mit den Mitteln der Gefühlsintensivierung zur Erscheinung gebrachte Natur, jene hervorbringende natura naturans, die noch in die bürgerliche als einer kategorisch naturalisierten Moral hineinwirkt.84 Wenn vor allem bei Greuze das Intime und Private des bürgerlichen Lebens mit der Würde der Historienmalerei ausgestattet wird, dann transformiert sich die Alberti’sche Bühne zum in sich geschlossenen und gleichzeitig geschützten Bildraum. Nicht mehr das exemplarisch-heroische Tugendbeispiel aristokratischen Handelns steht hier im Vordergrund, sondern die andauernde und gerade darin ‚natürliche‘ Moralität moderner Subjektivität, die im Sinne eines bürgerlichen Trauerspiels erscheinen kann.85 Dieses Zur-Erscheinung-Bringen einer naturalisierten Moral in der Bildwirkung stellt den entscheidenden ästhetischen Einsatz Diderots dar. Bildautonomie tritt hier als wirkungsästhetische Strategie auf, wobei sich die Bildwirkung den jeweiligen Absorptionsstrategien, das heißt der möglichst ‚realistischen‘ Darstellung in sich geschlossener Handlungssequenzen ebenso verdankt wie der Relationalität der Bildzeichen, die das Bild als solches in seinem Als ob betreffen. Diderot geht nicht mehr von einer strikten Nachahmungslehre aus; vielmehr betont er die Autonomie der malerischen Zeichen – Linie und Farbe, Lichtwirkung und Komposition, Gestik und Ausdruck. Die Relationen oder rapports zwischen diesen Komponenten begründen nun die spezifische Wahrhaftigkeit – die vraisemblance, wie Diderot sagt –, die 84

Diderot verkörpert hier also jenes andere, gegen die rationale Beherrschbarkeit gerichtete Naturverständnis, wie es Alfred North Whitehead in The Concept of Nature (1919) als Bifurkation der Naturbegriffe beschrieben hatte. 85 Der heroische Handlungsraum verwandelt sich hierbei in ein bürgerliches Interieur. In diesem Sinne: Beate Söntgen, „Das Theater des Herrn Diderot findet im Innenraum statt. Zum Rahmen wahrer Darstellung im späten 18. Jahrhundert“, in: Stefanie Dieckmann, Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.), Theaterfeindlichkeit, München (Fink) 2012, S. 127–146.

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dieses Zur-Erscheinung-Bringen auszeichnet.86 Der bürgerliche Realismus, wie er uns hier entgegentritt, trägt gleichzeitig den Keim zum Formalismus in sich; sein Sinn liegt gerade nicht in der autonomen Selbstbestimmung von Kunst oder Subjektivität, sondern in der Hervorbringung einer naturalisierten Moral, deren Wirkung vor allem darin besteht, dass das Publikum sie in sich selbst zu erkennen vermag. Allerdings braucht diese moralische Mobilisierung einer malerischen Bildstrategie eine Abstoßbewegung. Wenn Greuze „sein Mann“ ist, wie Diderot sagt, so wird ihm François Boucher zum Inbegriff des „guten schlechten Malers“.87 Gut ist Boucher im Sinne einer malerischen Eloquenz; diese steht jedoch im Dienst einer fundamentalen Unwahrheit. Was schlecht an Boucher ist, das ist daher sein Mangel an formaler wie moralischer Integrität. Der Künstlichkeit der spätbarocken Landschaftsrequisiten entspricht hierbei die Frivolität des adeligen Lebensgefühls, wie es in vielen seiner Bilder zu Tage tritt; beiden fehlt es an realistischer, natürlicher und moralischer Einheit. Die Bilder Bouchers werden so zu Zeichen einer antibürgerlichen Dekadenz. Damit liefert Diderot die grundlegende degenerationstheoretische Begründungsfigur für den strikten Antagonismus, wie er die moderne Kunstkritik in all ihren Facetten heimsucht. Stets braucht es eine kategorische Verdammung, um die ‚Wahrheit‘ der eigenen Entscheidung umso stärker ins rechte Licht rücken zu können,88 ob es sich nun um die in literarischer Illustration und Konfusion verhafteten Maler und Malerinnen Greenbergs oder um die „theatralischen“ Aspekte des Minimalismus bei Fried geht. Umgekehrt können jedoch gerade die puristischen modernistischen Künstler und Künstlerinnen bei Lukács und Lifschitz der Dekadenz bezichtigt werden.89 Adornos Darstellung von Strawinsky, wie er sie in der „Philosophie der Neuen Musik“ als regressive Antithese zu seinem progressiven Helden Schönberg entwirft, folgt einer 86 Ich folge hier weitgehend der Interpretation von Hubertus Kohle, Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegriff. Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 52. Hildesheim, New York (Olms) 1989. 87 „Dieser Greuze ist wahrhaftig mein Mann“, Salon von 1763, zitiert nach: Denis Diderot, Schriften zur Kunst, Hamburg (Philo & Philo Fine Arts), 2005, S. 93; Zu Boucher: „Ich wage zu behaupten, dass er nie die Wahrheit gekannt hat“, sowie: „Er ist ein unwahrer Gutmaler (faux bon peintre), so wie man ein unwahrer Schöngeist sein kann. Er hat nicht die Denkungsart der Kunst; er hat nur ihren Witz“, Salon von 1765, zitiert nach: Denis Diderot, Schriften zur Kunst, S. 126 bzw. 129. 88 Jan Assmann hat die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer falschen Religion an den Beginn des Monotheismus gestellt. Siehe: Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung: oder Der Preis des Monotheismus, München (Hanser) 2003. 89 Exemplarisch hierfür: Michail Lifschitz, Krise des Häßlichen. Vom Kubismus zur Pop Art. Dresden (Fundus) 1971.

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ähnlichen Logik, woran wiederum Buchlohs Gegenüberstellung von Picabia und Duchamp in den frühen 1980er-Jahren anschließt.90 Und natürlich konnte der bürgerliche Realismus selbst zum dekadenz- bzw. degenerationstheoretisch legitimierten Feindbild der Moderne werden. Greenberg hätte darin nichts als Kitsch zu sehen vermocht. Wichtig scheint mir an dieser Stelle zu sein, die Grobheit der kunstkritischen Urteile festzuhalten, verglichen mit der Raffinesse, die in den ästhetischen Diskursen des 18. Jahrhunderts den Geschmacksurteilen zugeschrieben wird. Die moderne Kunstkritik kann also in ihren strikt antagonistischen Urteilen und ihrer kontradiktorischen Wahrheitsauffassung unmittelbar an Diderot anschließen. Und doch geht dabei die spezifische Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, die sich ebenfalls in seinem Denken findet, verloren. Indem etwa Fried Diderot zum Gewährsmann seiner Theorie der abstrakten Kunst macht, betont er die Kontinuität von transparentem und opaken Bild und entschärft somit den Konflikt zwischen perspektivischem Bild und moderner Abstraktion.91 Damit gelingt es ihm, zumindest ein bestimmtes Moment des transzendentalen Sinnhorizonts abstrakter Malerei als einer Abdichtungsstrategie gegenüber dem betrachtenden Blick zu erhellen. Gleichzeitig löst sich damit jedoch auch die Spannung auf, die in Diderots Bildbegriff zwischen Realismus und Formalismus besteht. Denn zweifellos lässt sich Diderot auch als Vorläufer des modernen Realismus begreifen; gerade die Betonung von Autonomie und innerer Geschlossenheit eines Werk-bezogenen Realismus war etwa für Lukács äußerst attraktiv gewesen.92 Abstraktion wie Realismus können sich also mit guten Gründen auf Diderot beziehen; beide verfehlen jedoch neben der spezifischen Ambivalenz auch die vielfache und äußerst produktive Widersprüchlichkeit eines Ansatzes, die erst sichtbar wird, wenn man etwa den bühnenbezogenen Autonomie-Theoretiker mit dem Romancier Diderot in Verbindung zu bringen versucht. Denn mit seinem Jacques le Fataliste et son maître hatte er im Anschluss an den Tristram Shandy einen der experimentellsten Romane der Zeit verfasst,93 der jede Form der Kohärenz und Geschlossenheit von Handlungssequenzen auflöst, wobei der 90 Benjamin H.D. Buchloh, „Figures of Authority, Ciphers of Regression. Notes on the Return of Representation in European Painting“, in: October Vol. 16 (Spring 1981), S. 39–68. 91 bei Fritz Novotny war die Abstraktion noch als das „Ende der wissenschaftlichen Perspektive“ erschienen. Siehe Fritz Novotny, 1938 (Anm. 74). 92 Georg Lukács, „Diderot und die Probleme der Theorie des Realismus“ in: Deutsche Zeitung, Nr. 35, 5. Oktober 1938, S. 3. 93 Denis Diderot, Jacques le Fataliste et son maître, geschrieben zwischen 1765 und 1784, wurde der Roman erst posthum veröffentlicht. Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden erschienen.

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Held in ständiger Konversation mit den Lesenden befangen ist. Fried zufolge wäre nichts theatralischer; für Lukács eher beschreibender Formalismus als erzählender Realismus. Was jedoch in den Denkmustern der modernen Kunstkritik grundlegend verloren geht, ist bei Diderot selbst bereits im Verschwinden begriffen, nämlich die Tradition des Niederländischen Bilddenkens. Immer wieder werden in seinen Salonbesprechungen zwar Beispiele der Niederländischen Malerei eingeflochten und durchaus als Vorbilder hinsichtlich ihrer Errungenschaften in Maltechnik und Farbgebung anerkannt; doch die besonderen ästhetischen Strategien und vor allem die spekulativen Bildideen werden weitgehend missverstanden oder ignoriert. Denn hier gibt es sowohl dem transparenten als auch dem opaken Bildverständnis gegenüber deutliche Differenzen. Diese werden besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie in der Niederländischen Malerei die formalen und die inhaltlichen, die innerbildlichen und die rezeptionsbezogenen Relationen gedacht werden. So werden etwa die formalen Relationen nicht wie bei Diderot ausschließlich hinsichtlich ihrer funktionalen Wirkung auf die Betrachtenden erfasst, sondern selbst als produktionsästhetische Einsätze bestimmt, in denen spezifische Ideen ihres jeweiligen Betrachtet-Werdens formuliert werden können. Das Schwellenbild will das Bild ganz nahe an die Betrachtenden bringen, entweder im Sinne einer devotionalen Nähe oder durch eine symbolische Teilnahme oder Begegnung mit dem Bild selbst; das antagonistische Bild bringt einen Konflikt zur Erscheinung und konzipiert davon ausgehend eine besondere Entscheidungssituation für die Betrachtenden. Das analytische Bild wiederum entwirft sich als ein konzeptueller Rahmen, durch den die gegenständliche, natürliche oder soziale Welt erfasst werden kann, und das synthetische Bild führt immersiv an die Quellen von Kraft und Gewalt heran. Gleichzeitig verstehen sich alle diese Bildideen, wie wir in den vergangenen Kapiteln sehen konnten, als eine Arbeit an und mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung, beispielsweise im Spannungsfeld zwischen den innerbildlichen Perspektiven des Schwellenbildes und den konzeptuellen und selbstreferenziellen Versatzstücken durch Spiegel und Fenster, Türen oder Vorhänge. Noch deutlicher wird dies bei den Delfter Malern, wenn sie zunehmend zwischen der Wahrnehmung gemäß der perspektivischen Konstruktion und der Wahrnehmung des gesamten Bildes unterscheiden. Hier werden immersive Blickführung und Blick-Distanzierung bzw. Zurückweisung der körperlichen Präsenz der Betrachtenden gleichzeitig voneinander unterschieden und miteinander verschränkt. Selbst das synthetische Bild bleibt bei aller rhetorischen Emphase hinsichtlich der Überwindung von Spaltung und Antagonismus darauf angewiesen, dass diese Differenzen immer wieder aufgerufen und reproduziert

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werden. Erst in diesem konstitutiven Widerstreit kann sich die Malerei als Kunst verstehen. Dies alles ist deutlich komplexer, als es in der Absorptionstheorie zwischen transparentem und opakem Bildverständnis aufscheint, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Diderot in einer weitgehend veränderten medialen und sozialen Situation geschrieben hat. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die historische Genese der leitenden Kategorien von Absorption und Theatralität bei Fried94 als fragwürdig: Zwar werden einzelne Beispiele aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert, unter den Niederländern insbesondere Rembrandt, genannt, und Caravaggio wird als der niederländischste der italienischen Maler sogar mit einem eigenen Buch gewürdigt, aber der systematische Hintergrund der Niederländischen Malerei, wie wir ihn hier im Spannungsfeld zwischen den spekulativen Bildbegriffen zu rekonstruieren versuchten, fällt völlig aus dem Blickfeld. Doch gerade darin sind Absorption und Theatralität als unterschiedliche, ethisch-ästhetische Strategien deutlich vorgezeichnet, und zwar lange Zeit gerade nicht in kontradiktorischer Zuspitzung, sondern als vielfach dialektisch aufeinander bezogene Reflexion unterschiedlicher Seinsweisen, wie etwa bei Quinten Metsijs oder Pieter Aertsen. Hier finden sich die literarischen Quellen der beiden Begriffe im biblischen Gleichnis von Jesus bei Martha und Maria ebenso vorbereitet wie die philosophische Aneignung dieses Motivs im Sinne des Verhältnisses von Vita activa und Vita contemplativa oder von Verstand und Vernunft bei Cusanus, Erasmus und anderen Vertretern des nördlichen Humanismus.95 Erst im 17. Jahrhundert führen die kontradiktorischen Bedingungen der jeweiligen Bildkultur zu einer ersten Zuspitzung des Themas der Absorption bei den Haarlemer und Delfter Malern und der Theatralität im katholischen Antwerpen. Diese kulturelle Differenz wird zweifellos zum grundlegenden Muster der modernen kunstkritischen Argumentation. In der Malerei selbst bleibt jedoch auch dort, wo die jeweilige Auffassung möglichst 94

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Ich fokussiere die Darstellung moderner Kunstkritik hier auf Michael Fried, weil sich bei ihm am deutlichsten eine historische Perspektive erkennen lässt. Seine Begrifflichkeit ließe sich allerdings mühelos auf andere kunstkritische Begriffspaare wie Präsenz und Spektakel, Affirmation und Negation übertragen. Nikolaus von Kues hatte bereits im 15. Jahrhundert die Szene in diesem Sinn interpretiert, wobei er gleichzeitig die Unterscheidung von Verstand und Vernunft ins Spiel brachte. In der kontemplativen menschlichen Vernunft spiegle sich der göttliche Logos, während sich der aktive Verstand bloß auf die Ordnung der Sinneseindrücke im Sinne der Widerspruchsfreiheit beschränke. Das sich in dieser Unterscheidung verbergende Paradox des menschlichen Denkens verweise jedoch auf jenen, in Gott oder im Sein verorteten „Zusammenfall der Gegensätze“ (Coincidentia oppositorum) Siehe: Jasper Hopkins, „Nicholas of Cusa (1401–1464): First modern Philosopher?“, in: http://www.blackwellpublishing. com/content/BPL_Images/Journal_Samples/MISP0363-6550~26~1/051.PDF.

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rein zur Darstellung gebracht wird, stets die innere Ambivalenz von Absorption und von Theatralität erhalten. In ihrer jeweils besonderen Integration von malerischer Methodik und Thematik lassen sich weder Saenredam, Leyster, Fabritius und Vermeer noch Jan Brueghel, Rubens, Jordaens oder Wautier auf die vereinfachten Lesarten von Absorption und Theatralität in der modernen Kunstkritik und ihre kontradiktorischen Wahrheitsauffassungen reduzieren. Wie ich hoffe, in den letzten Kapiteln gezeigt zu haben, bleiben die religiösen, ästhetischen und politischen Ambivalenzen auf beiden Seiten erhalten. Die Arbeit an der Wahrheit der Ambivalenz unter den Bedingungen einer zutiefst gespaltenen Kultur scheint mir sogar zum entscheidenden Kriterium für die besondere Intelligibilität der Malerei als Kunst geworden zu sein. Im Unterschied zu Lessing und Diderot hat sich Jean-Jacques Rousseau kaum zur Malerei geäußert; sie scheint ihm im Gegensatz zu Musik und Theater keiner näheren Betrachtung wert. Und doch konnte vor allem seine grundsätzliche Kritik am Theater und seine im Dienste unmittelbarer Verlebendigung und Selbst-Perfektionierung stehende Ästhetik der Existenz von nicht zu überschätzendem Einfluss auf das moderne Verständnis von Kunst werden bzw. auf das, was seither im Namen von Kunst praktisch möglich geworden ist.96 Insbesondere das Paradox, das viele Praktiken von moderner und zeitgenössischer Kunst kennzeichnet, sich nämlich gar nicht mehr als spezifische Kunstgattung oder überhaupt noch als Kunst verstehen zu wollen, wird hier in aller Deutlichkeit fassbar. Denn Rousseaus fundamentale Kultur-, Repräsentations- und Institutionskritik zielt auf ein Leben jenseits des Bildes, wie es zur entscheidenden Motivationsressource für fast alle avantgardistischen Bemühungen wurde. Hier wird auf besonders drastische Weise das Bild selbst als Moment von Erkenntnis, Politik und Ästhetik zurückgewiesen und der Akt der Kritik zum entscheidenden Auslöser einer existenziellen Wende, in der der Mythos eines reinen, ungeteilten Seins in Erscheinung treten kann. Rousseaus Kritik argumentiert nicht mehr – wie diejenige Diderots – im Namen eines bürgerlichen Publikums; sie zielt auf ebenso unmittelbare wie universale Wirkung: Der „natürliche Mensch“ wird ihm zur politischen Fiktion ebenso wie zum existenziellen und schließlich moralisch-ästhetischen Fluchtpunkt eines solchen reinen Seins. Die größtmögliche Annäherung daran schien Rousseau

96 Für Rousseaus ästhetische Auffassung sind die folgenden Texte grundlegend: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ von 1755 (der sogenannte 2. Diskurs), sodann die fundamentale Theaterkritik im „Brief an d’Alembert über das Theater“ von 1758 und schließlich das Melodram „Pygmalion“, wohl 1762 verfasst, 1770 uraufgeführt.

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im ländlichen Fest, insbesondere dem vormodernen Hochzeitsfest, möglich.97 In seiner besonderen Struktur von um einen Baum herum tanzenden jungen Frauen und Männern wurde es zum Vorbild aller revolutionären Feste, in denen sich ‚das Volk‘ selbst performativ zur Darstellung bringen sollte und angeblich „nichts gezeigt“, repräsentiert oder instituiert würde.98 Allerdings kann die Avantgarde diesen letzten, postrevolutionären Schritt nicht vollziehen. Sie bleibt konstitutiv an die ‚vorrevolutionären‘ bzw. bürgerlichen Bedingungen gebunden. Wenn etwa Peter Bürger die Avantgarde als Kritik an der in Autonomie und Ästhetizismus begründeten Institution Kunst definiert, die auf ihre Selbstabschaffung als Kunst und auf eine Versöhnung 97 Jean-Jacques Rousseau, „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“, in: Jean-Jacques Rousseau, Schriften, München (Ullstein) 1978, S. 187: „Wie? Soll es in einer Republik den gar kein öffentliches Schauspiel geben? Im Gegenteil, man braucht sogar viele. In den Republiken wurde das Schauspiel geboren, in ihrem Schoß sieht man es wahrhaft festlich blühen. Zu welchen Völkern passt es mehr, sich oft zu versammeln und untereinander die sanften Bande des Vergnügens und der Freude zu knüpfen, als zu denen, die so viele Gründe haben, sich zu lieben und für immer vereint zu bleiben? Wir haben bereits eine Reihe öffentlicher Feste, laßt uns davon noch mehr haben, ich werde umso entzückter sein. Aber laßt uns nicht diese sich abschließenden Schauspiele übernehmen, bei denen eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend, und wo den Augen nichts als Bretterwände, Eisenspitzen, Soldaten und quälende Bilder der Knechtschaft und Ungleichheit geboten werden. Nein, glückliche Völker, nicht dies sind eure Feste! In frischer Luft und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen. Eure Vergnügungen seien weder verweichlicht noch kommerziell, damit nichts, was nach Zwang und Interesse riecht, sie vergifte, damit sie frei und hochherzig seien wie ihr, damit die Sonne euer unschuldiges Schauspiel beleuchte, ihr seid es selbst, das würdigste Schauspiel, auf das die Sonne scheinen kann. Was werden aber schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk und ihr werdet ein Fest haben. Oder besser noch: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle miteinander besser verbunden sind…..“ Im 2. Diskurs war noch das Aufeinandertreffen außerhalb des Waldes bereits als Beginn der Degeneration im sich wechselseitig Aufeinander-Beziehen, sich selbst Repräsentieren, die anderen beeinflussen Wollen, begriffen worden. Im „Brief an d’Alembert wird es zum positiven Zustand möglichst nahe am unerreichbaren Naturzustand. 98 Die Älteren sehen den Jungen beim Tanzen zu; die Fremden und die Queeren sind ausgeschlossen. Das biopolitische Phantasma, das sich in Rousseaus Idee des Festes ausdrückt, ist nicht zu übersehen. Generell zu „verführerischen“ Dimension des Theaters, die Rousseau selbst betrifft, siehe: Stefanie Dieckmann, „Kein Theater für Genf. Rousseaus ‚Brief an d’Alembert‘“, in: Stefanie Dieckmann, Christopher Wild, Gabriele Brandstetter (Hg.), Theaterfeindlichkeit, München (Fink) 2012, S. 31–40.

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mit der Lebenspraxis zielt,99 dann macht diese Argumentation zuallererst klar, dass ein solcher Akt der Selbstabschaffung ein einmaliges, revolutionäres Ereignis initiieren müsste, in dem er sich selbst vergessen könnte. Doch Avantgarde repräsentiert und instituiert durchaus etwas – das haben ihre realistischen und marxistischen Kritiker bereits in den 1930er-Jahren deutlich gesehen100 –, und zwar zuallererst sich selbst als spezifische Form einer zutiefst bürgerlichen, kritischen Kunst. Das heißt, Avantgarde schafft sich selbst nicht tatsächlich als Kunst ab; sie etabliert sich vielmehr als bestimmte Form von Kunst im sich wiederholenden Gestus der Selbstabschaffung. Nur deshalb gibt es eine Geschichte der Avantgarde und eben kein einmaliges Ereignis, das in die Unmittelbarkeit der Lebenspraxis führen würde; Avantgarde etabliert sich vielmehr als ein Leben im imaginären Raum einer auf Dauer gestellten Überschreitung. Dieses Leben in jenem rhetorischen Jenseits von Bild, Malerei oder Bühne, wie wir es aus Kunst-Aktivismus und Agit Prop, Performance und Happening, aber auch aus Objekt-Ontologie, Partizipationsästhetik oder Dematerialisierung kennen,101 bleibt stets auf die Kategorien des zu Überschreitenden angewiesen. Deshalb ist die Malerei – bei Rousseau ebenso wie in der Avantgarde – auch als abwesende anwesend. Denn im scheinbar bereits überwundenen Bild spitzt sich letztlich nur die transparente Alberti’sche Bildkonzeption in ein Jenseits des Bildes zu. Die Transparenz geht hierbei keineswegs verloren. Sie wird entweder zur scheinbaren Selbsttransparenz der im Fest vereinigten Menschen, die nun weder Darsteller noch Zuseher, sondern nur mehr platte Selbstperformer sind, oder zum höchst illusionären Gestus reiner Kritikalität, der sich seiner eigenen Affirmation, Opakheit und Bildlichkeit nicht mehr bewusst ist. In beiden Fällen geschieht keine tatsächliche Versöhnung, keine Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben, sondern bloß eine Auflösung der fundamentalen empirisch-transzendentalen Spannung, aus der heraus erst das je eigene Vorgehen im Sinne der symbolischen Kategorien von Kunst oder von Politik verstanden werden könnte. In dieser von Rousseau ausgehenden Perspektive ist die Avantgarde die Konsequenz des nicht stattfindenden Festes, des Scheiterns der von Robespierre versuchten rituellen Gründung der neuen Gesellschaft im revolutionären Fest. Hier ist deutlich zu sehen, dass die Avantgarde den Idealismus nicht überwindet; dieser begründet sie vielmehr als kontinuierliches, 99 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974. 100 Vor allem Georg Lukács und Michail Lifschitz, 1971 (Anm. 89). 101 Noch Lucy Lippards Dematerialisierungs-These steht ganz in dieser Tradition der Bildkritik. Siehe: Lucy Lippard, Six Years. The Dematerialization of the Art Object from 1966– 1972, New York (Praeger) 1973.

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immer wieder zu erneuerndes Projekt eines Aufschubs, des kommenden Festes, das nicht stattfinden will.102 In diesem konstitutiven Aufschub wird Kulturkritik zur Kunst, und somit zu einem ihrer zentralen dynamisierenden Faktoren. Bürgers argumentative Logik der reinen künstlerischen Selbstkritik, die von einer Überschreitung und Aufhebung der in der Institution Kunst inkarnierten gesellschaftlichen Trennungen und damit von der Möglichkeit einer umfassenden Versöhnung ausgeht,103 wird der Avantgarde als spezifisch ästhetischer Auffassung, als Projektidee und als konzeptueller Horizont von konkreten künstlerischen Praktiken kaum gerecht. Die besonderen Konstruktionen, Konzeptionen und Aktionen, die Collagen, Assemblagen und Montagen oder generell die anonymisierten und kollektivierten Verfahren mit ihren jeweiligen Rezeptionsbezügen stellen keineswegs bloß Stationen auf dem Weg zum versöhnten Leben dar, sondern bestimmte, historisch durchaus rekonstruierbare und in sich vielfach widersprüchliche ästhetische bzw. kulturkritische Einsätze, die nicht im idealisierten, rousseauistischen Konzeptrahmen Bürgers aufgehen. Sie kritisieren nicht nur, sie affirmieren gleichzeitig bestimmte methodische, materiale und mediale Momente als Kunst. Daher kann in ihrem Namen die Institution Kunst auch nicht aufgehoben werden, weil diese sowohl den konkreten ästhetischen Einsätzen als auch dem avantgardistischen Selbstverständnis immer schon zu Grunde liegt. Genauso wenig überwinden avantgardistische Praktiken die Ansprüche an Repräsentation, Realismus und Reflexivität, wie sie die Niederländische Malerei hervorgebracht hatte; eher versuchen sie, einen dieser Begriffe absolut zu setzen und gegen die anderen in Stellung zu bringen, ohne deren Zusammenhang 102 In diesem Sinne lässt sich die oben beschriebene Projektidee einer „idealistischen Avantgarde“, wie sie im „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ fassbar wird, in seiner rousseauistischen Konsequenz verstehen. 103 Für den Bürger der Theorie der Avantgarde repräsentiert der künstlerische Konflikt zwischen Avantgarde und Institution Kunst genau das, was gesamtgesellschaftlich auf dem Spiel steht. Er reflektiert in keiner Weise die besondere Form der Verschiebung, die dieses Argument dahingehend aufruft, dass gerade in der Kunst – im Akt rigorosavantgardistischer Selbstkritik – geleistet werden sollte, was dem Leben selbst wieder zu seiner versöhnten Form verhelfen könnte. So als ob es die Kunst wäre, und nicht die kapitalistische Produktionsweise, die wissenschaftliche Techno- und Bürokratie, die kolonialen und faschistischen Machtregime, die jene ‚Entfremdung‘ des Lebens von sich selbst bewirkten. Im strikt ideologiekritisch befangenen Denken Bürgers ist die Autonomie reine Ideologie, während die Avantgarde gerade in ihren voluntaristischen Akten der Selbstkritik von Kunst als von dieser Ideologie vollkommen unbefleckt erscheinen kann. Doch der Begriff der Selbstkritik setzt bereits eine bestimmte Positionierung als Kunst voraus. Auch als Selbstkritik ist die Avantgarde eben nie nur Kritik, sondern immer auch ein Stück weit Affirmation jener „Institution Kunst“, um deren Überwindung es eigentlich gehen sollte.

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wirklich auflösen zu können. Deshalb kommt es zu ständigen Positionierungskämpfen im Namen von Differenzierung und Dynamisierung, deren eigentliche logische Operation nicht in Überschreitung und Aufhebung, sondern in konstitutiven Verschiebungen zu fassen wäre. Im symbolischen Raum solcher Verschiebungen, der auf Dauer gestellten Überschreitung, breiten sich die unterschiedlichen Formen der Gegenwartskunst aus. Sie werden so tatsächlich leicht zu Symptomen der „breiten Gegenwart“ eines Pluralismus, der ihren Intentionen diametral entgegensteht.104 7.4.

Das Unbestimmte bestimmen: Kunstkritische Perspektiven auf eine mögliche Avantgarde

Indem Kunstkritik sich immer wieder auf ihre ‚Urszenen‘ im 18. Jahrhundert rückbezieht, blendet sie das Niederländische Bildverständnis und das daran festmachbare, empirisch-transzendentale Problembewusstsein von Malerei als Kunst weitgehend aus. Überhaupt wird die Entstehung des modernen Kunstbegriffs in ihr kaum reflektiert, sondern immer schon vorausgesetzt und naturalisiert als jene Basis, auf deren Grundlage sie erst agieren kann. Nur so kann Kunstkritik sich selbst als Agentin einer Überwindung der falschen, häufig mit dem Alten identifizierten Kunst in Szene setzen. Dass es überhaupt um gute und um schlechte, um die wahre und die falsche Kunst, um einen neuen, ebenso praktischen wie funktionalen, gegen einen alten, idealistischen Kunstbegriff oder auch um die Abschaffung von Kunst insgesamt gehen kann oder sollte, ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Malerei gibt es etwa als konkrete Praxis seit unvordenklichen Zeiten und in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten, in denen eine kunstbezogene Bewertung keinerlei Rolle spielte und es deswegen auch keiner diskursiven Formation bedurfte, eine solche Bewertung vorzunehmen. Kunstkritik impliziert jedoch einen allgemeinen Kunstanspruch als symbolischen Horizont jeder praktischen Formulierung und reproduziert diesen innerhalb ihrer spezifischen Unterscheidungs-Prozeduren. Sie implementiert Kunst so als besondere symbolische Form in der Moderne, und deshalb scheint mir auch die 104 Es mag müßig erscheinen, sich heute noch an der Theorie der Avantgarde abzuarbeiten. Bürger selbst hatte bereits in seiner Kritik der idealistischen Ästhetik von 1983 ein wesentlich komplexeres Bild des Verhältnisses von idealistischer und nachidealistischer Ästhetik vorgelegt. Und doch scheinen mir die grundlegenden Argumentationsmuster als gleichsam verborgene Strukturmomente noch in den meisten der heutigen, sich in einem Jenseits historischer Bezüglichkeiten imaginierenden Ansprüche an Gegenwartskunst lebendig zu sein.

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wahrheitsästhetische Dimension des modernen Kunst-Denkens in der rigiden Unterscheidungsstruktur der Kunstkritik bereits angelegt zu sein. Ausblendungen dieser Art sind allerdings nicht nur konstitutiv für die Kunstkritik als einer besonderen diskursiven Formation, sondern auch für die meisten der heutigen künstlerischen Praktiken, die, sich als Gegenwartskunst verstehend, immer schon auf die kunstkritischen Narrative rekurrieren. In den imaginären Rhetoriken von Überschreitung oder Überbietung verkennen sie ihre eigene, vielfach widersprüchliche praktische Produktivität, ihr konkret und empirisch Gemachtes ebenso wie die transzendentale Dimension ihrer Projektideen. Die Frage stellt sich daher, wie diese besondere Produktivität von moderner und zeitgenössischer Kunst jenseits der idealisierten Narrative aus einer besonderen kunstkritischen Positionierung heraus zu verstehen wäre, und wie darin – gegen die sich heute häufenden pluralistischen Gemeinplätze – das avantgardistische Ethos als ein Anspruch zur Geltung gebracht werden könnte, in dem das Problembewusstsein der Niederländischen Malerei nicht ausgeblendet bzw. imaginär aufgelöst, sondern produktiv im Spiel gehalten werden könnte. Zweifellos wird dies nicht möglich sein, indem man schlicht die normative Geltung der Niederländischen Malerei im Horizont moderner Gesellschaft oder in allgemeinster Absicht eine Relevanz der Malerei für die Gegenwartskunst behaupten würde. Heutige Formen von Malerei, gleichsam gefangen im Vorstellungshorizont moderner Kunst, thematisieren nur zum geringsten Teil dieses Erbe. Es wird sogar viel stärker in den konzeptuellen, institutionskritischen, medienbezogenen und repräsentationskritischen Prak­ tiken fassbar, die sich selbst gerne in einem Jenseits der Malerei lokalisieren; dort jedoch verdeckt durch die je eigenen Projektideen und die kunstkritischen Narrative gleichermaßen. Archäologie heißt nichts anderes, als auf diese verdeckte Historizität hinzuweisen. Deshalb geht es mir in diesem Buch nicht darum, die Kontinuität einzelner Motivgeschichten nachzuzeichnen, neue Narrative zu erfinden oder konkret-empirische Genealogien bis in die Gegenwart zu ziehen. Das Nachleben der Niederländischen Malerei ist nur unter der Voraussetzung ihrer Transformation und der darin sich manifestierenden tiefen Spaltung in eine imaginäre und eine symbolische Moderne zu fassen. Die symbolische Dimension der Moderne wird erst sichtbar, wenn der imaginäre und lösungsgewisse Kurzschluss zwischen empirischen Bestimmungen an Materialität, Medialität oder Funktionalität mit den transzendentalen Kategorien von Kunst, Politik oder Wissenschaft vermieden wird. Die Lektion der Niederländischen Malerei ließe sich in ihrer allgemeinsten Form vor allem darin verorten, dass es eine bestimmte transzendentale Kategorie braucht, um überhaupt irgendeine Praxis, Materialität oder Medialität als Kunst verstehen zu können. Dies gilt für alle großen symbolischen Formen der Moderne.

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Denn ebenso wenig kann sich etwa eine politische Praxis rein empirisch definieren. Auch sie braucht einen spekulativen Horizont an Bedeutung, der diese besondere Praxis eben erst als politische auszuweisen in der Lage ist. Im Symbolischen erscheint die empirisch-transzendentale Differenz. Von hier aus wäre gerade die innere Widersprüchlichkeit der modernistischen, avantgardistischen und realistischen Praktiken als deren eigentlich produktives Moment zu begreifen, also als das, was nicht in den sie legitimierenden Projektideen oder Narrativen aufgeht und doch einen solchen Erscheinungsraum moderner Kunst hat entstehen lassen. Denn in dieser inneren Widersprüchlichkeit wurzelt die grundlegende Unbestimmtheit und die Unverfügbarkeit von Kunst, letztlich ihr subversives Element gegenüber jeder diskursiven oder institutionellen Einhegungsstrategie. Kunstkritik darf sich daher nicht selbstgefällig als normative Bestimmungsinstanz der Wahrheit oder gar als deren eigentlicher Erfüllungsort verstehen, sondern bloß als eine Art von Navigationsinstrument zwischen der begrifflich-transzendentalen und der empirisch-praktischen Dimension von Kunst. Sie muss darin Bestimmungen in beide Richtungen vornehmen, ohne die sie sich nicht als Kunstkritik verstehen könnte. Gleichzeitig darf sie diese Bestimmungen jedoch nicht verabsolutieren, ohne sowohl ihren Gegenstand – die Bewertung von Kunst – als auch ihren eigenen Anspruch als Kritik zu verfehlen. Denn Kritik bleibt notwendigerweise im Paradox gefangen, das Unbestimmte bestimmen oder die Unvergleichlichkeit des Werts im Vergleich fassen zu wollen.105 Stets soll sich die Wahrheit der Kunstkritik über die Relativität ihrer empirischen Bezüge erheben und gleichzeitig gerade durch möglichst rigide Urteile ihre unbestreitbare Geltung implementieren. Die Geschichte der Kunstkritik zeigt jedoch deutlich, dass sich kein Wahrheitsanspruch wirklich zur Geltung bringen lässt, dass sich vielmehr dem einen Wahrheitsanspruch stets ein anderer entgegenstellt und sich diese rivalisierenden Wahrheitsansprüche in die symbolische Ordnung der Moderne einschreiben. Denn die grundlegenden Paradoxien der Kunstkritik lösen sich nicht auf oder werden überwunden; sie können jedoch adressiert und als eigentliche Projektidee bzw. als transzendentales Moment der Kunstkritik selbst verstanden werden. Kunstkritik scheint mir daher immer noch möglich und notwendig zu sein, um den Werthorizont moderner und zeitgenössischer Kunst sinnvoll erschließen zu können. Immerhin lässt sich das Unbestimmte als unmöglich zu Bestimmendes bestimmen und diese Unmöglichkeit als Bedingung der stets punktuellen oder momentanen Möglichkeit seines 105 In diesem Sinne: Dirk Baecker, Birger P. Priddat (Hg.), Ökonomie der Werte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Michael Hutter, Marburg (Metropolis) 2013.

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Erscheinens begreifen. Denn das Unbestimmte muss sich ja zumindest für Augenblicke im Empirischen zeigen, weil es ansonsten in transzendenter Vagheit selbst wiederum äußerst bestimmbar wäre.106 Es muss auch eine Funktion, einen Sinn und eine Wahrheit annehmen, etwas zu zeigen oder zu benennen, das auf andere Weise nicht zeig- oder sagbar wäre. Im Unbestimmten gibt es also durchaus Wahrheit – kontingente, situative und kontextuelle Wahrheit. Dementsprechend kann kunstkritische Wahrheit, indem sie sich auf das Unbestimmte bezieht, weder absolut gültig noch vollkommen relativ sein; es gilt, den allgemeinen Rahmen ihrer stets flüchtigen Gültigkeit zu explizieren. Vor diesem Hintergrund kann Kunstkritik daraufhin befragt werden, wie sie den aus der Tradition der Niederländischen Malerei stammenden Zusammenhang von Repräsentation, Realismus und Reflexivität zu denken in der Lage ist. Denn solange sie Kunst im Rahmen eines großen Narrativs bloß als imaginäre Verkörperung oder Überwindung einer dieser Kategorien begreift, geht deren Sinn als eine der spezifischen Symbolisierungsweisen der Moderne verloren. In der hier vorgeschlagenen Perspektive einer symbolischen Moderne geht es um den Zusammenhang der verschiedenen imaginären Projektideen und Narrative bzw. um deren innere Widersprüche und Verbindungen zueinander. Modernismus und Avantgarde können hier nicht als anti-realistische Überwindung jeder Repräsentation erscheinen, sondern als deren Ausdehnung in den auf Dauer gestellten Raum der Überschreitung; und der Realismus lässt sich nicht im Sinne einer universell-überzeitlichen Aufgabe begreifen, die uns, wie von Lukács und Auerbach bestimmt,107 noch einmal die Totalität des Weltganzen sicherstellen könnte, sondern als eine historisch konkrete, auf bestimmte Verhältnisse hin bezogene ästhetische Auffassung. Es sind diese Verhältnisse, die nach einem akuten Realismus zu verlangen scheinen, verstanden im Sinne eines Anspruchs, das nicht Sichtbare der Realität in seiner medialen, strukturellen, sozialen und symbolischen Dimension zu thematisieren. Dies ist historisch tatsächlich neu und stellt eine besondere Leistung angesichts der besonderen Problemkonstellationen der Moderne dar, dass nämlich der ‚Realismus‘ der ideellen, transzendenten oder kosmischen Ordnungen nicht mehr greift. Realismus ist in diesem Verständnis die ästhetische Antwort auf den Mangel an Realität. Um diesen Mangel zu bearbeiten, muss er keineswegs 106 In diesem Sinne: Gerhard Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1994, insbesondere S. 212–234. 107 Zur Diskussion zwischen Lukàcs und Seghers siehe: Georg Lukács, Probleme des Realismus, Berlin (Aufbau) 1955, dort auch die Beiträge von Seghers. Sowie: Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur (1946), Tübingen (Narr Francke Attempto) 2015.

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alle modernistischen oder avantgardistischen Aspekte abstoßen;108 ganz im Gegenteil wird deren Integration zunehmend wichtig, solange sie sich selbst nicht als Überwindung von Repräsentation und Reflexivität begreifen. In diesem Sinne braucht es Avantgarde – ebenso wie es Aspekte von Realismus und Modernismus braucht –, um weiter sinnvoll über Kunst sprechen zu können. Realismus mag den Anspruch repräsentieren, mit den symbolischen Mitteln der Kunst gesellschaftliche Wirklichkeiten zur Erscheinung bringen zu können, Modernismus die empirisch-formale Strenge und besondere Form der Selbstreflexivität, die sich darin ausdrückt; Avantgarde stellt schließlich das uneinholbare, idealisch-spekulative Moment jeder Kunst als gleichsam punktuell immer wieder in Frage gestellte, institutionell oder diskursiv gelingende Repräsentation dar. Als solche steht sie keineswegs kategorisch gegen die Institution Kunst; sie bleibt vielmehr konstitutiv Teil von ihr und rettet diese davor, in ihren eigenen, wertsicherstellenden Prozeduren zu implodieren. Linda Nochlin hatte bereits 1974 eine Idee von Avantgarde skizziert, an die sich im Sinne eines engagierten kunstkritischen Projekts immer noch produktiv anknüpfen ließe.109 Anders als bei Bürger nimmt die Avantgarde hier nichts vorweg; sie ist nicht auf dem Weg der Selbstabschaffung und der Versöhnung der Lebenspraxis mit sich selbst, sondern stellt ganz im Gegenteil die Erfahrung einer unaufhebbaren Entfremdung im Kern der modernen Subjektivität dar. Wohl im Anschluss an Jean-Paul Sartres Lektüre von Gustave Flaubert wird bei Nochlin Edouard Manet zur entscheidenden Figur,110 an der 108 Man muss hier zweifellos zwischen dem Realismus als einem der leitenden ästhetischen Einsätze der Niederländischen Malerei – im konstitutiven Wechselspiel mit Repräsen­ tation und Reflexivität – und dem Realismus als eines modernen kunst- bzw. literaturkritischen Narrativs, wie es uns insbesondere bei Lukacs, Lifschitz und Auerbach entgegentritt, unterscheiden. Dennoch lassen sich beide Bestimmungen nicht kategorisch voneinander abtrennen; der ästhetische Einsatz der Malerei scheint mir noch die kunstkritischen Narrative mit zu beeinflussen bzw. scheinen mir diese nicht ohne eine formal-repräsentative und reflexive Kompenente wirklich verstehbar. 109 Nochlin liefert die kunstkritische Begründungsfigur für das, was ich weiter oben im Rahmen der praktischen Projektideen als „sozialinversive Avantgarde“ charakterisiert habe. Siehe: Linda Nochlin, „The Invention of the Avant-Garde: France 1830–1880“, in: Linda Nochlin, The Politics of Vision. Essays on Nineteenth-Century Art and Society, New York (Harper & Row) 1989, S. 1–19. 110 Ebenda, S. 12f: „Yet if we take „avant-garde“ out of its quotation marks, we must come to the conclusion that what is generally implied by the term begins with Manet rather than Courbet. For implicit – and perhaps even central – to our understanding of avant-gardism is the concept of alienation – psychic, social, ontological – utterly foreign to Courbet’s approach to art and to life. While Courbet may have begun his career as a rebel and ended it as an exile, he was never an alienated man – that is, in conflict with himself internally or distanced from his true social situation externally, as were such near-contemporaries

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sich dieses zutiefst gespaltene bürgerliche Selbstverständnis nach 1848 zeigt. Manets Interesse gelte sozialen Verhältnissen und ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit bzw. Konflikthaftigkeit. „Entfremdung“ wird bei Nochlin nicht als Gegensatz zur Wahrheit einer möglichen Lebenspraxis eingesetzt, sondern als analytisches Instrument, das die Abgründe moderner Subjektivität jenseits der normierenden, traditionellen Gegebenheiten vor allem im Hinblick auf Klassen- und Geschlechterverhältnisse aufzeigt. Die Unmöglichkeit, wahrhaft citoyen zu werden, das heißt, in einem unmittelbar politischen Raum tätig zu sein, stellt die Voraussetzung der Entfaltung eines unpolitisch Sozialen als bürgerliche Gesellschaft dar. Das moderne Soziale zeigt sich hier als die Realität des Unbestimmten, wurzelnd in einem Mangel an kosmisch-transzendenter Wahrheit, an politischer Gründung, an absolutem Sinn oder an sozialem Zusammenhang. Soziales und metaphysisches Unbestimmtes fallen hier in eins. Avantgarde wäre in diesem Verständnis weder einfach ein fortschrittlich verstandenes Neues noch eine strikt antagonistische Waffe im Kampf gegen den bürgerlichen Ästhetizismus. Sie verkörpert vielmehr die grundsätzlich unbestimmte Stelle hinsichtlich der Frage, was Kunst sei oder sein sollte – sowohl im sozialen als auch im metaphysischen Sinn. Gleichzeitig kann sie sich darin als analytisches Element erweisen, den Mangel an sozialem Sinn selbst zu adressieren, denn der symbolische Raum der Moderne kulminiert in dieser kategorischen Unverfügbarkeit des metaphysischen, sozialen und künstlerischen Sinns. Konkrete künstlerische Praktiken können ihr künstlerisches als ein kritisches Potenzial nur entfalten, wenn sie diese Unverfügbarkeit nicht beseitigen und sich selbst als imaginäre Erfüllung anbieten wollen, sondern bloß, indem sie sich möglichst radikal der Unbestimmtheit stellen. Radikal unbestimmt kann Kunst jedoch genau nur dort sein, wo sie Momente der Bestimmtheit in ihrer praktischen Unkontrollierbarkeit ebenso zulässt wie in ihren spekulativen Ansprüchen. Das Unbestimmte kann nur sinnvoll bestimmt werden, wenn es gelingt, den Mangel an metaphysischem, sozialem und künstlerischem Sinn im Verhältnis von Repräsentation, Realismus und Reflexion zumindest für Augenblicke zur Sprache zu bringen, sei es diesseits oder jenseits des Bildes und der Malerei. Kunstkritik muss in diesem Sinn der Gegenwartskunst stets eine avantgardistische Unterscheidung auferlegen, vielleicht nicht zwischen einer absolut wahren und einer degeneriert falschen Kunst, so doch hinsichtlich der grundlegenden Möglichkeit, Kunst als ebenso kritischen wie produktiv-eröffnenden Spielraum zu begreifen. Ganz ohne as Flaubert, Baudelaire, and Manet. For them, their very existence as members of the bourgeoisie was problematic, isolating them not merely from existing social and artistic institutions but creating deeply felt internal dichotomies as well.“

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Unterscheidung wäre ein solcher Anspruch nicht zu haben. Im fundamental labilen Geltungsanspruch solcher Unterscheidungen verschwindet jedoch die Sinn-, Wert- und Wahrheitsfrage der Moderne nicht; diese Frage wird vielmehr in ihrer besonderen Struktur und Historizität offenbar, insbesondere in dem Moment, in dem sich die Archäologie der modernen Kunst in deren Gegenwart einschreibt.

Abb. 50 Jacques Louis David, „Der Tod des Marat“, 1793, Brüssel, Königliches Museum der Schönen Künste, 162 × 128 cm.

Nachwort: Philosophie und Malerei – das spekulative Bild Die theoretische Grundfrage dieser Untersuchung bestand darin, wie die „empirisch-transzendentale Dublette“, von der Foucault sprach, in Bezug auf Bild, Malerei und Kunst zu verstehen sei. Diese Frage setzt insbesondere ein Verständnis des Transzendentalen in der Nach-Kantischen Philosophie voraus, jenes schillernden Begriffs, der ständig zwischen einer Bestimmung als Grenze – den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis – und einer als Überschreitung im Sinne eines welterschließenden spekulativen Überschusses schwankt, durch den hindurch das Empirische überhaupt erst als solches verstanden werden kann.1 Das Transzendentale versucht die Welt jenseits von vorgegebenen, kosmischen oder transzendenten Ordnungen zu verstehen und rekurriert dabei auf Begriffe, die jedem Verständnis vorausgehen und die es selbst nicht versteht,2 auf Bestimmungen, die im Unbestimmten ruhen 1 Bei aller Klarheit seiner Kritik an der traditionellen, spekulativen Metaphysik bleibt der Begriff des Transzendentalen doch schon bei Kant unscharf, zwischen „Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis“ und „auf den Gegenstandsbezug von Vorstellungen“ oder auf „regulative Ideen“ bezogen. Hierzu siehe: Michael Nerurkar, „Was heißt ‚transzendental‘ bei Kant?“, in: https://docplayer.org/25271682-Was-heisst-transzendental-bei-kant.html; Fichte und Schelling stellen die Transzendentalphilosophie gleichsam auf den Kopf; sie wird ihnen zur Bedingung der Möglichkeit spekulativer Erkenntnis, während Hegel das gesamte kritische Projekt Kants im Namen spekulativer Philosophie verwirft. Hierzu: Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 2011; Günter Wohlfart, Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff des Spekulativen bei Hegel, Berlin, New York (de Gruyter) 1981; Rolf-Peter Horstmann, „Kant und der ‚Standpunkt der Sittlichkeit‘. Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel“, in: Sonderheft der Revue Internationale de Philosophie, 4/1999. Paris. 557–572; zu Hölderlins Diskussion der „Kantischen Gränzlinie“ siehe: Zeynep Türel, „Notwendige Illusion – absoluter Schein. Zum ontologischen Status des Kunstwerks“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Januar 2020. 2 In diesem Sinne: Gerhard Gamm, „Postkantischer Idealismus und Sprachanalytische Philosophie“, in: Gerhard Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 2000, S. 153: „Man könnte … l zu einer Auffassung gelangt sein, …, daß Philosophie und Wissenschaft im Begriff stehen, eine neue Art Gewißheit zu schöpfen, wonach wir annehmen, die Dinge erst zu verstehen, wenn wir sie auf etwas zurückgeführt haben, was wir nicht verstehen: Axiome, Kontexte, Evidenz, Kausalität, Selbstorganisation, Kraft, Geist usf. Die philosophischen Diskurse der Moderne sehen sich ausgesprochen oder unausgesprochen dazu gedrängt, alles prädikativ bestimmte Satzwissen, das sie glauben rational rekonstruieren zu können, von einem vorprädikativen Sein her auslegen zu müssen, das sie eben nicht clare et distincte reformulieren können.“



  

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oder auf einen Determinismus, der aus reiner Kontingenz hervorgeht. Es ruft Substanzbegriffe auf, nur um sie in Funktionsbestimmungen scheinbar wieder aufzulösen. Der Idealismus Kants und seiner Nachfolger besteht darin, die selbst diagnostizierte Differenz – die immer wieder beschworene Kluft, den Riss, die Trennung – wieder zum Verschwinden zu bringen, empirisches und transzendentales Ich etwa im Sinne einer größtmöglichen Annäherung als Identität aufzufassen oder im moralischen Gesetz das Allgemeine der Menschheit mit der Besonderheit jedes einzelnen Ichs in eins zu zwingen.3 Damit wird jedoch das eigentlich produktive Moment der empirisch-transzendentalen Dublette wieder zum Verschwinden gebracht; dass nämlich Sinn, Wahrheit und Bedeutung weder vorausgesetzt noch als Basis einer künftigen Metaphysik festgelegt werden können, sondern bloß spekulativ in Szene gesetzt und immer wieder kritisch eingeholt werden müssen. Die Dublette in ihrer besonderen Differenz und Relationalität zu denken, stellt mithin die Voraussetzung dar, den Bedingungen der Moderne gerecht zu werden. Sie betrifft die begriffslogische Struktur der großen Kategorien des modernen Symbolischen wie Geschichte und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst sowie Politik und Ökonomie. Sie alle lassen sich weder bloß empirisch – als Ansammlung von Fakten, Gegebenheiten oder Sachverhalten – noch rein ideell-begrifflich verstehen. Es gibt diese Kategorien nur in der Relation.4 Weder lässt sich das Transzendentale einfach verabschieden, um in der reinen Immanenz, Empirie, Materialität oder Praxis aufgehen zu können, noch kann sich das Transzendentale als rein ideelle Bestimmung im Sinne eines universell Gültigen oder Absoluten festsetzen. Das Empirische setzt den transzendentalen Einsatz immer schon voraus, während das Transzendentale – als Inbegriff eines ideell-spekulativen Vorstellungshorizonts – stets nur von einem Empirischen oder Partikularen aus formuliert werden kann. Entscheidend ist die Dynamik 3 In diesem Sinne: Gerhard Gamm, „Die Unausdeutbarkeit des Selbst“, in: Gerhard Gamm, 2000 (Anm.  2), S.  209: „Kants Ethik, könnte man sagen, ist die Ethik eines fundamentalanthropologischen Doppels. Das Doppel wird ausgefochten zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Ich. Der Boden, auf dem es stattfindet, ist das Paradigma des endlichen Menschen. Die einzige Regel des Spiels, die Gleichheitsregel, richtet sich an das empirische Selbst und lautet: Werde mit dir selbst gleich, nähere dich deinem transzendentalen Ego oder: realisiere die Menschheit in deiner Person… ..Kants Idee der Autonomie suchte Gesetzgeber und Adressat, Selbst und Gesetz zusammenzubinden, was plausibel zu machen nur unter der Annahme gelingt, daß das empirische Subjekt und das transzendentale in der Substanz identisch sind. Dieser Unterstellung begegnet bereits die Frühromantik mit Skepsis.“ 4 Die Frage, ob es die Gesellschaft oder die Kunst überhaupt gäbe, bestimmt einen Großteil der diskursiven Formationen in der Soziologie oder der Ästhetik. Diese Frage ist jedoch falsch gestellt, weil sie auf eine empirische Antwort zielt, die doch nur transzendental erfasst werden kann.

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zwischen diesen Instanzen, denn gerade als Grenze verstanden überschreitet das Transzentendale die Ordnung des empirisch Gegebenen; die Grenze muss immer erst spekulativ aufgerufen, begrifflich gesetzt, empirisch erfahren und sozial durchgesetzt werden. Das Transzendentale repräsentiert somit eine besondere Form der Überschreitung, die in ihren spekulativen Begriffen gleichsam ihre eigene Grenze stets vor sich herschiebt. In diesem Sinne engen die Grenzen der Wissenschaft5 oder der Kunst diese keineswegs ein, sondern erweitern deren Horizont; und diese ständige Verschiebung und Erweiterung von Grenzen definiert auch den Problemhorizont der Moderne insgesamt, eben weil hier die Empirie sich immer wieder des Transzendentalen zu bemächtigen sucht und dabei jede Unschuld verliert.6 Das spekulative Bild lässt sich – um zur wiederum spekulativen Ausgangsthese dieses Buches zurückzukehren – als Schnittstelle der empirischtranszendentalen Differenz begreifen, an der eine spezifische Wahrheit der Kunst überhaupt erst in Erscheinung treten kann. Es transformiert den empirischen Einsatz seiner Malmaterialien, Darstellungskonventionen und Wirkungsweisen hin auf die Idee eines Bildes, in dem die transzendentale Dimension des eigenen Erscheinens – als Malerei oder als Kunst – sich manifestieren kann. Erst von hier aus lässt sich die Malerei als spezifische Form eines Bild-Denkens begreifen, das die Möglichkeit der je eigenen sinnlichen Erfahrbarkeit, seines Verstehens und seiner sozialen Positionierung immer schon mit thematisiert und somit Repräsentation und Reflexivität zueinander ins Verhältnis setzt. In den vier in dieser Studie untersuchten Formen – im Bild als Schwelle, im antagonistischen, im analytischen und im synthetischen Bild – tritt das spekulative Bild stets mit dem Ziel auf, dem Auseinanderbrechen 5 im Sinne von Nicholas Rescher, Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart (Reclam) 1985. 6 In der wechselseitigen Abhängigkeit und Bezogenheit von Empirischem und Transzen­ dentalem aufeinander artikuliert sich eine fundamentale und uneinholbare Unbestimmtheit als der eigentliche „Grund“ der modernen symbolischen Ordnung, worin die Bedingung der Unmöglichkeit einer jeden wahren Erkenntnis und realen Bestimmung zur Bedingung der Möglichkeit einer schier grenzenlosen Produktivität im Imaginären wird. Die idealen Zielorientierungen der imaginären Moderne – wenn etwa politische, künstlerische oder akademische Akteure glauben, mit ihren transzendentalem Ich identisch geworden zu sein – korrelieren hierbei mit den hyper-pragmatischen Modalitäten in Technik, Medien und kapitalistischer Produktionsweise. Beide generieren eine besondere Form von Produktivität, in der sich die Dublette als Spaltung reproduziert und die ihr zu Grunde liegende Unbestimmtheit zu einer auf Dauer gestellten symptomatischen Bestimmung, einer „unbestimmten Bestimmtheit“ wird. Zur „Bedingung der Unmöglichkeit“ siehe: Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1991, S. 33; zur „unbestimmten Bestimmtheit“ von Technologie und Medien siehe: Gerhard Gamm, „Anthropomorphia inversa. Die Medialisierung von Mensch und Technik“, in: Gerhard Gamm, 2000 (Anm. 2) S. 297.

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hierarchisch-transzendenter Ordnungen in den ökonomischen, religiösen und politischen Konflikten der jeweiligen Zeit entgegenzuwirken und somit dem Mangel an vorgegebenen, unbezweifelbaren Sinn durch eine spezifische Form der Hervorbringung zu begegnen, die ihre Wahrheit selbst zu generieren und sich innerhalb dieser Konflikte zu positionieren in der Lage sein sollte. Selbst dort, wo diese Hervorbringungen unmittelbar im Dienste neuer Ordnungsversuche standen, rückte der Aspekt der künstlerischen Selbstbehauptung zunehmend in den Vordergrund, eben weil sich diese Ordnungen nicht derart stabilisieren ließen, dass sowohl Empirisches und Transzendentales als auch Kunst, Wissenschaft, Politik, Religion und Ökonomie wieder zur Deckung gelangen konnten.7 In dem, was sich als die symbolische Ordnung der Moderne etablierte, lässt sich Wahrheit weder von oben noch von einem Außerhalb der je eigenen Sphäre dekretieren. Gerade in diesem Nicht-zur-Deckung-Gelangen eröffnet sich jedoch erst der Spielraum einer Wahrheit der Kunst. Als reine Selbst-Bestimmung wäre eine solche Wahrheit deshalb ebenso missverstanden wie als Identitätsbehauptung einzelner empirischer oder transzendentaler Elemente wie etwa Fläche oder Raum, Farbe oder Form, Ereignis oder Struktur, Idee oder Realisierung. Denn die wechselseitigen Abhängigkeiten, die zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen ebenso bestehen wie zwischen den einzelnen symbolischen Formen der Moderne, bleiben noch in den Abgrenzungsakten voneinander konstitutiv erhalten. Entscheidend sind gerade diese doppelten, nach innen wie nach außen gerichteten Differenzen, in denen sich malerische Praktiken als Malerei und schließlich als Kunst symbolisieren und ihren besonderen Wahrheitsanspruch formulieren können. Mithin trägt das spekulative Bild diese Differenzen und die Dynamisierung, die durch sie in Gang gesetzt wird, immer schon in sich. Es kann weder als ein rein empirisches Bild im Sinne eines bloßen Abbildes eines Realen, das durch ein offenes Fenster hindurch gesehen werden könnte, gefasst werden noch als ein in seiner opaken Flächigkeit rein formal bestimmtes Ideen-Bild. Dementsprechend gibt es hier weder Nachahmung noch Autonomie, weder eine ausschließlich scheinhaft-illusionäre noch eine reine Sichtbarkeit.8 Seine 7 Gerade der Absolutismus, wie wir ihn etwa im Rahmen des synthetischen Bildes diskutiert haben, wird heute nicht mehr als Hindernis jeder Modernisierung, sondern selbst als immenser Differenzierungs- und Dynamisierungsfaktor begriffen. Siehe: Benno Teschke, Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2007. 8 Zur Vorstellung einer „reinen Sichtbarkeit“ siehe: Conrad Fiedler, „Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“ (1887), in: Conrad Fiedler, Schriften über Kunst, Köln (Dumont) 1977, S. 131–240; hierzu: Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt am Main (Campus) 2008.

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Sichtbarkeit ist vielmehr immer schon gerahmt. Dieser Rahmen beinhaltet konzeptuelle und somit immer auch transzendentale Elemente. Er begrenzt und eröffnet zugleich; er eröffnet, indem er begrenzt.9 Das spekulative Bild stiftet somit weder eine illusionäre noch eine autonome Welt, sondern eine symbolische. Es symbolisiert seine eigene Situation, indem es sich zwischen der Produktion des Bildes und seiner Rezeption verortet und auf beiden Seiten Sehen und Denken, Wahrnehmen und Vorstellung aufeinander bezieht. In seiner fundamentalen Zweiseitigkeit vermittelt das Bild im zeitlichen wie im räumlichen Sinn ein Davor und Danach bzw. Dahinter gerade durch seine empirische Präsenz auf der Bildfläche. Die transzendentale Dimension betrifft den Verstehens- bzw. Vorstellungs-Horizont, auf den hin die Bilder entworfen und von dem her sie angeeignet werden können, und somit immer schon den Bezug auf andere Bilder. Jedes empirisch realisierte und erfahrbare Bild wird zum transzendentalen Horizont anderer Bilder. Man muss daher immer schon Bilder als Malerei oder als Kunst gesehen haben, um sie als solche einordnen und adäquat wahrnehmen zu können. Es ist diese besondere, ebenso soziale wie kulturelle Verschränkungsleistung zwischen empirischen Formen der Sichtbarkeit und der transzendentalen Dimension ihres Sinns, die im Allgemeinbegriff von Kunst auf produktive und dynamische Weise aufgegangen ist. Das spekulative Bild ist auch dort noch gegenwärtig, wo wir es nicht mehr wahrnehmen, wo wir es für überwunden halten: im spekulativen Begriff bzw. Satz ebenso wie in der vermeintlich reinen Immanenz von Materialität, Medialität, Praxis, Installation oder Ereignis, wie sie für die meisten Formen der Gegenwartskunst bestimmend geworden ist. Der Allgemeinbegriff von Kunst hat sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts selbst als spekulativer Begriff ausgebildet. Gleichzeitig ist auch das Bild zum philosophischen Begriff geworden, bei Fichte explizit, indem er die Bildhaftigkeit des Begriffs herausstreicht,10 aber auch in den Kategorien der 9

Gegen Derrida ließe sich einwenden, dass der Rahmen kein bloßes Beiwerk, ein Parergon, zu Bild und Werk darstellt; er ist vielmehr das Bild bzw. ist das Bild der Rahmen. Siehe: Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien (Passagen) 1986. 10 In „Die Bestimmung des Menschen“ (1800) schreibt Fichte: „Es giebt überall kein Dauerndes, weder ausser mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Seyn – Ich selbst weiss überhaupt nicht und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sey, dem sie vorvorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen. Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder: ja ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.“ Zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1800), Stuttgart (Reclam) 1997. S. 172f.

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Einbildungs- und der Urteilskraft, der intellektuellen bzw. intellektualen Anschauung, des Scheins oder der Kunst selbst.11 Im Vorstellungshorizont von Kunst sind mithin Bild und Begriff nicht streng zu trennen; sie werden auf verschiedene Weise aufeinander bezogen, wobei sie sich wechselseitig sowohl stärken als auch schwächen können. Das Bild bedingt und begrenzt die Potenzialität des Begriffs. Vor dem Hintergrund der kategorischen Problematisierung des Bildes als falscher Schein seit Parmenides und Plato ist in Idealismus und Frühromantik die produktive, welterschließende Dimension des Bildes unverkennbar. Das Bild fungiert als Anschauungs- und als epistemische Aneignungsform. Kunst kann als Inbegriff synthetisierender Bildlichkeit sogar die Einheit der zerfallenden Kriterien von Materie und Geist, Rationalität und Sinnlichkeit, theoretischer wie praktischer Vernunft suggerieren, doch gerade diese Synthese bleibt trügerisch, nicht weil sie bloß scheinhaft wäre, sondern weil sie ständig neuen Definitions- und Beanspruchungsversuchen ausgesetzt ist. Zu den Subjektivitätsbedingungen der Moderne kann es weder eine gelingende Bestimmung des Unbestimmten noch eine transimmanente bzw. rein strukturelle Begründung der Welt geben, weil die Pluralität der Aussagepositionen Voraussetzung jeder Subjektivität darstellt und sich somit diese strukturelle Pluralität der Beanspruchungsversuche gerade in die Singularität des Allgemeinbegriffs von Kunst einschreibt.12 Dementsprechend schaffen das spekulative Bild und der spekulative Begriff von Kunst weder absolute Wahrheit noch eine irreale, bloß imaginäre und scheinhafte Welt – auch keinen objektiven oder wahren Schein13 –, sondern ein symbolisches Universum, in dem erst die Differenz von Schein und Wirklichkeit, Singularität und Pluralität, Empirischem und Transzendentalem in 11 Die zentrale Rolle der Einbildungskraft bei Kant hatte Heidegger in seinem KantBuch herausgestrichen; siehe: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929),Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 2010; generell zu den Begriffen Einbildungskraft, Urteilskraft und intellektuelle Anschauung siehe: Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie, Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 2011; zur intellektuellen Anschauung siehe: Xavier Tilliette, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel, Bad Cannstatt (Frommann-Holzboog), 2015. 12 Wir können uns nicht dauerhaft einer Wahrheitsposition unterwerfen, weil wir damit unseren je eigenen Subjektivitätsanspruch unterlaufen würden. Eine bestimmte Form von Hörigkeit lässt sich jedoch durchaus auch als Subjektivitäts-Modell verkaufen, zumindest solange es als solches nicht allzu massiv in Frage gestellt wird. 13 Im Sinne von: Philippe Lacoue-Labarthe, Der wahre Schein, Wien, Berlin (Turia + Kant) 2013; zu Adornos Dialektik des Scheins siehe: Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung“. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, S. 138–176.

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Erscheinung treten kann, allerdings um den Preis, dass es stets ein weiteres Bild oder einen weiteren Begriff geben kann, die die erzielte Vermittlungsleistung wieder relativieren. Mithin generiert das Bild Differenzen, die zu vermitteln es sich anschickt, und eine Dynamisierung, indem es zu weiteren Bildern und Begriffen anspornt. Transgression ist im spekulativen Bild immer schon angelegt – und tritt nicht im avantgardistischen Sinn von außen an es heran – ebenso wie die Notwendigkeit einer empirischen Bestimmung, die wiederum ihren transzendentalen Horizont niemals einholen kann. In diesem Sinne lässt sich das spekulative Bild als Erscheinungsort einer Praxis – der Malerei als Kunst – verstehen, in der die Dublette in ihrer unaufhebbaren, doppelten Bestimmtheit auftreten und erfahren werden kann, ohne doch in der jeweiligen Konkretisierung und Realisierung auf dauerhafte Geltung gestellt werden zu können. Insbesondere in der idealistischen Kategorie des Kunstwerks verdichten sich spekulatives Bild und der allgemeine Begriff von Kunst. Konstitutiv am Kunstwerk ist nicht seine imaginäre Geschlossenheit als gelingende, auf Dauer gestellte Vermittlung, der mit empirischer Offenheit, Aktualität, Überschreitung oder Relevanz zu begegnen wäre, sondern gerade sein Status als der Schauplatz einer Differenz zwischen dem OffenUnbestimmten und dem Konkret-Bestimmten, dem spekulativen Anspruch an Sinn, Wahrheit und Dauer und dem ebenso singulären wie partikularen Akt der empirischen Realisierung. Mithin trägt Kunst in ihrer Bild- und Werkhaftigkeit den Zweifel an ihrer eigenen Wahrheit immer schon in sich. Gleichzeitig fungiert dieser immer schon verinnerlichte Zweifel als der eigentliche Motor ihrer anhaltenden Produktivität.14 Gegenwartskunst lebt keineswegs im Jenseits solcher Differenzen, denn jenseits davon gibt es nur die Leere des Imaginären. * * *

14 Theoretiker und Theoretikerinnen des „offenen Kunstwerks“ oder eines erfahrungsbezogenen Ansatzes jenseits der Kategorie des Kunstwerks unterschätzen für gewöhnlich die transzendentale Dimension des Werks. Erst das Werk ermöglicht die Offenheit und die Wahrheit seiner je eigenen Unabschließbarkeit und Unausdeutbarkeit. Gegenwartskunst ist dementsprechend keineswegs grenzenlos oder offen; sie performt bloß eine imaginäre Offenheit, die sich ihre eigenen Grenzziehungen ebenso wenig wie ihrer transzendentalen Voraussetzungen bewusst ist. Zur Diskussion im Anschluss an Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977, siehe vor allem: Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg (Junius) 2013, S. 25–57.

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Die beiden dominanten Bedeutungsstränge des Begriffs Ästhetik – als Wahrnehmungslehre oder als allgemeine Kunstphilosophie verstanden – reduzieren die empirisch-transzendentale Dublette jeweils nach einer Seite hin. Sie greifen daher zu kurz, um die Spezifik der Verhältnisse von Bild und Begriff, Malerei und Kunst, Erfahrung und Wahrheit erfassen zu können.15 Demgegenüber versucht eine Philosophie der Malerei, wie wir sie dieser Studie methodisch zu Grunde legten, von der, diese Verhältnisse begründenden Differenz auszugehen und diese in ihrer besonderen Historizität zu begreifen. In ihr geht es darum, die Praxis der Malerei als einer konzeptuellen und materiellen Hervorbringung von Bildern mit ihrem Sinn- und Wahrheitsanspruch als Kunst ebenso in Zusammenhang zu bringen wie mit ihrer rezeptiven, sinnlich-anschaulichen Erfahrungsform. Philosophisch kann ein solcher Anspruch nur genannt werden, wenn er die doppelten Polaritäten von Denken und Machen auf Seiten der künstlerischen Ausübung und von Erfahrung und kritischer Reflexion auf Seiten der Rezeption als eine Art von Querschnitt zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen zu fassen erlaubt. Eine Philosophie der Malerei muss daher empirischer vorgehen als jede reine Philosophie und diese Empirie bereits als ein Wechselverhältnis von Produktion und Rezeption unter den jeweiligen sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen verstehen; gleichzeitig jedoch auch philosophischer als jede empirische Herangehensweise an die Geschichte der Malerei. Um Philosophie und Malerei sinnvoll miteinander in Bezug zu setzen, reicht es nicht aus, philosophische Fragen – etwa nach der Wahrheit – an die Malerei zu richten; vielmehr muss von einer wechselseitigen Bedingtheit, von einem philosophischen Element in der Malerei und einem malerischen oder generell künstlerischen Moment in der Philosophie ausgegangen werden. Erst dieses Wechselverhältnis macht die Karriere der Malerei als Kunst im Rahmen der modernen Wahrheits- und Fundamentalästhetiken denkbar. Das philosophische Element der Malerei geht aus der Niederländischen Malerei in dem Sinne hervor, dass diese gezwungen war, den symbolischen Horizont ihrer eigenen Bedeutung zu konzeptualisieren, indem sie ihr Bildverständnis zum transzendentalen Begriff von Malerei transformierte,16 und dass sie diese Konzeptualisierungsleistung als allgemeine Problemkonstellation von Kunst an die Moderne weitergegeben hat. Bild, Malerei und Kunst stehen seither in 15 16

Das heißt nicht, dass sie in ihrem jeweiligen Bereich nicht vieles leisten können; nur in der Verallgemeinerung verfehlen sie ihr Ziel. Ich sehe vor allem in den Werken der Delfter Maler und in den flämischen Galerie-Bildern Indikatoren dafür, dass sich das Niederländische Verständnis von Malerei bereits auf die Malerei bzw. eine Kunst der Malerei bezog, also noch bevor im französischen Klassizismus der Allgemeinbegriff der Malerei begrifflich belegbar wird.

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einem empirisch-transzendentalen Spannungsverhältnis, sodass selbst dort, wo sich eine dieser Kategorien möglichst weit von den anderen entfernt, sie sich doch nicht gänzlich von den anderen lösen kann.17 Umgekehrt sind im Rahmen symbolischer Differenzierung Malerei oder Kunst generell für die Philosophie notwendig geworden, weil die für die symbolische Ordnung der Moderne konstitutive Abwesenheit von Totalität einen Fluchtpunkt benötigt, vor dem die Philosophie ihren Wahrheitsanspruch erst erheben kann. Dieser spekulative Fluchtpunkt, den Bild, Malerei oder Kunst für die Philosophie repräsentieren können, indiziert keinen positiven Grund, auf dem eine künftige Metaphysik zu errichten wäre, sehr wohl jedoch eine Kategorie, durch die die Abwesenheit der Totalität als anwesend begriffen und die strukturelle Negativität positiv symbolisiert werden konnte. Bild, Malerei und Kunst sind in diesem Sinne konstitutiv für die Philosophie der Moderne, zumindest solange ein ontologischer Grund weder einfach behauptet noch für vollkommen verzichtbar erklärt wird. In diesem Sinne ließe sich eine Philosophie der Malerei als eine Art von re-entry des Transzendentalen in die Unterscheidung von Empirischem und Transzendentalem verstehen.18 Als solches verlangt eine Philosophie der Malerei eine Positionierung, einen spekulativ-kunstkritischen Einsatz,19 von dem aus sie überhaupt nur formuliert werden kann. Nur wenn etwas als Kunst beansprucht wird, das heißt, nur wenn ein spekulatives Bild entworfen und durch eine Projektidee empirisch ausgerichtet wird, kann die empirischtranszendentale Dublette in Erscheinung treten. Als solche adressiert werden kann sie wiederum nur durch einen weiteren spekulativen Einsatz, eine kritische Unterscheidung hinsichtlich der empirisch-transzendentalen Dimension eines konkreten Werks. In dieser Hinsicht kann Kunstkritik weder als objektive noch als subjektive Bewertung verstanden werden – und auch nicht als ein subjektives Allgemeines im Kantischen Sinn –, sondern als ein spekulativer Fluchtpunkt hinsichtlich künstlerischer Einsätze und Behauptungen, mithin selbst als ein transzendentaler Einsatz, der die 17 Selbst dort, wo sich die Symbolisierung als Kunst von Bild und Malerei löst, wie etwa im Readymade, der Konzeptkunst oder dem Kunst-Aktivismus bleiben das spekulative Bild und die Malerei als transzendentale Voraussetzungen erhalten; und dort, wo sich das Bild gänzlich vom Bezugsrahmen der Kunst löst, symbolisiert es sich vielfach auf andere Weise, nämlich als Kultur oder als Medien. Selbst Instagram ist nicht ohne eine transzendentale Dimension von Sinn vorstellbar. 18 Zum Begriff eines re-entry siehe: Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito (Hg.), GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1997, S. 152–154. 19 Umgekehrt setzt auch Kunstkritik stets eine solche Form von Philosophie der Malerei voraus, aus der heraus sie einzig ihren transzendentalen Einsatz begründen kann.

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transzendentale Dimension der Kunst hervortreten lässt. Denn Kunst kann nicht rein empirisch nach Kriterien ihrer reinen Materialität oder Formalität, ihrer Inhaltlichkeit, Ereignishaftigkeit oder ihrer sozialen Situiertheit bewertet werden, sondern nur in Bezug darauf, wie Materialien, Formen, Inhalte oder Ereignisse und soziale Situationen sich auf einen Anspruch als Kunst beziehen lassen. Kunstkritik betrifft daher entscheidend die Symbolisierungsform von etwas als Kunst; sie muss das spekulative Bild explizieren und damit die transzendentale Dimension von Kunst an einzelnen Werken oder Praktiken festmachen, was voraussetzt, sich auf die sinnlichen Dimensionen der Erfahrung ebenso einzulassen wie auf deren konzeptuelle Rahmungen. Dies wiederum impliziert nicht nur den behauptenden, spekulativen Charakter jeder Kritik und die darin fassbare Ausrichtung an Wahrheit, sondern auch ihre grundlegende Kontingenz, Parteilichkeit und Unwahrheit; und doch ist nur von hier aus zu verstehen, wie Kunst als Herausforderung, als ebenso Unbegreifliches wie Unbestimmbares begriffen und bestimmt bzw. als ein NichtIdentisches identifiziert werden kann. Kunst wirft in ihrer insistierenden Existenz bis heute die beunruhigende Frage nach ihrem Sinn auf, nicht nur, weil sie sich über eine unaufhebbare empirisch-transzendentale Differenz symbolisiert hat, sondern darüber hinaus auch, weil ihr Verhältnis zu den anderen symbolischen Formen in hohem Maße unbestimmt bleibt. Sie lässt sich nicht aus der Besonderheit einer Arbeitsweise, einer Fertigkeit, eines Vermögens oder eines Geltungsanspruchs herleiten, worin sich ihre Autonomie jeweils begründen ließe. Entscheidend ist vielmehr, dass sie nicht in der Logik funktionaler Differenzierung aufgeht oder im Sinne einer empirischen Spezifik verstanden werden kann. Ihr Spezifisches ist ihr Nicht-Spezifisches, ihr Sinn wurzelt im Sinnlosen, und im Rahmen des modernen Sozialen ist sie als das ebenso Funktionslose wie Dysfunktionale funktionalisiert.20 Paradoxien dieser Art begründen ihre Symbolisierungsform, für die sowohl die Abgrenzung von als auch die Bezogenheit auf andere symbolische Formen konstitutiv ist. Erst im Wechselspiel beider Modalitäten – von Autonomie und Heteronomie, von Spezifik und Allgemeinheit oder auch von Idealismus und Materialismus – etabliert sich Kunst als eine der elementaren Symbolisierungsformen der Moderne. Die offene Wahrheitsfrage der Niederländischen Malerei hat sich somit in die kategorisch widersprüchliche Bestimmung als Kunst transformiert, die es kunstkritisch zu adressieren gilt. Denn erst von hier aus kann der Austausch mit 20 Zur Funktion des Funktionslosen siehe: Theodor  W.  Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977, S. 336f: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren lässt, ist es ihre Funktionslosigkeit.“

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den anderen symbolischen Formen, mit der Politik, der Wissenschaft oder der Gesellschaft, auf produktive Weise verstanden werden. Dementsprechend wäre Kunst weder als autonome Ausdruckskategorie noch als bereits immer schon politische, forschende oder soziale Potenzialität zu begreifen, die jedem imaginären Anspruch an Sinn sich geschmeidig anpasst, wiederum weder im Sinne eines grundsätzlich Vergangenen im Hegel’schen Verständnis noch als Vorschein auf ein künftiges Gelingen. Ihr fundamental gegenwärtiger Sinn läge vielmehr darin, die fatale Produktionslogik von Sinn in der Moderne zu unterbrechen und den fundamentalen Unsinn, die historische Kontingenz der symbolischen Ordnung sich vergegenwärtigen zu lassen. Die besondere Geschichtlichkeit solcher Paradoxien des Symbolischen wird im Rahmen dieser Studie mit dem Begriff der Archäologie belegt, allerdings nicht in einem emphatischen oder„wilden“, der Geschichte kategorisch entgegenstehenden Sinn, mithin als ein Anderes zur Geschichte.21 Denn Archäologie meint hier weder eine rein materielle, nicht-schriftliche oder nicht-lineare Ereignisform der Dinge noch eine verschüttete oder sedimentierte Ideengeschichte. Sie betrifft vielmehr das, was im Moment der Spaltung zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen als ein spezifisches Moment an historischer Möglichkeit und Unmöglichkeit hervortritt. Jede Form von Geschichte benötigt ein solches archäologisches Element als Angelpunkt ihrer jeweiligen Erzählung, um letztlich ihren eigenen Anspruch an Kohärenz überhaupt realisieren zu können.22 Dieses archäologische Moment jeder Geschichte wäre als reine Ursprungslegende allerdings missverstanden. Im spekulativen Bild bewahrt sich gleichsam dieses Moment der Spaltung und bleibt in beide Richtungen hin lesbar. Das re-entry einer Philosophie der Malerei artikuliert sich im Verhältnis zu dieser Spaltung. Mithin reflektiert es die unterschiedlichen Spaltungsvorgänge, denen sich Malerei als Kunst in der Moderne verdankt, nicht von einem objektiven Standpunkt aus; es situiert sich vielmehr selbst als ein Spaltungsprodukt, das sich zumindest seiner historischen wie spekulativen Bedingtheit bewusst bleibt und somit der 21 In diesem Sinne: Knut Ebeling, Wilde Archäologien. Theorien der materiellen Kultur von Kant bis Kittler, 2 Bde., Berlin (Kadmos) 2012. 22 Geschichte wäre mithin auch als ein kontinuierlicher und linearer Ablauf von Ereignissen missverstanden, den man mit archäologischen Mitteln aufsprengen könnte. Die Archäologie verdankt sich vielmehr selbst der für die Moderne typischen symbolischen Form von Geschichte, für die die Fragen nach ihrem jeweiligen Ursprung und nach ihrer Gegenwart jeweils prekäre Grenzpunkte darstellen. Siehe: Nicholas B. Dirks, „History as a Sign of the Modern“, in: Public Culture, 2, Spring 1990, S. 25–32; hierzu vom Vf., „Was tun? Was lassen? Passivität und Geschichte“, in: Kathrin Busch, Helmut Draxler (Hg.), Theorien der Passivität, München (Fink) 2013, S. 196–215.

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imaginären Verführung widersteht, sich als Lösung, Versöhnung oder Rettung zu verstehen. Nur so kann eine archäologisch orientierte Philosophie der Malerei das Unversöhnliche, die immer noch anhaltende Herausforderung einer bestimmten Unbestimmtheit, in die Gegenwartskunst tragen. Voraussetzung hierfür ist die Kategorie des Symbolischen, die die Spaltungsvorgänge in ihrem Zusammenhang zu verstehen erlaubt, ohne sie aufzuheben oder in ihnen aufzugehen. Das Symbolische stellt einen methodischen Einsatz dar, der sich als eine Art von Matrix verstehen ließe, in der sich die empirisch-transzendentale Differenz als die horizontale Koordinate zwischen das Imaginäre und das Reale auf der vertikalen Koordinate schiebt. Innerhalb einer solchen Matrix bleiben beide Differenzen sichtbar – sie werden weder imaginär aufgelöst noch auf ein vermeintlich Reales und somit Bestimmbares zurückgeführt – und somit konstitutiv und in Spannung zueinander erhalten. Zweifellos kann auch von einer Kategorie des Symbolischen ausgehend das Unbestimmte nicht einfach bestimmt oder bewusst gemacht werden. Sie lässt sich jedoch konzeptuell derart in Stellung bringen, dass das Unbestimmte als Problem einer grundlegenden Bestimmung, einer Verankerung der Moderne in einem Realen, aufscheinen und bearbeitet werden kann.23 Während das Imaginäre die Versuche kennzeichnet, transzendentale Einsätze mit empirischen Gegebenheiten zu identifizieren und diese als Realität zur Geltung zu bringen, will das Reale sich als nicht-symbolisierbare Entität in Stellung bringen, etwa als ein Grund, aus dem die Spaltungsprozesse des Symbolischen erst hervorgehen. Doch ein solcher Grund kann auch in strikter Negativität nicht gelegt werden; Spaltungen realisieren sich erst in den Akten symbolischer Artikulation. Selbst das Nicht-Symbolisierbare muss daher stets symbolisiert werden, wodurch sich das Symbolische seiner Grenzen versichern und die Frage der Unbestimmtheit offen halten kann.24

23 Deshalb wäre ich vorsichtig hinsichtlich einer möglichen „Ästhetik des Realen“, auch wenn diese an der gespaltenen Strukturbildung moderne Subjektivitäten festgemacht wird. In diesem Sinne: Rado Riha, Reale Geschehnisse der Freiheit. Zur Kritik der Urteilskraft in Lacanscher Absicht, Wien (Turia + Kant), 1993. 24 Noch die Begriffe Trauma, Katastrophe oder Kastration stellen solche Grenzbegriffe des Symbolischen dar. Ich würde dem Realen daher nicht den Status einer strikt negativen Ontologie zuschreiben, sondern bloß den Negationspol einer Ontologie, die stets auch eine positive Bestimmung verlangt. In diesen positiven – ontischen – Bestimmungen symbolisiert sich das Reale ohne sich im Symbolischen aufzulösen. Was bleibt, sind die Akt oder Ereignisse der Unterbrechung selbst, die tatsächlich die Grenzen des Symbolisierbaren markieren, deren Sinn jedoch sofort wieder symbolisiert werden muss. Zur Diskussion um eine negative Ontologie siehe: Alenka Zupancic, Was ist Sex? Psychoanalyse und Ontologie, Wien, Berlin (Turia + Kant) 2019.

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Diese grundlegende These, die das Symbolische bzw. die Symbolisierungsweise von Kunst als den „Erscheinungsraum“ ihrer empirisch-transzendentalen Differenz bestimmt, führt uns zurück zur historisch-praktischen Grundfrage dieser Untersuchung: Wie sind moderne Kunst und Gegenwartskunst möglich geworden? Wie konnte sich im Namen ständiger Erneuerung und Veränderung etwas etablieren, das sich gerade in der Wiederholung seiner differenzierenden und dynamisierenden Struktur selbst kaum verändert oder erneuert? Gerade die in der Rückschau immer deutlicher sichtbar werdende kategoriale Etablierung von moderner Kunst und von Gegenwartskunst bringt eine symbolische Codierung zutage, die die individuell-imaginären Akte von Überschreitung ebenso betrifft wie deren kategorische Ausrichtung an einem künftigen Realen. Das spekulative Bild erschien mir in diesem Zusammenhang als historisch-materieller Bezugspunkt ebenso wie als heuristische Kategorie wichtig, weil es nicht nur die je eigene Überschreitung angetrieben hat und somit immer noch das Imaginär-Symptomatische moderner und gegenwärtiger Kunst bestimmt, sondern weil es gleichzeitig ein Instrumentarium bereitstellt, diese Form der Überschreitung zu denken bzw. sie auf ihre strukturellen und historischen Bedingungen zu beziehen. Erst von hier aus lässt sich innerhalb der empirischen Erscheinungsweisen von Kunst eine Unterscheidung zwischen Formen treffen, die in ihren symptomatisch-imaginären Akten aufgehen, und solchen, die ihre symbolische Codierung zumindest mit erkennen lassen. In dieser, das Symbolische anerkennenden Form von Reflexivität würde ich das eigentlich produktive Moment moderner und gegenwärtiger Kunst erkennen wollen. Dieses Moment lässt sich nicht als der Einbruch eines tatsächlich Realen verstehen, das sich individuellen Erfindungen oder Errungenschaften verdankt – gerade darin drückt sich das liberale Überwindungs- und Durchsetzungsnarrativ aus –, sondern als Differenzierungsmoment innerhalb des Symbolischen, das einzig seiner Unverfügbarkeit und Unbestimmbarkeit gerecht wird. Reflexive, medien-, diskurs- und institutionsbezogene Dimensionen25 scheinen mir – neben den behauptenden, setzenden, machenden oder handelnden Aspekten – unabdingbar zu sein, will Kunst an ihren besonderen: ambivalenten, kontingenten und situativen Wahrheitsformen mit dem Ziel festhalten, an die dynamischen Grenzen der Symbolisierung in der Moderne heranzuführen.26 25

Beispiele hierfür finden sich in meinen kunstkritischen Essays zu den Arbeiten von Fareed Armaly, Angela Bulloch, Judith Barry, Thomas Eggerer, Harun Farocki, Andrea Fraser, Isa Genzken, Andy Hope, Michael Krebber, Louise Lawler, Adrian Piper, Christopher Williams oder Heimo Zobernig. 26 Eine generell kritische Dimension von Kunst lässt sich von hier aus nur schwer behaupten; sie wäre wohl stets nur punktuell bzw. situativ zu erreichen und scheint mir in

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In dieser Sichtweise ist Gegenwartskunst nicht bereits als Keim in der altniederländischen Malerei angelegt und lässt sie sich doch ohne Bezug darauf nicht ausreichend verstehen. In ihr sollte eine Form der Historizität hervorgehoben werden, die Gegenwartskunst nicht einfach auf moderne Kunst folgen lässt; viel eher scheint diese Historizität durch moderne Kunst selbst verdeckt gewesen zu sein und sie begründet somit auch diese auf eine neue Weise. Im Zuge dessen verschieben sich jedoch nicht nur der Schauplatz und die Zeitlichkeiten des historischen Narrativs; diese Form der Geschichtlichkeit reproduziert sich konstitutiv in der Gegenwartskunst selbst. Denn das spekulative Bild schreibt sich in diese als das archäo-logische Moment der Spaltung ein. Die Möglichkeit, dass es Gegenwartskunst gibt, ruht in dieser besonderen, historischen Symbolisierungsform: dass sich nämlich gerade in den imaginären Akten der Überwindung und der Transgression die elementare Spaltung reproduziert. Dieses Archäologische der Gegenwartskunst bedingt, dass Wahrheit und Erfahrung, Empirisches und Transzendentales, Imaginäres und Reales immer wieder auseinanderfallen. Jedes re-entry, jeder künstlerische, kunstkritische, historische oder philosophische Versuch einer Verknüpfung der gespaltenen Teile fällt schnell in ein solches Moment der Spaltung zurück. Erst darin reproduziert sich das Symbolische in seiner unheimlichen Macht. Selbst die archäologische Rekonstruktion führt nicht notwendigerweise darüber hinaus. Bestimmbar bleibt zumeist bloß dieser konstitutive ‚Rückfall‘, das heißt die Entfaltung der Malerei als Kunst bis hin zur Gegenwartskunst als Problemgeschichte entlang eines sich in seinen Transformationen reproduzierenden Dispositivs. Dieses Dispositiv ließe sich als Strukturgeschichte fortwährender Spaltungen beschreiben, aus der erst die einzelnen Stränge von Ereignis und Dauer, Aktualität und Geschichtlichkeit, materieller Sozialgeschichte und transzendentaler Ideengeschichte hervortreten.27 Dennoch zeigt gerade die archäologische Rekonstruktion dieser Problemgeschichte, was im Namen von Bild, Malerei und Kunst in Form von Kunstwerken als den punktuellen Verdichtungen der gespaltenen Strukturen einmal möglich war – auch als eine Herausforderung an die Gegenwartskunst. Denn diese folgt weitgehend der

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jedem Fall eine Art von Selbstkritik vorauszusetzen, die zumindest die je eigene Bedingtheit durch die Symbolische Ordnung anerkennt. Die Zeit selbst scheint in der Moderne immer wieder in eine subjektive erfahrbare und eine objektiv messbare Zeit auseinanderzufallen. Die archäologische Rekonstruktion lässt jedoch die Bezogenheit beider Aspekte aufeinander gerade in der Spaltung erscheinen; sie bezieht sich somit konstitutiv auf eine, immer schon symbolisierte, historische und gesellschaftliche Zeit. Adressierbar ist diese weder durch ein überzeitliches Model von Wahrheit noch durch nackten Relativismus, sondern nur durch ein zeitliches SchichtenModell, in das Aspekte von Mentalitäts-, Struktur- und Ereignisgeschichte einfließen.

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Symptomatik der Spaltungen; sie positioniert sich in ihren grundlegenden Unterscheidungen – Malerei versus Konzept, Autonomie versus Aktivismus, Form versus Inhalt – immer noch auf beiden Seiten jener imaginären Schelde, wie sie Adriaen van de Velde 1614 als Gründungsereignis der Spaltung der europäischen Kultur im Bild vergegenwärtigen konnte. (Abb. 20) Dieses Bild registriert jedoch nicht nur symptomhaft die historischen Geschehnisse der Teilung der Niederlande nach 1585 in eine katholische und eine calvinistische Welt; es adressiert bereits die weitreichende symbolische Codierung dieser Spaltung. Van de Velde hatte sich – in der Tradition der Weltlandschaften – einen hochgelegenen, Überblick gewährenden Standpunkt angeeignet, wobei er konzeptuell klar auf der holländischen Seite positioniert stand. Auch für die Gegenwartskunst besteht – in praktisch-künstlerischer und in kunstkritischer Hinsicht – die Herausforderung darin, die Spaltungen der Moderne aus der Gespaltenheit heraus zu adressieren, aus denen sie selbst hervorging. Dies verlangt den spekulativen Überschuss einer unmöglichen Betrachtungsposition, in der die empirische Bedingtheit, Situierung und Positionierung zum Ausgangspunkt eines universalen Einsatzes wird. Im Gegensatz zu van de Velde sehen wir heute aus dieser Perspektive, dass keine tatsächlichen Neugründungen gelingen und keine Seite über die andere triumphieren konnte. Vielmehr reproduzieren sich die Spaltungen unvermindert, und immer noch wird nach Seelen gefischt. Die Vulkane der Moderne, wie sie van de Velde im Hintergrund seines Bildes bereits erkalten sah, sind keineswegs erloschen; ihre Aschen lagern sich an den Ufern des Zeit-Flusses ab, und die symbolischen Formen, die sich darin abgezeichnet haben, verschwinden nicht wie ein Gesicht im Sand.28 Ganz im Gegenteil, graben sie sich immer tiefer in die Sedimente unserer Welt ein. Im archäo-logischen Universalismus einer unmöglichen Betrachtungsposition sehen wir die Wahrheit in der Zeit und ihre Spaltungen unablässig auf uns zurollen; kein Engel der Geschichte wird uns davor retten. Und doch bleibt auch dieser Universalismus ein spekulatives Bild, verwurzelt an einem empirischen Ort, und somit keineswegs davor gefeit, selbst zum Erscheinungsort eines nächsten Ausbruchs zu werden.

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Niklas Luhmann diagnostiziert das Erlöschen der „Vulkane des Marxismus“, und Michel Foucault sah den Menschen als transzendentalen Fluchtpunkt der Humanwissenschaften verschwinden wie ein „Gesicht im Sand“.

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