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German Pages [607] Year 2023
Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921
FOKUS NEUE STUDIEN ZUR GESCHICHTE POLENS UND OSTEUROPAS NEW STUDIES IN POLISH AND EASTERN EUROPEAN HISTORY Publikationsserie des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften/Series of the Centre for Historical Research of the Polish Academy of Sciences in Berlin
Herausgegeben von/Series Editors Hans-Jürgen Bömelburg, Maciej Górny, Dietlind Hüchtker, Igor Kąkolewski, Yvonne Kleinmann, Markus Krzoska Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Hans Henning Hahn Dieter Bingen Eva Hahn Joanna Jabłkowska Kerstin Jobst Beata Halicka Jerzy Kochanowski Magdalena Marszałek Michael G. Müller Jan M. Piskorski Miloš Řezník Isabel Röskau-Rydel Izabella Surynt
BAND 7
David Skrabania, Sebastian Rosenbaum (Hg.)
Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 Nationale Selbstbestimmung oder geopolitisches Machtspiel?
Die Herausgeber: David Skrabania ist Historiker und Direktor des Oberschlesischen Landesmuseums in Ratingen. Sebastian Rosenbaum ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken) in Katowice (Kattowitz). Umschlagabbildung: Vor der Volksabstimmung in Oberschlesien – Schüler als Helfer für den Abstimmungsdienst beim Kleben von Plakaten. © bpk.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-5020 ISBN 978-3-506-79535-9 (hardback) ISBN 978-3-657-79535-2 (e-book)
Inhalt Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xii Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii
TEIL I Einführung: Forschungsstand und Erinnerung 1.
Die deutsche Perspektive auf die Volksabstimmung in Oberschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Guido Hitze
2.
Die oberschlesische Volksabstimmung in der polnischen Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ryszard Kaczmarek
3.
Vergessen und Erinnern. Ein deutsch-polnischer Vergleich . . . . . . 30 Juliane Haubold-Stolle
4.
Politische Aspekte des polnischen kollektiven Gedächtnisses an die schlesischen Aufstände und das Plebiszit im 20. Jahrhundert. Genese – Entstehung – Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Bernard Linek
5.
Die Volksabstimmung von 1921 in der Erinnerungskultur der Landsmannschaft der Oberschlesier und ihrer Organe seit 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 David Skrabania
TEIL II Internationale Aspekte der Situation Oberschlesiens 6.
Der überforderte Frieden und die Aporien der Politik: Selbstbestimmung als Ideal und Praxis nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . 83 Jörn Leonhard
vi
Inhalt
7.
Die Zeche(n) zahlen. Großbritanniens und Frankreichs Engagement in Oberschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Karsten Eichner
8.
„Fedeli al loro giuramento ed alla loro consegna“ – Der italienische Einsatz im oberschlesischen Abstimmungsgebiet und die italienische Politik 1919–1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Evelyne Adenauer
9.
Der Heilige Stuhl und die Volksabstimmung in Oberschlesien . . . 124 Sascha Hinkel
10. Der Standpunkt der Tschechoslowakei zum Plebiszit in Oberschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Piotr Pałys 11.
Die Republik Polen und die Volksabstimmung in Oberschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Maciej Fic
12. Deutschland und die Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921. Der Weg zum Volksentscheid, Emigrantenfrage, Wahlergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Benjamin Conrad
TEIL III Gesellschaftliche Stimmung und externe Unterstützung 13. Die Flüchtigkeit der nationalen Haltungen am Vortag der Volksabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 James Bjork 14. „Alle und alles für Oberschlesien!“ Polnische Unterstützung für den Abstimmungskampf in Oberschlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Zbigniew Gołasz 15. Der Abstimmungskampf im Rheinland und in Westfalen: Das Beispiel Bottrop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Lutz Budrass
Inhalt
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16. Die Kultur der Migration in Oberschlesien und ihr Einfluss auf das Ergebnis der Volksabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Andrzej Michalczyk
TEIL IV Mechanismen der Plebiszitkampagne 17. Das Polnische Plebiszitkommissariat als Werkzeug im Abstimmungskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Mirosław Węcki 18. Die deutschen Strukturen im Rahmen des oberschlesischen Abstimmungskampfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Guido Hitze 19. Polnische konspirative und paramilitärische Strukturen während des Abstimmungskampfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Grzegorz Bębnik 20. Das deutsche militärische und konspirative Engagement im Oberschlesienkonflikt 1918–1921 (vom Kriegsende bis Juli 1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Matthias Lempart 21. „Głosuj za Polską“ – „Wählt deutsch“. Propagandakampagne zur Volksabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Sebastian Rosenbaum
TEIL V Volksabstimmung, Ergebnisse, Reaktionen 22. Organisatorische Normen für die Durchführung des Plebiszits in Oberschlesien im Jahr 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Jakub Grudniewski 23. Am Tag des Plebiszits. Der Verlauf der Volksabstimmung vom 20. März 1921 in Oberschlesien im Licht der zeitgenössischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Marek Jurkowski, Beniamin Czapla
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Inhalt
24. Die Ergebnisse der Volksabstimmung und ihre Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Dawid Smolorz 25. Reaktionen auf die Ergebnisse der oberschlesischen Volksabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Sebastian Rosenbaum
TEIL VI Fallbeispiele: Volksabstimmungen und Grenzfestlegungen in Europa 26. Grenzziehung nach afrikanischer Art – oder die Formung des Hultschiner Ländchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Jiří Neminář 27. Keine Abstimmung im Teschener Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Bartholomäus Fujak 28. Die Ausführung des Plebiszits in Ost- und Westpreußen . . . . . . . . 488 Florian Paprotny 29. Die Volksabstimmung in Schleswig 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Grażyna Szelągowska 30. Die Kärntner Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920. Vorbereitung – Ablauf – Ergebnisanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Wilhelm Wadl 31. Das Ödenburg-Referendum – ein Erfolg der ungarischen Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Áron Máthé
Inhalt
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Anhang Autorenbiogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Ortsnamenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
Publikationsreihe des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften FOKUS. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas In dieser Buchreihe erscheinen wissenschaftliche Monographien und Sammel bände, die der neuesten Forschung zur Geschichte Polens und Osteuropas gewidmet sind. Die darin veröffentlichten Arbeiten verbinden verschiedene Disziplinen der Kultur- und Sozialgeschichte. Auch wenn der thematische Schwerpunkt der Reihe auf Polen und Osteuropa liegt, so sollen in ihr Arbeiten erscheinen, die die Vergangenheit dieses Teils unseres Kontinents im Rahmen einer möglichst breiten Forschungsperspektive behandeln und auf diese Weise die Forschung zu ähnlichen Themen anderer Regionen Europas inspirieren. In der Buchreihe FOKUS: Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas werden u.a. auch herausragende akademische Qualifikationsarbeiten erscheinen, wie z.B. für den wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen in Deutschland eingereichte Dissertationen.
Vorwort Die Ereignisse der Jahre 1919 bis 1922 in Oberschlesien mit den Aufständen, der Volksabstimmung und letztlich der Teilung der Region bilden bis heute einen wunden Punkt in der deutsch-polnischen Geschichte. Auch nach 100 Jahren ist die Beschäftigung mit der Thematik bisweilen sehr emotional. Sichtbar wird auch die unterschiedliche Erinnerungskultur an diese Ereignisse, und zwar nicht nur in Bezug auf die Intensität des Gedenkens, das in Deutschland inzwischen nicht mehr sehr ausgeprägt ist – im Gegenteil zu Polen, sondern auch im Hinblick auf die Schwerpunktsetzung, die in Polen klar auf dem Abstimmungskampf und den Aufständen liegt. Daher bin ich unseren polnischen Partnern, allen voran dem Institut für Nationales Gedenken in Kattowitz (Katowice) sehr dankbar, dass es anlässlich des 100. Jahrestages der Volksabstimmung in Oberschlesien gelungen ist, eine international besetzte wissenschaftliche Tagung im Haus Oberschlesien (Hösel) zu organisieren, die aus einer deutlichen zeitlichen Distanz heraus einen multiperspektivischen Blick auf dieses für die gesamte Region schicksalhafte Ereignis ermöglichte. Die sehr gute und professionelle Zusammenarbeit bei diesem schwierigen Thema ist ein Gradmesser für eine immer besser werdende wissenschaftliche Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte und das Verständnis der jeweils anderen Position. Mit dem vorliegenden Tagungsband werden nun die Ergebnisse dieser für alle Seiten fruchtbaren wissenschaftlichen Austausches vorgelegt. Der Leser erhält einen Einblick in die jeweilige Perspektive und Sichtweise auf die Ereignisse und lernt die unterschiedlichen methodologischen Ansätze kennen. Dies wiederum ermöglicht eine weitgehend objektive Beschäftigung mit der Thematik und somit auch eine eigenständige, fundierte Meinungsbildung. Daher möchte ich allen Teilnehmern der Konferenz für ihre Textbeiträge herzlich danken. Sie tragen damit zu einer weiteren Vertiefung der guten deutschpolnischen wissenschaftlichen Zusammenarbeit bei. Sebastian Wladarz, Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Haus Oberschlesien
Einleitung Am 18. Januar 1919 begann im Uhrensaal des französischen Außenministeriums in Paris am Quai d’Orsay die Friedenskonferenz, auf der die Vertreter der Siegermächte die Weltkarte neu zeichnen und das geopolitische Puzzle nach dem Zerfall der drei Reiche wieder zusammensetzen sollten. Inmitten der manchmal widersprüchlichen Interessen der Sieger des Ersten Weltkrieges, in der Arbeit von achtundfünfzig Ausschüssen, in den Bemühungen von fast zehntausend Teilnehmern an den Beratungen, wurde langsam eine neue Weltordnung geschmiedet. Während es dem amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson, der persönlich an den Verhandlungen beteiligt war, vor allem darum ging, den Völkerbund als künftigen Friedensgaranten zu etablieren, strebte Frankreich vor allem danach, eine Wiederholung des Krieges von 1914–1918 zu vermeiden, welcher die Nation 1,4 Millionen Menschenleben und 2 Millionen Hektar verwüstetes Land gekostet hatte. Die größtmögliche Schwächung Deutschlands – als besiegter Staat nahm es nicht an den Friedensverhandlungen teil – stellte daher Frankreichs Priorität dar. Zu den vielen Mechanismen dieser Schwächung – wie der Anerkennung der deutschen Alleinschuld, Reparationen, Sanktionen, der Abrüstung und Deutschlands Gebietsverlusten – gehörte auch die Schaffung eines Bollwerks in Ostmitteleuropa, das eine deutsche (aber auch die sowjetische) Expansion verhindern sollte. Schlüssel zu diesem cordon sanitaire sollte Polen sein, das nach mehr als 120 Jahren der Nichtexistenz wiederauferstanden war, Frankreichs wichtigster östlicher Verbündeter und Deutschlands Hauptkonkurrent im Osten. Es war unvermeidlich, dass Frankreich die polnischen Gebietsansprüche so weit wie möglich befriedigte. Großbritannien hingegen war auch daran interessiert, möglichst hohe Reparationen von Deutschland zu erhalten und die militärische Macht des Deutschen Reiches, vor allem zur See, zu brechen. Aber schon in der Gedenkschrift vom 25. März 1919, verfasst in Fontainebleau, wies der britische Premierminister David Lloyd George auf die Notwendigkeit hin, das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent zu erhalten, um eine unverhältnismäßige Demütigung und zu extreme Schwächung Deutschlands zu vermeiden. Irgendwo im Schnittpunkt dieser Interessen tauchte während der Pariser Debatten das Problem Oberschlesiens auf. Bereits am 25. Oktober 1918 hatte der Reichstagsabgeordnete Wojciech Korfanty in einer Rede im Reichstag den polnischen Anspruch auf dieses „unbestreitbar nationalpolnische Land“ erhoben. Die polnischen Delegierten in Paris, an deren Spitze der für seine rhetorischen Fähigkeiten bewunderte Roman Dmowski stand, konnten
xiv
Einleitung
die siegreichen Staaten, allen voran Frankreich, leicht von der Idee einer umfassenden Abtretung dieser Region an Polen überzeugen. Es handelte sich um das preußische Oberschlesien, den Oppelner Regierungsbezirk (ohne die rein deutschen Kreise Grottkau und Neisse), also ein Gebiet von etwas mehr als 10.000 Quadratkilometern mit 2,3 Millionen Einwohnern. Mehr als die Hälfte von ihnen sprach eine Variante der polnischen Sprache, obwohl die Region seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr mit dem polnischen Staat verbunden war. Auch hatten polnischsprachige Bewohner nicht immer eine polnische nationale Identität – im Gegenteil, sie betrachteten sich oft als „polnischsprachige Preußen“. Das Land war alles andere als ein national homogenes „urpolnisches“ oder „urdeutsches“ Gebiet. Aber hätten die politischen Eliten der Republik Polen Oberschlesien auch so intensiv umworben, wenn in seinem östlichen Teil kein so bedeutendes Industriegebiet, der wichtigste Industrieraum des „deutschen Ostens“, pulsiert hätte? Für Frankreich war klar, dass der neue polnische Staat ohne dieses Gebiet vor allem landwirtschaftlich geprägt bleiben würde, wenig urbanisiert und industrialisiert, groß, aber kaum konkurrenzfähig mit dem Deutschen Reich, belastet mit der Hypothek des Ersten Weltkriegs – der kolossalen Zerstörung der Infrastruktur. Polen mit Oberschlesien bedeutete eine neue Qualität. Die Rollen wurden also neu verteilt: Frankreich drängte darauf, die Übergabe Oberschlesiens an Polen im Friedensvertrag zu verankern. Bereits im Februar 1919 gelang es, die Abtretung von Großpolen und Pommern (ohne Danzig) durch Deutschland durchzusetzen. Der Regierungsbezirk Oppeln sollte eine weitere Eroberung werden. Als dieses polnisch-französische Konzept über das Schicksal des oberschlesischen Gebietes Ende März 1919 jedoch in die Beratungen des Viererrates einging, wurde deutlich, dass weder der amerikanische Präsident noch der britische Premierminister zustimmen würden. Ebenso heftig diskutiert wurde damals die Frage der deutschen Westgrenzen, also der Staatszugehörigkeit der deutschen Gebiete auf dem linken Rheinufer. Diese zwei Themen wurden sozusagen parallel behandelt, und in beiden Bereichen schoben die Angelsachsen der Vision der Franzosen einen Riegel vor. Aus dem Dissens ging ein Kompromiss hervor. Als den Deutschen am 7. Mai 1919 im Hotel Trianon Palace – in dem ein halbes Jahrhundert zuvor die Gründung des Deutschen Reiches verkündet worden war – die Friedensvorbereitungen vorgelegt wurden, sahen diese noch die bedingungslose Abtretung des größten Teils von Preußisch-Oberschlesien an Polen vor. Der Schock, die Ungläubigkeit und später die allgemeine Empörung der Deutschen galten auch dieser Frage: Gegenstand eines deutsch-polnischen Streits konnte für die Deutschen allenfalls die Posener Provinz sein, Oberschlesien aber galt allgemein als unbestreitbar deutsch.
Einleitung
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Auch die Briten und Amerikaner suchten nach einem Mittelweg, angeregt von einem Mitglied der britischen Delegation, James Wycliff Headlam-Morley, der vorschlug, die vox populi – die Stimme der oberschlesischen Gesellschaft selbst – für eine Entscheidung über die Nationalität der Region heranzuziehen. Diese Idee gipfelte in ein Plebiszit, eine Volksabstimmung – als relativ innovative, demokratische Form der Entscheidung über die territoriale Zugehörigkeit eines bestimmten Areals. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um das einzige Plebiszit im polnisch-deutschen Grenzgebiet gehandelt hat – ein zweites war bereits zuvor in Ost- und Westpreußen angeordnet worden. Mit diesem Vorschlag hofften die Briten, die deutsche Verärgerung abmildern zu können. Plebiszite waren im Grunde genommen keine neue Form der Streitschlichtung, aber sie hatten eine starke demokratische Legitimation, die gänzlich dem damaligen Zeitgeist entsprach, im Moment einer beschleunigten Demokratisierung Europas. Bereits zur Zeit der Französischen Revolution, Ende des 18. Jahrhunderts, hatten die republikanischen Regierungen versucht, die Annexion bestimmter Gebiete, die Frankreich einverleibt worden waren, wie Avignon, Brüssel oder Nizza, mit Hilfe von Volksabstimmungen zu legalisieren. Einige Jahrzehnte später, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde der plebiszitäre Mechanismus bei der Vereinigung Italiens eingesetzt. Gleichzeitig war geplant, über die Staatlichkeit Schleswigs abzustimmen, was damals zunächst nicht geschah, wenngleich die Idee nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgegriffen wurde. Damals wurden den Plebisziten Tür und Tor geöffnet – neben Schleswig, Ost- und Westpreußen sowie Oberschlesien wurden auch in Kärnten und Sopron derartige Volksabstimmungen angeordnet. Für das Teschener Schlesien war dies ebenfalls geplant, kam aber letztlich nicht zustande, und auch für Elsass und Lothringen wurde über ein Plebiszit diskutiert, allerdings nur auf deutscher Seite. Die Idee von Headlam-Morley wurde von Lloyd George aufgegriffen, dann mit einigem Zögern von Woodrow Wilson akzeptiert und schließlich auch vom französischen Premierminister Georges Clemenceau gebilligt, der jedoch bis zum Schluss immer wieder betonte, dass „ihm das Plebiszit nicht gefiel“. Unter diesen Umständen entstand die Idee einer Volksabstimmung in Oberschlesien, später im Artikel 88 des Versailler Vertrages verankert, der am 28. Juni 1919 von Deutschland unterzeichnet und mehr als ein halbes Jahr später ratifiziert wurde: „In dem Teile Oberschlesiens, der innerhalb der nachstehend beschriebenen Grenzen gelegen ist, werden die Einwohner berufen, im Wege der Abstimmung kundzutun, ob sie mit Deutschland oder Polen vereinigt zu werden wünschen“. Sechs Anhänge zum Artikel 88 regelten die Durchführung des Plebiszits im Detail.
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Einleitung
Es dauerte 21 Monate, um vom Wortlaut des Gesetzes zur Umsetzung zu gelangen. Am 20. März 1921 fand in dem von den Alliierten kontrollierten oberschlesischen Abstimmungsgebiet ein Plebiszit statt, das man getrost als eines der wichtigsten Ereignisse in der gesamten Geschichte Oberschlesiens bezeichnen kann. Der eigentliche Akt des Abstimmens dauerte nur zwölf Stunden; vollzogen in mehreren tausend Wahllokalen in 1.573 Gemeinden; 1.190.637 Menschen stimmten ab; die Wahlbeteiligung lag entsprechend bei 97,5 %. Das Ergebnis – 59,4 % für Deutschland, 40,3 % für Polen – stellte niemanden zufrieden. Für die Deutschen war der hohe Anteil polnischer Stimmen ein Schock; die Polen konnten die Niederlage nicht akzeptieren. Gemäß den Vertragsbestimmungen wurde der Weg für die Teilung der Region geebnet – und zwar am 20. Oktober 1921. Der Botschafterrat billigte die von einer Sonderkommission des Völkerbundes vorgeschlagene Grenzlinie, die Oberschlesien in die polnische Wojewodschaft Schlesien und die deutsche Provinz Oberschlesien aufteilte. Polen erhielt den größten Teil des Industriegebietes. Auf diese Weise wurden die Erwartungen Frankreichs und der Republik Polen zumindest teilweise, wenn auch nicht vollständig, erfüllt. Was auf deutscher Seite blieb, waren Verzagtheit und Grenzrevisionismus, der immer noch aufrechterhalten wurde, sowie Zehntausende von frustrierten Flüchtlingen aus dem polnischen Teil der Region, die unter tragischen Bedingungen in provisorischen Baracken vor sich hinvegetierten und von dem Wunsch beseelt waren, sich für den Verlust ihrer Heimat zu rächen. Diese trockenen Fakten vermitteln nicht die Dramatik der Situation in Oberschlesien in jenen entscheidenden Jahren zwischen 1918 und 1922, einer Zeit des polnisch-deutschen Konflikts, der nicht nur „kalt“, diplomatisch, sondern auch „heiß“, von politischer Gewalt und ungezügelter Plebiszitpropaganda geführt wurde. Hatte es zuvor in der Region einen Nationalitätenstreit zwischen der „herrschenden Schicht“, also den Deutschen und deutschfreundlichen einheimischen Oberschlesiern auf der einen Seite und den seit Anfang des 20. Jahrhunderts erstarkenden Anhängern der polnischen nationalen Emanzipationsbewegung auf der anderen Seite gegeben, so entwickelte sich diese Auseinandersetzung durch die Ereignisse der Nachkriegsjahre nun zu einem ausgewachsenen Krieg, teils zwar symbolisch, aber angesichts der Kämpfe während der schlesischen Aufstände durchaus auch real. Die Brutalität des Zusammenstoßes riss für viele Jahre eine Kluft zwischen die deutschgesinnten und propolnischen Oberschlesier auf. Sie wurde darüber hinaus zu einer der Ausdrucksformen der deutsch-polnischen Feindschaft, die die Zwischenkriegszeit und die folgenden Jahrzehnte geprägt hat und bis heute gelegentlich wiederkehrt. Eine Feindseligkeit, die ihren tragischen Höhepunkt in der deutschen Aggression gegen Polen am 1. September 1939 gefunden hat.
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Einleitung
*** Der hundertste Jahrestag der oberschlesischen Volksabstimmung ist eine gute Gelegenheit, diese Zeit noch einmal zu betrachten. Sie gemeinsam zu betrachten – nämlich mit den Augen polnischer und deutscher (zum Teil oberschlesischer) Historiker, ohne jedoch eine breitere europäische Perspektive aus den Augen zu verlieren. Die Volksabstimmung selbst, aber auch die deutsch-polnische Auseinandersetzung um Oberschlesien in ihrem Kontext, ist ein zu umfangreiches und vielschichtiges Thema, um es ausschließlich der nationalen Geschichtsschreibung zu überlassen, und in dieser Form hat sich die Forschung bisher auch weitgehend entwickelt. Zwar griffen Historiker verschiedener Nationalitäten zu Studien von der anderen Seite der „Barrikaden“ und durchbrachen die Klischees ihrer eigenen Narrative, insbesondere nach dem politischen Durchbruch von 1989, dennoch aber dominierte die nationale Perspektive. Auch die Erinnerungskultur blieb eine Geisel einseitiger nationaler Positionen, während Parolen auf Feiern, Jahrestagen, Gedenktafeln, Denkmalen, bei Schul- und Platzbenennungen (in Polen natürlich im großen Stil, in Deutschland in bescheidenerem, verschwindend geringem Maß) direkt aus der Volksabstimmungskampagne 1920/1921 übernommen wurden. Die seinerzeit geprägten Begriffe, Parolen, Klischees und Stereotype erwiesen sich als bemerkenswert langlebig und halten sich teilweise bis heute. Gegenwärtig wird jedoch fast nur in Oberschlesien, das sich auf die beiden Wojewodschaften Oppeln und Schlesien verteilt, an die Zeit der schlesischen Aufstände und der Volksabstimmung erinnert. Dabei werden auch die darum entstandenen Mythen tradiert. In Deutschland hingegen ist das Thema fast vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Und doch verdient das oberschlesische Problem nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem das Plebiszit nicht nur in Polen, und auch nicht nur in Deutschland, erinnert und erforscht zu werden. Denn Oberschlesien war von 1918 bis 1922 ein europäisches Labor für die Lösung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und ein Versuch, Wilsons Idee der Selbstbestimmung von Gesellschaften zu verwirklichen. Es war zudem ein Raum, in dem die Interessen der Großmächte aufeinandertrafen, ebenso wie diejenigen der besiegten Ex-Macht Deutschland und eines aufstrebenden Staates Mittel- und Osteuropas, Polen. Sowohl die Volksabstimmung als auch die damit einhergehenden Exzesse politischer Gewalt – die Pazifizierungen durch den Grenzschutz, die kriegsähnlichen Operationen der polnischen Aufständischen – führen uns direkt zu den Dramen und Dilemmata der Zwischenkriegszeit. Auch in Oberschlesien, in dessen Nachkriegsschicksal, liegen die Keime für einen künftigen Weltkrieg.
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Einleitung
Über die Zeit von 1918 bis 1922 in Oberschlesien gibt es umfangreiche Literatur.1 In quantitativer Hinsicht dominieren die polnischen Studien, deren Zahl seit den 1960er Jahren explosionsartig angestiegen ist und nach einem kurzzeitigen Rückgang um 1989 bis heute weiter zunimmt. Das Gegenteil gilt für die deutschen Studien, die weit weniger zahlreich sind und deren Tendenz seit Jahren rückläufig ist.2 Beide Stränge der Geschichtsschreibung waren nie frei von politischen Verstrickungen. Im kommunistischen Polen mussten die meisten Werke mit dem obligatorischen, staatlich verordneten Diskurs der Apotheose der Aufstände rechnen, der ein stark antideutsches Stigma trug. In Deutschland wurden viele besonders popularisierende Studien von nationalistischen landsmannschaftlichen Narrativen beeinflusst. Doch trotz dieser Hindernisse entstanden zahlreiche wertvolle Arbeiten, paradoxerweise jedoch nie eine seriöse und vielschichtige Monographie über die oberschlesische Volksabstimmung.3 Zwar ist das Thema in jedem Werk über die Nachkriegsjahre präsent, ein spezielles Werk über die Volksabstimmung, das versucht, die verschiedenen nationalen Perspektiven im Einklang mit der Idee der Forschungsneutralität zu berücksichtigen, ist bisher allerdings nicht verfasst worden. Daher haben die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes die Idee entwickelt, eine internationale Konferenz zu organisieren, um die oberschlesische Volksabstimmung so zu diskutieren, dass möglichst viele Kontexte einbezogen und dargestellt, unterschiedliche Perspektiven und Forschungsansätze nebeneinandergestellt und die bisherigen Grenzen enger wissenschaftlicher Kreise überschritten werden. Die Konferenz fand am 11. und 12. Juni 2021 im Oberschlesischen Landesmuseum der Stiftung Haus Oberschlesien in Ratingen statt, der einzigen Einrichtung in Deutschland, die sich der Pflege der oberschlesischen Erinnerungskultur widmet.4 Die Organisatoren der Veranstaltung haben 1 Einen allgemeinen Überblick bis etwa 2009 erstellte für deutsche Leser Ritter, Rüdiger: Die Geschichtsschreibung über die Abstimmungskämpfe und Volksabstimmung in Oberschlesien (1918–1921). Eine Auswahlbibliographie, Frankfurt am Main u.a. 2009. Es wäre sinnvoll, die Bibliografie um die jüngste und keineswegs zahlreiche Literatur zu diesem Thema zu ergänzen. 2 Vergleiche hierzu die Beiträge von Guido Hitze und Ryszard Kaczmarek in diesem Band. 3 Dies änderte sich in gewissem Maße im Jahr 2022, als Maciej Fic eine Arbeit veröffentlichte, in der er die bisherigen polnischen Forschungsergebnisse zusammenfasste. Der Autor hat die deutsche Forschungsperspektive und deutsche Quellen jedoch nicht berücksichtigt. Vgl. Fic, Maciej: Plebiscyt górnośląski. 20 marca 1921 roku. Najbardziej demokratyczna forma wyboru?, Warszawa 2022. 4 Internationale wissenschaftliche Tagung „Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 ein Jahrhundert danach. Nationale Selbstbestimmung oder geopolitische Machtspiele?“ / Międzynarodowa konferencja naukowa „Plebiscyt górnośląski z 1921 roku sto lat później. Akt
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Institutionen aus Polen und Deutschland, die sich für das kulturelle Erbe der oberschlesischen Region, den internationalen Dialog und die grenzüberschreitende Forschung interessieren, in eine Debatte zwischen Historikern aus verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften und Ländern einbezogen.5 Vorträge wurden von 28 Forschern gehalten, darunter 14 aus Deutschland, 10 aus Polen, je einer aus Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn und dem Vereinigten Königreich. Das vorliegende Buch ist das – leicht redigierte und erweiterte – Ergebnis dieser Konferenz. Die ersten fünf Beiträge befassen sich mit dem Stand der Forschung zum Plebiszit und Fragen der Erinnerungskultur. Die beiden einleitenden Hauptvorträge präsentieren eine deutsche (Dr. Guido Hitze, Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen) und eine polnische (Prof. Ryszard Kaczmarek, Universität Schlesien in Kattowitz und Institut für Regionalforschung der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz) Perspektive auf die Volksabstimmung in Oberschlesien. Aus dieser Doppelstimme ergibt sich das Bild zweier divergierender Diskurse, die parallel verlaufen und sich kaum aufeinander beziehen, im Kontext einer unterschiedlichen Akzentverteilung auf polnischer und deutscher Seite, sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in der Erinnerungskultur. Denn während für die deutsche Seite das zentrale Thema für die Jahre 1918 bis 1922 in der Geschichte Oberschlesiens eben die Volksabstimmung blieb (aus der Deutschland immerhin siegreich hervorging), lag auf polnischer Seite die absolute thematische Dominanz auf den drei Aufständen, die übrigens im polnischen Diskurs als schlesische Aufstände bezeichnet werden, um ihren Volkscharakter zu betonen, während sie im deutschen Narrativ als „polnische Aufstände“ gelten, auch um ihren exogenen Charakter hervorzuheben (nicht als spontaner Aufstand des „oberschlesischen Volkes“, sondern als verdeckte polnische Militäroperation, die von Warschau aus gesteuert wurde). Hitze und Kaczmarek beziehen sich vor allem auf den Forschungsstand, während der Erinnerungskultur rund um das Plebiszit in Polen und Deutschland drei weitere Beiträge von Experten zum Thema aus diesen beiden Ländern gewidmet sind: Dr. Bernard Link (Schlesisches Institut, Oppeln), Dr. Juliane Haubold-Stolle (Stiftung Berliner Mauer, Berlin) und Dr. David Skrabania samostanowienia czy geopolityczna rozgrywka?“, 11./12. Juni 2021 / 11.–12. czerwca 2021 r., Haus Oberschlesien, Bahnhofstraße 71, Ratingen. 5 Die Organisatoren der Konferenz waren: Stiftung Haus Oberschlesien, Oberschlesisches Landesmuseum, Kulturreferat für Oberschlesien, Institut für Nationales Gedenken (Abteilung in Kattowitz), Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Museum in Gleiwitz, Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf.
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(Stiftung Haus Oberschlesien, Ratingen). Die Ergebnisse der Beiträge von Linek und Haubold-Stolle zeigen, dass die Erinnerung an das Plebiszit in beiden Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt ist: die Volksabstimmung im heutigen Oberschlesien (d.h. in Polen) besteht außerhalb des offiziellen Gedächtnisses rund um die Zeit von 1918 bis 1922, während diese Erinnerung in Deutschland kaum mehr existent ist. Skrabania wiederum widmet seinen Text der Erinnerungskultur im Zusammenhang mit der Volksabstimmung in den schlesischen Landsmannschaften in Westdeutschland, in deren Reihen jahrzehntelang das Bild von der ungerechten Teilung der Region nach dem Abstimmungssieg gepflegt wurde. Dieser Mythos war eng mit einem weiteren, stark betonten Unrecht verknüpft – den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Nie hatte das Problem Oberschlesiens einen so internationalen Charakter wie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Blick aus europäischer Perspektive ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte der Volksabstimmung. Ausgangspunkt war die Frage nach „einem überlasteten Frieden und den Aporien der Politik“ – die Frage nach der Selbstbestimmung der Völker im Kontext der in Versailles schmerzhaft geborenen Weltordnung, wie Jörn Leonhard, Professor an der Albrecht-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, in diesem Band schreibt. Zu diesem internationalen Blickpunkt gehören auch Artikel über die Politik Großbritanniens und Frankreichs gegenüber Oberschlesien (Dr. Karsten Eichner, Julius-Liebig-Universität Gießen), die Haltung Italiens zur oberschlesischen Frage (Dr. Evelyne Adenauer, Universität Köln), die Position des Vatikans (Dr. Sascha Hinkel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster) und die Haltung der Tschechoslowakei zur oberschlesischen Volksabstimmung (Dr. Piotr Pałys, Schlesisches Institut, Oppeln). Vor allem in den Beiträgen von Eichner und Adenauer taucht ein wichtiges Element des oberschlesischen Puzzles der Nachkriegszeit wieder auf – die Tatsache, dass das Abstimmungsgebiet von Februar 1920 bis Juli 1922 unter alliierter (britisch-französisch-italienischer) friedlicher Besatzung stand, wobei die oberste Autorität von der Interalliierten Kommission ausgeübt wurde, die über ein starkes Kontingent an Koalitionstruppen verfügte. Dr. Maciej Fic von der Schlesischen Universität in Kattowitz und Dr. Benjamin Conrad von der Humboldt-Universität in Berlin befassen sich jeweils mit der Politik Warschaus und Berlins in Bezug auf das Plebiszit. Es sei vorweggenommen, dass die internationale Dimension der oberschlesischen Frage auch in einigen Artikeln am Ende des Buches wiederauftauchen wird, die Fallstudien von Regionen darstellen, in denen nach dem Ersten Weltkrieg Volksabstimmungen durchgeführt wurden oder zumindest geplant waren. Die entsprechenden Artikel befassen sich
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nicht mit Oberschlesien, beleuchten aber mittels anderer europäischer Abstimmungsgebiete Hintergründe für die Entstehung der Nachkriegsordnung und die Anwendung des Abstimmungsmechanismus. Es handelt sich um Texte von Dr. Wilhelm Wadl, pensionierter Direktor des Kärntner Landesarchivs in Österreich (über Kärnten), Dr. Áron Máthe, Direktor des Komitees des Nationalen Gedenkens in Budapest in Ungarn (über Sopron), Florian Paprotny vom Haus Schlesien in Königswinter (über Ost- und Westpreußen), Prof. Grażyna Szęlągowska von der Universität Warschau (über Schleswig), und Bartholomäus Fujak vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund (über Teschener Schlesien). Dazu gehört auch eine Skizze von Dr. Jiří Neminář aus dem Museum in Hultschin in der Tschechischen Republik über den Teil des Regierungsbezirks Oppeln, der bereits 1920 ohne Plebiszit an die Tschechoslowakei angeschlossen wurde – das Hultschiner Ländchen. Im nächsten Teil des Bandes verlagert sich der Fokus von der diplomatischen und internationalen Ebene direkt auf Oberschlesien. Dr. James Bjork vom Kings College in London erörtert die Frage der nicht einfach zu greifenden Identität der einheimischen, autochthonen oberschlesischen Bevölkerung, einer Gemeinschaft, die für die Volksabstimmung von entscheidender Bedeutung gewesen ist. In einer weiteren Skizze analysiert Zbigniew Gołasz (Museum in Gleiwitz) die Hilfe für die polnischen Kreise in Oberschlesien, die vom Gebiet der Republik Polen aus organisiert wurde. Der Beitrag von Dr. Lutz Budraß (Ruhr-Universität Bochum) befasst sich mit der deutschen Unterstützung des Plebiszitkampfes am Beispiel der westfälischen Stadt Bottrop. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Text von Dr. Andrzej Michalczyk (Ruhr-Universität Bochum), der auf einen der wichtigsten Aspekte der Volksabstimmung eingeht – nämlich die Teilnahme von rund 191.000 sogenannten „Emigranten“, vor allem aus Westfalen, an der Abstimmung. Der nächste Block von Texten befasst sich mit den Mechanismen der Volksabstimmungskampagne sowie deren offenen und geheimen Instrumenten. Dr. Mirosław Węcki (Schlesische Universität in Kattowitz/ Institut für Nationales Gedenken in Kattowitz) stellt die Funktionsweise des Polnischen Plebiszitkommissariats vor, das die Hauptverantwortung für die polnische Plebiszitkampagne getragen hat, darüber hinaus aber noch viel mehr war – es spielte nämlich die Rolle einer Art Verwaltungszentrum, strukturiert und zentralisiert wie eine Regierung, als Keimzelle der zukünftigen Provinzverwaltung. Dr. Guido Hitze erörtert seinerseits den deutschen Fall, in dem es im Gegensatz zur polnischen Seite keine Zentralisierung gab und in dem die vom polnischen Kommissariat wahrgenommenen Aufgaben auf mehrere separate Strukturen verteilt waren – das Plebiszitkommissariat für Deutschland, den Schlesischen Ausschuss, die Verbände Heimattreuer
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Oberschlesier, Karl Spieckers Kommissariat für öffentliche Ordnung und andere. Der Kampf um das Plebiszit – ein Krieg der Bilder und Worte – fand vor dem Hintergrund tatsächlicher politischer Gewalt statt, weshalb die paramilitärischen Untergrundorganisationen, die auf beiden Seiten aktiv waren, von so gewichtiger Bedeutung waren. Die polnischen Strukturen werden von Dr. Grzegorz Bębnik (Institut für Nationales Gedenken in Kattowitz) und die deutschen von Matthias Lempart (Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen) erläutert. Eine Art „Experimentierfeld“ des Plebiszits behandelt der nächste Text von Dr. Sebastian Rosenbaum (Institut für Nationales Gedenken in Kattowitz), der sich mit der diesbezüglichen Propagandakampagne befasst. Die Agitation, die vor keinem Mittel zurückschreckte, verstärkte die gegenseitige Feindschaft zwischen polnischen und deutschen Oberschlesiern. Sie umfasste ein Repertoire plumper Klischees und nationaler Mythen, und zielte darauf ab, Stimmen zu fangen, indem der Gegner gnadenlos desavouiert wurde. Das vorletzte Kapitel des Buches ist den verwaltungstechnischen Normen für die Durchführung des Plebiszits gewidmet (verfasst von Dr. Jakub Grudniewski, Schlesische Universität in Kattowitz). Die Rahmenbedingungen der Volksabstimmung waren Gegenstand zahlreicher Streitigkeiten, von denen die vielleicht wichtigste die Beteiligung der Emigranten betraf. Die Situation in Oberschlesien am Tag der Abstimmung wird von Marek Jurkowski und Benjamin Czapla (beide Schlesische Universität, Kattowitz) erörtert. Und Dawid Smolorz (Publizist aus Gleiwitz) gibt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ihrer Interpretationen. Die vollständigen Abstimmungsergebnisse können im Downloadbereich auf der Internetseite des Oberschlesischen Landesmuseums (www.oberschlesisches-landesmuseum.de) heruntergeladen werden. Schließlich beschreibt Dr. Sebastian Rosenbaum die Situation in der Region in den Tagen nach dem Plebiszit, die polnischen und deutschen Reaktionen auf die Abstimmungsergebnisse, deren Interpretationen sowie einen kurzen Ausbruch von politischer Gewalt. Sein Beitrag schließt den Block der dem oberschlesischen Plebiszit gewidmeten Texte ab, während der Band insgesamt mit den bereits erwähnten Fallstudien über andere europäische Abstimmungsgebiete jener Zeit schließt. Dieses Buch kann als Schritt Richtung einer Monographie über die oberschlesische Volksabstimmung gesehen werden. Es fasst die bisherige Forschung zusammen, stellt verschiedene Perspektiven daraus einander gegenüber und schafft vor allem eine Plattform für den Dialog zwischen Forschern aus verschiedenen Ländern und wissenschaftlichen Zentren. Die enthaltenen Beiträge zeigen, welche Ausrichtung die weitere Forschung haben sollte. Es ist wichtig, die Frage der internationalen Reflexion des Plebiszits zu vertiefen, die
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in den nationalen Historiographien geschaffenen Geschichtsmythen zu überprüfen, Archiv- und Pressequellen nebeneinander zu stellen und stärker auf vergleichende Mechanismen zurückzugreifen. Dieses Werk ist auch der erste umfassende Versuch auf deutschem Gebiet, die oberschlesische Volksabstimmung zu beschreiben – als etwas in Vergessenheit geratenes Element der dramatischen Gestaltung der geopolitischen Ordnung von Versailles in Deutschland. Trotz seiner edlen Absichten erscheint die Volksabstimmung aus heutiger Sicht nicht nur als Lösung der Nachkriegsherausforderungen und Befriedigung geopolitischer Interessen, sondern auch als Verursacher neuer Probleme, der in der deutschen (und oberschlesischen) Gesellschaft starke Frustration und Ressentiments hervorgerufen hat, deren scheinbare Heilung nur gut ein Jahrzehnt später zur Domäne gefährlicher politischer Gaukler werden sollte. Viele Fragen zur Volksabstimmung sind nach wie vor unbeantwortet, aber es bleibt zu hoffen, dass es in den kommenden Jahren gelingen wird, dieses Desiderat zu beheben und dieses überaus wichtige Thema interdisziplinär und transnational weiter zu erforschen. Sebastian Rosenbaum David Skrabania
TEIL I Einführung: Forschungsstand und Erinnerung
Die deutsche Perspektive auf die Volksabstimmung in Oberschlesien Guido Hitze Einen guten Überblick über die Haltung von Staat, Politik, Militär und Gesellschaft in Deutschland zur oberschlesischen Frage nach dem Ersten Weltkrieg, also zu den einschlägigen Bestimmungen des Versailler Vertrages, zur interalliierten Besetzung des Abstimmungsgebietes, zu den beiden Polnischen Aufständen vor der Abstimmung, zum eigentlichen Plebiszit und insbesondere zum Dritten Polnischen Aufstand,1 bieten einerseits zeitgenössische publizistische und private Berichte, Kommentare und Erinnerungen sowie andererseits natürlich offizielle amtliche Stellungnahmen, Analysen, Noten, Parlamentaria etc. Höchst aufschlussreich sind darüber hinaus frühe historiographische Einordnungen und Bewertungen aus den Jahren vor und nach 1945 sowie die deutsche Historiographie nach 1989. Politik wie Öffentlichkeit in Deutschland wurden im Frühjahr 1919 von den Oberschlesien betreffenden Artikeln des Versailler Vertrages vollkommen überrascht, da Oberschlesien kein preußisches Teilungsgebiet war und nach deutscher Lesart dort auch keine „Nationalpolen“ lebten. Man ging also wie selbstverständlich davon aus, dass Oberschlesien – im Unterschied etwa zur Provinz Posen – von Polen nicht beansprucht bzw. sicher beim Deutschen Reich verbleiben würde. Der letztendliche Tausch der mehr oder weniger vollständigen Abtretung des Regierungsbezirks Oppeln gegen eine hier angesetzte Volksabstimmung wurde von deutscher Seite als Ergebnis der eigenen diplomatischen Bemühungen in Paris und vor allem der deutschen Massenproteste gegen die „Vergewaltigung Oberschlesiens“ überbewertet. In Wirklichkeit lagen dieser einzigen nennenswerten Modifikation des ursprünglichen Vertragsentwurfes jedoch die immer deutlicher werdenden Interessengegensätze der Siegermächte zugrunde.2 Die polnischen Ansprüche auf Oberschlesien galten allgemein als unbe gründeter und illegitimer Versuch des Raubes von „urdeutschem“ Land bei gleichzeitiger gezielter Schwächung des Deutschen Reiches unter Ausnutzung 1 Hierzu grundlegend auch Kuropka, Joachim: Die oberschlesischen Aufstände in der Bewertung der letzten 75 Jahre aus deutscher Sicht, in: Via Silesia 3 (1996), S. 184–197. 2 Vgl. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 209f.
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der Nachkriegsverhältnisse. Der Erhalt Oberschlesiens bei Deutschland wurde daher als Akt legitimer nationaler Verteidigung betrachtet, und zwar über alle politischen und sozialen Lager und Parteien hinweg – mit Ausnahme der äußersten Linken, die in der Erwartung einer proletarischen Weltrevolution ganz auf den Internationalismus setzte.3 Oberschlesien avancierte in Deutschland zu einem propagandistischen Symbol für das „Unrecht von Versailles“, wobei Polen weniger als eigenständiger Gegner, sondern vielmehr als Verbündeter oder gar Werkzeug Frankreichs wahrgenommen wurde. Für Politik und Öffentlichkeit in Deutschland stellten die ersten beiden Polnischen Aufstände im August 19194 bzw. 19205 weniger Auflehnungen dar als vielmehr Putschversuche, im ersteren Fall auch noch kommunistisch motiviert. Gerade der Zweite Polnische Aufstand belastete das Verhältnis zu den Alliierten, speziell zu Frankreich, unternahm die französisch dominierte Interalliierte Kommission (IK) doch in den deutschen Augen nichts bzw. viel zu wenig, um das militärische Vorgehen der Polen zu beenden. Die Deutschen sahen sich mit einem machtvollen polnisch-französischen Bündnis konfrontiert, während sich das Verhältnis zu den Italienern und vor allem den Briten kontinuierlich entspannte.6 Dadurch wurde die Entente immerhin nicht länger als monolithischer Block der Feinde aus der Zeit des Weltkriegs wahrgenommen, aber Frankreich dafür um so entschiedener jeglicher Wille zur Unparteilichkeit abgesprochen. Das Abstimmungsergebnis vom 20. März 1921 mit seinen rund 60 Prozent für die deutsche Option interpretierten Reichsregierung und öffentliche Meinung als eindeutigen und unzweifelhaften deutschen Sieg. Daraus wurde in fahrlässiger, mitunter auch bewusster Fehlinterpretation des Art. 88 des Versailler Vertrages der Anspruch auf den ungeteilten Verbleib ganz Oberschlesiens beim Deutschen Reich abgeleitet. Man war wegen der offenkundigen Rolle des Anwalts der Deutschen, die Großbritannien inzwischen eingenommen hatte, einigermaßen optimistisch hinsichtlich einer für Deutschland günstigen Lösung der Grenzfrage, rechnete jedoch gleichzeitig mit polnischen Gegenmaßnahmen.7 Der Ausbruch des Dritten Polnischen Aufstandes Anfang Mai 1921 überraschte die Deutschen daher allenfalls hinsichtlich seines Zeitpunktes. 3 Zur deutschen Politik in und gegenüber dem gefährdeten Oberschlesien in den kritischen Monaten der Jahre 1918/19 auch Meinhardt, Günther: Oberschlesien 1918/19. Die Maßnahmen der Reichsregierung, Behörden und Gewerkschaften zur Sicherung Oberschlesiens, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 16 (1971), S. 215–231. 4 Hitze: Ulitzka, S. 228–232. 5 Zu Vorgeschichte, Verlauf und Folgen ebenda, S. 298–314. 6 Vgl. ebenda, S. 318–321 bzw. 343f. 7 Zum Ausgang des Plebiszits und seinen Interpretationen ebenda, S. 363–376.
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Wiederholt hatte man die IK vor einer solchen Möglichkeit gewarnt. Während Polen in der Presse und auf Kundgebungen der Aggression gegenüber dem deutschen Oberschlesien beschuldigt wurde, sprachen offizielle Stellen eher von einem französisch-polnischen Bündnis gegen Völkerrecht und Versailler Vertrag.8 In dieser Einschätzung sowie der Mutmaßung, der Aufstand diene vor allem Frankreich als Legitimation für die angestrebte Besetzung des Ruhrgebiets, ergeben sich vielfache Übereinstimmungen zwischen deutschen, britischen und italienischen Quellen.9 Während der Kampfhandlungen bemühte sich die deutsche Seite, die Brutalität und Skrupellosigkeit der polnischen Insurgenten, ihre militärische und logistische Unterstützung durch Polen sowie die polnisch-französische Komplizenschaft durch zahlreiche Weißbücher und Denkschriften zu beweisen, gefüllt mit Dokumenten, Fotos und Zeugenaussagen, die vor allem eines unterstreichen sollten: Die Rolle Deutschlands als unschuldiges Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffs. Deutsche Gewalttaten gegenüber Gefangenen oder der Zivilbevölkerung, vor allem begangen durch die Freikorps, wurden dagegen nicht thematisiert bzw. bewusst verschwiegen.10 Die demokratische Reichsregierung unterstützte die Freikorps, entgegen offizieller Dementis, nach Kräften, wohlwissend um die antirepublikanische, völkisch-nationalistische und antisemitische Einstellung dieser paramili tärischen Verbände.11 Sie sah aber keine andere Möglichkeit, da andernfalls ein Krieg mit Frankreich oder aber – im Falle einer erzwungenen, wehrlosen 8 9
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Zu den Hintergründen des Dritten Aufstandes ebenda, S. 377–392. Vgl. ebd. S. 390 sowie Bertram-Libal, Gisela: Die britische Politik in der Oberschlesienfrage, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 105–132. Zu den britischen und italienischen Akten insgesamt Eichner, Karsten: Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien 1920–1922. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten, St. Katharinen 2002 bzw. Kiesewetter, Andreas (Hg.): Dokumente zur italienischen Politik in der oberschlesischen Frage 1919–1921, Würzburg 2001. Vgl. u.a. Zusammenstellung von Protokollen und Berichten über den dritten polnischen Aufstand im oberschlesischen Abstimmungsgebiet (Beginn am 3. Mai 1921) o.O. o.J.; Denkschrift der deutschen Parteien und Gewerkschaften Oberschlesiens über den polnischen Aufstand umfassend den Zeitraum vom 1. Mai 1921 bis 12. Juni 1921 o.O. o.J.; Der dritte Aufstand in Oberschlesien Mai/Juni 1921 o.O. o.J.; Katsch, Hermann: Der oberschlesische Selbstschutz im dritten Polenaufstande, Berlin/Leipzig 1921; Schuster, Wilhelm (Hg.): Ein vergewaltigtes Volk. Der polnische Maiaufstand 1921 in Oberschlesien. Berichte von Augenzeugen unter Benutzung noch unveröffentlichter amtlicher Dokumente, Gleiwitz 1922; Okonsky, Karl: Die Belagerung von Kattowitz im dritten Polen-Aufstand 1921, Hindenburg 1925. Vgl. Küppers, Heinrich: Joseph Wirth. Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik, Stuttgart 1997, S. 145 sowie Hörster-Philipps, Ulrike: Joseph Wirth (1879–1956). Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 1998, S. 141.
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Abtretung Oberschlesiens an Polen – innere Unruhen, ein Bürgerkrieg und der Sturz der Republik drohten.12 Die Entscheidung des Völkerbundrates in Genf über die Teilung Oberschlesiens von Oktober 1921 wurde nach den langen und blutigen Kämpfen nicht als fairer Schiedsspruch, sondern parteiübergreifend als Fortsetzung des „Versailler Diktats“ empfunden, dem man sich nur unter Gewaltandrohung zu beugen bereit war. Das Diktum des oberschlesischen Zentrumsabgeordneten Carl Ulitzka vom 30. Mai 1922 im Reichstag, „die in Genf getroffene Entscheidung über Oberschlesien ist und bleibt juristisch ein Rechtsbruch, politisch eine Torheit und wirtschaftlich ein Verbrechen“13, war nicht nur Konsens unter den ansonsten heillos zerstrittenen Reichstagsfraktionen, sondern auch Ausgangspunkt wie Begründung für die deutsche Revisionspolitik im Osten. So geschlossen die deutsche Seite öffentlich und gegenüber der deutschen Gesellschaft in der oberschlesischen Frage auch agierte und agitierte, so zerrissen gestalteten sich in Wahrheit die internen Verhältnisse. Die deutschen Verwaltungsakten dokumentieren nicht nur ein frappierendes Durchund Gegeneinander der beteiligten Stellen, das keineswegs allein von einer gewissen Überbürokratisierung herrührte, sondern auch von unüberbrückbaren ideologischen Gegensätzen innerhalb der verantwortlichen Instanzen und Verbände.14 Nach der Teilung Oberschlesiens zerbrach die intern schon länger mehr als brüchige politische Einigkeit der Deutschen in der oberschlesischen Frage auch ganz offiziell. Die Rechtsparteien, vor allem die Deutschnationalen, hielten den Parteien der Weimarer Koalition eine zu nachgiebige Politik gegenüber Frankreich, eine leichtfertige Preisgabe deutschen Territoriums und vor allem dem Zentrum eine unangebrachte „Polenfreundlichkeit“ vor. Speziell das Zentrum samt seinem oberschlesischen Vorsitzenden Ulitzka wurde beschuldigt, den vorstürmenden Selbstschutz- und Freikorpseinheiten nach dem Sieg am Annaberg mit unpatriotischem Pazifismus in den Rücken gefallen zu sein und Vaterlandsverrat begangen zu haben.15 Es entstand eine zweite „Dolchstoßlegende“. Von DNVP, Liberalen und auch SPD hieß es gegenüber dem Zentrum unter Verweis auf die Autonomiebestrebungen der Jahre 1919 bis 1922 zudem,
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Küppers: Wirth, S. 100. Zitat bei Hitze: Ulitzka, S. 480. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Hitze, Guido: Deutsche Strukturen im Rahmen des oberschlesischen Abstimmungskampfes. Hitze: Ulitzka, S. 430.
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dieses habe die Lage in Oberschlesien ausgenutzt, um eine eigene „klerikale“ Provinz zu errichten.16 Publizistisch wurden die Ereignisse in Oberschlesien von den Zeitgenossen vorwiegend in Form von persönlichen bzw. lokalen Rückblicken (v.a. zum 5. und 10. Jahrestag des Plebiszits), insbesondere aber autobiographischen bzw. hagiographischen (Selbst-)Verherrlichungen gerade des Selbstschutzes und der Freikorps thematisiert.17 Das Bild der Deutschen von Oberschlesien erhielt hierdurch eine ganz spezielle und durchaus nachhaltige Prägung. Die Legenden um die Freikorps (Schlageter-Kult!)18 popularisierten außerdem den aufkommenden Nationalsozialismus zusätzlich und dienten nicht nur der Überhöhung des „nationalen Kampfes“, sondern auch der rassistischen Stilisierung des Konflikts um Oberschlesien als Ausdruck des „ewigen Ringens zwischen Germanen- und Slawentum“. Wissenschaftlich seriöse historiographische Arbeiten zum Thema fehlten bis 1945 völlig; eine Ausnahme bildete die allerdings politik- und sozialwissenschaftlich angelegte Dissertation des Medienwissenschaftlers und späteren CDU-Politikers Rudolf Vogel aus dem Jahr 1931, die vor allem die soziokulturellen und ökonomischen Hintergründe bzw. Aspekte der oberschlesischen Frage beleuchtet.19 Nach 1945 wurde die Erinnerung an das Plebiszit und die Aufstände in Oberschlesien nahezu vollkommen vom Problem der Vertreibung und des Totalverlustes der deutschen Ostgebiete überlagert.20 Wissenschaftliche Arbeiten entstanden zwar in den folgenden Jahren bzw. Jahrzehnten, jedoch fast ausschließlich von Autoren mit eigenem Vertreibungshintergrund bzw. in Verbindung mit den Landsmannschaften und Vertriebenenverbänden. 16 17
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Vgl. Ilges, F. Walther: Hochverrat von Zentrum und Bayerischer Volkspartei 1918–1933. Die geplante Aufteilung Deutschlands, 3. Aufl. o.O. 1933. Bspw. von Hülsen, Bernhard: Der Kampf um Oberschlesien. Oberschlesien und sein Selbstschutz, Stuttgart 1922; Hoefer, Karl: Oberschlesien in der Aufstandszeit 1918–1921. Erinnerungen und Dokumente, Berlin 1938; Schricker, Rudolf: Blut, Erz, Kohle. Der Kampf um Oberschlesien, Berlin o.J. Zu dem 1923 auf der Golzheimer Heide in Düsseldorf von den Franzosen im Zuge des Ruhrkampfes exekutierten Freikorpsangehörigen und Nationalsozialisten Albert Leo Schlageter siehe u.a.: Zwicker, Stefan: Albert Leo Schlageter – eine Symbolfigur des deutschen Nationalismus zwischen den Weltkriegen, in: Linek, Bernhard/Struve, Kai (Hg.): Nationalismus und nationale Identität in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Opole/Marburg (Lahn) 2000, S. 199–213. Vogel, Rudolf: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Leipzig 1931. Bspw. Borngräber, Joachim: Schlesien. Ein Überblick über seine Geschichte. Bad Reichenhall o.J. (1956); Opitz, Michael: Schlesien bleibt unser. Deutschlands Kampf um Oberschlesien 1919–1921, Kiel 1985.
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Charakteristisch für diese ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen21, die weitgehende Ausblendung der internationalen Dimension des Konflikts sowie das Fehlen jeglicher Empathie für den polnischen Standpunkt, begründet unter anderem auch durch die Ausblendung polnischer Primär- und Sekundärquellen sowie die Ignoranz gegenüber Arbeiten aus dem angelsächsischen Raum.22 Diese Eindimensionalität begünstigte eine Sichtweise, die zwar auf (meist deutschen) Quellen beruhte, aber im Grunde lediglich den amtlichen Erkenntnisstand der Jahre 1919 bis 1922 referierte bzw. festigte. Politische Aspekte wurden dabei stark betont, kulturelle, soziologische und ökonomische dagegen vernachlässigt. Obwohl Kristallisationspunkt der internationalen Politik nach dem Ersten Weltkrieg und wesentlicher Faktor für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik23, geriet das Schicksal Oberschlesiens in den Folgejahren aus dem Fokus der deutschen Geschichtswissenschaft, vor allem im Zuge der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Selbst in den Standardwerken zur Weimarer Republik und zur Zwischenkriegszeit in Europa24 bzw. zur deutschen Außenpolitik25 in den Jahren von 1918 bis 1939 kommt die Krise um 21 22
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Recke, Walther: Die historisch-politischen Grundlagen der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922, Marburg 1969. So u.a. auch Fuchs, Konrad: Vom deutschen Krieg zur deutschen Katastrophe (1866–1945), in: Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien, Berlin 1994, S. 553–692; ders.: Politische Geschichte 1918–1945, in: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens. Band 3: Preußisch-Schlesien 1740–1945/Österreichisch-Schlesien 1740–1918/45, Stuttgart 1999, S. 81–104; Menzel, Josef Joachim: Das Ringen um das Selbstbestimmungsrecht für Oberschlesien 1918–1921, in: Jahrbuch der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zu Breslau 17 (1972), S. 275–282; Neubach, Helmut: Die Abstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921, in: Breyer, Richard (Hg.): Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Probleme der Volksabstimmungen im Osten (1918–1922), Bonn 1985, S. 92–129. Andreas Kiesewetter bezeichnet „den Konflikt um den Besitz Oberschlesiens in den Jahren 1919–1921“ als den „neben der Reparationsfrage alles überschattenden Kardinalpunkt der europäischen Außenpolitik … nach dem Ersten Weltkrieg“; Kiesewetter: Dokumente zur italienischen Politik, S. 1. Vgl. u.a. Schulze, Hagen: Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982; Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993; Möller, Horst: Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998; Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Bonn 2008; jüngst noch Rosso, Nadine/Ziemann, Benjamin (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, wo der Konflikt um Oberschlesien keine Erwähnung findet. Vgl. u.a. Krüger, Peter: Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1986.
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Oberschlesien kaum noch vor und wenn doch, dann allenfalls als Fußnote eines regionalen deutsch-polnischen Grenzkonflikts, der schließlich unter alliierter Beteiligung durch den Völkerbund diplomatisch gelöst wurde. Die (Zeit-) Geschichte Schlesiens, Oberschlesiens, ja der gesamten vormaligen deutschen Ostgebiete verschwand zunehmend in einer teils gesellschaftlich bedingten, teils selbstverschuldeten Isolation ostdeutscher Heimatgeschichtsschreibung. Mit der Wende in Osteuropa und der damit verbundenen Neuausrichtung der polnischen Geschichtswissenschaft entstand die Problematik, dass außer einigen wenigen deutschen Osteuropa-Experten bzw. spezialisierten Forschungseinrichtungen so gut wie keine wissenschaftlichen Ansprechpartner auf deutscher Seite zur Verfügung standen. Oberschlesien blieb dadurch eine faktische Leerstelle der deutschen Zeitgeschichte. Daran vermochten auch einzelne Versuche in den zahlenmäßig überschaubaren deutschen Darstellungen, polnische Quellen und Sichtweisen zu antizipieren, kaum etwas zu ändern.26 Hinzu trat eine allmähliche Verlagerung der wissenschaftlichen Beschäftigung von der politischen Geschichte hin zu erinnerungskulturellen und sozialgeschichtlichen Aspekten.27 Die Einbettung der Geschichte Oberschlesiens in eine Gesamtbetrachtung der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt vor diesem Hintergrund bis heute ein Desiderat dar. Anders als auf polnischer Seite ist eine „deutsche Perspektive“ auf die Geschehnisse vor 100 Jahren in Oberschlesien daher heute nicht mehr existent. Dieser Befund kontrastiert auffallend mit der Tatsache, dass das Schicksal Oberschlesiens wenigstens in den unmittelbaren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg für die deutsche Gesellschaft wie auch für die deutsche Politik insgesamt als eine der zentralen und entscheidenden Schicksalsfragen der Nation betrachtet wurde. Zu fragen wäre an dieser Stelle jedoch, ob das Fehlen einer kollektiven deutschen Sichtweise auf Plebiszit und Aufstände in Oberschlesien tatsächlich zu bedauern ist. Zu anachronistisch erscheint das hinter einer solchen Haltung stehende Bestreben, möglichst geschlossene Geschichtsbilder im Sinne einer nationalen Geschichtspolitik prägen und transportieren zu wollen. Wer es mit dem Grundsatz einer multiperspektivischen Historiographie und dem 26
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Karski, Sigmund (unter Mitwirkung von Helmut Neubach): Albert (Wojciech) Korfanty. Eine Biographie, Dülmen 1990; Bahlcke, Joachim: Schlesien und die Schlesier, München 1996; Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2003. Ein Beispiel für diese Tendenz in Bezug auf Oberschlesien ist der Ansatz von HauboldStolle, Juliane: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919–1956, Osnabrück 2008.
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kritischen Ansatz der Dekonstruktion von überkommenen Geschichtsbildern hält, trauert dem Desiderat einer „deutschen Perspektive“ in Sachen Oberschlesien wohl kaum nach. Bedenklich indes scheint es, dass mit dem Wegfall einer solchen historisch-nationalen Sichtweise in Deutschland auch der beinahe vollständige Verlust von historischem Wissen verbunden ist. Ein solches aber bildet die Voraussetzung dafür, die seinerzeitigen epochalen Geschehnisse mit all ihren komplexen Ursachen, Hintergründen und Konsequenzen in den Kontext der Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert einbetten und vor allem einordnen zu können.
Die oberschlesische Volksabstimmung in der polnischen Geschichtsschreibung Ryszard Kaczmarek
Die Zeit der Aufstände und der Volksabstimmung in der polnischen Geschichtsschreibung
In der polnischen Geschichtsschreibung, welche die Ereignisse in Oberschlesien nach 1918 beschreibt, stellte die Volksabstimmung nur eine Episode dar. In der Forschung der polnischen Historiker, die sich vor allem auf die Aufstände in Oberschlesien konzentrierten, nahm sie keinen zentralen Platz ein. Die Antwort auf die Frage, warum dies so war, warum es so wenig Literatur über die Volksabstimmung gibt, ist ganz einfach: Das Gesamtergebnis der Abstimmung fiel für Polen äußerst ungünstig aus. Nur zwei Fünftel der Oberschlesier (40 Prozent) erklärten, dass sie polnische Staatsbürger werden wollten. Dies veranlasste die polnischen Historiker nicht dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die Volksabstimmung zu richten. Die Kampagne für das Plebiszit und die Abstimmung selbst wurden nur als Intermezzo zwischen den ersten beiden Aufständen (in den Jahren 1919–1920) und dem dritten Aufstand von 1921 behandelt. Diese Zweitrangigkeit zeigt sich auch in den historischen Begriffen, die zur Beschreibung dieses historischen Zeitraums verwendet werden. In der polnischen Geschichte gelten die Jahre 1919–1921/22 als Zeit des Kampfes um die Grenzen. Bei der Beschreibung der Ereignisse in Oberschlesien handelt es sich hingegen um „eine Zeit der Aufstände und der Volksabstimmung“, wobei die Betonung auf „Aufstände“ liegt. Aus der Perspektive, dass die Volksabstimmung vom 20. März 1921 für die historischen Prozesse in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg von untergeordneter Bedeutung gewesen ist, verwundert es nicht, dass für die polnische Geschichtsschreibung keine eigenständige, umfassende Monographie über die oberschlesische Volksabstimmung vorliegt. Die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema befassen sich mit den Aufstandskämpfen, von denen die Abstimmung im März nur eines der Ereignisse darstellte.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_003
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Die Volksabstimmung in polnischen historischen Analysen
Dass das Plebiszit in der polnischen Geschichtsforschung einen untergeordneten Platz einnimmt, bedeutet nicht, dass dieses Ereignis überhaupt nicht analysiert wurde. In den 100 Jahren, die seit dem Ereignis vergangen sind, umfasst die Basisbibliografie einzelner Studien, die sich allein mit der Volksabstimmung befassen (ohne Studien über die Plebiszitkampagne), ca. 30 Positionen (ohne Beiträge, Rezensionen und Erwähnungen in umfassenderen Studien über die Geschichte ganz Schlesiens in dieser Zeit).1 Generell lässt sich feststellen, dass das Plebiszit in der polnischen Geschichtsschreibung in vier wiederkehrenden historischen Kontexten erscheint: 1. Der Auswertung der Ergebnisse der Pariser Konferenz von 1919. Dann sind die am häufigsten gestellten Fragen: Warum hat die Pariser Konferenz eine Volksabstimmung beschlossen und wer waren die Urheber dieser Lösung (oder besser gesagt, wer war schuld an diesem Vorschlag, der als ungünstig für den polnischen Staat bewertet wurde)? 2. Der Auswertung der Ergebnisse der Volksabstimmung, wobei diese verschiedenen detaillierten Interpretationen unterzogen wurden, welche die Analysen, die sich ausschließlich auf das Gesamtergebnis von 60 zu 40 Prozent stützten, untergruben. 3. Der Erklärung der Reaktion der polnischen Seite auf das Abstimmungsergebnis, insbesondere hinsichtlich der Begründung der Entscheidung zur Ausrufung des Dritten Schlesischen Aufstandes. In der polnischen Geschichtsschreibung ist ein weiteres Thema leicht zu erkennen – die Propagandakampagne, die in historischen Beschreibungen manchmal als gewichtiger behandelt wird als der eigentliche Akt der Abstimmung. Viele historische Studien haben sich mit diesem Thema befasst und analysiert, wie die Kampagne auf polnischer Seite geführt wurde, welcher Argumente man sich bediente, um die Oberschlesier davon zu überzeugen, für Polen oder Deutschland zu stimmen und wer die Hauptakteure und Adressaten der Plebiszitagitation waren. Da andere Vorträge während der Konferenz dieses Thema bereits ausführlich erörtert haben, wird es in diesem Artikel absichtlich ausgelassen.
1 Vgl.: Wyglenda, Ewa: Bibliografia plebiscytu i powstań śląskich, Opole 1979; Kasprowicz, Jolanta: Powstania śląskie. Bibliografia za lata 1944–1978, Opole 1979; Ritter, Rüdiger: Die Geschichtsschreibung über Abstimmungskämpfe und Volksabstimmung in Oberschlesien (1918–1921). Eine Auswahlbibliographie, Frankfurt a. Main 2009; Górny Śląsk w latach 1918– 1922. Bibliografia. Dopełnienie za lata 1979–2011, Katowice 2011.
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Eine Analyse der polnischen Geschichtsschreibung zur Volksabstimmung muss die politischen Veränderungen berücksichtigen, zu denen es im 20. Jahrhundert in Polen gekommen ist. Unter diesem Gesichtspunkt können wir drei verschiedene Zeiträume unterscheiden. Die Zeit der Zweiten Polnischen Republik Obwohl seinerzeit polnische Studien über die Volksabstimmung erschienen und als historisch bezeichnet wurden, beruhten sie in Wirklichkeit auf den Reflexionen der noch lebenden und politisch aktiven Teilnehmer der Aufstandskämpfe. Sie waren damit nicht das Ergebnis von historischer Forschung. Die ersten Veröffentlichungen dieser Art entstanden im Zuge des andauernden Kampfes um die endgültige Gestaltung der Grenze und dienten als Argument bei den diplomatischen Verhandlungen, die 1921 in Paris geführt wurden, als im Auftrag der polnischen Regierung die Monografie von Karol Firich veröffentlicht wurde.2 In den 1930er Jahren wurde die Diskussion über die Geschichte Oberschlesiens von einem politischen Konflikt überschattet, der sowohl auf regionaler (in der Wojewodschaft Schlesien) als auch auf nationaler Ebene sichtbar war. Es handelte sich um eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des demokratischen Mitte-Rechts-Lagers (in Oberschlesien Sympathisanten von Wojciech Korfanty) und den Anhängern des herrschenden Lagers – der Sanacja – um Józef Piłsudski (auf regionaler Ebene um den damaligen schlesischen Wojewoden Michał Grażyński gruppiert, der auch den Verband der schlesischen Aufständischen leitete). Die Zeit der Volksrepublik Polen Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Interesse der polnischen Geschichtsschreibung an den schlesischen Aufständen während der sogenannten stalinistischen Periode zunächst marginal, möglicherweise mit Ausnahme der zwei Nachkriegsjahre, in denen die Tradition der schlesischen Aufstände für die Konsolidierung der kommunistischen Macht in der Wojewodschaft Schlesien instrumentalisiert wurde. Die schlesische Geschichte wurde in dieser Zeit nur als ein weiteres Argument zur Verteidigung der Westgrenze gegen den deutschen Revisionismus behandelt. Bogusław Leśnodorski, damals stellvertretender Direktor des Instituts für polnische Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), zögerte auf einer Sonderkonferenz in 2 Vgl.: Firich, Karol: Polskość Śląska według rządowych źródeł pruskich a wyniki plebiscytu, Warszawa 1921. Das Buch wurde auch in englischer Sprache mit einer Einleitung des damaligen Sejmmarschalls Wojciech Trąmpczyński veröffentlicht.
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Breslau (Wrocław), die den Zielen der schlesischen historischen Regionalforschung gewidmet war, nicht, zu erklären, dass „die Aufgabe der Historiker heute nicht so sehr darin besteht, die Wahrheit zu erforschen, sondern das Polentum Schlesiens zu verteidigen. [..] Wir müssen dem, was in der BRD geschieht, widerstehen […], indem wir die Geschichte Schlesiens erforschen […]. Gegenwärtig führen die deutschen Imperialisten, unterstützt vom amerikanischen Imperialismus, im Westen eine heftige revisionistische Kampagne, eine Verleumdungskampagne gegen Polen, gegen die Oder-Neiße-Grenze, wenn sie zu einem neuen Drang nach Osten aufrufen. Die Erbringung aller Beweise für den polnischen Charakter des schlesischen Landes und die Wahrheit über die Arbeit und den Kampf der polnischen Bevölkerung in Schlesien wird von großer politischer Bedeutung sein und dem Lügengebäude und den Verleumdungen, die von der Familie Adenauer verbreitet und von den Sosnkowski-, Arciszewski- und Mikołajczyk-Cliquen im Exil aufgegriffen werden, die bereit sind, das schlesische Land für Judasdollar und -mark zu verkaufen, einen mächtigen und vernichtenden Schlag versetzen.“3 Heute mögen wir diese Ausdrucksweise amüsant finden, aber damals wurden solche Aussagen als wissenschaftliche Forschung dargestellt. Diese Sichtweise auf die schlesische Geschichte änderte sich nach dem polnischen Oktober 1956. Zu diesem Zeitpunkt tauchte die Erinnerung an die Aufstände und die Volksabstimmung wieder im offiziellen öffentlichen Leben Polens auf. Das ideologische Potenzial der schlesischen Aufstände wurde vor allem von Edward Gierek erkannt, der zunächst Erster Sekretär des Wojewodschaftskomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) in Kattowitz (Katowice) und dann Erster Sekretär des Zentralkomitees der PZPR war. Damals entstand eine neue Interpretation der Geschichte der Aufstände und der Volksabstimmung, der zufolge das von allen verlassene oberschlesische Volk jahrhundertelang gekämpft hat, zuerst gegen die Germanisierung im preußischen Staat und dann gegen die deutsche Aggression während der schlesischen Aufstände in den Jahren von 1919 bis 1921 und während des Zweiten Weltkrieges. Diese Symbolik findet sich sowohl auf dem Denkmal auf dem St. Annaberg als auch auf dem 1967 enthüllten Aufstandsdenkmal von Gustaw Zemła in Kattowitz. Beide erinnern nicht nur an die Kämpfe des oberschlesischen Volkes während der Aufstände, sondern auch an dessen jahrhundertelange Verteidigung gegen das deutsche Vordringen nach Osten und sein Überleben in den ewig polnischen Piastengebieten. Bei dieser Interpretation handelt es sich um einen historischen Prozess, der mit nur geringfügigen Unterbrechungen 3 Leśnodorski, Bogusław: Otwarcie konferencji, in: Konferencja Śląska Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk Wrocław 28 VI–1 VII 1953, Bd. 1, Wrocław 1954, S. 16.
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vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert andauerte und nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Rückgabe der sogenannten wiedergewonnenen Gebiete, darunter Schlesien, seinen Höhepunkt fand.4 In dieser Atmosphäre wurden zahlreiche historische Werke über die Aufstände und die Volksabstimmung verfasst. Die Zeit nach der politischen Wende von 1989 Der neue Blick auf die Geschichte Schlesiens nach der politischen Wende war die Folge der allgemeinen Veränderungen, die sich in der polnischen Geschichtsschreibung zu dieser Zeit vollzogen, sowohl durch die Erschließung neuer Quellen als auch durch die zunehmend regen internationalen Kontakte polnischer Historiker und die Konfrontation mit den Forschungsergebnissen anderer Länder. Die meisten Neuerscheinungen zur Geschichte der Volksabstimmungszeit entstanden jedoch erst im 21. Jahrhundert, zwischen dem 90. und 100. Jahrestag der Volksabstimmung und des Dritten Schlesischen Aufstandes. Die Ergebnisse der in diesem Zeitraum durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen wurden bereits weitgehend veröffentlicht. In meiner Analyse spielt der Zeitpunkt der Veröffentlichung polnischer historischer Studien eine Schlüsselrolle. Abgesehen von der Problematisierung und Strukturierung der mit dem Plebiszit zusammenhängenden Fragen in bestimmten historischen Perioden bildete die Lenkung der historischen Forschung zu jener Zeit den wichtigsten Faktor, der auch die Analyse maßgeblich beeinflusst hat.
Bewertung der Ergebnisse der Pariser Konferenz von 1919
In der Zweiten Polnischen Republik wurde der in Versailles unterzeichnete Friedensvertrag mit Deutschland je nach politischer Option unterschiedlich gewertet (das Mitte-Rechts-Bündnis vertrat die These vom Erfolg der polnischen Diplomatie; die Linke und das Lager um Marschall Piłsudski sahen in Versailles ein Spiel der Interessen der Großmächte, das es Polen unmöglich machte, seine Pläne zu verwirklichen, einschließlich der Erlangung der postulierten Grenzen). Diese Einschätzungen änderten sich nach der Unterzeichnung des Vertrages, abhängig davon, wie die internationale Lage Polens eingeschätzt wurde. Der Vertrag von Versailles und das damit verbundene Bündnis mit Frankreich wurden zunächst nicht nur als diplomatischer 4 Siehe: Struve, Kai: Ziemie Odzyskane a Polska Piastowska, in: Linek, Bernard/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Leksykon mitów, symboli i bohaterów Górnego Śląska XIX–XX wieku, Opole 2015, S. 254–256.
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Erfolg, sondern auch als dauerhafte Garantie für die äußere Sicherheit Polens angesehen. Nach dem Vertrag von Locarno 1925 und der darauffolgenden Änderung der polnischen außenpolitischen Strategie sowie dem Versuch, eine Sicherheitsgarantie auf der Grundlage der Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland und der Sowjetunion sowie der Schaffung eines unabhängigen Bündnissystems in Mittel- und Osteuropa aufzubauen, wurde die Bewertung der Versailler Bestimmungen jedoch kritischer. Die politischen Spaltungen in Polen und die Änderung der Prioritäten in der polnischen Außenpolitik wirkten sich auch auf die Beurteilung der Bedingungen aus, die Polen in Versailles in Bezug auf Oberschlesien gestellt worden waren. Die im Versailler Vertrag enthaltene Entscheidung über das Plebiszit wurde jedoch unabhängig von der politischen Option und der historischen Periode von allen polnischen politischen Lagern bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges durchweg negativ bewertet. Der polnische Amateurhistoriker aus Oberschlesien Ludwik Łakomy,5 der über das Plebiszit geschrieben hat, bewertete die Entscheidung der Alliierten von Juni 1919 nach 15 seitdem vergangenen Jahren wie folgt: „Es ist bekannt, dass der erste Entwurf des Friedensvertrages vorsah, ganz Oberschlesien an Polen abzutreten. Erst im zweiten und letzten Entwurf wurde uns ein Plebiszit auferlegt.“6 Mit dieser Meinung stand er nicht allein; fast alle früheren und späteren polnischen Autoren äußerten sich entsprechend. Die polnische Geschichtsschreibung ging von der These aus, dass die Entscheidung zugunsten Polens (bedingungslose Abtretung Oberschlesiens) bereits in der ersten Phase der Debatten auf Vorschlag der Kommission für polnische Angelegenheiten (Comission des affaires polonaises) unter dem Vorsitz des französischen Diplomaten Jules Cambon gefallen war. Die schließlich in Artikel 88 des Versailler Vertrages verankerte Volksabstimmung wurde als eine der polnischen Delegation im zweiten Teil der Konferenz aufgezwungene Entscheidung betrachtet. 5 Ludwik Łakomy war kein Historiker, sondern ist eher als historisch interessierter Laie und Autor von Legenden- und Geschichtensammlungen anzusehen (vgl. Heska-Kwaśniewicz, Krystyna: Taki to mroczny czas. Losy pisarzy śląskich w okresie wojny i okupacji nazistowskiej, Katowice 2004, S. 22). Bei der Beschreibung der schlesischen Aufstände und des Plebiszits versuchte er jedoch, die Ereignisse historisch zu analysieren. Solche aus aktuellem Anlass erscheinenden Studien wurden in der Zwischenkriegszeit aufgrund des Mangels an wissenschaftlichen Monographien als erste Versuche einer historischen Analyse betrachtet. Ähnlich verhielt es sich mit gelegentlichen Artikeln in der oberschlesischen Presse, die anlässlich der aufeinanderfolgenden Jahrestage der schlesischen Aufstände und der Volksabstimmung veröffentlicht wurden. 6 Łakomy, Ludwik: Czyn nieznanego powstańca śląskiego, in: Księga pamiątkowa powstań i plebiscytu na Śląsku. W 15-lecie czynu nieznanego powstańca śląskiego 1919–1934, Katowice 1934, S. 5.
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Diese These wurde nicht anhand von Quellen belegt. Es wurde nicht offengelegt, dass der Cambon-Unterausschuss keine Entscheidungen traf, sondern lediglich vorläufiges Material vorbereitete, das von den Führern der Großmächte beschlossen werden sollte, die nicht an diese vorläufigen Vorschläge gebunden waren. In einer solchen Geschichtserzählung nahm die Entscheidung über die Volksabstimmung den Charakter einer antipolnischen Verschwörung an. Darüber hinaus wurde nach einer Antwort auf die Frage gesucht, was die Vertreter der Großmächte im Mai und Juni 1919 zu einer Änderung ihrer Haltung veranlasst haben könnte. Eine der häufigsten Antworten war, dass es der britische Premierminister David Lloyd George gewesen sein musste, der eine antipolnische Kampagne vorbereitet hatte. In der polnischen Geschichtsschreibung über die Ereignisse in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg spielt der britische Premierminister eine fast dämonische Rolle. Er galt als unerbittlicher Feind polnischer Interessen, der wenig Ahnung von den mitteleuropäischen Realitäten hatte; ähnliches beschied man dem amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson. Ein polnischer Autor, der sich mit der Atmosphäre der Pariser Debatten befasste, äußerte Jahre später, dass er Lloyd George, der Polen Oberschlesien verweigerte, schlicht und einfach für einen Ignoranten hielt: „Die Staats- und Regierungschefs verwechselten ständig die umstrittenen Gebiete, wussten nicht, ob der deutsch-polnische Territorialstreit Oberschlesien oder Niederschlesien betraf, verwechselten die Namen der Gebiete und stellten plötzlich überrascht fest, dass die armenische Delegation ebenfalls Anspruch auf Schlesien erhob – dieses Missverständnis beruhte einfach auf der Ähnlichkeit des englischen Namens Kilikien/Cilicia mit Schlesien/Silesia.“7 Derartige Informationen über einen solchen Verlauf der Beratungen verstärkten den Verdacht einer unfairen und voreingenommenen britischen Position. Der hier bereits zitierte Ludwik Łakomy, dessen Ansichten ein gutes Beispiel dafür sind, wie solche historischen Thesen von der breiten Öffentlichkeit aufgenommen werden, schrieb über die Doppelzüngigkeit des britischen Premierministers, der sich einerseits als Freund Polens präsentierte, andererseits den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu für Polen ungünstigen Lösungen drängte, der polnischen Delegation aber etwas anderes mitteilte: „Hätte man nicht so unkritisch auf die Allmacht der diplomatischen Verhandlungen gesetzt und die Aufstandsbewegung nicht gelähmt, wäre es sicher nicht 7 Górny, Maciej: „Wir werden schlecht behandelt“. Ostmitteleuropa auf der Pariser Friedenskonferenz, in: Ende und Aufbruch. Die politischen Folgen des Ersten Weltkrieges, „Acta Austro-Polonica“ 2020, Bd. XII, S. 16.
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[zur Ablehnung, Anm. d. Aut.] des ersten Entwurfs des Friedensvertrages gekommen. Eine Bestätigung dieser Annahmen findet sich in einer klaren Aussage von Lloyd George, der auf einer Sitzung des Obersten Rates am 3. Juni 1919 auf die Einwände von Clemenceau und Wilson, dass die Anordnung eines Plebiszits in Oberschlesien den in Wilsons berühmten 14 Punkten formulierten Grundsätzen widerspräche, erklärte, dass man zunächst die Stimmung der schlesischen Bevölkerung kennen müsse, und zwei Tage später erklärte er gegenüber Paderewski, dass Schlesien ohne den Willen seiner Bevölkerung, die diesen Willen nirgendwo zum Ausdruck gebracht hätte, nicht an Polen angeschlossen werden könne.“8 Es ist leicht, in solchen Einschätzungen zur Rolle Großbritanniens in den internationalen Beziehungen die stereotype These vom beständigen Wortbruch der imperialen britischen Politik zu erkennen, die ausschließlich den eigenen politischen Interessen und nicht der Idee der kollektiven Sicherheit und der Gleichbehandlung mittlerer und kleiner Staaten untergeordnet ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg, bereits in der Zeit der Volksrepublik Polen, war die unheilvolle britische Politik in den Studien polnischer Historiker während des Kalten Krieges weiterhin präsent. Kazimierz Popiołek schrieb in der ersten polnischen Nachkriegsgeschichte Schlesiens aus den 1970er Jahren wie Łakomy fünfzig Jahre zuvor: „Als die Deutschen gegen [die Vorschläge von Cambon, Anm. d. Aut.] protestierten, wurde ihr Protest sofort von England unterstützt, woraufhin sofort ein neuer Beschluss gefasst wurde: eine Volksabstimmung in [Ober]Schlesien zu organisieren.“9 Auch Jan Przewłocki hatte in seiner Standardstudie über die Rolle der Großmächte im jahrelangen Konflikt um Oberschlesien keinen Zweifel daran, dass es Lloyd George war, der Wilson von seinen Vorschlägen überzeugte, da der amerikanische Präsident die Zustände in Europa nicht gut kannte. Przewłocki kam sogar auf die These vom Zynismus des britischen Premierministers und der Täuschung Wilsons zurück. Zur Rolle von Lloyd George schrieb er: „In Erwartung des entschlossenen Widerstands Polens und der Unzufriedenheit Frankreichs rechtfertigte er seine Haltung mit dem angeblichen Wunsch, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu garantieren, und schlug [nur daher, Anm. d. Aut.] die Durchführung eines Plebiszits vor.“10 Przewłocki war der Ansicht, dass das Ziel der britischen Politik von Anfang an nicht darin bestanden hatte, Oberschlesien Polen zuzuerkennen. 8 9 10
Łakomy: Czyn nieznanego, S. 5. Popiołek, Kazimierz: Historia Śląska od pradziejów do 1945 roku, Katowice 1972, S. 506. Przewłocki, Jan: Mocarstwa zachodnioeuropejskie wobec problemów Górnego Śląska w latach 1918–1933, Katowice 1975, S. 21.
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In der Argumentation aus der Zeit der Volksrepublik Polen tauchte ein weiteres Argument auf, das bis dahin nicht verwendet worden war, um die veränderte Haltung der Großmächte und ihre Weigerung zu erklären, Oberschlesien bedingungslos Polen zuzuerkennen. In der Arbeit des bereits erwähnten Kaziemierz Popiołek wird die Vermutung geäußert, dass nicht nur England, sondern auch die USA Deutschland keine allzu gravierenden Friedensbedingungen auferlegen wollten. Der Grund für diese Haltung sei die Angst vor einer Revolution gewesen. Dies ist natürlich eine These, die sich nicht aus der historischen Analyse ergeben hat, sondern aus den außenpolitischen Zielen des kommunistischen Polens jener Zeit. Schließlich spielten Großbritannien und die Vereinigten Staaten in einem durch den Kalten Krieg gespaltenen Europa eine führende Rolle im Lager der kapitalistischen Staaten, und schon 1919 wurden ihnen ideologische Motive für antipolnisches Handeln zugeschrieben: „Sie wollten nicht […], dass die revolutionären Gefühle verstärkt wurden. Diese beiden Staaten [Großbritannien und die USA, Anm. d. Aut.] und vor allem einflussreiche kapitalistische Gruppen befürchteten, dass Polen nicht in der Lage sein würde, die Rechte der Eigentümer von Industrieunternehmen [in Oberschlesien, Anm. d. Aut.], an denen sie erhebliche Anteile hielten, angemessen zu sichern.“11 In einer Art Zusammenfassung der Forschungen über die Zeit der Aufstände und der Volksabstimmung in der Volksrepublik Polen in der 1982 erschienenen Enzyklopädie der schlesischen Aufstände, erscheint das Argument über die zentrale Bedeutung der englischen Position für die Entscheidung über das Plebiszit nicht mehr als eine mögliche Interpretation, sondern als belegte These. Ihr zufolge hat Großbritannien 1919 gemeinsam mit den „deutschen Kapitalisten“ nicht nur für die Abstimmungsentscheidung gestimmt, sondern für Deutschland zusätzlich besondere, bessere Bedingungen bei der Abstimmung erwirkt: „Die Änderung [des Beschlusses auf Druck Englands nach deutschen Protesten, Anm. d. Aut.] war in der Praxis ein Verstoß gegen das Prinzip der Berücksichtigung ethnischer Argumente als Hauptkriterium bei der Festlegung neuer Grenzen und ging zu Lasten der Mehrheit der Einwohner Oberschlesiens, für die das aufgezwungene (aufoktroyierte) Plebiszit – das unter dem umfassenden wirtschaftlichen und administrativen Druck des deutschen Kapitals und Staates durchgeführt werden sollte – keine Wahlfreiheit garantierte. […] Das Plebiszit bevorzugte die Deutschen auf sozioökonomischer, administrativer und religiöser Ebene.“12 11 12
Popiołek: Historia Śląska, S. 506. Lis, Michał: Plebiscyt Górnośląski, in: Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982, S. 397–398.
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In den Publikationen nach 1989 dominiert dieses Argument noch immer die polnischen Geschichtswerke. In seiner mehrbändigen Studie über die Geschichte der polnischen Diplomatie analysiert Piotr Łossowski die Ziele der britischen Politik in Paris und dämonisiert den britischen Premierminister weiterhin. Er schreibt, dass Lloyd George ohne jede Grundlage immer wieder behauptete, er sei „voller Bedenken“ bezüglich der polnisch-deutschen Grenze. Der britische Premierminister habe eine Volksabstimmung für die bessere Lösung gehalten, da sie die Möglichkeit eines Vergeltungskrieges ausschloss. Gleichzeitig habe er versucht, beide Partner gegeneinander auszuspielen: den französischen Premierminister mit der Tatsache, dass die Briten ein Plebiszit an der Saar akzeptiert hatten, und die Amerikaner mit der Warnung vor einem möglichen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Deutschlands ohne das oberschlesische Industriegebiet. Łossowski zufolge ist Lloyd George mit diesen Aktionen erfolgreich gewesen, sodass er auf der Konferenz „seinen Standpunkt durchsetzen“ konnte.13 Die von polnischen Historikern vor einem Jahrhundert aufgestellte These von der machiavellistischen Rolle der Briten und Lloyd Georges ist bis heute die wirkmächtigste Erklärung für die Entscheidung, die für Polen ungünstige Volksabstimmung in Oberschlesien zu organisieren. Schon vor dem Krieg hat es jedoch neben der unbestreitbaren These von der Feindseligkeit des britischen Premierministers eine weitere Erklärung für die Entscheidung, eine Volksabstimmung durchzuführen, gegeben – nämlich das Versagen der polnischen Diplomaten. Łakomy, als Anhänger der Sanacja, also von Piłsudski und Grażyński, schrieb äußerst kritisch über die polnische Delegation in Paris, die sich hauptsächlich aus Abgeordneten des polnischen Mitte-RechtsLagers zusammensetzte: „Das Plebiszit ist zweifelsohne auch auf unsere Fehler zurückzuführen. Hätten die damals entscheidenden polnischen Politiker in Oberschlesien einen Aufstand beschlossen, wie ihn die Volksmassen spontan forderten“14, wäre eine Abstimmung nicht nötig geworden. In einer weiteren Analyse aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, diesmal allerdings von einem Historiker, dem Wissenschaftler und Direktor des Schlesischen Instituts in Kattowitz, Roman Lutman (es sollte nicht vergessen werden, dass auch er einer der Offiziere im Stab der Gruppe Ost während des Dritten Schlesischen Aufstandes und ein Mitarbeiter von Michał Grażyński gewesen ist, was in diesem Zusammenhang Bedeutung hat), wies dieser 13 14
Łossowski, Piotr: Kształtowanie się państwa polskiego i walka o granice (listopad 1918– czerwiec 1921), in: ders. (Hg.): Historia dyplomacji polskiej, Bd. 4: 1918–1939, Warszawa 1995, S. 108. Łakomy: Czyn nieznanego, S. 5.
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darauf hin, dass das Plebiszit nicht nur aufgrund der passiven Haltung der polnischen Delegation beschlossen worden war, sondern dass deren Mitglieder (Politiker des polnischen Mitte-Rechts-Lagers) Bedingungen zugestimmt haben sollen, die Polen bei der Abstimmung von vornherein auf verlorenem Posten stehen ließen. Lutman schrieb: „Die polnischen Experten haben sich hinsichtlich der Eigenart der großen Auswanderungswelle aus Schlesien in die deutschen Industriezentren getäuscht und einen fatalen Fehler begangen.“15 Der polnische Historiker meinte damit nicht nur die für die polnische Historiografie als Schlüsselproblem definierten sogenannten „Emigranten“, sondern er stellte auch die Professionalität der polnischen Delegation in Paris infrage. Abschließend stellte er fest, dass „letztlich Korfanty die Schuld“ traf, da er mit seiner Zustimmung zu den in Paris festgelegten Bedingungen bei der Ausarbeitung der Abstimmungsordnung 1920 die Idee zweier separater Abstimmungsrunden, eine für den südlichen (industriellen) Teil und eine für den nordwestlichen Teil, abgelehnt hatte, während er die Forderung nach einer gesonderten Abstimmung für die Emigranten außerhalb Oberschlesiens beibehielt, der sogar die deutsche Delegation zunächst zugestimmt haben soll.16 Der Autor suggeriert, dass andere Bedingungen eine andere Art der Stimmenauszählung ermöglicht hätten. Aber zur Erinnerung: Er schrieb dies 15 Jahre nach den Ereignissen, als der Konflikt zwischen Korfanty, der sich im Exil befand, und Grażyński, der in Kattowitz regierte, seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die Vorkriegsthese über die Schwäche der polnischen Diplomatie in Versailles wurde in der kommunistischen Zeit durch eine neue These über die Abhängigkeit Polens von den kapitalistischen Mächten ersetzt. Nach dieser Interpretation verfolgte die polnische Mitte-Rechts-Regierung auf der Friedenskonferenz keine souveräne Politik, sondern war völlig abhängig von Frankreich und dessen politischen Interessen. In der kommunistischen Geschichtsschreibung zog die These von der Abhängigkeit der polnischen Diplomatie fast automatisch eine weitere nach sich, nämlich diejenige von einem kardinalen Fehler der Zweiten Republik in der Außenpolitik, dem Fehlen eines Abkommens mit Sowjetrussland. In diesem Grund sah Popiołek den Misserfolg Polens in Paris, wie er schreibt: „Die Schwäche Polens in diesem Bereich [gemeint sind die Pariser Verhandlungen, Anm. d. Aut.] [und] seine Abhängigkeit von den westlichen Ländern wurden durch die Politik der damaligen polnischen Regierung, insbesondere durch ihren Wunsch, die überwiegend von einer nichtpolnischen Bevölkerung bewohnten 15 16
Lutman, Roman: Plebiscyt górnośląski, in: Strażnica Zachodnia 1931, S. 374. Ebenda, S. 374.
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östlichen Gebiete zu erobern, vor allem durch Krieg, sehr deutlich und ernsthaft verschärft. Diese Politik zeitigte eine Reihe von sehr ungünstigen Folgen. […] Es wurden polnische Truppen in den Osten geschickt, die man teils von der Westgrenze abgezogen hatte. Auch ein aus Oberschlesiern gebildetes Beuthener Schützenregiment zog dorthin, obwohl die entsprechenden Leute, die formell noch Bürger des deutschen Staates waren, sich der polnischen Armee freiwillig angeschlossen hatten, und zwar um für Schlesien zu kämpfen.“17 Dieses letzte, sehr treffende Argument – denn das Beuthener Freiwilligenregiment, bestehend seit 1919, wurde ja tatsächlich an die Ostfront geschickt – ist sehr interessant. Schließlich suggeriert Popiołek unmissverständlich, dass Polen – ungeachtet seiner Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag – im Westen einen Krieg gegen Deutschland hätte vom Zaun brechen sollen.
Die Bewertung der Abstimmungsergebnisse
In einem Punkt ähneln sich fast alle polnischen Berichte über das Plebiszit. Das friedliche und massenhafte Votum der Oberschlesier wurde nicht in Frage gestellt. „Die oberschlesische Volksabstimmung verlief ruhig und ohne Zwischenfälle“, schrieb Roman Lutman, der die Abstimmung persönlich vom polnischen Plebiszitkommissariat in Beuthen (Bytom) aus beobachtete.18 Władysław Zieliński fasste die Propagandakampagne in der Zeit der Volksrepublik Polen in ähnlicher Weise zusammen und behauptete, die Gelassenheit auf polnischer Seite wäre auf „den für Korfanty charakteristischen Optimismus“ zurückzuführen gewesen, der „in seinen zahlreichen Reden und Proklamationen zum Ausdruck kam und auch von anderen geteilt wurde“.19 Für die Interpretation der Abstimmungsergebnisse selbst gilt seit der ersten Veröffentlichung zu diesem Thema im Jahr 1921 in der polnischen Geschichtsschreibung der Grundsatz, dass für die polnische Seite ungünstige Gesamtergebnisse mit anderen Daten konfrontiert werden mussten. Innerhalb der polnischen Historiografie galten die Gleichstellung der sogenannten Emigranten mit den dauerhaft in Oberschlesien lebenden Menschen und die lediglich auf die alleinige Angabe des Gesamtergebnisses (60 zu 40 Prozent) zielende Argumentation als schlagende Beweise für die Ungerechtigkeit der Abstimmung. Diese Argumentation führte die polnische Seite also bereits seit 1921 stringent an. Wir finden sie bereits in Firichs Studie 17 18 19
Popiołek: Historia Śląska, S. 507. Lutman: Plebiscyt górnośląski, S. 375. Zieliński, Władysław: Ludzie i sprawy Hotelu „Lomnitz“, Katowice 1984, S. 207.
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von Mai 1921 unter dem vielsagenden Titel: „Die Ursachen der scheinbaren Erklärung eines Teils Oberschlesiens zugunsten Deutschlands: Die Volksabstimmungs-Emigranten“.20 Im Laufe der Jahre wurde diese These weiterentwickelt und um neue Elemente der polnischen Geschichtsschreibung angereichert. Der bereits erwähnte Lutman, der die Stimmen der außerhalb Oberschlesiens lebenden Menschen zusammengefasst hat, war der Meinung, dass diese Menschen keinen Kontakt zu ihrer Heimat hatten. Aus diesem Grund sprach er ihnen das Recht ab, über die Zukunft Oberschlesiens zu entscheiden, und listete neben der Gesamtzahl der Stimmen auch den Anteil an Nicht-Emigranten unter den Wählern auf, wobei er für diesen Fall auf das Gleichgewicht der polnischen und deutschen Stimmen verwies.21 Während der Zeit der Volksrepublik Polen blieb dieses Argument über die fatale Rolle der Emigranten bestehen. Der unbestrittene Experte für die Aufstands- und Plebiszitzeit, Władysław Zieliński, analysierte die Daten über die Wahlbeteiligung und schrieb zunächst wahrheitsgemäß: „Unter den Wahlberechtigten befanden sich 192.408 Emigranten, von denen 182.188 für Deutschland und nur 10.120 für Polen stimmten.“22 Interessant sind aber vor allem seine Analyse und die Schlussfolgerungen, die er zog. Seiner Meinung nach waren nur 993.826 Personen tatsächlich wahlberechtigt (d.h. also die fast 200.000 Stimmen der Emigranten weniger). Ausgehend von knapp einer Million Wählern errechnete er, dass 469.376 (47,3 Prozent) für Polen und 524.450 (52,7 Prozent) für Deutschland gestimmt haben mussten. Zusammenfassend stellte er fest, dass Polen die Volksabstimmung in absoluten Zahlen nur knapp verloren hatte. Eine ähnliche Interpretation findet sich bei Popiołek, nur, dass die Zahlen aus einem unbekannten Grund noch günstiger für die polnische Seite ausfallen. Er schreibt: „Wenn man nämlich die Stimmen der Emigranten abzieht, haben 51,6 Prozent für Deutschland und 48,4 Prozent der Wahlberechtigten für Polen gestimmt.23 Einige gingen sogar noch weiter und schrieben nur über die Ergebnisse in den östlichen Bezirken, wo nach Abzug der Stimmen der Emigranten sogar von einem Sieg der polnischen Seite gesprochen werden konnte. Bereits für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg findet sich in einigen historischen Studien ein weiteres Argument, das die Glaubwürdigkeit der Abstimmung vom 20. März 1921 infrage stellt. Unter Bezugnahme auf Artikel 88 des Versailler Vertrages (Punkt 4) erinnerten die meisten polnischen 20 21 22 23
Firich: Polskość Śląska, S. 15f. Lutman: Plebiscyt górnośląski, S. 376. Zieliński: Ludzie i sprawy, S. 208. Popiołek: Historia Śląska, S. 535–536.
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Historiker daran, dass die Ergebnisse nach Gemeinden und nicht als Gesamtergebnisse angegeben werden sollten (die Deutschen haben es nach dem 20. März 1921 geschickt verstanden, dieses für sie ungünstigere Ergebnis zurückzuhalten und durchweg Gesamtergebnisse zu nennen). Auf den ersten Blick konnten die Ergebnisse nach Gemeinden nichts an der Bewertung ändern oder gar den Sieg der deutschen Seite infrage stellen. Selbst der erwähnte Direktor des Schlesischen Instituts in Kattowitz, Roman Lutman, schrieb: „Von den 1.475 Gemeinden haben sich 683 (46,3 Prozent) für Polen und 792 (53,7 Prozent) für Deutschland ausgesprochen.“24 Diese Zahlen waren jedoch günstiger und lagen näher an denen, die nach Abzug der Stimmen der Auswanderer ermittelt wurden. In anderen Analysen war es sogar möglich, einen Vorsprung für die polnische Seite zu erkennen. Als derselbe Lutman über die „Korfanty-Linie“ schrieb, stellte er fest, dass östlich dieser Linie nach Abzug der Emigranten 100.000 Menschen weniger für Deutschland gestimmt hatten (nur 320.000 im Vergleich zu 443.000 polnischen Stimmen).25 Diese Daten bildeten den Ursprung für die These, dass die Abstimmung ungerecht verlaufen war, da die Bezirke westlich der Korfanty-Linie, westlich der Oder, in die Abstimmung und damit auch in die Stimmenauszählung einbezogen worden waren. Demnach hatte man die sogenannten germanisierten Westgemeinden unberechtigterweise in das Abstimmungsgebiet miteinbezogen. Dazu zählten per definitionem der Landkreis Leobschütz (Głubczyce) sowie Teile der Landkreise Neustadt O.S. (Prudnik) und Kreuzburg (Kluczbork). In seiner „Historia Śląska“ [Geschichte Schlesiens] kam Kazimierz Popiołek, nachdem er die Gemeinden Leobschütz und Neustadt abgezogen hatte, und nicht die Anzahl der Stimmen, sondern die Anzahl der Gemeinden zugrunde gelegt hatte, zu dem Schluss, dass Polen die Volksabstimmung gewonnen hatte, sogar in absoluten Zahlen. Er schrieb: „56 Prozent [der Gemeinden] stimmten für die Rückkehr Oberschlesiens zu Polen, 44 Prozent für den Verbleib in den Grenzen des deutschen Staates“,26 ohne jedoch anzugeben, dass sich diese Ergebnisse nur auf die ländlichen, östlich der Oder liegenden Gemeinden bezogen. In der zeitgenössischen polnischen Geschichtsliteratur werden die Gesamtergebnisse der Volksabstimmung natürlich bereits vollständig aufgeführt. Sie enthalten jedoch noch zusätzliche Informationen über die Art der Stimmenauszählung. In der jüngsten Synthese der Geschichte Schlesiens, die den Charakter eines akademischen Lehrbuchs hat und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst wurde, finden wir eine interessante Bestätigung dafür. Nach der 24 25 26
Lutman: Plebiscyt górnośląski, S. 376. Ebenda, S. 379–381. Popiołek: Historia Śląska, S. 535–536.
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Angabe der genauen Gesamtergebnisse der Volksabstimmung wird noch einmal der Einfluss der Emigranten auf die Abstimmung thematisiert („die Mehrheit stimmte für Deutschland und nur 10.000 für Polen“), dazu heißt es in der Schlussfolgerung: „Die von den Gemeinden ausgezählten Ergebnisse sollten entscheidend sein. 674 Gemeinden stimmten für Polen und 624 für Deutschland.“27 Diese These stammt direkt aus der Enzyklopädie der schlesischen Aufstände, die zu kommunistischen Zeiten veröffentlicht wurde und wo es heißt: „Die Ergebnisse der Abstimmung wurden entgegen Artikel 88 global und nicht nach Gemeinden verlesen (674 polnische–834 deutsche); nach Ausschluss der germanisierten Kreise Leobschütz und Kreuzburg) würde das Verhältnis der Gemeinden zueinander lauten: 674 für Polen – 624 für Deutschland.“28 Viele polnische Autoren, die dieses Argument anführten, haben scheinbar vergessen, dass die Zahl der Menschen, die in einzelnen Gemeinden und Gutsbezirken lebten (manchmal nur einige Hundert), nicht mit derjenigen von Großstädten mit Zehntausenden von Einwohnern vergleichbar war, und dass es in einer Industrieregion einfach nicht gerechtfertigt war, die Zahl der Gemeinden zu verwenden. Eine Gemeinde konnte sowohl ein Dorf mit 1.000 Einwohnern als auch eine Stadt mit 80.000 Einwohnern sein, die also 80-mal größer war als das Dorf. Schon in der Zeit der Volksrepublik Polen wurde auf der Grundlage vergleichender Analysen verschiedener Volkszählungen auf dem Gebiet der Region Oppeln (Opole) auf einen weiteren angeblichen Widerspruch hingewiesen, der falsche Ergebnisse der Volksabstimmung belegen sollte. Es handelte sich um einen Vergleich mit den Ergebnissen der Volkszählung von 1910 und der sogenannten Schulzählungen, insbesondere der von 1911 (sowie der Möglichkeit der Eltern, für ihre Kinder Polnisch-Unterricht zu wählen von 1919). Die Autoren, die dieses Argument anführen, beachten den grundlegenden Unterschied zwischen diesen Zählungen nicht. Im Jahr 1910 ging es nicht um die Nationalität, geschweige denn um die Staatsangehörigkeit, sondern um die Sprache. Bei den Schulzählungen wurden nur die Eltern der schulpflichtigen Kinder befragt, also nicht die gesamte erwachsene Bevölkerung. Bei der Volksabstimmung hingegen richtete sich die Frage an eine teilweise andere Gruppe, und was am wichtigsten ist, es war eine inhaltlich andere Frage – bei der Volksabstimmung antworteten die Oberschlesier nicht auf die Frage nach ihrer Sprache, sondern äußerten sich über ihre gewünschte künftige staatliche Zugehörigkeit. Polnische Historiker stellten jedoch Diskrepanzen zwischen 27 28
Czapliński, Marek: Dzieje Śląska od 1896 do 1945 roku, in: ders. u.a. (Hg.): Historia Śląska, Wrocław 2002, S. 362. Lis: Plebiscyt Górnośląski, S. 397f.
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diesen verschiedenartigen Volkszählungen fest. In einer Studie von Zieliński und Przewłocki findet sich ein umfassender Vergleich von Volkszählungen zusammen mit einer These über deren mangelnde Objektivität Volkszählungen, die später von anderen Historikern mit denselben Argumenten wiederholt wurde.29
Warum wurde die Volksabstimmung in Polen als Niederlage bewertet?
Maciej Mielżyński, einer der militärischen Führer des Dritten Schlesischen Aufstandes, schrieb Jahre später: „Die Volksabstimmungskampagne war eine großartige Leistung des polnischen Volkes in Oberschlesien“,30 allerdings „machten die Alliierten ein großes Zugeständnis in Bezug auf die Auswanderer“, und dieses „Zugeständnis hat tatsächlich über den Ausgang der Volksabstimmung zugunsten der Deutschen entschieden. […] Es ist schwer vorstellbar, dass der kluge und gewiefte Lloyd George die Zustände nicht kannte, und natürlich stellte er sich gegen Frankreich, das in diesem Fall isoliert war, und auf die Seite Deutschlands“.31 „Empörung und Entsetzen ergreifen einen, wenn man daran denkt, dass dank der uns unter diesen Bedingungen aufgezwungenen Volksabstimmung ein bedeutender Teil des polnischen Oberschlesiens den Deutschen zugesprochen wurde.“32 Wie bereits erwähnt, war die Parteilichkeit der Alliierten, nicht nur in Versailles, sondern auch 1921, eine gängige politische Interpretation der Niederlage bei der Volksabstimmung. Auch Jan Przewłocki, der sich auf die Geschichte der Diplomatie spezialisiert hat, sah dies während der Volksrepublik Polen so. „Das Ergebnis der Abstimmung spiegelt nicht die tatsächliche Situation des Gleichgewichts der nationalen Kräfte in der Region wider. Es hat zu viele Faktoren gegeben, die Deutschland für den Erfolg beim Plebiszit prädisponiert haben. […] das Gesamtergebnis der Abstimmung bot der deutschen Propaganda sowie den politischen Kreisen in London und Rom ein neues Argument im Kampf um den Verbleib Oberschlesiens in den Reichsgrenzen.“33 Wacław Ryżewski, Autor einer Monographie über den Dritten Schlesischen Aufstand, folgte Przewłocki in seiner Sichtweise: „Es stellte sich heraus, dass 29 30 31 32 33
Łossowski: Kształtowanie się państwa, S. 140. Mielżyński, Maciej (Ps. Nowina Doliwa): Wspomnienia i przyczynki do historji III powstania górnośląskiego, Mikołów 1931, S. 20. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 22. Przewłocki: Mocarstwa zachodnioeuropejskie, S. 41.
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das von den Alliierten geförderte und von der polnischen Regierung und dem Polnischen Plebiszitkommissariat gebilligte Konzept der nationalen Befreiung – eine Volksabstimmung – ein Fehler war. Der Vorschlag wurde nicht im Namen der Oberschlesier gemacht, sondern um die Entscheidung über den nationalen Status dieses Landes zu verschieben. Denn schon zu dem Zeitpunkt, als die Abstimmung beschlossen wurde, behielten sich die Alliierten das Recht vor, eine endgültige Entscheidung zu treffen.“34 Die in Versailles erzwungene Zustimmung zum Plebiszit und der Betrug, der in den parteiischen Abstimmungsregeln bestand, wurden in der Geschichtsschreibung der Vorkriegszeit und der Zeit der Volksrepublik Polen als Erklärung für den ungünstigen Ausgang der Abstimmung herangezogen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stand die Bewertung der Abstimmungsergebnisse ganz im Zeichen des politischen Konflikts zwischen Korfanty und der Sanacja. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig der mangelnden Loyalität während der Volksabstimmungskampagne und des Dritten Schlesischen Aufstandes, was zur Niederlage bei der Abstimmung geführt haben soll. Roman Lutman hat darüber sogar geschrieben: „Die Plebiszitarbeit auf polnischer Seite verlief zweigleisig: einerseits durch die öffentliche Plebiszitorganisation unter der Leitung des Plebiszitkommissars Wojciech Korfanty [dabei implizierte der Autor, dass sie schlecht geführt wurde, Anm. d. Aut.], andererseits durch die geheime Militärorganisation, deren eigentlicher Leiter Dr. Michał Grażyński war [hier deutete der Autor an, dass dank ihr und dem Aufstand zumindest ein Teil Oberschlesiens für Polen gerettet werden konnte, Anm. d. Aut.].“ Weiter schrieb Lutman ausdrücklich, dass die Niederlage bei der Volksabstimmung das Ergebnis eines Mangels an „harmonischer Zusammenarbeit“ und der „zögerlichen Haltung des Plebiszitkommissars“ war. Nur dank der Militärorganisation konnte „eine öffentliche Plebiszitorganisation sinnvoll arbeiten“ und retten, was nach den Fehlern Korfantys noch zu retten war.35 Lutman verschwieg nicht einmal, dass die Volksabstimmung für die polnische Seite eine Enttäuschung darstellte, hierzu verlautbarte er im Besonderen: „Eine große Enttäuschung waren das Ergebnis der Abstimmung in den landwirtschaftlichen Bezirken, vor allem in den Kreisen Oppeln, Lublinitz [Lubliniec] und Rosenberg [Olesno], und der Zusammenbruch des Industriebezirks in seinem zentralen Kreis Hindenburg [Zabrze].“36 Für den Sanacja34 35 36
Ryżewski, Wacław: Trzecie powstanie śląskie 1921. Geneza i przebieg działań bojowych, Warszawa 1977, S. 90. Lutman: Plebiscyt górnośląski, S. 369. Ebenda, S. 378.
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Historiker war dies die Schuld des polnischen Plebiszitkommissars und seiner besonderen Persönlichkeit, die „zu erheblichen Mängeln in der Plebiszitorganisation führte, die eigentlich in der letzten Plebiszitperiode sehr gut entwickelt gewesen war. Übertriebener Optimismus auf der Grundlage falscher Daten und die Vernachlässigung des Industriereviers im entscheidenden Moment sowie die schädliche Bekämpfung der Militärorganisation haben das Ergebnis der Volksabstimmung im wichtigsten Industriegebiet zu Fall gebracht.“37 Die Anhänger Korfantys sahen das Ergebnis der Volksabstimmung umgekehrt als einen polnischen Erfolg. Dieser war das Ergebnis einer sorgfältig vorbereiteten und langjährigen Tätigkeit der Nationaldemokraten und der spontanen Auflehnung des sich seines Polentums bewusst gewordenen Volkes: „Was lehrt uns die Volksabstimmung? Wir verdanken den Sieg dem Volk, der Eintracht und dem Plebiszitkommissar.“38 Nach Ansicht der Anhänger von Korfanty waren es die aus Polen entsandten „Hitzköpfe“, die Militanten, die um jeden Preis einen bewaffneten Konflikt wollten, und diesen Erfolg zunichtemachten. Leute wie Grażyński, Grajek oder Lutman sahen nach dieser Interpretation nicht ein, dass es notwendig war, Diplomatie und Politik mit der begrenzten Möglichkeit eines bewaffneten Vorgehens zu verbinden. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich in der Geschichtsschreibung in der Zeit der Volksrepublik Polen paradoxerweise das Konzept des bewaffneten Handelns durch, d.h. die Version der Sanacja. Zugegebenermaßen haben einige Autoren diesem Druck nicht nachgegeben. Besonders erwähnenswert sind die Arbeiten von Zieliński und Przewłocki, die Korfantys Verdienste um die Plebiszitkampagne und seinen breiten politischen Horizont würdigen. Heute besagt die führende These in der polnischen Geschichtsschreibung eher das Gegenteil. Es wird hervorgehoben, dass Korfanty illegale militärische Aktivitäten effektiv mit Diplomatie gepaart und sich geschickt französischer Unterstützung bedient hat. Fazit Vor genau einhundert Jahren hat der erste polnische Autor, der im Mai 1921 einen ausführlichen Text über die Volksabstimmung schrieb, diese als „Verletzung des Volkswillens“ bezeichnet.39 In der polnischen Geschichtsschreibung spielte die Volksabstimmung für die Ereignisse in Oberschlesien 37 38 39
Ebenda, S. 383. Siehe Polonia, Nr. 2321 vom 23. März. 1931. Firich: Polskość Śląska, S. 3.
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zwischen 1918 und 1922 eine untergeordnete Rolle. Der polnische Erfolg war in erster Linie auf die Aufstände zurückzuführen. Historische Analysen bewerteten die Entscheidung über die Volksabstimmung in Versailles als ungünstig für Polen und sahen die Gründe für dessen Scheitern vor allem im britischen Vorgehen sowie in den begrenzten Möglichkeiten der polnischen Diplomatie in Paris. Die Ergebnisse der Volksabstimmung wurden aufgrund der vermeintlich ungerechten Abstimmungsbedingungen als unglaubwürdig angesehen. Aus heutiger Sicht scheint es, als wäre die polnische Geschichtsschreibung jahrzehntelang, ungeachtet der wechselnden historischen Epochen, gleichsam Teil der Rechtfertigung der polnischen außenpolitischen Ziele gewesen. In der diplomatischen Tätigkeit ist der freie Umgang mit Fakten von Vorteil, in der wissenschaftlichen Analyse hingegen ergibt sich ein subjektives Bild der Vergangenheit. Die Tatsache, dass wir heute offen darüber sprechen, dass die Fakten in vielen Fällen für kurzfristige politische Zwecke zurechtgerückt wurden, bedeutet, dass diese Phase der Geschichtsschreibung, die mehr als ein Jahrhundert in der Diskussion um die oberschlesische Volksabstimmung präsent war, wahrscheinlich der Vergangenheit angehört. Sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Geschichtsschreibung geht es nicht in erster Linie um Geschichtspolitik, sondern um die Feststellung der historischen Wahrheit. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Vergessen und Erinnern. Ein deutsch-polnischer Vergleich Juliane Haubold-Stolle Die öffentliche Wahrnehmung der Jahrestage der oberschlesischen Abstimmung in Polen und Deutschland Die Volksabstimmung in Oberschlesien ist vor 1939 ein Thema gewesen, über das sowohl in Polen als auch in Deutschland Gewissheit geherrscht hat. Nationalfühlende Deutsche konnten darauf verweisen, dass die Abstimmung zugunsten Deutschlands ausgegangen war, Oberschlesien also „deutsch“ war, nationalfühlende Polen darauf, dass die Aufstände gezeigt hatten, dass das Herz Oberschlesiens polnisch schlug. In Polen und Deutschland wurde auf dieser Darstellung gründend eine propagandistische Erzählung aufgebaut, vor allem im polnischen und deutschen Teil Oberschlesiens, mitunter aber auch darüber hinaus, welche die jeweilige Nationalität Oberschlesiens beweisen sollte. Denkmale, Jahrestage und Aufmärsche hielten diese Interpretation am Leben.1 Selbst nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, den massenhaften Verbrechen der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen, darunter die Ermordung von fast drei Millionen polnischen Jüdinnen und Juden, dem Versuch der Germanisierung Oberschlesiens und schließlich der Flucht und Vertreibung der meisten Deutschsprachigen aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Erzählungen noch weiter perpetuiert. Doch heute scheint das ganz anders zu sein. Das hundertste Jubiläum der Abstimmung im Jahr 2021 hat weder in Deutschland noch in Polen eine wirkliche Rolle gespielt. In beiden Ländern war für dieses Thema keine überregionale, landesweite Aufmerksamkeit zu erkennen, die Abstimmung wurde schlicht und ergreifend „vergessen“. Sicher, es gab regionale Museen, die daran erinnert haben, aber auf nationaler Ebene war die Abstimmung in diesem Jahr in Polen kaum und in Deutschland gar nicht präsent.2 Dieser Befund ist 1 Vgl. Haubold-Stolle, Juliane: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919–1956, Osnabrück 2008. 2 Zwischen den Ausstellungsthemen der deutschen und polnischen Museen bestehen jedoch Unterschiede. Das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen stellt die Abstimmung, das Schlesische Museum (Muzeum Śląskie) in Kattowitz (Katowice), das Jahr 1921 insgesamt und die Abstimmung im Speziellen, hauptsächlich den Dritten Aufstand, in den Mittelpunkt.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_004
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eindeutig, in gewisser Weise gleichbedeutend, die Gründe dafür sind jedoch unterschiedlich.3 Um es kurz zusammenzufassen: In Deutschland ist die Erinnerung an die Abstimmung einerseits in Vergessenheit geraten, weil die oberschlesische Geschichte insgesamt nur noch selten als Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen wird, und dies, obwohl es spezielle wissenschaftliche Institute gibt, die sich um genau diese Wahrnehmung bemühen. In der öffentlichen Repräsentation dessen, was deutsche Geschichte ist, beschränken sich die meisten Bücher, Filme und Ausstellungen auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Andererseits ist die oberschlesische Abstimmung kein Thema mehr, weil sie und ihre historischen Umstände komplex sind und noch dazu eng mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und mit den Bedingungen des Versailler Vertrages verknüpft. Gerade in Deutschland ist es m. E. immer noch schwierig, oder vielleicht sogar wieder schwieriger als früher, über das Ende des Ersten Weltkrieges zu sprechen, über Versailles und seine Bestimmungen. In der direkten Nachkriegszeit, sowohl nach 1918 als auch nach 1945, konnte sich die Mehrheit der Deutschen auf die Ablehnung des Vertrages als unfair, weil von den Siegermächten diktiert, einigen. Doch diese Bewertung hat sich verändert. Heute wird der Vertrag in Deutschland differenzierter gesehen. Was jedoch bleibt ist, dass – wer auch immer etwas zum Ende des Ersten Weltkrieges sagen oder schreiben will – er etwas zu den Folgen dieses ersten Krieges sagen muss, d.h. zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg. Und auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, dass über dieses Thema in Deutschland viel gesprochen wird, so gibt es doch Bereiche, die immer noch eher durch kollektives Schweigen auffallen und vor allem Linien, die nicht gern gezogen werden und vor denen viele, vielleicht letztlich wir alle, zurückschrecken. Es bleibt für jede nachfolgende Generation schwer, die Verantwortung für das zu übernehmen, was Deutsche in der Zeit der NS-Herrschaft in Deutschland und in ganz Europa verbrochen haben. Es bleibt schwer zu akzeptieren, dass für diese Verbrechen weder die Niederlage Ich kenne die Ausstellungen leider nicht aus persönlicher Anschauung, jedoch sind die einführenden und begleitenden Internettexte relativ frei von nationalem Pathos und einer einseitigen Überzeichnung der Tatsachen. Interessanterweise wird jedoch in den polnischen Ausstellungen, bspw. zu den Gesichtern des Aufstandes im Kattowitzer Museum, auch die Nachkriegsgeschichte und das Schicksal der Aufständischen im Zweiten Weltkrieg miterzählt, während sich die deutschen Ausstellungen auf die Zwischenkriegszeit beschränken. 3 Interessanterweise hat das Muzeum Narodowe in Warschau zum 95. Jahrestag 2016 bereits informative Artikel zur Abstimmung in Oberschlesien veröffentlicht: Plebiscyt na Górnym Śląsku – Plebiscyt na Górnym Śląsku – Wydarzenia – Wiedza – HISTORIA: POSZUKAJ (historiaposzukaj.pl).
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im Ersten Weltkrieg noch der Vertrag von Versailles und damit letztlich die Alliierten verantwortlich sind, sondern die Deutschen selbst. Viele der heute in Deutschland Lebenden stammen von Menschen ab, die diese Verbrechen verübt haben, von ihnen profitiert haben oder sie haben geschehen lassen.4 Es gibt eine Abwehrhaltung gegenüber dieser Aussage, die dann oft schon die Geschichte der Zwischenkriegszeit umfasst. In Polen hingegen wird nicht prominent an die Abstimmung erinnert, weil sich die Oberschlesier mehrheitlich für Deutschland entschieden haben – und das war eine Niederlage für Polen, im Kampf darum, zu welchem Staat Oberschlesien gehören sollte. Die oberschlesische Abstimmung hatte, anders als von polnischen Nationalisten innerhalb und außerhalb Oberschlesiens prognostiziert, 1921 eben keine eindeutige Entscheidung für Polen ergeben. Wer also heute aus nationalen Gründen an diese Zeit erinnern möchte, um die damalige oder heutige Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen zu „beweisen“, der muss sich auf die Aufstände berufen. Daher stehen seitdem diese – vor allem der dritte – auch im Mittelpunkt der nationalen Gedenkkultur in Polen und eben nicht die Abstimmung 1921. Dies ist bis heute spürbar, denn die Erinnerung an die Aufstände wurde auch 2021 gepflegt: Die oberschlesische Wojewodschaft Schlesien (województwo śląskie) hat Gedenkjahre (2019/2020/2021) ausgerufen, eine entsprechende Internetseite gestaltet, es gab Veranstaltungen, Tagungen, Ausstellungen – und sogar überregional, auf nationaler Ebene, wurde an die Aufstände erinnert. Hierfür besteht eine lange Tradition in Polen. In der Zwischenkriegszeit und Nachkriegszeit, nach 1945, stellte die Erinnerung an die Abstimmung und die Aufstände eine Fortsetzung des propagandistischen nationalen Wettbewerbs um Oberschlesien aus der Zeit der Abstimmung selbst dar. Die nationale und nationalistische Werbung für das jeweilige Land endete ja nicht mit der Abstimmung, die kein eindeutiges Ergebnis erbracht hatte, auch wenn das von deutscher Seite häufig so dargestellt wurde. Beide Seiten rangen weiterhin darum, Oberschlesien als Teil der jeweiligen Nation zu präsentieren, wollten weiterhin die unentschlossenen und bisher unerreichten Bewohner und auch die internationalen Beobachter davon überzeugen, dass Deutschland respektive Polen der richtige Ort für ganz Oberschlesien war. Unterschied und widersprach sich die Argumentation dabei zwangsläufig, weil die einen auf das Gewicht der mehrheitlich polnischsprachigen Bevölkerung setzten, während die anderen auf den Nachweis der wirtschaftlichen und kulturellen Erfolge der deutschsprachigen Städter verwiesen – so waren es doch zwei 4 Salzborn, Samuel: Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Berlin 2020.
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nationale Erzählungen, die sich in ihrer Logik glichen, besonders in dem Punkt, dass es zwischen der einen und der anderen Nation keine Mischung geben sollte, nichts Drittes, nichts Unentschiedenes. Alle Oberschlesier sollten Deutsche, alle Oberschlesier sollten Polen sein und zwar möglichst „reine“ oder „richtige“.5 Die polnischen und die deutschen Nationalisten formten in ihren Erzählungen die Ereignisse so, dass sie die jeweils eigene nationale Position stärkten. So hob die deutsche nationale Erzählung hervor, dass die Deutschen im März 1921 einen eindeutigen Sieg errungen hätten: Die Mehrheit der Bevölkerung hatte für Deutschland gestimmt, wenngleich diese Mehrheit weniger deutlich ausfiel, zog man die nicht mehr in Oberschlesien lebenden Abstimmungsberechtigten ab. Demgegenüber stellte die polnische Seite die Aufstände in den Mittelpunkt ihrer Darstellung, und hier besonders den Dritten von 1921. Schließlich war es viel einfacher, das Polentum Oberschlesiens mit diesen z.T. aus sozialen, aber eben auch aus nationalen Gründen erfolgten Erhebungen „nachzuweisen“, als mit der Niederlage in der Abstimmung. „Objektiv gesehen“ – soweit überhaupt möglich – beweist weder das eine noch das andere m. E. eine eindeutige nationale Zugehörigkeit, sondern nur, dass es deutschfühlende und polnischfühlende Oberschlesier gab bzw. Oberschlesier, die es vorzogen, in Polen oder eben in Deutschland zu leben. Darüber, welche innere Zugehörigkeit sie fühlten, sagt die Abstimmung nichts aus. Eine eindeutige Mehrheit aber hatte niemand, das ist ja die Tragik und zugleich auch das Faszinosum. Noch dazu zog sich diese Spaltung durch ganze Wohngebiete, Dörfer und Familien. Und genau deshalb gingen auch die Aufstände und die Abstimmung unentschieden aus – niemand konnte einen wirklichen Erfolg für sich beanspruchen – wenn auch alle Ereignisse die internationale Entscheidung über die Teilung Oberschlesiens beeinflussten.6 Dennoch, wer für eine Nation überzeugen will, der kennt keine Zwischentöne – und so veranstalteten in der Zwischenkriegszeit in beiden Teilen Oberschlesiens, dem deutschen wie dem polnischen, national überzeugte Oberschlesier Gedenkveranstaltungen, die an die Kämpfe respektive die Abstimmung erinnerten. Außerhalb von Oberschlesien war dies in der Zwischenkriegszeit kein bedeutendes Thema – die polnische Republik schaute, was ihre Weiterentwicklung anging, eher nach Osten, der „Westgedanke“ war zwar schon geboren, jedoch politisch noch nicht in der Mehrheit. In Deutschland standen hauptsächlich Versailles, die Republik als Staatsform 5 Vgl. dazu Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. 6 Vgl. Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien, wie Anm. 1.
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und der Kampf für oder gegen die Demokratie politisch im Fokus – die Teilung Oberschlesiens bildete nur einen kleinen Teil der Debatte um Versailles. Oberschlesien war wichtig, aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung, aber nicht so wichtig. Selbst für Nationalisten, so scheint es, waren andere Themen, wie die Besetzung des Rheinlands, leichter zu verwerten. In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik nutzten die deutschen Nationalisten die Erinnerung an die Abstimmung als Argumentationshilfe gegen die Ostgrenze und die Republik selbst, womit sie indirekt den Aufstieg der NSDAP förderten. Unter der NS-Herrschaft änderte sich die Stoßrichtung der deutschen Erzählung erneut: Jetzt standen auch auf deutscher Seite eher die „Abwehrkämpfe“ gegen die Aufstände im Mittelpunkt der Erinnerung, passend zur NS-Ideologie eines kämpfenden Volkes und gewinnbringend für die propagandistische Vorbereitung eines Angriffskrieges. Aber auch hier galt, dass Oberschlesien innerhalb der NS-Ideologie keinen besonders hohen Stellenwert hatte. Zwar gab es vor Ort den Versuch, die Oberschlesier mit Hilfe des Denkmals auf dem Sankt Annaberg (Góra Św. Anny) und mittels groß inszenierter Massenveranstaltungen ebenfalls für den Nationalsozialismus zu begeistern – mit der Inszenierung der Erinnerung an den dritten Aufstand sollte eine rassistisch geprägte, deutschnationale Erzählung implementiert werden, die ein für alle Mal das Deutschtum Oberschlesiens belegte. Wie wirksam dies gelang, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, allerdings drängt sich die Vermutung auf, dass die Inszenierung vor allem in der Nachkriegszeit Wirkung erzielt hat. Auch nach der Einverleibung Ost-Oberschlesiens wurde die Erzählung eines „deutschen Oberschlesiens“ weitergeführt.7 Nun wurde eine nationale, rassistische Ideologie in die Tat umgesetzt, um den polnischen Staat, die polnische Kultur gewaltsam auszuradieren, durch einen Vernichtungsfeldzug gegen die polnische intellektuelle, kulturelle und politische Elite, bei dem auch die ehemaligen Abstimmungs- und Aufständischen-Anführer auf den Tötungslisten der deutschen Eroberer standen – und mit der Ermordung der oberschlesischen Juden und Jüdinnen, zusammen mit den Millionen weiterer europäischer Jüdinnen und Juden, sollte die Oberschlesien-Frage für immer gelöst werden. Die Erinnerung an die 7 Vgl. dazu Polak-Springer, Peter: The Nazi „recovered territories“ myth in eastern Upper Silesian borderland 1939–1945, in: Bjork, James u.a.: Creating Nationality in Central Europae, 1880–1950. Modernity, violence and (be)longing in Upper Silesia, Abingdon, 2016, S. 170–184 und Rosenbaum, Sebastian: MTI: Monumenta Terii Imperii. Around the Nazi Remembrance Policy in Upper Silesia, in: Dziurok, Adam u.a. (Hg.): Totalitarism in the Borderland. Ethnicity, Politics, and Culture in the Industrial Area of Upper Silesia (1933–1989), Katowice 2019, S. 20–28.
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Zwischenkriegszeit spielte in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle mehr.8 Dann kam die deutsche Niederlage, und mit ihr die Flucht, die Eroberung Oberschlesiens durch die sowjetische Armee, die Übernahme unter polnische Verwaltung und dann in den polnischen Staat sowie schlussendlich die Vertreibung der meisten deutschsprachigen Oberschlesier aus diesem Gebiet. Nach diesen Erfahrungen und Ereignissen und dem, was deutschsprachige Oberschlesier einerseits verschuldet und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hatten, andererseits mit ihren Familien selbst hatten erleiden müssen, wäre zu erwarten gewesen, dass sich die Erinnerung an die Abstimmung drastisch veränderte, erstaunlicherweise tat sie das aber nicht.9 Zumindest nicht in Westdeutschland, sondern zunächst nur in der DDR, wo die Erinnerung an die oberschlesische Abstimmung mit der Eingliederung der oberschlesischen „Umsiedler“ in das neu aufgebaute Land einfach aufhörte zu existieren bzw. lediglich als Erinnerung an soziale Volksaufstände, als Teil der kommunistischen Bewegung, fortbestand.10 Und in Westdeutschland? Dort versuchten die Landsmannschaften nach 1945 an die Erzählung der Vorkriegsjahre anzuknüpfen, jetzt ergänzt durch die Betonung des Leides der Vertriebenen. Wieder musste auch die Abstimmung als Nachweis des Deutschtums Oberschlesiens herhalten, vorgetragen, um der Welt zu beweisen, dass Oberschlesien deutsch war, aber auch, um den Landsleuten in Westdeutschland, die die Vertriebenen nicht als gleichwertige Deutsche annahmen, zu beweisen, dass sie wirklich deutsch waren, sogar „deutscher“ vielleicht als diejenigen, die sie aufnahmen, hatten doch die Oberschlesier für Deutschland schon vor 1933 gelitten. Diese ständige, sich inhaltlich kaum verändernde Betonung des Deutschtums einer gemischten Region, die nun polnisch geworden war, und die Nichtbeachtung dessen, was zwischen 1939 und 1945 geschehen war, führte dazu, dass diese Erzählung in der 8
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Vgl. dazu Kaczmarek, Ryszard: Der zweite Weltkrieg, in: Bahlke, Joachim/Gawrecki, Dan/ Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2015, S. 347–665: Loose, Ingo: Polen, die eingegliederten Gebiete, August 1941–1945 (Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945), Berlin 2020; Retterath, Hans-Werner (Hg.): Germanisierung im besetzten Ostoberschlesien während des Zweiten Weltkriegs, München 2018. Vgl. dazu noch einmal deutlich die Analyse von Kessler, Wolfgang: Das „befreite Schlesien“. Der Regierungsbezirk Kattowitz 1939–1945 in der deutschen Wahrnehmung, in: Retterath, Hans-Werner (Hg.): Germanisierung im besetzten Ostoberschlesien während des Zweiten Weltkriegs, Münster 2018, S. 17–54. Vgl. Schumann, Wolfgang: Oberschlesien 1918/1919. Vom gemeinsamen Kampf deutscher und polnischer Arbeiter, Berlin (Ost) 1961.
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bundesdeutschen Gesellschaft immer weniger anschlussfähig wurde – und in letzter Konsequenz dazu, dass die oberschlesische Abstimmung heute mehr oder minder vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Eine Betrachtung ist hier von zwei Seiten möglich: Guido Hitze zufolge hat die sozialliberale Politik der Anerkennung der Ostgrenze Oberschlesien zu einem politisch inkorrekten Thema gemacht – im Gegenzug hat aber wohl auch die Beharrlichkeit, mit der die politischen Vertreter der Oberschlesier die Beschäftigung mit den kritischen Fragen der deutschen Geschichte verweigert haben, dazu geführt, dass aus der Beschäftigung mit Oberschlesien ein rückwärtsgewandtes, rechtsgerichtetes Thema wurde, das kaum jemand bearbeiten wollte, der nicht in diese Richtung dachte. Die Landsmannschaften, bei aller verständlichen Rückkehrsehnsucht der ersten Vertriebenengeneration, und auch die meisten Oberschlesien-Forscher hatten wie fast alle Deutschen in den ersten beiden Dekaden nach 1945 noch nicht begriffen, dass die Verbrechen der Deutschen im und mit dem NS-Staat die europäische Geschichte und auch deren Erzählung grundlegend verändert hatten. Aber ohne einen Diskurs und Forschungen über diese Zeit war ein Austausch über die darüberhinausgehende deutsch-polnische Geschichte zum Scheitern verurteilt.11 Hinzu kam, dass die Erinnerungspolitik, solange die Grenze nicht dauerhaft anerkannt und gesichert war, nicht im Dialog stattfinden konnte – vielmehr bestanden zwei Monologe, die parallel zueinander existierten. Erst die Zusicherung, dass die Grenze von deutscher Seite nicht revidiert werden würde, erlaubte eine Kommunikation mit der polnischen Gesellschaft.12 Mit dem Ende der realsozialistischen Diktatur in Polen und der DDR eröffnete sich dann eine gesellschaftliche und wissenschaftliche fruchtbare Diskussion, die bis heute anhält, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form. Doch auch mit den wissenschaftlichen Debatten nach 1990 gelangte Oberschlesien nur für kurze Zeit in die öffentliche Wahrnehmung zurück. Existiert also keine Erinnerung mehr an die oberschlesische Abstimmung in 11
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Forschungen zu Oberschlesien in der Bundesrepublik Deutschland behandelten die Zeit nach 1933 bis in die 1990er Jahre hinein oft nicht oder setzten erst 1945 wieder ein. Vgl. dazu die Rezension von Stephan Lehnstedt noch 2018 auf H-Soz-Kult: Rezension zu: H.-W. Retterath (Hrsg.): Germanisierung im besetzten Ostoberschlesien | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web (hsozkult.de), Abruf vom 15.01.2022. Ein Paradebeispiel hierfür ist die deutsch-polnische Schulbuchkommission, vgl. DPSK: Geschichte (schulbuchkommission.de) sowie Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission 1972–1990, Göttingen 2015.
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Deutschland? Kaum eine, möchte ich sagen: Ja, es gibt eine Ausstellung des Oberschlesischen Landesmuseums, die sicherlich ohne Pandemie mehr Aufmerksamkeit erhalten hätte, und es gibt diese Tagung hier sowie einen Schwerpunkt Oberschlesien des Jahrbuchs des Deutschen Polen-Instituts13. Zudem finden sich noch ein Bericht der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks über den Jahrestag, aber das war es dann eigentlich auch schon. In den großen Zeitungen, die sonst häufig über historische Jahrestage berichten, oder im Fernsehen war die Abstimmung seit März kein Thema. Sie scheint tatsächlich mehr oder minder vergessen. Dabei ist es nicht so, dass Oberschlesien an sich in Vergessenheit geraten wäre – dass die ehemaligen Ostgebiete deutsch gewesen sind, lernen die Kinder noch in der Schule. Aber eine differenzierte Geschichte dieser Regionen, die Frage des Einflusses deren spezifischer Kultur auf die deutsche Geschichte allgemein, die Tatsache, dass Deutschland Teil Mitteleuropas gewesen ist, dass die deutsche Geschichte auch polnische, tschechische und große ostjüdische Anteile hat, ebenso wie baltische, rumänische, ungarische (um nur einige, bei weitem nicht alle, zu nennen), das ist bei den meisten nicht mehr präsent. Deutsche Geschichte verliert dadurch an Multiperspektivität und Tiefe – Wesentliches wird einfach ausgelassen. Die kleindeutsche „Lösung“, wie sie so schön heißt, der Nationalstaat von heute, erscheint in dieser Erzählung immer mehr als zwangsläufige Entwicklung der Geschichte – eine Verkürzung, die auch in der Gegenwart andere Modelle als die nationale Differenzierung von Menschen ahistorisch erscheinen lässt: Auch die Gegenwart wird beschnitten, wenn wir die Geschichte stromlinienförmig erzählen – eine Gegenwart, in der immer noch Oberschlesierinnen und Oberschlesier, ob in Deutschland oder Polen, zwischen beiden Ländern, zwischen beiden Nationen leben und beiden Nationen angehören. Oft fällt es ihnen schwer, ihre Zugehörigkeit und Selbstwahrnehmung auszudrücken. Häufig haben ihre Familien unter der nationalen Politik sowohl Deutschlands als auch Polens gelitten.14 Ihre Familiengeschichten und auch ihre eigenen Lebenserfahrungen zwischen den beiden Ländern zeigen, dass Menschen mit nicht eindimensionaler „nationaler“ Zugehörigkeit noch heute mit Misstrauen betrachtet werden, nicht „richtig“ erscheinen. Dabei sind genau diese Menschen, wie andere Migrantinnen und Migranten zwischen zwei Nationen auch, eine lebendige Brücke zwischen zwei Ländern – eine unsichtbare Verbindung, die heute mehr denn je gebraucht wird. 13 14
Deutsches Polen-Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2021 (Bd. Nr. 23), Oberschlesien, Darmstadt 2021. Vgl. Szmeja, Maria: Oberschlesien ist eine problematische Region, in: Jahrbuch Polen 2021. Oberschlesien, Wiesbaden 2021, S. 33–45.
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Und auch das zählt zu den Gründen, warum die Geschichte der Abstimmung, ja, die Geschichte Oberschlesiens, nicht öffentlichkeitswirksam erzählt wird. Sie ist nicht geradlinig. Von deutscher, aber auch von polnischer Seite wurden Verbrechen verübt (ohne dabei das Ausmaß gleichsetzen zu wollen). Oberschlesische Geschichte ist kompliziert, vielschichtig und mehrdeutig. Sie zeigt, dass der Versuch, ein Selbstbestimmungsrecht der Völker nach 1919 in der internationalen Politik einzuführen, keine Lösung war, die einer kulturell und sprachlich gemischten Region gerecht wurde und Frieden brachte.15 Im Endeffekt führte das Selbstbestimmungsrecht sogar ganz im Gegenteil zum „Unmixing“, dazu, die „Völker“ voneinander zu trennen, und zu einer Vorstellung von klar separierten kulturellen, sprachlichen, nationalen Einheiten. Die sogenannten „ethnischen Säuberungen“ kosteten Millionen von Menschen das Leben, wie sich nach 1938, nach 1945 und vielen weiteren darauffolgenden Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg gezeigt hat. Die Uneindeutigkeit der oberschlesischen Geschichte irritiert, dabei sind gerade hier die vielen Graustufen menschlichen Verhaltens und politischer Entscheidungen zu erkennen.
Und wie sieht es nun in Polen aus? Vor hundert Jahren haben die Bewohner Oberschlesiens entschieden, dass sie Teil des wiedergeborenen Polens sein wollen, wir sind ihnen dankbar für ihre patriotische und hingebungsvolle Haltung, die als Beispiel für die heutigen Soldaten dient.16
Aus dem Zitat des polnischen Verteidigungsministers Mariusz Błaszczak zum Jahrestag des Ersten Oberschlesischen Aufstands könnte man schließen, der Stolz bezüglich der Aufstände wäre auf Regierungsebene ungebrochen – und im Großen und Ganzen hat das der polnische Staatspräsident Andrzej Duda in diesem Jahr so auch noch einmal bekräftigt. Dies wäre dann kein Blick auf einen Aufstand, der, wie der Vorsitzende der deutschen Minderheit in Oberschlesien stets betont, in Oberschlesien viel Leid ausgelöst hat, kein Blick auf eine Region, die zwischen zwei Nationalismen einen hybriden Krieg – oder 15
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Siehe dazu Cercel, Cristian: Selbstbestimmungsrecht, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg. de/p32664 (Stand 20.09.2021) und auch https://www.zeit.de/1989/18/nur-menschenhaben-rechte/komplettansicht (aufgerufen am 20.09.2021). „Sto lat temu mieszkańcy Górnego Śląska zdecydowali, że chcą być częścią odradzającej się Polski; jesteśmy im wdzięczni za ich postawę patriotyzmu i oddania, która jest wzorem dla dzisiejszych żołnierzy“, zitiert nach Minister Błaszczak na Górnym Śląsku: sto lat temu zdecydowano, że tu odrodzi się Polska – TV Republika.
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Bürgerkrieg – erlebt hat, sondern vielmehr eine Perspektive, die hervorhebt, dass sich die Polen hier ihre Unabhängigkeit erkämpft haben. Und in dieser Perspektive sind alle, die etwas anderes vorschlagen, sei es Autonomie oder eine schlesische regionale Identität innerhalb Polens, oder die davon sprechen, dass es deutsche Oberschlesier gab und gibt, keine echten Polen. Hier scheint der Wunsch nach Eindeutigkeit ebenfalls groß zu sein, in diesem Fall der Wunsch nach einer eindeutigen nationalen Zugehörigkeit Oberschlesiens. Diese Form der Erinnerung an die Aufstände knüpft direkt an die Erinnerung der Nachkriegszeit in Polen an. Mit der Eingliederung Schlesiens in die Volksrepublik Polen kamen auch Oberschlesien und die Erinnerungsorte der Aufstände sowie der Abstimmung unter polnische Herrschaft. Die Aufstände wurden als Teil der Erzählung von den „wiedergewonnenen Gebieten“ genutzt, um das Polentum der Region öffentlich darzustellen und zu beweisen – ja, gar zu inszenieren. Dazu gehörte, dass die deutschen Denkmale, Museen und Erinnerungsorte zerstört werden mussten (soweit dies nicht bereits durch den Krieg geschehen war) bzw. neu als polnische Denkmale, Museen und Erinnerungsorte aufgebaut wurden. Der Enthüllung des Denkmals der Aufständischen Tat im Juni 1955 folgte 1964 die Eröffnung eines Museums der Aufständischen Tat in der benachbarten Stadt Leschnitz (Leśnica). Dort und am Denkmal fanden jährlich Kundgebungen statt. Besonders groß begangen wurde der 50. Jahrestag 1971. Die Erinnerung an die Aufstände manifestierte sich hier, bei der Feier am Sankt Annaberg. Die Aufstände bewiesen, dass Oberschlesien polnisch war, und das polnische Oberschlesien bewies zugleich das Polentum der gesamten „Wiedergewonnenen“ Gebiete mit – und dies bis 1989. Gleichzeitig kann diese Betonung des Polentums aber auch als Antwort auf die reale Bedrohung für polnische Oberschlesier in Polen und auch in Oberschlesien durch die deutsche NS-Terrorherrschaft gesehen werden, und nicht zuletzt war sie auch eine Reaktion auf die deutsche Erinnerungspolitik in Bezug auf die Abstimmung. Solange es in Deutschland noch politische Strömungen gab, die eine völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in Frage stellten, solange war oder schien es in Polen absolut notwendig, Oberschlesien nur und als rein polnisch darzustellen. Hätte es in Deutschland auch schon vor 1989 eine wirkliche Auseinandersetzung mit der vielfältigen Geschichte, auch mit der nationalsozialistischen Geschichte Oberschlesiens gegeben, so wäre die Mauer der gegensätzlichen Erinnerungen vielleicht auch schon früher durchlässig geworden. Dies zeigte sich nach dem Ende des kommunistischen Systems in den 1990er Jahren, als in Polen wie in Deutschland die blinden Flecken der eigenen Geschichte wissenschaftlich untersucht wurden und das Gespräch über die oberschlesische Geschichte neu auflebte.
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Damals entwickelte sich in Polen ein differenzierterer Blick auf Oberschlesien. Vor zehn Jahren, 2011, hat der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski zum Gedenken an den dritten Aufstand gesagt: „Wie unsere Vorfahren verneigen wir uns hier vor dem Heldentum der Aufständischen, ohne die Schlesien nicht Teil Polens geworden wäre. Aber wir achten auch die Entscheidung derer, die auf der anderen Seite der Auseinandersetzungen gestanden haben. Indem wir die Polonität Schlesiens bejahen, erkennen wir zugleich seine Außergewöhnlichkeit, seine Besonderheit, seine Bräuche und Kultur an.“17 Hier finden wir beides – die Erinnerung an die Aufstände, aber auch die Akzeptanz, dass Oberschlesien vielfältig gewesen ist und bleibt. Und in diese Richtung, wenn auch nur am Rande, deutete auch die Aussage des polnischen Präsidenten Andrzej Duda in diesem Jahr. Obwohl er hauptsächlich an Menschen erinnerte, die sich für Polen engagiert hatten, erwähnte er doch auch diejenigen, deren Engagement der deutschen Seite galt. Eine klare Schlussfolgerung ist aus dieser Beobachtung nicht leicht zu ziehen. Fest steht, dass beide (Nicht-)Darstellungen der oberschlesischen Geschichte etwas mit der Frage zu tun haben, welchen Stellenwert die Nation in der Gegenwart in den beiden Ländern einnimmt. Es gibt in Deutschland eine Tendenz zur Internationalität oder Übernationalität, um der eigenen Nationalität zu entkommen – da wir Deutschen nur zu gut wissen, wie exkludierend, toxisch und verbrecherisch Nationalismus sein kann. Deswegen schauen viele Deutsche auch mit Unverständnis auf nationalfühlende Polen. Aber in Polen ist die Nation der Kern der Demokratie, die eine Einheit, die sinnbildlich für Demokratie und Selbstbestimmung steht – angesichts der historischen Erfahrungen, die sich dahinter verbergen, nur allzu nachvollziehbar. Es ist wichtig, das im Hinterkopf zu behalten, wenn wir, wie auf der Tagung in Ratingen 2021, miteinander auf einer konkreten, wissenschaftlichen Ebene sprechen. Es gilt, Fakten zu ermitteln, aber auch die daraus folgenden Interpretationen zu vergleichen, zu hinterfragen und zu diskutieren. Tagungen wie diese sind dafür ein guter erster Schritt – und auch selbst Teil der Erinnerungskultur.
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Auch 2011 hat es in Oberschlesien Auseinandersetzungen darum gegeben, wer im Mittelpunkt der Gedenkfeiern zum 90. Jahrestag stehen sollte – allein die für die polnische Seite gefallenen schlesischen Aufständischen oder auch die Oberschlesier und Deutschen, die für ein deutsches Oberschlesien gestorben sind. Vgl. dazu Struve, Kai: Ascribing identity: public memory of the plebiscite and uprisings, in: Bjork, James u.a. (Hg.): Creating Nationality in Central Europe, 1880–1950. Modernity, violence and (be)longing in Upper Silesia, Abingdon 2026, S. 210–222.
Politische Aspekte des polnischen kollektiven Gedächtnisses an die schlesischen Aufstände und das Plebiszit im 20. Jahrhundert. Genese – Entstehung – Dauer Bernard Linek Quellenlage Das heutige polnische kollektive Gedächtnis mit Bezug zu den schlesischen Aufständen und die Plebiszitzeit gründet auf verschiedenen historischen Quellen und politischen Impulsen. Es konzentriert sich dabei ganz deutlich auf die Aufstände, die zu den wenigen erfolgreichen polnischen Befreiungskämpfen gehören. Ihre Ursprünge sind heute nicht immer offensichtlich, auch wenn hervorzuheben ist, dass sie aus breiteren historischen Traditionen erwachsen ist und im Laufe ihrer Entstehung auf andere geschichtliche und politische Narrative reagiert hat.1 Es lassen sich mindestens fünf solcher regionalen Konstruktionen ausmachen, die sich in ihr widerspiegeln, sowie zwei polnische Gesamterzählungen, in deren Stränge sie eingebettet ist. Diese Erinnerung übernahm in ihren verschiedenen Ausprägungen passende Elemente aus anderen Diskursen sowie bewährte Methoden zur Beeinflussung von Zielgruppen. Bevor der Versuch unternommen wird, die Politisierung der Erinnerung an die Aufstands- und Plebiszitzeit zu beschreiben,2 soll mit einer Darstellung 1 Der Autor sieht keine Möglichkeit, hier eine Analyse der Auswirkungen des „memory turn“ der letzten Jahrzehnte in irgendeinem seiner Zusammenhänge vorzunehmen. Eine allgemeine Einführung befindet sich in: Erll, Astrid: Kultura pamięci. Wprowadzenie, übers. v. Agata Teperek, Warszawa 2018. In polnischer Sprache siehe verschiedene Arbeiten und Herausgeberschaften von Kornelia Kończał, Magdalena Saryusz-Wolska und natürlich von Robert Traba, dem „Urheber“ dieses Milieus, insbesondere: Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Polsko-niemieckie miejsca pamięci, Bd. 1–4, Warszawa 2013–2015. Im oberschlesischen Kontext siehe: Linek, Bernard/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Leksykon mitów, symboli i bohaterów Górnego Śląska w XIX i XX wieku, Opole 2015. 2 Für den Autor ist eine angemessene Bezeichnung für die analysierten Phänomene problematisch. Das im Titel genannte „kollektive Gedächtnis“ bezieht sich auf die gängigste Terminologie für die gesellschaftliche Schaffung eines Bildes von der Vergangenheit. Wie so oft bei populären Kategorien ist die Bandbreite der Phänomene, die von verschiedenen Autoren damit in Verbindung gebracht werden, jedoch etwas entmutigend. Sie spiegelt auch einen
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der „großen Erzählungen“ über die moderne polnische Nation in historischterritorialer Hinsicht begonnen werden. Erstens wurden die Grundlagen des polnischen Narratives über Schlesien im nationaldemokratischen, bürgerlichen Umfeld – unter den Begründern des polnischen Westgedankens – geformt. Sie bereiteten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein Programm für den Aufbau einer modernen polnischen Nation auf ethnischer Grundlage vor, das auf die Erneuerung des Piastenpolens, des „volkstümlichsten“ Polens der Geschichte abzielte. Technisch gesehen sollte dies durch den Aufbau von Nationen von der Basis aus geschehen – an Wochentagen durch Vereine geprägt und an Feiertagen durch nationale Feierlichkeiten sakralisiert. Dies stellte ein doppeltes westliches Konzept zur Modernisierung Polens dar. Territorial auf die Eingliederung von Gebieten ausgerichtet, die von ethnisch polnischen Menschen bewohnt wurden, die auch westlich der Grenzen der Ersten Republik lebten, und sozial – wie im übrigen Westeuropa – mit der Bourgeoisie und ihren Auswüchsen verbunden. In Polen war dies angesichts der Schwäche der Städte und der modernen Eliten sowie der damit verbundenen Bauernbewegung jedoch zugleich auch ein Programm zur Modernisierung des polnischen Landlebens. Trotz ihrer positivistischen Ursprünge und solcher Bezugsgruppen waren ihre wichtigste Führungsgruppe, die Träger und Säer dieser Idee, katholische Priester. Die damit verbundene Vision hatte bereits um die Jahrhundertwende verbal einen konservativen Charakter angenommen.3 Ein anderer Weg, der zum Aufbau der modernen Republik geführt hat, wurde durch die republikanische Freiheitserzählung eingeschlagen, die in vielerlei Hinsicht einheimischer war, in territorialer Hinsicht jagiellonisch. Sie war von der polnischen Romantik durchdrungen, deren Träger die Freiheitskreise waren. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren dies Akademiker, Lehrer und Angehörige der freien Berufe, deren Mitglieder sich organisatorisch vor allem in der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) und der polnischen Linken im weiteren Sinne wiederfanden. Sie waren es, die sich selbst das Recht einräumten, das Volk zu vertreten und zu beeinflussen, mit dem vorrangigen Ziel, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Nur im galizischen Zweig nahm die Linke am demokratischen gesellschaftlichen Leben teil und entwickelte gewissen statischen Charakter und eine These der Homogenität des Phänomens wider. Daher wird in diesem Artikel auch der Begriff „kollektives Gedächtnis“ als diskursive Schaffung unterschiedlicher Bilder von der Vergangenheit verwendet. Das Wort „Erinnerung“ birgt in der polnischen Sprache ähnliche Gefahren wie der Begriff Erinnerungsorte. In beiden Fällen dominiert dabei die historisch geprägte Konnotation der materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit, die hier ebenfalls nicht Gegenstand des weiteren Interesses sind. 3 Eine Analyse der Ansichten des Milieus und einer Gruppe von Schlüsselideologen/Schlüsselideologien: Wrzesiński, Wojciech (Hg.): Twórcy polskiej myśli zachodniej, Olsztyn 1996.
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Organisationen und Vereinigungen, die diesem System angemessen waren. Paradoxerweise war diese Strömung mit ihrem proklamierten Programm für den vorrangigen Wiederaufbau der Ersten Republik nicht nur eng mit dem Kult der Tat, vor allem der bewaffneten, sondern auch mit deren adeligem Erbe verbunden. Der romantische Heldenkult und die Verherrlichung eines starken Staates, beides typisch für die Linke, brachten die Heroisierung von Anführern und die Bedrohung durch das Führertum mit sich.4 Im Oberschlesien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als diese aktivistischen kulturellen Visionen in politische Programme umgewandelt wurden, gab es nicht viele Anhänger des letztgenannten Weges. Zwar war die PPS des preußischen Teilungsgebietes seit den 1890er Jahren in Oberschlesien aktiv, aber gerade die Haltung zur polnischen Unabhängigkeit bildete den Hauptanstoß für ihren Konflikt mit der älteren oder zumindest größeren Schwesterpartei, der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Die deutschen Sozialisten waren nach der Aufhebung der antisozialistischen Gesetze entweder auf dem Weg des Reformismus, dessen wesentliches Element die Versöhnung mit dem deutschen Staat war, oder sie beharrten (Rosa Luxemburg) auf einer internationalistischen, eigentlich antinationalen Position, die zumindest die Bedeutung der nationalen Frage untergrub. Beide Strömungen innerhalb der SPD hatten bereits im 20. Jahrhundert die Frage der polnischen Unabhängigkeit oder sogar der polnischen Sprachrechte als törichte Fantasien behandelt, welche die Köpfe der Arbeiterklasse verwirrten, und sich für die Schaffung eines zentralisierten (deutschen) Staates eingesetzt. Der ungleiche Konflikt zwischen den beiden „nationalen“ Flügeln des sozialistischen Lagers in Deutschland führte dazu, dass aus einem der am stärksten industrialisierten Bezirke des Reiches keine sozialistischen Abgeordneten im Reichstag vertreten waren und sich in Oberschlesien linke Arbeiterorganisationen wellenartig entwickelten.5 In Anbetracht dieser Sachlage waren die rechten Kreise unangefochtener Spitzenreiter des polnischen politischen Spektrums in Oberschlesien. Bis Anfang 1900 waren dies die Konservativen, die in Anlehnung an ihr Presseorgan, 4 Der Großteil der polnischen Geschichtswerke über das 19. und frühe 20. Jahrhundert ist den in diesen beiden Abschnitten behandelten Problemfeldern gewidmet. Zur Einführung in den vorgestellten Ansatz: Kizwalter, Tomasz: O nowoczesności narodu. Przypadek Polski, Warszawa 1999; ders.: Polska nowoczesność. Genealogia, Warszawa 2020. 5 Mehr zu den komplizierten Beziehungen siehe: Hawranek, Franciszek: Polska i niemiecka socjaldemokracja na Górnym Śląsku w latach 1890–1914, Opole 1977; Chlebowczyk, Józef: Stanowisko SPD w kwestii narodowościowej (do 1914 r.), in: Czubiński, Antoni (Hg.): Rozwój organizacyjny i ewolucja programowa Socjaldemokratycznej Partii Niemiec 1875–1975, Poznań 1976; Linek, Bernard: Próby wejścia socjaldemokracji na Górny Śląsk przed pierwszą wojną światową, in: ders.: Dwa narody. Wyłanianie się nowoczesnych narodów na Górnym Śląsku w XIX i w XX wieku (wybór artykułów), Opole 2020, S. 123–146.
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den „Katolik“, katolikowcy genannt wurden und persönlich mit Adam Napieralski verbunden waren. Sie spalteten sich Anfang der 1890er Jahre vor dem Hintergrund eines Streits über den Umgang mit der polnischen Sprache in der Schule von der translingualen katholischen Zentrumspartei ab, blieben jedoch im ständigen Dialog mit den deutschen Katholiken und gingen nicht über kulturelle Forderungen hinaus. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und mit dem Erscheinen einer neuen Generation, symbolisiert durch Wojciech Korfanty, auf der politischen Bühne wurden die polnischen Oberschlesier vollständig in die moderne Debatte über die Schaffung der polnischen Nation integriert. Dieses Milieu fand sich zunächst im nationaldemokratischen Lager wieder, verließ dieses aber bald und bildete, nachdem es sich mit den „Alten“ arrangiert hatte und „getauft“ worden war, was als immer enger werdende Verbindung zwischen propolnischen oberschlesischen Priestern und dem Lager zu verstehen ist, den Rahmen für die künftigen Christdemokraten bzw. das polnische Zentrum. Organisatorisch führten diese Schritte zur Übernahme polnischer Verbände und Gewerkschaften aus dem Napieralski-Milieu durch die „Jungen“ (von besonderer Bedeutung war hierbei der Verband gegenseitiger Hilfe [Związek Wzajemnej Pomocy], die größte polnische Gewerkschaftsorganisation im Oberschlesischen Industriebezirk), zu der weitere hinzukamen (z.B. die Turnvereinigung „Sokół“), wodurch eine moderne Gesellschaft parallel zur deutschen entstand. Ideologisch gesehen waren diese Veränderungen mit der führenden Rolle des „großpolnischen“ Elements im kulturpolitischen Diskurs verbunden. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine persönliche Dimension, d.h. auch die Anwesenheit von im preußischen Teilungsgebiet geborenen Personen in der polnisch-oberschlesischen Bewegung, sondern um die Übernahme der Idee eines „Großen Polens“ durch die polnischen Oberschlesier, in dessen Grenzen Oberschlesien in Zukunft einbezogen werden sollte. Die Folge dieser Veränderungen war ein zunehmend irredentistisches Programm.6 Nach der Teilung der Region im Jahr 1922 übernahm die oberschlesische Rechte die Herrschaft über die schlesische Wojewodschaft, wozu auch die Fähigkeit gehörte, die Art und Weise des Gedenkens an die Zeit von 1919 bis 1921 von oben zu gestalten und damit die Erinnerung an diese Zeit zu beeinflussen. 6 Zur ideologischen deutsch-polnischen Auseinandersetzung siehe: Struve, Kai: Agitacja wielkopolska i Hakata, in: Linek/Michalczyk (Hg.): Leksykon mitów, S. 273–276. Bezeichnenderweise war es selbst in der Zeit des „tiefen“ Volkspolens, in der die Aufdeckung der Rolle des linken Denkens in der polnischen Geschichte zu den ungeschriebenen Regeln der Historikerwerkstatt gehörte, schwierig, solche Elemente in der Geschichte Oberschlesiens herauszuarbeiten, und in der Regel führten die Überlegungen über den oberschlesischen Weg zu Polen von Karol Miarka über Adam Napieralski zu Wojciech Korfanty, siehe z.B.: Zieliński, Władysław: Świadomość historyczna w rozwoju polskiej więzi narodowej i ruchu narodowego na Górnym Śląsku, Katowice 1975.
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Obwohl Geschichtspolitik nicht zu den Prioritäten dieser Regierung gehörte, ergriff sie einige Maßnahmen in diesem Bereich, die gelinde gesagt darauf abzielten, an sich selbst zu erinnern; in erster Linie an die Führer der polnischen Nation in Oberschlesien und in zweiter Linie an den organisatorischen Beitrag der örtlichen Polen zur Durchführung des „siegreichen“ Plebiszits vom 20. März 1921.7 Die Gegenerzählung bestand darin, die Rolle der schlesischen Aufstände, insbesondere des dritten, durch den Kreis der Piłsudski-Anhänger hervorzuheben. Obwohl die ersten materiellen Gedenkfeiern unmittelbar nach der Niederschlagung des Ersten Schlesischen Aufstandes stattgefunden hatten, wurde das Thema erst politisch, als die Anhänger des Marschalls in der Vereinigung der schlesischen Aufständischen (Związek Powstańców Śląskich, ZPŚl.) an Einfluss gewannen. Bereits nach der Machtübernahme von Michał Grażyński, einem Vertreter des Sanacja-Lagers (also Anhänger von Marschall Józef Piłsudski) in Kattowitz (Katowice) und während des Dritten Aufstandes Stabschef der Aufständischen-Gruppe „Ost“, im Sommer 1926 wurde diese Vision in Form eines Mythos über die entscheidende Rolle des Dritten Schlesischen Aufstandes bei der Angliederung eines Teils von Oberschlesien an Polen kodifiziert. Den Kontrapunkt im Konflikt zwischen diesen beiden dominanten polnischen Visionen der Vergangenheit bildeten zwei Konstrukte. In erster Linie war das die doppelte deutsche Erinnerung. Die demokratischen Milieus der Provinz Oberschlesien hoben die Bedeutung des „siegreichen“ Plebiszits, das Deutschland durch das anschließende Diktat in Genf am 20. Oktober 1921 mit dem Teilungsbeschluss genommen wurde, ebenfalls hervor. Bereits in dieser Vision, die im Mythos vom Land unter dem Kreuz kodifiziert wurde, gab es revisionistische Elemente. Noch weiter gingen die Forderungen der deutschen Befürworter der bewaffneten Aktion, die aus den Kreisen der Freikorps und des Selbstschutzes stammten und in ihrem Kampf den Beginn der Wiedergeburt Deutschlands und die Ablehnung des Urdiktats, also des Versailler Vertrages, sahen.8 7 Über den Beginn des „siegreichen“ Propagandakampfes siehe: Linek, Bernard: Plebiscyt z 20 marca 1921 roku, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik powstań śląskich, Bd. 3, III powstanie śląskie. Maj-lipiec 1921, Katowice 2021, S. 209–222. 8 Hier insbesondere die Arbeit von Haubold-Stolle, Juliane: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919–1956, Osnabrück 2008; in polnischer Sprache: Dies.: Góra Świętej Anny w niemieckiej i polskiej tradycji politycznej, in: Linek, Bernard/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Górny Śląsk wyobrażony: wokół mitów, symboli i bohaterów dyskursów narodowych, Opole–Marburg 2005, S. 191–207; dies.: Pamięć walki plebiscytowej i powstań śląskich, in: Linek, Bernard/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Leksykon mitów, S. 277–280; dies.: Górnośląski Selbstschutz: niemiecka obrona militarna obszaru plebiscytowego i jej późniejszy obraz, ebenda, S. 281–283.
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Politisch einfluss- und bedeutungslos, aber von den Behörden beiderseits der Grenze aufmerksam verfolgt, von den Demokraten mit Nachsicht und von der Sanacja mit Hass behandelt, agierte die oberschlesische Bewegung in der Zwischenkriegszeit in der Wojewodschaft. In ihrer Erzählung bezog sie sich nicht auf beide Ereignisse, sondern zeigte ganz allgemein die oberschlesische Ungerechtigkeit auf, die sich aus der Teilung der Region und dem Zuzug von Neuankömmlingen aus dem polnischen Hinterland nach Oberschlesien ergeben hatten. Ihre „große Stunde“ schlug nach 1989, als diese Argumentation von der neuen oberschlesischen Nationalbewegung entstaubt und gegen die polnische Erinnerung an die Aufstände in Stellung gebracht wurde.9 Von politischer Folklore kann man im Fall der polnischen Kommunisten in Oberschlesien sprechen, deren Agententätigkeit oder zumindest zweideutige Haltung in der Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Region (oder besser gesagt: Eindeutigkeit, da sie dafür eintraten, dass die Region zu einem Staat mit einer stärkeren Arbeiterbewegung, d.h. Deutschland, gehören sollte) zu ihrer eigenen Marginalisierung in der Wojewodschaft Schlesien führte. Das Zusammentreffen schicksalhafter historischer Ereignisse führte dazu, dass diese politische Formation nach dem Krieg in Polen und Oberschlesien herrschte, indem sie verschiedene politische Milieus absorbierte und unterschiedliche Konstrukte und Komponenten synthetisierte. Im Folgenden sollen die Entstehung, die konstituierenden Elemente und die politische Dynamik des Zusammenspiels polnischer Gedenkformen vor allem in der Zwischenkriegszeit näher beleuchtet werden.10
Demokratische Anfänge (1922‒1926)
Der Kanon der späteren Behandlung des Zeitraums von 1919 bis 1921 durch die Kreise der polnischen Rechten, eigentlich durch beide Staaten, wurde von Anfang an, unmittelbar nach oder sogar während des ersten schlesischen 9 10
Fic, Maciej: Jan Kustos (1893−1932) – separatysta czy autonomista górnośląski? Katowice 2010. Der Autor des vorliegenden Textes hat sich in den letzten Jahren mehrfach mit dem Titelthema auseinandergesetzt. Für eine analytische Darstellung der Entstehung des polnischen Bildes von dieser Vergangenheit siehe: Linek, Bernard: Stosunek mniejszości na Górnym Śląsku do pamięci powstań śląskich (część 1), „Studia Śląskie“ 2015, Bd. 77, S. 75–105; ders.: Stosunek mniejszości na Górnym Śląsku do pamięci powstań śląskich (część 2), „Studia Śląskie“ 2016, Bd. 78, S. 149–171. Zusammenfassend: idem: Pamięć powstań śląskich i plebiscytu, in: Kopczyński, Michał/Kuświk, Bartosz (Hg.): Powstania śląskie. Polityka, historia, pamięć, Opole-Warszawa 2021, S. 226–245.
Polnische Erinnerung an die schlesischen Aufstände
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Aufstandes im August 1919, offensichtlich. Die Deutschen behaupteten, dass es sich um geplante Aktionen handelte, die darauf abzielten, eine demokratische Meinungsäußerung der Bevölkerung zu verhindern und die Region auf dem Weg vollendeter Tatsachen an Polen anzugliedern. Die polnische Seite hingegen argumentierte, der Ausbruch sei spontan und von der Basis ausgegangen und dabei sowohl durch die jahrhundertelange Diskriminierung des polnischen Volkes bedingt gewesen, als auch durch den anhaltenden Terror der deutschen Milizen und der Armee ausgelöst worden. Diese Argumente hatten Propagandacharakter und waren in erster Linie für die europäische öffentliche Meinung bestimmt. Sie wiederholten sich bei aufeinanderfolgenden Aufständen und gingen später nahtlos in die Art und Weise über, in der die Ursprünge und unmittelbaren Ursachen der Ausbrüche der einzelnen Aufstände beschrieben wurden. In Polen dominierte diese zunächst das christdemokratische und später das polnische Narrativ. Dabei wurde die Bedeutung der bewaffneten Aufstände allerdings marginalisiert, indem der eher spontane Charakter des Kampfes betont wurde. Dies war insofern verständlich, als dass das Hauptaugenmerk auf dem Ergebnis der Volksabstimmung lag, das nach dem einseitigen Ausschluss der Stimmen der sogenannten „Emigranten“ für die polnische Seite siegreich gewesen wäre. Anfänglich konzentrierten sich die Gedenkfeiern auf dieses Ereignis, und fielen – im Vergleich mit späteren Gedenkfeiern aus Anlass der Jahrestage der Aufstände – mehr als bescheiden aus. Zum Zeitpunkt der Teilung der Region beschränkten sie sich nämlich auf die Verleihung eines Gedenkabzeichens und eines entsprechenden Diploms, das in den Jahren 1921 und 1922 ziemlich exklusiv an Personen vergeben wurde, die an der Vorbereitung der Volksabstimmung beteiligt waren.11 Um den Wert des Abzeichens nicht zu schmälern, wurde den Antragstellern erklärt, dass nur 70 solcher Auszeichnungen pro Kreis des Abstimmungsgebietes vergeben werden,12 obgleich es sich im Fall des Kreises Cosel (Koźle) dabei gerade einmal um 28 Personen handelte.13 11
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Dieses erste Datum ist fraglich. Die Verleihung solcher Auszeichnungen durch die Ordenskommission des Polnischen Plebiszitkommissariats wird in einem Brief der Personalabteilung der NRL vom März 1922 erwähnt, die sogleich hinzufügte, dass aufgrund der Beendigung ihrer Tätigkeit die Bitte eines bestimmten Plebiszitaktivisten nicht erfüllt werden konnte. Vgl. Pismo NRL do p. Maksymiliana Siei z 18 III 1922 r., Archiwum Państwowe w Katowicach, Urząd Wojewódzki Śląski [weiter APK, UWŚl.], Sign. 34, S. 2. Pismo Wydziału Prezydialnego NRL do burmistrza Praszki z 22 VI 1922 r., ebenda, S. 222. Praszka lag in Polen, außerhalb des Plebiszitgebietes; Daher der Vorschlag, die Liste der 140 an der Volksabstimmung beteiligten Personen auf 10 zu begrenzen. Pismo Wydziału Prezydialnego NRL do dr. Golusa w Pszczynie z 12 VI 1922 r., ebenda, S. 192.
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Das Fehlen einer umfassenderen Darstellung dieses Ereignisses hätte zu diesem Zeitpunkt nicht überraschen dürfen. Der Oberste Volksrat (Naczelna Rada Ludowa, NRL), der derartige Verlautbarungen erließ, war ein informelles Übergangsgremium, das die Übernahme des polnischen Teils Oberschlesiens durch die Republik Polen vorbereitete. Die Wojewodschaftsbehörden in Kattowitz sahen sich einerseits mit einer Reihe von schwierigen politischen Entscheidungen konfrontiert, um die sozial angespannte Atmosphäre zu heilen und vor allem die wirtschaftliche Situation zu verbessern. Auf der anderen Seite wurde in den ersten Jahren auf symbolischer Ebene großer Wert daraufgelegt, die Wojewodschaft Schlesien in die Jubiläumsfeiern und Nationalfeiertage der Republik Polen einzubeziehen. Im Jahr 1923 wurde der 3. Mai in Kattowitz zum ersten Mal als Feiertag begangen. Die Wojewodschaftsbehörden forderten die Beamten auf, ebenfalls an den Gedenkfeiern teilzunehmen.14 Parallel dazu wurden in den Schulen der Wojewodschaft patriotische Vormittage veranstaltet. Für die folgenden Jahre ist in den Akten des Ministeriums für das öffentliche Bildungswesen die Beteiligung von Lehrern und Jugendlichen an landesweiten Jubiläen dokumentiert. Dazu gehörten der 130. Jahrestag der Schlacht von Racławice, der hundertste Todestag von Stanisław Staszic15 und die Errichtung des Grabes des Unbekannten Soldaten in Warschau im Jahr 1925.16 Der Jahrestag der Volksabstimmung wurde erst 1926 wieder begangen, obwohl die Organisation dieser Feierlichkeiten in der Wojewodschaft Schlesien zweifellos von den ausgedehnten deutschen Feierlichkeiten und der sich entwickelnden revisionistischen Propaganda der deutschen Seite beeinflusst wurde. Letzteres erwähnten die Behörden in Kattowitz nicht. In offiziellen Dokumenten zeigten sie ihre Freude über das demokratische Votum der Bevölkerung für die Wiedervereinigung mit Polen, wobei in vielen Kreisen ungünstige Bedingungen vorherrschten. Diese Botschaft über den „dornigen Weg des polnischen Volkes“ in die Heimat sollte die in den Schulen organisierten Veranstaltungen dominieren. Die eigentliche allgemeine Feier sollte am
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APK, Wydział Oświecenia Publicznego [weiter: WOP], Sign. 34, Pismo wojewody śląskiego do naczelników wydziałów i starostów z 30 IV 1923 r., S. 4. Stanisław Wawrzyniec Staszic (1755–1826), polnischer Schriftsteller, Politiker und Priester und einer der wichtigsten Vertreter der polnischen Aufklärung. In Bezug auf Racławice: ibidem, okólnik MOP nr 98 z 13 V 1924 r., S. 12; in Bezug auf Grab des Unbekannten Soldaten: ibidem, pismo ministra wyznań religijnych i oświaty publicznej do władz i urzędów z 29 X 1925 r., S. 27; zu Staszic: ibidem, Pismo wojewódzkiego Komitetu 100. Zgonu Stanisława Staszica z 14 I 1926 r., S. 38.
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Sonntag, dem 21. März 1926, stattfinden. In den Schulen endete der Unterricht am Vortag um 11 Uhr, gefolgt von Vorträgen über den Kampf um Schlesien.17 Diese offizielle Form des Gedenkens an den Jahrestag des Plebiszits konnte sich nicht festigen und fortentwickeln. Die hier angedeuteten Gedenkfeiern fanden nur wenige Wochen vor dem Mai-Putsch 1926 statt, der auch der Geschichtspolitik schnell eine neue Qualität verlieh, sodass in den letzten Jahren eine neue Erinnerung an diese Zeit und an die polnische Geschichte geschaffen wurde. Letzteres zeigte sich bereits im Spätherbst 1926, als am 11. November, dem Tag der Machtübernahme von Józef Piłsudski in Warschau, zum ersten Mal der Jahrestag des „Ablegens des Jochs der Knechtschaft“ gefeiert wurde. Obwohl die entsprechenden Verordnungen erst am 8. November erlassen worden waren, wurde der Feiertag sofort mit großem Eifer begangen. Mit einem freien Tag für Beamte und der obligatorischen Teilnahme von Kindern und Staatsbediensteten an sorgfältig organisierten Veranstaltungen.18 Nach nur zwei Jahren hatten diese bereits beeindruckende Ausmaße angenommen: ein freier Tag, Paraden und Aufmärsche verschiedener Organisationen, Gedenkvormittage in Schulen, ein künstlerisches Programm in diversen Theatern für ein mehr oder weniger anspruchsvolles Publikum sowie Vorführungen von Filmen für Kinder und Armeeangehörige. Charakteristisch für die neue Ära waren verschiedene Arten von „lebendigen Gedenkstätten“, d.h. von den Behörden initiierte karitative oder soziale Aktivitäten.19 Diese Feiern beeinflussten zweifelsohne die Formen des Gedenkens der Sanacja an die schlesischen Aufstände. Die Erinnerung an die Zeit von 1919 bis 1921, die sich auf die schlesischen Aufstände konzentrierte, hatte im polnischen Oberschlesien bereits vor dem politischen Durchbruch Gestalt angenommen und zwar auf der Grundlage von zwei Säulen. Zum einen war dies die von den Aufständischen selbst gebildete Basis, die schon 1919 das erste Mahnmal in Sosnowitz (Sosnowiec) zum Gedenken an ihre im Kampf gefallenen Mitstreiter errichtet hatte. Dieser Brauch wurde im Industriegebiet nach dem Ende des dritten Aufstandes wieder aufgenommen. Das war verständlich, denn obwohl die polnischen Aufständischen zumeist aus dem Osten des Plebiszitgebietes stammten, wurden die schwersten Kämpfe und menschlichen Verluste in den Gebie ten verzeichnet, die letztlich bei Deutschland verblieben. Denkmäler mit 17 18 19
Dies waren die Empfehlungen des WOP. Siehe: ebenda, Okólnik nr 70 WOP województwa śląskiego z 4 III 1926 r., S. 40. Ebenda, Okólnik ministra wyznań i religijnych i oświaty publicznej z 9 XI 1926 r., S. 83. Siehe: Materiały o przygotowaniach i obchodach 10 rocznicy w województwie śląskim: APK,UWŚl., Sign. 22.
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Namenstafeln für die Gefallenen dienten daher als eine Art Ersatzgräber.20 Die Wojewodschaftsbehörden unterstützten solche Vorhaben in Anbetracht der hohen Kosten für die Überführung der Toten und der schwierigen Verhandlungen mit der deutschen Seite.21 Neben diesem Erinnern an die unmittelbar an den Kämpfen Beteiligten entstand eine zweite, offiziellere und zunehmend imaginierte Form des Gedenkens, deren Schöpfer und Verwahrer die militärischen Kreise waren, allen voran die Piłsudski-Anhänger. Abgesehen davon, dass der Ursprung des Verbandes der Schlesischen Aufständischen auf die Kommandanten der Aufständischen zurückging, die über die Polnische Militärorganisation mit dem Piłsudski unterstellten und von seinen Anhängern kontrollierten militärischen Nachrichtendienst verbunden waren, waren solche Formen des Gedenkens auch ganz natürlich. Diese Logik der Ereignisse zeigte sich bereits beim Besuch des Marschalls im polnischen Oberschlesien Ende August 1922. In verschiedenen Ortschaften traf der Staatschef auf unterschiedliche gesellschaftliche Milieus und Behörden, verlieh jedoch nur an Teilnehmer des Aufstandes Auszeichnungen für den Kampf.22 Mit dieser Gruppe, die ebenfalls sehr gespalten war und untereinander im Konflikt stand,23 bauten die Piłsudski-Anhänger ihre Unterstützung in der Region aus. Wie im übrigen Europa radikalisierten sich die Aufständischen als ehemalige Soldaten, die vor Kurzem noch bereit gewesen waren, ihr Leben für ihr Heimatland zu geben, schnell und forderten eine spürbare Anerkennung ihrer besonderen historischen Rolle. Bereits vor dem Mai-Putsch hatte der Verband der Schlesischen Aufständischen ein radikales antideutsches und antidemokratisches Programm formuliert, auf das sich Michał Grażyński, der übrigens Mitglied der Verbandsführung war, berief; höchstwahrscheinlich hat er die weitreichenden Forderungen sogar selbst mitformuliert. 20
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Das Beispiel betrifft Hajduki Wielkie (Bismarckhütte). Die Einweihung fand bereits im Mai 1922 statt. Vgl. Nadolski, Przemysław: Pomniki Królewskiej Huty, Wielkich Hajduk i Chorzowa (do 1945 roku), in: Kurek, Jacek (Hg.): Chorzów w kulturze Śląska. Materiały z sesji naukowej 9–10 października 1996 r., Chorzów Batory 1997, S. 157. APK, UWŚl., Sign. 49, Pismo Wydziału IV do Wydziału Administracyjnego UWŚl. z 24 VI 1922 r. APK, UWŚl., Sign. 13, Plan wizyty naczelnika państwa 26–27 VIII 1922 r., S. 1–2. Vgl. z.B. die Resolution des Verbandes Eintracht der Schlesischen Aufständischen (Związek Jedność Powstańców Śląskich) aus Siemianowice (Siemianowitz) vom 02.08.1925 (APK, UWŚl, Sign. 49, S. 28), die von angeblich 1.500 Menschen unterstützt wurde. Neben antideutschen Parolen, der Missbilligung der Autonomie und des Schlesischen Sejms, wurde darin nicht nur die Enteignung des Hauptvorstandes eines Zigarettengroßhändlers (eine wichtige Einnahmequelle, bei der es angeblich zu Unregelmäßigkeiten kam) gefordert, sondern vielmehr dessen vollständige Auflösung.
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Der Charakter dieses Programms war bereits in der Entschließung des Hauptvorstandes des Verbandes der Schlesischen Aufständischen vom 14. Februar 1926 erkennbar.24 Darin wurde auf die schwierige soziale Lage hingewiesen, verursacht durch die hohe Arbeitslosigkeit, die von deutschen und kommunistischen Agitatoren ausgenutzt wurde und die sich bei den Betriebsratswahlen und bei der Einschulung der Kinder bemerkbar machte. Es wurde behauptet, dass die polnischen Behörden ihre Befugnisse nicht vollumfänglich nutzten, um Abhilfe zu schaffen, und dass die Kürzungen in der lokalen Verwaltung in erster Linie die Aufständischen betrafen. Indessen wären die staatlichen Behörden, insbesondere die Polizei, das Finanzamt und das Wojewodschaftsamt von Neuankömmlingen überrannt worden. Der Grundgedanke dieses Milieus wurde nachdrücklich betont: Die Aufständischen hatten zur Befreiung Oberschlesiens beigetragen, und deshalb sollten sie und die Plebiszit-Arbeiter Vorrang bei der Anstellung haben. Für die katastrophale Situation wurde Wojciech Korfanty persönlich verantwortlich gemacht; vor nicht allzu langer Zeit hatte er allen die Befreiung von der Knechtschaft der deutschen Kapitalisten und ein besseres Leben in Polen versprochen, und nun war er selbst reich geworden und unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu den Deutschen. Sofort umgesetzt werden sollten die Säuberung der kommunalen Ämter von deutschen und deutschfreundlichen Beamten und die Auflösung des Volksbundes, der Dachorganisation der oberschlesischen Deutschen. Angesichts der damaligen politischen Lage waren solche Forderungen jedoch unrealistisch. Nach nur wenigen Monaten wendete sich das Blatt der Geschichte und die aufständischen Kreise bekamen Gelegenheit, ihr Programm zu realisieren.
Autoritäre Gründung und Erinnerungskonflikte (1926‒1939)
Die Richtung möglicher Veränderungen lässt sich aus dem Bericht über den Besuch der Führung des Verbandes der Schlesischen Aufständischen in Warschau am 20. April 1926 ablesen. Der Delegation gehörten der Vorsitzende des Verbandes, Rudolf Kornke, Alfons Zgrzebiok als Leiter der Abteilung für Leibeserziehung und Michał Grażyński als Mitglied der Abteilung an.25 Im Ministerium für militärische Angelegenheiten wurden die Vertreter der Aufständischen vom Minister selbst, General Lucjan Żeligowski, empfangen. Dort 24 25
Ebenda, Rezolucja ZG ZPŚl. z 14 II 1926 r., S. 33. Grażyński, Michał: Powstańcy śląscy w Warszawie, Polska Zachodnia 1926, Nr. 13 vom 02.-03.05.1926. Die zwei Erstgenannten waren Aufstands-Kommandanten.
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gelang es ihnen, aktuelle Fragen zu klären: Man versprach ihnen eine Erhöhung der Anzahl der Auszeichnungen für Aufständische, höhere Subventionen für ihre Aktivitäten und die Auflösung des in Warschau ansässigen Verbandes der ehemaligen oberschlesischen Aufständischen durch dessen Eingliederung in den Verband der Schlesischen Aufständischen. Den Höhepunkt des Besuchs bildete jedoch eine Audienz bei Marschall Piłsudski, der sich über die Geschichte und die Ziele des Verbandes informieren ließ. Während des eineinhalbstündigen Gesprächs war er versucht, die Lage im Grenzgebiet und in Oberschlesien selbst zu beurteilen. Seiner Ansicht nach waren drei polnische Gebiete am stärksten gefährdet: Oberschlesien, der pommersche Korridor und der Wilna-Korridor. Im Zusammenhang mit dieser Bemerkung hielt er es für notwendig, die Wirtschaft der erstgenannten Region auf Polen auszurichten und ihre Ostgrenze abzuschaffen. Letzteres sollte durch Kultur- und Bildungsarbeit erreicht werden, womit er unter anderem die Entsendung der besten Beamten nach Kattowitz meinte, sowie durch die Eingliederung mehrerer östlicher Grenzkreise in die Wojewodschaft Schlesien, was deren nationale Struktur verändern sollte. Praktisch alle Aspekte innerhalb dieser Überlegungen implizierten eine Infragestellung der oberschlesischen Autonomie und Eigenständigkeit sowie der Genfer Konvention.26 Dies stellte das Programm der Sanacja-Fraktion der Wojewodschaft Schlesien dar, das in einer weiteren Proklamation des Verbandes der Schlesischen Aufständischen vom Juli 1922, von der auch der neue Militärminister, Marschall Piłsudski, Kenntnis erhielt, grob wiederholt wurde.27 Auch darin stellte man erneut fest, dass von den 80.000 Arbeitslosen in der Wojewodschaft 20.000 ehemalige Aufständische waren, von denen viele aus dem deutschen Oberschlesien stammten, und dass diese Situation sowohl von den Deutschen als auch von den Kommunisten ausgenutzt wurde. Die Entlassung von Aufständischen und die Einschulung polnischer Kinder in deutschen Schulen würde fortgesetzt sowie zunehmend propagiert, dass Polen mit Oberschlesien nicht fertig wurde und es an Deutschland zurückgegeben werden sollte. Die verhängnisvolle Genfer Konvention wäre an allem Schuld. Das Mittel der Wahl fiel ähnlich aus wie bei der Resolution von Februar: Um Schlesien zu verteidigen, musste man die Aufständischen verteidigen. Auf sie konnte man sich verlassen, da sie die westlichen Grenzen und die Grenzgebiete Polens verteidigen würden. Nach einigen Tagen wurden diese politischen Annahmen in Verbindung mit der Ernennung von Vertretern der aufständischen Kreise in den Behörden 26 27
Es ist bezeichnend, dass sich eine Abschrift dieses Artikels in den Akten des Schlesischen Wojewodschaftsamtes befindet. UWŚl., Sign. 467, S. 33–35. Text siehe: APK, UWŚl., Sign. 49, S. 43–44.
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auf allen Ebenen vom neuen schlesischen Wojewoden, Michał Grażyński, mit großem Nachdruck umgesetzt. Die eingeleiteten politischen Veränderungen hatten auch eine erinnerungspolitische Dimension, was sich bereits 1929 zeigte, als der 10. Jahrestag des Ersten Schlesischen Aufstandes gefeiert wurde. Alle Elemente, die auch bei den folgenden Jahrestagen anzutreffen sein würden und es ermöglichen sollten, dieses Ereignis in das polnische Nationalgedächtnis einzuschreiben, traten schon damals auf.28 Die formale Organisation der Feierlichkeiten übernahm in erster Linie der Verband der Schlesischen Aufständischen. Dies jedoch nur zum Schein, da vor allem einzelne Abteilungen des Wojewodschaftsamtes an den Vorbereitungen beteiligt waren, denen nahezu die gesamte organisatorische Arbeit oblag. Vom Schlesischen Wojewodschaftsamt aus gingen Briefe nach Warschau, in denen die Erteilung militärischer Befehle an die Aufständischen gefordert wurde. Die Wojewodschaftsverwaltung stellte für die Teilnehmer der Feierlichkeiten in Kattowitz spezielle Zugfahrkarten zur Verfügung und organisierte zusätzlich Busse. Sie war es, die dafür sorgte, dass auch die Lemberger Kadettenschule und der polnische Staatspräsident Ignacy Mościcki nach Kattowitz kamen. Letztgenannter besuchte Kattowitz relativ häufig und gern, da er seit den frühen 1920er Jahren, als er noch die Stickstoffwerke in Königshütte (Chorzów) geleitet hatte, familiäre und andere Verbindungen hierher unterhielt. Auch dieses Mal war es nicht möglich, die wichtigste Person des Landes, also Marschall Piłsudski, nach Oberschlesien zu holen. Stattdessen schickten die Organisatoren der Feierlichkeiten ein Dankestelegramm an Piłsudski, das die Wojewodschaftsbehörden vorbereitet hatten. Dieses Muster der Vorbereitungen und Aufstandsfeiern selbst änderte sich für die folgenden Jahrestage nicht wesentlich. Die vielleicht größte Demonstration fand 1931 anlässlich des 10. Jahrestages des Ausbruchs des Dritten Aufstandes statt. Dies geschah nach den brutalen Wahlkämpfen für den Sejm, den Schlesischen Sejm und die Kommunalräte sowie der mehrmonatigen Inhaftierung von Wojciech Korfanty in der Festung Brest-Litowsk (Brześć nad Bugiem).29 Das Besondere an diesen Feiern war, dass diesmal die Christdemokraten den Fehdehandschuh aufnahmen und zum letzten Mal eine konkurrierende Feier organisierten. Nach dem Vorbild der demokratischen Periode in der Geschichte der Zweiten Republik wurde der Schwerpunkt auf den Jahrestag des Plebiszits gelegt, der angesichts der antidemokratischen Politik der 28 29
Verschiedene Dokumente über die Vorbereitung des Jahrestages des Aufstandes siehe: APK, UWŚl., Sign. 18. Über die damalige politische Situation: Wanatowicz, Maria Wanda: Aktywność społecznopolityczna ludności, in: Serafin, Franciszek (Hg.) Województwo śląskie (1922–1939). Zarys monograficzny, Katowice 1996, S. 148–156.
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Sanacja auch eine aktuelle Dimension hatte.30 Doch auch im Mai versuchte Korfantys „Polonia“, ebenso wie sein politisches Umfeld und der Diktator des Dritten Aufstandes selbst, dem Narrativ der oberschlesischen Sanacja-Fraktion entgegenzuwirken.31 Der erste Akt des Dramas fand im März 1931 statt. Den Ton gaben rechte Kreise an, vor allem die noch aktiven alten nationalkatholischen Verbände, die mit Unterstützung der katholischen Kirchengemeinden Volksfeste zum zehnten Jahrestag des Plebiszits organisierten. Zum Auftakt wurden in der christdemokratischen Zeitschrift „Polonia“ Informationen über die Zusammensetzung der verschiedenen Organisationskomitees, die Programme der einzelnen Feiern und Dokumente aus der Zeit der Volksabstimmung veröffentlicht, die den historischen Hintergrund der Gedenkveranstaltungen darstellen sollten.32 Es war üblich, dass die Feierlichkeiten mit einem Dankgottesdienst in den Kirchen begannen und anschließend in festlich geschmückte Kirchenräume verlegt wurden, in denen ein Porträt von Korfanty (der sich zu dieser Zeit zur medizinischen Behandlung in Italien aufhielt) einen besonderen Platz einnahm. Die Reden ehemaliger Plebiszit-Aktivisten, zu der Zeit meist christdemokratische Politiker, drehten sich um seine Rolle nicht nur während des Plebiszits, sondern im gesamten 20. Jahrhundert.33 Einen ähnlichen Charakter hatten die Festveranstaltungen in den größeren, von der Rechten kontrollierten Zentren (Krakau, Lemberg). Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete eine Sondersitzung des Schlesi schen Sejms, die am Jahrestag der Abstimmung stattfand. Daran nahmen Abgeordnete zum Schlesischen Sejm, Angehörige der Wojewodschaftsbehör den und der Bischof von Kattowitz, Stanisław Adamski, teil. Der Deutsche Klub boykottierte das Treffen. Eine Hauptrolle spielte auch Konstanty Wolny, Marschall des Schlesischen Sejms und treuer Freund von Korfanty, der eine umfassende Rede hielt. Auch er führte die Galerie der oberschlesi schen Volksführer und Nationalhelden auf, unter besonderer Erwähnung der 30 31
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Der zeitliche und der sachliche Hintergrund des Gedenkens werden treffend hervorgehoben von Kaczmarek, Ryszard: Rocznice i pomniki powstańcze w województwie śląskim, Szkice Archiwalno-Historyczne 2011, Nr. 8, S. 66. Die Bedeutung dieses Jahrestages wird von fast allen anerkannt, die über Aufstandsfragen schreiben. In der Regel beschränken sie sich jedoch auf den Jahrestag im Mai. Für neuere Werke hierzu siehe: Kaczmarek: Rocznice i pomniki, S. 67; Woźniczka, Zygmunt: Wojciech Korfanty w zbiorowej pamięci historycznej, ebenda, S. 113–114. Hier stütze ich mich hauptsächlich auf: Linek, Bernard: Stosunek mniejszości na Górnym Śląsku do pamięci powstań śląskich (część 1); dort auch ältere Literatur zu diesem Thema. Vgl. z.B. Polonia, Nr. 2306 vom 08.03.1931. Mehr dazu: Linek: Stosunek, Teil 1, S. 83.
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„bedeutendsten der lebenden Oberschlesier“, der nationalen Zentren (Krakau, Tschenstochau) sowie der Institutionen, die das oberschlesische Volk nach Polen geführt hatten. Auch an aktuellen politischen Akzenten fehlte es nicht, denn die Passage über die Einsamkeit des oberschlesischen Volkes im Kampf während der Plebiszitzeit ist als solcher zu verstehen, da sich Polen zu dieser Zeit mit dem Bolschewismus auseinandersetzte.34 Einen besonderen Fokus auf diese These legte Korfanty selbst, indem er sie in einer Sonderausgabe seiner Zeitschrift veröffentlichte, in der er ironisch über die Kiewer Expedition schrieb. In diesem Zusammenhang beschuldigte er den „Begründer“ der Zweiten Republik (Józef Piłsudski), die wertvollsten Teile des Teschener Schlesiens und die Hälfte von Oberschlesien verloren zu haben. Unter diesen Umständen betrachtete er den Erfolg bei der Volksabstimmung als „Wunder an der Oder“, das zugleich eine Polemik gegen das „Wunder an der Weichsel“ war.35 Die Rede des Wojewoden Grażyński während einer Sitzung des Schlesischen Sejms ist als konkrete Antwort auf diese Argumente zu verstehen. Neben den damit verbundenen Akzenten über die Rolle der oberschlesischen Bevölkerung wird die Aufmerksamkeit auf zwei Elemente gelenkt, die in den Kanon der Sanacja-Gedenkformen eingegangen sind. Erstens wurde Korfantys Rolle praktisch totgeschwiegen, was angesichts der Person des polnischen Volksabstimmungskommissars, der in den Jahren 1919 bis 1921 alle Fäden der Macht fest in der Hand hielt, eine außergewöhnliche verbalakrobatische Leistung darstellte. Zweitens wurde auch bei dieser Gelegenheit die Bedeutung der schlesischen Aufstände hervorgehoben. Das Plebiszit selbst wurde vom Wojewoden ganz allgemein als „ein großartiges Ergebnis kreativer nationaler Arbeit“ bezeichnet. Er ergänzte diese Aussage sogleich um die Einschätzung, dass das Plebiszit zusammen mit den Aufständen eine „großartig komplementäre Synthese“ bilde. Diese Stellungnahme bildete nur eine Einführung in die Leitthese und das Hauptthema der Rede, in der es darum ging, die Bedeutung der drei schlesischen Aufstände aufzuzeigen. Grażyński stimmte zunächst mit den rechten Kräften überein, ging aber bald zu einer Piłsudski-ähnlichen Erzählung über und stellte fest, dass die Bauern und Arbeiter Oberschlesiens „mit ihrem eigenen Blut den Faden der zerbrochenen Tradition wiederaufgenommen und durch kollektive Heldentaten das Substrat der großen nationalen Legende der Zukunft geschaffen hatten“. Auch in diesem Punkt ließ er keinen Zweifel aufkommen und fügte in der Sprache der polnischen Romantik hinzu: „Das aus eigenem Willen vergossene Blut hat Schlesien in 34 35
Polonia, Nr. 2319 vom 21.03.1931. Siehe: Wojciech Korfanty, W dziesiątą rocznicę plebiscytu górnośląskiego, Polonia, Nr. 2318 vom 20.03.1931.
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unseren nationalen Organismus gebracht und es fester mit dem übrigen Polen verbunden als jeder andere Faktor.“36 Er stellte damit den oberschlesischen Weg nach Polen und vor allem die Rolle der nationalen Führer infrage. Gleichzeitig reduzierte er den Kern der Tätigkeit der Oberschlesier auf einen einzigen heroischen und bahnbrechenden Akt. Dies waren Ansichten, die Anfang Mai voll zum Tragen kamen. Damit war die Frage, wer die Oberschlesier zu einem solchen Schritt veranlasst und sie dabei geleitet hatte, beantwortet. Im März hatte der Streit zwischen der Sanacja und den Christdemokraten noch in Form einer einmaligen politischen Debatte stattgefunden, ohne direkte Angriffe. Dies lag nicht nur daran, dass die Sanacja kein größeres Interesse daran hatte, die Bedeutung des Plebiszits herauszustellen. Die Gründe waren fast prosaisch. Sie war gezwungen, das Feld aufzugeben, weil sich das gesamte politische Lager und die staatlichen Behörden zu diesem Zeitpunkt auf die Feier eines neuen Nationalfeiertages konzentrierten, der bereits seit 1927 begangen wurde – der Namenstag von Marschall Józef Piłsudski, der auf den Vorabend des Jahrestages des Plebiszits fiel.37 Erst als die letzten Akkorde der Feierlichkeiten erklangen, beschäftigte sich der Staatsapparat voll und ganz mit der Organisation des zehnten Jahrestages des Dritten Aufstandes. Auch hier wurde darauf geachtet, die Spannungen gering zu halten, indem fast täglich über den Stand der Vorbereitungen informiert und der jeweilige historische Hintergrund beleuchtet wurde. Neben den Presseartikeln, die fast ausschließlich in dem Sanacja-Organ „Polska Zachodnia“ erschienen sind, wird auf historische Veröffentlichungen verwiesen, die in den Geschichtskanon des Aufstandes eingegangen sind, damals aber eher journalistische Äußerungen im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung darstellten. Lenken wir die Aufmerksamkeit auf zwei davon. Zunächst ist es wichtig, hier auf einen kurzen Text von Grażyński selbst hinzuweisen, der in dem Band „Für die Freiheit Schlesiens“ und mit dem Titel „Kampf um Schlesien“ veröffentlicht wurde.38 Darin wiederholte er seine Äußerungen von März, wonach das oberschlesische Volk weiterhin eine politische Hypostase war, eine Masse ohne Struktur und vor allem ohne Führer. Letzteren widmete er für den Zeitraum der schlesischen Aufstände dieses Mal mehr Raum. Wir sprechen hier immer 36 37 38
Zitiert nach: Piękna manifestacja solidarnej myśli i woli polskiej, Polska Zachodnia, Nr. 70 vom 21.03.1931. Zu den oberschlesischen Feierlichkeiten siehe: Michalczyk, Andrzej: Imieniny marszałka Józefa Piłsudskiego, in: Linek/Michalczyk (Hg.): Leksykon mitów, S. 341–344. Eine kritische Ausgabe siehe: Zieliński, Władysław (Druckvorbereitung und Einführung): Michała Grażyńskiego „Walka o Śląsk“, Katowice 1989.
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noch von den Anführern der konspirativ agierenden bewaffneten Aktion, die, durchdrungen von einem romantischen Geist und der Bereitschaft, für das Vaterland die größten Opfer zu bringen, oft neben und gegen Korfanty agierten. Diese Fragen wurden personalisiert, und Maciej Mielżyński, der militärische Befehlshaber des Dritten Aufstandes, legte Zeugnis über die Rolle von Grażyński ab. In seinem Werk mit dem Titel. „Erinnerungen und Beiträge zur Geschichte des dritten oberschlesischen Aufstands“39 lobte er die Aktionen der Abteilung Ost und Grażyński selbst, der sich in dieser Version zum eigentlichen Führer des bewaffneten Kampfes entwickelt. Hier steht auch die im aufständischen Milieu bereits verbreitete und bald zum historischen Dogma gewordene These geschrieben, dass der Aufstand ohne die selbstsichere und eigentlich gegen den bewaffneten Kampf gerichtete Haltung Korfantys mit einem umfassenden Erfolg geendet hätte. Den zweiten Teil dieser These bildete die ebenfalls schnell in den Kanon aufgenommene Auffassung, dass es die Kämpfe der Aufständischen gewesen war und nicht etwa der Wille der Bevölkerung oder die diplomatischen Bemühungen, die dazu geführt hatten, dass Polen ein Teil der Region zugesprochen wurde. Korfanty musste auf diese Argumente reagieren. Dies geschah in Form einer Reihe von Artikeln in der „Polonia“, die später unter dem Titel „Träume und Ereignisse“ veröffentlicht wurden40 und eingangs die Aufstandsgeschichten der oberschlesischen Sanacja-Anhänger thematisierten. Korfanty bezeichnete Grażyńskis Darstellung der Ereignisse als „extremsten Subjektivismus“ und kritisierte die in verschiedenen Veröffentlichungen dargelegten Thesen der Sanacja-Anhänger als „ungehemmte Geschichtsfälschung“.41 Seine Argumente scheinen eher der Realität von 1921 zu entsprechen, obwohl auch er es vermied, das Ausmaß der polnischen Unterstützung für den Aufstand darzustellen, was zu einer Betonung der Rolle Piłsudskis geführt hätte. In der politischen Situation von 1931 spielten sie jedoch keine so wichtige politische Rolle mehr, da die Möglichkeiten ihres Einflusses abnahmen. Der Verlauf der Maifeierlichkeiten hat gezeigt, dass der Staatsapparat im Dienste Grażyńskis mit seinen administrativen Verboten und aufständischen Milizen über weitaus größere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Gesellschaft verfügte. 39 40 41
Mielżyński, Maciej: Wspomnienia i przyczynki do historji III-go powstania górnośląskiego, Mikołów 1931. Zieliński, Władysław (Druckvorbereitung): Wojciecha Korfantego „Marzenia i zdarzenia“, Katowice 1984. Korfanty, Wojciech: P. Borelowski-Grażyński w roli twórcy legend o powstaniu, Polonia, Nr. 2359 vom 02.05.1931.
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Bemerkenswert ist auch, dass dieser Streit um die Helden des Geden kens vor allem für die Elite von Interesse war und dass die geschaffenen Erinnerungsressourcen in den folgenden Jahren die Herstellung von materialisierten Artefakten ermöglichten.42 Im Jahr 1931 waren die erweiterten Feierlichkeiten zum 2. Mai in Kattowitz für die breite Öffentlichkeit bestimmt.43 Berichten zufolge nahmen 60.000 Menschen daran teil, darunter zahlreiche Delegationen aus dem ganzen Land und weit über 100 Abordnungen der Aufständischen. Die erste politische Geige spielte Michał Grażyński, der während einer Festveranstaltung im Polnischen Theater in Anwesenheit von Präsident Mościcki und den Marschällen des Sejms und des Senats eine einstündige Rede hielt, die nach dem bereits dargelegten Schema aufgebaut war und in der er die internen Schuldigen (Korfanty) für den unvollständigen Erfolg (Grażyński) des Aufstands benannte. In den darauffolgenden Jahren wurde diese Darstellung in bescheidenerer Form gefestigt, aber es blieb wichtig, diese Ideen anlässlich der jährlichen Feierlichkeiten bei den Schülern und im Rahmen von öffentlichen Gedenkfeiern auch in breiteren Kreisen mit einer zunehmenden Anzahl von materiellen Gedenkfeiern zu vermitteln. Eine weitere Gelegenheit für eine größere, landesweite Feier bot sich 1936. Zum ersten Mal war auch Marschall Edward Rydz-Śmigły anwesend, die wichtigste Person im Staat nach dem Tod von Piłsudski. Die Gedenkfeiern in Kattowitz folgten einem bereits etablierten Muster, jedoch mit noch größerer Beteiligung der Armee und allgemeiner Uniformität sowie einer fast ausschließlichen Thematisierung des Kampfes der Aufständischen, was auch als Signal für den kommenden Krieg gewertet werden kann.44 Neben einer Messe, einer Militärparade und einer Parade „halbmilitärischer Organisationen“, einer Festveranstaltung im Polnischen Theater und einer feierlichen Sitzung des Schlesischen Sejms (an dessen Spitze bereits Karol Grzesik, ein Aufständischer und enger Mitarbeiter von Grażyński, stand) stellte 42
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Im Jahr 1931 gab es erst wenige solcher Gedenkorte, die oft zwischen einem symbolischen Grab (mit Tafeln der Gefallenen eines bestimmten Ortes) und einer homogenisierten Nation, für die der (unbekannte) Aufständische nur stellvertretend stand, schwebten. Am spektakulärsten war vielleicht das Denkmal für die schlesischen Aufständischen in Königshütte, das 1927 auf dem Sockel einer deutschen Germania enthüllt wurde. Siehe: Gorzelik, Jerzy: Żołnierz, heros, kresowy rycerz – przemiana wizerunku „powstańca śląskiego“ w międzywojennej rzeźbie monumentalnej, Studia Śląskie 2019, Bd. 84, S. 64–66. Beschreibung der Feierlichkeiten: Linek, Bernard: „Pochód, jakiego w Katowicach od dłuższego czasu nie widziano …“ Obchody dziesiątej rocznicy wybuchu III powstania śląskiego, CzasyPismo. O historii Górnego Śląska, 2020, Nr. 1, S. 151–161. Verschiedene Materialien von den Feierlichkeiten (hauptsächlich Fotodokumentation) siehe: APK, UWŚl., Sign. 20.
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die Eröffnung der Gedenkausstellung auf zwei Etagen des Wojewodschaftsamtes zum schlesischen Aufstand am 3. Mai das wichtigste Gedenkereignis dar. Die Führung durch das Programm übernahm Rydz-Śmigły, unterstützt von militärischen Befehlshabern (u.a. dem Kommandeur der Kadettenschule in Lemberg) und begleitet von Bischöfen (Bischof Stanisław Adamski und Feldbischof Józef Gawlina), vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Eugeniusz Kwiatkowski (der Anfang der 1920er Jahre auch mit den Stickstoffwerken in Königshütte in Verbindung stand) und Marschall Grzesik. Die Begrüßung der Anwesenden übernahm der Wojewode Grażyński und führte anschließend gemeinsam mit den verantwortlichen Gestaltern durch die Ausstellung. Hochrangige Gäste besichtigten mit großem Interesse den Saal, der dem Aufenthalt von Marschall Piłsudski Ende August 1922 und der Übernahme eines Teils von Oberschlesien durch Polen gewidmet war. In dem Saal wurde das Gedenken an die Kadetten, die Plebiszitpolizei, die Sabotagetätigkeit und das Polnische Rote Kreuz, nicht zuletzt auch an die Kommandeure und an die Erzählungen von den drei Aufständen wach gehalten. Da Grażyński die Ausstellung mit seinen eigenen Sammlungen „unterstützte“, erschienen seine Porträts zumindest in einigen Ausstellungsbereichen (neben Mielżyński und Grzesik auch unter den Befehlshabern des Aufstandes). Bei der Analyse der Fotodokumentation der Ausstellung fällt auf, dass an keiner Stelle ein Porträt von Wojciech Korfanty gezeigt oder seine Rolle erwähnt wurde. Selbst in dem Abschnitt über die Volksabstimmung fanden sich lediglich polnische Plakate aus dieser Zeit wieder. Während der Parade, der Berichten zufolge 100.000 Menschen beiwohnten, wurden traditionell auch Zehntausende von Tauben freigelassen, die bis in die entlegensten Winkel der Republik flogen. Bei dieser Gelegenheit ist es angezeigt, auf einen weiteren Leitgedanken des vom Grażyński-Kreis konstruierten Gedenkens an die schlesischen Aufstände hinzuweisen. Mindestens seit 1931 wurde versucht, die Jahrestage der schlesischen Aufstände zu einem landesweiten Ereignis zu erheben. Auf der ideologischen und erinnerungstechnischen Ebene geschah dies, indem der Aufstandskampf als Fortsetzung und letzte Etappe des von der Ersten Kaderkompanie und den PiłsudskiLegionen 1914 begonnenen Kampfes dargestellt wurde. Auf organisatorischer Ebene wurde dies nicht nur dadurch erreicht, dass Vertreter der einzelnen Wojewodschaften sowie verschiedener Veteranenorganisationen nach Kattowitz kamen. Vielmehr widmeten die Behörden in Kattowitz der Organisation von Veranstaltungen zum Gedenken an die Aufstände und betreffend den Beitrag der einzelnen Zentren außerhalb Schlesiens insgesamt große Aufmerksamkeit (und auch finanzielle Mittel). Der Polnische Westverband (Polski Związek Zachodni, PZZ), als Nachfolger des Verbandes zum Schutz der
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Westgebiete (Związek Obrony Kresów Zachodnich, ZOKZ), erwies sich in diesem Zusammenhang als unschätzbar wertvoll, da er dafür sorgte, dass diese Veranstaltungen reibungslos organisiert und angemessen gerahmt wurden.
Ein Exkurs nach Volkspolen (anstelle eines Abschlusses)
Alle Streitigkeiten der Zwischenkriegszeit rückten im September 1939 und dem Zusammenbruch der Zweiten Polnischen Republik in den Hintergrund. Im Jahr 1944 wurden in vielerlei Hinsicht ein neuer Staat und eine neue Gesellschaft geschaffen. Einerseits physisch, denn Polen wurde durch den Willen der Alliierten verkleinert und mehrere hundert Kilometer nach Westen verschoben. Auf sozialer Ebene waren die Elite und bestimmte Gruppen (Juden) von den Besatzern weitgehend ermordet worden, zugleich führten die Auswirkungen der verschiedenen Migrationen zu einer neuen sozialen Schichtung. Und in politischer Hinsicht bildete eine gewisse Unterordnung unter die Sowjetunion die Grundvoraussetzung für den neuen Staat. Angesichts all dieser Faktoren hatten sich sämtliche Bürger Volkspolens zu positionieren, nicht nur die Eliten. Diese neue Realität musste sich auch auf den aktiven Bestand des nationalen Gedächtnisses auswirken. Ihr Rahmen wurde unmittelbar nach dem Krieg in der Gründerzeit Volkspolens geschaffen. Angesichts der weit verbreiteten Distanzierung von der Sanacja und der damaligen Realität der Zeit vor dem September 1939 sollte es überraschen, dass das dauerhafteste Element des geistigen Erbes der Zweiten Republik in Oberschlesien die Erinnerung an die Aufstände war, deren Rückgrat bereits 1945 von den Kommunisten übernommen worden war. Schon das erste Dokument der neuen Behörden, die „Proklamation des Bevollmächtigten der Provisorischen Regierung der Republik für die Wojewodschaft Schlesien vom 29. Januar 1945“, in der die Grundprinzipien des neuen Staates und die Stellung der Region und ihrer Bewohner darin definiert wurden, betrachtete die „berühmte Tradition der schlesischen Aufstände“ als das einzige nennenswerte Ereignis in der Geschichte der Region.45 In den darauffolgenden Monaten und Jahren wurden die Aufstände immer wieder thematisiert und auch die Vorkriegserzählungen geschickt aufgegriffen. Auf das Testament der schlesischen 45
Diese Aufgabe wurde von General Aleksander Zawadzki übernommen, einem Vorkriegskommunisten aus dem Dombrowaer Kohlebecken und wahrscheinlich sowjetischer Agent. Die „Provisorische Regierung“, die um die Wende 1944/45 gebildet worden war, erkannte damals nur die Sowjetunion an. Zum Text der „Proklamation“ siehe: AP Kat., Urząd Wojewódzki Śląski/Wydział Administracyjno-Prawny, Sign. 26.
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Aufständischen berief sich Aleksander Zawadzki am 1. Juli 1945 auf dem St. Annaberg, als nach der Sprengung der Reste des deutschen SelbstschutzDenkmals der versammelten Menge feierlich die Nachricht von der Entfernung der deutschen Bevölkerung aus Oberschlesien verkündet wurde. Gleichzeitig erging die Bekanntmachung, dass an dieser Stelle nun ein Denkmal für die Aufständischen errichtet werden sollte.46 Eine noch größere Kundgebung zu Ehren des dritten Aufstandes fand am 19. Mai 1946 auf dem St. Annaberg statt, als 200.000 Menschen dem offiziellen Aufruf des Verbandes der Veteranen des Schlesischen Aufstands (Związek Weteranów Powstań Śląskich) gefolgt sein sollen. Auch dieses Mal agierten die staatlichen Behörden im Hintergrund, die erste politische Geige spielten Vertreter der neuen Behörden, darunter der stellvertretende Ministerpräsident und zugleich Vorsitzende der Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR), Władysław Gomułka, und der Minister für Nationale Verteidigung, Michał Rola-Żymierski (ein Piłsudski-Anhänger in der Zweiten Republik, der wegen Veruntreuung verurteilt worden war, aber eine wichtige Rolle im Ersten Schlesischen Aufstand gespielt hatte). Im Hintergrund standen die lokalen kommunistischen Prominenten: Aleksander Zawadzki und vor allem der stellvertretende Wojewode von Schlesien, Jerzy Ziętek, offiziell der Anführer des Verbandes der Veteranen des Schlesischen Aufstandes. Auch er hatte eine kurze aufständische Episode gehabt, aber vor allem war er der Vorkriegsvorsteher von Radzionkau (Radzionków) und Sejm-Abgeordneter des oberschlesischen Sanacja-Lagers. Er war also vielleicht kein enger, aber doch ein maßgeblicher Mitarbeiter von Grażyński. In seinem Schatten stand eine Gruppe von Vorkriegspolitikern, von beiden Seiten der damaligen politischen Barrikaden, verstärkt durch die Führer der radikalen Jugend der späten 1930er Jahre, die den Mythos der schlesischen Aufstände und die Art des Gedenkens der Vorkriegszeit auf die neue Realität übertrugen. Die Feierlichkeiten auf dem St. Annaberg erinnerten stark an die von Grażyński propagierte Methode des Gedenkens an die Aufständischen: Mit der passiven Rolle der Menschenmenge von mehreren Tausend Personen, der Instrumentalisierung der Kirche (es fand eine Messe statt, die von Bischof Juliusz Bieniek anstelle von Adamski zelebriert wurde, die Predigt hielt Pater Bolesław Kominek, der apostolische Administrator des Oppelner Schlesiens, d.h. de facto der Bischof von Oppeln), der antideutschen Militarisierung der Symbolik des Treffens und den Reden von nationalen und oberschlesischen 46
Weitere Informationen zu den Nachkriegsfeiern in der neueren Literatur zu diesem Thema siehe: Fic, Maciej: Rocznice powstańcze w Polsce Ludowej, Szkice ArchiwalnoHistoryczne 2011, Nr. 8, S. 81–106.
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Persönlichkeiten, welche die aufständische Tat feierten. Die weitreichende Nachahmung der Vorkriegsfeiern war wahrscheinlich ein bewusstes Bemühen der Organisatoren. Zu dieser Zeit waren die polnischen Kommunisten bestrebt, die polnische Gesellschaft von der Fortführung der Vorkriegsstaatlichkeit zu überzeugen, was dazu führen sollte, dass sie als Formation bei der bevorstehenden Volksabstimmung über die politischen Grundlagen Nachkriegspolens (am 30. Juni 1946) unterstützt wurden. Diese Bemühungen zeitigten jedoch nur zu vernachlässigende Wirkung. Die oberschlesische Gesellschaft stimmte mit überwältigender Mehrheit negativ über die Frage des Referendums ab, aber die schlesischen Aufstände wurden zu einem festen Bestandteil im Gedächtnis Volkspolens. Auf ideologischer Ebene konnte dies nicht ausschließlich auf der Grundlage der Sanacja-Prinzipien geschehen, unter Hervorhebung der Rollen von Piłsudski und Grażyński, der dessen Befehle willfährig ausführte. Trotz anfänglicher Versuche eignete sich Korfanty, ein Politiker der Rechten und Katholik, nicht dafür. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden die beiden Erzählungen zusammengeführt und die Rolle der Protagonisten, die bis dahin nur als Leinwand für die Anführer gedient hatten, also der oberschlesischen Bevölkerung, wurde herausgestellt. Gleichzeitig wurde ihr ein marxistisches Wesen verliehen und damit die Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen belegt. In der Folge entstand die These, dass die Aufständischen selbst die Deutschen bereits 1921 besiegt und ganz Oberschlesien und vielleicht sogar Niederschlesien an Polen angegliedert hätten, wären sie nicht durch Piłsudskis Kiewer Expedition und Korfantys Verbrüderung mit der westlichen Bourgeoisie daran gehindert worden. Nur ein Element fehlte noch, um vollständig in die Ideologie Volkspolens aufgenommen zu werden: Die Rolle der Sowjetunion. Sie wurde jedoch sogleich eingefügt. Es war die Rote Armee, die das Testament der Aufständischen erfüllte, die Deutschen besiegte und die Eingliederung der Gebiete an der Oder, die seit jeher polnisch gewesen waren, an Polen bewirkte. Dieses ideologische Muster dominierte das Gedenken in Volkspolen (daher die Präsenz der Bilder von Rotarmisten auf dem Denkmal auf dem St. Annaberg) und ermöglichte es dem Milieu von Jerzy Ziętek, das vor allem dem oberschlesischen Sanacja-Lager entstammte, eine besondere politische Rolle zu spielen. Erst nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wurde die Debatte über diesen Abschnitt der Geschichte Oberschlesiens, Polens und seines Platzes in Europa wiederaufgenommen. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Die Volksabstimmung von 1921 in der Erinnerungskultur der Landsmannschaft der Oberschlesier und ihrer Organe seit 1950 David Skrabania Einführung Die Erinnerung an die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 – also an ein Ereignis, das seinerzeit die Gemüter in Deutschland und Polen, ja gar europaweit beschäftigt und die Politik weltweit tangiert hat – ist heute außerhalb Polens, wenngleich hier naturgemäß die Aufstände im Vordergrund stehen, fast völlig verblasst. Selbst in Deutschland war es gerade einmal eine Handvoll Zeitungen und Pressedienste, die über den 100. Jahrestag des Plebiszits in Oberschlesien oder die dazu in Ratingen organisierte internationale wissenschaftliche Tagung, die dem vorliegenden Band zugrunde liegt, berichtet haben.1 Betrachtet man das vorherrschende Geschichtsnarrativ der Bundesrepublik Deutschland ist dies freilich nicht verwunderlich; die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sowie die Schuldfrage prägen das historische Narrativ hierzulande. Hinzu kommt, dass das Wissen über die ehemals zu einem deutschen Staatswesen gehörenden Gebiete in Ostmitteleuropa aus dem gesamtgesellschaftlichen Gedächtnis nahezu vollständig verschwunden und auch das generelle Interesse an Polen, Tschechien und Ostmitteleuropa nicht allzu ausgeprägt ist. In Wechselwirkung dazu wurde in einer sich seit den 1960er Jahren umfänglich verändernden Gesellschaft auch für die landsmannschaftlichen Organisationen der Raum für das Gedenken an 1 So beispielsweise die Stuttgarter Zeitung vom 26. März 2021 (Kampf um die Kohle. Schlesien nach dem Ersten Weltkrieg von Karsten Eichner, einem Teilnehmer der Konferenz), die Rheinische Post mit einer Nachberichterstattung zur Konferenz vom 14. Juni 2021 (Großes Symposium. Internationale Wissenschaftler in Hösel), der Deutschlandfunk am 20. März 2021 (Volksabstimmung vor 100 Jahren. Oberschlesiens folgenreiches Votum von Doris Liebermann) oder die Deutsche Welle am gleichen Tag in polnischer Sprache und mit Verweisen auf die am Folgetag eröffnete Sonderausstellung im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen („Polen oder Deutschland? Oberschlesien am Scheideweg. Zum 100. Jahrestag der Volksabstimmung in Oberschlesien“) sowie den Bildungsfilm zum Thema („Ein europäischer Konflikt. Der Abstimmungskampf um Oberschlesien“, Regie und Produktion Ronald Urbanczyk), beides Kooperationsprojekte des Kulturreferenten für Oberschlesien mit dem Oberschlesischen Landesmuseum, der Stiftung Haus Oberschlesien, der Landeszentrale für politische Bildung NRW und der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_006
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verlorengegangene deutsche Siedlungsgebiete mit der Zeit immer enger. Überdies blieb die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Heimatverlust innerhalb der Vertriebenenverbände über viele Jahrzehnte omnipräsent. Ein Gedenken an die Volksabstimmung in Oberschlesien von 1921 war grundsätzlich nur in diesem Kontext möglich.2 Noch in der Zwischenkriegszeit war dies zweifelsohne ganz anders gewesen und die Erinnerung an den „Abstimmungskampf“ in Oberschlesien zwischen 1918 und 1922, an dessen Ende die Teilung dieser historisch gewachsenen Region stand, hatte nahezu alle Fraktionen in der ansonsten völlig zerstrittenen politischen Landschaft der Weimarer Republik geeint und ausgezeichnet in den Mythos der „blutenden Grenze“ gepasst.3 Unter den Nationalsozialisten wandelte sich der für das katholische Selbstverständnis und die Identität der Oberschlesier so zentrale St. Annaberg (Góra Św. Anny), von dem während des Dritten Polnischen Aufstandes im Mai 1921 die polnischen Aufständischen zurückgeschlagen worden waren, zu einem nationalsozialistischen Heiligtum und Symbol für den Kampf um das Deutschtum im Grenzland. Mit Kriegsbeginn und der Einverleibung des verlorenen Teils der Region wurde die „Revisionssehnsucht“ der Deutschen schließlich befriedigt und die „Befreiung“ Ost-Oberschlesiens propagandistisch gefeiert; während des Krieges trat die Oberschlesienpropaganda dann in den Hintergrund.4 Träger der Erinnerung Nach Kriegsende bedurfte es erst der Gründung der Vertriebenenorganisa tionen, damit die Erinnerungskultur aus dem privaten Umfeld der oberschlesischen Flüchtlinge und Vertriebenen in die Öffentlichkeit gelangen konnte. Träger des Gedenkens waren die 1949/50 entstandenen schlesischen Landsmannschaften, d.h. die Landsmannschaft der Oberschlesier (LdO)5 und 2 Linek, Bernard: Stosunek mniejszości na Górnym Śląsku do pamięci plebiscytu i powstań śląskich (część 3). Niemiecka wizja 40-lecia plebiscytu, Studia Śląskie, Band 84, 2019, S. 77–78. 3 Vgl. Haubold-Stolle, Juliane: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919–1956, Osnabrück 2008, hier insbesondere S. 94–106. 4 Ebenda, S. 271–276 und 296–301. 5 Die Landsmannschaft der Oberschlesier wurde auf Betreiben bereits existierender landsmannschaftlich organisierter Gruppen und Heimatkreise Ende 1949 in München gegründet und am 14.12.1949 als Landsmannschaft der Oberschlesier e.V. im Vereinsregister des Amtsgerichts Eltmann/Main eingetragen. Zwischen 1949 und 1957 hatte die LdO ihre Bundesgeschäftsführung in Frankfurt/Main, ehe sie nach Bonn umzog. Nachdem 1970 auf Betreiben der LdO die privatrechtliche Stiftung Haus Oberschlesien (SHOS) gegründet worden war, deren Zweck u.a. die Professionalisierung der kulturellen, landeskundlichen und
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die Landsmannschaft Schlesien – Nieder- und Oberschlesien (LMS)6. Wenngleich zwischen ihnen bisweilen ein harter Konkurrenzkampf herrschte,7 waren sie doch in dieser Sache vereint. Dennoch war es über die Jahrzehnte gesehen insbesondere die Landsmannschaft der Oberschlesier (LdO), die an die Volksabstimmung in Oberschlesien und deren Folgen erinnerte. Daher konzentriert sich der vorliegende Aufsatz auf die Erinnerungskultur zum Plebiszit innerhalb der LdO samt ihren Landes- und Kreisstrukturen, in denen das Gedächtnis in Bezug auf das zugrundeliegende Ereignis am intensivsten ausgeprägt war und bis heute wachgehalten wird. Gemäß der 1956 verabschiedeten Satzung zählten zu den Hauptaufgaben der LdO der Zusammenschluss der Oberschlesier außerhalb der Heimatgebiete sowie deren soziale, kulturelle und wirtschaftliche Förderung. Sie sah sich insbesondere aber auch als Vertretungsorgan der oberschlesischen Vertriebenen hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf Heimat.8 Eine Besonderheit bestand wissenschaftlichen Arbeit zu Oberschlesien war, wozu auch die Gründung einer musealen Einrichtung gehören sollte, bezog die Bundesgeschäftsstelle im September 1972 ihre neu erworbene Immobilie in Ratingen-Hösel. Dort hatten seitdem auch die SHOS und die Landesgeschäftsstelle NRW der LdO ihren Sitz. Bereits 1964 hatte das Land NordrheinWestfalen die Patenschaft über die LdO übernommen. 1983 wurde das Oberschlesische Landesmuseum (OSLM) in Trägerschaft der SHOS gegründet und alle Institutionen zogen in einen Neubau auf demselben Grundstück, das „Haus Oberschlesien“. 1998 wurde für das OSLM auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein musealer Neubau errichtet. Die LdO wird durch den Bundesvorstand, die Bundesvertretung und die Bundeshauptversammlung repräsentiert. Neben den Landesgruppen entstanden zahlreiche Kreisgruppen im gesamten Bundesgebiet. Heute existieren noch fünf davon – NRW, Hessen, Bayern, Hamburg und Baden-Württemberg – sowie 25 Kreisgruppen. 6 Die Landsmannschaft Schlesien – Nieder- und Oberschlesien e.V. besteht seit 1950 als Vertretungsorgan der Interessen Schlesiens und der Schlesier. Sie gliedert sich aktuell in zwölf Landesverbände mit mehreren Dutzend Kreisgruppen. 7 Die Gründung zweier Landsmannschaften mit Bezug zur historischen Region Schlesien hatte verschiedene Gründe, allen voran die Existenz einer Provinz Oberschlesien zwischen 1919–1938 sowie 1941–1945, hervorgegangen aus der seit 1815 bestehenden Provinz Schlesien, sowie die starken Unterschiede in der Konfession (überwiegend protestantisch in Niederschlesien, überwiegend katholisch in Oberschlesien), aber auch der Mentalität und Sprache (unterschiedliche deutsche Dialekte, aber in Oberschlesien auch weit verbreitete polnische Mundarten). Hinzu traten die Existenz einer großen deutschen Minderheit in der 1922 entstandenen polnischen Wojewodschaft Schlesien und dadurch ein von demjenigen der Niederschlesier differierendes historisch gewachsenes Selbstverständnis vieler Oberschlesier. 8 Die Vereinszwecke wurden in §2 der Satzung festgehalten (hier aus der Fassung vom 7.4.1962): „(1) Die Landsmannschaft bezweckt: 1. die Oberschlesier außerhalb der Heimat zusammenzuschließen und sie kulturell, wirtschaftlich und sozial zu fördern, 2. das Selbstbestimmungsrecht, den Rechtsanspruch der Vertriebenen auf ihre Heimat, die Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte und eine gerechte Völkerordnung Europas zu
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darin, dass – im Gegensatz zu allen anderen Vertreibungsgebieten – Hunderttausende alteingesessene oberschlesische Familien nicht vertrieben worden waren und weiterhin im nun polnisch-kommunistischen Oberschlesien lebten,9 was nicht nur intensive Verbindungen in die Heimat mit sich brachte, sondern sich auch auf die Erinnerungskultur auswirkte. Der vorliegende Aufsatz soll insbesondere auf die folgenden Fragen eingehen: In welcher Art und Weise wurde seit den 1950er Jahren innerhalb der Strukturen der LdO an das Plebiszit erinnert? Welche Ziele verfolgten die Heimatvertriebenen damit und in welchem größeren Kontext stand die Erinnerung an das Plebiszit? Und schließlich: Welche Elemente des eigentlichen Geschehens und der damit verbundenen Ereignisse wurden ausgespart, verschwiegen bzw. einfach nicht thematisiert, obgleich sie Bedeutung für die zugrundeliegenden Prozesse und die größeren historischen Zusammenhänge hatten. Der gesellschaftspolitische Wandel in Europa 1989/90 stellte auch in Bezug auf das Gedenken an das Plebiszit einen Bruch dar, der hier ebenfalls angerissen werden soll.
Formen der Erinnerung
Fragt man nach dem Gedenken an ein zentrales Ereignis, steht als Konsequenz der Rezeption neuerer geschichtsphilosophischer Werke zunächst die Frage nach den Erinnerungsorten10 und den Medien, über welche die Erinnerung wachgehalten wurde und wird. Im Falle der Erinnerungstätigkeit der LdO waren es vor allem Gedenkveranstaltungen und Wallfahrten, im Rahmen derer vertreten, 3. die aus der Eigenart der Oberschlesier erwachsenen geistigen, seelischen und sittlichen Werte zu bewahren und weiter zu entwickeln, 4. die Kenntnis von Oberschlesien zu vertiefen und zu verbreiten, 5. die Oberschlesier und das heranwachsende Geschlecht auf die Rückkehr in die Heimat geistig vorzubereiten, 6. Vereinigungen, Einrichtungen und Veranstaltungen zu fördern, die sich im Sinne des Vereinszweckes betätigen“, aus: Sammlung der Stiftung Haus Oberschlesien (SHOS). 9 Viele Hundert Tausend dieser Menschen kamen zwischen 1956 und 1992 als „Aussiedler“ nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) nach West-Deutschland. Neuesten Berechnungen zufolge stammten von den ca. 1,5 Mio. Aussiedlern aus Polen, die zwischen 1956 und 1992 in die Bundesrepublik übergesiedelt sind, ca. 950.000 Aussiedler aus Gebieten innerhalb der historischen Grenzen Oberschlesiens. Siehe: Michalczyk, Andrzej/Skrabania, David (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2023, hier das 7. Kapitel „Aussiedler in die deutschen Staaten nach 1950“ von David Skrabania. 10 Hier nach Pierre Nora verstanden als Verortungen von kollektiven Erinnerungen im Raum, also viel mehr als reine Örtlichkeiten. Kollektive Erinnerungen können sich in einem Ort, einer Person, einem Brauch, Ritual oder auch in Symbolen manifestieren.
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an das Plebiszit erinnert wurde. Ein geografisch zu verortender Erinnerungsort stach dabei heraus: der Annaberg in Haltern in Westfalen.11 Entsprechend der katholischen Prägung der Oberschlesier war das jährliche Gedenken in der Regel an eine kirchliche Veranstaltung respektive religiöse Zeremonie geknüpft. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten gelang es den (ober-)schlesischen Vertriebenenorganisationen zudem noch häufig, die Festivitäten an runden Jahrestagen an prominenten Orten der gesellschaftlichen und politischen Willensbildung zu veranstalten, so etwa 1961 im Düsseldorfer Landtag, oder an symbolträchtigen Orten der nationalen Erweckung der Deutschen, wie 1981 in der Frankfurter Paulskirche. Im Übrigen wurden die Gedenkfeierlichkeiten an runden Jahrestagen seinerzeit noch republikweit begangen, was später abflaute, sodass sich die Aktivitäten neben Wallfahrtsorten auf Ortschaften beschränkten, in denen noch gut funktionierende landsmannschaftliche Strukturen (Kreisgruppen) vorhanden waren. Dennoch: Nach dem im Abstand von zwei Jahren stattfindenden „Tag der Oberschlesier“ gehörten die Gedenkfeiern rund um das Plebiszit bis in die 1990er Jahre zu den größten Veranstaltungen im Jahresprogramm der LdO. Was die mediale Erinnerungsarbeit angeht, so fand diese allen voran im Verbandsblatt der LdO – „Unser Oberschlesien“ – statt, das seit 1951 erschien und im Jahr 1962 mit 23.000 Exemplaren seine höchste Auflage erreichte. Seit den 1950er Jahren erinnerten auch Artikel in Kreis- und Heimatblättern12 sowie kleinere Gedenkveranstaltungen von Kreisverbänden an das Plebiszit, daneben auch zahlreiche Beilagen sowie das Verbandsblatt der LMS – die „Schlesische Rundschau“. Diese beiden Ebenen der Gedenkveranstaltungen 11
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Dieser Wallfahrtsort aus dem 17. Jahrhundert mit der 1378 erstmals erwähnten Wallfahrtskapelle St. Anna wurde bereits 1946 zum zentralen kirchlichen Wallfahrts- und Erinnerungsort der Oberschlesier im Westen und erinnerte sie an den heimatlichen Annaberg. Dies symbolisiert auch eine dort aufgestellte Bronzesäule, auf der u.a. die Schutzpatronin Oberschlesiens, die heilige Hedwig, dargestellt ist. Neben dem Haltener Annaberg stellte aber auch der Wallfahrtsort Neviges im Bergischen einen zentralen oberschlesischen Erinnerungsort dar, in geringerem Maße auch das Zisterzienserkloster in Bochum-Stiepel. Seit den späten 1940er Jahren wurden immer mehr oberschlesische Heimatblätter gegründet, in denen die „kleine Heimat“ im Vordergrund stand. Sie dienten den geflüchteten, vertriebenen und ausgesiedelten Oberschlesiern zur Kontaktaufnahme, zum Austausch und zur Informationsvermittlung, u.a. die Kattowitzer Zeitung, das Neisser Heimatblatt, Der Rybniker, Der Ratiborer, das Gleiwitzer-Tarnowitzer-Beuthener Heimatblatt (Zusammenschluss im April 1958), das Grottkau-Falkenberger Heimatblatt, die Kreuzburger Nachrichten, der Leobschützer Heimatbrief bzw. das Leobschützer Heimatblatt, der Neustädter Heimatbrief und viele weitere mehr. Zahlreiche Heimatblätter wurden insbesondere seit den 1990er Jahren aufgrund des Leserschwundes eingestellt.
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und medialen Berichterstattung waren eng miteinander verwoben, sodass sie nachfolgend zusammenhängend betrachtet werden. Das erste große, gesamtdeutsche Gedenken fand erst zum 40. Jahrestag des Plebiszits mit zahlreichen Veranstaltungen um den 20. März 1961 herum statt, also zu einem Zeitpunkt einer überaus unruhigen weltpolitischen Lage mit dem Konflikt um Berlin im Zentrum, aber noch mitten in der deutschen Wirtschaftswunderzeit. Zugleich hatten sich die landsmannschaftlichen Vertriebenenorganisationen Anfang der 1960er Jahre bereits gefestigt und konsolidiert. Sie verfügten über Ableger im gesamten Bundesgebiet und traten sehr selbstbewusst auf. Unter dem Motto „Schlesien rief und alle, alle kommen“ fanden Gedenkveranstaltungen auf Bundes-, Landes- und Kreisebene statt, während die Verbandsblätter eifrig Sonderausgaben druckten, in denen die Ereignisse um den Abstimmungskampf dargestellt und mittels Karten und Bildmaterial illustriert wurden. Hinzu kamen weitere Publikationen, eine Radiosendung beim WDR zum Thema und eine Ausstellung unter dem Titel „Oberschlesien. Deutsches Land – deutsches Schicksal!“, die von der LMS organisiert wurde. Es gab zwei Hauptfeierlichkeiten auf Bundesebene; eine am 18. März von der LdO in Bonn organisierte Veranstaltung mit Vertriebenenminister Hans Joachim von Merkatz13, bei der ein Telegramm von Bundeskanzler Adenauer verlesen wurde, und eine am Folgetag gemeinsam von der LdO und der LMS in West-Berlin organisierte Feierlichkeit. In Bonn hielt unter anderem Kurt Urbanek14, 1921 deutscher Plebiszitkommissar in Oberschlesien, eine Rede, in Berlin Georg
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Hans Joachim von Merkatz, geb. am 7. Juli 1905 in Stargard in Pommern (Stargard), gest. am 25. Februar 1982 in Bonn. Merkatz gehörte als bekennender Monarchist und Politiker von konservativem Profil nach dem Kriegsende der Deutschen Partei an und wechselte im September 1960 zur CDU. Zwischen 1949 und 1969 war er Abgeordneter des Bundestages; 1955–1962 Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates, 1956–1957 Bundesjustizminister und 1960–1961 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Kurt Urbanek, geb. am 10. Oktober 1884 in Neisse (Nysa), gest. am 14. April 1973 in Frankfurt a. M., studierter Jurist, von 1913 bis 1920 Bürgermeister von Roßberg/OS (Rozbark), 1920–1922 deutscher Plebiszitkommissar. 1922–1933 Landrat im Kreis Beuthen-Tarnowitz (Bytom-Tarnowskie Góry) in der Provinz Oberschlesien, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme abgesetzt und in den Ruhestand versetzt. Anschließend als Anwalt und Syndikus tätig. Vom NS-Regime wegen Eintretens für jüdische Mitbürger zwei Monate inhaftiert. Nach dem Krieg Landgerichtspräsident in Altenburg/Thüringen, an Silvester 1948 verhaftet und wegen antisowjetischer Propaganda zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Januar 1954 nach fünf Jahren Aufenthalt in den Gefängnissen in Bautzen und Brandenburg vorzeitig entlassen und nach Frankfurt am Main ausgereist. 1954–1956 und 1958–1959 Bundesvorsitzender der LdO, dann zum Ehrenvorsitzenden der LdO ernannt.
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Henckel von Donnersmarck15, Präsident des Ostdeutschen Kulturrates. Mit Ulitz16, Merkatz oder Bolko von Richthofen17 meldeten sich in diesem Rahmen auch Personen als Redner zu Wort, die mit dem nationalsozialistischen Regime mehr oder weniger kooperiert hatten – damals noch kein Ausschlusskriterium für öffentliche Auftritte.18 Die zehn Jahre später zum 50. Jubiläum stattfindenden Veranstaltungen fielen bereits deutlich kleiner aus, mit einem weniger populären Rednerkreis. Die Bundesrepublik war durch die 68er Bewegung nun eine andere, das Verständnis für die Perspektive der Vertriebenenorganisationen sichtlich geringer geworden, 15
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Georg Graf Henckel von Donnersmarck, geb. am 5. August 1902 in Grambschütz/NS (Gręboszów), gest. am 2. Mai 1973 in Bonn, entstammte dem Adelsgeschlecht der Henckel von Donnersmarck. Nach dem Abitur Jurastudium und 1926 Promotion in Göttingen, übernahm er anschließend das elterliche Gut Grambschütz, dort seit 1929 auch Bürgermeister bis zur Absetzung 1933; 1934 Verlust von Vorstandsämtern im Genossenschaftsverein. Er trat 1937 der NSDAP bei und diente im Krieg als Oberleutnant bei der Wehrmacht. Nach dem Krieg engagierte er sich als Vertriebenenpolitiker und gehörte 1953–1957 und 1959–1961 dem Bundestag an. Otto Ulitz, geb. am 28. September 1885 in Kempten (Allgäu), gest. am 28. Oktober 1972 in Borgholzhausen. Aufgewachsen in Kattowitz (Katowice), seit 1902 im Polizeidienst, für die Deutsche Demokratische Partei Mitglied im Deutschen Plebiszitausschuss. Nach der Teilung Oberschlesiens führender Vertreter der deutschen Minderheit in OstOberschlesien, seit der Gründung 1921 bis 1939 Präsident des Deutschen Volksbundes für Polnisch-Schlesien und 1922–1935 Abgeordneter der Deutschen Partei im Schlesischen Sejm. Er soll an der Vorbereitung des fingierten Überfalls auf den Sender Gleiwitz beteiligt gewesen sein. Seit 1. Oktober 1941 NSDAP-Mitglied. Laut dem Historiker Michael Schwartz hat er sich „dem NS-Regime zwischen 1939 und 1945 bewusst und aktiv zur Mitarbeit zur Verfügung gestellt“, u.a. durch die Umsetzung der NS-Bildungspolitik als Leiter der staatlichen Schulverwaltung in Oberschlesien. Nach Kriegsende vom NKWD festgenommen, bis 1952 in der SBZ/DDR inhaftiert gewesen, anschließend in die BRD entlassen, wo er 1953 zum Sprecher der Landsmannschaft der Oberschlesier gewählt wurde (bis 1969). 1953–1954 und 1959–1964 Bundesvorsitzender der LdO. Bolko Freiherr von Richthofen, geb. am 13. September 1899 in Mertschütz (Mierczyce), Landkreis Liegnitz (Legnica), gest. am 18. März 1983 in Seehausen am Staffelsee. Nach dem Abitur 1917–1918 Soldat im Ersten Weltkrieg, danach Mitglied der paramilitärischen Schwarzen Reichswehr, 1921 Freiwilliger beim Selbstschutz Oberschlesien (SSOS), beteiligt an der Schlacht um den Annaberg. In den 1920er Jahren Studium der Geschichte und Archäologie. Bekennender Nationalsozialist, 1933 Eintritt in die NSDAP, im gleichen Jahr Berufung als Ordinarius an die Universität Königsberg, seit 1937 Mitglied der Leopoldina. Während des Krieges Dolmetscher-Offizier und Referent für die Abteilung Fremde Heere Ost. 1945 bis 1971 Mitglied der CSU, Forschungsaufträge der DFG und des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 1962 Mitgründer der rechtsextremen Aktion Oder-Neiße, 1963 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. 1970 Mitgründer der rechtsextremen Deutschen Bürgergemeinschaft. Autor zahlreicher revisionistischer Werke. Linek: Stosunek mniejszości, S. 80–84.
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und auch der Mitgliederschwund innerhalb der Vertriebenenorganisationen machte sich zunehmend bemerkbar. So waren beim wichtigsten Festakt am 10. März 1971 in der Redoute in Bad Godesberg zwar zahlreiche Bundestagsabgeordnete und Vertriebenenpolitiker anwesend, die großen Namen aus Politik und Gesellschaft aber fehlten. Selbst Kurt Urbanek war „verhindert“; die Festrede hielt Friedrich Hollunder19, damaliger Bundesvorsitzender der LdO.20 Als zehn Jahre später erneut ein rundes Jubiläum anstand, wurde die Frankfurter Paulskirche – der Tagungsort der Nationalversammlung im Zuge der Deutschen Revolution von 1848 und damit ein symbolträchtiger Ort der deutschen Nationswerdung – zum zentralen Ort der Feierlichkeiten erhoben. Beispielhaft lässt sich daran der Ablauf einer solchen Veranstaltung anschaulich nachvollziehen, der bis dato in ähnlicher Form bei allen größeren Feierlichkeiten zum Tragen gekommen war und auch künftig wiederkehren sollte. Der Festakt des Jahres 1981 begann morgens mit einer Pontifikalmesse im Frankfurter Dom, die vom Apostolischen Visitator Prälat Hubert Thienel21 zelebriert wurde. Der Vorsitzende der Landesgruppe Hessen, Bundestagsabgeordneter
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Friedrich Hollunder, geb. am 23. Juni 1906 in Mikultschütz/OS (Mikulczyce), gest. am 8. Februar 1988 in Marl. 1925 Abitur in Beuthen OS (Bytom), danach Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, Berlin und Gießen, wo er 1932 promovierte. Bei Kriegsbeginn Wehrmachtssoldat, geriet er 1941 bei Stalingrad in russische Gefangenschaft. Nach siebenjähriger Gefangenschaft reiste er Ende 1949 zu seiner nach West-Berlin geflüchteten Familie aus. Tätigkeit als 2. Justiziar bei der Harpener Berbau-AG in Dortmund, anschließend bei der Gewerkschaft Auguste Victoria in Marl. Schon in Dortmund Eintritt in die dortige Kreisgruppe der LdO, seit 1956 Landesvorsitzender der LdO. 1961 zum Präsidenten der Bundeshauptversammlung gewählt, Gründungsvorstand des Landesverbandes NRW des Bundes der Vertriebenen (BdV). 1969–1977 Bundesvorsitzender der LdO. Aus Recht wird nie Unrecht!, in: Unser Oberschlesien, 21. Jg., Nr. 6 vom 25. März 1971, S. 1. Prälat Hubert Thienel, geb. am 10. Oktober 1904 in Trebnitz/Schlesien (Trzebnica), gest. am 23. Dezember 1987 in Düsseldorf. Studium der kath. Theologie in Breslau und Freiburg, 1930 Priesterweihe in Breslau durch Kardinal Bertram. Kaplan an St. Nikolaus in Breslau. Während der nationalsozialistischen Zeit Jugendkaplan an der zentralen Diözesanjugendseelsorge in Breslau und Diözesanpräses der Frauenjugend, zugleich Domvikar. Aufgrund seiner Tätigkeit wurde er mehrere Dutzend Male von der Gestapo verhört. Nach der Vertreibung folgte er dem Ruf des Kölner Kardinals Josef Frings; beim Erzbistum Köln setzte er seine bewährte Jugend- und Frauenarbeit fort. 1947 Mitbegründer des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDJK). 1958 Ernennung zum Päpstlichen Geheimkämmerer, 1964 zum Päpstlichen Hausprälaten. Nach dem Eintritt in den Ruhestand im April 1972 zum Sprecher der heimatvertriebenen Priester aus dem Erzbistum Breslau, Leiter der Katholischen Arbeitsstelle für Heimatvertriebene (Nord) in Köln und zum Diözesan-Vertriebenenseelsorger im Erzbistum Köln bestellt. Er wurde am 28. Oktober 1972 vom Papst zum Apostolischen Visitator ernannt. Zahlreiche Auszeichnungen für seine lebenslange Tätigkeit zugunsten der katholischen Schlesier, u.a. das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1979).
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Bernhard Jagoda,22 eröffnete anschließend die Feierlichkeiten und führte die Totenehrung durch. Danach folgten mehrere Grußansprachen, u.a. vom Hessischen Landtagspräsidenten, und ein Referat zum Thema Selbstbestimmung für Oberschlesien des damaligen Sprechers und späteren Bundesvorsitzenden der LdO, Herbert Czaja23. Unter den weiteren Rednern fand sich auch Herbert Hupka24, der Vorsitzende der LMS, wieder. Das Begleitprogramm umfasste Choreinlagen und Darbietungen zahlreicher Trachtengruppen der LdO aus dem gesamten Bundesgebiet, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen. 22
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Bernhard Jagoda, geb. am 29. Juli 1940 in Kudoba (Chudoba, 1936–1945 Kirchwalde) im Landkreis Rosenberg O.S. (Olesno), gest. am 19. Juni 2015 in Schwalmtal. CDU-Politiker, 1970–1980 Mitglied des Hessischen Landtages, 1980–1987 und 1990–1993 Mitglied des Bundestages. 1987–1990 Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Seit 1993 bis zu seinem Rücktritt 2002 Präsident der Bundesanstalt für Arbeit. 1991–1993 Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Oberschlesier, 2003–2011 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Haus Oberschlesien. Ehrenbürger der Stadt Olesno, dem früheren Rosenberg. Unter den Ehrungen auch das Große Verdienstkreuz der BRD und der päpstliche Gregoriusorden. Herbert Czaja, geb. am 5. November 1914 in Teschen (Cieszyn), gest. am 18. April 1997 in Stuttgart. Czaja wuchs in einer zweisprachigen Familie in Skotschau im Teschener Schlesien auf, das seit 1918 zu Polen gehörte. Nach dem Ablegen des Abiturs in Bielitz (Bielsko) studierte Czaja 1933–1938 Germanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten in Krakau und Wien. Anschließend war er als Lehrer in Mielec tätig und dann wissenschaftlicher Assistent an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo er 1939 promoviert wurde. Er war kein Mitglied der NSDAP. Seit 1942 in der Wehrmacht und an der Ostfront schwer verwundet. Nach der Vertreibung aus Schlesien im gymnasialen Schuldienst in Stuttgart tätig. Als CDU-Politiker 1953–1990 Mitglied des Bundestages. Er stimmte im Einigungsprozess gegen die Mehrheit seiner Fraktion und lehnte den Einigungsvertrag und den Zwei-plus-Vier-Vertrag ab, da die ehemaligen deutschen Ostgebiete nicht eingeschlossen waren. Czaja engagierte sich zeitlebens für die Heimatvertriebenen und bekleidete zahlreiche diesbezügliche Ämter; so war er 1970–1994 Präsident des Bundes der Vertriebenen, 1965–1968 Bundesvorsitzender der LdO und 1965–1995 Sprecher der LdO. 1968 erhielt er das Verdienstkreuz 1. Klasse der BRD, 1973 das Große Verdienstkreuz und 1984 das Große Verdienstkreuz mit Stern sowie 1988 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Herbert Hupka, geb. am 15. August 1915 in Diyatalawa/Ceylon (heute Sri Lanka), gest. am 24. August 2006 in Bonn. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs er bei der alleinerziehenden Mutter in Ratibor (Racibórz) auf. Aufgrund des Verschweigens der jüdischen Herkunft der Mutter wurde er als Wehrmachtssoldat 1943 zu einer Haftstrafe verurteilt und verbrachte zwölf Monate im Gefängnis. Anschließend kehrte er nach Ratibor zurück und schlug sich im Juni 1945 nach Theresienstadt durch, wo seine Mutter im Ghetto interniert war. Sie gingen nach München, wo Hupka seine journalistische Tätigkeit aufnahm. 1969–1987 Bundestagsabgeordneter, bis 1972 als SPD-Politiker. In diesem Jahr trat er aus Protest gegen die Ostverträge unter Bundeskanzler Willy Brandt aus der SPD aus und der CDU bei. 1968–2000 Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab er seine revisionistischen Positionen teilweise auf und setzte sich für die Aussöhnung mit Polen ein. 1998 wurde er Ehrenbürger der Stadt Ratibor. Träger mehrerer Auszeichnungen, darunter des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der BRD.
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Abb. 5.1
Gedenken an die Volksabstimmung in Oberschlesien und die Toten der Aufstandszeit, 23.03.2019, Annaberg in Haltern a.S. © Andreas Gundrum.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Abschluss des Zwei-plusVier-Vertrages 1990, mit dem die bestehenden Grenzen final festgelegt wurden – begleitet von scharfer Kritik vonseiten der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften – sowie des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit 1991 änderten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Landsmannschaften diametral. Sie stellten ihre Existenzberechtigung mehr und mehr in Frage. Einen Versuch zur Neuausrichtung mit mehreren Satzungsänderungen unternahm auch die LdO, an ihrem gesellschaftlichen und politischen Bedeutungsverlust konnte aber auch das nichts ändern. In dieser Situation machten weder große Gedenkfeierlichkeiten an Jahrestagen der Volksabstimmung Sinn, noch konnten sie finanziell und organisatorisch gestemmt werden. Ihr Umfang und ihre Anzahl nahmen seit den 1990er Jahren kontinuierlich ab – sowohl im Organisationsspektrum der Landesverbände als auch bei den Kreisgruppen.25 25
Selbst zum 100. Jubiläum fanden nur wenige Veranstaltungen statt, darunter einige Vorträge mit anschließender Gedenkstunde am 13. November 2021 in Friedrichhafen, organisiert von der Kreisgruppe Bodenseekreis. Durch die Einschränkungen der Maßnahmen
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Woran wurde erinnert?
Die Erinnerung an das Plebiszit wurde stets geschichtlich gerahmt und auf die Thematik von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust ausgedehnt. Entscheidend waren dabei die Betonung des Deutschtums Oberschlesiens und das „Treuebekenntnis“ des oberschlesischen Volkes zu Deutschland, belegt durch das Abstimmungsergebnis, mit dem die Entscheidung Schlesiens für Deutschland „für alle Zeiten festgeschrieben“ worden sei. Auch mit der „Stimme des Blutes“, also des Waffengangs zur Verteidigung des Verbleibs Oberschlesiens bei Deutschland, insbesondere im Zuge des Dritten Aufstandes, habe das oberschlesische Volk die „Geborgenheit in deutscher Schicksalsund Kulturgemeinschaft“ bestätigt und seine Stimme erhoben, „dass es zu Deutschland gehört und ewig gehören will“.26 Freilich begann die historische Herleitung aber schon im Mittelalter mit der deutschen Ostsiedlung, juristisch abgesichert mit dem Verweis auf den Vertrag von Trentschin (Trenčín) aus den Jahren 1335/39, mit dem das (piastische) polnische Königshaus die Ansprüche Polens auf die von den schlesischen Piasten dominierten Gebiete aufgab. Anschließend sei Oberschlesien „durch unermüdliche Arbeit mit Pflug und Rode-Axt, durch die Christianisierung, durch die Übertragung von Kultur und Zivilisation des Abendlandes […] deutsch geworden.“27 Mit der Habsburger Machtübernahme 1526 sei im 18. Jahrhundert das epochale Ereignis des Anschlusses Schlesiens an Preußen erfolgt, anschließend habe die Industrialisierung den Wohlstand Oberschlesiens und dessen Einheit begründet, beides sei schließlich aber wieder von polnischen Demagogen zerstört worden.28 Diese Aneinanderreihung von Ereignissen diente als Begründung und Rechtfertigung der deutschen Ansprüche auf Oberschlesien, wenngleich sie mit der Übertragung des Instrumentariums des 19. Jahrhunderts – also einer nationalen Argumentationskette – auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit anachronistisch wirkt. Dennoch dienten die derart vorgetragenen historischen Fakten auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in gleicher Weise als
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zur Bekämpfung der Corona-Pandemie mussten einige Gedenkveranstaltungen abgesagt werden. Zitate aus der Rede von Kurt Urbanek anlässlich des 40. Jahrestages der Volksabstimmung in Oberschlesien, 18. März 1961 in der Beethovenhalle in Bonn, Tonbandaufnahme, Bestand Stiftung Haus Oberschlesien (SHOS). Gedenken an die Abstimmung. Erhebende Feierstunde im Gesamtbereich der Bundesrepublik, in: Unser Oberschlesien, 3. Jg., Nr. 4 vom 4. April 1953, Zitat aus der Rede von Otto Ulitz anlässlich des 32. Jahrestages des Plebiszits. Linek: Stosunek mniejszości, S. 84.
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Argumentationsstrang, um das Recht der Deutschen und Deutschlands auf Oberschlesien zu belegen. Die entlang politisch-historischer Ereignisse aufgebaute Narration diente auch dazu, gegenüber der gesamtdeutschen Gesellschaft die Rechtfertigung für das Handeln der Vertriebenenverbände, das Recht auf Heimat einzufordern, zu kommunizieren und es im gesellschaftlichen Bewusstsein aufrechtzuerhalten. Mit dem Rückbezug auf die Volksabstimmung sollte die gesamtdeutsche Mobilisierung zur Wiedererlangung Schlesiens/Oberschlesiens und der Ostgebiete insgesamt argumentativ gestärkt werden. Dass eine Rückkehr nach Oberschlesien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich das Ziel gewesen ist, wurde gar nicht erst verleugnet: „Wir glauben, dass eine neue deutsche Siedlungswelle den gesamtschlesischen Raum eines Tages in friedlicher Arbeit wiederaufbauen und ihm ein europäisches Lebensgefühl geben wird; denn Menschen und Bodenschätze, Gedanken und Arbeitsenergien werden künftig im europäischen Rahmen zu Nutz und Frommen aller tätig sein, weil es ethisch, gesellschaftlich und ökonomisch eine andere, neue übernationale Lebensordnung aufzubauen gilt.“29 Auch die Satzung der LdO machte diesen Anspruch lange Zeit deutlich. So sollte etwa die Jugend geistig auf die Rückkehr in die Heimat vorbereitet werden30 – vollzogen natürlich im Geiste der Charta der Heimatvertriebenen, also „ohne Rache und Vergeltung“; das „Recht auf Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit [sollte] anerkannt und verwirklicht“ werden.31 Wie man dieses Vorhaben in die Realität umsetzen wollte, blieb allerdings im Dunkeln. Sollte eine Gebietsrückgabe erfolgen, und wenn ja, wie sollte diese vonstattengehen? Oder sollte den Heimatvertriebenen eine Wiederansiedlung in den nun polnischen Teilen Schlesiens ermöglicht werden? Wenn ja, in welcher Form, und wie viele der Betroffenen würden diese Möglichkeit überhaupt in Anspruch nehmen? Was sollte mit den neuen Bewohnern (Ober-)Schlesiens passieren? Sollten sie ausgesiedelt werden? Fragen wie diese wurden – zumindest öffentlich – nicht gestellt, geschweige denn offen diskutiert. Der Anspruch auf Grenzrevision schwang aber stets mit, wenn im Kontext der Erinnerung an das Plebiszit das Recht auf Heimat in einer verklausulierten Sprache eingefordert wurde. 29 30 31
Gedenken an die Abstimmung. Erhebende Feierstunde im Gesamtbereich der Bundesrepublik, in: Unser Oberschlesien, 3. Jg., Nr. 4 vom 4. April 1953. Zitat aus der Rede von Otto Ulitz anlässlich des 32. Jahrestages des Plebiszits. Vgl. Par. 2 (1) 5. der Satzung der LdO aus dem Jahr 1962, vollständiger Wortlaut: „die Oberschlesier und das heranwachsende Geschlecht auf die Rückkehr in die Heimat geistig vorzubereiten“. Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950, siehe: https://www.bundder-vertriebenen.de/charta-auf-deutsch, aufgerufen am 19.02.2022.
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Dieser Grundtenor blieb auch in den folgenden Jahrzehnten im Zusammenhang mit den Erinnerungsveranstaltungen und in den landsmannschaftlichen Medien gleichlautend. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Öffnung der Grenzen sowie dem NATO- und EU-Beitritt Polens (und Tschechiens) machte die aus geopolitischer Sicht geradezu abenteuerlich wirkende Argumentation keinen Sinn mehr und änderte sich allmählich. Die Rückkehr in die Heimat der lebenden Erlebnisgeneration und der nachgeborenen Generationen verlor auch innerhalb der Landsmannschaft ihre fast mythische Anziehungskraft, die durch die Teilung Europas in Ost und West über Jahrzehnte aufrechterhalten worden war und deren nach innen gerichtete Wirkung nicht unterschätzt werden sollte. Seit den 1990er Jahren verlor die LdO, ebenso wie andere landsmannschaftliche Organisationen, massiv an Zulauf und Zuspruch, ihre Legitimation und Existenz waren immer schwieriger zu begründen. So wandelte sich auch die Erinnerungskultur und blieb schließlich nur innerhalb der noch funktionierenden Kreis- und Landesgruppen erhalten. Die Gedenkfeiern entwickelten seitdem einen stark folkloristischen Charakter und stellten sozusagen Pilgerfahrt und Begegnung zugleich dar, unterschieden sich somit nur gering von anderen Anlässen. Dabei waren die seit den 1990er Jahren stattfindenden Gedenkstunden mehr und mehr auf Versöhnung ausgelegt: „Wir wollen mit unserer Jugend und mit unseren Landsleuten in Oberschlesien an einer Zukunft bauen, damit das 21. Jahrhundert für Oberschlesien ein Glückauf-Jahrhundert wird,“32 so der Bundesvorsitzende der LdO, Klaus Plaszczek33. Im Rahmen der jährlich stattfindenden Gedenkfeier an der St. Anna-Stele in Haltern in Westfalen wird seit vielen Jahren explizit aller Toten gedacht, die im Ringen um Oberschlesien auf beiden Seiten ihr Leben verloren haben, nicht nur der deutschen – die Betonung liegt dabei auf der Verantwortung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen für den Friedenserhalt, die sich aus der Geschichte ergebe.34 32
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Mit diesen Worten schloss der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Oberschlesier seine Rede anlässlich des 78. Jahrestages der oberschlesischen Volksabstimmung in Ratingen, siehe: Erfahrungen an die Jugend weitergeben. Volksabstimmung in Oberschlesien vor 78 Jahren. Gedenkstunde im Landesmuseum in Hösel, Rheinische Post vom 23. März 1999. Klaus Plaszczek, geb. am 9. November 1943 in Hindenburg/OS (Zabrze), 1958 als Aussiedler in die BRD gekommen, seit 1960 in Herford lebend und seit dieser Zeit in der LdO aktiv. Als CDU-Politiker 1980–2015 Ratsmitglied im Rat der Stadt Herford, Schatzmeister der Kreis-CDU Herford, ehemaliger Ortsunionsvorsitzender in Herford. Kaufmann, Bilanzbuchhalter und selbstständiger Finanzkaufmann. Seit 1993 Bundesvorsitzender der LdO. Oberschlesier gedachten der Volksabstimmung vor 98 Jahren. Traditionelle Kranzniederlegung an der St. Anna-Stele, https://www.lokalkompass.de/haltern/c-vereine-ehrenamt/
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Woran wurde nicht erinnert?
Überaus interessant ist die Frage, welche Inhalte in den Erinnerungsreden, -texten und sonstigen Beiträgen außen vor gelassen wurden – ihre Klärung bedarf der Reflexion des Autors des vorliegenden Beitrages und ist in der bisherigen Forschung kaum aufgegriffen worden. Wenngleich die einzelnen Aussparungen miteinander in Zusammenhang stehen, so lassen sie sich doch unterteilen und zwar einerseits in direkt mit der Abstimmungszeit verknüpfte Elemente und andererseits in Aspekte im Kontext der Zwischen- und Kriegszeit sowie des Verlustes der Heimatgebiete. In Bezug auf die erste Gruppe sticht besonders ins Auge, dass die konkreten Bestimmungen zur Durchführung und Auswertung der Volksabstimmung nicht Bestandteil der Erinnerungskultur gewesen sind. Dies betraf insbesondere den Inhalt des Artikels 88 und hier vor allem die Paragraphen vier bis sechs der dazugehörigen Anlage, in denen das oberschlesische Abstimmungsgebiet, die praktische Durchführung der Abstimmung und eine eventuelle Teilung festgelegt wurden. So heißt es in Paragraph fünf: „Nach Beendigung der Abstimmung teilt der Ausschuss den alliierten und assoziierten Hauptmächten die Anzahl der in jeder Gemeinde abgegebenen Stimmen mit und reicht gleichzeitig einen eingehenden Bericht über die Wahlhandlung sowie einen Vorschlag über die Linie ein, die in Oberschlesien unter Berücksichtigung sowohl der Willenskundgebung der Einwohner als auch der geographischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften als Grenze Deutschlands angenommen werden soll.“35 Die Tatsache, dass eben nicht das Gesamtergebnis der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit des Abstimmungsgebietes entschied, sondern die in den einzelnen Gemeinden abgegebenen Stimmen – unter Berücksichtigung der geografischen und ökonomischen Faktoren – ausschlaggebend für die jeweilige Zugehörigkeit und eine Grenzziehung waren, wurde in der Erinnerungskultur schlichtweg übergangen, und zwar schon unmittelbar und in den weiteren Jahren nach dem Plebiszit. Die entgegen den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages aufgebaute, auf das Gesamtergebnis rekurrierende Narration hält bis heute an und ist selbst in Kreisen der deutschen Minderheit in Oberschlesien präsent.36
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oberschlesier-gedachten-der-volksabstimmung-vor-98-jahren_a1104522, aufgerufen am 25.02.2022. Friedensvertrag von Versailles, Teil III, Politische Bestimmungen über Europa, Anlage Abschnitt VIII über Polen, Artikel 88, siehe: http://www.documentarchiv.de/wr/vv03. html, aufgerufen am 12.02.2022. So Linek im Gesamtzusammenhang des Aufgreifens der landsmannschaftlichen Erinnerungskultur durch die deutsche Minderheit in Polen nach 1990, siehe: Linek: Stosunek mniejszości, S. 88–89. Beispielhaft sei hier die Einführungsrede des Vorsitzenden
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Interessanterweise traf der Versailler Friedensvertrag in der deutschen Gesellschaft und Politik als Gesamtwerk zwar auf scharfe Kritik, konkrete Beanstandungen im Hinblick auf die Bestimmungen der Anlage zum Artikel 88, die aus deutscher Sicht ja tatsächlich ursächlich für die später durchgeführte Teilung Oberschlesiens gewesen sind, fehlten innerhalb der Erinnerungskultur zum Plebiszit jedoch fast gänzlich. Möglicherweise wurde dieser Punkt schon zeitgenössisch und dann auch innerhalb der Erinnerungskultur nicht aufgegriffen, weil man sich dann mit der Tatsache hätte auseinandersetzen müssen, dass Oberschlesien entgegen der allgemeinen Erzählung kein einheitlich deutsches geografisches Gebilde gewesen ist und sich bereits um 1900 ein tiefer Riss durch die oberschlesische Gesellschaft zog. Eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass sich etwas mehr als 40 Prozent der Abstimmungsberechtigten für Polen entschieden hatten, hätte die Erzählung von der jahrhundertelangen deutschen Geschichte in Oberschlesien untergraben. Die Spaltung der oberschlesischen Gesellschaft in deutsch geprägte Städte und westslawisch-polnisch geprägtes Umland im Industrierevier und generell rechts der Oder war ja nicht erst eine Erscheinung der Abstimmungszeit, wenngleich sich die gesellschaftlichen, aber auch familiären Spannungen zwischen prodeutschen und propolnischen Haltungen nach 1918 massiv verstärkten. Auch wären dann die sprachliche Realität, die ethnisch-kulturelle Heterogenität und die soziale Situation in der Region zwangsläufig in den Fokus des Interesses gerückt, was nicht im deutschen Interesse lag, weil es die „deutsche Kulturleistung“ infrage gestellt und das Bild des häufig herangezogenen Arguments ad absurdum geführt hätte, wonach die Zuwanderung von Polen aus Kongresspolen und Galizien für die Bevölkerungsverschiebungen in Oberschlesien verantwortlich gewesen ist.37 Ganz zu schweigen von der preußischen Germanisierungspolitik seit der Reichsgründung, die auch in Oberschlesien durchgesetzt wurde. Die Überbetonung der politischen und – parallel dazu – das weitgehende Verschweigen sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren führte in der landsmannschaftlichen Erinnerungskultur
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des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VDG), Bernard Gaida, beim 26. Schlesienseminar am 26. Oktober 2021 genannt, das unter dem Titel „Deutsch-polnisches Ringen um Oberschlesien“ stand. Der Redner verwies darauf, dass das Ergebnis eindeutig zugunsten Deutschlands ausgefallen und trotzdem eine Teilung der Region erfolgt war. Zeitgleich wurde freilich die deutsche Zuwanderung im 19. Jahrhundert und insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in der Diskussion ebenso wenig thematisiert, wie die Auswanderung von – zumeist polnischsprachigen – Oberschlesiern seit Mitte des 19. Jahrhunderts in das rheinischwestfälische Industriegebiet, nach Mittelsachsen, in den Berliner und Hamburger Raum.
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dazu, dass ein Bild eines deutschen Oberschlesiens verfestigt und an die kommenden Generationen weitergegeben wurde, das wenig mit der Realität der Region um die Jahrhundertwende zu tun hatte. Ein weiteres ausgespartes bzw. einseitig betrachtetes Element stellte die Erinnerung an die während der Abstimmungszeit allgegenwärtigen Gewalttaten dar. Stattdessen hatte eine Erinnerung allein an polnische Gewaltverbrechen gegen die Deutschen in Oberschlesien Bestand, und zwar eingebettet in eine Narration, die mit dem „Schmachvertrag“ von Versailles und dem Verlust eines Teiles Oberschlesiens ihren Anfang nahm und mit dem „barbarischen Akt“ des Potsdamer Abkommens von 1945 sowie mit Flucht und Vertreibung endete. Der von Deutschland vom Zaun gebrochene Krieg und die deutschen Gräueltaten spielten in dieser Kontinuität der Erinnerung auch dann noch keine Rolle, als die Diskussion über Kriegsschuld und Sühne in den 1960er Jahren in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen war. Im landsmannschaftlichen Gedächtnis überwog das Bild der „Bojowka Polska“, der polnischen Banden, die die oberschlesische Zivilbevölkerung terrorisierten. Die antipolnische Politik des Reichskommissars für Oberschlesien und Posen in Person des SPD-Politikers Otto Hörsing im Laufe des Jahres 1919, die Gewalttaten der Sicherheitspolizei gegenüber polnischen Aktivisten und ihr brutales Vorgehen bei der Zerschlagung polnischer Manifestationen waren in landsmannschaftlichen Kreisen kein Thema. Auch die Rolle der deutschen Selbstschutzverbände, insbesondere aber der Freikorps, wurde völlig unkritisch dargestellt und als legitimes Handeln zur Befreiung der Region gerechtfertigt. Hier knüpfte die landsmannschaftliche Erinnerung an das Narrativ der Zwischenkriegszeit an, in dem die Verherrlichung des „nationalen Kampfes“ dieser Verbände im Zentrum stand. Die Tatsache, dass gerade die Freikorps-Verbände völkisch, antirepublikanisch und antisemitisch waren, dass sie dem Nationalsozialismus im deutschen Teil Oberschlesiens während der Zwischenkriegszeit Vorschub geleistet und sich daraus in den 1920er und 1930er Jahren die SA-Strukturen in Oberschlesien gebildet hatten, blieb häufig auch dann ausgespart, wenn zugleich betont wurde, dass sich die Juden Oberschlesiens klar und deutlich für Deutschland ausgesprochen und sich teils aktiv am Kampf für ein deutsches Oberschlesien beteiligt hatten. Gerade anlässlich runder Jahrestage des Plebiszits waren die Erzählungen ehemaliger Selbstschutz- und Freikorpskämpfer, die selbst häufig keine Oberschlesier waren, ein zentrales Element bei den Großveranstaltungen und in Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften. Vor allem die „heldenhafte“ Zurückschlagung der polnischen Aufständischen vom St. Annaberg blieb ein zentrales Motiv in der Narration, wohingegen der Terror, der von diesen Verbänden gegenüber der Zivilbevölkerung ausging, und die Morde an ehemaligen Aufständischen
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beim deutschen Einmarsch in Polen im Herbst 1939, nicht zur Sprache kamen.38 Wenngleich sich bereits 1961 zum 40. Jahrestag des Plebiszits eine deutliche Divergenz innerhalb der landsmannschaftlichen Erinnerung und der immer reflektierter werdenden öffentlichen Meinung in Deutschland auf die nationalsozialistische Zeit bemerkbar machte, so blieben Vertreter der Freikorps- und Selbstschutzverbände noch bis in die 1980er Jahre hinein fester Bestandteil der Feierlichkeiten.39 Schluss Im Kern ging es bei der Erinnerung an das Plebiszit um die Stärkung der Forderung der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften, hier konkret der Landsmannschaft der Oberschlesier, nach einer Rückgabe der nach Kriegsende verlorengegangenen Territorien. Die quasi als Beleg für das Deutschtum der Region Oberschlesien herangezogenen Argumente wurden wohl überlegt gewählt bzw. weggelassen, zumal hierdurch die gesamte deutsche Gesellschaft davon überzeugt werden sollte, die landsmannschaftlichen politischen Forderungen mitzutragen. Im Kontext des westeuropäischen Zusammenschlusses nach 1945 zeigten die Anliegen der Heimatvertriebenen gar eine europäische Dimension, eine Aufgabe für Gesamteuropa. Denn nach der Argumentation der landsmannschaftlichen Verbände konnte eine Friedenssicherung in Europa, eine enge Zusammenarbeit der Völker Europas nur gelingen, wenn „die Völker […] erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie [dasjenige] aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.“40 Und wenngleich innerhalb der Vertriebenenverbände bereits in den 1950er Jahren über die „Vereinigten Staaten von Europa“ diskutiert wurde, so erging stets auch der Hinweis, dass ein solches Projekt die Wiedervereinigung Deutschlands samt Eingliederung der ehemaligen deutschen Ostprovinzen zur 38 39
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Vgl. Linek: Stosunek mniejszości, S. 85–88 sowie den Beitrag von Juliane Haubold-Stolle in diesem Band. So etwa bei der Zentralkundgebung anlässlich des 65. Jahrestages der Volksabstimmung im bayerischen Weiden, die von einer Delegation des Freikorps „Oberland“ „mitgestaltet“ wurde. Siehe: Mende war Spitze. Das Wunder an der Oder: Ein Licht in der neuen deutschen Geschichte. Zentralkundgebung der LdO Bayern in Weiden mit dem Freikorps „Oberland“ und großer Medienresonanz, aus: Der Neue Tag, o. D. [1986], Sammlung der SHOS. Charta der deutschen Heimatvertriebenen, Stuttgart, 5. August 1950, https://www.bundder-vertriebenen.de/charta-auf-deutsch, aufgerufen am 10.03.2022.
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Voraussetzung hatte. In diesem Kontext sind auch die Gedenkveranstaltungen zum Plebiszit zu sehen, zumindest bis zur politischen Wende von 1989/90. Danach erfolgte im Hinblick auf die Inhalte der Gedenkveranstaltungen allmählich ein Umdenken, was sich darin zeigte, dass sich der Gedanke der Völkerverständigung und eine voranschreitende Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze durchsetzten, ebenso wie die Einsicht, dass es sich beim historischen Oberschlesien um eine überaus heterogene, mehrsprachige und mehrkulturelle Region handelte. Damit schuf die Landsmannschaft die Voraussetzungen für einen inzwischen partnerschaftlichen Umgang mit den Institutionen und der polnischen Bevölkerung im heutigen Oberschlesien.
TEIL II Internationale Aspekte der Situation Oberschlesiens
Der überforderte Frieden und die Aporien der Politik: Selbstbestimmung als Ideal und Praxis nach 1918 Jörn Leonhard
Einleitung: Die Instrumentalisierung des Selbstbestimmungsrechts im Weltkrieg1
1851 hielt der bekannte italienische Jurist Pasquale Mancini in Turin seine Antrittsvorlesung „Della Nazionalità come fondamento del diritto delle genti“ („Über die Nationalität als Basis des Völkerrechts“), die in Italien wie in anderen europäischen Ländern auf große Resonanz stieß. Darin formulierte er eine Prämisse, die wie in einem Brennglas den Glauben vieler Zeitgenossen ausdrückte, dass die Zukunft nicht multiethnischen Großreichen, sondern dem homogenen und selbstbestimmten Nationalstaat gehörte: „Ein Staat“, so Mancini, „in dem viele kräftige Nationalitäten zu einer Einheit gezwungen werden“, sei überhaupt kein „politischer Körper“ („corpo politico“), sondern nur ein „lebensunfähiges Ungeheuer“. Damit formulierte Mancini eine fundamentale Auffassung des 19. Jahrhunderts und lieferte zugleich den argumentativen Rahmen für einen Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts: das nationale Selbstbestimmungsrecht.2 Dessen Sprengkraft war bereits vor 1914 erkennbar, etwa an den vielen Versuchen, die Zukunft der multiethnischen Großreiche auf dem europäischen Kontinent – der Habsburgermonarchie, des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches – durch Reformen zu sichern. Vor diesem Hintergrund fragt der folgende Beitrag nach den größeren Kontexten der Abstimmungskampagnen nach dem Ersten Weltkrieg: Denn der Blick 1 Die Ausführungen dieses Beitrags folgen meinen Überlegungen in: Leonhard, Jörn: Der überforderte Frieden: Selbstbestimmung zwischen Erwartung und Erfahrung seit 1917/18, in: Schmitt, Oliver Jens/Stauber, Reinhard (Hg.): Frieden durch Volksabstimmungen? Selbstbestimmungsrecht und Gebietsreferenden nach dem Ersten Weltkrieg, Wien 2022, S. 35–75, sowie ders.: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, 2. Aufl. München 2019, S. 69–91 und 1261–1275. 2 Mancini, Pasquale: Della Nazionalità come fondamento del diritto delle genti (1851), zitiert nach: Schieder, Theodor: Idee und Gehalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jahrhundert, in: ders.: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hrsg. v. Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl. Göttingen 1992, S. 38–64, hier: S. 38.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_007
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auf lokale und regionale Gegebenheiten wie in Oberschlesien kann von den globalen Perspektiven auf strukturelle Problemlagen in analytischer Hinsicht enorm profitieren. Erst der Weltkrieg und zumal die Phase seit 1917 machten aus dem Schlagwort der Selbstbestimmung eine konkrete politische Agenda, die wie ein globaler Ermächtigungsmoment wirkte und die Pariser Friedenskonferenz prägen sollte. Aus der Identifizierung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson mit der suggestiven Forderung nach „national self-determination“ und ihrer weltweiten Verbreitung durch die amerikanische Kriegspropaganda sowie dem programmatischen Versprechen der russischen Bolschewiki entstand eine globale Referenz. Der Zusammenbruch der multiethnischen Großreiche des Zarenreichs ab 1917, der Habsburgermonarchie im Herbst 1918 und schließlich auch des Osmanischen Reichs 1922 schien die Interpretation der von vornherein zum Scheitern verurteilten multiethnischen Imperien zu bestätigen. An ihre Stelle trat eine Vielzahl neuer Staaten mit dem Anspruch national definierter Grenzen, Territorien und Bevölkerungen. Doch das globale Versprechen der Selbstbestimmung verhieß nicht nur Polen und Südslawen, Tschechen und Slowaken, sondern auch Menschen auf der Arabischen Halbinsel, in Korea, China, Indien oder Ägypten ein neues Modell, in dem innere Ordnung und internationaler Frieden zusammen gedacht waren.3 Alle europäischen Kriegsakteure hatten seit dem Ausbruch des Krieges auf das Prinzip von Nation und Nationalstaat gesetzt, um Verbündete zu gewinnen. Dies aber provozierte widersprüchliche Erwartungen, die man nach Kriegsende nicht mehr senken konnte. So entstanden im Ersten Weltkrieg nicht nur soziale und politische Partizipationshoffnungen, sondern in den Gesellschaften der multiethnischen Großreiche vor allem auch umfassende nationalpolitische Erwartungshaltungen. Dieser Umstand erklärte Tomáš Masaryks Wirken im Exil in London und den Vereinigten Staaten für einen unabhängigen Staat der Tschechen und Slowaken, aber auch die deutsche Unterstützung für ukrainische und finnische Nationalisten oder irische Unabhängigkeitskämpfer, die Konkurrenz von Deutschen und Russen um polnische Unterstützung im Gegenzug für das Versprechen weitgehender nationaler Autonomie, die Unterstützung aus London und Paris für palästinensische und arabische Unabhängigkeitsbewegungen gegen das Osmanische Reich, sowie schließlich die Angst der Briten vor einer osmanischen Strategie, 3 Leonhard, Jörn: The End of Empires and the Triumph of the Nation State? 1918 and the New International Order, in: Planert, Ute/Retallack, James (Hg.): Decades of Reconstruction. Postwar Societies, State-Building, and International Relations from the Seven Years‘ War to the Cold War, Cambridge 2017, S. 330–346.
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die Inder zum Aufstand gegen die britische Herrschaft aufzuwiegeln, oder vor einem Heiligen Krieg, einem Dschihad aller Muslime gegen ihre britischen oder französischen Kolonialherren.4 Seit Ende 1917 stand, im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und der Oktoberrevolution in Russland, der Schlüsselbegriff der Selbstbestimmung bzw. des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die progressiven Prinzipien einer künftigen Friedensordnung. Er enthielt in der Doppelbedeutung von demokratischer Selbstregierung und nationaler Selbstbestimmung ein enormes Bedeutungspotenzial, das politische Verfasstheit von Gesellschaften und internationale Ordnung miteinander verknüpfte und damit wie kein anderer Begriff eine Antwort auf die durch den Krieg entstandenen Probleme versprach.5
Die Krise der Glaubwürdigkeit auf der Pariser Friedenskonferenz
Die Pariser Friedenskonferenz bedeutete vor diesem Hintergrund den konkreten Testfall für den Umgang mit dem Konzept nationaler Selbstbestimmung. Aber schon sehr bald erwies sich, dass viele Streitfragen komplizierte und widersprüchliche Kompromisse erforderten, um ein immer wieder drohendes Scheitern der Friedenskonferenz zu verhindern.6 Die geplanten Plebiszite waren auch eine Antwort der Konferenzteilnehmer auf einen in Paris spürbar wachsenden Zeitdruck. Zugleich bedeutete dies, grundlegende Probleme wie die endgültige Festlegung von Grenzen oder Reparationen weit über den Sommer 1919 hinaus zu verlängern. Der Preis für die am Ende unterzeichneten Verträge war eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise, in deren Zentrum der Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht stand. 4 Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 6. Aufl. München 2015, S. 1009–1010. 5 Dülffer, Jost: Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in: Fisch, Jörg (Hg.): Die Verteilung der Welt. München 2011, S. 113–139, hier: S. 114–115; Renton, James: Changing Languages of Empire and the Orient. Britain and the Invention of the Middle East, 1917–1918, in: Historical Journal 50 (2007), S. 645–667, hier: S. 650–651; Müller, Sven-Oliver: Die Nation als Waffe und Vorstellung, Göttingen 2002, S. 199–200; Mayer, Arno Joseph: Political Origins of the New Diplomacy, 1917–1918, New Haven/Conn 1959, S. 313–328; Throntveit, Trygve: The Fable of the Fourteen Points. Woodrow Wilson and National Self-Determination, in: Diplomatic History 35 (2011), S. 445–481; Sluga, Glenda: What is National Self-Determination? Nationality and Psychology during the Apogee of Nationalism, in: NANA. Nations and Nationalism 11 (2005), S. 1–20. 6 Leonhard, Jörn: The Overburdened Peace: Competing Visions of World Order in 1918/19, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington 62 (2018), S. 31–50.
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Krisenmomente entwickelten sich vor allem im Blick auf Territorien, was deren politische und mehr noch ihre symbolische Dimension als Siegeszeichen und Friedensdividende oder als Symbole für eine Politik der Demütigung unterstrich. Das verlieh Oberschlesien, Nordschleswig, dem Rheinland, dem Saargebiet, Danzig, Fiume, Südkärnten oder Schantung, aber ebenso Teschen, dem Hultschiner Ländchen oder Südtirol bei allen Unterschieden eine ganz eigene Bedeutung als Beweis für die eigene Durchsetzungsmacht in Paris, die weit über die Zahl gewonnener Quadratkilometer oder den Verlauf von Grenzen hinausging. In den Räumen schien die Substanz des Krieges wie des Friedens erkennbar zu werden, und dieser Aufwertung, immer wieder verknüpft mit geschichtspolitischen Argumenten, entsprach ihre suggestive Präsenz in den zeitgenössischen Medien. An Oberschlesien, Danzig, Fiume oder Schantung ließen sich Sieg und Überzeugung oder Niederlage und Verrat vermitteln. So wurde die Politik auf ganz neue Art und Weise verräumlicht, und gerade „verlorene“ oder umstrittene Gebiete sollten wie Phantome in den Nachkriegsgesellschaften weiterwirken respektive einen Ansatzpunkt für einen aggressiven Revisionsnationalismus bilden. Der international anerkannte Besitz von Gebieten schloss das Kriterium ethnischer Zugehörigkeit ein – das verlieh dem Nationalstaat als Herrscher über ein bestimmtes Territorium, als Basis rechtlicher und politischer Entscheidungen und als Raum national bestimmter Loyalität enorme Bedeutung.7 Mit Blick auf Deutschland schien sich die französische Seite in der Auseinandersetzung um das Rheinland, das Saarland und die polnischen Gebietsforderungen in Oberschlesien, Danzig, Westpreußen und Posen auf der Pariser Friedenskonferenz nach der zeitweisen Abwesenheit Wilsons zunächst weitgehend durchsetzen zu können. Anfang März 1919 sah es so aus, als gelinge Frankreich im Westen die Loslösung des Rheinlands vom Reich und im Osten die Durchsetzung der polnischen Forderung nach Danzig als nationalem Hafen. In der Folge entwickelten sich unterschiedliche Allianzen der Siegermächte je nach Konfliktgegenstand, und unter wachsendem Zeitdruck wurden die Agenden immer stärker miteinander verflochten. Kooperierten die Vereinigten Staaten in Territorialfragen mit Großbritannien gegen die französische Position, standen in der Reparationsfrage die amerikanischen Vertreter gegen die Delegationen aus London und Paris. Im Gegenzug für das gegenüber 7 Maier, Charles S.: Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–837; ders.: Transformation of Territoriality 1600–2000, in: Budde, Gunilla/Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55; Leonhard: Büchse der Pandora, S. 18–19; im Folgenden ders.: Der überforderte Frieden, S. 858–862.
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Clemenceau formulierte Versprechen einer vom Völkerbund unabhängigen Tripelallianz gelang es Wilson und Lloyd George, die getroffenen Vereinbarungen der Experten bezüglich der Grenzverläufe zu revidieren, die sonst sehr stark zu Lasten Deutschlands ausgegangen wären. Hier stießen vor dem Hintergrund der französischen Kriegserfahrungen sowie einer Mischung aus kompensatorischem Hegemonialstreben und eigener struktureller Verwundbarkeit die von der Pariser Führung immer wieder vorgebrachten Sicherheitsbedenken auf entschiedenen Widerstand der amerikanischen und britischen Führungen, die diesbezüglich auf dem Selbstbestimmungsrecht beharrten. Weder in London noch in Washington war man bereit, eine eventuelle Aussicht auf eine deutsche Hegemonialstellung in Kontinentaleuropa gegen eine Dominanz Frankreichs einzutauschen.8 Besonders aufschlussreich war der Vergleich zwischen den italienischen Forderungen nach Fiume und den japanischen Ansprüchen auf Schantung. Hier erwiesen sich der Widerspruch im Umgang mit dem Prinzip der Selbstbestimmung und seine Verknüpfung mit anderen politischen Agenden der Friedenskonferenz geradezu paradigmatisch. Wie im Falle Italiens kam es auch aufgrund der Ansprüche Tokios auf die ehemaligen Schutzgebiete von Tsingtau auf der Halbinsel Schantung zu einer Krise, die ihren Ursprung in den vertraglichen Versprechen der Führungen in London und Paris während des Krieges hatte, die das Land im Gegenzug für seine Kriegsleistungen im Kampf gegen die Mittelmächte erhalten sollte. Da die Vereinigten Staaten sich nicht als vertraglich gebunden ansahen, war Wilson zunächst nicht bereit, diese Forderungen anzuerkennen, zumal sie im Falle Schantungs dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung widersprachen und zu Lasten der Chinesen gehen sollten, die ebenfalls 1917 in den Krieg gegen die Mittelmächte eingetreten waren.9 Die Auseinandersetzungen um Fiume und Schantung veranlassten Wilson schließlich zu unterschiedlichen Reaktionen, die das Problem situativer Logik, konkurrierender Kriterien und der daraus resultierenden Glaubwürdigkeitskrise dokumentierten. Hatte Italien der Völkerbundakte bereits vor den Auseinandersetzungen um Fiume zugestimmt und konnte dies daher in den Verhandlungen des Rates der Vier nicht mehr als Druckmittel gegen die amerikanische Position einsetzen, nutzte die japanische Delegation den künftigen Beitritt zum Völkerbund erfolgreich, um den Widerstand Wilsons zu überwinden – trotz erheblicher Bedenken seiner Berater, die auf die eklatante 8 Schwabe, Klaus: Einleitung, in: ders. (Hg.): Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Unter Mitarbeit von Tilman Stieve und Albert Diegmann, Darmstadt 1997, S. 1–38, hier: S. 15. 9 Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 823–833.
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Missachtung des Selbstbestimmungsrechts und der Vierzehn Punkte hinwiesen. Doch aus Wilsons Sicht drohte ein noch viel ernsteres Szenario: Würde Japan seine Forderungen in China nicht durchsetzen können, wäre es vermutlich eher geneigt, einen Separatfrieden mit Deutschland zu schließen und so dessen Position im Widerstand gegen den anstehenden Friedensvertrag zu stärken.10 Denkbar flexibel setzten die Akteure wahlweise auf Geschichte, Sprache, Geographie oder das Konzept der natürlichen Grenzen, auf strategische Erwägungen, wirtschaftliche Zusammenhänge, auf die Anerkennung ihrer Kriegsleistungen und Opfer, den Ausgleich für Konzessionen in anderen Zusammenhängen der Konferenz oder beriefen sich auf Zusagen während des Krieges wie in den italienischen Rekursen auf den Londoner Vertrag 1915 oder hinsichtlich der Berufung Japans auf britische und französische Zusagen von 1917. Das nationale Selbstbestimmungsrecht, das im Januar 1919 wie kaum ein anderes Motiv den Beginn der Friedenskonferenz bestimmt hatte, bildete angesichts dieser Vielzahl von Mustern nur eine von vielen Begründungen, markierte aber immer wieder den Ausgangspunkt der Beratungen.11 Doch fast immer erwies es sich als unmöglich, konsistente Lösungen zu finden, sodass aus den konkurrierenden Interessen der Siegermächte widersprüchliche Ergebnisse resultierten. So betrachteten die Sieger die Rückkehr ElsassLothringens zu Frankreich als Wiedergutmachung eines in den Augen der Alliierten 1871 geschehenen Unrechts. Die Widersprüche im Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht waren also früh angelegt. Anders agierten Lloyd George und Wilson gegenüber den französischen Forderungen nach einem unabhängigen Rheinland und der geplanten Annexion der Saarregion. Hier argumentierten sie auf Basis des Selbstbestimmungsrechts und setzten am Ende durch, dass es nur zu einer Besetzung des linken Rheinufers für eine Dauer von 15 Jahren und einer Demilitarisierung der rechten Rheinseite kam. Das festgeschriebene Recht der Sieger, die Besatzungsgebiete auszuweiten, falls das Reich seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachkam, bot Frankreich zudem Möglichkeiten, in den westlichen Gebieten Einfluss zu gewinnen. Die territoriale Integrität des deutschen Nationalstaates als solche blieb jedoch erhalten, sodass Deutschland langfristig trotz der territorialen Verluste in Oberschlesien und der französischen Kontrolle in der Saarregion nicht die Kontrolle über die zentralen Industrieregionen verlor. Lediglich die preußischen Kreise Eupen und Malmedy fielen an Belgien, während Luxemburg Ende September 1919 in einem Plebiszit einer Zollunion mit 10 11
Schwabe: Einleitung, S. 18–19. Mulligan, William: The Great War for Peace, New Haven/Conn. 2014, S. 273–278.
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Frankreich zustimmte. Für Nordschleswig mit seiner überwiegend dänischen Bevölkerung wurde eine Abstimmung in Aussicht gestellt, obwohl Dänemark gar nicht am Krieg teilgenommen hatte.12 Bei der Definition der deutschen Grenzen im Osten verknüpften die Siegermächte das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung der Polen mit strategischen und ökonomischen Überlegungen, sei es mit der französischen Idee der doppelten Eindämmungsfunktion Polens gegenüber Deutschland und den Bolschewiki, oder im Hinblick auf die wirtschaftliche Basis des neuen polnischen Staates durch einen Seezugang.13 Auch bei der Definition der Grenzen der Tschechoslowakei spielte das Selbstbestimmungsrecht allenfalls eine relative Rolle, was der Umgang mit den über drei Millionen Sudetendeutschen bewies. Hier argumentierten französische und italienische Diplomaten wiederum mit der strategischen und ökonomischen Bedeutung dieser Gebiete, um die Unabhängigkeit des neuen Staates als Teil einer Pufferzone in Ostmitteleuropa zu sichern. Unter Rückgriff auf das Sicherheitsargument lehnte man auch den Anschluss der Deutsch-Österreicher an das Deutsche Reich ab. Setzte man im Umgang mit den multiethnischen Großreichen auf neue Nationalstaaten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa oder Mandate, wie im Nahen Osten und in Afrika, so hielt man im Falle Deutschlands am Reichsverband fest, obwohl dessen Auflösung während des Krieges von französischer und russischer Seite immer wieder ins Gespräch gebracht worden war. Hier wirkte das Selbstbestimmungsrecht der Gefahr einer von außen erzwungenen Sezession entgegen und stabilisierte den Territorialbestand: im Westen, weil sich der Separatismus weder im Rheinland, noch an der Saar und auch nicht in Süddeutschland zu einem Massenphänomen entwickelte und es Frankreich zu keinem Zeitpunkt gelang, die öffentliche Meinung in diesen Gebieten entsprechend zu beeinflussen. Im Osten sollten die Plebiszite in Oberschlesien und in den ostpreußischen Gebieten aus deutscher Sicht immerhin die Umsetzung noch weitergehender polnischer Gebietsforderungen verhindern.14
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Stevenson, David: Belgium, Luxembourg, and the Defense of Western Europe, 1914–1920, in: The International History Review 4 (1982), S. 504–523; Kolb, Eberhard: Der Frieden von Versailles, 2. Aufl. München 2011, S. 63. Leonhard, Jörn: Paris 1919: Polens Staat und Deutschlands Status, in: Martin, Bernd/ Górczyńska-Przybyłowicz, Bożena/Jania-Szczechowiak, Monika/Mudzo, Fryderyk (Hg.): Deutschland und Polen im und nach dem Ersten Weltkrieg. Deutsche Besatzungspolitik und die neue Westgrenze Polens, Posen 2019, S. 467–482; polnische Übersetzung: Ebd., S. 181–196. Mulligan: Great War, S. 274.
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Erbschaften von Krieg und Frieden: Das Selbstbestimmungsrecht im langen Nachkrieg
Um den breiteren Kontext der Plebiszite besser zu verstehen, muss man die bereits in Paris offensichtlich gewordenen Widersprüche im Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht einordnen, die sich nach dem Ende der Friedenskonferenz fortsetzten. Plebiszite stellten in einem breiten Angebot von Strategien und Instrumenten nur ein Mittel von vielen dar. Zu den unterschiedlichen Ansätzen gehörten eine seit den Waffenstillständen ausgeprägte Praxis der Schaffung vollendeter Tatsachen vor Ort nach dem Prinzip des „uti possidetis“, etwa durch Besatzungen und erzwungene territoriale Abtretungen an Siegermächte des Krieges, für die man dann in einem zweiten Schritt internationale Anerkennung suchte; die Einsetzung von Kommissionen zur Sammlung von Informationen vor Ort wie im Falle der King Crane-Kommission und der Coolidge-Kommission; die Abhaltung von Plebisziten in umstrittenen Gebieten wie in Nordschleswig, Südkärnten und Oberschlesien; die Einrichtung internationaler Verwaltungsstrukturen wie in den Freien Städten Danzig und (zunächst) Fiume oder nominell im Saarland auf 15 Jahre; sowie im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag von Lausanne für die Türkische Republik und Griechenland die vom Völkerbund unterstützte Politik eines „demixing of peoples“, dessen Praxis jedoch in Zwangsvertreibungen und Gewalt mündete; und nicht zuletzt auch Ansätze des Minderheitenschutzes in den nach 1918 neu entstandenen Staaten, wie dies in den Bestimmungen des „Kleinen Versailler Vertrages“ deutlich wurde.15 Wo man zur Festlegung von Grenzen in Europa auf Plebiszite gesetzt hatte, entstanden vielerorts neue Probleme, was sich paradigmatisch in Oberschlesien 15
Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 754–755 und 1132; Fromkin, David: A Peace to End All Peace. Creating the Modern Middle East, 1914–1922, London 1989, S. 396–397; Gelvin, James L.: The Ironic Legacy of the King-Crane Commission, in: Lesch, David W. (Hg.): The United States in the Middle East. A Historical Reassessment, Boulder/Conn. 2007, S. 13–29, hier: S. 13–17; Steinbach, Udo: Die arabische Welt im 20. Jahrhundert. Aufbruch – Umbruch – Perspektiven, Stuttgart 2015, S. 47; Brecher, Frank W.: Charles R. Crane’s Crusade for the Arabs, 1919–39, in: Middle Eastern Studies 24 (1988), S. 42–55, hier: S. 46–47; Zitat in: Lausanne Conference on Near Eastern Affairs 1922–1923. Records of Proceedings and Draft Terms of Peace (with Map). Presented to Parliament by Command of His Majesty, London 1923, S. 113; Ladas, Stephen P.: The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece and Turkey, New York/NY 1932, S. 338; Ther, Philipp: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Berlin 2017, S. 85–88; ders.: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011, S. 75–96; Schwartz, Michael: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 309–318.
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als polnisch-deutschem Konfliktraum zeigte. Bereits in Paris hatten sich die Siegermächte darauf verständigt, dass der Ausgang des Plebiszits in Oberschlesien nicht automatisch über den Verbleib des gesamten Gebietes entscheiden sollte, sodass man bereits früh die Möglichkeit einer Teilung der Region in Aussicht genommen hatte. Auf der Basis der in den einzelnen Abstimmungskreisen erzielten Mehrheitsergebnisse und eines Gutachtens des Völkerbundrates bestimmte eine Botschafterkonferenz der ehemaligen Entente-Mächte schließlich am 20. Oktober 1921 über die Aufteilung des Abstimmungsgebietes, wobei die französische Regierung enormen Druck ausübte, um Polen durch den Erhalt des oberschlesischen Industriereviers wirtschaftlich zu stärken. In den Augen der meisten Deutschen bestätigte dieses Vorgehen lediglich die Unglaubwürdigkeit der 1918 und 1919 proklamierten Prinzipien. Wie im Falle der verhinderten Abstimmung über einen Anschluss Deutsch-Österreichs an die deutsche Republik schien das Prinzip nationaler Selbstbestimmung immer dann suspendiert zu werden, wenn eine relative Stärkung Deutschlands als Ergebnis drohte. Mit diesem Rekurs ließ sich der gesamte liberale Internationalismus als ein Instrument zur fortgesetzten Knebelung Deutschlands diskreditieren – die direkte Verknüpfung von Außen- und Innenpolitik wurde hier für die Weimarer Republik zugleich zur Belastungsprobe der politischen Kultur.16 In den ostmittel- und südosteuropäischen Nachfolgestaaten der Habsbur germonarchie illustrierte die weitere Entwicklung, wie stark die nationale Mobilisierung des Krieges und über die Abstimmungskampagnen auch der lange Nachkrieg nachwirkten.17 Wenn der Staatenkrieg im November 1918 endete, dann traten an seine Stelle vielfältige Gewalterfahrungen. Ethnisierte Kriegserlebnisse hatten sich im Kontext der Waffenstillstände und der Pariser Friedenskonferenz weiter zugespitzt, während die Definition von Grenzen und die Formulierung von Schutzrechten für nationale Minderheiten die Innenpolitik prägten. Allenfalls ein Teil der Konflikte wurde wie in Ostpreußen, im Burgenland, in Kärnten und Oberschlesien durch Plebiszite oder wie in Teschen durch alliierte Schiedssprüche gelöst – allerdings um den Preis neuer Konflikträume und aggressiver Revisionsnationalismen. Ansonsten entschieden vollendete Tatsachen, konkrete Machtverhältnisse oder militärische Konstellationen, wie die Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik und 16 17
Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 84–85 und 122; Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 1199–1201. Nachtigal, Reinhard: Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914–1918), Remshalden 2003; Mick, Christoph: Vielerlei Kriege. Osteuropa 1918–1921, in: Beyrau, Dietrich/Hochgeschwender, Michael/Langewiesche, Dieter (Hg.): Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 311–326.
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der Polnisch-Sowjetische Krieg eindrücklich illustriert haben.18 Im langen Nachkrieg dieser Gesellschaften erwiesen sich langfristig weder Verfassungen und Parlamente der neuen Staaten noch völkerrechtlich verbindlich definierte Grenzen als erfolgreiche Mittel, um die Ethnisierung der Politik einzudämmen und die nationale Mobilisierung abzufedern. Dies bewiesen die anhaltenden Grenzkonflikte und die irredentistischen Nationalismen, die in den neuen Staaten zur politischen Radikalisierung und nationalen Versäulung beitrugen. Das hier skizzierte Problem blieb nicht auf Europa beschränkt, sondern wirkte sich weltweit aus. So gelang es Großbritannien und Frankreich, im Nahen Osten zunächst ihre Ansprüche durchzusetzen. Den arabischen Führern und der 1916 mit dem Beginn der arabischen Revolte entstandenen Nationalbewegung verwehrte man eine eigene Staatsgründung. Dort, wo wie im Irak und in Jordanien neue Staaten gebildet wurden, blieben sie von der britischen Politik sowie von den ethnischen Spannungen und den innermuslimischen Konflikten zwischen Schiiten und Sunniten geprägt. Aus diesen Erfahrungen heraus entstand das suggestive Narrativ der 1919 verratenen Hoffnungen und des Widerstands gegen die von den europäischen Mächten gewaltsam durchgesetzte Herrschaftsordnung. Der Rhythmus von Protest, Revolte, gewaltsamer Repression und neuerlicher Auflehnung der nationalen Eliten im Kampf um Selbstbestimmung und staatliche Unabhängigkeit bildete das Leitmotiv der kommenden Jahrzehnte, sei es in Ägypten, Syrien, Libyen oder im Irak. Jede gewaltsame Niederschlagung eines Aufstandes durch französisches oder britisches Militär setzte dieses Muster fort.19 Besonders dramatisch verlief die weitere Entwicklung in China. Hier bildete sich die Bewegung des 4. Mai 1919 als Reaktion auf die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und die Übergabe Schantungs an Japan. Aus der Kritik an den gebrochenen Versprechen des liberalen Internationalismus der ehemaligen Hoffnungsfigur Wilson resultierte eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Vorbild des Westens für China und die Notwendigkeit eines genuinen chinesischen Weges. Auch am Beispiel des späteren Ho Chi Minh 18
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Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 1206–1207; ders.: Legacies of Violence: Eastern Europe’s First World War – A Commentary from a Comparative Perspective, in: Böhler, Jochen/Borodziej, Włodzimierz/Puttkamer, Joachim von (Hg.): Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014, S. 319–326; Leonhard, Jörn: Erfahrungsumbruch und Formwandel der Gewalt: 1918–1921 als Globalzäsur. Kommentar und Ausblick, in: Böhler, Jochen/Borodziej, Włodzimierz/Puttkamer, Joachim von (Hg.): Dimensionen der Gewalt. Ostmitteleuropa zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg 1918– 1921, Berlin 2020, S. 142–151. Hourani, Albert: Die Geschichte der arabischen Völker. Von den Anfängen des Islam bis zum Nahostkonflikt unserer Tage (engl. 1991), 5. Aufl. Frankfurt/M. 2006, S. 385–405; Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 1151.
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ließ sich der Umschlag enttäuschter Hoffnungen in die Suche nach neuen radikalen Alternativen nachweisen. Der Signalcharakter der Konferenz von Baku 1920 als bolschewikischem „Gegen-Paris“ speiste sich nicht zufällig aus dieser Spannung zwischen Erwartungshaltung und Erfahrung, welche die Pariser Friedenskonferenz für viele Menschen aus Asien oder Afrika repräsentierte.20
Zusammenfassung und Ausblick: Selbstbestimmung als Ideal und Praxis
Mit zunehmender Dauer und steigenden Opferzahlen hatte der Weltkrieg zahlreiche Befürchtungen entstehen lassen und war ab 1917 in eine regelrechte „Revolution steigender Erwartungen“ übergegangen.21 Sie waren das Ergebnis territorialer und nationalpolitischer Versprechen gegenüber neu gewonnenen Bündnispartnern wie Italienern, Polen, Tschechen, Slowaken, Südslaven, Zionisten und Arabern oder bezogen sich auf politische und soziale Hoffnungen in den eigenen Kriegsgesellschaften und Kolonien. Der wachsende Mobilisierungsdruck und die Lasten an der militärischen wie der Heimatfront befeuerten die Vorstellung eines Sieges, der allein alle Anstrengungen, Opfer und Lasten rechtfertigen konnte. Dazu kam ab 1917 die Entwicklung neuer alternativer Modelle in Washington und Petrograd, die in einen Wettlauf zwischen liberalem und revolutionärem Internationalismus mündete. Ihre globale Wirkung reflektierte die Erschöpfung der europäischen Kriegsgesellschaften. Die mit Woodrow Wilson und Wladimir Iljitsch Lenin assoziierten Ideen für einen progressiven Frieden auf der Basis nationaler Selbstbestimmung stellten einen Zusammenhang
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Xu, Guoqi: China’s Great War, in: Bley, Helmut/ Kremers, Anorthe (Hg.): The World during the First World War, Essen 2014, S. 59–78, hier: S. 76–78; Mitter, Rana: A Bitter Revolution. China’s Struggle with the Modern World, Oxford 2004, S. 3–9 und 41–51; Mulligan: Great War, S. 288–290; Sinowjew, Grigori: Die Aufgabe des Ersten Kongresses der Völker des Ostens. Rede in der ersten Sitzung des Kongresses der Völker des Ostens in Baku, in: Almanach des Verlages der Kommunistischen Internationale, S. 50–58; Richers, Julia: Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive, in: Haumann, Heiko (Hg.): Die Russische Revolution 1917, 2. Aufl. Köln 2016, S. 105–117, hier: S. 113–116; Aust, Martin: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 222–228; Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 539, 839–841, 930–932 und 1184. Leonhard, Jörn: 1917 und die Revolution steigender Erwartungen, in: Journal of Modern European History 15/2 (2017), S. 157–163, ders.: 1917–1920 and the Global Revolution of Rising Expectations, in: Rinke, Stefan/Wildt, Michael (Hg.): Revolutions and CounterRevolutions. 1917 and its Aftermath from a Global Perspective, Frankfurt/M. 2017, S. 31–51.
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zwischen der internationalen Ordnung und der inneren Verfasstheit von Gesellschaften her. So existierten seit 1917 mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten, zu dem neben Selbstbestimmung vor allem das Versprechen eines Rechtsfriedens und eines neuen Internationalismus auf der Basis der „new diplomacy“ gehörten, und den Vorstellungen der Bolschewiki neuartige universelle Konzepte. Sie erlaubten es Menschen in Europa, Asien, Afrika oder Südamerika, eigene Hoffnungen in den Horizont übergreifender progressiver Ideen einzuordnen und damit in vielen Fällen zum ersten Mal internationale Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Nachkrieg war insofern ein Beispiel für „glokale“ Konstellationen: Lokalen Forderungen ließ sich größerer Nachdruck verleihen, indem sie mit den neuen Prinzipien begründet wurden, für die man eine globale Geltung beanspruchte. All diese Entwicklungen waren untrennbar mit der alliierten, zumal der amerikanischen Kriegspropaganda und ihrem globalen Wirkungsradius verbunden, die entscheidend zum Globalismus von Konzepten und Begriffen beitrugen. Zugleich überdeckte dieser Universalismus den Partikularismus und die jeweilige lokale Eigenlogik, die im Frühjahr 1919 von den Krisenräumen Ostmitteleuropas und der Türkei über Ägypten und den Nahen Osten bis nach Indien, Korea und China sichtbar wurde. Was die Globalität des Krieges wirklich ausmachte, ihr multipolarer und polyzentrischer Charakter, der sich nicht mehr allein auf eine europäische Hauptstadt reduzieren ließ, wurde erst jetzt in letzter Konsequenz deutlich.22 Die sich bereits auf der Friedenskonferenz von Paris weitende Kluft zwischen Erwartungen und Erfahrungen, zwischen Ansprüchen und Praxis von Selbstbestimmung, setzte sich nach 1919 fort, ja sie verlängerte – nicht zuletzt in vielen Abstimmungsgebieten – den gewaltvollen Nachkrieg.23 Damit befeuerte die Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsrecht den vielschichtigen Formwandel des Nationalismus. Aus dem Kriegsnationalismus schälte sich in vielen Gesellschaften ein besonderer Nachkriegsnationalismus heraus, der mit verschärfter Exklusion und aggressivem Revisionismus einherging und den Modus vieler Kriegserfahrungen fortsetzte. Das verbreitete Gefühl, die eigenen Friedensziele nicht durchgesetzt zu haben und betrogen worden zu sein, ließ den revisionistischen Nationalismus von der äußeren Rechten in die Mitte des politischen Spektrums rücken. Inhaltlich rekurrierte dieser Nationalismus auf das Leitmotiv der unerfüllten Geschichte, den Verrat an den Opfern des Krieges, die vorenthaltenen Trophäen 22 23
Leonhard: Der überforderte Frieden, S. 1261–1263. Im Folgenden ebenda, S. 1270–1272.
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und Pfänder, oder die besondere Verantwortung für angeblich schutzlose Mitglieder der eigenen Nation, die neuen Staaten zugeordnet worden waren. Die aus dieser Konstellation erwachsende Unzufriedenheit und Desillusionierung galt für Besiegte wie Sieger. In Deutschland und Italien formulierte man in diesem Zusammenhang Forderungen, die weit über die kriegsbedingten Verluste und die Irredenta hinausgingen, während zeitgenössische Begriffe wie „Klein-Ungarn“ oder „Klein-Österreich“ die Zweifel vieler Zeitgenossen an der Überlebens- und Zukunftsfähigkeit dieser neuen Staaten dokumentierten. So konnte der revisionistische Nationalismus zu einem politischen Handlungsimperativ mit Verfassungsrang werden, wie der Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung Deutsch-Österreichs bewies, sich zusammen mit den von Wien beanspruchten böhmisch-mährischen Territorien dem Deutschen Reich anzuschließen, während Artikel 61 der deutschen Reichsverfassung von 1919 eine Vertretung Deutsch-Österreichs im Reichsrat vorsah.24 Zu diesem Formwandel des Nationalismus trug entscheidend die Ethnisierung vieler Lebensbereiche der Menschen bei. Daraus entstanden neue Instrumentalisierungen, die fast immer mit Gewalt einhergingen. Ethnische und sozialrevolutionäre Programme erwiesen sich als komplementär, wie die Verbindung von bolschewikischer Revolutionsidee und nationaler Selbstbehauptung in der Ungarischen Räterepublik oder im Polnisch-Sowjetischen Krieg, aber auch in der nationalen Agenda der chinesischen Kommunisten zeigte.25 Obwohl sich der Umgang mit Minderheiten nicht allein in gewaltsamen Vertreibungen erschöpfte, wie Options- und Minderheitenschutzrechte bewiesen, entstand aus dem Eindruck unabgeschlossener Staatsbildungen am Ende des Krieges ein aggressiver Assimilierungsdruck gegenüber vielen Minderheiten, so etwa im Westen Polens gegenüber den Deutschen und im Osten gegenüber anderen nicht-polnischen Minderheiten. Insgesamt kam es zu einer starken Ethnisierung von Staatsbürgerrechten. Hatte sich das Staatsbürgerschaftsrecht in Rumänien und Jugoslawien zunächst noch an den Erwartungen der Alliierten auf der Friedenskonferenz orientiert, fiel es im Verlauf der 1930er Jahre immer stärker in ein ethnisch konnotiertes Konzept zurück. Gleichzeitig verschärften viele Staaten wie die USA und Großbritannien sowie die Dominions ihre Immigrationspraxis.26 24 25 26
Langewiesche, Dieter: Nationalismus, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg (2003), Studienausgabe, 2. Aufl. Paderborn 2014, S. 1045–1046. Ther: Außenseiter, S. 83. Ebenda., S. 89–92; Gosewinkel, Dieter: Schutz und Freiheit. Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 135–283; Saunders, Kay: „The Stranger in Our
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Hinter diesen Entwicklungen zeichnete sich eine neue Phase in der Entwicklung des Territorialitätsprinzips ab. Nach dem Ende der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege hatten die Diplomaten in Wien versucht, die seit den 1790er Jahren in Bewegung geratenen Grenzen einzufrieren und auf dieser Grundlage ein stabiles Staatensystem zu stiften. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein nationalstaatliches Ideal von Territorialität, das auf einen Raum abhob, der durch feste Grenzen und andere Markierungen nach außen abgegrenzt, nach innen erschlossen, möglichst homogen und kontrollierbar sein sollte. Die 1918 entstandenen neuen Nationalstaaten folgten diesem Ideal auf den ersten Blick, multiplizierten aber zugleich die Probleme der untergegangenen multiethnischen Großreiche mit ihren ethnischen und religiösen Minderheiten unter vielfach schwierigeren Bedingungen, zu denen gefährdete Staatsbildungen, anhaltende Grenzkonflikte und konkurrierende Revisionismen gehörten. Durch Grenzziehung und Bevölkerungszuordnung sollten Besitzrechte in staatliche Souveränität überführt werden. Doch anders als 1815, als man durch Raumpolitik ein Gleichgewicht hatte schaffen wollen, setzte das Prinzip der Selbstbestimmung auf Voluntarismus und Mehrheitsentscheidung – und genau diese entscheidende Verschiebung zeigte sich in den Plebisziten.27 Die Auseinandersetzung um das nationale Selbstbestimmungsrecht nach 1918 beschleunigte und intensivierte die Entstehung neuartiger Nationalismen weltweit. Vor diesem Hintergrund müssen die europäischen Krisen in globalhistorische Prozesse eingeordnet werden. Die Vertreter der ägyptischen, indischen, chinesischen und koreanischen Nationalbewegungen mochten in ihrer Berufung auf die Vierzehn Punkte, auf Wilsons Idee der nationalen Selbstbestimmung, in ihrer Forderung, an der Ausgestaltung der neuen Nachkriegsordnung teilzuhaben, zunächst scheitern. Aber gerade in Asien diskutierte man seit 1919 intensiv die eigenen Zukunftschancen jenseits westlicher Hegemonialvorstellungen.28 Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechtes während des Großen Krieges und im langen Nachkrieg war die Geschichte einer mehrfachen und
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Gates“. Internment Policies in the United Kingdom and Australia during the Two World Wars, 1914–39, in: Immigrants & Minorities 22 (2003), S. 22–43. Maier: Consigning the Twentieth Century, S. 807–837; ders.: Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in: Akira, Iriye/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Geschichte der Welt, Bd. 5: Geschichte der Welt, 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege, hrsg. v. Emily Schlaht Rosenberg, München 2012, S. 33–286; Osterhammel, Jürgen: Die Flughöhe der Adler. Räume und Sehepunkte zu Friedrich Hölderlins Zeit, in: ders.: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, S. 223–244, hier: S. 230–231. Xu, Guoqi: Asia and the Great War. A Shared History, Oxford 2017.
Selbstbestimmung als Ideal und Praxis nach 1918
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widersprüchlichen, auch gewaltenthemmenden Ermächtigung, die weit über Europa hinausging und sich von den Urhebern des Konzeptes nach 1918 immer weniger kontrollieren ließ. So entstand eine Glaubwürdigkeitskrise, welche die Arsenale des Friedens seit 1918 auf Dauer belasten sollte: lokal und regional, europäisch und global.
Die Zeche(n) zahlen. Großbritanniens und Frankreichs Engagement in Oberschlesien Karsten Eichner Unter den Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg ragt diejenige in Oberschlesien gleich aus mehrfacher Sicht heraus: wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die europäische Nachkriegsordnung, wegen der zeitlichen Länge ihrer Vor- und Nachbereitungen, wegen der mehrfachen blutigen Kämpfe um das Abstimmungsgebiet – und wegen des anhaltenden politischen Tauziehens zwischen den alliierten Siegermächten. Doch wie konnte es dazu kommen, dass sich insbesondere Großbritannien und Frankreich in der Oberschlesienfrage zeitweilig beinahe überworfen hätten – auch wenn aus Staatsraison ein offener Bruch letztlich immer noch vermieden werden konnte? Der vorliegende Beitrag soll das Handeln von Großbritannien und Frankreich in der Oberschlesienfrage – vor Ort wie auch auf politisch-diplomatischer Ebene – näher beleuchten. Denn die Oberschlesienfrage wurde Anfang der 1920er-Jahre immer mehr zum Spielball der hohen Politik, wobei insbesondere die divergierenden britischen und französischen Nachkriegsinteressen in Europa brennglasartig erkennbar wurden. Geopolitik mischte sich hier mit regionalen Interessen und ließ dabei eine gemeinsame alliierte Haltung in immer weitere Ferne rücken. Erschwerend hinzu kam eine extrem instabile Sicherheitslage: Während die Plebiszite in den übrigen, deutlich kleineren und wirtschaftlich weniger wichtigen Abstimmungsgebieten wie etwa Schleswig, Allenstein und Marienwerder (trotz punktueller Konflikte) weitgehend reibungslos und friedlich verliefen, geriet die Volksabstimmung im hart umkämpften und wirtschaftlich extrem wichtigen oberschlesischen Industriegebiet – dem „zweiten Ruhrgebiet“ des Deutschen Reiches – zunehmend außer Kontrolle, bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, derer die Alliierten aus eigener Kraft kaum noch Herr wurden. Welche Faktoren führten zu diesem blutigen Debakel?1
1 Grundlage des vorliegenden Beitrags ist die Dissertation des Autors über die Rolle der drei in Oberschlesien engagierten Großmächte: Eichner, Karsten: Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien 1920–1922. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten, St. Katharinen 2002 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, Bd. XIII).
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_008
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Oberschlesien: Terra incognita für die Alliierten
Ein Grund dafür ist in einer politischen (und auch militärischen) Überforderung zu sehen – und in dem leichtfertigen Verzicht auf eine eingehendere Beschäftigung mit historisch-politischen Detailfragen. Hinzu kam zumindest auf britischer Seite die fehlende Bereitschaft, die nötigen Ressourcen für den geplanten Einsatz bereitzustellen. Dies wurde bereits auf der Pariser Friedenskonferenz Anfang 1919 deutlich: Sie hatte eine erdrückende Vielzahl von geostrategischen Problemen zu lösen und dabei tagtäglich etliche Entscheidungen zu treffen, oftmals unter hohem Einigungsdruck und in großer Eile. Das Thema Oberschlesien spielte hier für die internationalen Spitzenpolitiker zunächst nur eine sehr untergeordnete Rolle, zumal es lange Zeit nicht wirklich auf der Agenda stand. Für die alliierten Siegermächte in Paris war Oberschlesien (wie auch viele andere Territorien, über deren Zukunft sie entscheiden sollten) mehr oder weniger eine terra incognita. Kaum einer der anwesenden Staatsmänner und Diplomaten kannte die Region und ihre wechselvolle Geschichte näher. Diese Rolle fiel einigen wenigen ausgesuchten alliierten Experten zu, die bei Bedarf ihr Fachwissen beisteuerten.2 Durch geschicktes und sehr erfolgreiches polnisches Lobbying, das insbesondere in Frankreich und den USA Wirkung entfaltete, ging die Oberschlesienfrage zunächst ganz in Warschaus Sinne aus. Ein Unterkomitee der Commission on Polish Affairs, dem unter anderem der französische General und spätere Plebiszitkommissions-Präsident Henri Le Rond angehörte, kam bei der Festlegung der neuen Grenze zwischen Deutschland und Polen im März 1919 dann auch den polnischen Wünschen außerordentlich weit entgegen.3 Auch wenn der größte Teil Schlesiens seit Friedrich dem Großen und damit seit fast 200 Jahren unter preußischer Herrschaft gestanden hatte, wurde das kohleund erzreiche Oberschlesien mit seiner bedeutenden Schwerindustrie dem neuen polnischen Staat zugeschlagen. Die Reichsregierung wurde in dieser Sache erst gar nicht konsultiert. Mittlerweile jedoch hatte der britische Premierminister David Lloyd George, der sich normalerweise höchst ungern mit Detailfragen beschäftigte und folglich eine mitunter erstaunliche Unkenntnis der Materie zeigte, ein deutliches 2 Zur Rolle des Unterkomitees zur Festlegung der deutsch-polnischen Grenze vgl. Nelson, Harold J.: Land and Power: British and Allied policy on Germany’s frontiers, 1916–1919, London/Toronto 1963, S. 151f. 3 Vgl. Nelson, Land and Power, S. 169f. Vgl. ebenso Gajda, Patricia A.: Postscript to victory. British policy and the German-Polish borderlands, 1919–1925, Washington 1982, S. 15.
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Unbehagen über die geplante künftige Grenzziehung zu Polen erkennen lassen. Grund war dabei nicht so sehr die territoriale Frage. Was den britischen Premier vielmehr irritierte, war die beunruhigend große Zahl von über zwei Millionen Deutschen, die sich nach diesen Plänen plötzlich außerhalb der Reichsgrenzen wiederfinden sollten. In seinem Fontainebleau Memorandum4, dem Ergebnis einer britischen Ad-hoc-Klausurtagung zur Überprüfung des bisherigen Verhandlungsstandes, forderte Lloyd George von den anderen Delegationen entsprechende Grenzkorrekturen mit dem Ziel einer Minimierung der Minderheitenproblematik und damit letztlich zugunsten Deutschlands – erstaunlicherweise jedoch zunächst nicht im Falle Oberschlesiens. Eine Abtretung an Polen blieb somit Bestandteil des vorläufigen Vertragstextes (Draft Treaty).
Den Deutschen die bittere Pille versüßen
Am 7. Mai 1919 erhielt die deutsche Delegation das Dokument ausgehändigt. Die Gesamtwirkung war verheerend – nicht nur in der empörten deutschen Öffentlichkeit und unter den deutsch gesinnten Oberschlesiern, sondern auch in Großbritannien, wo das geplante Vertragswerk vor allem von der LabourPresse, aber auch von liberalen Kreisen öffentlich als zu hart bezeichnet wurde.5 Die Reichsregierung protestierte am 29. Mai detailliert schriftlich gegen den Vertragsentwurf und bestritt dabei auch die unterstellte Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen. Dabei argumentierte sie mit historischen, nationalen, sprachlichen und ethischen Gründen, letztlich aber vor allem mit handfesten ökonomischen: Ohne den Besitz Oberschlesiens sei es dem Reich nicht möglich, die immensen alliierten Reparationsforderungen zu begleichen.6
4 Zum Memorandum vgl. Tibal, André: La Haute-Silésie à la Conférence de la Paix, in: Eismann, L. u.a. (Hg.): La Silésie Polonaise, Conférences faites à la Bibliothèque Polonaise de Paris, Paris 1932 (Problèmes politiques de la Pologne contemporaine 2), S. 81–107; hier speziell S. 95f. 5 Vgl. Recke, Walter: Die historisch-politischen Grundlagen der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922, Marburg 1969 (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas 86), S. 12. Vgl. ebenso Glück, Gebhard: Die britische Mitteleuropapolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Von der Unterzeichnung des Waffenstillstands bis zum Ende des Jahres 1920, Erlangen-Nürnberg 1962, S. 153–154. 6 Vgl. Die deutschen Gegenvorschläge zu den Friedensbedingungen der Alliierten und Assoziierten Mächte. Der Notenkampf um den Frieden, Teil III. Hrsg. v. Auswärtigen Amt, Charlottenburg 1919 (Materialien, betreffend die Friedensverhandlungen III). Die Argumente zu Oberschlesien finden sich auf den Seiten 43–45.
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Diese Argumente schreckten wiederum Lloyd George auf, sah er doch eine Schmälerung der deutschen Reparationszahlungen als ein realistisches Szenario an. Intern äußerte er die Befürchtung, dass sich die Alliierten bei einer Übergabe Oberschlesiens an Polen in der Reparationsfrage wirtschaftlich ins eigene Fleisch schneiden würden.7 Vor allem besorgte Lloyd George die Aussicht, dass Deutschland den Vertrag in dieser Form nicht unterschreiben würde. Ein Zugeständnis in der Oberschlesienfrage schien ihm und auch seinen Beratern der beste Weg, der deutschen Kritik zumindest punktuell zu begegnen und Berlin gewissermaßen die bittere Pille der Vertragsunterschrift zu versüßen. Nachdem er sich weitgehende interne Rückendeckung – auch für mögliche Drohszenarien – geholt hatte, machte sich Lloyd George die deutschen Argumente zu eigen und setzte im Rat der Vier, dem obersten Entscheidungsgremium der alliierten Siegermächte, schließlich eine Volksabstimmung für Oberschlesien durch. Rhetorisch gut gerüstet und angriffslustig („fighting like a Welsh terrier“)8 räumte er dabei im Verlauf mehrerer Sitzungen Anfang Juni 1919 sämtliche Widerstände aus dem Weg. Den lange zögernden USPräsidenten Wilson konnte er schließlich mit dem geschickten Verweis auf dessen eigene „14 Punkte“ und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf seine Seite ziehen und so die Angelegenheit in seinem Sinne entscheiden. Nach dieser Grundsatzentscheidung oblag es einer alliierten Kommission, die näheren Modalitäten der Volksabstimmung festzulegen. Hier setzten sich die bereits im Rat der Vier offenkundig gewordenen Bruchlinien auch auf unterer Ebene fort. Eine einheitliche Abstimmung, in der Oberschlesien als unteilbare Einheit betrachtet wurde, konnte der britische Kommissionsvertreter nicht erreichen. So kam es nach längeren Diskussionen ohne erkennbare Annäherung und unter Zeitdruck schließlich zu einem Formelkompromiss, nämlich dem einer Abstimmung auf Basis der Gemeindeebene.9 Hier lag die Wurzel aller künftigen Streitigkeiten, da das Abstimmungsergebnis absehbar kein eindeutiges Bild ergeben konnte und für diesen Fall eine klare weitere Regelung fehlte. Doch dieser Geburtsfehler im Artikel 88 des Versailler Vertrags sollte erst später offenkundig werden. Die Krise war damit nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben. 7 Vgl. Riddell, George Allardice: Lord Riddell’s intimate diary of the Peace Conference and after, 1918–1923, London 1933, S. 85. 8 So lautete die bildhafte Einschätzung des britischen Diplomaten Harold Nicolson in einem Brief an seinen Vater vom 8. Juni 1919, abgedruckt in: Nicolson, Harold: Peacemaking 1919, London 1933 (Neuaufl. London 1945), S. 294. 9 Vgl. Documents on British Foreign Policy (DBFP) 1919–1939, Serie 1, Hrsg. v. E.L. Woodward, Rohan Butler u.a., Bd. XVI, London 1968, Annex zu Nr. 13 (S. 30f.): Memorandum des britischen Kommissionsmitglieds James Wycliffe Headlam-Morley vom 6. April 1921.
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Frankreichs und Großbritanniens konträre Interessen
Zunächst einmal jedoch erschien London wie der Gewinner dieses diplomatischen Tauziehens. Mit diesem Ad-hoc-Zugeständnis hoffte die britische Regierung, dass Berlin den Vertrag nun unterschreiben würde, was dann ja auch geschah. Bei einem – insgeheim erwarteten – deutschen Abstimmungssieg und damit einem Verbleib des oberschlesischen Industriegebiets wäre die deutsche Wirtschaft wesentlich besser für die anstehenden Reparationszahlungen aufgestellt gewesen.10 Zugleich war es ganz in Londons Sinne, dass in diesem Fall die Balance of Power in Europa nicht allzu sehr zugunsten Polens und damit auch zugunsten dessen Bündnispartners Frankreich verschoben worden wäre. In Paris hingegen war die Enttäuschung anfangs groß: Hier hatte man bis zuletzt gehofft, quasi mit einem Federstrich Oberschlesien mitsamt seiner Schwerindustrie dem Reich zu entziehen – was die Drohung einer französischen Ruhrbesetzung nur umso wirkungsvoller gemacht hätte. Zudem hoffte man in Paris, den neuen polnischen Staat durch ein wirtschaftlich starkes Oberschlesien rasch zu stabilisieren, um ihn so zu einem zentralen Kettenglied eines cordon sanitaire ostmitteleuropäischer Staaten zu machen – mit dem Ziel, sowohl Sowjetrussland als auch Deutschland in Schach zu halten. Der Wunsch, dieses Ziel trotz der anberaumten Volksabstimmung doch noch zu erreichen, bestimmte fortan das französische Handeln, und zwar auf allen Ebenen, von der hohen Diplomatie bis hinunter zu den Repräsentanten vor Ort. Die Grundlinien des folgenden britisch-französischen Konflikts waren damit bereits vorgezeichnet. Dabei hatten nun jedoch die Franzosen die besseren Voraussetzungen – weil sie die sich bietenden Chancen bestmöglich nutzen. Ihnen spielte zudem direkt in die Karten, dass London nach der erfolgreichen Vertragsunterzeichnung augenscheinlich das Interesse an der oberschlesischen Volksabstimmung weitgehend verloren hatte und sich fortan nur noch zögerlich um die eingegangenen Verpflichtungen kümmerte – sowohl personell als auch finanziell (auch wenn die Kosten des Einsatzes ja letztlich vom Abstimmungsgebiet zu tragen waren). Italien hatte an Oberschlesien von vornherein kaum Interesse, erfüllte aber gleichwohl seine Verpflichtungen. Anders wiederum agierten die USA, die sich nach dem Friedensschluss komplett aus den europäischen Angelegenheiten zurückzogen und daher auch in Oberschlesien 10
Vgl. Heideking, Jürgen: Areopag der Diplomaten. Die Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte und die Probleme der europäischen Politik 1920–1931, Husum 1979 (Historische Studien 436), S. 85.
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nicht mehr mit von der Partie waren. Paris nutzte das entstehende Machtvakuum zunächst zurückhaltend, im Laufe der Zeit jedoch umso energischer für die Durchsetzung der eigenen Interessen. Französische Dominanz, britische Zurückhaltung Schon von Beginn an war die französische Dominanz in Oberschlesien daher spürbar: Das fing mit der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission (IK) an, die für die Abstimmungsperiode die Regierungsgewalt im Land übernahm. Hier unterstanden den Franzosen nebst dem Generalsekretariat weitere vier zentrale Ressorts (Inneres, Finanzen, Militär, Wirtschaft). Die Briten hatten zwei weniger wichtige Ressorts übernommen (Verkehr und Ernährung) und die Italiener lediglich eines (Justiz).11 Von den anfangs 128 Mitarbeitern der Kommission (deren Zahl sich im Laufe der folgenden Monate verdoppeln sollte) stammten 69 aus Frankreich, 33 aus Großbritannien und 26 aus Italien. Ähnlich sah die alliierte Repräsentanz auf regionaler Ebene in den 21 oberschlesischen Kreisen aus: Elf von ihnen (vor allem diejenigen im wirtschaftlich wichtigen Industriegebiet) wurden durch französische Kreiskontrolleure verwaltet, nur jeweils fünf durch britische bzw. italienische.12 Dennoch war mit diesem Personalaufgebot ein so großes und wichtiges Gebiet kaum zu kontrollieren. Die völlig unzureichende alliierte und insbesondere britische Präsenz in Oberschlesien stand so von Anfang an gewissermaßen auf wackeligen Beinen. Sämtliche Planungen waren viel zu optimistisch und „auf Kante genäht“. Es gab erkennbar deutlich zu wenige Kräfte für die sich häufenden Schwierigkeiten. Militärisch hatten sich die Briten zur großen Überraschung ihrer Bündnispartner ad hoc und unter Verweis auf innenpolitische Probleme13 sogar ganz von einem Engagement in Oberschlesien verabschiedet; andere Regionen (wie etwa Danzig) erschienen London vorrangig. Auch im besetzten Rheinland waren britische Truppen gebunden. So stellten die Franzosen schließlich 12.000 der anfangs 15.000 Mann starken 11 12 13
Eine detaillierte Aufstellung findet sich etwa bei Wambaugh, Sarah: Plebiscites since the World War. 2 Bde., Washington 1933, Bd. 1, S. 221f. Die ungedruckten Quellen zum britischen Oberschlesien-Einsatz befinden sich im Londoner Public Record Office (PRO), speziell im Bestand FO (Foreign Office) 371. Zu den Kreiskontrolleuren vgl. insbesondere FO 371/4778 und 371/4780. Insbesondere die Irlandfrage beschäftigte hier die Londoner Regierung und band wertvolle Ressourcen. Vgl. Bertram-Libal, Gisela: Die britische Politik in der Oberschlesienfrage, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 105–132, hier speziell S. 110. Vgl. auch Heideking, Areopag, S. 86 (Anm. 6).
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alliierten Soldaten im Land, Italien steuerte die restlichen 3.000 bei.14 Erst während der Abstimmung schickte Großbritannien kurzzeitig einige Einheiten nach Oberschlesien – dabei handelte es sich jedoch um reine Symbolpolitik. Als die Interalliierte Kommission schließlich am 11. Februar 1920 ihren Sitz in Oppeln (Opole) nahm, waren auch unter den drei Kommissaren die Machtverhältnisse von Beginn an offensichtlich: Der im Laufe der Zeit immer stärker propolnisch agierende Kommissionspräsident, der französische General Henri Le Rond (1864–1949), dominierte – polyglott, rhetorisch geschliffen, diplomatisch erfahren und zugleich überaus energisch und strategisch gewandt – über weite Strecken den Gang der Ereignisse. Von der deutsch gesinnten Presse erhielt er wegen seiner selbstherrlichen Attitüde schon bald den Spitznamen „Napolerond“15. Seine beiden Kommissionskollegen waren ihm von Anfang an hoffnungslos unterlegen: Einerseits der oft sprunghafte italienische General Alberto de Marinis (1868–1940), dessen diplomatischer Schlingerkurs zu keinem Ergebnis führte und ihn letztlich ins politische Aus beförderte. Und andererseits der aufrechte, aber zunehmend überfordert wirkende und daher mehr und mehr frustrierte britische Truppenoffizier Harold Percival (1876– 1944), der weitgehend allein auf sich gestellt gegen Le Rond keine Chance hatte und folglich nichts ausrichten konnte. Bei Percival kam erschwerend hinzu, dass er als Oberst einen niedrigeren militärischen Rang bekleidete als seine beiden Kommissionskollegen (hier erwies sich die Sparsamkeit des Foreign Office, das kein Generals-Salär bezahlen wollte, als klarer Bumerang) und zudem allzu häufig nicht die erwünschte politische Rückendeckung aus London erhielt – er wurde schlichtweg im Regen stehen gelassen.
Widerstreitende Interessen, vergiftete Atmosphäre
In den ersten Monaten war das Arbeitsverhältnis in der Kommission jedoch noch von respektvoller Höflichkeit geprägt und erweckte einen geradezu freundschaftlichen Eindruck. Doch schon bald kühlte die Atmosphäre ab. Spätestens zur Jahresmitte 1920 zeigten sich deutliche Risse und eine immer stärkere Parteibildung, wobei Le Rond und Percival die respektiven Gegenpole bildeten. De Marinis befand sich immer häufiger in einer unkomfortablen 14
15
Vgl. Kiesewetter, Andreas: Die italienische Politik in der Frage des Plebiszits in Oberschlesien 1919–1921, in: ders. (Hg.): Dokumente zur italienischen Politik in der oberschlesischen Frage 1919–1921, Würzburg 2001, S. 1–90 (Schlesische Forschungen 8), S. 14. Die Zahl der eingesetzten Truppen schwankte im Zeitverlauf allerdings stark. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 219.
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Zwischenposition, indem er ohne klare Linie mitunter Le Rond, meist aber Percival zuneigte und sich so im Endeffekt zwischen allen Stühlen wiederfand. Hinzu kam, dass Le Rond alle Widerstände und Kritik seiner Kommissionskollegen gern vom Tisch wischte und selbst eine Zwei-zu-eins-Mehrheit von Percival und de Marinis unter Verweis auf seine herausgehobene Stellung als Präsident geschickt ausmanövrierte. Und an Schwierigkeiten und Streitpunkten innerhalb der Kommission mangelte es nicht. Der Zweite Aufstand in Oberschlesien Mitte 1920 ließ diese Bruchlinien offensichtlich werden. Als es nämlich um die Schuldfrage des Aufstands ging, reichten vier britische Offiziere ihren Rücktritt ein – und bezichtigten die französische Seite dabei unverblümt der mangelnden Unparteilichkeit.16 Auch die quasi-diktatorische Rolle, die Le Rond mittlerweile in der Kommission einnahm, empörte die britische Seite, und in London reifte im Sommer 1920 der Entschluss, den ungeliebten IK-Präsidenten schnellstmöglich loszuwerden – und sei es schließlich um den Preis, ihn von französischer Seite auf einen noch bedeutenderen Posten „wegloben“ zu lassen.17 Doch eine Abberufung war leichter gesagt als getan, denn der gewiefte Le Rond holte sich bei der französischen Regierung hinreichend Rückendeckung und London war letztlich nicht bereit, wegen einer Personalie den Bruch mit Frankreich zu riskieren. Immerhin konnte die britische Regierung auf diplomatischem Weg eine Reform der IK erreichen, die den Briten und Italienern zumindest bessere Kontroll- und Mitsprachemöglichkeiten einräumte.18 Dafür scheiterte ein weiterer drängender Wunsch Londons, nämlich die Ausweisung des polnischen Plebiszitkommissars Wojciech Korfanty, den die britische Regierung mittlerweile als maßgeblichen Drahtzieher der Unruhen in Oberschlesien ansah. Auch hier zog man in London nicht die ultimative Karte in Form einer massiven Drohung, sich nötigenfalls ganz aus Oberschlesien zurückzuziehen – dementsprechend wirkungslos verpuffte der Vorstoß.19 Hauptstreitpunkt über viele Wochen war die Frage, wer überhaupt wahlberechtigt war – also ob beispielsweise auch die Emigranten, englisch Outvoter genannt (gebürtige Oberschlesier, die inzwischen im Ruhrgebiet und anderswo Arbeit gefunden hatten) an der Abstimmung teilnehmen sollten. Dieses Thema wurde mehrfach zwischen Oppeln und der Pariser Botschafterkonferenz 16 17 18 19
Die detaillierten Rücktrittsbegründungen finden sich im Original im Bestand FO371/4816. Eine inhaltliche Zusammenfassung findet sich bei Eichner: Oberschlesien, S. 107f. Vgl. DBFP XI, No. 56 (S. 76): Memorandum des britischen Botschafters in Paris, Lord Derby, vom 22. September 1920. Zu den Hintergründen vgl. auch Eichner: Oberschlesien, S. 110–115. Vgl. Eichner: Oberschlesien, S. 115f. Zum britischen Versuch der Ausweisung Korfantys vgl. Eichner: Oberschlesien, S. 120–127.
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hin und her gespielt, bis schließlich nach langem Ringen ein Kompromiss gefunden war: Rund 190.000 Outvoter durften schließlich ihre Stimme in Oberschlesien abgeben. Sie wurden rechtzeitig vor dem Plebiszit in Sonderzügen herangeschafft. Für Ruhe und Ordnung im Abstimmungsgebiet sollte anstelle der – nach dem Zweiten Aufstand aufgelösten – Sicherheitspolizei (SIPO) eine eigens neu formierte Abstimmungspolizei (APO) sorgen. Sie bestand jeweils paritätisch aus deutsch und polnisch gesinnten Oberschlesiern und wurde von alliierten Polizeioffizieren geführt. Die Alliierten mussten hier also einmal mehr neues Personal bereitstellen, wozu London diesmal – im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung – bereit war.20
Neuer Streit über das Abstimmungsergebnis
Die Vorbereitungen zur Abstimmung dauerten, bedingt durch die unsichere Lage und die vielen zu klärenden Fragen (etwa zur Wahlberechtigung und zum Wahlmodus der Outvoter), länger als ein Jahr. Erst am 20. März 1921, einem Sonntag, konnten rund 1,2 Millionen Menschen – Frauen wie Männer – in einer freien und geheimen Wahl ihre Stimme abgeben. Die Auszählung ergab mit über 707.000 Stimmen eine knappe 60-Prozent-Mehrheit für Deutschland; für Polen hatten mit über 478.000 Stimmen gut 40 Prozent gestimmt. Für eindeutige Verhältnisse sorgte dieses Gesamtergebnis jedoch nicht, da insbesondere das oberschlesische Industriegebiet einem Flickenteppich glich: Hatten die großen Städte überwiegend deutsch gestimmt, gab es in den umliegenden kleinen Landgemeinden polnische Mehrheiten. Den Sieg reklamierten folglich auch beide Seiten für sich: Auf deutscher Seite forderte man aufgrund der 60-Prozent-Mehrheit das Gebiet in Gänze. Der polnische Plebiszitkommissar Wojciech Korfanty argumentierte hingegen differenzierter und reklamierte durch geschickte Zusammenfassung der Gemeinde-Ergebnisse weite Teile Oberschlesiens inklusive des Industriegebietes für Polen. London war hier eher aufseiten der deutschen Argumentation, Paris auf der der polnischen. Zwischen diesen beiden Standpunkten eine Brücke zu schlagen, glich einer Quadratur des Kreises, zumal der Artikel 88 des Versailler Vertrages hier ja keine eindeutige Regelung vorgegeben hatte. Einmal mehr geriet die Oberschlesienfrage in die Mühlen der widerstreitenden Nachkriegsinteressen. Und erneut prallten die britische Idee einer Balance of Power und die französischen Sicherheitsinteressen frontal aufeinander – auch in der Kommission. 20
Zur Schaffung der Abstimmungspolizei vgl. Eichner: Oberschlesien, S. 117–120.
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Folglich standen die Alliierten vor der praktisch unlösbaren Aufgabe, in der Oberschlesienfrage eine sowohl für Großbritannien als auch für Frankreich (und ebenso für Deutschland und Polen) tragbare Lösung zu finden, die zugleich zwei entscheidende Parameter erfüllen sollte: das oberschlesische Industriegebiet als wirtschaftliche Einheit zu erhalten und zugleich die Willensbekundung der Bevölkerung angemessen zu berücksichtigen. Doch wie konnte eine solche Lösung aussehen, wenn Frankreich die Oberschlesienfrage eng mit seinen eigenen wirtschaftlich-militärischen Sicherheitsbedürfnissen verquickt hatte und somit nicht zum Nachgeben bereit war? Eine dem britischen Außenminister Lord Curzon kurzfristig Ende Mai unterbreitete Idee, Paris hier mit einer weitreichenden britischen Sicherheitsgarantie entgegenzukommen und im Gegenzug Zugeständnisse bei der Grenzziehung in Oberschlesien zu erreichen, wurde jedoch nicht weiterverfolgt.21 Vor Ort war die Kommission tief gespalten: Ihr Präsident, General Le Rond, favorisierte – ganz auf Linie mit seiner Regierung in Paris – Korfantys Grenzvorschlag. Seine „Le-Rond-Linie“ orientierte sich daher auch weitgehend an den polnischen Gebietsforderungen, der „Korfanty-Linie“. Der britische Plebiszitkommissar, Oberst Percival – dem bald klar geworden war, dass die deutschen Wünsche eines kompletten Verbleibs Oberschlesiens beim Reich politisch nicht durchzusetzen waren – verfolgte hingegen einen gänzlich anderen Ansatz: Er engagierte sich für eine maßvolle Teilungslösung. Sie sollte zwar den polnischen Wünschen weitestmöglich entgegenkommen, beließ den Großteil des oberschlesischen Industriegebietes jedoch ungeteilt bei Deutschland. Sein italienischer Kollege de Marinis unterstützte diesen Vorschlag, so dass diese „Percival-de-Marinis-Linie“ einen alternativen Gegenvorschlag zur demjenigen von Le Rond in den diplomatischen Verhandlungen bildete. Nun lagen der alliierten Botschafterkonferenz in Paris Ende April 1921 also zwei sehr gegensätzliche Teilungsvorschläge vor, welche die alliierte Uneinigkeit nach außen hin offenkundig machten. Doch jetzt überholten erst einmal die militärischen die politischen Vorgänge – in Form des Dritten Aufstands in Oberschlesien. Militärische versus politische Lösung In den ersten Maitagen 1921 besetzten propolnische Freischärler, unterstützt durch reguläres polnisches Militär, innerhalb weniger Tage weite Teile Oberschlesiens. Ihr Ziel war das Erreichen der „Korfanty-Linie“, also der von Polen 21
Zum Vorschlag des britischen Botschafters in Paris, Lord Hardinge, vgl. Bertram-Libal, Politik, S. 123.
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favorisierten Grenzziehung. Von den französischen Truppen kam kaum Widerstand, die meisten Einheiten zogen sich einfach in ihre Kasernen zurück. Die italienischen Soldaten hingegen wehrten sich verbissen, zahlten dafür aber einen hohen Blutzoll und stellten den aussichtslosen Kampf schließlich ein. Die IK bot insgesamt ein hilfloses Bild, zumal Oberst Percival angesichts der desaströsen Lage bald einen Nervenzusammenbruch erlitt und damit dienstunfähig wurde.22 Er wurde zügig durch den erfahrenen Verwaltungsfachmann Sir Harold Stuart (1860–1923) abgelöst. Dieser war zwar aus härterem Holz geschnitzt, wollte aber angesichts der ja bereits erfolgten Abstimmung und der absehbaren Beendigung des alliierten Einsatzes keinen Bruch mehr mit Le Rond riskieren. Weil ein Eingreifen der Reichswehr nicht infrage kam (Frankreich wäre in diesem Fall absehbar sofort in Deutschland einmarschiert und hätte das Ruhrgebiet besetzt)23, hielten schließlich eilig aufgestellte deutsche Freikorps den Vormarsch der Aufständischen auf. Insbesondere die Briten – die zu diesem Zeitpunkt keine militärische Präsenz in Oberschlesien zeigten – billigten dieses Eingreifen stillschweigend, da sie nur so das Fair Play im Sinne eines Kräftegleichgewichts gewahrt glaubten. Nach Eroberung des strategisch wie symbolisch wichtigen St. Annabergs südlich von Oppeln durch die Freikorps kündigte sich ein militärisches Patt an. Erst ganz allmählich konnte Oberschlesien wieder befriedet werden, und die Alliierten erlangten die militärische Kontrolle zurück. Doch eine politische Lösung war damit weiterhin nicht in Sicht. Das Schwarzer-Peter-Spiel wiederholte sich nun erneut auf allen politischdiplomatischen Ebenen. Keine der Großmächte war dabei bereit, einen Bruch zwischen Frankreich und Großbritannien zu riskieren – zumindest nicht für Oberschlesien. Schon Ende Mai 1921 war das britische Kabinett daher so weit, sich mit einer Teilungslösung für das oberschlesische Industriegebiet abzufinden.24 Doch wie genau sollte eine solche Teilung aussehen?
Überweisung an den Völkerbundrat
Erneut konnten sich die Alliierten nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen. Selbst ein letzter Versuch in Form der „Sforza-Linie“ (einem Kom promissvorschlag des italienischen Außenministers, der Polen und Frankreich 22 23 24
Vgl. DBFP XVI, No. 127: Telegramm Curzons an Percival vom 27. Mai 1921, Anm. 1. Vgl. Eichner, Oberschlesien, S. 185. Vgl. Bertram-Libal: Politik, S. 123. Vgl. auch Eichner: Oberschlesien, S. 210f.
Groẞbritanniens und Frankreichs Engagement in Oberschlesien
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außerordentlich weit entgegenkam) fand keine Zustimmung. So wurde als letztes Mittel schließlich der Völkerbundrat eingeschaltet. Vorangegangen waren Gipfelgespräche des Obersten Rates am 8. und 9. August 1921 in Paris, wo es erneut zu einer völlig verfahrenen Lage („deadlock“25) zwischen den britischen und französischen Vorstellungen gekommen war. Um auch hier keinen Bruch mit Frankreich zu riskieren, schlug der britische Premierminister Lloyd George schließlich am 12. August vor, die Angelegenheit an den Völkerbundrat zu übergeben. Dies war natürlich eine für alle Seiten gesichtswahrende Lösung, doch sie verzögerte erneut eine Entscheidung. Der Völkerbundrat war von seiner ebenso verantwortungsvollen wie wenig dankbaren Aufgabe verständlicherweise nicht sehr angetan, wollte sich ihr aber auch nicht entziehen. Eine eigens eingesetzte Kommission erarbeitete schließlich am grünen Tisch eine Kompromisslösung, die das Industriegebiet zerschnitt. Der wirtschaftlich wichtigere Teil rund um Kattowitz (Katowice) kam dabei zu Polen. Mitte 1922 wurde die Teilung schließlich vollzogen. Immerhin garantierten bilaterale Verträge sowohl den wirtschaftlichen Austausch als auch den Schutz der jeweiligen Minderheiten. Dennoch siedelten in den folgenden Jahren zahlreiche Oberschlesier auf die jeweils andere Seite über, und ein gutes nachbarschaftliches Miteinander von Polen und Deutschen schien in der Zwischenkriegszeit zunächst ferner denn je – zumal auch der deutscherseits sogenannte Korridor und die Danzig-Frage die Beziehungen der beiden Länder belasteten.
Erfolg oder Misserfolg? Eine gemischte Bilanz
War die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 nun ein Erfolg – oder doch ein Fehlschlag? Die Bilanz fällt mit 100 Jahren zeitlichem Abstand durchwachsen aus. Auf der Positiv-Seite steht die historische Premieren-Leistung, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Rechnung zu tragen und eine Millionenbevölkerung über ihr künftiges Schicksal frei entscheiden zu lassen, ähnlich wie in den übrigen Abstimmungsgebieten jener Schlüsseljahre nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der Negativ-Seite steht die Erkenntnis, dass die Willenskundgebung der Bevölkerung nicht zwangsläufig ein klares und eindeutiges Bild ergibt, was die Interpretation des Ergebnisses angeht und daraus folgend eine faire Grenzziehung umso schwieriger macht. Es jedermann 25
In Lord Riddell’s diary, S. 311, heißt es dazu: „It looks as if there will be a deadlock over Silesia.“
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recht zu machen, schien geradezu ein Ding der Unmöglichkeit – zumal im Falle Oberschlesiens ein überbordender Nationalismus ein friedliches nachbarschaftliches Zusammenleben in der Folgezeit trotz entsprechender Minderheiten-Regelungen deutlich erschwerte. Belastet war die Abstimmung von Anfang an vor allem auch von der Uneinigkeit unter den alliierten Großmächten. Insbesondere die stark divergierenden Mitteleuropa-Interessen von Großbritannien und Frankreich machten eine gemeinsame Linie bald unmöglich, was sich ständig in unsäglichen Reibereien auf allen Ebenen bemerkbar machte und eine rasche Grenzentscheidung in immer weitere Ferne rücken ließ. Hinzu kamen unter Zeitdruck eingegangene Formelkompromisse wie die unpräzisen Angaben im Versailler Vertrag zur Grenzziehung sowie eine spürbare organisatorische und personelle Überforderung der alliierten Siegermächte, für die Oberschlesien letztlich nur ein Problem unter vielen darstellte – welches vor allem für Großbritannien bei weitem nicht die oberste Priorität genoss. So wurden sehenden Auges Chancen verschenkt. Immerhin war es maßgeblich der Initiative von Premierminister David Lloyd George zu verdanken, dass seinerzeit überhaupt ein Teil Oberschlesiens wie auch des Industriegebietes beim Reich verblieb. Allerdings war Großbritannien – obwohl eher Deutschland als Polen zugeneigt – nicht bereit, wegen Oberschlesien einen diplomatischen Bruch mit dem Bündnispartner Frankreich zu riskieren, weil man diesen in wichtigen außenpolitischen Fragen, etwa des Nahen Ostens, noch dringend brauchte. Dennoch wurde in Oberschlesien auch mit beschränkten Mitteln und Möglichkeiten Beachtliches geleistet, und die Erfahrungen der mehr als zwei Jahre währenden alliierten Präsenz sind bis heute ein gutes Lehrstück – im Guten wie im Schlechten – für die Organisation multinationaler Einsätze in umstrittenen Grenzregionen. Immerhin: Oberschlesien hat mit der Volksabstimmung 1921 ein Stück Europa- und auch Weltgeschichte geschrieben und damit, um ein sprachliches Bild von Andy Warhol zu gebrauchen, seine kurzen „15 Minuten Ruhm“ auf der internationalen Bühne bekommen. Die betroffenen Menschen – erst recht die vielen Toten und Verwundeten – haben dafür einen hohen Preis gezahlt.
„Fedeli al loro giuramento ed alla loro consegna“ – Der italienische Einsatz im oberschlesischen Abstimmungsgebiet und die italienische Politik 1919–1922 Evelyne Adenauer „Treu Ihrem Eid und Ihrer Weisung“,1 so lautet die Überschrift eines Fotos von Mai 1921, das einen schnell angelegten Friedhof im Feld von Czerwionka für gefallene italienische Soldaten zeigt. Die Angaben zur Anzahl der Toten schwanken in der Literatur,2 aber welche auch stimmt, sicher ist, dass die Italiener mit dem kleinsten Kontingent in Oberschlesien die größten Verluste unter den Alliierten zu verzeichnen hatten.3 Als die italienischen Soldaten im Winter 1921 heimkehrten, wurden mit ihnen die Opfer des dritten Aufstandes in Särgen nach Italien gebracht.4 Dieser Vorgang setzte im Frühjahr 1922 ein und mit der Abfahrt des letzten Zuges am 9. Juli 1922 ging die italienische Mission in Oberschlesien zu Ende.5 Damit
1 Foto in: Archivio Ufficio Storico Stato Maggiore Esercito, Fondo 694/184. Abgedruckt in: Lenzi, Francesca Romana: L’Italia in Alta Slesia (1919–1922), (Storia in Laboratorio, Bd. 18), Roma 2011, S. 117 und auf dem Buchumschlag. 2 Lenzi: L’Italia, S. 32; Vecchio, Giorgio: Le missioni militari italiane nel primo ’900, Alta Slesia (1920–1922), in: Canavero, Alfredo / Formigoni, Guido / Vecchio, Giorgio (Hg.): Le sfide della pace, Instituzioni e movimenti intellettuali e politici tra otto e novecento, Milano 2008, S. 449, 457, 543. Ruschi, Filippo: „… Non c’è che da risolvere il problema dell’Alta Slesia“, Ordine internazionale, egemonia ed autodeterminazione nell’età della Società delle Nazioni, in: Politica 1 (2020), S. 58. Crociani, Piero: Il contingente italiano in Alta Slesia (1920–1922), in: Rainero, Romain H. / Alberini, Paolo (Hg.): Missioni militari italiane all’estero in tempo di pace (1861–1939), Roma 2001, S. 276. Crociani, Pietro: Il contingente italiano in Alta Slesia (1920–1922), in: Storia Militare 4 (2006), S. 55. Herde, Peter: Le truppe italiane in Alta Slesia dal 1920 al 1922, in: Scottà, Antonio (Hg.): La Conferenca di Pace di Parigi fra ieri e domani (1919–1920), Atti del Convegno Internazionale di Studi Portogruaro-Bibione 31 maggio – 4 giugno 2000, Rubbettino, 2003, S. 333. 3 Wilson, Tim: Fatal violence in Upper Silesia, 1918–1922, in: Bjork, James/Kamusella, Tomasz/ Wilson, Tim/Novikov, Anna (Hg.): Creating Nationality in Central Europe, 1880–1950, Modernity, violence and (be)longing in Upper Silesia, Abingdon, New York 2016, S. 68. 4 Vecchio: Le missioni, S. 455. 5 Ruschi: Non c’è, S. 61f.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_009
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waren die Italiener bis zum vollständigen Abzug aller alliierten Truppen in Oberschlesien verblieben.6 Viele junge Männer dieser Nation haben hier ihr Leben gelassen, in dem Bestreben, ihren Auftrag zu erfüllen, die Bevölkerung zu schützen und eine ordnungsgemäße Durchführung der Abstimmung zu sichern. Ihr Tod sollte viel verändern – was er ausgelöst hat, und in welchem Zusammenhang der Truppeneinsatz mit der italienischen Außenpolitik stand, das soll genauer betrachtet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema erfordert allerdings zunächst einen Blick nach Italien und auf die Rolle des Landes im Rahmen der Versailler Friedenskonferenz. Noch 1914 hatte Italien dem Dreibund angehört, ein Jahr später jedoch die Seiten gewechselt. Es waren Territorialansprüche, die – zu einem imperialistischen Expansionsprogramm umgeschlagen – Italien schließlich in den Krieg ziehen ließen. Ein möglicher Sieg versprach den Zugewinn der „terre irredente“, der italienisch geprägten Gebiete des Habsburgerreiches. Insofern sahen viele hierin die Vollendung des Risorgimento,7 also einen „vierten Unabhängigkeitskrieg“.8 Im Vertrag von London vom 26. April 1915 mit den Entente-Mächten waren dem Land weitgehende territoriale Zugeständnisse gemacht worden,9 doch nach dem Krieg gingen die Alliierten davon aus, dass Italien die vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson anerkannt hatte und somit nicht mehr über den Londoner Vertrag gesprochen werden würde. Doch sie täuschten sich, denn in Italien sah man keinen Anlass, von den alten Ansprüchen abzurücken und in diesem Sinne reiste die italienische Delegation zur Friedenskonferenz. Das dortige Auftreten hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Italiens Sieg schließlich als ein „verstümmelter Sieg“ („vittoria mutilata“) wahrgenommen wurde – ein Begriff, den Gabriele D’Annuncio geprägt hat. Vertreten durch Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando 6 Rosenbaum, Sebastian: „Nie przybyliśmy na Śląsk dla własnej przyjemności, ale aby wykonywać pożyteczną pracę“. Niektóre wątki obecności wojsk sprzymierzonych na Górnym Śląsku (1920–1922), in: Rosenbaum, Sebastian (Hg.): W obcym kraju … Wojska sprzymierzone na Górnym Śląsku 1920–1922, Katowice 2011, S. 202. 7 Gibelli, Antonio: La Grande Guerra degli Italiani 1915–1918, Milano 2015, S. 42. Lill, Rudolf: Integrationspolitik oder Imperialismus? Von der Nation zum radikalen Nationalismus und zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg (1876–1918), in: Altgeld, Wolfgang / Lill, Rudolf: Kleine italienische Geschichte, (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 530), Bonn 2005, S. 355, 358. 8 Perfetti, Francesco: Grande Guerra e identità nazionale, in: Perfetti, Francesco (Hg.): Niente fu più come prima, La grande guerra e l’Italia cento anni dopo, Firenze 2015, S. 19f. Lill: Kleine italienische Geschichte, S. 359f. 9 MacMillan, Margaret: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015, S. 375f.
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und Außenminister Sydney Sonnino sowie weitere Abgeordnete, präsentierte sich das Land unvorteilhaft und häufig der Situation unangemessen.10 Es war allein auf die erhofften Territorien konzentriert, und das als „der schwächste unter den Siegerstaaten, […] die mächtigeren Alliierten, die Italiens Beitrag zum Sieg weitaus geringer einschätzten als die Italiener selbst, setzten sich über die meisten seiner Wünsche hinweg.“11 Als absehbar war, dass sich die Hoffnung auf Gebietserweiterungen nicht erfüllen würde, erarbeiteten die Italiener eine Denkschrift, in der sie den Londoner Vertrag nicht erwähnten, aber Entsprechendes verlangten – und immer noch das erhofften, was Orlando in der Formel „der Londoner Vertrag plus Fiume“ zusammengefasst hatte.12 Wenig verwunderlich ist es daher, dass Italien angesichts der Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht erfolgreich sein konnte, sofern es Gebiete verlangte, die nicht mehrheitlich von Italienern bewohnt waren. So kam dann die Entscheidung, am 14. Juni 1919 in fast ganz Oberschlesien eine Abstimmung durchzuführen, ohne die Italiener zustande, welche die Konferenz in ihrer Enttäuschung über die Absage Wilsons für rund zwei Wochen verlassen hatten. Oberschlesien interessierte die Italiener nicht. Ein Mitglied der italienischen Delegation stach hier hervor, Pietro Tomasi della Torretta. Er stimmte den Vorschlägen der anderen Sieger zwar nur zu,13 befürwortete im Hinblick auf die oberschlesische Frage jedoch Maßnahmen, die ein für Polen günstiges Ergebnis fördern sollten.14 Damit änderte sich die italienische Politik, von Sonninos Ablehnung im Hinblick auf zu umfangreiche Gebietsabtretungen an Polen in der Endphase des Krieges über die sogenannte „stille Zeit“ bis hin zur Unterstützung der Franzosen.15 Für Italien selbst brachte der Krieg nicht die gewünschten Resultate, weder die ersehnten Gebiete, noch die internationale Bedeutung. Von wirtschaftlichen und sozialen Problemen erschüttert, fanden die italienischen Parteien keine Antwort auf die Probleme der Nachkriegszeit; finanziell bankrott, mehr denn je ökonomisch von den anderen Siegern abhängig und noch dazu von einer Streikwelle erschüttert, endete das Land im Faschismus: Nur wenige 10 11 12 13 14 15
Ebd., S. 382, 388. Caccamo, Francesco: L’Italia e la „Nuova Europa“, Il confronto sill’Europa orientale alla conferenza di pace di Parigi (1919–1920), Milano u.a. 2000, S. 128. Lill: Kleine italienische Geschichte, S. 376. Ebd., S. 373. Burhwyn, H. James: The Legend of the Mutilated Victory, Italy, the Great War, and the Paris Peace Conference, 1915–1919, Westport, London 1993, S. 313. De Vergottini, Tomaso: L’Italia e il plebiscito per l’Alta Slesia, in: Storia e politica 11 (1972), S. 23. Caccamo: L’Italia e la „Nuova Europa“, S. 133. Ebd., S. 135.
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Monate nachdem die letzten italienischen Soldaten aus Oberschlesien zurückgekehrt waren, gelangte Benito Mussolini an die Macht. Wie schon in Versailles verfolgte die Außenpolitik des Landes auch in den folgenden Jahren keine klare Linie in Bezug auf Oberschlesien, und angesichts der vielen Probleme im Innern und beständigen Regierungswechseln – nach Orlando folgten bis zum Herbst 1922 Francesco Saverio Nitti, Giovanni Giolitti, Ivanoe Bonomi und Luigi Facta als Regierungschefs von sieben Regierungen – blieb eine Region wie Oberschlesien insgesamt doch fern jedes Interesses und nur eines unter vielen Nachkriegsproblemen. Nitti, der im Juni 1919 die Amtsgeschäfte von Orlando übernommen hatte und ein Jahr in diesem Amt blieb, stand einem neuen polnischen Staat als einziger Regierungschef kritisch gegenüber.16 Erst mit ihm war überhaupt ein gewisses Interesse an der oberschlesischen Problematik zu konstatieren,17 allerdings nach wie vor ein sehr geringes, das im Wesentlichen aus der Verantwortung gegenüber den Bestimmungen des Versailler Vertrages resultierte. Von den acht Außenministern, die das Land bis zum Abzug der Truppen vertraten, schenkte nur Carlo Sforza, der das Amt von Juni 1920 bis Juli 1921 innehatte, der Region Beachtung, dies aber im Wesentlichen auch aufgrund wirtschaftlicher Gesichtspunkte. Eine konstante Linie in Bezug auf seine Politik war nicht festzustellen. Offensichtlich ließ sich Sforza mehr durch den italienischen Botschafter Francesco Tommasini in Warschau beeinflussen sowie durch Lelio Bonin Longare in Paris, der sich diesem in seiner Haltung anschließen sollte,18 als durch Alfredo Frassati in Berlin, der auf Deutschlands Seite stand.19 Fest steht, dass auch er vorrangig sein eigenes Land im Blick hatte und sich seine propolnische Haltung durchaus mit gewissem Eigennutz sowie dem Einfluss Tommasinis entwickelt hat.20
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Gionfrida, Alessandro: Missioni e addetti militari italiani in Polonia (1919–1923), Le fondi archivistiche dell’Ufficio storico, Stato Maggiore dell’Esercito, S. 60f. Monzali, Luciano: La politica estera italiana nel primo dopoguerra 1918–1922, Sfide e problemi, in: Itaia contemporanea (256–257) 2009, S. 396f. Vecchio, Giorgio: Don Primo Mazzolari e le „Suore Grigie“ di Cosel in Alta Slesia, in: Vecchio, Giorgio (Hg.): Mazzolari, La chiesa del Novecento e l’universo femminile, Brescia 2006, S. 244. Kiesewetter, Andreas (Hg.): Dokumente zur italienischen Politik in der oberschlesischen Frage 1919 bis 1921, (Schlesische Forschungen Bd. 8/1), Würzburg 2001, S. 49. Frassati wurde 1920 Botschafter in Berlin, aus gleichem Jahr stammen aber noch Schriftstücke von Giacomo de Martino, der ebenfalls Botschafter in Berlin war. Die Bereitschaft, sich polnische Ansprüche zu eigen zu machen, zeigte sich mehrmals, u.a. in den schwierigen Erörterungen über die Teilung des Abstimmungsgebietes. Siehe dazu: Kiesewetter: Dokumente, S. 51.
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Schon unter Sforzas Nachfolger della Torretta, der von Juli 1921 bis Februar 1922 das Amt des Außenministers bekleidete, änderte sich die italienische Politik erneut; als einziger der Außenminister folgte er nicht der Politik einer engen Bindung von Italien und Polen,21 womit er seine Meinung radikal änderte. Insgesamt wird seine Politik aber auch als eine „stille“ charakterisiert.22 Als für Sommer und Herbst 1921 neue Truppen für Oberschlesien angefordert wurden, verweigerte della Torretta dies für sein Land – seine einzige klare Entscheidung bezüglich Oberschlesiens. Ansonsten bestand er auf der Unparteilichkeit Italiens. Interessant machten Oberschlesien seine Kohlevorkommen, denn Italien war als überaus rohstoffarmes Land auf Kohleimporte angewiesen. Die polnische Regierung unterbreitete Sforza mehrfach Angebote mit wirtschaftlichen Vergünstigungen und Vertragsentwürfe für den Fall, dass Oberschlesien Polen zugesprochen werden würde. Auch polnische Ingenieure verhandelten auf Initiative Wojciech Korfantys mit Sforza,23 doch auch davon ließ sich Italien nicht wirklich beeinflussen. Schließlich bedeutete allein die Beteiligung an der Interalllierten Kommission in Person des Generals Alberto de Marinis Stendardo di Ricigliano, dass 10,6 Prozent der oberschlesischen Kohleexporte nach Italien gingen.24 Sforza vertrat zudem die Ansicht, erst das Ergebnis der Abstimmung abwarten zu wollen.25 Ob es rechtliche und moralische Ansprüche waren, denen Sforza hier genügen wollte, oder ob Unentschlossenheit und ein daraus resultierendes Lavieren sein Verhalten bestimmten, bleibt unklar.26 Abwartend, neutral, aber allen Optionen gegenüber offen, die Standpunkte wechselnd, widersprüchlich und uneindeutig – so präsentierte sich das Land. Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob die wirtschaftlichen Angebote Sforzas Haltung in der sog. „Outvoter“-Frage beeinflusst haben;27 vermutlich wurden seine Vorschläge betreffend die Grenzziehung davon zumindest tangiert, mehr noch aber wohl durch Tommasini.28
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Gionfrida: Missioni, S. 64. De Vergottini: L’Italia e il plebiscito, S. 46. Kiesewetter: Dokumente, S. 36. Cavallucci, Sandra: Ricchezza e dannazione. L’affaire del carbone nell’Alta Slesia polacca, 1919–1939, Roma 2013, S. 108. Ebd., S. 115ff. Kiesewetter: Dokumente, S. 52ff. Auch erwähnt: Monzali, Tommasini, S. 92. Siehe: Telegramm und Notiz Sforzas an de Marinis vom 28. April 1921, Schreiben Sforzas an Frassati von Mai 1921, in: Kiesewetter: Dokumente, S. 243, 379. Ebd., S. 36. De Vergottini: L’Italia e il plebiscito, S. 37.
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Seine Vorstellungen zur Teilung Oberschlesiens, auch als „Sforza-Linien“ bezeichnet, orientierten sich an den bisherigen Ideen zur Schaffung von zwei Zonen29 mit einigen Anpassungen im Industriebezirk, insgesamt aber mit deutlichem territorialem Gewinn für Polen, wenn auch sein zweiter Vorschlag weniger vorteilhaft für Polen ausfiel, weil das Gebiet um Königshütte (Chorzów) und die südlichen Teile der Bezirke um Beuthen OS (Bytom) und Kattowitz (Katowice) an das Deutsche Reich fallen sollten. Dabei wollte Sforza die Vorschläge de Marinis’ für eine neue Grenze anpassen, nachdem er diesen zunächst aufgefordert hatte, seine Idee entsprechend den Vorschlägen Tommasinis zu ändern.30 Er war der Meinung, Polen würde ansonsten zu wenig Land bekommen.31 De Marinis wiederum hatte mit seinem ersten Vorschlag zwischen der französischen und britischen Position vermitteln wollen, und auch seine Korrektur unterschied sich von Sforzas Plänen, der nur Tommasinis Ideen aufgriff und den zweiten Vorschlag von de Marinis mit kleinen Änderungen übernahm. Dementsprechend wurden Sforzas Pläne durchweg negativ aufgenommen.32 Sein Nachfolger della Torretta ließ sich schließlich von Frassati beeinflussen und kehrte auch in der Frage der Teilung Oberschlesiens zum De Marinis-Percival-Plan zurück, während Tommasini endgültig seinen Einfluss verlor.33 Da auch in der Folge keine gute Lösung gefunden werden konnte, wurde das Problem auf Initiative della Torrettas zu Klärung an den Völkerbund übergeben. Schon in der Grenzziehungsfrage zeigte sich, dass Italien mit General de Marinis einen Mann nach Oberschlesien entsandt hatte, der sein Amt als Kommissar in der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission, welche für die Durchführung der Abstimmung und die militärische Überwachung der Volksabstimmung zuständig war, sehr ernst nahm. Unzureichend informiert, von der italienischen Regierung allein gelassen und zeitweise der Meinung, deren Vertrauen verloren zu haben, und bald schon resigniert, fand er sich in der Rolle des Vermittlers zwischen der französischen und britischen Seite wieder, was er auch immer wieder gegenüber der Regierung betonte. Trotz aller Widrigkeiten behielt de Marinis aber fast schon eine stoische Haltung, lernte die Region kennen und zeigte den immerwährenden Willen zur Neutralität 29
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Die Einteilung Oberschlesiens in die Zonen A, B und C ist auf einer britischen Karte aus dem Jahr 1921 dokumentiert. Abgebildet in: Eichner, Karsten: Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien 1920–1922, (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zu Breslau, Bd. 13), St. Katharinen 2002, S. 285. Kiesewetter: Dokumente, S. 64f., 67. Schreiben Sforzas an de Marinis und Tommasini vom 24. März 1921, in: Ebd., S. 210. De Vergottini: L’Italia e il plebiscito, S. 35. Kiesewetter: Dokumente, S. 68ff. Ebd., S. 78.
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und Besonnenheit.34 Seinen Vorschlag zur Teilung der Region sah er selbst nicht als optimal an, jedoch immer noch als gute Lösung, um das Nationalitätenprinzip zu wahren.35 Gemeinsam mit dem britischen Kommissar Oberst Harold Percival protestierte er gegen den Leiter der Kommission, Henri Le Rond, der auf polnischer Seite stand. Seine ausgleichende Haltung versuchte de Marinis auch zu wahren, als einzelne Modalitäten der Abstimmung zur Debatte standen, etwa wer eigentlich zur Abstimmung zugelassen werden sollte. Vielleicht kann ihm in diesen Fragen eine gewisse Freundlichkeit gegenüber den Deutschen zugesprochen werden, insgesamt bemühte er sich jedoch innerhalb der Kommission stets um eine neutrale Haltung. Dieser Anspruch übertrug sich auf das italienische Truppenkontingent, das er wohl selbst in diese Richtung instruiert hat, wie er selbst schrieb: Die zivilien und militärischen italienischen Amtsinhaber […] folgen meinen genauen Anweisungen zur absoluten Unparteilichkeit.36
Denn obgleich sich der Sieg für die Italiener kaum als Sieg anfühlte unter der Maxime, eine aktive Rolle in der internationalen Politik auszuüben, sich als Macht – auch im Gegenspiel zu Frankreich – zu positionieren,37 und sich die Möglichkeit offen zu halten, mit Polen Handel zu treiben,38 entsandte Italien Truppen nach Oberschlesien. Neben dem 135. Infanterieregiment aus vier Bataillonen kamen eine Spezialgruppe der Artillerie (Gruppo Speciale di Artiglieria da Campagna), der 458. Zug der Carabinieri Reali, das Feldkrankenhaus Nr. 40 mit fünfzig Betten sowie Sanitätspersonal, eine Einheit von Telegrafisten (un plotone Aviatori dell. 3. Battaglione Genio Telegrafisti) und eine Versorgungseinheit (45. Compagnia Sussistenza) nach Oberschlesien.39
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Z.B.: Schreiben de Marinis’ an Sforza vom 27. Februar 1921, in: ebd., S. 189. Schreiben de Marinis an Sforza vom 30. April 1921, in: ebd., S. 245ff. Schreiben De Marinis’ vom 27. Februar, 14. März und 19. Mai 1921, in: ebd., S. 189, 195, 368, hier aus dem zweiten Schreiben zitiert. Die neutrale Haltung, Schreiben Sforzas an Giolitti vom 31. Oktober 1920, in: ebd., S. 148f. Lenzi: L’Italia, S. 18. Lenzi: L’Italia, S. 32. Ebd., S. 33. Vecchio: Le missioni, S. 440. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 289ff. Ruschi: Non c’è, S. 48. Bollini, Giacomo: Corpo di spedizione italiano in Alta Slesia 1920–1922, Storia e memoria di Bologna, www.storiadibolognia.it, Letzter Zugriff am: 5. April 2021. Ruschi, Filippo: All’alba del peacekeeping: l’invio del contingente interalleato in Alta Slesia (1920–1922) tra storia e filosofia del diritto internazionale, in: Rassegna dell’Arma di Carabinieri 3 (2019), S. 242.
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Neun Eisenbahnzüge brachten die Truppen im Januar und Februar 1920 bis Cosel (Koźle), wo sich das Kommando niederließ.40 Am 15. Februar kam das 1. Bataillon des 135. Infanterieregiments „Campagna“ mit drei Kompanien in Leobschütz (Głubczyce) an. Einen Tag später folgte das Kommando unter Filippo Salvioni, das in Cosel seinen Sitz nahm. Danach trafen das 2. und 3. Bataillon sowie schließlich das 4. ein.41 Am 18. Februar 1920 erfolgte die Ablösung der in Cosel stationierten französischen durch 600 italienische Soldaten, vierzig Offiziere und zwei Kapläne.42 Sie übernahmen künftig auch die Kontrolle rund um Oberglogau (Głogówek).43 Die Truppen verteilten sich daneben auf die Städte Leobschütz, Ratibor (Racibórz), Rybnik und Pless (Pszczyna) sowie deren Umgebungen wie auch um Oberglogau und Groß Strehlitz (Strzelce Opolskie). Da die einzelnen Bataillone wechselten, waren sie zeitweise auch in anderen Orten stationiert, z.B. in Gogolin.44 Sie kamen unter anderem in Kasernen der Reichswehr unter, die Offiziere in Privatunterkünften.45 Die Männer waren alle um die zwanzig Jahre alt – Jahrgänge 1898 (im März 1921 zurückgekehrt und durch Rekruten des Jahrgangs 1901 ersetzt),46 1899 und 190047 – entsprechend unerfahren, nur unzureichend ausgebildet und aus verschiedenen Regimenten zusammengezogen, nach Schätzung eines sie begleitenden Priesters, Primo Mazzolari, zu siebzig Prozent Analphabeten,48 oft aus dem Süden Italiens. Ihre genaue Zahl ist schwer zu ermitteln, zumal es immer eine gewisse Fluktuation gab und auch die Angaben in der Literatur divergieren; von rund 2.000 bis 5.000 Soldaten und Militärangehörigen ist dort die Rede.49 Ein Blick in die 40 41 42 43 44
45 46 47 48 49
Kaczmarek, Ryszard: Powstania Śląskie 1919 – 1920 – 1921, Nieznana wojna polskoniemiecka, Kraków 2020, S. 236. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 278. Vecchio: Le missioni, S. 440. Bericht Oberleutnant Tissis vom 27. August 1919, in: Kiesewetter: Dokumente, S. 127ff. Vecchio: Le missioni, S. 440. Repartition des Controleurs de Cercle de Haute-Silesie, in: Archiwum Państwowe w Opolu (APOp), Naczelne Dowództwo Wojsk Sprzymierzonych na Górnym Śląsku (NDWS), Nr. 46, Sig. 50, Serie 2, Bl. 25. Karten der Italiener in: APOp, NDWS, Nr. 46, Sig. 4. Schreiben de Marinis’, in: Kiesewetter: Dokumente, S. 129. Ruschi: Non c’è, S. 48. Rosenbaum: Nie przybyliśmy, S. 165f. Vecchio: Le missioni, S. 440. Herde: Le truppe, S. 319. Bollini, Giacomo: Corpo di spedizione italiano in Alta Slesia 1920–1922, Storia e memoria di Bologna, www.storiadibolognia.it, Letzter Zugriff am: 5. April 2021. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 273. Eintrag vom 27. März 1920. Mazzolari, Primo: Diario, Bd. 2, 1916–1926, Bologna, 1999, S. 227. Diverse Angaben in: Kaczmarek: Powstania, S. 236. Eichner: Briten, S. 43, 51. Ruschi: Non c’è, S. 48. Vecchio: Mazzolari, S. 244. Vecchio: Le missioni, S. 440. De Vergottini: L’Italia
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wenigen Akten gibt Auskunft darüber, dass sich die Kontingentstärke im Laufe der zweieinhalb Jahre immer wieder veränderte: Im Januar 1921 waren 126 Offiziere in Oberschlesien, die Truppenstärke betrug 1.751 Mann,50 im August 1921 waren 138 italienische Offiziere im Abstimmungsgebiet und die Truppenstärke betrug 3.562 Mann – im besten moralischen und physischen Zustand, wie es hieß –51 und einen Monat später waren es bereits 168 Offiziere und 4.378 Soldaten.52 Weitere Zahlen sind noch zu prüfen. Zum Zeitpunkt des Plebiszits kam zwischen Dezember 1920 und März 1921 Verstärkung, 19 Offiziere und 1.853 Soldaten sowie im März 1921 zwei Bataillone des 32. Spezialinfanterieregiments „Siena“.53 Mitte September 1921 folgte je ein Bataillon der Brigade „Sicilia“, des zweiten Regiments „Granatieri di Sardegna“ und des elften Regiments Bersaglieri.54 Mit Oberst Filippo Salvioni stand den italienischen Truppen ein erfahrener Mann vor, der als äußerst diszipliniert sowie als treuer Verfechter des Mandats von Versailles galt.55 Das Kontingent zeichnete sich unter ihm durch Unparteilichkeit und Beständigkeit aus.56 Es nahm seinen Auftrag ernst, auch wenn Mazzolari nicht mit Kritik sparte und den Männern Ignoranz vorwarf: Hier nach Schlesien sind alle gekommen, um Abenteuer zu erleben. Neue Länder, deutsche Frauen. Wir sind die Chefs und wir werden die Eroberer sein.57
50 51 52 53 54 55 56 57
e il plebiscito, S. 24. Böhler, Jochen: Civil War in Central Europe, 1918–1921, Oxford 2018, S. 108. Herde: Le truppe, S. 318. Artico, Davide: Wokół polityki włoskiej na Górnym Śląsku 1920–1922, in: Rosenbaum: Nie przybyliśmy, S. 95. Lenzi: L’Italia, S. 37f. Crociani, Il contingente, in: Missioni militari, S. 273, 279. Crociani, Il contingente, in: Storia Militare, S. 51, 54. Biagini, Antonello Folco, Einleitung zu: Lenzi: L’Italia, S. 11. Ruschi: All’alba, S. 242. Sierpowski, Stanisław: L’Italia e la ricostituzione del nuovo stato polacco 1915–1921, (Accademia Polacca delle Scienze, Biblioteca e centro di studi a Roma, Conferenze 78), Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1979, S. 30. Kiesewetter: Dokumente, S. 13. Situazione Generale delle Truppe, 12. Januar 1921, in: APOp, NDWS, Nr. 46, Sig. 4, Serie 1, Bl. 28. Elenco degli Ufficiali effettivi al Contingente Italiano in Alta Slesia alla data del 28 Agosto 1921, in: APOp, NDWS, Nr. 46, Sig. 9, Serie 1, Bl. 3, mit Datierung vom 23. Februar 1920, in: Kiesewetter: Dokumente, S. 125f. Elenco degli Ufficiali effettivi al Contingente Italiano in Alta Slesia alla data del 12 Settembre 1921, in: APOp, NDWS, Nr. 46, Sig. 9, Serie 1, Bl. 14. Schreiben Bonin Longares vom 17. Februar 1921, in: Kiesewetter: Dokumente, S. 176. Vecchio: Le missioni, S. 445. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 276. Bollini: Corpo di spedizione italiano. Ruschi: Non c’è, S. 58. Lenzi: L’Italia, S. 36. Eintrag vom 4. Juni 1920, Mazzolari, S. 267.
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Mazzolaris Tagebuch lässt erahnen, wie die Italiener Oberschlesien gesehen haben, welchen Eindruck das religiöse Zentrum der Oberschlesier, der St. Annaberg (Góra Św. Anny), auf sie gemacht hat: Das Sanktuarium hat nichts Bemerkenswertes. Es ist eine kleine Kirche mit einem einzigen Schiff und einem Innenhof mit Arkaden für das Atrium.58
Auch die Landschaft um Groß Strehlitz, Cosel und besonders Gleiwitz (Gliwice) gefiel ihm nicht: Nichts Bemerkenswertes, außer den großen Fabriken, die die Städte umgeben und ein schiffbarer Kanal, der dem Kohletransport über die Oder dient.59
Dagegen faszinierte ihn die Industrieregion sehr: Der Eindruck der Bergbauregion ist außerordentlich. Kilometer um Kilometer sieht man nichts anderes als Bergwerke und ihre ungeheuren Werkstätten, gekennzeichnet durch tausende immer rauchende Kamine, verbunden durch ein dichtes Eisenbahnnetz – vergleichbar mit den Venen einer Hand.60
Nicht nur die Fremdheit des Landes und der Sprache machten den Italienern zu schaffen, sondern auch zahlreiche andere Probleme. Die Offiziere konnten kein Deutsch, sodass ein Dolmetscher von Nöten war, der zwar Deutsch, aber kaum Italienisch beherrschte.61 Diese sprachlichen Probleme wiederum führten zu Missverständnissen mit den lokalen Behörden,62 auch wenn Salvioni die Kontakte als „buone“ oder „corrette“ beschrieb.63 Es fehlten Unteroffiziere und andere Befehlseinheiten.64 Auch Kleidung war nicht ausreichend vorhanden, für die LKW gab es keine Ersatzteile,65 die Nahrungsmittelvorräte 58 59 60 61 62 63 64 65
Eintrag vom 16. Mai 1920, Mazzolari, S. 259. Eintrag vom 10. Mai 1920, Mazzolari, S. 255. Eintrag vom 5. Juli 1920, Mazzolari, S. 276. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 274f. Crociani: Il contingente, in: Storia Militare, S. 51. Herde: Le truppe, S. 319. Vecchio, Le missioni, S. 441. Eintrag vom 19. Februar 1920. Mazzolari, S. 216. Crociani, in: Storia Militare, S. 51. Situazione Generale delle Truppe, 12. Janaur 1921, in: APOp, NDWS, Nr. 46, Sig. 4, Serie 1, Bl. 30. Informazioni dipendenti dal II° e III° ufficio, in: ebenda, Bl. 3f., 34ff. Lenzi: L’Italia, S. 36. Vecchio: Le missioni, S. 441. Herde: Le truppe, S. 319. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 274. Polnische Übersetzung: Kontyngent włoski na Górnym Śląsku (1920–1922), in: W obcym kraju, S. 253–277. Pupo, Raoul (Hg.): La vittoria senza pace, Le occupazioni militari italiane alla fine della Grande Guerra, Roma, Bari 2014, S. 219.
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gingen schnell zur Neige. Trotz Rationierung mussten die Italiener den Franzosen teilweise Nahrungsmittel abkaufen,66 um dem Mangel vor Ort Abhilfe zu schaffen, denn alle Waren stammten aus Italien oder aus Beständen der Alliierten. In ihrer Freizeit gingen die Soldaten in der Oder baden oder angelten, gaben in Gaststätten ihr Geld für Alkohol aus,67 wo es schon mal zu Schießereien mit den französischen Soldaten kam.68 Sie investierten aber noch in ganz andere Dinge, denn von Prostitution über amouröse Abenteuer bis hin zur großen Liebe scheint alles möglich gewesen zu sein. Mit den Folgen hatte auch Salvioni zu kämpfen, da sich Geschlechtskrankheiten, v.a. Syphillis, schnell ausbreiteten. Die Mehrheit der stationär behandelten Soldaten litt daran.69 Und obgleich die Italiener ein eigenes Feldkrankenhaus mitgebracht hatten, so wurden einige von ihnen auch in den lokalen Krankenhäusern behandelt oder in die Heimat zurückgebracht.70 Neben grippalen Infekten litten sie auch an weiteren, teils tödlichen Krankheiten.71 Mehr Männer verloren die Italiener aber in den Kämpfen, die die Abstimmung begleiteten, nicht nur in Czerwionka, sondern auch in anderen Orten,72 z.B. in Cosel,73 wo es ebenfalls zu heftigen Gefechten kam, weil die Italiener in ihrem Bemühen um den Schutz der Stadtbewohner nicht nur zu den Waffen griffen, sondern zu Fuß gegen die polnischen Angreifer vorgingen.74 Wie Guido Lombardi berichtet, dankten es ihnen die Bewohner der Stadt: Unsere Artilleristen bereiteten sich zum Schießen vor, umarmt und geküsst von den Frauen und den Alten aus Cosel.75
66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Z.B.: Schreiben Salvionis vom 6. Mai 1922 und dessen Abschrift, in: APOp, NDWS. Nr. 46, Sig. 228, Serie 4, Bl. 42f. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. S. 284. Herde: Le truppe, S. 325. Ein Fall ausführlich dokumentiert: Procès verbal de l’incident du 26 Janvier 1922, 20 Février 1922, in: APOp, Nr. 46, Sig. 61, Serie 2, Bl. 80f. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 284. Herde: Le truppe, S. 323f. Bericht Salvionis über Stand der Kranken aus dem Jahr 1922 in: APOp, NDWS, Sig. 131, Nr. 46, Serie 4. Herde: Le truppe, S. 323. Bericht über den Gesundheitszustand für den Monat Juli 1921, 1922 in: APOp, NDWS, Sig. 130, Nr. 46, Serie 4, Bl. 5. Z.B.: Eintrag vom 28. März und 7. Mai 1920. Mazzolari, S. 228, 255. Crociani: Il contingente, in: Missioni militari, S. 277. Crociani: Il contingente, in: Storia Militare, S. 53. Ruschi: Non c’è, S. 58. Lenzi: L’Italia, S. 37. Artico: Wokół polityki, S. 96. Zitiert nach: Vecchio: Le missioni, S. 452.
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Abb. 8.1
Friedhof für gefallene italienische Soldaten auf einem Feld in Czerwionka, Mai 1921 © Archivio Ufficio Storico Stato Maggiore Esercito, Fondo 694/184, Alta Slesia.
Die jungen Männer, die ihr Leben in den Kämpfen gelassen hatten, waren der erste und wichtigste Grund für eine Meinungsänderung unter den Italienern, sowohl bei Sforza,76 wie auch in der italienischen Öffentlichkeit.77 Was sich schon im Verlauf des zweiten Aufstandes abgezeichnet hatte, wurde nun umso deutlicher: Die Italiener konnten ihre neutrale Haltung nicht mehr stringent durchhalten. Die polnischsprachige und polnische Presse wetterte zunehmend gegen die Italiener und bezichtigte sie einer prodeutschen Haltung.78 Zudem entstand bei den Italienern der Eindruck, dass die Aufständischen nur dort einschritten, wo sie stationiert waren. So gaben sie mit den Ereignissen um den dritten Aufstand ihre Neutralität auf, was allerdings keinesfalls mit der Haltung der Franzosen zu vergleichen ist, da sich hinter dieser keine politische Motivation verbarg. Die Haltungsänderung war allein den Ereignissen geschuldet. 76 77 78
Kiesewetter: Dokumente, S. 76. Artico: Wokół polityki, S. 93. Herde: Le truppe, S. 321. Kiesewetter: Dokumente, S. 62f. Kiesewetter, Andreas: La diplomazia italiana e l’Alta Slesia (1919–1921), in: La conferenza di pace di Parigi fra ieri e domani, S. 360.
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Nichtsdestotrotz darf und muss der italienische Truppeneinsatz positiv bewertet werden, auch angesichts des am 10. Mai vekündeten Befehls von Oberstleutnant Sebastiano Visconti Prasca, „unter allen Umständen mit ruhiger und starker Seele die hohe Mission der Kultur und Ordnung zu vollenden, die das Vaterland uns anvertraut hat“79. Die Italienier nahmen ihre Aufgabe der Ordnungssicherung ernst, denn ihr Land verfolgte in Oberschlesien keinerlei politische, geopolitische oder strategische Ziele.
79
Zitiert nach: Crociani, Il contingente, in: Storia Militare, S. 54.
Der Heilige Stuhl und die Volksabstimmung in Oberschlesien Sascha Hinkel Kraft meiner „bischöflichen Autorität“ und „unter Approbation des Heiligen Stuhls […] wird es allen Priestern und Klerikern jedweder Nation und Sprache strengstens verboten, an einer politischen Demonstration teilzunehmen oder irgendwelche politischen oder anderen Reden zu halten ohne die ausdrückliche Erlaubnis des örtlichen zuständigen Pfarrers.“ Außerdem wird allen Geistlichen aus auswärtigen Diözesen „auf das strengste jedwede politische Agitation verboten“, ganz gleich, ob „sie mit oder ohne Zustimmung des Pfarrers“ geschieht. „Auf Übertretung eines jeden dieser beiden Verbote setze ich hiermit kraft bischöflicher Gewalt und in Kraft besonderer päpstlicher Autorisation die ipso facto eintretende Suspension.“1 Mit diesem Erlass vom 21. November 1920 griff der Breslauer Fürstbischof Adolf Kardinal Bertram in die Auseinandersetzung um die politische und kirchliche Zukunft Oberschlesiens vor dem Plebiszit ein. Von Polen aus wurde er dafür heftig getadelt. Diese Kritik traf auch den Heiligen Stuhl, mit dem der Kardinal den Schulterschluss gesucht hatte. Doch vertrat der Heilige Stuhl tatsächlich deutsche Positionen? Welche Rolle spielte er eigentlich in den Auseinandersetzungen um Oberschlesien und welche Leitlinien lagen seinem Handeln zugrunde? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, werden zuerst die kirchlichen Rahmenbedingungen in Oberschlesien kurz vorgestellt, bevor die Vorgeschichte skizziert wird, die zu dem zitierten Erlass geführt hat. Danach wird der Konflikt um den Erlass rekonstruiert, um anschließend Rückschlüsse über die Position des Heiligen Stuhls ziehen zu können. Die preußisch-protestantische „Ostmarkenpolitik“ zielte seit der Reichsgründung 1871 auf die Germanisierung der mehrheitlich polnischen Muttersprachler Oberschlesiens ab. Diese Maßnahmen führten zu dem geflügelten Wort „Germanisierung ist Protestantisierung“.2 1 Bertram, Adolf: Oberhirtliche Verordnung, betreffend die Haltung des Klerus im oberschlesischen Abstimmungsgebiet vom 21.11.1920, in: Marschall, Werner (Bearb.): Adolf Kardinal Bertram, Hirtenbriefe und Hirtenworte, Köln/Weimar/Wien 2000 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 30), Nr. 44, S. 181–183. 2 Vgl. zur Nationalitätenpolitik im Kaiserreich Broszat, Martin: 200 Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt am Main 21972, S. 129–172; Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953). Oberschlesien
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_010
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Während des Großen Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahmen die Spannungen um die Rolle der katholischen Kirche in Oberschlesien zu. Dort lebten ca. eine Million Katholiken, die ungefähr 98 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Oberschlesien gehörte kirchenrechtlich zum Fürstbistum Breslau, dem seit 1914 Adolf Bertram vorstand. Er arbeitete als „Staatsbischof“ eng mit den deutschen Regierungen zusammen und galt auf polnischer Seite als Germanisator.3 Das Deutsche Reich war nach dem Krieg außenpolitisch isoliert, suchte nach Verbündeten und setzte dabei auf den Heiligen Stuhl.4 Die polnische Republik befand sich in andauernden Konsolidierungskriegen im Osten wie im Westen und buhlte als katholische Nation ebenfalls um die Unterstützung des Heiligen Stuhls.5 Dieser wiederum hatte äußerst geringe Einflussmöglichkeiten auf die Weltpolitik, um seine politischen Ziele zu erreichen: zum einen die Lösung der Römischen Frage und zum anderen die Wiedererrichtung des zwischen den Weltkriegen (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 40), Düsseldorf 2002, S. 60–68, 80–82. 3 Vgl. Volk, Ludwig: Adolf Kardinal Bertram (1859–1945), in: Morsey, Rudolf (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Mainz 1973, S. 274–286; Hinkel, Sascha: Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik in Kaiserreich und Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 117), Paderborn u.a. 2010; ders.: „Je mehr nach Osten, desto tiefer die Kultur, das kann man ruhig behaupten …“ Adolf Kardinal Bertram und die Oberschlesienfrage, in: ChylewskaTölle, Aleksandra/Heidrich, Christian (Hg.): Mäander des Kulturtransfers. Polnischer und deutscher Katholizismus im 20. Jahrhundert (Thematicon, Bd. 22), Berlin 2014, S. 69–92; ders.: „… Es war nicht böse gemeint.“ Adolf Kardinal Bertram und Achille Ratti im Konflikt über die Oberschlesienfrage nach dem Ersten Weltkrieg, in: Scharf-Wrede, Thomas (Hg.): Adolf Kardinal Bertram (1859–1945). Sein Leben und Wirken, Regensburg/Hildesheim 2015, S. 157–166; ders.: Gefangen zwischen bischöflichem Amtsverständnis und staatskirchenrechtlichen Überzeugungen. Adolf Kardinal Bertram 1859–1945. Fürstbischof von Breslau 1914–1945, in: Zumholz, Maria Anna/Hirschfeld, Michael (Hg.): Zwischen Politik und Seelsorge. Katholische Bischöfe in der NS-Zeit, Münster 2018, S. 54–75. 4 Vgl. Stehlin, Stewart A.: Weimar and the Vatican 1919–1933. German-Vatican Relations in the Interwar Years, Princeton, New Jersey 1983; Samerski, Stefan: Deutschland und der Heilige Stuhl. Diplomatische Beziehungen 1920–1945, Münster 2019. 5 Vgl. Wilk, Stanisław: Die Warschauer Nuntien in den Jahren 1919 bis 1939, in: Wolf, Hubert (Hg.): Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland. Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem internationalen Vergleich (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 121), Paderborn 2012, S. 197–212; Pleas, Neal: Rome’s most faithful daughter. The Catholic Church and Independent Poland, 1919–1939, Athens 2009; Bull, Verena: „La missione e d’ordine puramente ecclesiastico“. Die Erfahrungen Achille Rattis als Nuntius in Warschau und ihre Auswirkungen auf die Politik Pius’ XI., in: Hirschfeld, Michael (Hg.): Die katholische Kirche in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg. Neuordnung der Staaten – Neuordnung der Seelsorge (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostmittelund Südosteuropas, Bd. 27), Münster 2020, S. 21–38.
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im Rahmen der italienischen Einigung untergegangenen Kirchenstaates.6 Dennoch konnte er seine nicht zu unterschätzende moralische Autorität einsetzen, die er infolge der gescheiterten Friedensinitiative von Papst Benedikt XV. im Jahr 1917 erlangt hatte.7 Die Vorgeschichte des eingangs zitierten Erlasses beginnt mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 25. Juni 1919.8 Am Folgetag erinnerte Bertram den Breslauer Diözesanklerus an seine wiederholten Aufforderungen, die Kanzel nicht für politische Zwecke zu instrumentalisieren, was vor allem durch polnische Kleriker in Oberschlesien geschah. Hinsichtlich seiner eigenen Auffassung zur politischen Zukunft Oberschlesiens im Deutschen Reich ließ Bertram allerdings keine Zweifel. Andere Meinungen zu dieser Frage ließe er selbstverständlich zu, doch „möge solche Äußerungsfreiheit auf beiden Seiten in aller Ruhe und strenger Sachlichkeit, ohne Aufstachelung nationalistischer Leidenschaften“ geschehen.9 Doch gerade auf diese nationalistische Leidenschaft setzte die nationalpolnische Bewegung. Ihre Politik zielte darauf ab, die bischöfliche Jurisdik tionsgewalt Bertrams, der in ihren Augen zu Recht als Hemmschuh galt, in Oberschlesien mit Hilfe des Heiligen Stuhls aufzuheben. So forderte der polnische Gesandte beim Heiligen Stuhl Jerzy Włodzimierz Kowalski im August 1919 die Ernennung eines unabhängigen Apostolischen Vikars für 6 Vgl. Rotte, Ralph: Die Außen- und Friedenspolitik des Heiligen Stuhls. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, S. 39–52. 7 Vgl. Steglich, Wolfgang (Hg.): Der Friedensappell Papst Benedikts XV. vom 1. August 1917 und die Mittelmächte. Diplomatische Aktenstücke des Deutschen Auswärtigen Amtes, des Bayerischen Staatsministeriums des Äußern, des Österreichisch-Ungarischen Ministeriums des Äußern und des Britischen Auswärtigen Amtes aus den Jahren 1915-–1922, Wiesbaden 1970; Wolf, Hubert: Der Papst als Mediator? Die Friedensinitiative Benedikts XV. von 1917 und Nuntius Pacelli, in: Althoff, Gerd (Hg.): Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011, S. 167–220; Hinkel, Sascha/Wolf, Hubert: Wider das „sinnlose Schlachten“. Die Friedensinitiative Benedikts XV. und der Münchner Nuntius Eugenio Pacelli, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 5/2018, S. 7–16; Hinkel, Sascha/ Richter, Elisabeth-Marie/Wolf, Hubert: Die Korrespondenz zwischen Nuntius Pacelli und Staatssekretär Gasparri zur Friedensinitiative Benedikts XV., in: Aschmann, Birgit/ Justenhoven, Heinz-Gerhard (Hg.): Dès le début. Die Friedensnote Papst Benedikts XV. von 1917, Paderborn 2019, S. 287–367. 8 Vgl. Hinkel, Sascha: Adolf Kardinal Bertram (wie Anm. 3), S. 153–190; Fattorini, Emma: Germania e Santa Sede. Le nunziature di Pacelli fra la Grande guerra e la Repubblica di Weimar, Bologna 1992, S. 231–264; Schulze, Thies: Katholischer Universalismus und Vaterlandsliebe. Nationalitätenkonflikte und globale Kirche in den Grenzregionen Ostoberschlesien und Elsass-Lothringen 1918–1939 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 138), Paderborn 2021, S. 39–47. 9 Bertram, Adolf: Kundgebung an den hochwürdigen Diözesanklerus vom 24.6.1919, in: Marschall (Bearb.): Bertram Hirtenbriefe (wie Anm. 1), Nr. 38, S. 151–153, hier 150, 152.
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das oberschlesische Abstimmungsgebiet.10 Der Fürstbischof wiederum versicherte dem Heiligen Stuhl durch Vermittlung des Münchener Nuntius Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., dass es keinen Grund für derartige Beschwerden gab. Sollte Rom der Forderung allerdings nachkommen, würde die Reichsregierung davon ausgehen müssen, dass sich die polnische Seite im Vatikan durchgesetzt hätte und dass die Katholiken Deutschlands nur noch als „une quantité négligeable“ angesehen werden würden.11 Der Heilige Stuhl war in Person von Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri zu einer Positionierung gezwungen – und stellte sich hinter Bertram. Würde er der Forderung Kowalskis nachkommen, so Gasparri, wäre „das Prinzip der Unparteilichkeit und der päpstlichen Unbefangenheit zugunsten Polens verletzt.“12 Der Kardinalstaatssekretär griff einen Kompromissvorschlag Bertrams auf und bot an, einen direkt vom Heiligen Stuhl abhängigen Apostolischen Administrator einzusetzen, der als fürstbischöflicher Delegat gleichzeitig Bertram unterstehen sollte, wodurch dessen bischöfliche Autorität gewahrt bliebe. Für dieses Amt schlug er den Auditor, also den stellvertretenden Nuntius der Warschauer Nuntiatur, Ermenegildo Pellegrinetti vor. Von diesem könne schließlich niemand behaupten, er wäre parteiisch. Damit gab sich die polnische Regierung allerdings nicht zufrieden. Bertram reiste anlässlich seiner Kardinalserhebung im Dezember 1919 nach Rom, wo er mit Kowalski einen Kompromiss aushandelte. Der Warschauer Nuntius Achille Ratti, der spätere Papst Pius XI., sollte gemeinsam mit Bertram darüber wachen, dass die Freiheit der Abstimmung in Oberschlesien nicht durch Geistliche beeinträchtigt würde. Der als polenfreundlich geltende Ratti sollte gleichsam als Gegengewicht zu dem als deutschfreundlich geltenden Bertram dienen. Dadurch würden die kirchliche Ordnung, die Autorität des Bischofs und die Unparteilichkeit des Heiligen Stuhls gewahrt.13 Doch Polen forderte mehr. Ratti sollte zum Oberkommissar für kirchliche Fragen mit den Rechten 10 11 12
13
Kowalski an Gasparri vom 11.8.1919; Archivio Storico della Segreteria di Stato – Sezione per i Rapporti con gli Stati (ASRS), II. periodo, AA.EE.SS., Germania, pos. 1738, fasc. 910, fol. 42r–45r, hier 43r. Denkschrift Bertrams vom 1.9.1919; Archivio Apostolico Vaticano (AAV), Arch. Nunz. Berlino 42, fasc. 5, fol. 10r–17r, hier 13r. „Mais il est évident que le Saint Siège en accueillant cette demande, s’il excluait la pression improbable de Breslau, favoriserait la pression polonaise, et par suite le principe d’impartialité et d’indifférence pontificale serait violé en faveur de la Pologne.“ Gasparri an Kowalski vom 13.10.1919 [Entwurf]; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, Pos. 1738, fasc. 911, fol. 29r-38v, hier 36r. Bertram an Gasparri vom 16.12.1919, in: Wilk, Stanisław (Hg.): Acta Nuntiaturae Polonae 57. Achille Ratti (1918–1921), (Institutum Historicum Polonicum Romae), Bd. 7, Rom 2003, Nr. 1489 Annexum, S. 259f. Vgl. auch Stehlin (wie Anm. 4), S. 106–108.
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eines Apostolischen Administrators ernannt werden und damit Bertram als Bischof ablösen.14 Der frisch gekürte Kardinal wies diese Forderung jedoch zurück und drohte, die preußische Regierung würde die Verhandlungen um ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich torpedieren, sollte sich der Heilige Stuhl darauf einlassen.15 Damit traf Bertram den Heiligen Stuhl an einem seiner Schwachpunkte. Schließlich stand der Abschluss eines Konkordats, durch das die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Deutschen Reich geregelt werden sollten, ganz oben auf der kirchenpolitischen römischen Agenda.16 Nun musste der Heilige Stuhl Stellung beziehen zwischen dem katholischen Polen und dem protestantischen Deutschland, ohne seine Unparteilichkeit aufzugeben. Auf der politischen Ebene stand die Römische Kurie dem Expansionsdrang der jungen polnischen Republik kritisch gegenüber und ermahnte Warschau zur friedlichen Konsolidierung der Staatsgrenzen, vor allem im Westen. Denn nach den Vorstellungen Roms sollte das Deutsche Reich trotz des verlorenen Krieges eine gewisse machtpolitische Stärke zurückerhalten, um einerseits einen weiteren revolutionären Umbruch und das Vorrücken des Kommunismus nach Mitteleuropa zu vermeiden und andererseits eine Hegemonie des laizistischen Frankreichs zu verhindern.17 Aufgrund dieses Standpunktes avancierte der Heilige Stuhl zum Interessenvertreter des Deutschen Reichs. Auf der innerkirchlichen Ebene bildete die traditionelle Leitlinie der Kurie, dass Verschiebungen von Diözesangrenzen erst nach der definitiven Fixierung der politischen Grenzen erfolgen sollten, die Grundlage für die Entscheidung, dem polnischen Druck nicht nachzugeben.18 Zwar ernannte Benedikt XV. Nuntius Ratti zum Oberkommissar für Oberschlesien, aber nicht zum 14 15 16
17 18
Kowalski an Gasparri vom 4.2.1920; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, pos. 1738, fasc. 912, fol. 2r–5r, hier 3r-4r. Bertram an Gasparri vom 25.2.1920; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, pos. 1738, fasc. 912, fol. 9r–14r, hier 11r. Vgl. Verhandlungen über ein Konkordat mit dem Deutschen Reich 1919–1922, in: Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917–1929), Schlagwort Nr. 24010, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/24010 (letzter Zugriff: 15.10.2021); Brechenmacher, Thomas (Hg.): Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 109), Paderborn u.a. 2007. Vgl. Stehlin (wie Anm. 4), S. 161–208; Schulze (wie Anm. 8), S. 335f. Vgl. Morozzo della Rocca, Roberto: Achille Ratti e la Polonia (1918–1921), in: Ratti, Achille: Pape Pie XI: Actes du colloque organisé par l’École française de Rome en collaboration avec l’Université de Lille III – Greco n° 2 du CNRS, l’Università degli studi di Milano, l’Università degli studi di Roma – „La Sapienza“, la Biblioteca Ambrosiane (Rome, 15–18 mars 1989) (Collection de l’École française de Rome, Bd. 223), Rom 1996, S. 94–122, hier 105f.; Stehlin (wie Anm. 4), S. 23, 41, 65, 108.
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Apostolischen Administrator.19 Er sollte, so Kardinalstaatssekretär Gasparri ausdrücklich, jedes Handeln vermeiden, das man als Bevorzugung der einen oder anderen Seite interpretieren konnte.20 Doch das war letztlich unmöglich. Einen zentralen Streitpunkt bildete die Frage, ob Bertram nach Oberschlesien einreisen durfte, um Firmungen vorzunehmen und damit eine der bischöflichen Kernaufgaben zu erfüllen – gleichzeitig würde er so demonstrieren, dass er weiterhin der zuständige Ortsbischof war. Die mittlerweile zuständige, französisch dominierte und polenfreundliche Interalliierte Kommission, welche die Freiheit der Volksabstimmung garantieren sollte, lehnte ab. Denn sie ging davon aus, dass Bertram für den Verbleib Oberschlesiens beim Deutschen Reich agitieren würde. Ratti schloss sich dieser Position an, weshalb Bertram ihm vorwarf, sich von polnischer Seite instrumentalisieren zu lassen. Darüber kam es zu einem heftigen Streit und dem persönlichen Bruch zwischen dem Breslauer Kardinal und dem Warschauer Nuntius.21 Benedikt XV. löste den Konflikt geschickt auf. Er wies Ratti an, eine Einreiseerlaubnis für Bertram nach Oberschlesien zu erwirken. Gleichzeitig forderte er Bertram dazu auf, die Opportunität einer solche Reise zu bedenken, womit dem Fürstbischof letztlich keine Wahl blieb und er nicht nach Oberschlesien fuhr. Mit diesem Manöver gelang es dem Heiligen Stuhl, seine Unparteilichkeit zu wahren, denn das bischöfliche Visitationsrecht blieb de jure bestehen, auch wenn Bertram es de facto nicht ausüben konnte. Parallel zu diesen Ereignissen bereitete Bertram einen entscheidenden Schlag gegen die politische Propaganda des nationalpolnischen Klerus in Oberschlesien vor. Auswärtige polnische Ordensgeistliche unterstützten den in der „Theologischen Sektion“ organisierten polnischen einheimischen Klerus, während sich der deutsche Klerus weitestgehend an die bisherigen Mahnungen Bertrams hielt und nicht politisch agitierte. Um die Politisierung des Klerus zu stoppen, verfügte Bertram seinen Erlass vom 21. November 1920. Da er damit rechnen musste, dass die „Theologische Sektion“ seine Anweisungen ignorieren würde, suchte er schon im Vorfeld die Unterstützung des Heiligen Stuhls. Er schilderte dem Papst die Lage in Oberschlesien in dramatischen Worten, denen zu Folge bolschewistische Revolution und Anarchie drohten. Mit dieser Begründung bat er darum, die politische Agitation des
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Gasparri an Kowalski vom 12.3.1920 [Entwurf]; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, Pos. 1738, fasc. 912, fol. 29r–32r. Gasparri an Ratti vom 15.3.1920, zit. nach Roberto Morozzo della Rocca (wie Anm. 18), S. 117, Anm. 40. Vgl. Hinkel: „… Es war nicht böse gemeint.“ (wie Anm. 3).
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Klerus stark einschränken zu dürfen.22 Der Münchener Nuntius Pacelli unterstützte Bertram und der Papst gab umgehend sein Einverständnis.23 Denn sollte sich Bertrams Prognose bewahrheiten, stand zu befürchten, dass die geregelte Seelsorge zusammenbrach. Und so erließ Bertram „unter Approbation des Heiligen Stuhls“ das eingangs zitierte politische Betätigungsverbot für seinen Diözesanklerus, der dafür eine gesonderte Erlaubnis des zuständigen Pfarrers benötigte, und für auswärtige Geistliche, hier ohne Ausnahme. Dieses Verbot traf die nationalpolnische Propaganda hart, denn die polnische Geistlichkeit stellte, so Guido Hitze, „die einzige nennenswerte Verkörperung polnisch orientierter Eliten in Oberschlesien“ dar.24 Aus nationalpolnischer Perspektive überraschte ein solcher Schritt Bertrams nicht, schließlich galt er schon seit Jahren als Germanisator. Doch dass der Heilige Stuhl ein solches Verbot unterstützte, war schwer zu glauben. Der polnische Episkopat bezichtigte den Breslauer Kardinal sogar öffentlich der Lüge. Er führte an, der Erlass sei ungerecht, da 75 Prozent der oberschlesischen Pfarrer Deutsche seien, die nun mit Hilfe des Erlasses die überwiegend polnischen Kapläne aus nationalen Gründen an der Ausübung ihrer Bürgerrechte hindern könnten.25 Der polnische Außenminister Eustachy Sapieha zog mit ähnlichen Äußerungen im Sejm nach,26 und der polnische Gesandte beim Heiligen Stuhl Kowalski forderte, das oberschlesische Plebiszitgebiet müsse endgültig einem Apostolischen Administrator übertragen werden. Schließlich habe Bertram seinen Erlass ohne Absprache mit dem eigentlich zuständigen kirchlichen Oberkommissar für Oberschlesien Ratti erlassen.27 Auf der anderen Seite hielt Bertram es „für die Aufgabe des Hl. Stuhls, ihn in Schutz zu nehmen.“28 Gegenüber Nuntius Pacelli versicherte
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Bertram an Pacelli vom 21.10.1920; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, Pos. 173, fasc. 918, fol. 23r–24v. Pacelli an Bertram vom 23.10.1920 [Entwurf]; AAV, Arch. Nunz. Berlino 42, fasc. 1, fol. 71r; Pacelli an Bertram vom 2.11.1920; Archiwum Archidiecezjalne we Wrocławiu (AAW), IA 25 o29. Vgl. Hitze (wie Anm. 2), S. 333. Vgl. Polnischer Episkopat an Benedikt XV. vom 30.11.1920, zitiert nach: Eine politische Erklärung, in: Schlesische Volkszeitung Nr. 604 vom 3.12.1920. Vgl. Was ist Wahrheit? Die Entscheidung Dr. Bertrams nicht vom Vatikan genehmigt, in: Oberschlesische Grenzzeitung Nr. 276 vom 5.12.1920. Kowalski an Gasparri vom 4.12.1920; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, pos. 1739, fasc. 919, fol. 35r–37r, hier 36r. Unsignierter Bericht eines Treffens mit Bertram vom 5.12.1920; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), I. 149, Politik 24, Abtretungs- und Grenzgebiete, Bd. 1.
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er: Der Erlass „ist gerecht, weil er für Deutsche und Polen ganz gleiche Norm gibt.“29 Der Heilige Stuhl sah sich erneut konträren Forderungen gegenübergestellt und suchte nach einem Weg, seine Unparteilichkeit zu wahren. Gasparri wies den Breslauer Kardinal zurecht, da er dessen Erlass prinzipiell zwar zugestimmt hatte, diesen jedoch nicht unter der Approbation des Heiligen Stuhls veröffentlicht sehen wollte. Außerdem habe man in Rom nicht gewusst, dass die Mehrheit der Ortspfarrer deutsch war und dass dies Anlass zur Kritik geben konnte. Nun sei „eine wahre Verärgerung von ganz Polen gegen den Heiligen Stuhl“ eingetreten und nicht nur gegen Bertram, warf Gasparri dem Kardinal vor.30 Als Lösung des Problems entsandte der Heilige Stuhl den Auditor der Wiener Nuntiatur, Giovanni Baptista Ogno Serra, als Kommissar für das oberschlesische Abstimmungsgebiet.31 Er erließ im Auftrag des Heiligen Stuhls ein Dekret, das allgemeiner gefasst war als dasjenige Bertrams und das die politische Tätigkeit aller Kleriker in Oberschlesien verbot.32 Damit korrigierte Rom die zentrale Schwäche von Bertrams Erlass und stellte tatsächlich alle Geistlichen auf eine Stufe, ganz gleich ob Pfarrer oder Kaplan, Deutscher oder Pole. Schließlich war der Kardinalstaatssekretär mit den beabsichtigten Konsequenzen des Erlasses, der Beschränkung der politischen Agitation durch Geistliche, einverstanden.33 Allerdings stellte sich der Heilige Stuhl öffentlich nicht mehr hinter Bertram, um keine weiteren Angriffe von polnischer Seite zu provozieren. Indem er Ogno Serra einsetzte, enthob der Heilige Stuhl Ratti indirekt seiner Funktion als Oberkommissar. Denn mit seinem Verhalten zeigte sich Benedikt XV. genauso wenig zufrieden wie mit dem Bertrams.34 Sowohl die deutsche als auch die polnische Regierung forderten aus ihrer jeweils nationalen Perspektive die Abberufung Rattis. Und tatsächlich beorderte der Papst ihn Anfang Dezember nach Italien zurück, wo er Erzbischof von Mailand wurde. 1922 wurde er zum Papst gewählt und gab fortan selbst die Leitlinien des Heiligen Stuhls vor.
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Bertram an Pacelli vom 2.12.1920; AAV, Arch Nunz. Berlino 42, fasc. 1, fol. 91r–v, hier 91r. Gasparri an Bertram vom 8.12.1920; AAW, IA 25 o30. Aktennotiz vom 11.12.1920; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., II. periodo, Germania, pos. 1739, fasc. 920, fol. 9r. Gasparri an Bertram vom 8.12.1920; AAW, IA 25 o30. Aktennotiz Gasparris [vom 9.12.1920]; ASRS, II. periodo, AA.EE.SS., Germania, pos. 1739, fasc. 919, fol. 41r–50v. Vgl. Morozzo della Rocca (wie Anm. 18), S. 119.
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Und welches Fazit erlauben nun diese Feststellungen zur Rolle des Heiligen Stuhls in Oberschlesien und über die Leitlinien seines Handelns? 1. Der Heilige Stuhl wurde wiederholt sowohl von polnischer als auch von deutscher Seite aufgefordert, im Oberschlesienkonflikt sowohl öffentlich als auch hinter den Kulissen zu intervenieren. Dabei arbeiteten die nationalpolnisch agitierenden oberschlesischen Geistlichen der „Theologischen Sektion“ genauso selbstverständlich mit der polnischen Regierung zusammen wie der deutsche Breslauer Fürstbischof Bertram mit den deutschen Regierungen. Beide Seiten zielten darauf ab, die moralische Autorität des Heiligen Stuhls für ihre Interessen zu nutzen. Dies offenbart Spannungen zwischen Zentrum und Peripherien, die zeigen, dass die Katholische Kirche trotz ihrer auf den Papst ausgerichteten hierarchischen Gliederung kein monolithischer „Block“ war. 2. „Cura animarum prima lex – das Aufrechterhalten der Seelsorge ist das oberste Gebot“. Dieser Maxime folgte der Heilige Stuhl auch in Oberschlesien. Eine geregelte Seelsorge war wiederum nur innerhalb gesicherter kirchlicher Strukturen möglich. Deshalb passte der Heilige Stuhl Diözesangrenzen prinzipiell nicht inmitten von politischen Auseinandersetzungen an, sondern erst nach deren Beruhigung. Daran hielt er sich auch in Oberschlesien. Wollte der Heilige Stuhl eine geregelte Seelsorge aufrechterhalten, musste er die bestehenden kirchlichen Strukturen bewahren, sodass Bertrams Juris diktionsgewalt nicht grundlos beschnitten werden konnte. Auch musste er die politische Betätigung der nationalpolnischen Geistlichen verbieten. Damit stellte er sich auf innerkirchlicher Ebene automatisch auf die Seite Bertrams und in politischer Hinsicht auf die des Deutschen Reiches. Allerdings durfte dabei in der Öffentlichkeit nicht – wie durch Bertrams Erlass geschehen – der Eindruck erweckt werden, als habe der Heilige Stuhl seine Unparteilichkeit aufgegeben. Während der Heilige Stuhl Bertram vorwarf, sich hinter seiner Autorität zu verstecken, verhielt er sich letztlich ganz ähnlich. Denn er wollte nicht, dass seine Unterstützung Bertrams öffentlich wurde, um dafür nicht selbst kritisiert zu werden. 3. Die zweite Leitlinie des Heiligen Stuhl bestand darin, seine Unparteilichkeit auch im Rahmen politischer Auseinandersetzungen zu wahren – zumindest dem Anspruch nach und gegenüber der Öffentlichkeit. Dann jedoch hätte er keine eigenen Interessen verfolgen dürfen, was in Oberschlesien jedoch durchaus der Fall war, da der Heilige Stuhl eine Hegemonialstellung des laizistischen Frankreichs in Europa verhindern wollte. Dazu musste das Deutsche Reich eine gewisse Machtposition erhalten. Um dies zu gewährleisten, musste der Expansionsdrang des katholischen Polens nach Westen eingedämmt werden, das dennoch ein Bollwerk gegen die Gefahren des russischen Bolschewismus im Osten sein sollte. Außerdem wollte der Heilige Stuhl den Einfluss des Katholizismus in Deutschland durch
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den Abschluss eines Konkordats stärken. Schließlich strebte er danach, die Neuordnung Europas dafür zu nutzen, die seit einem halben Jahrhundert offene Römische Frage zu regeln und endlich wieder einen eigenen Kirchenstaat zu erhalten. 4. Insgesamt wird Folgendes deutlich: Die Unparteilichkeit des Heiligen Stuhls in Oberschlesien war eine Fiktion, da zum einen die Seelsorge und zum anderen seine eigenen (kirchen-)politischen Interessen tangiert waren. Diese Erkenntnis gilt nicht nur für Oberschlesien, sondern letztlich für alle (kirchen-) politischen Auseinandersetzungen, in die der Heilige Stuhl verwickelt war und letztlich bis heute ist.
Der Standpunkt der Tschechoslowakei zum Plebiszit in Oberschlesien Piotr Pałys Der Friedensvertrag mit Deutschland sah vor, dass in Oberschlesien eine Volksabstimmung abgehalten werden sollte, bevor die Friedenskonferenz eine endgültige Entscheidung über die Zukunft des Landes treffen würde. Zur Durchführung des Plebiszits setzten die Großmächte eine Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission ein, die die Souveränität der deutschen Behörden über dieses Gebiet aussetzte. Die rechtliche Situation, in der sich Oberschlesien seinerzeit befand, ist vergleichbar mit der Situation von bis zum Friedensschluss durch feindliche Truppen besetzten Gebieten. Beide interessierten Parteien, Polen und Deutschland, entsandten Vertreter in die Kommission. Die Tschechoslowakei als dritter Nachbarstaat des Abstimmungsgebietes richtete nach dem Vorbild Polens ein Generalkonsulat in Oppeln (Opole) ein. Nach Angaben des Prager Außenministeriums sollte es sich dabei in erster Linie um eine Stelle handeln, welche die Aufgaben einer Passbehörde erfüllte und gleichzeitig die Entwicklungen im Abstimmungsgebiet überwachte. Der zum Generalkonsul ernannte Dr. Jiljí Pořízek bemühte sich dennoch darum, für das ihm unterstellte Amt den vollen Status einer diplomatischen Vertretung zu erhalten. Seine Bemühungen zeitigten Erfolg, und Prag notifizierte Pořízek bei der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission in Oberschlesien als offiziellen diplomatischen Vertreter. So wurden seine Berichte für die tschechoslowakische Regierung zu einer unentbehrlichen Informationsquelle über die Lage in Oberschlesien und zu einem der wichtigsten Instrumente für die Gestaltung ihrer Politik in dieser Frage. Die Unterlagen stellen eine derart wesentliche Quelle dar, dass es sich lohnt, das Bild von Oberschlesien, das sich aus diesen Archivalien ergibt, näher zu erörtern.
Oberschlesien in den Augen des Konsuls
Bei der Erörterung der in Oberschlesien vorherrschenden Nationalitätenverhältnisse betonte der Konsul in Oppeln die slawische Herkunft der Mehrheit der Einwohner der Region, was auch Studien deutschen Ursprungs bestätigten. Unter normalen Umständen hätten sich die in Schlesien ankommenden Deutschen mit der Zeit assimiliert. Aber die Tatsache, dass
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_011
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sie den Verwaltungsapparat bildeten und die Industrie, den Großgrundbesitz und den Handel kontrollierten, habe es ihnen ermöglicht – in Verbindung mit ihrem angeborenen Besitzdenken – das zahlenmäßig überlegene polnische Element zu dominieren. Die Germanisierung habe vor allem in den Städten großen Schaden angerichtet, wo es den Deutschen dank ihrer wirtschaftlichen Vorteile gelungen sei, die polnische Bevölkerung zu verdrängen oder sie sozial völlig zu marginalisieren. Viele Schilder über Geschäften und bei Dienstleistungen zeugten von den slawischen Wurzeln der Besitzer, die sich jedoch in der Regel ihrer Herkunft schämten. Bei den Beamten und Industriellen handelte es sich überwiegend um Neuankömmlinge aus dem Reich. Die Germanisierung stieß bei der Landbevölkerung auf Widerstand, obwohl sie auch dort Fortschritte machte. Wäre der Weltkonflikt nicht ausgebrochen, hätte die aus dem Norden kommende Germanisierungswelle das slawische Element vollständig ausgerottet. In Bezug auf die in der deutschen Presse verbreitete Information, dass rund 25 Prozent der bei der Volksabstimmung für Deutschland abgegebenen Stimmen von Wählern slawischer Herkunft stammten, betonte er, dass diese Information de facto die Angaben über die zahlenmäßige Überlegenheit des slawischen Elements bestätigte und gleichzeitig das Ausmaß der dort stattgefundenen Entnationalisierung deutlich machte. Eine traurige Bestätigung dieser Feststellung sei die Tatsache gewesen, dass drei Viertel der Namen der Toten und Verwundeten auf deutscher Seite, die während des Dritten Aufstandes in der Presse veröffentlicht wurden, einen slawischen Klang hatten und die prodeutsche Propaganda von den Renegaten Kurt Urbanek und Carl Ulitzka angeführt wurde. Den Hauptschauplatz in Sachen Entnationalisierungsmaschinerie bildete die Schule, in der ein Hass auf alles Polnische geweckt wurde. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielten auch der Militärdienst und die Aktivitäten zahlreicher deutscher Vereine. Nur vollständig Germanisierte konnten mit einer Anstellung im öffentlichen Dienst rechnen.1 Pořízek machte sich keine Illusionen darüber, dass die Tschechen an der Reihe sein würden, wenn es den Deutschen erst gelungen war, mit den Polen fertig zu werden.2 In seiner Beurteilung des deutschen Politikstils stellte er fest, dass den Deutschen Begriffe wie Moral oder Ehrlichkeit fremd waren und dass der Zweck die Mittel heiligte.3 Seiner Meinung nach schürte die 1 Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (weiter: AMZV), Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1921, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. 2 Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, Opolí dne 27.05.1921. 3 Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky Československé, v Opolí 26.03.1921.
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Abb. 10.1 Dr. Jiljí Pořízek, Generalkonsul der Tschechoslowakischen Republik in Oppeln. Fotografie von 1920. Sammlung d. Aut.
deutsche Propaganda im Abstimmungsgebiet einen fanatischen Hass gegen Franzosen und Polen – als Vorbote für einen zukünftigen Vergeltungskrieg. Der tschechoslowakische Konsul sagte daher voraus, dass Deutschland seine innere Zerrüttung schließlich überwinden und die Welt wieder herausfordern würde. Gleichzeitig warnte er davor, dass die neuen Kriegserfahrungen sie auf schmerzhafte Weise davon überzeugen würden: „Kein Baum wächst in den Himmel.“4
Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission
Nach Ansicht des Konsulats gab es unter den Mitgliedern der Kommission keine Differenzen über die Durchführung der Volksabstimmung, alle verhielten sich sowohl Polen als auch Deutschen gegenüber völlig korrekt. Pořízek hatte sogar den Eindruck, dass die Interalliierte Kommission in der ersten Phase ihrer Tätigkeit in ihrem Wunsch nach völliger Unparteilichkeit oft gegen die Polen stand. Dies galt insbesondere für die Franzosen. Die 4 Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921.
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vorherrschende überwältigende Dominanz des deutschen Elements in der Verwaltung auf allen Ebenen wurde ja schließlich nicht ausgeglichen. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission war nicht in der Lage, den gesamten im preußischen Geiste erzogenen Verwaltungsapparat zu ersetzen, auch wenn sie gemäß ihren Befugnissen die Entfernung einzelner kompromittierter Personen veranlasste.5 Trotzdem begegneten die Deutschen, die in den oberschlesischen Städten in der Mehrheit waren, ihr und insbesondere den Franzosen mit unverhohlener Feindseligkeit. Der Grund dafür bestand in dem Wunsch, gegenüber den Polen objektiv zu bleiben. Die Franzosen wurden also durch die Entwicklung der Ereignisse auf die polnische Seite gebracht. Nicht unbedeutend waren in diesem Zusammenhang auch die Bemühungen, sich von externen Informationsquellen unabhängig zu machen. Dies war vor allem das Verdienst von Henri Ponsot, dem Generalsekretär der Interalliierten Kommission, der für die gesamte Exekutivarbeit der Kommission verantwortlich war und jede freie Minute nutzte, um in Begleitung eines Dolmetschers durch Oberschlesien zu reisen. Seine Besuche überzeugten ihn vom polnischen Charakter des Landes. Infolgedessen begannen die Franzosen mit der Zeit, die polnische Position zu verteidigen. Die Engländer und Italiener verhielten sich genau entgegengesetzt. Ohne sich die Mühe zu machen, die psychologischen Hintergründe des Handelns beider Seiten zu ergründen, bildeten sie sich ihre Meinung hauptsächlich auf Basis der chauvinistischen deutschen Propaganda, der zufolge die Deutschen den barbarischen Slawen die Wohltaten ihrer Kultur gebracht hatten.6 Als es darum ging, auf der Grundlage der Ergebnisse der abgeschlossenen Volksabstimmung konkrete Vorschläge für die Aufteilung Oberschlesiens auszuarbeiten, wurden die Gräben innerhalb der Kommission deutlich. Damals postulierte Frankreich, dass Polen Gebiete mehr oder weniger bis zur späteren Korfanty-Linie zugestanden werden sollten. Im Gegensatz zu seinen französischen Kollegen stützte der britische Oberst Harold Percival seine Einschätzung der Lage in Oberschlesien ausschließlich auf deutsche Informationen. Er wiederum war die Quelle, auf die sich David Lloyd George bei seinen antipolnischen Reden zur oberschlesischen Frage berief. Pořízek, der mit den persönlichen Verhältnissen der handelnden Akteure gut vertraut war, sah den Grund für Percivals Haltung in dessen Studienzeit in Wien sowie seinen familiären Beziehungen zu österreichischen Deutschen. In der Beurteilung der Einstellungen der englischen Kommissionsmitarbeiter gegenüber der örtlichen 5 Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. 6 AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1920, Ministerstvu zahraničních věcí Č. S. R. v Praze, v Opolí 27.08.1920.
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Bevölkerung stellte der tschechoslowakische Konsul fest, dass die relativ zahlreichen Juden unter ihnen ausnahmslos eine antipolnische Haltung einnahmen. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass nicht alle Engländer, die sich in Oberschlesien aufhielten, die Ansichten von Oberst Percival teilten, da es unter ihnen auch Personen gab, die die polnische Seite bevorzugten oder eine gewisse Neutralität aufrechterhielten. Die antipolnische Haltung der Italiener erklärte der tschechoslowakische Konsul mit deren traditionellen prodeutschen Sympathien. Der herzliche Empfang der in Oberschlesien eintreffenden italienischen Truppen durch die deutsche Bevölkerung löste wiederum Misstrauen auf polnischer Seite aus. Mit der Zeit wurden die gegenseitigen Beziehungen immer feindseliger. Aber erst nach den Ereignissen des Dritten Aufstandes, bei dem eine Reihe italienischer Offiziere und Soldaten im Kampf mit den Aufständischen getötet wurden, versöhnten sich die Italiener vollständig mit den Deutschen, was Pořízek der polnischen Seite anlastete. Den italienischen Vertreter in der Kommission, General Alberto de Marinis, bezeichnete er hingegen als unparteiisch. Er sei bei der Grenzziehung Oberschlesiens nur den außenpolitischen Vorgaben seiner Regierung gefolgt.7 Ebenso wies er jedoch darauf hin, dass dieser zu Beginn des Dritten Aufstandes, als er den abwesenden General Henri Le Rond vertreten hatte, die Grenze zu Deutschland als Vergeltung für den Aufstand nicht geschlossen hatte. Auf diese Weise hatte er es den Deutschen ermöglicht, ihre eigenen Truppen sowie Waffen und Munition problemlos auf das Schlachtfeld zu verlegen.8
Der Abstimmungskampf
Bei der Analyse des Verlaufs des polnisch-deutschen Kampfes um Oberschlesien stellte Pořízek fest, dass die günstigsten Bedingungen für die Oberschlesier, sich für Polen zu entscheiden, unmittelbar nach dem Ende des Krieges bestanden hätten. Dies wurde durch eine Atmosphäre des Schocks nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Reiches sowie durch die Unsicherheit im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Schuldzuweisung an Deutschland als Verursacher des globalen Konflikts begünstigt.9 Die polnische Seite sollte diese Chance aufgrund ihrer riskanten Außenpolitik, ihrer 7 AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1921, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. 8 Ebenda, Řádná politická zpravá, Ministerstvu zahraničních věcí R Č S (politická sekce), v Opolí dne 01.08.1921. 9 Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Č.S.R., v Opolí 27.07.1921.
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wirtschaftlichen Desorganisation und vor allem ihrer Distanzierung von demokratischen Idealen, mit denen die Menschen in Oberschlesien erfüllt gewesen sein sollen, verspielen.10 Nach dem Plebiszit in Ermland und Masuren sagte der tschechoslowakische Konsul voraus, dass die Mehrheit der Stimmen für Deutschland oder eine Unabhängigkeit Oberschlesiens abgegeben werden würde. Neben dem Eindruck, den das Ergebnis der Abstimmung im Allensteiner Gebiet hinterließ, das vor allem dank der Unterstützung aus Berlin zustande gekommen war, war diese Überzeugung auch auf die Wirksamkeit der massiven deutschen Propaganda zurückzuführen, die vor allem darauf abzielte, den polnischen Einfluss zu schwächen.11 Entsprechende Aktivitäten wurden „meisterhaft“ von Berlin und Breslau (Wrocław) aus gelenkt, wobei dafür der gesamte oberschlesische Verwaltungsapparat zur Verfügung stand, der noch von einem gesamtdeutschen Geist aus der Kaiserzeit geprägt war. Die Situation in Oberschlesien wurde auch unmittelbar von den Ereignissen an der polnisch-russischen Kriegsfront beeinflusst. Vertrauliche deutschbolschewistische Verhandlungen waren in der oberschlesischen Hauptstadt kein Geheimnis. Als sich die Armee von Michail Tuchatschewski Warschau näherte, wurde ein Zusammenbruch der polnischen Bewegung erwartet. Auf deutscher Seite nahm das Ausmaß der Aggression, die sich auch gegen die Koalitionsstreitkräfte richtete, deutlich zu. Die von Berlin formell erklärte Neutralität veranlasste die Deutschen zu einem kurzen Generalstreik und zu dem Versuch, den Nachschub für die polnische Armee, der über das Gebiet der Volksabstimmung lief, sowie die französischen Transporte, die im Verdacht standen, Munition nach Polen zu bringen, zu stören. Bei dieser Gelegenheit kam es zu Zwischenfällen und Blutvergießen, und schließlich verlangten die Deutschen, dass die Entente-Garnisonen entwaffnet und abgezogen wurden. Die größten Zusammenstöße fanden in Kattowitz (Katowice) statt, wo der Angriff in der Hoffnung auf einen schnellen Fall der polnischen Hauptstadt mit größter Wucht erfolgte. Für den tschechoslowakischen Generalkonsul bestand kein Zweifel daran, dass die Schuld sowohl an den Zusammenstößen als auch am Ausbruch des polnischen Aufstandes bei der deutschen Seite zu suchen war, die in den ersten Tagen Herr der Lage wurde. Pořízek brachte die Wende des Geschehens mit dem Sieg bei Warschau in Verbindung, der es den Polen ermöglichte, eine erfolgreiche Verteidigungsaktion in Oberschlesien durchzuführen. Der tschechoslowakische Diplomat wies auf die verzerrten Informationen hin, welche die deutsche Propaganda über diese Ereignisse in die Welt 10 11
AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1920, Ministerstvu zahraničních věcí (polský referát) v Praze, v Opolí 08.07.1920. Ebenda, Ministerstvu zahraničních záležítostí (polský referát) v Praze, v Opolí 15.07.1920.
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setzte. Er selbst war jedoch nicht völlig frei von deren Einfluss. So übermittelte er beispielsweise die Information nach Prag, dass die von den Aufständischen eroberten Gebiete Oberschlesiens von der polnischen Armee besetzt worden waren, was auf die polnische Absicht hindeuten sollte, das Abstimmungsgebiet militärisch zu besetzen. Der Warschauer Sieg über die Bolschewiki und die Aktivitäten der Aufständischen gaben auch Anlass zu Gerüchten, dass Oberschlesien als Belohnung für die Zurückdrängung der Roten Armee ohne Volksabstimmung an Polen abgetreten werden sollte. Der Generalkonsul hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Deutschen im Falle einer Niederlage Warschaus mit Sicherheit versuchen würden, Oberschlesien unter dem Vorwand des Neutralitätsschutzes gewaltsam einzunehmen. In dieser Situation wären die Truppen der Entente nicht in der Lage gewesen, längeren Widerstand zu leisten.12 Für Pořízek bestand kein Zweifel daran, dass die Wende an der polnischbolschewistischen Front, die zum siegreichen Aufstand in Oberschlesien führte, die bisher siegessicheren Deutschen zum Abschluss eines Abkommens zwingen würde, das seiner Meinung nach ein polnisches Diktat darstellen musste. Wichtigster Punkt war die Auflösung der sogenannten „grünen“ Sicherheitspolizei, die sich aus ehemaligen Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren der deutschen Armee zusammensetzte, sowie damit verbunden der Aufbau einer neuen Polizei, deren Mitglieder zur Hälfte aus von der polnischen Seite benannten Funktionären bestehen sollten. In diesem Zusammenhang sah er die Zerstörung des polnischen und des französischen Konsulats in Breslau als Ausdruck der Frustration über diese Misserfolge. Der für Deutschland ungünstige Verlauf der Ereignisse zu diesem Zeitpunkt führte auch zu Zusagen, Oberschlesien den Status eines Freistaates zu gewähren, als Reaktion auf die Erklärungen Warschaus, diesem Bezirk Autonomie zuzugestehen.13 Der Abstimmungskampf wurde sowohl von der Berliner Regierung als auch mittels privatem Kapital uneingeschränkt unterstützt. Nach Angaben des Konsulats habe die oberschlesische Propaganda Deutschland sogar mehrere Milliarden Mark gekostet. Polen stellte ebenfalls beträchtliche Mittel für diesen Zweck bereit, allerdings nicht so viel wie sein Gegner. Darüber hinaus stand den Deutschen der gesamte lokale Verwaltungsapparat zur Verfügung. Schulen, Post- und Telegrafenämter, Steuer-, Land- und Straßenbehörden waren mit Beamten besetzt, die im Geiste Großdeutschlands erzogen worden waren und innerhalb und außerhalb der ihnen anvertrauten Verwaltungsstrukturen 12 13
Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Č. S. R. v Praze, v Opolí 27.08.1920. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí presidium v Praze – politická správa, v Opolí 13.09.1920.
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für die deutsche Option tätig waren. Die polnische Seite war lediglich in den paritätischen Ausschüssen breiter vertreten, welche die Volksabstimmung in bestimmten Orten vorbereiteten und die Unparteilichkeit dieser Vorbereitungen nach außen hin belegen sollten. Nach Ansicht des Konsuls waren diese Ausschüsse jedoch nur ein Feigenblatt, da eine faire Durchführung der Abstimmung unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich war.14 Angesichts des eindeutigen Vorteils der deutschen Seite, insbesondere im Hinblick auf die Eskalation des gegen die andere Seite gerichteten Terrors, ging Pořízek unmittelbar vor der Volksabstimmung davon aus, dass mehr als die Hälfte der Stimmen auf Deutschland entfallen würde. Bei der Analyse der Ergebnisse des Plebiszits von März 1921 wies er darauf hin, dass Faktoren wie die bereits erwähnte absolute Vorherrschaft der deutschen Seite auf allen Verwaltungsebenen und die Heterogenität der Meinungen innerhalb der Interalliierten Kommission, in der die Franzosen die Polen unterstützten, während die Engländer und Italiener ganz offensichtlich mit den Deutschen sympathisierten, entscheidend waren. Diese Spaltung hatte dazu geführt, dass nur eine kleine Anzahl polnischer Beamter in die lokale Verwaltung aufgenommen worden waren, und die Kommission hatte deren deutschfreundlichen Handlungen nichts Wirksames entgegenzusetzen. Die Entscheidungen vieler Wähler beeinflusste auch das von der deutschen Propaganda geprägte Bild des jungen polnischen Staates, dessen Hauptelement die Desorganisation der Wirtschaft war.15 Die Deutschen bemühten sich, die Gerüchte über die wirtschaftliche Misere Polens so weit wie möglich zu überspitzen. Gleichzeitig wurde alles getan, um die Probleme des östlichen Nachbarn im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zu maximieren. So war es beispielsweise ein offenes Geheimnis, dass die deutsche Zentralbank polnische Währung kaufte, um den Wechselkurs zum richtigen Zeitpunkt zu senken.16 Der deutsche Propagandaapparat hob auch die schlechten Beziehungen Polens zu seinen Nachbarn hervor und nutzte die Tatsache, dass in Polen die Wehrpflicht eingeführt worden war. Pořízek wiederum warf der polnischen Seite übertriebene territoriale Bestrebungen in verschiedenen Regionen vor, die es ihr nicht erlaubten, ihre Kräfte und Ressourcen in Oberschlesien zu konzentrieren.17 Er konstatierte 14 15 16 17
AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1921, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky v Praze – zpráva o hlásovaní lidu na Horním Slezsku, v Opolí dne 23.03.1921. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky Československé, v Opolí 26.03.1921. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky v Praze – zpráva o hlásovaní lidu na Horním Slezsku, v Opolí dne 23.03.1921.
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darüber hinaus, dass in einer Situation, in der die Bevölkerung slawischer Herkunft eine überwältigende Mehrheit darstellte, das Ergebnis der Volksabstimmung für Polen günstiger ausgefallen wäre, wenn sie sich in ähnlichem Umfang wie die Deutschen am Abstimmungskampf in Oberschlesien beteiligt hätten.18 Nach einer genaueren Betrachtung der Ergebnisse kam der tschechoslowakische Konsul jedoch zu dem Schluss, dass die polnische Niederlage in Wirklichkeit nicht so schwerwiegend gewesen ist. Im Industriegebiet, an dem beiden Seiten am meisten gelegen war, hatte die Bevölkerung mit Ausnahme der städtischen Zentren für Polen gestimmt. In diesem Fall bildete die Nähe der Grenze des wiedergeborenen Staates, die es den Polen ermöglichte, ihre Anstrengungen auf dieses Gebiet zu konzentrieren, den entscheidenden Faktor und damit den Ausschlag zu ihren Gunsten. Der Friedensvertrag verbot es den Regierungen der betroffenen Staaten, die Abstimmung in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Doch sowohl Warschau als auch Berlin nahmen davon kaum Notiz. Beide Seiten beteiligten sich aktiv am Abstimmungskampf, und laut Pořízek ist es genau diese Einmischung gewesen, die zum Dritten Schlesischen Aufstand geführt hatte, den er nach den Autonomisten als Bürgerkrieg bezeichnete.19 Der Beginn der Kämpfe kam für die tschechoslowakische konsularische Vertretung in Oppeln völlig überraschend. Unmittelbar nach der Volksabstimmung war der Konsul davon überzeugt gewesen, dass der Verwaltungs- und Militärapparat der Entente die Lage in Oberschlesien unter Kontrolle hatte und dass es unwahrscheinlich war, dass sich eine der Parteien angesichts eines ungünstigen Ergebnisses zu gewaltsamen Maßnahmen entschließen und damit ihre Position gegenüber der Interalliierten Kommission und der Entente verschlechtern würde.20 Aufgrund der vorübergehenden Einstellung des Druckes von Presseerzeugnissen, die für Pořízek neben den persönlichen Kontakten zu den Mitgliedern der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission die wichtigste Informationsquelle darstellten, konnte er anfangs nicht einmal annähernd das Ausmaß der Ereignisse erkennen. Die umfassende militärische Aktion zur Kappung der Kommunikationsverbindungen, mit denen der Aufstand begonnen hatte, beeindruckte ihn jedoch sehr.21 Pořízek zufolge kam der Ausbruch des Dritten Aufstandes auch für die Franzosen überraschend, die jedoch ein größeres Massaker hatten verhindern 18 19 20 21
Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky Československé, v Opolí 26.03.1921. Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky Československé, v Opolí 26.03.1921. Ebenda, Politická situace v Hor. Slezsku, Ministerstvu zahraničních věcí Československé republiky, v Opolí dne 04.05.1921.
Die Tschechoslowakei und die Volksabstimmung in Oberschlesien 143
können, um den Deutschen keinen Vorwand zu liefern, um mit Zustimmung Englands ihre Truppen in das Abstimmungsgebiet einzuführen.22 Als er dem Prager Außenministerium mitteilte, dass der Aufstand beendet sei, erklärte er unmissverständlich, dass Frankreich diesen passiv unterstützt hatte und dass er so aufgelöst worden war, dass er jederzeit wiederaufgenommen werden konnte. Damals dämmerte ihm schon, dass der Aufstand für Frankreich ein bequemer Vorwand für eine mögliche Sanktion gegen Deutschland gewesen sein könnte. Aus diesem Grund bezweifelte er zu Recht, dass die Franzosen einem Vorschlag zustimmen würden, die unbestritten deutschen und polnischen Gebiete sofort an beide Seiten abzutreten und nur das am meisten umstrittene Industriegebiet unter der Kontrolle der Interalliierten Kommission zu belassen, da dies die Notwendigkeit der Entsendung zusätzlicher Truppen nach Oberschlesien infrage stellen würde, wie sie damals von Paris befürwortet wurde. Der tschechoslowakische diplomatische Vertreter in Oppeln vermutete, dass der Inhalt sowohl des anglo-italienischen als auch des französischen Vorschlags für die Aufteilung des Plebiszitgebietes beiden Seiten bereits bekannt gewesen ist, als der Vorsitzende der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission, General Le Rond, zu Konsultationen nach Paris reiste, und dass dieses Wissen der Hauptfaktor gewesen ist, der Korfanty dazu bewegt hatte, einen Aufstand loszuschlagen. Der tschechoslowakische Diplomat maß der Information über die demonstrative Bloßstellung Korfantys vonseiten Warschaus durch dessen Entlassung aus dem Amt des Plebiszitkommissars zu Recht keine große Bedeutung bei. Gleichzeitig verglich er Korfanty mit Gabriele ďAnnunzio, der ein halbes Jahr zuvor in Dalmatien willkürlich gehandelt haben soll. Er ging davon aus, dass Korfanty auf eigene Faust handelte, sich aber ähnlich wie ďAnnunzio der Unterstützung seiner Regierung sicher war – wie sein italienisches Äquivalent wollte er die Entente vor vollendete Tatsachen stellen. Die schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse der ersten Maitage 1921 sah Pořízek als eines der Symptome der Krise, in der sich das siegreiche Lager befand. Er befürchtete, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Alliierten in der oberschlesischen Frage sowohl innerhalb der Interalliierten Kommission als auch auf der Botschafterkonferenz zu weitreichenden Komplikationen führen und sogar den Beginn eines neuen bewaffneten Konflikts darstellen konnten. Er schlug daher vor, dass die Tschechoslowakei, bevor sie
22
Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921.
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durch den Lauf der Ereignisse gezwungen wurde, ihre Neutralität aufzugeben, selbst die Initiative zur Vermittlung in der oberschlesischen Frage ergriff.23 Einige Wochen nach Ausbruch der Kämpfe betonte der tschechoslowakische Konsul die offizielle Zurückhaltung der Berliner Regierung, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass diese die Verantwortung für die in Oberschlesien kämpfenden deutschen Verbände ablehnte. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass die Organisation und Bewaffnung einer so großen Anzahl von Truppen ohne die Zustimmung und Unterstützung der Berliner und Münchner Behörden nicht möglich gewesen wäre. Seiner Meinung nach hätten die Deutschen eine weitere Eskalation des Konflikts begrüßt, in der Hoffnung, dass dies England dazu veranlasst hätte, reguläre deutsche Truppen für Oberschlesien zu mobilisieren.24 Die Entwaffnung und Auflösung des Selbstschutzes nach dem Ende der Feindseligkeiten hielt er jedoch für eine Täuschung, da seine Mitglieder Oberschlesien nicht verlassen hatten und de facto in Kampfbereitschaft blieben. Er warnte daher davor, dass der Selbstschutz die Interalliierte Kommission und ihre Truppen in den Gebieten mit deutscher Mehrheit im Falle einer eindeutig zugunsten Polens ausfallenden Entscheidung in eine sehr gefährliche Lage bringen konnte.25 Die polnische Militäraktion, die in einem der Konsulatsberichte als „Korfanty-Putsch“ bezeichnet wird und die eine Manifestation des Widerstandes gegen die Haltung Englands und Italiens in der oberschlesischen Frage war, wurde von diesen Regierungen zwangsläufig mit Missbilligung aufgenommen. Die Bemühungen der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission, die Situation unter Kontrolle zu bringen, wurden zwar gewürdigt, jedoch stellte man auch fest, dass in Oberschlesien in Wirklichkeit seit dem 2. Mai 1921 das Kriegsrecht herrschte und die Kämpfe vor Ort täglich neue Opfer forderten. Laut Pořízek sah die englische Öffentlichkeit, die sich aus den emotionalen einseitigen Berichten der deutschen Propaganda speiste, in dem Aufstand eine Revolte gegen die Entente und ihre gerechten Entscheidungen, woraufhin sie sich fast einhellig gegen die Polen wandte. In diesem Zusammenhang bezeichnete der tschechoslowakische Konsul den Korfanty-Aufstand als unglücklich und schädlich für die polnischen Interessen, da er keinen Zusammenhang mit den aktuellen Zielen der französischen Politik erkannte.26 23 24 25 26
Ebenda, Politická situace v Hor. Slezsku, Ministerstvu zahraničních věcí Československé republiky (politické oddĕlení), v Opolí dne 01.08.1921. Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. Ebenda, Řádná politická zpravá, Ministerstvu zahraničních věcí R Č S (politická sekce), v Opolí dne 01.08.1921. Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921.
Die Tschechoslowakei und die Volksabstimmung in Oberschlesien 145
Die Teilnahme tschechoslowakischer Staatsbürger an der Volksabstimmung
In der Zeit vor der Volksabstimmung war die tschechoslowakische Seite besonders besorgt über die von den Vereinigten Verbänden Heimattreuer Oberschlesier in der Region Hultschin (Hlučín) verbreitete Plebiszitpropaganda zugunsten Deutschlands. Laut Pořízek richtete sie sich gegen die Souveränität des Staates und trug zur Stärkung der antitschechoslowakischen Stimmung unter den örtlichen Mährern bei. Außerdem konnte deren Duldung die Tschechoslowakei dem Vorwurf aussetzen, die Grundsätze der Neutralität zu verletzen. Ein weiteres wichtiges Problem stellte die Frage der Teilnahme der in der Tschechoslowakei lebenden ehemaligen deutschen Staatsbürger an der bevorstehenden Volksabstimmung dar. Die Tschechoslowakei nahm in dieser Frage eine stark ablehnende Haltung ein. Es wurde argumentiert, dass die Einwohner des Deutschen Reiches, die in den der Tschechoslowakei zugewiesenen Gebieten wohnten, gemäß Artikel 84 des Friedensvertrages das Recht auf eine tschechoslowakische Staatsangehörigkeit hatten und gleichzeitig die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Folglich konnte Artikel 1 der Volksabstimmungsordnung, der Personen, die mindestens seit dem 1. Januar 1904 im Abstimmungsgebiet wohnten, das Wahlrecht einräumte, in Bezug auf Personen, die in den der Tschechoslowakei zugesprochenen Gebieten geboren oder aufgrund des genannten Artikels des Friedensvertrages tschechoslowakische Staatsbürger geworden sind, keine Anwendung finden. Da jedoch in Artikel 4b des Anhangs zu Artikel 88 des Versailler Vertrages und in Artikel 1b des Reglements zur Durchführung der Volksabstimmung die Staatsangehörigkeit nicht erwähnt wurde und die Ausübung des Wahlrechts darin an den Geburts- und Wohnort geknüpft war, waren auf tschechoslowakischer Seite einige Fragen offen. Sie betrafen die Hultschiner, die gemäß Artikel 85 des Friedensvertrages das Recht hatten, ihre Staatsangehörigkeit noch innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages zu wählen, die Tschechen – deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Oberschlesien – und vor allem die ehemaligen deutschen Staatsangehörigen, die damals bereits tschechoslowakisch waren, im Abstimmungsgebiet geboren sind und derzeit auf dem Gebiet der Tschechoslowakischen Republik wohnten. Nach Ansicht des Generalkonsuls in Oppeln, der im Namen der Prager Regierung handelte, sollten tschechoslowakische Bürger, die das domovské právo in einer der Gemeinden auf tschechoslowakischem Gebiet erworben hatten und im Abstimmungsgebiet geboren waren, kein Wahlrecht erhalten. Nach Ansicht der tschechoslowakischen Behörden kam ihre Teilnahme an der Volksabstimmung der Ausübung des in Artikel 84 vorgesehenen Wahlrechts
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gleich. Nach der von Pořízek vertretenen Auslegung konnten diese Personen daher nur für Deutschland stimmen. Durch die Ausübung dieses Rechts würden sie sich letztendlich für eine bestimmte Staatsangehörigkeit entscheiden müssen und dann innerhalb der nächsten zwölf Monate in das Land ihrer Wahl ziehen.27 Im März 1921 intervenierte Hans Adolf von Moltke, Vertreter des deutschen Außenministeriums in der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission, beim Konsul in der Frage der Zulassung von Personen, die in der Tschechoslowakei wohnten und im Abstimmungsgebiet geboren waren, zur Teilnahme an der Volksabstimmung. Er beschuldigte die tschechoslowakischen Behörden, die Teilnahme dieser Personen am Plebiszit zu behindern. In seiner Antwort wiederholte der tschechoslowakische Konsul die oben erwähnte Argumentation, die bereits in einem Schreiben an die Interalliierte Regierungsund Plebiszitkommission vom 7. Januar 1921 und in der Stellungnahme des tschechoslowakischen Außenministeriums vom 18. Februar 1921 dargelegt worden war. Der deutsche Diplomat wies seinerseits darauf hin, dass weder im Friedensvertrag noch in den Vorschriften über die Volksabstimmung die Staatsangehörigkeit erwähnt wurde und somit alle Personen, die in dem von der Volksabstimmung betroffenen Gebiet geboren waren, das Wahlrecht hatten. Er erklärte auch, dass diese Ansicht von allen Vertretern der Großmächte bei der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission geteilt wurde. Die beiden Diplomaten blieben bei ihrer konträren Auffassung, willigten jedoch ein, die Zweifel am Wahlrecht von der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission ausräumen zu lassen. Zugleich bat von Moltke Pořízek, der tschechoslowakischen Regierung die Bitte der deutschen Seite zu übermitteln, all jene, die ihre Stimmzettel bereits erhalten hatten, nicht an der Teilnahme an der Volksabstimmung zu hindern. Er argumentierte, die Ausstellung eines Stimmzettels sei gleichbedeutend mit der Anerkennung des Rechts auf Teilnahme an der Volksabstimmung durch die Interalliierte Kommission. Er wies dabei darauf hin, dass jeder Versuch, Menschen an der Reise in das Abstimmungsgebiet zu hindern, eine Verletzung des Neutralitätsprinzips bedeutete, das die Tschechoslowakei in der Oberschlesien-Frage erklärt hatte. Der tschechoslowakische Diplomat erklärte seinerseits, dass alle deutschen Staatsbürger mit Wohnsitz in der Tschechoslowakei, die die Bedingungen für die Teilnahme an der Volksabstimmung erfüllten, ohne Hindernisse nach Oberschlesien reisen konnten. Bezüglich der im umstrittenen Gebiet geborenen Personen, die eine andere als die polnische oder deutsche Staatsangehörigkeit erworben 27
Ebenda, À la Comission Interalliée de Gouvernement et de Plébiscite de Haute Silésie, Oppeln, le 7 févier 1921.
Die Tschechoslowakei und die Volksabstimmung in Oberschlesien 147
hatten, erklärte er, dass für die tschechoslowakische Regierung nur die schriftliche Auslegung der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission maßgeblich sein konnte. Sollte jedoch vor der Volksabstimmung keine solche Stellungnahme abgegeben werden, würde die tschechoslowakische Seite bei ihrem Standpunkt bleiben, dass die im Hultschiner Land wohnhaften Personen, die gemäß § 84 des Friedensvertrages die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erworben haben und im umstrittenen Gebiet geboren sind, nicht an der Volksabstimmung teilnehmen konnten. In dieser Situation würde die Verhinderung ihrer Teilnahme an der Abstimmung seiner Meinung nach nicht den Rahmen der von der Prager Regierung erklärten Neutralität sprengen.28 Schließlich erlaubte es der Botschafterrat auch Personen, die die ausländische Staatsbürgerschaft erworben hatten, in Oberschlesien zu wählen. Pořízek sah in dieser Entscheidung einen Verstoß gegen die allgemeine Intention des Instrumentariums der Volksabstimmung.29
Die Frage der Teilnahme der oberschlesischen Tschechen am Plebiszit
Schon bald nach der Eröffnung wandte sich das Konsulat den in Oberschlesien verstreut liegenden tschechischen Kolonien zu: Friedrichsgrätz (Bedřchův Hradec, Grodziec), Wilhelmshort (Vilem, Bzinica Nowa) südlich von Guttentag (Dobrodzień), Petersgrätz (Petrovice, Piotrówka) bei Groß Strehlitz (Strzelce Opolskie) und Sacken (Lubín, Lubień) am Rande Oberschlesiens. Mehrere tschechische Familien sollen auch in der Siedlung Gräfenort (Grotowice), heute ein Stadtteil von Oppeln, gelebt haben.30 Im Hinblick auf die bevorstehende Volksabstimmung interessierte sich auch das polnische Plebiszitkommissariat für eben diese tschechischen Kolonien. Da seine Propaganda entsprechende Kreise überhaupt nicht erreichte, bat Plebiszitkommissar Wojciech Korfanty Pořízek, Personen zu benennen, die in diesen Dörfern Treuhänder werden und andere davon überzeugen konnten, für Polen zu stimmen.31 Die tschechische Unterstützung im Kampf um Oberschlesien mit den Deutschen erschien dem polnischen Führer so 28 29 30 31
Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Č. S. R. (politické oddĕlení) v Praze, v Opoli dne 05.03.1921. Ebenda, Memorandum v hornoslezské otázce, v Opolí dne 27.05.1921. AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1920, Ministerstvu zahraničních věcí, presidiu, v Opolí 15.09.1920. Ebenda, Pismo Komisarza Plebiscytowego Wojciecha Korfantego do Konsula Generalnego Gilles – Poryżka, Bytom 03.12.1920 r.
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selbstverständlich, dass er sich nicht einmal um diplomatische Konventionen bemühte. Korfantys Auffassung wurde dadurch gestärkt, dass die Tschechoslowakei in einem engen Bündnis mit Frankreich stand, das die polnischen Bestrebungen in diesem Bereich unterstützte, vor allem aber durch den unzweifelhaften Vorteil, den Prag aus einem polnischen Sieg ziehen würde. Die tschechoslowakische Seite hatte jedoch nicht die Absicht, sich auf einer der beiden Seiten zu engagieren. Der Generalkonsul gab Korfanty eine ausweichende Antwort und versicherte ihm, er wolle bestmögliche Beziehungen zwischen den oberschlesischen Tschechen und ihren polnischen Nachbarn aufbauen. Unter Verweis auf die erklärte Neutralität der tschechoslowakischen Regierung gegenüber der Entente, Polen und Deutschland bestätigte er jedoch, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht versucht habe, seinen politischen Einfluss auf die Kolonien auszuweiten.32 Trotz der Tatsache, dass die Tschechoslowakei im Falle eines polnischen Sieges 394 km² des Leobschützer Kreises gewinnen würde, zeigte das Konsulat kein großes Interesse an den dort und in Ratibor (Racibórz) lebenden sogenannten Mährern. Dennoch wurde oft betont, dass sich die Oberschlesier sowohl polnischer als auch deutscher Herkunft von ihren Landsleuten aus anderen Regionen unterschieden und aufgrund ihrer sozialen Struktur, ihres Charakters und ihrer Fähigkeiten dem tschechischen Demokratentums näher standen, was vor allem auf die gemeinsame Geschichte bis 1742 zurückzuführen sei.33 Es wurde auf sprachliche Ähnlichkeiten hingewiesen, insbesondere mit den Bewohnern Mährens. Dem Konsul zufolge unterschied sich die Sprache der oberschlesischen Urbevölkerung von dem in Zentralpolen, Großpolen oder Kleinpolen gesprochenen Polnisch, und je näher man Richtung Grenze zur Tschechoslowakei kam, desto mehr wandelte sie sich zum schlesischmährischen Dialekt. Für den durchschnittlichen Tschechen war diese Sprache angeblich genauso verständlich wie das Slowakische. Er postulierte daher, dass diese Verbindungen durch geschickte politische Propaganda auf beiden Seiten der Grenze nach dem Plebiszit wiederbelebt werden sollten, unabhängig davon, wem das Land letztendlich gehören würde. Für den Fall, dass Oberschlesien bei Deutschland verblieb, sollte diese Maßnahme mit der Lausitzer Frage und der Kontrolle der feindlichen irredentistischen Propaganda verbunden werden.34 Im Falle einer Verwirklichung des Konzepts der Neutrali32 33 34
Ebenda, Pismo Generalnego Konsula Republiki Czechosłowackiej w Opolu Jiljía Pořízka do Komisarza Plebiscytowego Wojciecha Korfantego, Opole 07.12.1920 r. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí Republiky Československé (politický referát), v Opolí 08.05.1920. AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1921, Ministerstvu zahraničních věcí Československé republiky (politické oddĕlení), v Opolí 08.03.1921.
Die Tschechoslowakei und die Volksabstimmung in Oberschlesien 149
tät Oberschlesiens hielt er es jedoch für vorteilhafter, sogar auf einen Teil des der Tschechoslowakei versprochenen Gebiets von Leobschütz zu verzichten.35 Auch das Gebiet von Katscher (Ketř, Kietrz), das sogenannte „Kačersko“, das im Falle eines polnischen Sieges zur Tschechoslowakei gehören sollte, war für Pořízek von Anfang an nicht von besonderem Wert. Bei einer möglichen Entscheidung über die Aufteilung des Abstimmungsgebietes sprach er sich jedoch für eine energische Verteidigung dieser Bestrebungen aus.36 Der tschechoslowakische Konsul hielt die Option eines unabhängigen Oberschlesiens für die günstigste Lösung für die Tschechoslowakei. Bereits im Mai 1920 versuchte er, die Prager Zentrale von der Legitimität der inoffiziellen Unterstützung dieser Richtung zu überzeugen, in dem naiven Glauben, dass eine solche Lösung auch für die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission die naheliegende sein würde.37 Bei einer seiner ersten offiziellen Amtshandlungen hatte er den Eindruck gewonnen, dass die Entente, wie er es ausdrückte, „für die Unabhängigkeit Schlesiens eintrat“. Gleichzeitig wies er auf die wachsende Bedeutung der von den deutschen Behörden unterstützten oberschlesischen Unabhängigkeitsbewegung hin, die seiner Meinung nach die Unterstützung der Mehrheit der einheimischen Bevölkerung gewinnen würde. Zugleich forderte er Prag auf, diese Bewegung nicht zu unterschätzen und zu versuchen, ihre endgültige Form zu beeinflussen, denn wenn eine gütliche Einigung in Oberschlesien erreicht werden sollte, wäre die einfachste und vernünftigste Lösung für diese komplexe Frage die Unabhängigkeit Oberschlesiens unter dem Schutz des Völkerbundes. Eine solche hätte seiner Auffassung nach die Art und Weise, wie die Frage des Teschener Schlesiens gelöst werden konnte, entscheidend beeinflusst, dessen Schicksal ähnlich wie in Oberschlesien durch eine Volksabstimmung entschieden werden sollte, deren Ergebnis Pořízek offensichtlich fürchtete. Deshalb war er der Meinung, dass die Entscheidung, das Plebiszit aufzugeben und Oberschlesien als neutral einzustufen, zu analogen Lösungen im Teschener Schlesien führen konnte, die die Aufrechterhaltung des für die Tschechoslowakei günstigen Status quo ermöglichen würden.38
35 36 37 38
AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1920, Ministerstvu zahraničních věcí Československé republiky, politickému oddĕlení, v Opolí 07.12.1920. AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1921, Ministerstvu zahraničních věcí Československé republiky (politické oddĕlení), v Opolí 28.02.1921. AMZV, Konsulát Československé republiky v Opolí – zprávy politické 1920, Ministerstvu zahraničních věcí (polský referát), v Praze, v Opoli 18.06.1920. Ebenda, Ministerstvu zahraničních věcí (polský referát) v Praze, v Opolí 08.07.1920.
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Fazit Die tschechoslowakische Regierung nahm in der oberschlesischen Frage eine neutrale Haltung ein, da sie vor allem die Auswirkungen der Entwicklungen in diesem Gebiet auf die Teschen-Frage und die Entwicklung eines prodeutschen Irredentismus in der durch den Friedensvertrag gewonnenen Region Hultschin fürchtete. Die polnische Seite wiederum war davon überzeugt, dass sie trotz der Teschen-Frage, die die beiden Länder spaltete, auf die Unterstützung der Tschechoslowakei in Oberschlesien zählen konnte, da dies im Interesse Prags lag und die Neutralitätserklärungen von der Moldau aus rein verbaler Natur waren. Die Tschechoslowakei hatte indessen nicht die Absicht, ihre guten Beziehungen zu Berlin in irgendeiner Weise zu gefährden. Während seiner Mission in Oppeln verfolgte der Generalkonsul gegenüber Oberschlesien loyal die Linie des Prager Außenministeriums, indem er genau über das Wesen der antipolnischen Politik der deutschen Behörden berichtete und die lokalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen darstellte. In seinen Berichten machte er keinen Hehl aus seiner Überzeugung, dass die Bevölkerung der Region, sollte sie deutsch bleiben, innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig germanisiert sein würde. Seiner Meinung nach waren die wirtschaftliche Vorherrschaft und der Verbleib der Verwaltung in deutscher Hand ausschlaggebend für den Ausgang des Kampfes um Oberschlesien. Daher kam der Zweite Schlesische Aufstand für ihn äußerst überraschend. Der Ausbruch der Kämpfe im Mai 1921 war für ihn eine noch größere Überraschung. Er blieb objektiv gegenüber den Ereignissen, die sich vor seinen Augen abspielten, erkannte aber, dass es für die Tschechoslowakei sowohl politisch als auch wirtschaftlich von Nachteil sein würde, wenn Oberschlesien vollständig in deutscher Hand blieb. Dies bedeutete jedoch nicht, dass er die polnische Seite im Abstimmungskampf unterstützte. Er hielt die Schaffung eines unabhängigen oberschlesischen Staates aus tschechoslowakischer Sicht für am vorteilhaftesten, da dies für Prag seiner Meinung nach eine breite wirtschaftliche, kulturelle und politische Durchdringung ermöglichen konnte. In seiner Korrespondenz überzeugte er seine Vorgesetzten immer wieder davon, dieses Konzept zu unterstützen, stieß dabei aber auf wenig Verständnis. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Die Republik Polen und die Volksabstimmung in Oberschlesien Maciej Fic
Die Konzeption der Eingliederung Oberschlesiens nach Polen
Die Idee, Oberschlesien nach Polen einzugliedern, stammt von den polnischen Politikern der Nationaldemokratie, die als Kriterium nicht nur die Grenzen der Republik Polen von 1772, sondern auch die Besiedlung durch dichte polnischsprachige Bevölkerungsgruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansahen, die „die größte Dynamik“ zeigten. Bereits im März 1917 konkretisierte der Führer der Nationaldemokratie, Roman Dmowski, in seiner „Denkschrift über das Territorium des polnischen Staates“ seine territorialen Vorstellungen, indem er unter anderem schrieb, dass „das wünschenswerteste Territorium des zukünftigen polnischen Staates“ folgende Gebiete umfassen sollte: „1) das österreichische Polen – Galizien und die Hälfte von Österreichisch-Schlesien (Teschen); 2) das russische Polen – das Königreich Polen und die Gouvernements Kovno, Wilna (Vilnius, Wilno), Grodno, Teile von Minsk und Wolhynien; 3) das deutsche Polen – die historischen Gebiete von Posen (Poznań) und Westpreußen mit Danzig (Gdańsk); und schließlich auch Oberschlesien und den südlichen Gürtel von Ostpreußen“.1 Die Forderung, Oberschlesien an Polen anzugliedern, wurde erstmals von dem Christdemokraten Wojciech Korfanty öffentlich erhoben, der 1903 seine Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter aufnahm. Nach sechsjähriger Unterbrechung saß er im Juni 1918 erneut im Parlament, und am 25. Oktober 1918 wies er in seiner letzten Rede im Deutschen Reichstag darauf hin, dass die deutsche Regierung, wenn sie die auf den 14 Punkten von Thomas W. Wilson basierenden Friedensbedingungen akzeptierte, die Ansprüche des wiedergeborenen Polens auf die früher zu Deutschland gehörenden Gebiete berücksichtigen musste. Einerseits verurteilte er den preußischen Staat und seine bisherige Politik, andererseits wies er auf die Bedeutung des zivilisatorischen * Dem Thema der oberschlesischen Volksabstimmung hat der Autor ein eigenes Werk gewidmet – vgl. Fic, Maciej: Plebiscyt górnośląski 20 marca 1921 roku. Najbardziej demokratyczna forma wyboru?, Warszawa 2022. 1 Vgl. Wapiński, Roman: Historia polskiej myśli politycznej XIX i XX wieku, Gdańsk 1997, S. 108, 153.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_012
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Fortschritts der Deutschen hin. Er bezog sich auf die frühere Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten und Journalisten Georg Ledebour, der seine eigene Vorstellung von dem Gebiet, das zu Polen gehören sollte, dargelegt hatte. In seiner Ansprache erwähnte Korfanty unter anderem: „Ich bestätige seine Angaben und erkläre, dass wir Anspruch auf die polnischen Kreise Oberschlesiens, Mittelschlesiens – keinen deutschen Kreis! – haben, auf Posen, das polnische Westpreußen und die polnischen ostpreußischen Kreise.“ Im weiteren Verlauf seiner Rede sagte er zudem: „(…) Ich habe nicht die geringste Absicht, die Gefühle des deutschen Volkes zu verletzen, und ich glaube, dass unter den neuen Bedingungen die Forderung nach einer Abtrennung der polnischen Gebiete vom Reich die deutschen Gefühle nicht verletzen kann. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass wir Polen seit Anbeginn der Existenz des Parlaments, seit dem Moment, in dem wir diesen Saal betreten haben, immer als Abgeordnete der gesamten polnischen Nation behandelt wurden. Und genau das sind wir auch heute.“2
Die polnische Seite angesichts der Beschlüsse der Pariser Konferenz
Die wichtigsten Vertreter Polens auf der Pariser Konferenz waren der Ministerpräsident Ignacy Jan Paderewski, der Vorsitzende des Polnischen Nationalkomitees Roman Dmowski und Władysław Grabski, der sich auf wirtschaftliche Fragen spezialisiert hatte. Am 29. Januar 1919 nahm die polnische Delegation erstmals an den Besprechungen des Obersten Rates der Friedenskonferenz teil. In Reaktion auf die dort vom französischen Premierminister George Clemenceau gestellte Frage „Was ist mit Polen im Jahr 1919 gemeint, wenn es seit 1795 keine unabhängige Existenz mehr gehabt hat?“, bezog sich Dmowski auf die Vision der wiedergeborenen Republik, die weitgehend mit seinen früheren Postulaten übereinstimmte (Wiederherstellung der Grenzen des Staates von vor 1772, erweitert u.a. um den Regierungsbezirk Oppeln ohne die Landkreise Grottkau und Neisse und ohne den westlichen Teil der Landkreise Falkenberg O.S. und Neustadt O.S.). Die polnische Delegation begründete den Willen nach einer Eingliederung eines bedeutenden Teils von Oberschlesien mit dem Ergebnis der vom deutschen Staat vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchgeführten Volkszählungen (letztmals am 1. Dezember 1910), aus dem hervorging, dass in der Region eine polnischsprachige Mehrheit lebte.3
2 Korfanty, Wojciech: Przemówienia z lat 1904–1918, Katowice 2012, S. 102. 3 Vgl. Malec-Masnyk, Bożena: Plebiscyt na Górnym Śląsku. Opole 1991, S. 17.
Die Republik Polen und die Volksabstimmung in Oberschlesien
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Die Idee, Oberschlesien an Polen anzugliedern, wurde zunächst von den Konferenzgremien akzeptiert, unter anderem von der Kommission für polnische Angelegenheiten (Commision des affaires polonaises). Als der Oberste Rat der Friedenskonferenz am 4. Juni 1919 beschloss, die Frage der Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen durch eine Volksabstimmung zu regeln, versuchte die polnische Seite, die Konferenz davon abzubringen oder ein für Polen möglichst günstiges Abstimmungsmodell vorzuschlagen. Als der Oberste Rat Paderewski und Dmowski am 14. Juni 1919 empfing, wurde ihnen der Beschluss zur Durchführung einer Volksabstimmung mitgeteilt, sie durften lediglich Postulate zu dessen Umsetzung vorlegen. Dmowski forderte daraufhin, dass die deutsche Armee und die bisher vor Ort arbeitenden Beamten aus Oberschlesien abgezogen wurden und dass die Arbeit der neuen Kommission nicht nur von prodeutschen, sondern auch von propolnischen Oberschlesiern unterstützt wurde. Der Friedensvertrag mit Deutschland wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet. In der endgültigen Fassung sah Artikel 88 vor, dass die Bevölkerung durch die Teilnahme an einer Volksabstimmung ihren Willen zum Verbleib innerhalb der deutschen Grenzen oder zur Eingliederung in den wiedergeborenen polnischen Staat zum Ausdruck bringen sollte: „[In] dem Teil Oberschlesiens, der von den nachstehend beschriebenen Grenzen erfasst wird, werden die Einwohner aufgefordert, durch Abstimmung zu erklären, ob sie den Anschluss an Deutschland oder an Polen wünschen (…).“4 Zu genanntem Artikel gehörte auch ein Anhang, der sechs Punkte umfasste. Die wichtigsten betrafen die Teilnahme „alle[r] Personen ohne Unterschied des Geschlechts“, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, „im Abstimmungsgebiet geboren“ waren, „dort ihren Wohnsitz seit einem von der Kommission festzusetzenden, aber nicht nach dem 1. Januar 1919 liegenden Datum“ hatten „oder von den deutschen Behörden ausgewiesen“ worden waren, „ohne dort ihren Wohnsitz beibehalten zu haben“. Überdies betrafen sie die Auslegung der Volksabstimmung („Das Ergebnis der Abstimmung wird nach Gemeinden festgestellt, gemäß der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde.“) und die Methode der Grenzziehung (die Kommission sollte einen Vorschlag „über die als Grenze Deutschlands in Oberschlesien anzunehmende Linie“ machen, „bei dem sowohl der von den Einwohnern ausgedrückte Wunsch, wie auch die geographische und wirtschaftliche Lage der Ortschaften Berücksichtigung“ fanden.)5 Eine wichtige Bestimmung in Bezug 4 Siehe: Firich, Karol (Hg.): Polskość Górnego Śląska według urzędowych źródeł pruskich, a wyniki plebiscytu, Warszawa 1921, S. 26. 5 Vgl. Przewłocki, Jan: Międzysojusznicza Komisja Rządząca i Plebiscytowa na Górnym Śląsku w latach 1920–1922, Wrocław-Warszawa-Kraków 1970, S. 168–170; Firich: Polskość Górnego Śląska, S. 26–28.
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auf die Volksabstimmung blieb die Möglichkeit der Teilnahme von Personen, die in § 4b des Anhangs aufgeführt waren – sogenannte „Emigranten“ (wotantes / outvoters / „Auswärtige“ / „plebiscytowcy“). Dieser Eintrag wurde auf Ersuchen der polnischen Seite aufgenommen. Eugeniusz Romer, der Autor des „Geographischen und statistischen Atlasses von Polen“ und ein anerkanntes Mitglied der damaligen internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, gilt als Urheber dieser Idee. Der Leiter der Delegation der Republik Polen für Schlesien im Botschafterrat, Kazimierz Rakowski, bewertete die Position Romers in einem Schreiben so: „Er ist ein Mann von außerordentlichem Fleiß und großer Gelehrsamkeit, von großer intellektueller Beweglichkeit und ein glühender Patriot, aber leider lässt er sich sehr oft von seinem Temperament derart mitreißen, dass er auf dem Gebiet der Politik nicht in der Lage ist, die Folgen seines Handelns abzuschätzen. […] Professor Romer war es auch, der – wie Augenzeugen berichten – in der Sitzung der Friedensdelegation einen Änderungsantrag zu Artikel 88 über die Stimmabgabe von Emigranten eingebracht und seine Argumente mit einer Fülle von Zahlen untermauert hat. Angesichts der entschieden vorgetragenen These des Sachverständigen hatte die Delegation keinerlei Argumente, um diese zu widerlegen.“6 Unterstützung der Volksabstimmungsaktivitäten durch die Republik Polen Die Politik der Zweiten Polnischen Republik gegenüber Oberschlesien war mehrschichtig und umfasste eine Vielzahl von Aktivitäten. Im folgenden Abschnitt wird eine Auswahl davon vorgestellt (nicht in hierarchischer Reihenfolge): Die „Entsendung“ von Aktivisten in das Abstimmungsgebiet Polen war sich von Anfang an der Tatsache bewusst, dass die Agitation eine angemessene Vorbereitung seitens derjenigen erforderte, die sie durchführten. In einem Schreiben des Präsidiums des Ministerrates an das Zentrale Plebiszitkomitee7 von Juni 1920 wurden als erwünschte Aktivisten aus der Republik Polen im Plebiszitgebiet „1) Organisatoren von Bauernvereinen, 2) Dirigenten von Gesangsvereinen, 3) Dozenten und schließlich 4) Agitatoren, die bei der 6 Siehe: Malec-Masnyk: Plebiscyt na Górnym Śląsku, S. 40. 7 Das Zentrale Plebiszitkomitee (Centralny Komitet Plebiscytowy, CPK) wurde am 29. Juni 1920 auf Initiative der polnischen Behörden als Koordinierungsorgan der Abstimmungsaktion in der Republik Polen berufen.
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Eisenbahn unter Reisenden tätig waren“ genannt.8 Einen Monat später teilte die polnische Regierung (in einem Schreiben des Präsidiums des Ministerrates an Wojciech Trąmpczyński, Marschall des Verfassungsgebenden Sejms) mit, dass „wir in einem Gespräch mit Herrn Korfanty, der vor einigen Tagen in Warschau weilte, erneut festgestellt haben, dass der größte Bedarf an Menschen in landwirtschaftlichen Kreisen und Gesangsvereinen besteht, die keine Leiter oder Dirigenten haben. Dagegen sollte die massenhafte Entsendung beispielsweise von Studenten, die keine vergleichbaren Qualifikationen besaßen, gestoppt werden“.9 Die aus der Republik Polen stammenden Teilnehmer der Volksabstimmungskampagne bildeten eine qualitativ wichtige Gruppe von Aktivisten. Die Rolle der „Neuankömmlinge“ aus Polen sollte jedoch nicht überschätzt werden – Wanda Musialik stellte auf der Grundlage einer Analyse der Biografien von 400 Aktivisten fest, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen (schätzungsweise 75 Prozent) im Abstimmungsgebiet geboren worden war, wobei die Neuankömmlinge aus Großpolen (Wielkopolska) unter den Nicht-Oberschlesiern überwogen.10 Die „Neuankömmlinge“ nahmen an der Volksabstimmungskampagne teil und waren auch in den paritätischen Ausschüssen während der Abstimmung vertreten. Lobbyarbeit innerhalb der Wirtschaftsmilieus Italiens und Frankreichs Die polnische Seite, die zu Beginn im Nachteil gewesen war, wurde nicht müde, ihre politischen Bemühungen immer weiter zu verstärken, indem sie Maßnahmen ergriff, um ausländisches Kapital (vor allem italienisches und französisches) einzuwerben und die entsprechenden Entscheider dazu zu bewegen, sich für die Eingliederung Oberschlesiens nach Polen einzusetzen. Im September 1920 nahm der Wirtschaftsexperte der polnischen Delegation auf der Konferenz von Spa, Antoni Doerman, im Namen von Premierminister Grabski und Ministerpräsident Paderewski Gespräche mit italienischen Vertretern auf, die eine Unterstützung für die polnischen Pläne im Gegenzug für wirtschaftliche Erleichterungen für italienische Industrielle ermöglichen sollten (ein Entwurf eines Handelsabkommens zwischen Polen und Italien wurde am 5. März 1921 veröffentlicht und von den Italienern selbst als für sie günstig bewertet). Im Oktober 1920 ermächtigte das polnische Außenministerium den ehemaligen
8 9 10
Archiwum Akt Nowych w Warszawie [weiter: AAN], Biuro Sejmu [weiter: BS], Sign. 1, S. 3. Pismo Prezydjum Rady Ministrów do Centralnego Komitetu Plebiscytowego, 22.06.1920. AAN, BS, Sign. 1, S. 100. Pismo Prezydjum Rady Ministrów do marszałka Sejmu Ustawodawczego, 03.07.1920. Musialik, Wanda: Polskie elity plebiscytowe na Górnym Śląsku 1921 r., in: Lis, Michał (Hg.): Drogi Śląska do Polski, Opole 1996, S. 62–64.
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technischen Wirtschaftsberater der polnischen Friedensdelegation in Paris, Artur Benis, Gespräche mit den alliierten Regierungen zu führen und Vereinbarungen mit privaten Industriellengruppen abzuschließen. Benis hielt sich zwischen Dezember 1920 und Februar 1922 in Paris auf und beriet mit Wirtschaftsexperten aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Die Denkschrift vom 17. Dezember 1920, die der französischen Seite ausgehändigt wurde, enthielt Bestimmungen für die Zustimmung zur Verpachtung von Bergwerken und Kohlenrevieren, die sich im Besitz des deutschen (preußischen) Fiskus befanden, an westliche Finanziers. Weiterhin regelte sie die Gewährung von Zugeständnissen an die Alliierten zur Gründung einer besonders privilegierten oberschlesischen Bank, die Gewährung von Konzessionen für die von ihnen gebildeten Konsortien für den Handel mit der in Oberschlesien geförderten Kohle sowie schließlich die Abtretung der von der polnischen Regierung erzielten Einkünfte an Frankreich als Sicherheit für einen Teil der deutschen Reparationen im Gegenzug zu den oben genannten Zugeständnissen. Entsprechende Vorteile sollten Frankreich durch die Angliederung des umstrittenen Teils Oberschlesiens an Polen erwachsen. Zwischen dem 18. und dem 22. Februar 1921 wurde ein französisch-polnisches Abkommen über die staatlichen Bergwerke in Oberschlesien geschlossen, das am 1. März 1921 in Paris unterzeichnet wurde und auch die Gründung einer Polnisch-Französischen Gesellschaft für die Verpachtung der staatlichen Bergwerke in Oberschlesien unter dem Namen „Skarboferm“ vorsah. Diese Lösung brachte der polnischen Seite mehrere kurzfristige Finanzkredite und führte zu einem stärkeren Engagement Frankreichs hinsichtlich einer für Polen günstigen Entwicklung der Ereignisse rund um die Volksabstimmung.11 Der Versuch der Einflussnahme auf das Abstimmungsreglement Am 20. September 1920 legte die polnische Seite dem mit der Ausarbeitung beauftragten Unterausschuss der Interalliierten Kommission unter dem Vorsitz von Henri Ponsot einen eigenen Entwurf vor. Zu den wichtigsten Bestimmungen des mehr als 80 Paragraphen umfassenden Dokuments gehörte das Wahlrecht für Personen, die am 1. Januar 1920 20 Jahre alt waren, im Abstimmungsgebiet geboren waren und zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Vorschriften hier wohnten, oder, falls sie außerhalb dieses Gebietes geboren waren, seit mindestens dem 1. Dezember 1900 ununterbrochen dort wohnten. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass für den Fall, dass die Interalliierte 11
Szmidtke, Zenon: „Skarboferm“ 1922–1939. Związki polityki z gospodarką, Opole 2005, S. 26–30; Wala-Menou, Jadwiga: Polskie iluzje: Górny Śląsk we francuskiej korespondencji rządowej z lat 1919–1921, in: Szkice archiwalno-historyczne 2011, Nr. 8, S. 59.
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Regierungs- und Plebiszitkommission Personen, die nicht im Plebiszitgebiet lebten (den sogenannten „Emigranten“), das Wahlrecht zuerkannte, ein zusätzliches Kriterium eingeführt werden sollte: „entweder sind sie im Plebiszitgebiet geboren oder haben dieses nicht vor dem 1. Dezember 1900 endgültig verlassen“. Die Beschränkungen sollten auch für verheiratete Frauen gelten, die zwar im Abstimmungsgebiet geboren wurden, aber nicht dort wohnten, damit sie nur dann wählen durften, wenn ihre Ehemänner wahlberechtigt waren. Andererseits sollte das Wahlrecht so gesichert werden, dass auch Personen, die ihrer Freiheit beraubt worden waren, die reale Möglichkeit des Wahlrechts erhielten. Die Einführung des zonalen Wahlrechts und die Trennung des Wahlrechts der Einheimischen von dem der „Emigranten“ waren weitere sehr wichtige Themen. Die erste Frage sollte durch die Schaffung von zwei Zonen gelöst werden: eine östliche (mit den Bezirken des Industriegebietes Tarnowitz (Tarnowskie Góry), Beuthen OS (Bytom), Königshütte (Królewska Huta), Kattowitz (Katowice), Hindenburg (Zabrze), Gleiwitz (Gliwice), Pless (Pszczyna) und Rybnik) und eine westliche (mit dem restlichen Abstimmungsgebiet). Darüber hinaus war vorgesehen, dass die Bewohner des westlichen Teils der Region zwei Wochen nach den Bewohnern des östlichen Teils wählen sollten. Das zweite Problem sollte dadurch gelöst werden, dass die Wahltermine für Wahlberechtigte, die innerhalb und außerhalb des Volksabstimmungsgebietes wohnten, vier Wochen auseinanderlagen. Außerdem sollte die Möglichkeit der vorzeitigen Ankunft von sogenannten „Emigranten“ im Abstimmungsgebiet verhindert werden, weshalb vorgeschlagen wurde, den Eisenbahnverkehr in der ersten Zone 14 Tage vor dem Abstimmungstermin einzustellen. Für Personen, die kürzer als bis zum 1. Januar 1919 im Abstimmungsgebiet gelebt hatten, sollten nahezu analoge Maßnahmen ergriffen werden – sie hatten das umstrittene Gebiet spätestens zehn Tage vor der Abstimmung zu verlassen. Dieser Vorschlag wurde letztendlich nicht angenommen.12
Die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes (Organisches Statut der Wojewodschaft Schlesien) Das Autonomiegesetz wurde am 15. Juli 1920 verabschiedet und bildete die Grundlage für die Gewährung einer Autonomie der künftigen Provinz. Die Arbeit an dem Projekt wurde von der Selbstverwaltungskommission in der Rechtsabteilung des Polnischen Plebiszitkommissariats durchgeführt und der Entwurf der Autonomie am 21. Juni 1920 verabschiedet. Einen Monat später, am 20. Juli 1920 veröffentlichte die Rechtsabteilung des Polnischen 12
Fic, Maciej: Najbardziej demokratyczna forma wyboru? Uwarunkowania plebiscytu z 20 marca 1921 roku na Górnym Śląsku, in: Echa Przeszłości 2020, Bd. XXI/2, S. 263–264.
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Plebiszitkommissariats einen Aufruf, in dem sie die Bewohner der Region über Folgendes informierte: „Das oben genannte Verfassungsgesetz für Schlesien wurde vom Plebiszitkommissariat in Beuthen ausgearbeitet und der Verfassungskommission des Sejms vorgelegt. Die Verfassungskommission hat in ihrer Vorlage an den Sejm festgestellt, dass „die Bestrebungen des schlesischen Volkes nach einer umfassenden Selbstverwaltung innerhalb der Republik Polen in jeder Hinsicht unterstützenswert sind“. Am 15. Juli 1920 hat der Sejm der Republik Polen unter dem Vorsitz von Marschall Trąmpczyński dieses Projekt einstimmig angenommen.“ Der Text endete mit der Feststellung, dass dieses „wertvolle Rechtsdokument aus Beuthen“ gekommen und in der Hauptstadt positiv aufgenommen worden war, was als Beweis für die „herzliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zwischen Oberschlesien und dem polnischen Staat gesehen wurde.13 Die Wahl von Mottos betreffend die Agrarreform Es wurde auf die Vorteile hingewiesen, die sich für die Bewohner des landwirtschaftlich geprägten Teils Oberschlesiens aus der Angliederung der Region an Polen ergaben. Diese Kampagne wurde in großem Maßstab durchgeführt, etwa mithilfe von Plakaten und Karten, auf denen die im Falle einer Eingliederung der Region in den polnischen Staat mutmaßlich zu verteilenden Flächen eingezeichnet waren. Im Januar 1921 veröffentlichte Korfanty eine Proklamation „An alle Landlosen, Landarbeiter, Knechte und Kleinbauern in Oberschlesien“, in der er die Befürworter der Angliederung der Region an Polen unter der Bevölkerung aufforderte, „ihre Wünsche bezüglich des Erwerbs von Höfen aus der Parzellierung“ einzureichen, die in entsprechenden „Parzellierungsbüchern“ als Grundlage für die künftige Landverteilung festgehalten werden sollten. So erinnerte sich Michał Wójcicki, Student an der Lemberger Technischen Hochschule, der als landwirtschaftlicher Ausbilder beim PlebiszitBezirkskomitee in Rosenberg (Olesno) arbeitete: „In den landwirtschaftlichen Kreisen führten wir eine vorbereitende Maßnahme für die künftige Parzellierung der deutschen Gutsbezirke auf der Grundlage des 1920 in Polen verabschiedeten Agrarreformgesetzes durch.“14 Die Aktion wurde zwar von deutscher Seite unter dem Vorwurf der Unzulässigkeit gestoppt; dennoch
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Vgl. Dąbrowski, Włodzimierz: Górny Śląsk w walce o zjednoczenie z Polską (Źródła i dokumenty z lat 1918–1922), Katowice 1923, S. 29–30; Lewandowski, Jan F.: Czas Autonomii, Chorzów 2014, S. 13–24. Hawranek, Franciszek (Hg.): Powstania śląskie i plebiscyt w dokumentach i pamiętnikach. Wybór tekstów, Opole 1980, S. 102.
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wurde das Motiv der „Landauffüllung“ in der polnischen Propaganda häufig und ausgiebig verwendet. Die Unterstützung der Abstimmungskampagne durch die Republik Polen Die Unterstützung erfolgte hauptsächlich durch die Aktivitäten des bereits erwähnten Zentralen Plebiszitkomitees. Es wurde von Organisationen aus Krakau, Lublin, Lemberg, Lodz, Posen und Warschau gebildet und von Trąmpczyński geleitet. Neben der Koordinierungsarbeit kümmerte sich das Komitee um die Platzierung oberschlesischer Themen in der polnischen Presse, schulte, organisierte und finanzierte den Transport von Instrukteuren und Agitatoren nach Oberschlesien, koordinierte eine Kampagne zur Registrierung der außerhalb der Region lebenden Oberschlesier, die zur Teilnahme an der Volksabstimmung berechtigt waren (die sogenannten Emigranten), und beteiligte sich schließlich auch an der Organisation deren Anreise zum Plebiszit in das Abstimmungsgebiet. Weiterhin unterstützte es sonstige, darüber hinausgehende Maßnahmen rund um die Volksabstimmung.15 Diesen Teil der Tätigkeit veranschaulicht ein Brief von Trąmpczyński vom 18. August 1920, in dem er unter anderem schreibt: „Da ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass die Wallfahrten der Oberschlesier nach Tschenstochau [Częstochowa] eines der wichtigsten Mittel der Agitation für die Volksabstimmung sind, ist es notwendig, diesen Pilgerverkehr nach Abschluss der Erntezeit so weit wie möglich zu fördern, indem unter anderem der Transport der Pilger vom Bahnhof Herby Polskie nach Tschenstochau und zurück erleichtert wird, aber auch eine angemessene Anzahl von Zügen am Vorabend von Sonn- und Feiertagen und an den Feiertagen selbst eingesetzt wird und ein besonderer ermäßigter Tarif für diese Beförderung eingeführt wird.“16 Das Zentrale Plebiszitkomitee bildete eine gemeinsame Plattform für die in der Republik Polen tätigen Vereinigungen, deren Ziel es war, Hilfe für Oberschlesien und die propolnischen Oberschlesier zu organisieren. In Krakau war die Gesellschaft für die Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens tätig, in Posen das Komitee für die Unterstützung der östlichen Grenzgebiete und Oberschlesiens sowie das Komitee für die Unterstützung Oberschlesiens (im Herbst 1919 schlossen sich beide zum Komitee für die Verteidigung Oberschlesiens zusammen), in Warschau das Komitee für die Vereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen, das Komitee für die Verteidigung Schlesiens
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Kaczmarek, Ryszard: Śląsk był polski – będzie polski! Katalog wystawy, Katowice 2019. AAN, BS, Sign. 1, S. 166. Pismo W. Trąmpczyńskiego do Ministerstwa Kolei Żelaznych, 18.08.1920.
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und die sogenannte Plebiszitabteilung der Gesellschaft für Kriegsopferhilfe, in Lublin das Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens, des Ermlands und Masurens mit der Republik Polen (ab 1920 als Komitee für die Verteidigung der Plebiszitgebiete), in Lemberg das Komitee für die Verteidigung der westlichen Grenzgebiete und in Lodz das Plebiszitkomitee des Bezirks Lodz. Die Aufgabe all dieser Organisationen bestand darin, die Unterstützung für die propolnischen Oberschlesier zu koordinieren. In diesem Rahmen gab es Protestaktionen „gegen die preußische Gewalt“, verschiedene Sammlungen wurden durchgeführt, an die polnische Regierung appelliert, militärisch zu intervenieren (symbolisiert durch den Slogan „Haller nach Schlesien“), personelle und materielle Unterstützung für die Ausbildung von Plebiszit-Aktivisten und für Polnischkurse bereitgestellt und schließlich kulturelle Veranstaltungen mitorganisiert, um die propolnische Stimmung in der Region zu stärken.17 Die Unterstützung durch die katholische Kirche in der Republik Polen Der Weihbischof von Gnesen (Gniezno), Wilhelm Kloske (aus Klein Nimsdorf [Naczysławki] im Kreis Cosel [Koźle] stammend), verkündete einen Aufruf „An die oberschlesischen Landsleute“, damit diese für die Angliederung an Polen stimmten. In seinem Brief schrieb er unter anderem: „Im Jahr 1877 wurde ich zum Priester geweiht, konnte aber in meiner Heimatdiözese Breslau [Wrocław] kein Priester sein. […] Jetzt fahre ich nach Oberschlesien, in meinen Heimatkreis Cosel, um am 20. März dafür zu stimmen, dass das Coseler Land ein Teil Polens wird. Die Dankbarkeit gebietet mir, auf diese Weise zu wählen. Und ich ermutige euch, liebe Landsleute, meinem Beispiel zu folgen. Bekennt euch zu Polen, zu dem Schlesien ursprünglich gehört hat! In Polen werdet ihr keine Bürger zweiter Klasse sein, wie unter deutscher Herrschaft. […] Ich hoffe, dass ihr alle am 20. März an der Wahlurne stehen und mit Eurem Bischof abstimmen werdet, damit Oberschlesien samt Deutsch Piekar [Piekary Śląskie] und St. Annaberg [Góra Św. Anny] zu dem Land gehört, in dem die Gottesmutter in Tschenstochau und am Tor der Morgenröte regiert.“18 Das Votum für die Angliederung Oberschlesiens an Polen wurde auch von Vertretern des polnischen katholischen Episkopats unterstützt (darunter der Primas von Polen, Edmund Dalbor, sowie die Erzbischöfe Aleksander Kakowski von Warschau, Józef Bilczewski von Lemberg und Adam Stefan Sapieha von Krakau). In dem Brief schrieben sie unter anderem: „In wenigen Tagen werdet ihr selbst über das Schicksal Oberschlesiens und euer eigenes
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Vgl. Kaczmarek: Śląsk był polski. Zitiert nach: Malczewski, Kazimierz: Ze wspomnień śląskich, Warszawa 1958, S. 276–277.
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Schicksal entscheiden. Es wird also von euch abhängen, ob Oberschlesien zu Polen zurückkehrt, wo wir euch, den Söhnen dieses Landes, die Hände entgegenstrecken, oder ob die Preußen weiterhin in Oberschlesien herrschen werden. […] Unabhängig von politischen Überzeugungen, vereint in der Liebe zu unserer gemeinsamen Heimat, rufen wir euch auf: Oberschlesische Brüder! Stimmt geschlossen für Polen. Geht einstimmig zur Wahlurne, um eine glückliche und wunderbare Zukunft für euch und für Polen zu sichern.“19 Unter den propolnischen Geistlichen, die in das Abstimmungsgebiet kamen, befanden sich auch Priester, die aus der Region stammten, aber dauerhaft außerhalb wohnten und sich nur vorübergehend im Abstimmungsgebiet aufhielten – z.B. Pater Emanuel Krzoska (der aus der Diözese Lemberg anreiste) und Pater Albert Migdalski (Pfarrer einer Gemeinde in Chicago). Ihre Zahl dürfte jedoch nicht mehr als 50 betragen haben.20 Entscheidungen von geringer Tragweite Gewisse Entscheidungen hatten unterschiedliche Ausprägungen, waren aber alle ein Zeichen für die „pro-oberschlesische“-Haltung der polnischen Regierung. Beispielsweise sollten die Bewohner der Abstimmungsgebiete nicht in die polnische Armee eingezogen werden.
An die Lokalebene delegierte Tätigkeiten – die Entstehung und Tätigkeit des Polnischen Plebiszitkommissariats21
Das Polnische Plebiszitkommissariat wurde von Korfanty geleitet, der bereits im Dezember 1919 vom Präsidium des Ministerrates der Republik Polen zum polnischen Plebiszitkommissar ernannt und am 20. Februar 1920 vom Staatsoberhaupt Józef Piłsudski in dieses Amt berufen worden war. Auf Ersuchen der polnischen Behörden setzte sich das Präsidium des Kommissariats aus den Politikern zusammen, welche die wichtigsten polnischen politischen Kräfte in Oberschlesien vertraten – Korfantys Stellvertreter waren: Konstanty Wolny (Vertreter der Christlichen Volksunion), Józef Rymer (einer der Anführer der Nationalen Arbeiterpartei) und Józef Biniszkiewicz (der Vorsitzende der Polnischen Sozialistischen Partei Oberschlesiens). Diese Besetzung hatte eine 19 20 21
Ebenda, S. 276. Biblioteka Śląska w Katowicach, Zbiory Specjalne, Sign. R 5354 III 0, Bl. 92, Borth, Władysław: Księża śląscy w plebiscycie. Dieser Teil des Aufsatzes stützt sich auf: Fic, Maciej: Polski Komisariat Plebiscytowy, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich. Band 2. II powstanie śląskie sierpień 1920, Katowice 2020, S. 158–174.
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symbolische Dimension und war ein Beweis für das Bestehen einer landesweiten Front im Kampf um die Angliederung Oberschlesiens an Polen. Korfanty bezeichnete die Vorbereitungen für das Plebiszit als „große Propaganda-, Bildungs- und Sozialaktion, die alle Bereiche des kollektiven Lebens umfasste.“22 Aus diesem Grund und als Teil der Vorbereitung des Aufbaus der polnischen Verwaltung hatte das Kommissariat eine breite und vielfältige Struktur, die weit über die ursprünglichen Vorstellungen vieler polnischer Aktivisten hinausreichte.23 Allein der Prozess der Schaffung der Organisationsstruktur des Polnischen Plebiszitkommissariats dauerte viele Monate, bis zum Spätherbst 1920. Insgesamt beschäftigte das Kommissariat im Hauptquartier zwischen 226 Personen im April 1920 und mehr als 1.000 im Februar 1921; die Zahl der ständigen Mitarbeiter wurde Anfang 1921 von polnischer Seite auf etwa 2.300 Personen sowie etwa 1.000 zeitweilig Beschäftigte geschätzt. Die deutsche Seite nahm an, dass Korfanty über 2.700 Agitatoren, 1.000 Mitarbeiter im Kommissariat und 45 „gut bezahlte“ Mitarbeiter der „luxuriös ausgestatteten“ Zentrale sowie über zahlreiche Telefonleitungen, zwölf Motorräder und Autos verfügte. Es ist erwähnenswert, dass im Polnischen Plebiszitkommissariat 16 Abteilungen von gebürtigen Oberschlesiern geleitet wurden und viele weitere eine Anstellung als Referenten gefunden hatten. Einer der Mitarbeiter des Kommissariats, Jan Wyglenda, beschrieb diese Präsenz der Oberschlesier wie folgt: „Zehntausende Schlesier stellten ihre Arbeitskraft zur Verfügung, darunter Mitglieder der Vorstände aller polnischen Organisationen, Gewerkschaften und politischen Parteien. Die schwierigste und zugleich gefährlichste Arbeit wurde von ortsansässigen, namentlich nicht genannten Polen sowie von den Vorsitzenden der Kreisausschüsse geleistet, von denen nur einer zuvor nicht in Schlesien ansässig gewesen war. Alle Berater bei den deutschen Landrats- und Schulaufsichtsämtern sowie die Hälfte der Abteilungsleiter und mehr als die Hälfte der Sachbearbeiter in der Beuthener Zentrale waren ebenfalls gebürtige Schlesier.“ Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass einige Mitarbeiter des Polnischen Plebiszitkommissariats Frauen waren und dass das Kommissariat auch eine Abteilung für Frauenvereine unter der Leitung von Halina Stęślicka umfasste, der die polnischen Frauenorganisationen im Abstimmungsgebiet unterstellt waren.
22 23
Zieliński, Władysław: Polski Komisariat Plebiscytowy, in: Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982, S. 425. Für mehr Informationen zur Struktur des Polnischen Plebiszitkommissariats siehe den Text von Mirosław Węcki in diesem Band.
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Das Handeln der Behörden der Republik Polen nach der Volksabstimmung
Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Volksabstimmung akzeptierte die polnische Seite, dass die Befürworter des Verbleibs des Volksabstimmungsgebietes innerhalb der deutschen Grenzen in der Überzahl waren, interpretierte aber die Bestimmungen des Anhangs zu Artikel 88 des Versailler Vertrages so, dass die deutschen „Stadtinseln“ im östlichen Teil Oberschlesiens an Polen angegliedert werden würden. Ein Verfechter dieser Idee war der polnische Außenminister Eustachy Sapieha, der in einem Gespräch mit dem britischen Abgeordneten in Warschau, William Max-Müller, einen Standpunkt vertrat, demzufolge er angesichts des zahlenmäßigen Vorsprungs der Stimmen zugunsten Polens in den Gemeinden der östlichen, südöstlichen und zentralen Kreise mit einer vollständigen Eingliederung dieser Kreise nach Polen rechnete. Kurz nach der Abstimmung hat das polnische Außenministerium der diplomatischen Vertretung in Washington mitgeteilt, dass „die Volksabstimmung in aller Ruhe stattgefunden hat. Im gesamten Industriebezirk und den angrenzenden Kreisen, d.h. Rybnik, Pless, Kattowitz, Königshütte, Beuthen, Hindenburg, Gleiwitz, Tarnowitz, Groß Strehlitz (Strzelce Opolskie) und Lublinitz (Lubliniec) betrug die absolute polnische Mehrheit 14.804 Stimmen, trotz des Anteils der Emigranten, der in diesen Bezirken 95.000 ausmachte. Berechnet man das Ergebnis gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages nach Gemeinden, so erhält man im gleichen Bezirk 507 Gemeinden mit polnischer und 140 mit deutscher Mehrheit.“24 Am 22. März 1921 startete Wojciech Korfanty einen Aufruf an die oberschlesische Bevölkerung, in der er den polnischen Sieg bei der Volksabstimmung „proklamierte“. Darin äußerte er: „Wir haben einen großen historischen Sieg im Kampf um die Eigenstaatlichkeit Oberschlesiens und die Freiheit und das Glück des polnischen Volkes errungen. Durch deutschen Terror, Betrug und Bestechung ist es uns zwar nicht gelungen, das gesamte Gebiet Oberschlesiens zu erobern, aber das, was wir gewonnen haben, ist der wertvollste Teil Oberschlesiens und repräsentiert die große Mehrheit der Menschen, die in dieser alten Piastenregion leben.“25 In der Proklamation bezog er sich auf einen Entwurf der Grenzlinie, die bald als sogenannte Korfanty-Linie definiert werden sollte, und sagte, er wolle „einen Grundstock für diplomatische Gespräche 24 25
AAN, Ambasada RP w Londynie [weiter: ARPL], Sign. 380, S. 6. Wyciąg aktów górnośląskich 03.11.20–18.06.21. Przewłocki, Jan/Zieliński, Władysław (Hg.): Źródła do dziejów powstań śląskich, Bd. 3, Teil 1: styczeń-maj 1921, Wrocław-Warszawa-Kraków-Gdańsk 1974, S. 239.
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schaffen“. Der Entwurf orientierte sich an der Linie, die das Ergebnis der Abstimmung nach Gemeinden berücksichtigte, aber mit zahlreichen deutschen „Inseln“ innerhalb der polnischen Grenzen. Mehr als 59 Prozent des umstrittenen Gebietes, in dem mehr als 70 Prozent der „ständigen“ Einwohner lebten, sollten auf polnischer Seite liegen. Diese so genannte Korfanty-Linie (in der deutschen Geschichtsschreibung wird sie als „imaginäre Grenzlinie“ bezeichnet) sprach Polen 903 Gemeinden zu, von denen sich 700 für die Eingliederung des umstrittenen Gebietes nach Polen ausgesprochen hatten.26 Die von Korfanty vorgeschlagene Lösung sollte Polen die Kontrolle über das gesamte Industriegebiet sichern. Der Vorschlag für dessen Angliederung an Polen wurde unter anderem in einem Schreiben des Außenministeriums an die polnische Botschaft in Washington vom 24. März 1921 unterbreitet. Das Dokument schloss mit den Worten: „Es handelt sich um einen kompakten Block, in dem wir eine absolute Mehrheit von etwa 30.000 polnischen Stimmen haben, 80 Prozent aller Gemeinden in diesem Block haben sich für Polen ausgesprochen“.27 Im April 1921 legte die Führung des Polnischen Plebiszitkommissariats der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission ein Memorandum vor, in dem die Position der polnischen Seite hinsichtlich der Interpretation der Abstimmungsergebnisse dargelegt wurde. Darin wurden die Forderungen bekräftigt, Polen den östlichen Teil Oberschlesiens zu überlassen, der durch die sogenannte Korfanty-Linie begrenzt wurde. In der Begründung hieß es betreffend die polnische Auslegung der Bestimmungen des Friedensvertrages, dass dieser nicht die Behandlung des gesamten Abstimmungsgebietes regelte; dass die Bestimmung des „polnischen“ und des „deutschen“ Teils nach den Abstimmungsergebnissen in den einzelnen Gemeinden zu erfolgen hatte; dass „angesichts der deutschen Inseln in dem Gebiet, in dem sich die Mehrheit für Polen ausgesprochen hatte und umgekehrt, die geografische und wirtschaftliche Lage ausschlaggebend sein musste“. Zur Untermauerung ihrer Vorschläge wiesen die Verfasser des Memorandums darauf hin, dass in dem postulierten Gebiet die Einwohner von 362 Gemeinden (74,6 Prozent) mit überwältigender Mehrheit für Polen gestimmt hatten, während die Einwohner von 226 Gemeinden (25,4 Prozent) für Deutschland gewesen waren. Es wurden auch Daten in absoluten Zahlen angegeben: 434.037 Personen „für Polen“
26 27
Vgl. AAN, ARPL, Sign. 387, S. 387, S. 134. Benis, Artur: Pro memoria z pobytu w Bytomiu i konferencji z p. Korfantym (24.03.1921). AAN, ARPL, Sign. 380, S. 7. Wyciąg aktów górnośląskich 03.11.20 – 18.06.21.
Die Republik Polen und die Volksabstimmung in Oberschlesien
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und 408.891 „für Deutschland“.28 Ähnliche Zahlen wurden am 3. April 1921 vom polnischen Außenministerium als inoffiziell und „vorbehaltlich geringfügiger Änderungen“ an die polnische Botschaft in Washington übermittelt mit der Anweisung, sie in Erklärungen als Standpunkt der polnischen Regierung darzustellen (im „polnischen“ Teil 648 Gemeinden und 435.236 Stimmen für die Angliederung an Polen, 200 Gemeinden und 408.786 Stimmen für den Verbleib bei Deutschland; im „deutschen“ Teil 60 Gemeinden und 36.170 Stimmen für die Angliederung an Polen, 588 Gemeinden und 307.214 Stimmen für den Verbleib bei Deutschland).29 Trotz der Maßnahmen der polnischen Diplomatie verhehlten die propolnischen Oberschlesier nicht ihre Besorgnis über deren geringe Wirksamkeit. Ein Fragment eines Schreibens von Wiktor Przedpełski, einem Mitglied der polnischen Militärorganisation in Oberschlesien, an Korfanty und die polnischen Behörden spiegelt diesen Sachverhalt eindrücklich wider: „[D]er gegenwärtige Verlauf der oberschlesischen Angelegenheit rechtfertigt diese Befürchtungen, da alle Vorschläge, die unsere Diplomatie bisher unterbreitet hat, immer mit einer Niederlage endeten, nämlich: die Einführung einer Volksabstimmung in Oberschlesien, obwohl [uns] die Region Polen zuvor vertraglich zugestanden worden war; die Weigerung, Abstimmungen nach Zonen zuzulassen; die Ablehnung des polnischen Vorschlags einer gesonderten Abstimmung für Emigranten sowie die Ablehnung polnischer Vorschläge gleicher Rechte in Verwaltung und öffentlichen Ämtern. Die heutigen Hoffnungen auf die Annahme der polnischen Vorschläge gründen sich auf die Nachricht, dass die Engländer ihre bisherige Position geändert haben. Diese Nachricht kommt aus London nach Warschau. Aus dem Verhalten der Engländer hier in Oberschlesien, die zweifellos nach klaren Anweisungen von oben handeln, müssen wir jedoch ganz andere Schlüsse ziehen.“30 Diese Vorgänge haben zu der Situation vom 2./3. Mai 1921 geführt.
28 29 30
Malec-Masnyk, Bońena: Stosunek mocarstw zachodnich do podziału Górnego Śląska w okresie od 22 do 30 IV 1921 r., in: Studia Śląskie, 1990, Bd. 49, S. 82–83. AAN, ARPL, Sign. 380, S. 10. Wyciąg aktów górnośląskich 03.11.20 – 18.06.21. Przewłocki, Jan/Zieliński, Władysław (Hg.): Źródła do dziejów powstań śląskich, Bd. 3, Teil 1, S. 291.
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Ausgewählte Bewertungen vonseiten der polnischen Historiografie31 Fast unmittelbar nach der Volksabstimmung äußerte sich der Vorsitzende des Zentralen Plebiszitkomitees, Trąmpczyński, kritisch: „Der Verlauf der durch den Versailler Vertrag auferlegten Plebiszite hat gezeigt, dass das Plebiszit vielleicht die am wenigsten geeignete Form gewesen ist, um die beiden Ziele zu erreichen, die sich die Welt nach dem Ersten Weltkrieg gesetzt hat, nämlich die Organisation der Grenzen auf Grundlage der nationalen Selbstbestimmung und damit die Beseitigung der Ursachen künftiger internationaler Konflikte. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Plebiszite wurde vergessen, dass das Plebiszit lediglich ein Mittel sein kann, um die Wahrheit, d.h. den wahren Willen der Bevölkerung aufzuzeigen. Vielmehr wurde alles getan, um diese Wahrheit zu verschleiern, indem Gewalt und Täuschung von Seiten der weniger gewissenhaften Seite ermöglicht wurden.“32 In den folgenden Jahren blieb die Meinung über die Volksabstimmung selbst auf polnischer Seite fast ausnahmslos negativ. Józef Gawrych schrieb: „Jeder, der an den Volksabstimmungskämpfen teilgenommen hat, muss zu der Überzeugung gelangt sein, dass, so schön die Entschließung, den Völkern durch eine Willenserklärung Selbstbestimmung zu gewähren, auch klingen mochte, die Meinungserklärung in der Praxis eher scheußlich ausfiel. Kein Krieg hat so viele gebrochene Charaktere hervorgebracht wie die Volksabstimmungen. Wer die Bestechungen, die Versprechungen, die Versteigerung von Seelen und Gewissen beobachtet hat, hat verstanden, dass das Plebiszit die schlimmste Form gewesen ist, die für die Bestimmung der Nationalität eines Volkes hätte gewählt werden können.33 Zu Beginn der 1930er Jahre war die Aussage von Adam Benisz in einem ähnlichen Ton gehalten: „Ein Plebiszit – es ist in der Tat eine großartige Idee, ein Plebiszit – ein schreckliches Wort, in dem die Zukunft der Nation verzaubert, ihr Frieden bestimmt und die Zivilisation gestrichen wird, ein Plebiszit – es ist ein lärmender Marktplatz, nach jüdischer Art gestaltet, voll von agitatorischem Geschrei und hitzigen Auseinandersetzungen, ein Plebiszit – es ist ein Fluch der Zeit, ein grässliches Gespenst für diejenigen, für die es bestimmt ist. Das Plebiszit in Oberschlesien ist eine geplante Spaltung der lebendigen 31 32 33
Dieser Teil des Aufsatzes beruht auf der Publikation: Fic, Maciej: „Polska“ pamięć o plebiscycie 20 marca 1921 roku, in: Fic, Maciej/Lusek, Joanna (Hg.): Rok 1921 na Kresach Wschodnich i Zachodnich. Historia i pamięć, Katowice – Bytom 2021, S. 155–159. Polskość Górnego Śląska według, S. 7. Zitiert nach: Lewek, Michał: Górnośląski Plebiscyt z roku 1921 oraz udział w nim duchowieństwa katolickiego, Chorzów 1991, S. 55 [Neudruck der Ausgabe von 1960].
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polnischen Nation; es ist ein Wundbrand, der noch lange Zeit eitern wird […]“.34 Ähnlich äußerte sich auch Romana Lutmana: „Eines der edelsten Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens – das Prinzip der direkten Willensbekundung nationaler Gruppen über ihr eigenes Schicksal – wurde in der Abstimmungspraxis der Nachkriegszeit tragisch parodiert. Das Prinzip, das aus den erhabenen Bestrebungen des menschlichen Geistes geboren wurde und auf hohe kulturelle und moralische Standards der Nationen abzielte, erwies sich, als es mit der brutalen Realität konfrontiert wurde, als verzerrt, entehrt und mit Füßen getreten, wie in einem Zerrspiegel. Es hat nicht einmal die Unterstützung und den Schutz seiner Schöpfer und Umsetzer gefunden. Es wurde von einem Instrument der historischen Gerechtigkeit zu einem bloßen Instrument des politischen Kampfes und des diplomatischen Spiels der Großen und Mächtigen dieser Welt.“35 Trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, gab es in der polnischen Geschichtsschreibung immer noch eine kritische Bewertung des Handelns der Alliierten. Bożena Malec-Masnyk schrieb 1991: „Die Lösung […] schien auf den ersten Blick gerecht. Tatsächlich aber schadete die Entscheidung über das Plebiszit der polnischen Seite, da sie die Ergebnisse der deutschen Volkszählungen nicht berücksichtigte, bei denen zwei Drittel der Bevölkerung Polnisch als ihre Muttersprache angegeben hatten. Sie ignorierte auch die Tatsache, dass eine bedeutende Anzahl von Oberschlesiern bei den Reichstagswahlen für polnische Kandidaten gestimmt hatte, und dass das Nationalbewusstsein der polnischen Bevölkerung Oberschlesiens gering war. Unter diesen Bedingungen kann von Chancengleichheit für beide Seiten keine Rede gewesen sein. Die Entscheidung über die Durchführung eines Plebiszits in Oberschlesien hat der polnischen Seite von Anfang an geschadet.“36 Zwei Jahrzehnte später fügte Bogdan Cimała hinzu, dass „die eigentliche Sünde der Idee einer Volksabstimmung [darin bestanden hatte, dass] die Regeln formal eine Chance für gleiche Bedingungen schaffen sollten, die Realität sie aber zugunsten des Staates korrigierte, der seinen Besitz verteidigte, und nicht zugunsten des Staates, der das Gebiet beanspruchte, da er keine Agenda hatte, die seiner eigenen Bevölkerung helfen konnten.“37
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Benisz, Adam: Górny Śląsk w walce o polskość, Opole 2020, S. 145 [Neudruck der Ausgabe von 1930]. Lutman, Roman: Plebiscyt górnośląski, „Strażnica Zachodnia“ 1931, Nr. 3, S. 354. Malec-Masnyk: Plebiscyt na Górnym Śląsku, S. 25. Cimała, Bogdan: Kampania plebiscytowa na Górnym Śląsku 1919–1921 i jej wpływ na świadomość narodową mieszkańców regionu, in: Lis, Michał/Drożdż, Leokadia (Hg.): Plebiscyt i powstania śląskie 1919–1921 – po 90. latach Opole 2012, S. 46.
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Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die polnische Geschichtsschreibung stets die Auffassung vertreten hat und auch heute noch vertritt, dass die hehre Idee einer Volksabstimmung in Oberschlesien in Wirklichkeit weniger eine Willensbekundung der Bevölkerung gewesen ist als vielmehr ein Beispiel dafür, dass alle beteiligten Parteien (mit besonderem Augenmerk auf die britischen und französischen Politiker) im Namen einer demokratischen Weltordnungspolitik ihre eigenen Interessen verfolgten und alle verfügbaren Mittel und Instrumente einsetzten, um ihre Ziele zu erreichen. Es ist anzumerken, dass die polnische Seite das Ergebnis nie offiziell angefochten hat, sondern ab April 1921 vielmehr die unverhältnismäßig ungünstige Gestaltung der Umsetzung in den Grenzausgleich kritisierte. Die 1919 angekündigte „demokratischste Form der Wahl“ sollte sich in der Praxis eher als politisches Instrument in den Händen der Alliierten erweisen denn als eine wirklich edle Art, die Zukunft der Menschen in der Region zu gestalten. Praktisch von Anfang an wurde damit auch bestätigt, dass die wichtigsten Entscheidungsträger nicht in der Lage waren, eine Lösung vorzuschlagen, die das Ergebnis ihrer Kompromissvereinbarungen während der Friedensverhandlungen gewesen wäre. Die endgültigen Grenzentscheidungen spiegelten nur in geringem Maße die Ergebnisse der Volksabstimmung wider; mehr als eine Festlegung anhand der Zahl der Stimmen, die für die Angliederung an Polen abgegeben wurden, waren die Grenzentscheidungen ein Resultat der französischen Unterstützung und – wie in vielen anderen Fällen – der Tatsache, dass die Polen zur Waffe griffen. Deshalb wird heute in der polnischen Geschichtsschreibung auch häufiger und präsenter über die schlesischen Aufstände gesprochen und geschrieben als über die oberschlesische Volksabstimmung. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Deutschland und die Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921. Der Weg zum Volksentscheid, Emigrantenfrage, Wahlergebnisse Benjamin Conrad 1919 vereinbarten die Alliierten mit dem Deutschen Reich im Rahmen des Versailler Vertrages einen Volksentscheid in Oberschlesien. Die Bevölkerung sollte die Möglichkeit haben, sich für den Verbleib bei Deutschland oder den Wechsel zur neugegründeten Republik Polen auszusprechen. Dieser Volksentscheid fand am 20. März 1921 unter Kontrolle der Westalliierten, hauptsächlich der Franzosen, statt. Für Deutschland votierten 59,6 Prozent und für Polen 40,4 Prozent der Wähler bei einer Wahlbeteiligung von 97,5 Prozent. Dieser Aufsatz untersucht den Weg zur Umsetzung des Plebiszits. Hierbei wird aus deutscher Perspektive der Weg vom Beschluss 1919 bis zur Abhaltung 1921 beleuchtet. Ein zweiter Schwerpunkt liegt in einer genaueren Betrachtung der Wählerschaft, die sich für Deutschland entschieden hat. Zunächst wird aber erst einmal dem Zankapfel der deutschen und polnischen Geschichtsforschung breiter Raum geschaffen, und zwar dem Einfluss der Heimkehrer und Emigranten, die auf Vorschlag der polnischen Delegation bei den Pariser Friedensverhandlungen das Wahlrecht zugesprochen bekommen haben. Das Ziel eines polnischen Oberschlesiens war in der Politik Polens 1918/19 Konsens. Gestützt auf die polnischsprachige Mehrheit innerhalb der Bevölkerung vertrat der Gleiwitzer Reichstagsabgeordnete Wojciech Korfanty dieses Ziel ebenso wie Roman Dmowski. Als polnischer Delegierter auf der Pariser Friedenskonferenz forderte Letzterer Oberschlesien mit Ausnahme des deutschsprachigen Westens im Januar und Februar 1919 für Polen.1 Mit einer Ausnahme entsprachen die Alliierten diesem Wunsch und ordneten den größten Teil Oberschlesiens einschließlich des Industriereviers im Entwurf des Versailler Vertrags am 7. Mai 1919 Polen zu.2 In ihrer Stellungnahme zu diesem Entwurf teilte die deutsche Regierung unter Philipp Scheidemann (SPD) am 29. Mai 1919 mit, zur Abtretung fast der gesamten Provinz Posen sowie zweier Kreise in Westpreußen bereit zu sein. 1 British Documents on Foreign Affairs, Teil II, Serie I, Bd. 2. O.O. 1989, S. 43–49. 2 Vgl. dazu aus der reichhaltigen Literatur aufgrund des guten Kartenmaterials Hauser, Przemysław: Śląsk między Polską, Czechosłowacją a separatyzmem. Walka Niemiec o utrzymanie prowincji śląskiej w latach 1918–1919, Poznań 1991, S. 80–99.
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Zu weiteren Gebietsabtretungen an Polen, darunter auch in Oberschlesien, sollte es aber nur kommen, sofern sich die Bevölkerung in Plebisziten selbst dafür aussprach. Für Oberschlesien machte die deutsche Regierung zudem geltend, dass sich ein wirtschaftliches und historisches Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland herausgebildet habe, die Sprache allein also nicht aussagefähig sei.3 Ganz im Sinne des britischen Regierungschefs David Lloyd George entschieden die alliierten Politiker der Pariser Konferenz schließlich im Juni 1919, Deutschland in Sachen Oberschlesien ein Zugeständnis zu machen. Mit den Worten „J’ai peur de trouver à Berlin un autre Moscou, c’est-à-dire de n’avoir personne devant nous avec qui nous puissions signer la paix“ begründete Lloyd George diesen Schwenk. Daher sollte nun, wie von der deutschen Regierung gewünscht, ein Plebiszit über die Zugehörigkeit entscheiden. Dem Abstimmungsgebiet wurden auch einige Gemeinden im Osten des niederschlesischen Kreises Namslau zugeteilt. Wie aus den Konferenzprotokollen ersichtlich, erfolgte diese territoriale Zuordnung zugunsten Deutschlands auch aufgrund der Tatsache, dass das Plebiszit als für Polen gewinnbar eingeschätzt wurde.4 In der Reichsregierung wurde dies erstmalig am 17. Juni 1919, kurz vor dem Rücktritt Scheidemanns, bekannt und diskutiert. Der Volksentscheid wurde aufgrund der ungünstigen Randbedingungen derart eingeordnet, dass er wohl für Polen ausgehen würde.5 Auch wenn sich diese pessimistische Prognose später als unzutreffend herausstellen sollte, so hatte man in der Reichsregierung die Erwartungshaltung der Westalliierten zutreffend erkannt. Der Erfolg der Regierung Scheidemann darf dabei nicht unterschätzt werden: Es war die deutsche Regierung gewesen, die Volksentscheide in umstrittenen Gebieten vorgeschlagen und damit zumindest indirekt Gehör gefunden hatte, auch wenn die Reichsregierung selbstverständlich nicht an den Verhandlungen beteiligt war. Auch wenn vereinzelt Versuche unternommen wurden, Oberschlesien auf andere Art und Weise beim Deutschen Reich zu halten, so war und blieb die deutsche Seite mangels Alternativen, 3 Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Teil III. Charlottenburg 1919, S. 32, 43–50. 4 Vgl. zu den Verhandlungen Mantoux, Paul: Les délibérations du conseil des quatre (24 mars– 28 juin 1919). Bd. II, Paris 1955, S. 258–471, Zitat auf S. 280. Aus der umfangreichen Literatur wird auf meine eigene Darstellung verwiesen: Conrad, Benjamin: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923. Stuttgart 2014, S. 127–143; ders.: Górny Śląsk w okresie przełomu 1918/19. Punkty zwrotne na drodze do plebiscytu, in: Rosenbaum, Sebastian (Hg.): Rok 1918 na Górnym Śląsku. Przełom społeczno-polityczny i jego konsekwencje, Warszawa u.a. 2020, S. 22–39. 5 Schulze, Hagen: Das Kabinett Scheidemann (1919). Boppard 1971, S. 470.
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insbesondere des Fehlens internationaler Verbündeter, politisch stets stärker dem Plebiszit zugewandt. Doch zunächst sicherte schiere Gewalt den Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland: Ab dem 16. August 1919 versuchte die gut 20.000 Mann starke Polnische Militärorganisation Oberschlesiens (POW), die Kontrolle im künftigen Abstimmungsgebiet zu gewinnen. Häufig wird auf einen Ausstand von Teilen der Bergarbeiterschaft als unmittelbarer Auslöser verwiesen, in dessen Zusammenhang am 15. August in Myslowitz in einem Handgemenge Bergleute von deutschen Sicherheitskräften getötet wurden.6 Jüngste Forschungen aus Polen kommen jedoch zu einem anderen Ergebnis. Bereits zuvor hat es längerfristige Vorbereitungen der POW gegeben, ohne die die Intensität des Aufstands nicht erklärt werden kann.7 Die Aufständischen kontrollierten kurzzeitig Teile des Industriegebietes sowie die Kreise Pless und Rybnik. Schnell gewann jedoch die deutsche Seite, bestehend aus regulären Truppen und politisch rechtsstehenden Freikorps, die Oberhand.8 Seit dem Großpolnischen Aufstand in der Provinz Posen Ende 1918 hatten sich die Deutschen, wie nun sichtbar wurde, unter Reichs- und Staatskommissar Otto Hörsing (SPD) auf einen polnischen Aufstand eingestellt. Hörsing war mit besonderen Vollmachten ausgestattet. Das Vorgehen gegen die Aufständischen war brutal.9 Direkte Hilfe bekamen sie nicht. Hinter Hörsings Partei stand jedoch nur ein Teil der Wahlberechtigten: Bei den Wahlen zu den verfassungsgebenden Versammlungen Deutschlands und Preußens im Januar 1919 hatte die SPD als zweitstärkste Kraft ein Drittel der Wähler in ganz Oberschlesien erreicht. Loyal zu Deutschland standen neben den Sozialdemokraten zudem selbstverständlich auch die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Demokratische Partei. Gemeinsam mit der SPD machten diese Parteien jedoch nur etwa 20 Prozent aller beim Plebiszit Wahlberechtigten aus, dies unter Berücksichtigung der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung aufgrund des Boykotts der propolnischen Wähler und der 6 Dies habe ich selbst in meiner Dissertation als gängigen Wissensstand angeführt, vgl. Conrad: Umkämpfte Grenzen, S. 150. 7 Kaczmarek, Ryszard: Powstania śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polsko-niemiecka, Kraków 2019, S. 143–183, der die Ereignisse in Myslowitz im Grunde nicht thematisiert, was deren mangelnde Bedeutung für den Aufstand unterstreicht. 8 Kaczmarek, Ryszard: Die politischen Kontroversen um die Verortung der Schlesischen Aufstände in der Zeit von 1919 bis 1921, in: Ende und Aufbruch. Die politischen Folgen des Ersten Weltkriegs, hg. vom Heeresgeschichtlichen Museum Wien, Wien 2020, S. 243–258, hier S. 248. 9 Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 223, 230–232.
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Herausrechnung der westoberschlesischen Kreise, die beim Plebiszit nicht mitentscheiden sollten.10 Unter dem Eindruck des polnischen Aufstands setzte sich der Vorsitzende des oberschlesischen Zentrums, Pfarrer Carl Ulitzka, bei der preußischen Regierung für Konzessionen zugunsten Oberschlesiens ein. Im Gegenzug beschloss das oberschlesische Zentrum, das im Januar 1919 bei beiden Wahlen die führende Partei geworden war, im September 1919, zu einer Stimmabgabe für Deutschland aufzurufen.11 Einen Monat später griff die verfassungsgebende Landesversammlung Preußens eine Forderung des Zentrums auf und beschloss eine Trennung der Provinz Schlesien in die zwei Provinzen Nieder- und Oberschlesien. Der bisherige Sitz des Regierungspräsidiums, Oppeln, wurde nunmehr zur Hauptstadt der dadurch aufgewerteten neuen Provinz Oberschlesien. Im November 1919 stieg der Zentrumspolitiker Joseph Bitta vom Regierungspräsidenten zum geschäftsführenden Oberpräsidenten auf. Darauffolgend strebte das Zentrum im Wahlkampf 1920 danach, Oberschlesien durch eine Herauslösung aus Preußen und die Umwandlung in einen eigenen Bundesstaat innerhalb des Deutschen Reiches noch weiter aufzuwerten. Es gelang der Partei, eine Zusage für die Abhaltung eines weiteren Plebiszits zu erreichen, dies selbstverständlich nur im Falle eines Verbleibs Oberschlesiens beim Deutschen Reich.12 Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages im Januar 1920 rückten etwa 15.000 Soldaten, hauptsächlich Franzosen und ein kleineres italienisches Kontingent, in Oberschlesien ein. In der internationalen Abstimmungskommission unter dem französischen General Henri Le Rond waren beide Seiten mit einem Abstimmungskommissar vertreten. Für Deutschland war dies nicht Hörsing, dessen Tätigkeit in Oberschlesien längst zu Ende gegangen war. Mit seinem Abgang als national eingestellter, nicht-katholischer Ostpreuße verminderte sich der Einfluss der Sozialdemokratie auf die Geschehnisse in Oberschlesien weiter. Nun übernahmen vollends Zentrumspolitiker das Ruder. Deutscher Abstimmungskommissar wurde, nachdem Carl Ulitzka von Le Rond abgelehnt worden war, der Bürgermeister von Roßberg bei Beuthen, Kurt Urbanek. Neben Urbanek und Ulitzka nahm noch der Landrat von Rybnik, Hans Lukaschek, als Leiter der deutschen Plebiszitpropaganda, eine zentrale Rolle ein. Oberpräsident Bitta schied hingegen aus dem Kreis der Akteure vor Ort aus: Er wurde von der alliierten Kommission ausgewiesen.13 10 11 12 13
Falter, Jürgen u.a.: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933, München 1986, S. 67. Hitze: Ulitzka, S. 242. Ebenda, S. 223, 243, 354. Ebenda, S. 260. Kaczmarek, Powstania śląskie, S. 236.
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Mit der Übergabe der Verantwortung an die Zentrumspolitiker steigerte die deutsche Seite ihre Chancen für das Plebiszit. Der Katholizismus stellte die wichtigste Verbindung zwischen deutsch- und polnischsprachigen Oberschlesiern dar. Somit eröffnete sich der deutschen Seite die Möglichkeit, nun verstärkt auch bisher Unentschlossene, Personen aus Mischehen sowie Polnischsprachige zu erreichen.14 In dieser Politik durfte sich das deutsche Abstimmungskomitee bestätigt fühlen, da bei den anderen Volksabstimmungen zwischen Deutschland und Polen in Allenstein und Marienwerder im Juli 1920 alle Gruppen mehrheitlich für Deutschland gestimmt hatten. Darunter auch Polnischsprachige, wenngleich deren Protestantismus in Masuren, die militärisch schlechte Lage Polens im Polnisch-Sowjetischen Krieg und die für Polen unfairen Wahlkampfbedingungen in die Wertung miteinfließen müssen.15 Im Juli 1920 hatte sich die Lage für Polen im Krieg gegen die Sowjets derart verschlechtert, dass die Reichsregierung den Versuch unternahm, Polen und die Westalliierten zu einem Verzicht auf das Plebiszit in Oberschlesien zu bewegen. Konkret angeboten wurde deutsche militärische Unterstützung gegen die Rote Armee. Dies war der einzige Zeitpunkt, an dem die deutsche Politik kurzzeitig eine andere Option als die der Abstimmung auf den Tisch brachte.16 Aufgegriffen wurde der Vorschlag nicht. Zudem kam es im August 1920 zu einem zweiten polnischen Aufstand im Abstimmungsgebiet. Dieser wurde vielfach als politisches Zeichen gegen die befürchtete Marginalisierung der Interessen der polnischen Oberschlesier auf dem Parkett der internationalen Politik während des Polnisch-Sowjetischen Krieges gedeutet. Die deutsche Seite bekämpfte den Aufstand mit Hilfe der pro-deutschen Sicherheitspolizei. Dieser Aufstand fiel wesentlich großflächiger aus als der erste und verlief zudem erfolgreicher. Er wurde nach einer Woche durch eine Übereinkunft der beiden Abstimmungskommissare Urbanek und Korfanty beendet. Die polnische Seite hatte sich behaupten können.17 Nach dem zweiten polnischen Aufstand stellte keine Seite mehr die Abstimmung als solche in Frage, auch wenn weiterhin Gewalttaten an der
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Hitze: Ulitzka, S. 250, 277. Vgl. dazu ausführlich Conrad: Umkämpfte Grenzen, S. 155–164; Kossert, Andreas: Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001, S. 150–159; ders.: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, München 2006, S. 243–259. Recke, Walther: Die historisch-politischen Grundlagen der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922, Marburg 1969, S. 56f. Hitze: Ulitzka, S. 298–313; Kaczmarek: Politische Kontroversen, S. 250; ders.: Powstania śląskie, S. 290–331.
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Tagesordnung waren.18 Der Wahlkampf wurde hauptsächlich mit wirtschaftlichen Argumenten geführt, wie anhand der Wahlplakate leicht zu erkennen ist.19 Debattiert wurde aber 1920/21 auch um die Ausübung des Wahlrechts. Gemäß Versailler Vertrag waren alle im Abstimmungsgebiet geborenen volljährigen Personen wahlberechtigt, auch dann, wenn sie nicht mehr in Oberschlesien wohnten. Hierfür hatte die von der polnischen Delegation in Paris lancierte Vorstellung, bei Weggezogenen handele es sich größtenteils um propolnische Personen, Pate gestanden.20 Ebenso war die alliierte Kommission bevollmächtigt, Zugezogene bis zu einem bestimmten Stichtag auszuschließen. Und schließlich sollten auch durch deutsche Behörden während des Kaiserreichs aus politischen Gründen vertriebene Polen wählen dürfen.21 Wie bereits erwähnt, schien dieses Wahlrecht der Regierung Scheidemann im Juni 1919 für die polnische Seite günstig zu sein. So war es aber nicht. Wird in alphabetischer Reihenfolge hinten bei der Kategorie D der Wahlberechtigen begonnen, den politisch Vertriebenen, so zeigt sich, dass es diese von der polnischen Konferenzdelegation in Paris angenommene Gruppe schlichtweg nicht gab. Lediglich sechs Polen hatten erfolgreich nachweisen können, aus politischen Gründen vertrieben worden zu sein. Bei 1.221.622 Abstimmungsberechtigten spielte die Kategorie D somit keinerlei Rolle.22 Der Stichtag für Zugezogene der Kategorie C wurde durch die alliierte Abstimmungskommission ganz im polnischen Sinne auf den 1. Januar 1904 festgelegt. In diesem Jahr hatte das Deutsche Reich die Einwanderung aus 18 19
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Zu den Gewaltakten vgl. ausführlich Wilson, Timothy K.: Frontiers of Violence. Conflict and identity in Ulster and Upper Silesia, 1918–1922, 2. Aufl., Oxford 2012, passim. Dazu erschöpfend Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921. Dortmund 2002; ders.: Deutsche und polnische Propaganda in der Zeit der Aufstände und des Plebiszits, in: Struve, Kai u.a. (Hg.): Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung, Marburg 2003, S. 63–95. Hitze: Ulitzka, S. 347; Kaczmarek, Powstania śląskie, S. 345. Journal officiel de Haute-Silésie 12 (1921), S. 62. Résultats numériques du plébiscite, Oppeln (Opole), le 24 avril 1921, in: Journal officiel de Haute-Silésie 21 (1921), S. 105–141. Sämtliche Zahlen dieses Aufsatzes werden anhand dieses endgültigen amtlichen Endergebnisses angegeben. Hinweis: Dieses ist nur gemeindeweise verfügbar. Der Autor dieses Aufsatzes hat das Ergebnis in eine Datenbank überführt und daraus die Gesamtergebnisse generiert. So ergibt sich beispielsweise für die Kategorie B der Heimkehrer und Emigranten eine Anzahl an Wahlberechtigten von 191.303. Andere Werke nennen 191.308, was eindeutig auf dieselbe Quelle zurückgeht, da der Unterschied von fünf Personen statistisch nicht ins Gewicht fällt. Sehr häufig greifen Werke allerdings auch auf andere Zahlen zurück, die nicht dem endgültigen amtlichen Endergebnis entsprechen. So ist auch die Zahl von 192.408 Heimkehrern und Emigranten, die in den polnischen Büchern dominiert, leicht als nicht auf dem endgültigen amtlichen Endergebnis basierend identifizierbar. Auf den Ursprung der Zahl 192.408 wird noch eingegangen.
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Österreich-Ungarn und Russland verboten. Durch diese Entscheidung wurde die Kategorie C mit 3,3% der Wahlberechtigten (das entsprach 41.105 Personen) weitgehend marginalisiert. Auch der in Neisse (Nysa) geborene deutsche Abstimmungskommissar Kurt Urbanek und der in Breslau (Wrocław) geborene Hans Lukaschek waren damit nicht wahlberechtigt.23 Neben 989.208 im Abstimmungsgebiet geborenen und dort wohnhaften Personen der Kategorie A (81%) verblieben die im Abstimmungsgebiet geborenen, aber nicht mehr dort wohnhaften Personen der Kategorie B, im Deutschen Heimkehrer und im Polnischen Emigranten genannt. Letzterer Begriff ist mittlerweile gängiger, da die meisten Forschungen zu Oberschlesien heute aus Polen kommen. Dennoch ist der Begriff irreführend, denn die meisten Heimkehrer waren innerhalb des Deutschen Reiches umgezogen, was mitnichten eine Emigration darstellte. Nur wenige waren ins Ausland, beispielsweise ins spätere Polen, ausgewandert. Im französischen Original wird diese Gruppe emotionslos originaires non domiciliés genannt.24 Die Heimkehrer machten 15,7 Prozent respektive 191.303 Personen aus. Die Wähler der Kategorie B mussten einen Antrag auf Wahlteilnahme stellen. Nicht alle theoretisch Wahlberechtigten waren damit auch tatsächlich wahlberechtigt. Die genannten 191.303 Personen waren solche, die sich aktiv um das Wahlrecht bemüht und im Anschluss das Antragsverfahren mit einem positiven Abschluss hinter sich gebracht hatten.25 Publizisten und Historiker beider Seiten betonten hierbei den Vorteil der jeweils anderen Seite. In der deutschen zeitgenössischen Publizistik wurden die Möglichkeiten der Sabotage durch polnische Vertrauensleute vor Ort bei der Antragstellung hervorgehoben.26 Allerdings waren solche analog auch auf deutscher Seite nicht nur vorhanden, sondern sogar stärker ausgeprägt, da die lokale Verwaltung Oberschlesiens weitgehend durch dasselbe deutsche Personal unter alliierter Aufsicht fortgeführt wurde. Die polnische Seite nahm für sich das Argument in Anspruch, dass trotz der Tatsache, dass einige Teile Deutschlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs polnisch geworden waren, im neuen polnischen Staat kaum Emigranten 23
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Abmeier, Hans-Ludwig: Hans Lukaschek, in: Helmut Neubach/Ludwig Petry (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts, Würzburg 1968, S. 228–236, hier S. 228; ders.: Zur Biographie von Kurt Urbanek, in: Oberschlesisches Jahrbuch 8 (1992), S. 117–124, hier S. 117. Aus beiden Biografien ergibt sich, dass Lukaschek und Urbanek weder im Abstimmungsgebiet geboren sind, noch seit 1904 dort gelebt haben. Vgl. die Wahlordnung in: Journal officiel de Haute-Silésie 12 (1921), S. 62. Zur Prozedur der Beantragung des Wahlrechts vgl. Journal officiel de Haute-Silésie 12 (1921), S. 64. Schmeißer, Kurt u.a. (Hg.): Oberschlesien und der Genfer Schiedsspruch, Berlin, Breslau 1925, S. 132.
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wohnten. Wie viele Emigranten aus Polen am Ende wahlberechtigt waren, ob es eine hohe vierstellige oder eher eine niedrige fünfstellige Zahl war, ist nicht mehr zu eruieren. Bis September 1920 sollen in der Wojewodschaft Posen durch polnische Komitees 2.100 Emigranten erfasst worden sein.27 In der Tschechoslowakei, insbesondere im Hultschiner Ländchen, dem Südteil des Landkreises Ratibor, der durch den Versailler Vertrag 1920 an die ČSR gefallen war, waren etwa 5.350 Personen der Kategorie B wahlberechtigt.28 Insgesamt stellten aber die Heimkehrer aus dem Deutschen Reich sicher die überwiegende Mehrheit. Mit den Volksentscheiden in Allenstein und Marienwerder am 11. Juli 1920 stellte sich – wie bereits angedeutet – heraus, dass die polnische Delegation in Paris mit den Emigranten ein Eigentor geschossen hatte. Dort hatten die Heimkehrer geschlossen für Deutschland gestimmt. Die polnische Delegation hatte zudem übersehen, dass Arbeitsmigration aus den polnisch geprägten Landkreisen rund um das Industriegebiet Oberschlesiens stärker in ebendieses Revier erfolgt war. Die betreffenden Personen gehörten also der Gruppe A an. Aus den deutsch geprägten Kreisen im Westen und Norden des Plebiszitgebiets hat die Arbeitsmigration hingegen stärker in andere Teile des Deutschen Reiches stattgefunden. Betroffene wurden damit zu Wählern der Kategorie B. Diese Feststellung ist nicht gleichbedeutend mit einer Aussage zu den Migrationsprozessen, die sich in Oberschlesien insgesamt abgespielt haben. Forschungsergebnisse gehen auch für die Kreise Pless (Pszczyna), Ratibor-Land (Racibórz) und Rybnik von einer hohen Arbeitsmigration aus, bei der auch Rückwanderungen aus dem Rheinland und aus Westfalen nach Jahrzehnten eine Rolle gespielt haben.29 Für die Volksabstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921 gilt als Momentaufnahme folgendes: Durch ihr Engagement für die Emigranten hatte die polnische Delegation in Paris die Kreise Cosel (Koźle), Groß Strehlitz (Strzelce Opolskie), Kreuzburg (Kluczbork), Leobschütz (Głubczyce), Namslau (Namysłów), Neustadt (Prudnik), Oppeln (Opole) -Land und -Stadt sowie Rosenberg (Olesno), Ratibor-Land und -Stadt teils gering, teils massiv durch zusätzliche Wähler aufgewertet. In den genannten Kreisen waren die Heimkehrer überdurchschnittlich – also mit mehr als 15,7 Prozent – in der Gesamtwählerschaft vertreten. Einen Extremfall bei den Heimkehrern stellte Namslau 27 28 29
Zieliński, Władysław: Udział emigrantów w plebiscycie górnośląskim, in: Studia i materiały z dziejów Śląska 8 (1967), S. 463–489, hier S. 469. Kaňá, Otakár: Niemcy ostrawscy w plebiscycie górnośląskim, in: Studia Śląskie, Seria nowa XIX (1971), S. 333–349, hier S. 343. Vgl. dazu Skrabania, David: Keine Polen? Bewusstseinsprozesse und Partizipationsstrategien unter Ruhrpolen zwischen der Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik, Herne 2019; Hitze: Ulitzka, S. 347f.
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dar: Hier stellten diese mit 50 Prozent sogar die größte Gruppe der Wahlberechtigten überhaupt gegenüber nur 44 Prozent Wahlberechtigten der Kategorie A. Aber auch die Kreise Kreuzburg und Leobschütz wiesen mit einem Drittel und mehr der Wahlberechtigten sehr hohe Zahlen an Heimkehrern auf. Von den Kreisen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Heimkehrern gab es später beim Plebiszit nur im Kreis Groß Strehlitz eine sehr knappe Mehrheit für Polen. Alle anderen Kreise stimmten mehrheitlich für Deutschland.
Abb. 12.1
Die Heimkehrer/Emigranten der Kategorie B während des Plebiszits. Auf der Karte wurden die Kreise, die mehrheitlich für Deutschland gestimmt haben, mit deutschem Kreisnamen beschriftet. Die Kreise, die mehrheitlich für Polen gestimmt haben, sind kursiv mit polnischem Kreisnamen beschriftet. Kreise, in denen überdurchschnittlich viele Heimkehrer/Emigranten wahlberechtigt waren, sind mit dem Buchstaben B markiert. Diesen gemein ist, dass sie keine Anrainer des grau schraffierten oberschlesischen Industriereviers waren. © Leonhard Wons, OSLM.
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Korfanty versuchte 1920/21, durch eine separate Erfassung der Stimmen der Kategorie B – zunächst in Köln, später auch vor Ort – das von ihm nicht verschuldete Eigentor der polnischen Delegation in Paris auszugleichen. Damit bezweckte er, die Emigranten publizistisch für die mögliche polnische Niederlage verantwortlich machen zu können. Korfanty scheiterte: Der Wortlaut des Versailler Vertrages – „Chacun votera dans la commune où il est domicilié, ou dans laquelle il est né s’il n’a pas son domicile sur le territoire“30 legte die Teilnahme der Heimkehrer am Geburtsort fest, eine separate Erfassung der Stimmen stand nicht im Vertragstext. Buchstabengetreu wurde das so am 20. März 1921 umgesetzt.31 Um dennoch den gewünschten Sündenbock zu bekommen, konstruierte Korfantys Abstimmungskommissariat einige Tage nach der Abstimmung die reell nicht vorhandenen Zahlen über die Emigranten selbst. Karol Firich, ein Statistiker aus Korfantys Kommissariat, publizierte diese im Mai 1921 erstmalig.32 Hierbei wurde allerdings ein erkennbar unrealistisches Abstimmungsverhalten von exakt 10% für Polen und 90 Prozent für Deutschland für 13 Kreise angegeben, ebenso wie eine gültige Wahlteilnahme von 192.408 Emigranten, also 100 Prozent. Diese Zahlen publizierte Firich in Unkenntnis des noch gar nicht bekannten endgültigen amtlichen Endergebnisses. Zu Firichs Unglück wies das am 24. April 1921 ermittelte Endergebnis nur 191.303 wahlberechtigte Emigranten auf. Obwohl die Zahlen von Korfantys Komitee daher leicht als wenig authentisch erkannt werden konnten, fanden sie in polnischen Büchern nach 1945 bis in die Gegenwart hinein weite Verbreitung, ebenso wie das dadurch konstruierte Narrativ der Hauptverantwortlichkeit der Emigranten für die Niederlage Polens.33 Dies ist umso unverständlicher, als dass das 30 31 32 33
Art. 88, Annex, § 4 b) des Versailler Vertrages, vgl. Pages d’histoire 1914–1919. Traité de Versailles 1919. Nancy u.a. 1919, S. 59. Ebenso in der Wahlordnung, vgl. Journal officiel de Haute-Silésie 12 (1921), S. 62. Kaczmarek: Powstanie śląskie, S. 345. Firich, Karol: Polskość Górnego Śląska według urzędowych źródeł pruskich, a wyniki plebiscytu. Warszawa 1921. Auch als unkommentierter Neudruck (hg. von Michał Lis, Opole 2020) erhältlich, hier Tabelle III, unpaginiert. Eine Liste polnischer Werke bis 2011, welche die Zahlen Firichs, oft aus Unkenntnis, übernommen haben, enthält mein Werk Conrad: Umkämpfte Grenzen, S. 172. Allgemein zu den Zahlen Firichs siehe Conrad: Die Fälschung einer Niederlage, in: Inter Finitimos 9 (2011), S. 103–118. Die erwähnten Zahlen finden weiterhin Verbreitung, so bei Barbara Danowska-Prokop/Urszula Zagóra-Jonszta: Wybrane problemy ekonomiczne-społeczne i polityczne na Górnym Śląsku w latach 1922–1939, Katowice 2017, S. 13 und Kaczmarek, Ryszard: Politische Kontroversen, S. 251, ders.: Powstania śląskie, S. 343. Sowohl Fic, Maciej: ‚Jeden z najspokojnieszych dni na Górnym Śląsku.‘ Plebiscyt z 20 marca 1921 roku, in: Kopczyński, Michał (Hg.): Powstania śląskie. Polityka, historia, pamięć, Warszawa 2021, S. 48–69, hier S. 64, als auch Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 343, verbinden Firichs
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zeitgenössische statistische Jahrbuch der Republik Polen das endgültige amtliche Endergebnis enthielt, wenn auch nicht vollumfänglich.34 Die Zahlen Firichs fanden hierin selbstverständlich keine Erwähnung. Dies lehrt zweierlei: Zum einen bewegen sich Geschichtsforschungen im deutsch-polnischen Kontext auch 30 Jahre nach Ende des Ost-West-Konflikts noch hauptsächlich in nationalen Kategorien. Deutsche Historiker lesen wenig polnische Bücher und polnische Historiker lesen kaum deutsche Bücher. Ein Wissenstransfer findet nur bedingt statt, weil die Reproduktion vermeintlich bereits bekannten Wissens der eigenen Muttersprache leichter ist als die Erschließung von Quellen und Literatur in Fremdsprachen. Man darf gespannt sein, ob der 100. Jahrestag des Plebiszits hier eine Änderung bewirkt: Die Heimkehrer können für das für Polen ungünstige Ergebnis nicht hauptverantwortlich sein. Hierfür genügt ein Blick in den ausführlichen wissenschaftlichen Befund der amerikanischen Politologin Sarah Wambaugh von 1933, der nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.35 Zum anderen ist die Akzeptanz dessen, dass etwas nicht bekannt ist und sich Autoren und Leser mit der Unkenntnis nicht-klärbarer Sachverhalte abfinden müssen, offenbar nicht besonders attraktiv. Niemand weiß und wird je herausfinden können, wie genau die Heimkehrer abgestimmt haben. Das Wahlgeheimnis gehört seit dem 19. Jahrhundert zu den demokratischen Grundprinzipien, sodass sich schon hieraus eigentlich zwangsläufig die
34
35
konstruierte Zahlen mit dem endgültigen amtlichen Endergebnis, ohne dabei mathematische Widersprüche zu erkennen. So behaupten Fic und Kaczmarek, dass von 1.190.637 Abstimmenden insgesamt 191.308 Emigranten abgestimmt haben sollen, was dem endgültigen amtlichen Endergebnis entspricht. 191.308 von 1.190.637 soll, so Fic und Kaczmarek weiter, einem Anteil von 19,3 Prozent entsprechen. Diese Prozentangabe ist Firichs konstruiertem Zahlenwerk entnommen. Fic und Kaczmarek haben hier nicht nachgerechnet: 191.308 von 1.190.637 = 16,1 Prozent. Auch wenn der Unterschied von 19,3% zu 16,1% gering zu sein scheint, so spiegelt der Unterschied das Anliegen Firichs wider, nämlich die Bedeutung der Emigranten zu erhöhen. Im Übrigen ist es auch inkorrekt, Wahlberechtigte und Wähler gleichzusetzen, wie dies Fic und Kaczmarek leider getan haben. Rocznik statystyki Rzeczypospolitej Polskiej 1920/22, Teil II, Warszawa 1923, S. 358. Wie bereits beschrieben, kommt es auch in diesem Jahrbuch zu nicht-intentionalen, geringfügig unterschiedlichen Zahlenangaben verglichen mit den in diesem Text verwendeten Ziffern. Wambaugh, Sarah: Plebiscites since the World War, 2 Bde. Washington 1933, hier Bd. 1, S. 264f. Hitze: Ulitzka, S. 353f., mutmaßte in seiner 2002 erschienenen Monografie, dass die polnische Geschichtsschreibung die Wahlkampfbedingungen absichtlich als unfair eingeordnet hat, um den späteren gewaltsamen Versuch der Inkorporation Oberschlesiens ab Mai 1921 durch polnische Aufständische zu rechtfertigen. Mag dies bei älteren Werken zutreffend sein, so könnte bei jüngeren vielfach die schlicht unkritische Übernahme aus älteren Werken ausschlaggebend sein. Dies wäre eine nicht-intentionale, dennoch verfälschende Darstellung der Vorgänge.
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Erkenntnis ergeben müsste, dass das genaue Abstimmungsverhalten eben nicht nachvollzogen werden kann. An einer solchen Selbstreflexion mangelt es polnischen Werken jedoch auch 100 Jahre nach der Abstimmung nach wie vor. Eine Ausnahme bilden Forschungen zur Lokalgeschichte, weil Karol Firich nur Zahlen auf Kreisebene, nicht aber für die kommunale Ebene, konstruiert hat. Daher können mikrogeschichtliche Werke – auch aus Polen – nur das endgültige amtliche Endergebnis ohne Emigranten zugrunde legen.36 Die Nicht-Verfügbarkeit detaillierter Angaben schließt systematische Überlegungen zum Abstimmungsverhalten der Heimkehrer nicht aus. Selbstverständlich sind Annahmen einer Wahlbeteiligung von 100% oder auch nur nahe an diesem Prozentsatz, wie sie Firich postuliert hat, ausgeschlossen. Die Heimkehrer wohnten nicht im Bereich ihrer Wahllokale. Sie hatten bei Terminierung des Plebiszits am 23. Februar 1921 nur knapp einen Monat Zeit für die Reisevorbereitung, mitunter lagen dabei unbekannte Wege zu ihren Geburtsorten vor ihnen. Aufgrund der extrem hohen Wahlbeteiligung stimmten insgesamt nur 30.976 Wahlberechtigte aller Kategorien nicht ab. Es braucht nicht viel gesunden Menschenverstand um zu der Hypothese zu gelangen, dass die Wahlabstinenz unter den Heimkehrern aufgrund der Hindernisse auf dem Weg zum Wahllokal überdurchschnittlich hoch ausgefallen sein dürfte. Offenbar fürchteten sich die Wähler in Anbetracht einer Wahlteilnahme in ihren Geburtsorten – zumindest vereinzelt – auch vor propolnischen Aktivisten. Deshalb fuhren sie aus ihren Quartieren in den Städten des Abstimmungsgebietes häufig nicht in ihre Geburtsorte.37 Die Mehrheit der Heimkehrer zeigte allerdings keine Angst: Bei 30.976 Personen, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben, müssen im Umkehrschluss von 191.303 wahlberechtigten Heimkehrern mindestens 160.327 an der Abstimmung teilgenommen (84 Prozent) und nach Abzug der 3.873 ungültigen Stimmen mindestens 156.454 gültig abgestimmt haben. Für die Tschechoslowakei ist bekannt, dass etwa 4.500 von etwa 5.350 wahlberechtigten Heimkehrern anreisten,38 was ebenfalls 84 Prozent entspräche. Das Beispiel der Heimkehrer aus der Tschechoslowakei belegt eindeutig, dass die Kategorie B die Gruppe mit der geringsten Wahlbeteiligung darstellte. Es darf mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, 36 37
38
Für ein Beispiel für den Kreis Rybnik siehe Sidor, Piotr: Plebiscyt górnośląski w powiecie rybnickim, in: Choroś, Monika/Pałys, Piotr (Hg.): Górny Śląsk – Reditus. Wokół wydarzeń z lat 1918–1922, Opole 2019, S. 153–170. Schmeißer, Kurt u.a. (Hg.): Oberschlesien und der Genfer Schiedsspruch, Berlin, Breslau 1925, S. 136–138, übernommen von Grosch: Propaganda, S. 368f. Neubach, Helmut: Die Abstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921, Herne 2002, S. 27, Wambaugh: Plebiscites, Bd. 1, S. 262. Kaňá: Niemcy ostrawscy, S. 343.
Deutschland und die Volksabstimmung in Oberschlesien
181
dass etwa 20.000 Heimkehrer der Abstimmung fernblieben oder ungültig abstimmten, sodass umgekehrt etwa 170.000 Heimkehrer mit gültiger Stimmabgabe teilgenommen haben dürften.39 Die Anschlussfrage ist, wie viele dieser etwa 170.000 nun für Deutschland und Polen gestimmt haben und wie stark der Einfluss damit war. Zeitgenössische deutsche Publikationen weisen 140.000 für Deutschland und 30.000 für Polen aus.40 Auch 150.000 Heimkehrer für Deutschland und 20.000 für Polen erscheinen plausibel. Demnach stimmten unter den Wählern der Kategorien A und C zusammen 56 bis 57 Prozent für Deutschland und 43 bis 44 Prozent für Polen. Die These der Verantwortlichkeit der Emigranten für das für Polen ungünstige Wahlergebnis ist daher falsifiziert. Die Gruppe der Heimkehrer hat ohne jeden Zweifel die ohnehin vorhandene Mehrheit für Deutschland verstärkt. Sie war aber zu klein und ihr Einfluss damit zu gering, um wahlentscheidend zu sein, was schon zeitgenössisch erkannt worden ist.41 Die Heimkehrer-Frage, im Polnischen zur sprawa emigrantów aufgebauscht,42 lenkt in polnischen Publikationen bis heute von der eigentlich für den Abstimmungserfolg Deutschlands maßgeblichen Gruppe ab: den Einwohnern Oberschlesiens polnischer Muttersprache, die für Deutschland gestimmt haben. Diese Gruppe muss mindestens 250.000 Personen umfasst haben.43 Derart Konservative, für die die Muttersprache nicht ausschlaggebend war, sondern die Orientierung am Land, das sie kannten, kamen nicht 39 40 41 42
43
Diese Schätzung ist nicht neu, sondern stammt aus der damaligen Zeit, so Volz, Wilhelm: Oberschlesien und die oberschlesische Frage, Breslau 1922, S. 60. Volz: Oberschlesien, S. 60. Das Werk von Volz dient einseitig der Legitimierung deutscher Ansprüche auf Oberschlesien, ist in diesem Punkt aber dennoch realistisch. Volz: Oberschlesien, S. 60; Wambaugh, Plebiscites, Bd. 1, S. 264. Ein Beispiel aus der Zeit der Volksrepublik Polen: „Na skutek machinacji niemieckich, zwłaszcza sprowadzenia na Górny Śląsk około 200 000 tzw. emigrantów, wypadł on na korzyść Niemiec.“ [„Als Folge deutscher Machenschaften, insbesondere der Zuführung von 200.000 sogenannten Emigranten nach Oberschlesien, ging das Plebiszit zugunsten Deutschlands aus.“], zit. nach Połomski, Franciszek: Niemiecki urząd do spraw mniejszości (1922–1937), Warszawa u.a. 1965, S. 8. Hier vereinigen sich zwei diesbezügliche Versatzstücke: Zum einen wird zur Delegitimierung der Abstimmung behauptet, dass die deutsche Seite für die Teilnahme der Heimkehrer am Plebiszit verantwortlich gewesen ist, was aufgrund der Nichtzulassung einer deutschen Delegation zur Pariser Friedenskonferenz 1919 gar nicht möglich war. Zudem wird dieser Gruppe die Hauptschuld am Ausgang des Plebiszits zugewiesen, obwohl dies mathematisch unmöglich war. U.a. Michalczyk, Andrzej: Heimat, Kirche und Nation. Deutsche und polnische Nationalisierungsprozesse im geteilten Oberschlesien (1922–1939), Köln u.a. 2010, S. 51. Ther, Philipp: Schlesisch, deutsch oder polnisch? Identitätenwandel in Oberschlesien 1921–1956, in: Struve, Kai/Ther, Philipp (Hg.): Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit, Marburg 2002, S. 169–201, hier S. 176. Długoborski, Wacław: Górny Śląsk na tle innych ziem polskich w początkach XX wieku: gospodarka,
182
Benjamin Conrad
nur in Oberschlesien vor. Schon in den Abstimmungsgebieten Allenstein und Marienwerder hatte am 11. Juli 1920 eine sechsstellige Zahl polnischer Muttersprachler für Deutschland gestimmt. Den Abstimmungserfolg Österreichs beim Volksentscheid in Kärnten am 10. Oktober 1920 sicherten Slowenischsprachige, die gegen das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen stimmten. Für den Verbleib Ödenburgs bei Ungarn beim Volksentscheid am 14. und 16. Dezember 1921 waren Deutschsprachige verantwortlich, die gegen Österreich stimmten.44 Somit wird auch ein Muster erkennbar: Das jeweils aktuell zugeordnete Land war im Vor-, das mögliche künftige Land im Nachteil. Abschließend soll geklärt werden, welche Gruppen für Deutschland gestimmt haben. Erstens: Für Deutschland stimmten von der Gemeindegröße her nahezu alle Städte Oberschlesiens, 32 von 35. Bei den Landgemeinden stimmte die Hälfte für Deutschland, dazu zwei Drittel der Gutsbezirke, die bis zu deren Aufhebung als kommunale Gebietseinheiten 1928 noch existierten. In den Gutsbezirken wirkte sich die fast immer deutsche Nationalität des Gutsbesitzers auch in mehrheitlich polnischem Umfeld häufig auf die anderen Wahlberechtigten aus, die auf den Gutshöfen wohnten und nicht selten in Arbeitsverhältnissen mit den Gutsbesitzern standen. Zweitens: Geografisch stimmten für Deutschland alle Stadtkreise, dazu der stark verstädterte Landkreis Hindenburg (Zabrze) mitten im Revier, und ansonsten mit Ausnahme von Groß Strehlitz alle Kreise im Westen und Norden, die keine direkten Anlieger des Industriereviers im Südosten des Abstimmungsgebietes waren. Die meisten dieser Kreise im Westen und Norden wurden gestärkt durch den bereits besprochenen Zustrom an Heimkehrern. Drittens: Sprachlich stimmten für Deutschland alle Deutschsprachigen und gut ein Drittel der Polnischsprachigen. Letztgenannte Gruppe umfasste mindestens 250.000 Personen. Es handelte sich um Konservative, die entgegen ihrer Muttersprache dasjenige Land bevorzugten, das sie kannten. Solche Gruppen gab es, wie erwähnt, auch in Allenstein, Marienwerder, Kärnten und Ödenburg. All diesen Konservativen in den Abstimmungsgebieten war gemein, dass sie die Amtssprache des Landes, für das sie votierten, als Schulunterrichtssprache kennengelernt hatten, auch wenn es sich nicht um ihre Muttersprache handelte. Dies dürfte ein wichtiger Baustein in der Erklärung dafür sein, warum bei allen Abstimmungen in Ostmitteleuropa einheitlich stets das alte, völkerrechtlich besitzende Land gegenüber dem möglichen neuen Land im Vorteil gewesen ist. Zudem unterstreicht dies die längst vielfach von der
44
społeczeństwo, kultura, in: Wanatowicz, Maria Wanda (Hg.): Rola i miejsce Górnego Śląska w Drugiej Rzeczypospolitej, Bytom/Katowice 1995, S. 9–29, hier S. 28. Vgl. Wambaugh: Plebiscites, passim.
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Deutschland und die Volksabstimmung in Oberschlesien
Forschung herausgearbeiteten multiplen Grenzlandidentitäten. Aus nationaler Perspektive getroffene Etikettierungen von Personen als politische Irrläufer oder Verräter an der nationalen Sache sind irrig, unbewiesen und oft von Emotionalitäten geprägt – ganz zu schweigen von den Bemühungen der Historiker in Polen, Jugoslawien und Österreich, die Abstimmungen in Allenstein, Marienwerder, Oberschlesien, Kärnten und Ödenburg im Nachhinein durch Betonung von Nebensächlichkeiten oder gar Unterstellung von Betrügereien aller Art zu delegitimieren. Viertens: Aus religiöser Perspektive stimmten für Deutschland alle Protestanten und Juden.45 Das Votum der weitaus größten Religionsgemeinschaft, der Katholiken, fiel unterschiedlich aus. Fünftens: Am wenigsten ausschlaggebend waren soziale Schichten, sieht man von wenigen eng definierten Gruppen, wie beispielsweise Beamten ab, die im Falle eines Wechsels zu Polen und damit der Amtssprache von einer Entlassung ausgehen mussten. In den beiden letztgenannten Fällen dürfte sich der Wahlkampf des Zentrums besonders ausgezahlt haben, wodurch die für Deutschland nachteilige Gleichsetzung Polens mit dem Katholizismus ebenso relativiert werden konnte wie ein geschlossenes Votum ärmerer Schichten für Polen – trotz entsprechender Avancen Korfantys und des polnischen Kommissariats im Zuge des Wahlkampfs. Am 24. April 1921 bestätigte General Le Rond mit seiner Unterschrift das endgültige amtliche Endergebnis46: 707.408 Stimmen für Deutschland (59,6%) gegenüber 479.365 für Polen (40,4%). Tabelle 12.1 Die Abstimmungsberechtigten beim Oberschlesien-Volksentscheid 1921
Kategorien
Zahl
%
A: dort geboren und wohnhaft B: dort geboren und weggezogen (Heimkehrer/Emigranten) C: nicht dort geboren und mehr als 17 Jahre im Gebiet gelebt D: aus politischen Gründen vertriebene Polen Zusammen
989.208 191.303 41.105 6 1.221.622
81,0 15,7 3,3 0,0 100,0
45 46
Hitze, Ulitzka, S. 286f. Résultats numériques du plébiscite, Oppeln (Opole), le 24 avril 1921, in: Journal officiel de Haute-Silésie 21 (1921), S. 141.
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Tabelle 12.2 Das Abstimmungsergebnis und die Heimkehrer/Emigranten der Kategorie B
Kreis
für Deutschland für Polen
Wahlberechtigte Verbleib des der Kat. B Kreises
Beuthen-Land Bytom-wieś Beuthen-Stadt Bytom-miasto Cosel Koźle Gleiwitz-Stadt Gliwice-miasto Groß Strehlitz Wielkie Strzelce Hindenburg Zabrze Kattowitz-Land Katowice-wieś Kattowitz-Stadt Katowice-miasto Königshütte Królewska Huta Kreuzburg Kluczbork Leobschütz Głubczyce Lublinitz Lubliniec Namslau Namysłów Neustadt Prudnik Oppeln-Land Opole-wieś Oppeln-Stadt Opole-miasto Pleß Pszczyna
43.677 / 40,9% 63.021 / 59,1 % 7.824 / 7,1% 29.890 / 74,7% 10.101 / 25,3% 5.464 / 12,7%
Großteil an Polen Deutschland
36.278 / 74,8% 12.223 / 25,2% 9.061 / 18,2%
Deutschland
32.029 / 78,9% 8.558 / 21,1%
6.009 / 14,3%
Deutschland
22.420 / 49,3% 23.046 / 50,7% 7.399 / 15,9%
Deutschland
45.219 / 51,1% 43.261 / 48,9% 8.008 / 8,8% 52.892 / 44,4% 66.119 / 55,6% 10.912 / 8,9%
Großteil bei Deutschland Polen
22.774 / 85,4% 3.900 / 14,6%
3.562 / 12,3%
Polen
31.864 / 74,7% 10.764 / 25,3% 4.674 / 10,6%
Polen
37.971 / 95,8% 1.652 / 4,2%
15.495 / 38,2%
Deutschland
65.128 / 99,6% 259 / 0,4%
22.090 / 33,1%
Deutschland
15.458 / 53,1% 13.679 / 46,9% 4.571 / 15,2% 2.788 / 49,7%
Großteil an Polen Deutschland
11.404 / 29,6%
Deutschland
56.170 / 69,4% 24.726 / 30,6% 17.820 / 21,5%
Deutschland
20.816 / 95,0% 1.098 / 5,0%
Deutschland
5.348 / 97,6%
133 / 2,4%
33.198 / 88,1% 4.494 / 11,9%
5.531 / 24,1%
18.675 / 25,9% 53.378 / 74,1% 6.502 / 8,8%
Polen
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Deutschland und die Volksabstimmung in Oberschlesien Tabelle 12.2 Das Abstimmungsergebnis und die Heimkehrer (fortges.)
Kreis
für Deutschland für Polen
Wahlberechtigte Verbleib des der Kat. B Kreises
Ratibor-Land Racibórz-wieś Ratibor-Stadt Racibórz-miasto Rosenberg Olesno Rybnik Rybnik Tarnowitz Tarnowskie Góry Tost-Gleiwitz Toszek-Gliwice Gesamt
26.349 / 58,7% 18.518 / 41,3% 7.619 / 16,6% 5.836 / 23,0%
Großteil zu Deutschland Deutschland
23.857 / 68,1% 11.150 / 31,9% 9.167 / 25,5%
Deutschland
22.291 / 90,9% 2.227 / 9,1%
27.928 / 34,8% 52.347 / 65,2% 10.077 / 12,2%
Großteil zu Polen 17.078 / 38,3% 27.513 / 61,7% 4.362 / 9,6% Großteil zu Polen 20.098 / 42,5% 27.198 / 57,5% 5.128 / 10,6% Großteil zu Deutschland 707.408 / 59,6% 479.365 / 40,4% 191.303 / 15,7% Großteil zu Deutschland
Tabelle 12.3 Die Abstimmung nach Gemeindegrößen
Typ der kommunalen Gebietseinheit
für Deutschland
für Polen
Gleichstand
Stadt Gemeinde Gutsbezirk Insgesamt
32 580 233 845
3 576 112 691
2 2
Quelle für alle drei Tabellen: Résultats numériques du plébiscite, Oppeln (Opole), le 24 avril 1921, in: Journal officiel de Haute-Silésie 21 (1921), S. 105–141.
TEIL III Gesellschaftliche Stimmung und externe Unterstützung
Die Flüchtigkeit der nationalen Haltungen am Vortag der Volksabstimmung James Bjork Dieser Beitrag befasst sich mit einem zentralen Aspekt der oberschlesischen Volksabstimmung vom 20. März 1921 und damit eigentlich eines jeden Grenzlandplebiszits, das nach dem Ersten Weltkrieg als Teil der Bestimmungen der Pariser Vorortverträge abgehalten wurde. Wie gefestigt waren die Wähler in ihrem nationalen Zugehörigkeitsgefühl, das sie mit ihrer Stimme bekundeten? Verstanden sie das Referendum als eine Art Volkszählung, als eine Zählung bereits bestehender und permanenter nationaler Zugehörigkeiten? War dies der Fall, so hing das Ergebnis davon ab, ob die Stimmabgabe fair und korrekt verlief und die Wahlbeteiligung möglichst hoch war; also davon, was Wahlbeobachter in den USA heutzutage unter „Mobilisierung der Basis“ verstehen. Oder gingen die Organisatoren davon aus, dass das nationale Zugehörigkeitsgefühl ungewiss und wechselhaft war? Trifft dies zu, so musste das Abstimmungsergebnis vom Stimmverhalten von Frauen und Männern abhängen, die Wahlbeobachter in den USA heute als „Wechselwähler“ oder „Spätentschlossene“ bezeichnen.1 Die Diskussionen der verbündeten Mächte in Paris vor der Entscheidung für das oberschlesische Plebiszit legen nahe, dass sie der ersteren dieser beiden Auffassungen zugeneigt waren. Als US-Präsident Woodrow Wilson, der britische Premier David Lloyd George und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau debattierten, ob die Menschen vor der Abstimmung „beeinflusst“ werden würden, setzten sie dies mit Zwang und Abstimmungsbetrug gleich, sahen es also als ein Problem an, das es zu beseitigen galt. Beispielsweise setzte Wilson „unter deutschem Einfluss stehend“ gleich mit „von deutschen Amtsträgern gelenkt“.2 Diese Bedenken konnten zum Teil dadurch aus der Welt geschafft werden, dass alliierte Truppen das Abstimmungsgebiet besetzten und jede Autorität deutscher Exekutivorgane unterbanden. Doch 1 Diese Begriffe sind in der Berichterstattung zu den jüngsten Wahlen ständig im Gebrauch gewesen. Eine aktuelle Diskussion des Forschungsstandes findet sich bei Hill, Seth J.: Changing votes and changing voters. How candidates and election context swing voters and mobilize the base, Electoral Studies 48 (2017), S. 131–48. 2 Wolff, Larry: Woodrow Wilson and the Reimagining of Eastern Europe, Palo Alto, CA 2020, S. 214–221, zit. S. 218. Siehe auch McMillan, Margaret: The Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and Its Attempt to End War, London 2002, S. 230–231.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_014
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James Bjork
die informelle Macht deutscher oder deutschfreundlicher Großgrundbesitzer, Industrieller und des katholischen Klerus wurde von Repräsentanten der polnischen Seite bei der Friedenskonferenz weiterhin als Argument vorgebracht, in welcher Form Druck auf die Wahlbevölkerung ausgeübt und eine freie und faire Abstimmung unmöglich gemacht wurde. Aus dieser Sicht war es erforderlich, wie der Historiker Larry Wolff formuliert, den „deutschen Einfluss völlig auszuschalten, um es den Polen zu ermöglichen, bei der Volksabstimmung ihrer Meinung völlig frei und ungehindert Ausdruck zu verleihen.“3 Selbstverständlich würde es gleichermaßen notwendig sein, die Polen daran zu hindern, ihren Einfluss geltend zu machen, weil ein solcher keine korrekte Registrierung der deutschen Stimmen erlaubt hätte. Eine vollständig „faire“ und „freie“ Volksabstimmung bedurfte demnach der Ausschaltung jeglicher „Einflussnahme“. Wahlen unter demokratischen Bedingungen verlaufen jedoch meist alles andere als „unbeeinflusst“. Nur in wenigen Ländern gilt die Regel, in den letzten 24 Stunden vor dem Urnengang den Wahlkampf einzustellen. Dieser kurzen Atempause gehen Wochen und Monate voraus, in denen es nicht an intensiven und emotionsgeladenen Anstrengungen mangelt, unentschlossene oder zögernde Wähler für die eigene Seite zu gewinnen. Vor der Abstimmung in Oberschlesien gab es eine besonders heftige politische Kampagne dieser Art. Abertausende von Flugblättern, Broschüren, Plakaten und Zeitungsartikeln wurden vom deutschen und polnischen Abstimmungskommissariat sowie weiteren Akteuren beider Nationalbewegungen gedruckt und unter die Leute gebracht. Im Allgemeinen handelte es sich dabei nicht um bloße Aufforderungen, zur Abstimmung zu gehen, die sich also an eine „Basis“ richteten, deren nationale Ausrichtung als gegeben galt. Vielmehr brachte die Abstimmungswerbung Argumente vor, wieso für die eine oder die andere Nation zu stimmen war, sie richtete sich also an „Wechselwähler“, deren nationale Orientierung keineswegs feststand. Diese Propaganda sprach die Einwohner auf unterschiedlichen Ebenen an. Meistens zielte sie auf das wirtschaftliche Eigeninteresse, wobei Themen wie Sozialversicherung, Kriegsreparationen, Inflation und Immigration behandelt wurden. Auch die Gefahr eines zukünftigen Krieges stellte ein vorhersehbares Thema dar, nachdem der Weltkrieg gerade erst beendet worden war.4 Katholische Identität und konfessionelle Interessen wurden in dieser bekanntlich stark kirchlich geprägten 3 Wolff: Woodrow Wilson, S. 221. 4 Die deutsche und polnische Plebiszitpropaganda untersuchten: Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2002; Zieliński, Władysław: Polska i niemiecka propaganda plebiscytowa na Górnym Śląsku, Wrocław, 1972. Eine von Rudolf Vogel gleich nach dem Plebiszit durchgeführte Untersuchung ist immer noch sehr instruktiv, nicht zuletzt, weil der Autor direkte
Flüchtigkeit nationaler Haltungen vor der Volksabstimmung
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Region gleichfalls regelmäßig in der deutschen wie auch der polnischen Propaganda angesprochen.5 Da die Volksabstimmung kurz nach der Einführung des Frauenwahlrechts stattfand, richteten sich darüber hinaus viele Plakate, Broschüren und Flugblätter ausdrücklich an nach Geschlecht unterschiedene Zielgruppen.6 Nicht nur die Botschaft, sondern auch das Medium eines Großteils der Abstimmungspropaganda ließen die Annahme erkennen, in der Wählerschaft von Oberschlesien gäbe es einen erheblichen Anteil an „Wechselwählern“. Viele Informationen wurden entweder zweisprachig veröffentlicht oder in der jeweils anderen Sprache, also prodeutsche Aufrufe auf Polnisch, propolnische auf Deutsch.7 Anders gesagt standen solch auf den unmittelbaren Effekt ausgerichtete Kampagnen in krassem Gegensatz dazu, was man als eine allmähliche, sich sukzessive vollziehende Nationsbildung bezeichnen könnte. Hatte sich jemand trotz über zwei Generationen anhaltender staatlicher Germanisierungspolitik Lesekenntnisse der polnischen Sprache angeeignet, so wurde er aufgefordert, gleichwohl für den Verbleib im deutschen Nationalstaat zu stimmen. Ortsansässige, deren Eltern oder Großeltern eine der regionalen Varianten des Polnischen gesprochen hatten, die selbst aber das Deutsche als Alltagssprache gebrauchten, wurden umgekehrt auf Deutsch aufgerufen, zur polnischen Nation „zurückzukehren“ und sich dem polnischen Nationalstaat anzuschließen. Der zeitgenössische Beobachter Rudolf Vogel bezeichnete diese Gruppe von Wählern als „schwebendes Volkstum“.8 Die Wahl der Nation, die am Tag der Abstimmung getroffen wurde, spiegelte keineswegs eine stabile nationale Identität wider, sondern war lediglich eine flexible Antwort auf die Gegebenheiten des Augenblicks, zu einem nicht unerheblichen Teil von den Parolen der Abstimmungskampagne geprägt. In der Zeit vor dem Plebiszit kommentierten die Leitungen der deutschen und polnischen Abstimmungskampagne sowie andere Beobachter häufig,
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Verbindungen zu den deutschen Akteuren der Abstimmung hatte; Vogel, Rudolf: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Beuthen OS 1931. Zur Rolle des Katholizismus und insbesondere des katholischen Klerus in der Abstimmungskampagne siehe Bjork, James: Neither German nor Pole: Catholicism and National Indifference in Upper Silesia, Ann Arbor 2008, S. 224–236. Rodriguez, Allison: ‚Scoundrels‘ and desperate mothers. Gendering German and Polish propaganda in the Upper Silesian plebiscite of 1921, in: Bjork, James/Kamusella, Tomasz/Wilson, Tim/Novikov, Anna (Hg.): Creating Nationality in Central Europe, 1880–1950: Modernity, violence and (be)longing in Upper Silesia, London 2016, S. 87–105. Weiterführend zur Plebiszitpropaganda in der jeweils anderen Sprache siehe Bjork, James: Monoglot Norms, Bilingual Lives. Readership and Linguistic Loyalty in Upper Silesia, in Bjork et al.: Creating, S. 106–127, insbesondere S. 113–118. Vogel: Deutsche Presse.
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wie schwer die Wählerabsichten einzuschätzen seien und wie viele Unentschlossene es in der oberschlesischen Wählerschaft gab. Solche Meinungen fanden sich im gesamten politischen Spektrum von den Monaten nach Ende des Weltkriegs bis zum Vorabend der Volksabstimmung. Bei einer Sitzung des Schlesischen Provinziallandtag vom 30. Dezember 1918 schätzte Ewald Latacz, ein Politiker der Zentrumspartei aus der Region, dass 80 Prozent der östlich der Oder ansässigen Oberschlesier bei einer Volksabstimmung für Polen stimmen würden, ein sehr viel höherer Anteil, als jemals zuvor bei Wahlen für die polnische Seite gestimmt hatte.9 Seine Rückschlüsse kehrten die Befürchtungen um, die Wilson und andere alliierte Regierungen zum „Einfluss“ geäußert hatten, den eine bestehende Regierung auf das Ergebnis einer Grenzlandabstimmung nehmen würde. Infolge der vernichtenden militärischen Niederlage und der wirtschaftlichen Misere sah Latacz ein überwältigendes Votum gegen die bestehende Regierung voraus, also nicht nur gegen bestimmte Amtsträger oder politische Parteien, sondern gegen den deutschen Nationalstaat als solchen. Max Bloch, linksliberaler Sanitätsrat aus Beuthen, wies diese Einschätzung zurück, stimmte aber Latacz in dem Punkt zu, die Oberschlesier seien in ihrer nationalen Orientierung höchst beeinflussbar. Auch wenn er daraus ganz andere Schlussfolgerungen zog als die Alliierten, so teilte Bloch doch deren Auffassung, dass die Behörden Einfluss ausüben konnten. Er ging davon aus, dass eine entschlossene staatliche Autorität die Menschen dazu bringen konnte, sich für die deutsche Seite zu entscheiden, weil die Oberschlesier zur Seite der Macht neigten.10 Nachdem beide Seiten bereits begonnen hatten, sich für die Abstimmungskampagne zu organisieren, hielten im Frühjahr 1920 deutsche und polnische Beobachter fest, wie schwankend und unvorhersehbar die nationalen Präferenzen vieler Einwohner immer noch waren. Am 6. April berichtete Hermann Fürst von Hatzfeldt, Bevollmächtigter der Reichsregierung für die Abstimmung in Oberschlesien, an das Auswärtige Amt, die Stimmung in der Bevölkerung sei unklar.11 Ein Lagebericht der Polnischen Militärorganisation (Polska Organizacja Wojskowa, POW) vom 17. April schloss mit der Feststellung, die Beziehungen zwischen den nationalen Gruppen veränderten
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1918 grudzień 30, Wrocław – Z protokołu rozszerzonego posiedzenia Śląskiego Wydziału Prowincjonalnego [1918, 30. Dezember, Breslau – Aus dem Protokoll der erweiterten Sitzung des Schlesischen Provinziallandtags], abgedruckt in: Popiołek, Kazimierz (Hg.): Zródła do dziejów powstań śląskich, Bd. 1, Wrocław 1963, S. 79. Ebenda, S. 81. Hatzfeldt an den preußischen Innenminister, 6. April 1920, in Popiołek: Źródła, Bd. 2, S. 122.
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sich mit jedem Tag.12 Im September 1920 machte Wojciech Korfanty, Leiter der polnischen Abstimmungskampagne, bei ähnlicher Einschätzung den Versuch einer Quantifizierung. Er warnte den Ministerrat in Warschau, wenn Polen sich am Vorabend des Plebiszits immer noch im Krieg mit Sowjetrussland befände, würde das Risiko, zum Kriegsdienst einberufen zu werden, die polnische Seite dreihunderttausend Stimmen kosten.13 Britische und US-amerikanische Beobachter schlossen sich der Auffassung an, die Wählerschaft in Oberschlesien sei unentschlossen, und daher das Ergebnis der Volksabstimmung gänzlich ungewiss. In seiner bekannten Stellungnahme zu der Region in „The Economic Consequences of the Peace“ (1919) hielt der Ökonom John Maynard Keynes fest, es bedürfe vertiefter Kenntnisse der lokalen Verhältnisse, um das Ergebnis der Volksabstimmung vorherzusagen. Keynes ging davon aus, Oberschlesien würde schließlich Polen zuerkannt werden, doch könnte in einem Jahr viel passieren, daher wäre diese Vorhersage ungewiss.14 Ein Gefühl gespannter Erwartung durchzog die Berichterstattung britischer und amerikanischer Reporter bis zum letzten Tag vor dem Referendum. Am 19. März 1921 hielt der Korrespondent der Londoner „Times“ fest, das prognostizierte Ergebnis sei immer noch „höchst umstritten“, denn das polnische Lager sage eine Mehrheit von insgesamt 75 Prozent voraus, während das deutsche Lager auf eine voraussichtliche Mehrheit in jedem einzelnen der siebzehn Wahlkreise verwies. Er führte diese entgegengesetzten Auffassungen nicht allein auf die Parteilichkeit zurück, sondern auf die Unmöglichkeit, sich anhand der enorm schwankenden Wählerabsichten ein klares Bild zu machen: „Vielen Einwohnern ist es relativ gleichgültig, welchem der beiden Länder sie angehören, und sie sehen das ganz aus Sicht des eigenen Vorteils.“15 Ausnahmsweise einmal stimmte der Korrespondent des „Manchester Guardian“ mit seinem Kollegen von der „Times“ darin überein, den Ausgang des Referendums für nicht vorhersagbar zu erklären. Mit Datum vom 10. März fragte er: „Wie wird die Abstimmung verlaufen? Jede Prophezeiung steht auf wackeligen Füßen. Alle Deutschen, mit denen ich gesprochen habe, waren sich eines überwältigenden Sieges sicher. Aber dasselbe gilt für die Polen.“ Auch die Kommentatoren leiteten diametral entgegengesetzte Vorhersagen nicht allein aus interessengebundenen Verlautbarungen ab, sondern daraus, dass viele Wähler immer noch unentschlossen waren. Der Korrespondent des „Manchester Guardian“ zitierte die Einschätzung des Direktors eines Elektrizitätswerkes in 12 13 14 15
Lagebericht der POW Nr. 24 vom 17. April 1920, in Popiołek: Źródła, Bd. 2, S. 130. Orzechowski, Marian: Wojciech Korfanty. Biografia polityczna, Wrocław 1975, S. 217–218. Keynes, John Maynard: The Economic Consequences of the Peace, 1919, S. 40, Anm. 33. Silesian Plebiscite, The Times, 19. März 1921, S. 9.
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der Region, ein Drittel der Arbeiter aus dem Ort sei für Deutschland, ein Drittel für Polen und das letzte Drittel „unklar“.16 Da es damals noch keine Meinungsumfragen gab, waren alle Versuche rein spekulativ, die Ansichten von Wählern und deren Fluktuation zu quantifizieren. Wer dies dennoch tat, zog intuitive Schlüsse aus Gesprächen mit zahlreichen Menschen, die ihrerseits mit zahlreichen anderen gesprochen hatten. Für erfahrene Beobachter und Akteure der oberschlesischen Politik gründete jede Einschätzung der Unsicherheit und der Fluktuation der gerade aktuellen Wählerabsichten nicht zuletzt auf den Schwankungen, die das Wahlverhalten der Oberschlesier vor wie nach dem Weltkrieg gezeigt hatte. In anderen Teilen des deutsch-polnischen Grenzgebietes waren Reichstagswahlen vor dem Krieg bereits informellen Plebisziten gleichgekommen, wobei die große Mehrheit der Stimmen an Parteien gegangen waren, die eindeutig deutschnational oder polnischnational orientiert gewesen sind. Im Regierungsbezirk Posen zum Beispiel erhielten die polnischen Parteien, die im Reichstag den Polnischen Klub (Koło Polskie) bildeten, zwischen 57 und 66 Prozent der Stimmen bei den insgesamt dreizehn Reichstagswahlen nach 1871. Bei den drei Wahlen zwischen Anfang des Jahrhunderts und Kriegsausbruch schwankte der auf die polnischen Parteien entfallende Stimmenanteil um weniger als drei Prozent.17 In dieser Region war das nationale Zugehörigkeitsgefühl des überwiegenden Teils der Wähler eindeutig gefestigt und übertrug sich mit großer Kontinuität auf die nächste Generation. Um einen knappen Sieg in national umkämpften Wahlkreisen zu erringen, kam es darauf an, die eigene Wählerbasis zu mobilisieren. Die Wahlen in Oberschlesien verliefen sehr viel dramatischer. Nachdem sich polnische Parteien in der Region jahrzehntelang überhaupt nicht beworben hatten, wurden sie Anfang des Jahrhunderts plötzlich sehr populär und gewannen bei den Reichstagswahlen von 1907 fast vierzig Prozent. Zeitgenossen wie Historiker vertraten allerdings unterschiedliche Ansichten darüber, ob nach diesem polnischen Durchbruch Wahlergebnisse im Vorfeld der Volksabstimmung bereits vorhersagbar geworden waren. Der Anteil von vierzig Prozent der polnischen Parteien 1907 kam dem Prozentsatz schon sehr nahe, der beim Plebiszit von 1921 auf Polen entfiel, so dass auf den ersten Blick das Argument plausibel erscheint, das Plebiszit habe die nationalen Orientierungen bestätigt, die sich zwar spät, aber doch deutlich in den letzten
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The Upper Silesian Plebiscite. How Will the Vote Go?, The Guardian, 10. März 1921, S. 10. Ritter, Gerhard: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 74.
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Jahren des Kaiserreichs abgezeichnet hatten.18 Eine andere Ziffer konnte so interpretiert werden, dass es eine relativ stabile Verteilung von 60 zu 40 zwischen prodeutschen und propolnischen Wählern gab, und zwar diejenige im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung im Januar 1919. Nachdem die polnischen Parteien zum Boykott dieser Wahl aufgerufen hatten, kam der Urnengang aus dieser Sicht praktisch einer Stimme für den Verbleib bei Deutschland gleich. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp unter sechzig Prozent. Wenn wir uns jedoch die Wahlen im Jahrzehnt vor der Volksabstimmung einmal genauer ansehen und besonders, wenn wir uns auf die Ebene der lokalen Ergebnisse begeben, kommen wir zu dem Schluss, dass nationale Bekenntnisse in diesem Zeitraum weiterhin sehr schwankend gewesen sind. Bei den Reichstagswahlen von 1912 fiel der polnische Stimmenanteil auf 31 Prozent, was bedeutete, dass die polnischen Parteien im Vergleich zu 1907 jeden vierten Anhänger verloren hatten. In vielen proletarisch geprägten Orten des oberschlesischen Industriegebiets wie Bogutschütz, Zalenze (beide heute zu Kattowitz gehörig) und Siemianowitz war der Wähleranteil der polnischen Parteien 1912 auf die Hälfte des Stands von 1907 gesunken.19 Der dramatische Anstieg und folgende Niedergang des polnischen Stimmenanteils gerade in den industriellen Vorstädten von Kattowitz, in denen Wojciech Korfanty geboren und aufgewachsen war, musste der Leitung der polnischen Abstimmungskampagne ein knappes Jahrzehnt später noch lebhaft im Gedächtnis sein. Doch selbst zeitgenössische Beobachter, die sich nur an der Entwicklung seit Ende des Weltkrieges orientiert haben, mussten auf der lokalen Ebene starke Fluktuationen der nationalen Präferenzen wahrnehmen. Die Verschiebungen in den lokalen Ergebnissen bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung von Januar 1919 und den Ergebnissen bei den Kommunalwahlen von November desselben Jahres waren wiederum im Industrierevier am auffälligsten. Beispielsweise lag in Königshütte, der größten Stadt der Region, die Wahlbeteiligung im Januar bei 78 Prozent, also nah am deutschen Durchschnitt insgesamt, woraus sichtbar wird, dass nur wenige Wahlberechtigte
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Beispielsweise argumentiert Richard Blanke, ein stabiler und vorhersagbarer Anteil von sechzig Prozent der oberschlesischen Bevölkerung habe aus „subjektiven Deutschen“ bestanden, die stets für einen Verbleib bei Deutschland eintraten, obwohl ein Drittel von ihnen sich des Polnischen als Muttersprache bediente; Blanke, Richard: Upper Silesia, 1921. The Case for Subjective Nationality, Canadian Review of Studies in Nationalism 2 (1975), S. 241–257. Archiwum Państwowe w Opolu [Staatsarchiv Oppeln], Regierungsbezirk Oppeln, Präsidialbureau, Sign. 231.
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dem Aufruf der polnischen Parteien gefolgt sind, die Wahl zu boykottieren.20 Und doch stimmten nur Monate später bei den Kommunalwahlen fast 40 Prozent der Wähler (das heißt 25 Prozent der Wahlberechtigten) für die polnische Partei oder die Polnische Sozialistische Partei.21 Um die Wählerbewegung fundiert(er) einschätzen zu können, wäre natürlich eine sehr komplizierte Regressionsanalyse notwendig gewesen. Doch muss auch für zeitgenössische Beobachter insbesondere im Nachgang von Gesprächen mit Einheimischen klar gewesen sein, dass die Wählerbewegungen viel zu umfassend waren, um allein durch die jeweils unterschiedliche Wahlbeteiligung von in ihren nationalen Präferenzen gefestigten Wählerbasen erklärt werden zu können. Viele tausend Wähler hatten nacheinander die Aufrufe der Akteure der polnischen Nationalbewegung im Jahr 1919 zuerst ignoriert und dann befolgt. Wie sie im März 1921 abstimmen würden, hing daher völlig in der Schwebe. Während sich die meisten Beobachter darüber einig waren, wie groß der Anteil unentschlossener Wähler in Oberschlesien tatsächlich war, gab es beträchtliche Unterschiede in der Bewertung der „Wechselwähler“. Anglophone Journalisten reagierten gewöhnlich irritiert oder herablassend. Frederick Augustus Voigt, Korrespondent des „Manchester Guardian“, der seinen Bachelor in deutscher Philologie am King’s College London gemacht hatte und während der Abstimmungskampagne eine gemäßigt-prodeutsche Haltung pflegte, gehörte zu den Leuten, die wenig Verständnis für die Einwohner ohne stabiles nationales Zugehörigkeitsgefühl zeigten. Er tat die oberschlesischen Wähler als „rückwärtsgewandt“ ab und kam zu dem Schluss, das Abstimmungsergebnis werde „in keinem Bezug zu den tatsächlichen Interessen Oberschlesiens stehen. Es wird nur die wandelbare Meinung des Augenblicks wiedergeben, eine Meinung, die von verlogener Propaganda verzerrt und taub ist für alles außerhalb des augenblicklichen materiellen Vorteils und der Behebung alter Beschwerdegründe.“22 Der Korrespondent der „New York Times“ äußerte sich ähnlich abfällig; Oberschlesier seien „die leichtgläubigsten Leute auf Erden, denn sie glauben einfach alles, was man ihnen sagt. Es kommt ganz darauf an, wer als letztes ihr Gehör hat.“23 Diese pessimistischen Einschätzungen der Volksabstimmung stehen in einem aufschlussreichen Widerspruch zu dem Bemühen der alliierten 20 21 22 23
Klein, Edmund: Wybory do konstytuanty niemieckiej w styczniu 1919 r. na Górnym Śląsku, in: Studia Śląskie 14 (1969), S. 37–153. Ergebnis der Gemeinderatswahlen in Oberschlesien am 9. November 1919, Breslau 1920. The Upper Silesian Plebiscite. Weakness of the Polish Claim, The Guardian, 25. Februar 1921, S. 9. German Propaganda against Poland, Silesian Plebiscite Campaign, The Times, 15. Januar 1921, S. 7.
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Regierungen, unerwünschte „Einflüsse“ im Vorfeld des Referendums zu unterbinden, waren aber auch eine zu erwartende Weiterentwicklung dieser Position. Während dieser „Einfluss“ ursprünglich einen von oben ausgeübten Zwang oder auch geradewegs Abstimmungsbetrug impliziert hatte, bezog sich die Skepsis gegenüber dem „Einfluss“ nunmehr auf die Abstimmungskampagne überhaupt. Beobachter sahen die beiderseitigen Kampagnen keineswegs als Ausdruck einer normalen, kompetitiven Umwerbung der Wählerschaft, sondern vielmehr als Zeichen von Dysfunktionalität. Die Formulierungen des „Manchester Guardian“ und der „New York Times“ deuteten an, dies gehe auf die besonderen Defizite der Oberschlesier zurück; reifere und erfahrenere Wähler „im Westen“, so durfte geschlussfolgert werden, würden sich in ihren Haltungen nicht von Wahlpropaganda beeinflussen lassen. Wie Margaret Anderson in ihrer Untersuchung zur Wahlkultur im kaiserlichen Deutschland ausgeführt hat, waren Besorgnisse um die „Beeinflussung“ des Wahlverhaltens im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert weitverbreitet und offenbarten grundsätzliche Bedenken, ob und inwieweit eine Massendemokratie überhaupt funktionieren konnte. Einige Deutsche hielten eine „Beeinflussung“, so hält Anderson fest, generell für korrupt, eine solche lag aber nach Meinung anderer doch gerade in der Natur der politischen Auseinandersetzung.24 Es war in der Tat sehr bezeichnend, dass Woodrow Wilson und David Lloyd George sich auf Wahlen in ihren Heimatländern bezogen, während diskutiert wurde, ob und wie ein Plebiszit in Oberschlesien abzuhalten sei; sie taten das nicht in der Absicht, auf erfolgreiche Vorbilder zu verweisen, sondern um herauszustellen, dass es praktisch unmöglich war, überhaupt „einflussfreie“ Wahlen abzuhalten, die vermeintlichen Wiegen der Demokratie nicht ausgenommen.25 Nicht alle zeitgenössischen Kommentatoren beschrieben die Unentschlossenheit der oberschlesischen Wähler als Symptom sozialer Rückständigkeit oder Hilflosigkeit. Schließlich waren einige der Leiter der deutschen und polnischen Abstimmungskampagne selbst noch wenige Jahre zuvor „Wechselwähler“ gewesen und hatten zunächst unklare oder wechselnde Positionen im aufkommenden Nationalkonflikt der Region bezogen, bevor sie sich endgültig für die deutsche oder polnische Seite entschieden hatten. 24 25
Anderson, Margaret L.: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000, S. 29; dt. Ausgabe: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. Beide Regierungschefs bezogen sich darauf, wie schwierig es sei, in einer kapitalistischen Gesellschaft den Einfluss von Arbeitgebern unwirksam zu machen; Lloyd George verwies auf seine Heimat Wales, Wilson nannte als Beispiel Pittsburgh; Wolff: Woodrow Wilson, S. 218.
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Eine der wortmächtigsten und aktivsten Persönlichkeiten dieser Art war Pfarrer Jan Kapica, ein gesellschaftlicher und politischer Aktivist, der während der Abstimmungskampagne eine Organisation polonophiler Priester leitete. Im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg war er von der Zentrumspartei auf die polnische Seite gewechselt, dann wieder zurück zur Zentrumspartei. So waren ihm Vorwürfe von nationalem Wankelmut und Opportunismus nicht unbekannt.26 Als der Versailler Vertrag im Sommer 1919 die Abhaltung einer Volksabstimmung vorschrieb, veröffentlichte Kapica einen Leitartikel in der Zeitung „Katolik“ (Der Katholik), um zu betonen, Oberschlesier seien nun vollständig frei zu entscheiden, ob sie die Zugehörigkeit zu Polen oder zu Deutschland wollten. Obwohl er keinen Zweifel daran ließ, dass er Polen den Vorzug gab, stellte er doch genauso heraus, der Wähler könne und solle seine eigene Entscheidung treffen, indem er abwiege, welcher Staat ihm nicht nur die Wahrung seiner nationalen, sondern auch seiner konfessionellen und wirtschaftlichen Interessen garantierte.27 Im Rückblick auf das oberschlesische Plebiszit im Abstand von hundert Jahren können wir uns aufgrund populistischer Manipulation vielleicht eher mit dem Zynismus des Korrespondenten des „Manchester Guardian“ identifizieren als mit Pfarrer Kapicas optimistischer Botschaft von demokratischer Selbstbestimmung. Heutige Leser des „Guardian“ haben schließlich ihre eigene bittere Erfahrung mit einem Referendum gemacht, dessen Ergebnis bestimmt wurde durch „verlogene Propaganda“ und unangebrachte Versuche, offene Rechnungen zu begleichen. Es ist jedoch instruktiv, sich Frederick Augustus Voigts’ spätere Reportage aus Oberschlesien anzuschauen, die gleich am Tag nach der Volksabstimmung geschrieben wurde. Voigts’ früherer scharfer Tonfall machte unversehens der Bewunderung für eine Übung in Sachen Demokratie Platz, wie sie sich ganz unerwartet vor seinen Augen abgespielt hatte. Die Wahlbeteiligung war fast universell ausgefallen (über 90 Prozent, so berichtet Voigt; tatsächlich lag sie bei mehr als 97 Prozent). Obwohl es im Vorfeld der Abstimmung zu zwei Massenaufständen und unzähligen kleineren Vorfällen politischer Gewalt gekommen war, verlief die Volksabstimmung selbst doch erstaunlich friedlich. Die Stimmauszählung wurde zügig, ordnungsgemäß und einvernehmlich abgewickelt, ohne wirklichen Anlass zu Betrugsbezichtigungen zu geben. Zwar nahm Voigt seine früheren Vorwürfe 26
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Als Kapica 1912 zur Zentrumspartei zurückkehrte, veröffentlichte er eine entschlossene Verteidigungsschrift, um zu erklären, dass seine Entscheidung darauf beruhe, gleichbleibende Prinzipien auf eine veränderliche Lage anzuwenden; Ich weiß, was ich will, Schlesische Volkszeitung, 17. Juli 1912. Obowiązek sumienia, Katolik, 7. August 1919, S. 1.
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nicht zurück, „Agitatoren, Propagandisten und Geheimagenten“ hätten eine große Rolle dabei gespielt, die beeinflussbare oberschlesische Wählerschaft zu manipulieren. Doch schloss er, während der Abstimmung selbst habe „der gesunde Menschenverstand der einfachen Leute sich frei entfalten können“.28 Meiner Einschätzung nach war der friedliche und ordentliche Verlauf der oberschlesischen Volksabstimmung, der den Korrespondenten des „Manchester Guardian“ so sehr überraschte und beeindruckte, darauf zurückzuführen, dass die Abstimmung nicht einfach oder auch nur vorrangig von einer „Mobilisierung der Basis“ abhing, sondern davon, das große Potential der „Wechselwähler“ und „Spätentschlossenen“ auszuschöpfen. Weil diese hunderttausenden von unentschlossenen Oberschlesiern potentiell gleichermaßen Deutsche wie Polen sein konnten, wurden sie von beiden nationalen Lagern heftig umworben. Daher waren sie nicht in einer nationalen Informationsblase eingeschlossen, sondern lasen, erwogen und debattierten das Gesamtspektrum deutscher und polnischer Wahlappelle und -versprechungen. Auch waren sie nicht befangen in einem national definierten sozialen Umfeld, sondern die meisten, besonders in den in gleiche Teile gespaltenen Industriegebieten, hatten Freunde, Nachbarn und sogar Familienangehörige, die sich für die jeweils andere Nationalität entschieden. Kurzum, das Plebiszit war nicht einfach ein polarisierendes und zentrifugales Ereignis, das Oberschlesier in Deutsche und Polen teilte. Es wirkte sich auch als zusammenführende, zentripetale Erfahrung aus, die Oberschlesier in einem gemeinsamen, wenn auch ephemären politischen Verband und einer gemeinsamen zweisprachigen Öffentlichkeit zusammenführte. Für diese Öffentlichkeit war die nachhaltigste Erfahrung der Volksabstimmung vom 20. März 1921 vielleicht nicht, ihre Stimme für Deutschland oder Polen abzugeben. Vielmehr waren es die vorangegangenen Monate, in der sie ihre Entscheidung zu erwägen und darüber zu befinden hatten, welcher der beiden Nationalstaaten erfolgreicher an sie appelliert und ihnen womöglich eine bessere Zukunft zu bieten hatte. Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann
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Plebiscite-Day Scenes in Upper Silesia, The Guardian, 23. März 1921, S. 7.
„Alle und alles für Oberschlesien!“ Polnische Unterstützung für den Abstimmungskampf in Oberschlesien Zbigniew Gołasz Einführende Bemerkungen „Versagt euch das Vergnügen und legt das Geld zusammen, entreißt die unglücklichen Schlesier den deutschen Händen“1 – dies war einer der Slogans, mit denen während des Kampfes um Oberschlesien versucht wurde, die polnische Gesellschaft zur Großzügigkeit und zu Spenden für Oberschlesien und die Volksabstimmungskampagne zu bewegen. Ziel des folgenden Artikels ist es, das Problem der polnischen Unterstützung im Kampf um die Region aufzuzeigen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Studie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und einen Querschnittscharakter hat. Das Thema ist so umfangreich, dass es aus redaktionellen Gründen nicht möglich war, alle damit verbundenen Aspekte zu behandeln. Allerdings existieren bereits zahlreiche Studien, in denen das allgemeine Engagement der Republik Polen, aber auch einzelner Regionen, Städte sowie sozialer und beruflicher Gruppen dargestellt wird. Ich verweise den wissbegierigen Leser auf die umfangreiche Literatur zu diesem Thema.2 Gegenstand der Studie ist auch nicht die von Polen geleistete * Zitat aus dem Werbeslogan der Zeitschrift „Tydzień Górnośląski“ nach: „Dla Górnego Śląska“ 1921, Nr. 1, S. 2. 1 Zitiert nach: Abiniak, Andrzej: „Teraz więc do walki: my do walki pieniężnej, Ślązacy orężnej“. Kilka uwag o działaniach, w czasie III powstania śląskiego, lubelskiego Uczniowskiego Komitetu Walki o Śląsk Górny, in: Śląski Almanach Powstańczy 2009, Nr. V, S. 100. 2 Hier sind u.a. folgende Positionen zu nennen: Buława, Edward: Polska ludność Śląska Cieszyńskiego wobec plebiscytu i powstań, in: Popiołek, Kazimierz/Zieliński, Henryk (Hg.): Powstania Śląskie. Materiały z Sesji Naukowej, zorganizowanej w 40 rocznicę III powstania śląskiego w ramach obchodów Tysiąclecia Państwa Polskiego, Katowice 13 i 14 VI 1961, Katowice 1963, S. 207–213; Cimała, Bogdan: Echa plebiscytu górnośląskiego w Polsce, in: Biuletyn Prasowy. 60. Rocznica Powstań Śląskich 1981, Nr. 3, S. 87–90; ders.: Pomoc Polski dla Górnego Śląska w okresie plebiscytu i powstań, in: Cimała, Bogdan/Studencki, Zbigniew (Hg.): Zagłębie Dąbrowskie a plebiscyt i powstania Śląskie z perspektywy 90 – lecia, Sosnowiec 2011, S. 55–102; Zieliński, Władysław: Stosunek społeczeństwa polskiego do powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku (1919–1921), Katowice 1986; ders.: Społeczeństwo polskie wobec sprawy górnośląskiej (1918–1922), in: Rechowicz, Henryk (Hg.): W pięćdziesiątą rocznicę powstań śląskich i plebiscytu, Katowice 1971, S. 203–227; ders.: Pomoc społeczeństwa polskiego dla ludności Górnego Śląska w latach 1919–1921, in: Pomnik Powstańców Śląskich, Katowice 1967;
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_015
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militärische Unterstützung für die den Aufstand in Oberschlesien, wenngleich sie Erwähnung findet. Der Autor hat sich vor allem auf die verschiedenen Formen der sozialen und institutionellen Unterstützung seitens des Staates und ders.: Wielkopolska a powstania śląskie (1918–1922), in: Zeszyty Naukowe UAM 1970, Nr. 73: Historia, H. 10, S. 35–50; Wygocki, Zygmunt: Polska wobec plebiscytu i powstań śląskich, in: Przegląd Zachodni 1971, Nr. 3/4, S. 73–79; Wkład innych ziem Rzeczypospolitej w walkę ludu śląskiego w czasie powstań i plebiscytu, in: Lipińska, Małgorzata (Hg.): 85 rocznica powrotu Górnego Śląska do Polski: materiały z konferencji zorganizowanej przez Komisję Emigracji i Łączności z Polakami z Zagranicy oraz senatora Bronisława Korfantego pod patronatem marszałka Bogdana Borusewicza 12 czerwca 2007 r., Warszawa 2008, S. 45–49; Jędruszczak, Tadeusz: Polityka Polski w sprawie Górnego Śląska 1918–1922, Warszawa 1958; Materniak, Stanisław: Uwagi o organizacji i działalności komitetów pomocy dla ludności śląskiej w okresie powstań i plebiscytu w latach 1919–1921, in: Studia Śląskie 1971, Bd 19; S. 279–289. Es gab auch viele lokale Beipsiele. Siehe: Florkowski, Henryk: Udział Kościanniaków w walce o polski Śląsk, in: Wielkopolska a powstania śląskie 1919–1921. Materiały z III ogólnopolskiego Seminarium Historyków Powstania Wielkopolskiego Kościan 5 II 1974, Leszno 1977, S. 135– 138; Krysiak, Zenon: Społeczeństwo powiatu ostrzeszowskiego wobec wydarzeń na Śląsku w latach 1919–1921, in: Udział ziem dorzecza Górnej Prosny w plebiscycie i powstaniach śląskich. Materiały z sesji naukowej odbytej w Wieluniu 25 IV 1971 r. dla uczenia 50 rocznicy III powstania śląskiego, Opole-Wieluń 1971, S. 136–142. Die Forschungen konzentrierten sich auch auf die Unterstützung durch bestimmte soziale und berufliche Gruppen: Wysocki, Jan: Kościół i duchowieństwo polskie wobec sprawy śląskiej. Na marginesie walki o przyłączenie Górnego Śląska do Polski w latach 1920–1921, in: Stopniak, Franciszek (Hg.): Kościół Katolicki na ziemiach Polski w czasie II wojny światowej. Materiały i studia, Warszawa 1973, S. 259–273; Humeński, Julian: Udział polskiego duchowieństwa pozaśląskiego w plebiscycie i powstaniach śląskich, in: Brożek, Andrzej (Hg.): Powstania śląskie i plebiscyt w procesie zrastania się Górnego Śląska z Macierzą. Materiały z sesji naukowej historyków powstań śląskich i plebiscytu zorganizowanej w dniach 24–25 kwietnia 1991 r. w Bytomiu oraz na Górze Św. Anny, Bytom 1993, S. 249–256; Grządzielski, Zbigniew: Udział Częstochowy w niesieniu pomocy uchodźcom w czasie akcji plebiscytowej na Górnym Śląsku, Katowice 1972, S. 131–141; Caban, Wiesław/Grzywna, Józef: Stosunek społeczeństwa kielecczyzny do powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku, in: Kwartalnik Historyczny Sobótka 1977, Nr. 4, S. 467–477; Korzonkiewicz, Jan: Udział Krakowa w akcji powstań i plebiscytu śląskiego 1918–1921, in: Rocznik Towarzystwa Przyjaciół Nauk na Śląsku, Bd. 3, 1931, S. 292–302; Maestri, Jan: Lublin i III powstanie śląskie w świetle prasy lubelskiej, in: Zeszyty Naukowe KUL 1973, Nr. 2, S. 47–54; Cygański, Mirosław/Przesmycki, Karol: Udział Łodzi w walce o przyłączenie Górnego Śląska do Polski w latach plebiscytu i powstań śląskich, in: Udział ziem dorzecza Górnej Prosny, S. 92–130; Lis, Michał: Polscy biskupi wobec plebiscytu górnośląskiego, in: Kopiec, Jan/Widok, Norbert (Hg.): Człowiek i Kościół w dziejach, Opole 1999, S. 87–94; Lewek, Michał: Górnośląski plebiscyt z roku 1921 oraz udział w nim duchowieństwa katolickiego, in: Sacrum Poloniae Millenium, Bd. 7, 1960, S. 545–621; Zieliński, Zygmunt: Udział Adama Stefana Sapiehy w sprawie śląskiej podczas plebiscytu w roku 1921, Wolny, Jerzy (hg.): Księga Sapieżynska, Bd. 2; Kraków 1986, S. 89–109; Mendel, Edmund: Nauczycielstwo Polskie wobec węzłowych problemów śląskich w latach 1919–1921, in: Kwartalnik Nauczycielstwa Opolskiego 1971, Nr. 1, S. 20–23; Popiołek, Kazimierz: Przyczynek do dziejów polskiej młodzieży akademickiej w walce o Śląsk w roku 1920, in: Studia Śląskie 1976, Bd. 33, S. 67–82.
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der polnischen Gesellschaft für die Volksabstimmungskampagne in Oberschlesien konzentriert und versucht, diese anhand einiger ausgewählter Beispiele zu charakterisieren, um Schlüsselprobleme und -momente aufzuzeigen, den Prozess des Aufbaus von Strukturen der an der Organisation der Hilfe beteiligten Vereine zu skizzieren sowie folgende Fragen zu beantworten: 1) Welche Bedürfnisse hatte der polnische Plebiszitapparat in Oberschlesien? 2) Wie gestaltete sich die Hilfe aus der polnischen Gesellschaft und welche Formen nahm sie an? 3) Wie war die Unterstützung durch die amerikanische polnische Gemeinschaft? 4) War die geleistete Hilfe ausreichend oder wäre vonseiten Polens mehr möglich gewesen?
Die Schaffung der ersten Hilfsorganisationen (1918/1919)
Es sei darauf hingewiesen, dass die Beziehungen zwischen Polen und Oberschlesien bis zum Plebiszit asymmetrisch waren. Das Interesse der oberschlesischen Gemeinschaft an Polen geht auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, also auf eine Zeit, in der der polnische Staat noch nicht auf den Landkarten Europas zu finden war. Seinen Ursprung nahm er vielmehr in der Suche nach einer eigenen Identität des Teils der oberschlesischen Gemeinschaft, der im Zuge der Schaffung der modernen deutschen Nation aus dieser herausgedrängt worden war.3 Oberschlesien war im Rahmen des nationaldemokratischen Westgedankens seit Ende des 19. Jahrhunderts am Horizont des Interesses der polnischen Gesellschaft aufgetaucht. Die reale Aussicht, dass Polen die Region in Besitz nehmen würde, ergab sich jedoch erst im Sommer 1919 im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, in dessen Artikel 88 die Durchführung einer Volksabstimmung vorgesehen war. Das Phänomen der Unterstützung für Oberschlesien selbst lässt sich in zwei Phasen unterteilen: die Phase vor dem Vertrag, als noch keine Entscheidungen über die Region bekannt waren, und die Phase nach dem Vertrag, als bekannt wurde, dass eine Volksabstimmung stattfinden würde. Auch die zweite Stufe kann nochmals in mehrere Phasen gegliedert werden. 1) Die erste Phase, die durch das wachsende bzw. beginnende Interesse der polnischen 3 Dieser Prozess wurde vorzüglich beschrieben von Linek, Bernard: Robotnicy Borsigwerku. Procesy akulturacji/asymilacji wśród robotników górnośląskich (od drugiej połowy XIX do pierwszej połowy XX wieku), in: Traba, Robert (Hg.): Akulturacja/asymilacja na pograniczach kulturowych Europy środkowowschodniej w XIX i XX wieku, Bd. 2: Sąsiedztwo polskoniemieckie, Warszawa 2009, S. 179. Siehe auch: Gołasz, Zbigniew: Zabrze (Hindenburg O/S) w 1918 r. W stronę konfrontacji, in: Rosenbaum, Sebastian (hg.): Rok 1918 na Górnym Śląsku. Przełom społeczno – polityczny, Katowice 2020, S. 185.
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Gesellschaft an der oberschlesischen Frage gekennzeichnet war und mit der Bekanntgabe der Versailler Beschlüsse begann. 2) Die Zweite Phase zeigte einen spontanen Anstieg der Unterstützung nach dem Ausbruch des Ersten Schlesischen Aufstandes. 3) In Phase drei kam es zu einem Abebben des Interesses aufgrund der Beruhigung der Lage in Oberschlesien und des Sieges der polnischen Seite bei den Kommunalwahlen (eine ruhende Phase, aber zu dieser Zeit gab es strukturelle Veränderungen in vielen Hilfsvereinen). 4) Die vierte Phase setzte nach der Einrichtung des polnischen Plebiszitapparates in Oberschlesien ein, als es zu einer Zunahme der sozialen Aktivitäten kam. 5) Die fünfte Phase war die Zeit der bolschewistischen Offensive (verbunden mit einem Rückgang der Aktivitäten aufgrund der Konzentration der Maßnahmen zur Unterstützung der Ostfront). 6) In Phase sechs erfolgte eine erneute Konzentration auf die Frage der Volksabstimmung. 7) Woraufhin in Phase sieben Anfang 1921 sämtliche Aktivitäten wieder intensiviert wurden. 8) Und schließlich folgte die achte, rückläufige Phase, die durch Protestaktio nen und die Auflösung von Komitees und Ausschüssen gekennzeichnet war. Zunächst fanden die Ereignisse in Oberschlesien, die parallel zu wichtigen Ereignissen in Polen stattfanden, in der polnischen Gesellschaft, die mit den alltäglichen Problemen der schwierigen Nachkriegsrealität beschäftigt war, keine große Beachtung. Ethnische Konflikte waren an der Tagesordnung und mündeten in militärische Aktionen, die alle Grenzen des neu gegründeten Staates betrafen. Es ist bezeichnend, dass die polnische Gesellschaft den Ereignissen im Osten und in Großpolen mehr Aufmerksamkeit schenkte. Im Mittelpunkt standen natürlich Konflikte mit Ukrainern, Litauern oder Bolschewiken, was nicht weiter verwunderlich ist. Es waren eben dies Länder, mit denen sich eine größere Verbundenheit entwickelt hatte, die durch die viel gelesenen Romane von Henryk Sienkiewicz noch vertieft wurde. Zu bedenken ist auch, dass Schlesien im Mittelalter von Polen abgespalten worden und das Bewusstsein für die Verbindung mit dieser Region nicht sehr ausgeprägt war. Es lohnt sich, an dieser Stelle die Worte des Staatschefs Józef Piłsudski nach dem Ende des Abstimmungskampfes um Oberschlesien zu zitieren, die davon zeugen, dass selbst in der politischen Elite und unter den führenden Politikern wenig Vertrauen in den Erfolg der Rückgabekampagne vorhanden war: „Wenn alle Grenzen, die Polen in jüngster Zeit geteilt haben, in dem Moment, in dem sie überschritten wurden, einen zur Rührung gebracht haben, dann löst die Grenze, die ich gerade überschritten habe, ein Gefühl aus, das größer und dauerhafter ist als alle anderen. Denn die kühnsten Träume blieben vor ihr stehen, wie vor einer unüberwindbaren Mauer, Träume konnten angesichts der scheinbar offensichtlichen Unmöglichkeit nicht einmal bestehen. Wo andere Grenzen noch frisch waren und lediglich seit einem Jahrhundert
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bestanden, hatte diese Grenze schon Dutzende von Generationen überdauert, die in der Überzeugung gelebt hatten und gestorben waren, dass sie dauerhaft und unüberwindbar war. Das Gefühl der Freude und des Triumphs ist daher umso größer und lebendiger“4, und weiter: „Dieser seltsame Fleck Erde heißt Schlesien und hat so lange ein so erfülltes eigenes Leben geführt, dass es vom übrigen Polen oft vergessen wurde. Angesichts dessen ist die Vereinigung unserer Leben das größte Wunder unter all unseren Triumphen.“5 Eine Ausnahme bildete Großpolen, das wie das Gebiet, um das es hier geht, zuvor zu Deutschland gehört hatte und um die Jahreswende 1918/1919 ebenfalls Schauplatz turbulenter Ereignisse wurde, an denen viele Oberschlesier beteiligt waren, darunter auch die Anführer der polnischen Bewegung in Oberschlesien mit Wojciech Korfanty an der Spitze. Im Januar wurde ein Unterkommissariat für Oberschlesien beim Kommissariat des Obersten Volksrates eingerichtet, das dort seit 1918 bestand. In diesem Zusammenhang ist auch Krakau zu erwähnen, wo schon relativ früh, nämlich ab Ende 1918, Unterstützung für Oberschlesien organisiert wurde, zu einem Zeitpunkt, als sich das Schicksal Großpolens gerade entschied. Krakau entwickelte sich naturgemäß zu einem der wichtigsten Zentren für die Unterstützung Oberschlesiens, was unter anderem auf die räumliche Nähe, die Traditionen und die Rolle der Stadt als Bildungszentrum für zahlreiche polnische Oberschlesier zurückzuführen war.6 Ende 1918 wurde hier der Oberschlesische Hilfsverein unter der Leitung von Pfarrer Jan Rzymełka aus Josephsdorf (Józefowiec) bei Kattowitz (Katowice) und Pater Teodor Dembiński aus Siemianowitz (Siemianowice) gegründet. Die Funktion des Sekretärs übernahm der Jugendaktivist Henryk Pachoński. Allerdings fiel die Beteiligung der Krakauer Bevölkerung an den Hilfsaktionen zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich groß aus, und die Bedeutung der gebildeten Verbände und Organisationen war im Grunde marginal.7
Der Prozess der Gründung von Hilfsorganisationen im Sommer 1919
Im Juni 1919 begann die zweite Phase der Unterstützung. Im Zusammenhang mit dem Abschluss der Friedenskonferenz und der Ankündigung des 4 Piłsudski, Józef: Przemówienie na bankiecie w Katowicach (28 sierpnia 1922), in: ders.: Pisma zbiorowe. Wydanie prac dotychczas drukiem ogłoszonych, Bd. V: Warszawa 1937, S. 275. 5 Ebenda, S. 276. 6 Pachoński, Jan: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska w okresie powstań (1919–1921), in: Nauka dla Wszystkich 1981, Nr. 46, Wrocław-Warszawa-Kraków-Gdańsk-Łódź, S. 4. 7 Ebenda, S. 5.
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Versailler Vertrages wuchs das Interesse an der Oberschlesien-Frage. Damals wurde der Name der Krakauer Hilfsgesellschaft für Oberschlesien in Gesellschaft zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens geändert.8 Ähnliche Vereinigungen entstanden auch in anderen Regionen des Landes. Auf einer Sitzung am 5. August 1919 in Posen (Poznań) beschloss das Hilfskomitee für Lemberg (Lwów) und Wilna (Vilnius, Wilno), seine Tätigkeit auf Oberschlesien auszudehnen, und wurde in Hilfskomitee für das östliche Grenzgebiet und Oberschlesien umbenannt. Bereits am 10. August organisierte das Komitee eine Kundgebung, an der Aktivisten aus Oberschlesien teilnahmen und in deren Rahmen auch eine Sammelaktion stattfand. Es wurde eine Resolution verabschiedet, um „unseren Brüdern in Oberschlesien großzügig zu helfen, sowohl mit Geld als auch mit Lebensmitteln. Wir rufen daher ausnahmslos alle auf, dies stets zu bedenken und wirklich wirksame Hilfe zu leisten“. Die Bevölkerung von Großpolen wurde aufgerufen, die Aktion in Oberschlesien tatkräftig zu unterstützen.9 Die Aktivität der polnischen Gesellschaft nahm mit Beginn des Ersten Schlesischen Aufstandes sprunghaft zu. Sein Ausbruch und die brutale Reaktion der deutschen Ordnungskräfte erschütterten die polnische Öffentlichkeit. Deutsche Repressionen, die das Streben einiger Oberschlesier nach einem Anschluss an Polen brechen sollten, verstärkten das Interesse und die Solidarität der Polen mit den Bewohnern der Region.10 Ein Teil der Elite forderte von den polnischen Behörden eine Reaktion, zugleich organisierte aber auch die Bevölkerung Unterstützung für die Aufständischen und ihre Familien. Die polnische Presse spielte dabei eine wichtige Rolle. In den ersten Tagen des Aufstands riefen die lokalen Tageszeitungen die Polen auf, den kämpfenden Oberschlesiern zu helfen, was in zahlreichen Kundgebungen in polnischen Städten Niederschlag fand. Es gab Forderungen nach einem diplomatischen und bewaffneten Eingreifen der polnischen Behörden.11 Erste Demonstrationen fanden in den Grenzstädten statt, unter anderem in Sosnowitz (Sosnowiec), und zogen sich dann durch alle Regionen des Landes. Die oberschlesische Frage wurde überall diskutiert. Am 21. August fand eine Kundgebung in Krakau statt, am 22. August in Kosten (Kościan), Radom und Petrikau (Piotrków), am 23. August in Tschenstochau (Częstochowa), Kielce, Skarżysko, Kalisch (Kalisz) 8 9 10 11
Ebenda. Zieliński, Władysław: Stosunek społeczeństwa polskiego do powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku (1919–1921), Katowice 1968, S. 10; ders.:, Udział emigrantów w plebiscycie górnośląskim, in: Studia i materiały z dziejów Śląska 1967. Bd. VIII, S. 465. Darauf macht u.a. Bogdan Cimała aufmerksam, siehe: Cimała, Bogdan: Pomoc Polski dla Górnego Śląska, S. 61. Ebenda, S. 75.
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und Posen, in Warschau, Białystok, Gnesen (Gniezno), Zawiercie und erneut in Sosnowitz und Jaworzno. Ab dem 25. August wurden die Solidaritätsaktionen auch auf die Dörfer ausgedehnt. An der Demonstration in Warschau am 27. August sollten 100.000 Menschen teilnehmen.12 Die Forderung der Presse nach Unterstützung durch die Behörden wurde von den Demonstranten aufgegriffen. Sie verlangten von der polnischen Regierung Unterstützung, auch militärische, und bekundeten ihre Solidarität mit den Kämpfern. Zugleich wurden freiwillige Helfer gesucht. Die Regierung sagte sich davon allerdings los. In der von Ignacy Paderewski unterzeichneten Proklamation an die Nation wurde erklärt, warum die Regierung die Forderungen der Demonstranten nicht erfüllen und die Kämpfer nicht unterstützen konnte. Sie wies darauf hin, dass ein Verstoß gegen den vom Sejm gebilligten Versailler Vertrag unehrenhaft für die Nation wäre: „Polen hat sein Wort nie gebrochen und wird es auch heute nicht brechen.“ Dennoch reagierte die Öffentlichkeit mit Verbitterung darauf, dass die Freiwilligen nach Hause geschickt wurden.13 Zugleich rief Paderewski jedoch zu materieller Unterstützung auf: „Reduzieren wir unsere Bedürfnisse, leben wir bescheidener, sparen wir uns das Essen vom Mund ab, solange wir die hungrigen Schlesier ernähren können“, schlug er angesichts der Unmöglichkeit einer direkten militärischen Unterstützung vor. Dies war kein Anstoß zur Gründung von Hilfskomitees, sondern drückte lediglich Akzeptanz und Unterstützung für deren Aktivitäten aus.14 Zusätzlich zu den Forderungen gegenüber den Behörden begann ein Prozess der Organisation von Hilfe an der Basis. Als eine der ersten Maßnahmen entstanden Flüchtlingsunterkünfte in 15 Grenzstädten und im Zentrum des Landes.15 Bereits in den ersten Tagen des Aufstandes überquerten 10.000 Menschen die Grenze. Dabei handelte es sich sowohl um Aufständische als auch um deren Familien. Schätzungsweise flohen insgesamt etwa 20.000 Menschen auf polnisches Staatsgebiet, was die Behörden überraschte, die dem Problem nicht gewachsen waren.16 Die Geflüchteten befanden sich unter anderem in Lagern in Praszka, Twardowice, Strzyżowice, Grodziec, Czeladź, Małobądz, Sosnowitz, Niwka, Jelenia, Jaworzno, Auschwitz (Oświęcim), Dziedzitz (Dziedzice), Schwarzwasser (Strumień) und Petrowitz (Piotrowice). Für Unterhalt und Verpflegung sorgten die Regierung, der Oberste Volksrat und die Öffentlichkeit, da die staatlichen Zuschüsse unzureichend waren. Das Ausmaß 12 13 14 15 16
Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 13–15. Ebenda, S. 17–18. Ebenda, S. 20. Cimała: Pomoc Polski dla Górnego Śląska, S. 78; Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 29. Ebenda, S. 31.
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dieser Unterstützung lässt sich zum gegenwärtigen Stand der Forschung nicht feststellen und wird wahrscheinlich nie bekannt werden.17 Allerdings sind uns Beispiele für Spenden und Beiträge bekannt. So stellte die Stadtverwaltung von Lemberg beispielsweise 50.000 Kronen für Flüchtlinge zur Verfügung.18 In diesen Aktionen lassen sich die Anfänge vieler lokaler Initiativen erkennen, die darauf abzielten, die Oberschlesier in ihrem Kampf um den Anschluss an die Republik Polen zu unterstützen. Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen und die angespannte Lage führten zur Bildung von Komitees, wie dem Hauptkomitee zur Unterstützung der Schlesier im Dombrowaer Kohlebecken, das am 23. August gegründet und von Paweł Pośpiech und Wiktor Rumpfeld geleitet wurde.19 Die Bitte der schlesischen Aufständischen um Unterstützung, die auf dem Hauptring in Krakau artikuliert wurde, fand großen Widerhall. Damals wurden 700.000 polnische Mark gesammelt und für den Aufstand gespendet, sowie Transporte mit Lebensmitteln, Kleidung und medizinischer Versorgung organisiert. Am Ende betrug die Summe an Spenden der Gesellschaft zur Verteidigung der polnischen Westgrenze in Krakau 26 Millionen polnische Mark, weitere acht Millionen kamen von der amerikanischen polnischen Gemeinschaft. Nach dem Scheitern des Aufstands unterstützte die Gesellschaft Vereine und Aktivisten in Schlesien, darunter die Volkslesegesellschaft, Arbeitergesellschaften, Gesangsvereine, die Turnvereinigung „Sokół“, die Pfadfinder und die Gesellschaft der polnischen und arbeitenden Frauen und Mädchen.20 In Posen wurde nach dem Ausbruch des Aufstandes am 21. August eine neue Vereinigung gegründet: das Hilfskomitee für Oberschlesien mit Agitations-, Militär- und Finanzabteilung, das bald in Schlesisches Verteidigungskomitee umbenannt wurde.21 Es konzentrierte sich darauf, Menschen in Großpolen in der Frage der Volksabstimmung zu aktivieren und die oberschlesischen Polen zu unterstützen. Dafür fanden zahlreiche Kundgebungen statt, bei denen Spenden gesammelt wurden.22 Unter anderem schickte das Komitee 200 Paar Schuhe und einen Wagen mit Kleidung nach Oberschlesien. Es wurden Konzerte und gesellschaftliche Veranstaltungen für die Flüchtlinge organisiert sowie Nahrungsmittelhilfe geleistet, wobei Großpolen eine Vorreiterrolle spielte. Laut Jan Przybyła, 17 18 19 20 21 22
Ebenda, S. 30. Ebenda. Cimała: Pomoc Polski dla Górnego Śląska, S. 78. Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 8–9. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 20. Sula, Dorota: Pomoc Wielkopolski dla Górnego Śląska w latach 1919–1921 w świetle prasy regionalnej, in: Durka, Jarosław (Hg.): Górny Śląsk i Wielkopolska w XIX i pierwszej połowie XX wieku. Wybrane aspekty z dziejów polityki i edukacji, Poznań 2012, S. 87–89.
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einem schlesischen Kolumnisten, wären die Flüchtlingsmassen ohne die damals von den Großpolen organisierte Verpflegung verhungert. Diese Hilfe war unverhältnismäßig – Kleinpolen und Masowien leisteten keine vergleichbare Unterstützung. Aus Großpolen kamen 281 Waggons mit Kartoffeln, 62 Waggons mit sonstigen Lebensmitteln und 18 Waggons mit Vieh, was eine erhebliche Unterstützung darstellte, da die Region mit massiven Versorgungsproblemen zu kämpfen hatte.23 Am 23. August 1919 wurde in Warschau das Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen gegründet. Anfänglich ging es darum, das Bewusstsein für die Problematik zu schärfen, und zwar mit Hilfe von Kundgebungen. Der Ausschuss gab zwei Bekanntmachungen mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren heraus. Wenig später wurde in der Hauptstadt auch das Hilfskomitee für Oberschlesien gegründet, das von Helena Paderewska, der Frau von Ignacy Paderewski, geleitet wurde. Das Komitee organisierte Sammlungen zugunsten der oberschlesischen Bedürftigen. Im August entstand in der Hauptstadt das Komitee zur Verteidigung Schlesiens, das im Gegensatz zu den bereits erwähnten Komitees mit linken Kreisen in Verbindung stand. In Lodz (Łódź) wurde der Exekutivausschuss für die Betreuung der oberschlesischen Flüchtlinge ins Leben gerufen.24 Am 26. August folgte das Komitee der Nothilfe für Oberschlesien, das später in das Zentralkomitee des Bezirks Lodz (und im März 1920 in das dortige Plebiszitkomitee) umgewandelt wurde.25 In Lemberg wiederum nahm das Komitee zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete seine Tätigkeit auf, und in Lublin das Komitee zur Vereinigung von Oberschlesien, Ermland und Masuren mit der Republik, das später in das Komitee zur Verteidigung der Plebiszitländer überführt wurde. Das Lubliner Komitee setzte sich die Sammlung von Mitteln für die Volksabstimmungskampagne aus öffentlichen Spenden zum Hauptziel.26 Darüber hinaus entstanden zahlreiche kurzlebige Organisationen, die mit sozialen und politischen, beruflichen, akademischen und Arbeiterorganisationen in Verbindung standen. Sie organisierten Spendenaktionen oder Veranstaltungen für Oberschlesien und lösten sich unmittelbar danach wieder auf.27 Auch Schulen waren an den Kampagnen beteiligt. Eine Delegation von Pädagogischen Räten polnischer Gymnasien in Warschau gründete das Oberschlesien-Komitee und gab die Parole aus, in allen Schulen des ehemaligen Kongresspolens einen 23 24 25 26 27
Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 31. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 23.
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Oberschlesien-Tag zu veranstalten.28 Es wurden Kultur- und Bildungsaktivitäten für die Flüchtlinge organisiert und die polnische Sprache unterrichtet.29 Die spontane Bewegung wurde daher schnell institutionalisiert. Verschiedenste Aktionen dienten dazu, den polnisch gesinnten Oberschlesiern nicht nur materielle, sondern auch politische Hilfe zukommen zu lassen und die Aktivitäten rund um die Volksabstimmung zu unterstützen. Die Ausschüsse stellten daneben finanzielle und personelle Hilfe zur Verfügung. Um den Geist der Großzügigkeit zu wecken, wurden Kurse, Unterrichtsstunden und Kundgebungen organisiert, bei denen die schwierige Lage der polnischen Bevölkerung in Oberschlesien unter deutscher Herrschaft dargestellt und Spenden gesammelt wurden.30 Man kann davon ausgehen, dass das steigende Interesse an der oberschlesischen Frage der unbestrittene und im Grunde genommen einzige Erfolg des Augustaufstandes gewesen ist, der die polnische Gesellschaft wirklich bewegt hat, und dass dieses Phänomen von den polnischen Militärbehörden auch wahrgenommen wurde: „Die Hilfe der Bevölkerung (…) ist sehr lebendig und positiv. Diese Stimmung und Verärgerung sollte nicht unterschätzt werden, denn es könnten fatale Umstände daraus folgen. Die Bevölkerung sollte dazu angehalten werden, ruhig und ausgeglichen zu bleiben, und die Presse sollte ihrerseits darauf achten, zu Sensationszwecken nicht noch Öl ins Feuer zu gießen.“31 Der Spätsommer 1919, d.h. die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Ersten Aufstand, war ein Schlüsselmoment für die Organisation der Hilfsstrukturen vor Ort. Ihr Gründungsprozess endet im Prinzip im September 1919. Spätere Änderungen waren nur noch formaler Natur.32 Die Erfahrungen, die man damals bei der öffentlichen Sammlung gemacht hatte, wurden dann bei den Spendenaktionen für die Volksabstimmung genutzt.33 Zu führenden Zentren der Unterstützung im Land avancierten Posen, Krakau und Warschau.34 Die Hilfe für die Flüchtlinge wurde am 1. Oktober 1919 eingestellt, als ein Amnestieabkommen geschlossen wurde, in dessen Folge viele von ihnen beschlossen, zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Kommissariat der Volksräte noch drei Millionen polnische Mark für die Zahlung von Unterstützungsleistungen an Flüchtlinge, die ihre Arbeit verloren hatten, bereitgestellt. 200 Personen, die nicht zurückkehren wollten, wurden nach Biedrusko 28 29 30 31 32 33 34
Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 32–33. Zieliński: Udział emigrantów, S. 465. Cimała: Pomoc Polski dla Górnego Śląska, S. 74. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 26. Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 4–6. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 11.
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geschickt, um dort eine Agitations- und Verwaltungsschulung zu absolvieren, um ihr Potenzial in Zukunft zu nutzen.35 Die ausgehandelte Amnestie und der Erfolg des polnischen Lagers bei den Kommunalwahlen in Oberschlesien dämpften die Aktivität der polnischen Gesellschaft. Das Interesse an der oberschlesischen Frage nahm ab, was sich auch am Engagement der Hilfskomitees ablesen lässt. Laut Władysław Zieliński war die polnische Gesellschaft davon überzeugt, dass Deutschland bei der Volksabstimmung eine Niederlage erleiden würde.36 Dieser Zeitraum wurde daher für die Umstrukturierung einiger Verbände genutzt. So fusionierte am 26. November das Komitee zur Verteidigung Schlesiens in Posen mit dem Komitee zur Unterstützung des östlichen Grenzgebietes und Oberschlesiens. Von da an traten beide unter dem Namen des erstgenannten auf.37 Im Dezember 1919 wurde bei der Polnischen Kriegsopferhilfe die Sektion Schlesische Volksabstimmung gegründet.38
Die Einrichtung des Polnischen Volkskommissariats und die Zentralisierung der Hilfsmaßnahmen im Jahr 1920
Die eigentlichen Vorbereitungen für die Volksabstimmung begannen Anfang 1920, als der Vertrag ratifiziert und die Zuständigkeit für das im Versailler Vertrag festgelegte oberschlesische Volksabstimmungsgebiet von der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission übernommen wurde, die dabei Unterstützung von Besatzungstruppen erhielten. Unter diesen Umständen entstand 1920 das Polnische Plebiszitkommissariat mit Sitz im Beuthener Hotel „Lomnitz“. Die Leitung wurde dem Führer der polnischen Bewegung in Oberschlesien, Wojciech Korfanty, anvertraut. Das Kommissariat nahm am 20. Februar des Jahres seine Arbeit auf. Es koordinierte die Vorbereitungen der polnischen Seite auf die Volksabstimmung und wusste daher am besten, worauf es ankam. Zu diesem Zeitpunkt trat der Kampf um Oberschlesien in eine entscheidende Phase und die Aktivitäten, einschließlich der Hilfe, sowohl im Plebiszitgebiet als auch in Polen wurden intensiviert. Damit gleichbedeutend begann die letzte Phase der zweiten Periode der polnischen Unterstützung für Oberschlesien. Zusammenfassend stellte Ryszard Kaczmarek fest, dass diese 35 36 37 38
Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 35. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 20. Bełza, Stanisław: Zdanie sprawy z działalności Sekcji Plebiscytu Śląskiego przy Polskiem Towarzystwie Pomocy Ofiarom Wojny za czas jej istnienia od dnia 3 grudnia 1919 r. po dzień 20 marca 1921 r., Warszawa 1921, S. 5.
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unter Einbeziehung umfangreicher finanzieller und personeller Ressourcen durchgeführt wurde, die dazu beitrugen, das polnische Kommissariat zu einer gut organisierten und effektiven Einrichtung zu machen. Entsprechende Mittel kamen sowohl von der Regierung als auch von der polnischen Gesellschaft. 400 Personen wurden zur Arbeit im Bereich der polnischen Presse in Oberschlesien entsandt, darunter Agitatoren, Lehrer und Instrukteure; aber auch Bücher und sonstige Publikationen wurden verteilt.39 Der geistliche Beistand betraf Versammlungen, Gottesdienste, Konzerte, Aufführungen und Festveranstaltungen im ganzen Land sowie im Ausland. Wie bereits erwähnt, ruhte die Tätigkeit vieler Hilfsausschüsse nach den Kommunalwahlen. Seit der Einrichtung des plebiszitären Apparats war jedoch wieder eine verstärkte Aktivität zu beobachten. Eines der Argumente, mit denen versucht wurde, die polnische Gesellschaft aus ihrer Lethargie zu holen und zu aktivieren, betraf wirtschaftliche Belange – die Einbeziehung der Region verwandelte das Land von einer landwirtschaftlichen in eine landwirtschaftlich-industrielle Region. Es wurde betont, dass Polen ohne Schlesien und Pommern ein wirtschaftlich schwaches Land war.40 Das Potenzial der Region sollte also das ganze Land stärken, das seinerseits zu einem Markt für die Produkte der oberschlesischen Industrie werden sollte. Für die polnischen Bürger bedeutete dies billige Kohle und Stahlprodukte. Im Gegenzug sollte Schlesien zu einem Absatzmarkt für polnische Agrarprodukte werden, um mithilfe dieser Symbiose den Wiederaufbau eines vom Krieg zerrütteten Landes zu befördern. Polen brauchte die schlesische Kohle und den schlesischen Stahl wie ein Fisch das Wasser, und die polnischen Wirtschaftsexperten und politischen Eliten waren sich dessen sehr wohl bewusst.41 Die Botschaft war klar: Finanzielle Opfer in der Gegenwart, Spenden für eine höhere Sache, sollten den polnischen Bürgern, aber zugleich auch den Oberschlesiern zugutekommen. Die Unterstützungskampagne organisierten in Anbetracht der bereits bestehenden Strukturen und vorhandenen Erfahrungen hauptsächlich diejenigen Komitees, die 1919 unmittelbar vor und nach dem Aufstand gebildet worden waren. Im Vergleich zum Vorjahr veränderten sich die Formen der Mittelbeschaffung. Während es sich 1919 hauptsächlich um Straßensammlungen gehandelt hatte, wurden 1920 andere Formen eingeführt, wie beispielsweise 39 40 41
Kaczmarek, Ryszard: Powstania Śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polsko-nie miecka, Kraków 2019, S. 335–336. Wanatowicz, Maria Wanda: Polska wobec Górnego Śląska w latach 1918–1922, in: KubistaWróbel, Magdalena (Hg.): 75 rocznica powrotu Górnego Śląska do Polski, Katowice 1997, S. 46–47. Cimała: Pomoc Polski dla Górnego Śląska, S. 60.
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die freiwillige Besteuerung. In Lodz konnte man eine Abgabe in Höhe von 2 bis zu 100 polnischen Mark entrichten und erhielt dafür ein Fensterbild. Eine Steuer zugunsten Oberschlesiens enthielten nun auch Restaurantrechnungen, meist etwa zehn Prozent.42 Diejenigen, die nicht spendeten, wurden in der Presse stigmatisiert. Die genannte Steuerkampagne betraf verschiedene Kreise. Die Lodzer Unternehmer beteiligten sich beispielsweise mit 1,4 Mio. polnischen und die Eisenbahner mit 1,2 Mio. Mark. Es gab Fälle, in denen Arbeitnehmer ihre Tages- oder Stundenlöhne spendeten. Künstler boten ihre Werke und Philatelisten ihre Briefmarken zur Versteigerung an, deren Erlös an Oberschlesien ging.43 Für Kinder aus Oberschlesien gab es die Möglichkeit von Ferienreisen nach Großpolen, wovon 720 Jugendliche profitierten. Auch der Bau des Andrzej-Mielęcki-Waisenhauses in Kattowitz wurde aus Spenden und Abgaben finanziert.44 In diesem konkreten Fall ging es offensichtlich um die propagandistische Ausnutzung der Aktionen. Die Hilfsmaßnahmen mobilisierten verschiedene Gruppen der polnischen Gesellschaft, darunter die akademische Welt, aber auch Schulen. Wir wissen, dass dort noch am Vorabend der Volksabstimmung Gottesdienste und Gebete für eine erfolgreiche Abstimmung abgehalten wurden. Auf Initiative von Schülern der Oberschulen in Posen und mit Unterstützung des Komitees zur Verteidigung Schlesiens erklärte man den 19. Februar 1921 zum Oberschlesischen Schuljugendtag. Die Feierlichkeiten begannen in den Kirchen, wo festliche Gottesdienste im Hinblick auf ein erfolgreiches Ergebnis der Volksabstimmung abgehalten wurden. Danach verteilten sich die Teilnehmer der Prozessionen auf die Schulen, wo Feiern stattfanden und Sammlungen für Oberschlesien durchgeführt wurden.45 Eine Delegation von Pädagogischen Räten polnischer Gymnasien in Warschau gründete das Oberschlesienkomitee und initiierte das Vorhaben, in allen Schulen der ehemaligen Kongressprovinz einen Oberschlesientag zu veranstalten.46 Ein interessantes Beispiel für die Unterstützung der Abstimmungskampagne stellt die Initiative von Schülern der Lubliner Schulen dar, die ein Schülerkomitee für den Kampf um Oberschlesien gründeten. Dies ist insofern relevant, als dass dieses Gremium neben seiner prosaischen Tätigkeit auch redaktionell tätig wurde und nicht nur Proklamationen,47 sondern auch eine Broschüre mit dem Titel „Opowiadanie o 42 43 44 45 46 47
Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 41. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 45. Sula: Pomoc Wielkopolski dla Górnego Śląska, S. 94. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 31. Das Komitee veröffentlichte zwei Proklamationen an die polnische Jugend, siehe Głos Lubelski vom 12.07.1921, S. 2.
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Śląsku“ (Erzählung über Schlesien) herausgab.48 Das Komitee war auch vor Ort aktiv und verteilte in den umliegenden Dörfern Spendenbriefmarken,49 was allerdings bei einigen Einrichtungsleitern nicht auf Zustimmung traf, die derartige Aktionen untersagten. Trotz der Schwierigkeiten sammelte der Ausschuss über 81.000 polnische Mark.50 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieses Verbot nicht aus einer Abneigung gegen die Eingliederung Oberschlesiens nach Polen resultierte, sondern vielmehr auf Zweifeln gründete, ob sich Jugendliche politisch betätigen sollten.51 Wenn wir schon bei Lublin sind, sollte auch das Akademische Komitee zur Verteidigung Oberschlesiens nicht vergessen werden, das an der örtlichen Universität tätig war. Es veröffentlichte eine Sonderausgabe für Schlesien, herausgegeben von Lucjan Miketta, einem Jurastudenten und Mitglied des Landeskomitees für die Verteidigung Oberschlesiens in Lublin. Darin fand sich der Aufruf zu großzügigen Spenden für die Eingliederung Oberschlesiens nach Polen. Der damit erzielte Gewinn betrug 5.040 polnische Mark.52 Neben seiner redaktionellen Tätigkeit organisierte der Ausschuss auch Konzerte; die Einnahmen aus einer dieser Veranstaltungen beliefen sich auf über 14.000 polnische Mark.53 Schauen wir uns genauer an, wie andere örtliche Vereinigungen und Ausschüsse in dieser Zeit arbeiteten, welche Aktivitäten sie durchführten und wofür sie ihre gesammelten Mittel verwendeten. In Großpolen liefen die Vorbereitungen für die Volksabstimmung bereits seit dem Frühjahr 1920. Die lokale Presse druckte Aufrufe an die in Posen lebenden und in Oberschlesien geborenen Personen, die zur Teilnahme an der Volksabstimmung berechtigt waren, sich für die Reise zu registrieren. Erneut wurde auch eine Sammlungskampagne gestartet. Versammlungen gab es in Gnesen54, Neutomischel (Nowy Tomyśl)55, Jarotschin (Jarocin)56 und ande ren Städten. Neben Unterstützungsbekundungen wurden mehr staatliche 48 49 50 51
52 53 54 55 56
Albiniak, Andrzej: Teraz więc do walki: my do walki pieniężnej, Ślązacy orężnej. Kilka uwag o działaniach w czasie III powstania śląskiego, lubelskiego Komitetu Walki o Górny Śląsk, in: Śląski Almanach Powstańczy 2019, Nr. V, S. 86–87. Ebenda, S. 99. Ebenda, S. 94. Andrzej Albiniak kommt zu dem Schluss, dass die Feindseligkeit möglicherweise auf die Erfahrungen des polnisch-bolschewistischen Krieges zurückzuführen ist, in dem viele Freiwillige im Schulalter getötet wurden. Der Autor vermutet, dass die Schulleiter eine Wiederholung des Szenarios befürchteten, ebenda, S. 95. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 96. Wiec na rzecz Górnego Śląska w Gnieźnie, Kurier Poznański, Nr. 89 vom 15.04.1920, S. 3. Wiec śląski w Nowym Tomyślu, Kurier Poznański, Nr. 79 vom 04.04.1920, S. 10. Wiec na rzecz Górnego Śląska w Jarocinie, Kurier Poznański, Nr. 92 vom 21.04.1920, S. 3.
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Aktivitäten gefordert und auch die Nahrungsmittelhilfe lief nach einem Aufruf des polnischen Plebiszitkomitees weiter. Es wurden je 25 Waggons Gerste, Hafer, blaue Lupine, gelbe Lupine, 20 Waggons Schmalz, 15 Waggons Kondensmilch, zehn Waggons Reis, Geflügel, Karotten und Rote Beete geliefert sowie 500.000 Zentner Kartoffeln, 3.500 Tonnen Grütze, 100.000 Zentner Zucker und 5.000 Zentner Marmelade. Auch die Selbstverwaltungen engagierten sich, so sagten etwa der Kreis Samter (Szamotuły) 20.000 polnische Mark und die Stadt Samter 5.000 polnische Mark zu. Zu Spenden wurde überdies anlässlich von Festen, Hochzeiten und Trauungen aufgerufen.57 Im Sommer 1920 kam es aufgrund der bolschewistischen Kriegsoffensive zu einem erneuten Rückgang der Hilfsaktionen. Dieses Phänomen betraf nicht nur Großpolen, sondern auch andere Regionen. Bedeutende Gebiete gerieten unter bolschewistische Besatzung. Es ist verständlich, dass zum Zeitpunkt der Bedrohung der Staatlichkeit alle Ressourcen auf die Verteidigung des Heimatlandes gerichtet waren. Die Frage Oberschlesiens rückte in den Hintergrund, und daran änderten auch die blutigen Ereignisse in Kattowitz nichts. Natürlich wurde die Kampagne nicht ganz eingestellt. Das Wesen der Sache hatte sich nur etwas verändert. Ende Juli bat beispielsweise das Allgemeinakademische Plebiszitkomitee in Posen die Kollegen, die nicht an der Front eingesetzt werden konnten, sich freiwillig für eine Beteiligung an der Plebiszitarbeit in Oberschlesien zu melden. Sie sollten in den Bereichen Kultur, Bildung, Schule und Statistik tätig werden. Nach der Schlacht von Warschau erneuerten die Einwohner Großpolens ihren Feldzug unter dem Motto: „Es gab das Wunder an der Weichsel, jetzt muss der Triumph Oberschlesiens folgen. Lasst uns nur beharrlich und aufopferungsvoll sein“. Die Unterstützungsaktion in Großpolen nahm Anfang 1921 Fahrt auf. Allein in den letzten Januar- und den ersten Februartagen fanden dort 30 Kundgebungen statt, auch in einigen Dörfern.58 Die Krakauer Gesellschaft zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens betrieb in Oberschlesien eine intensive Aufklärungsarbeit – entsprechend den Erwartungen des Plebiszitkommissariats, aber dazu später mehr. Die Aktivitäten fanden in Absprache mit der Abteilung für Bildung und Erziehung des Polnischen Plebiszitkommissariats statt. Dabei wurde unter anderem auf das intellektuelle Potenzial von Professoren der JagiellonenUniversität zurückgegriffen, die an fast 700 Kundgebungen teilnahmen. Viele oberschlesische Organisationen und Einrichtungen erhielten finanzielle Unterstützung, darunter die Gesellschaft für Bildung, die Volks- und Arbeiterlesesäle, Gesangs- und Turnvereine sowie die Gesellschaft der polnischen 57 58
Sula: Pomoc Wielkopolski dla Górnego Śląska, S. 91–92. Ebenda, S. 94.
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Frauen und andere polnische Frauenorganisationen. Aus Propagandagründen waren vor allem die Ausflüge nach Krakau und Wieliczka wichtig. Während des Abstimmungskampfes nahmen Zehntausende Menschen an rund 3.000 Veranstaltungen teil. Dies erforderte eine entsprechende Logistik: Verpflegung, Unterbringung und natürlich Akquisetätigkeiten, für die man im Vorfeld gut ausgebildete Studenten und Akademiker engagiert hatte. Zusätzlich wurden von März 1920 bis März 1921 insgesamt 67 Kurse für Agitatoren durchgeführt, an denen 4.000 Männer teilnahmen, sowie 13 Kurse für ehemalige Soldaten der Armee von General Józef Haller. Entsprechende Angebote gab es auch für weibliche Agitatoren. Die ankommenden Oberschlesier wurden am Bahnhof oder am Adam-Mickiewicz-Denkmal begrüßt. Anschließend konnten sie Vorträgen über die polnische Geschichte und Kultur lauschen und an Besichtigungen historischer Denkmäler (Burg Wawel, Salzbergwerk Groß Salze [Wieliczka]) teilnehmen. Schließlich wurden unter Beteiligung der Behörden und der Öffentlichkeit auch Abendveranstaltungen mit künstlerischem Programm, Aufführungen und Festreden organisiert. Neben der Bildungsarbeit sollte damit bei den Schlesiern ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Unterstützung seitens der polnischen Gesellschaft geweckt werden, um sie auf diese Weise zu einem Transmissionsriemen für die propolnische Agitation zu machen.59 Diese Vorgehensweise war das Ergebnis einer Anfrage von Aktivisten des polnischen Plebiszitkommissariats, darunter Edward Rybarz, mittels derer sie die wissenschaftliche Gemeinschaft um Unterstützung von Vorträgen u.a. zu den Beziehungen zwischen Schlesien und Polen, zu wirtschaftlichen Fragen und zu Sprachfragen baten. Sie wiesen auf die Beliebtheit solcher Veranstaltungen hin, die von deutscher Seite durchgeführt wurden. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass die polnische Seite in hohem Maße auf deutsche Erfahrungen zurückgriff, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird. Unter anderem reagierte der Kreis der Professoren der JagiellonenUniversität auf den Aufruf. Ihnen gehörte auch der Slawist und Dialektologe Professor Kazimierz Nitsch an, der in der Zeitschrift „Katolik“ einen Artikel mit dem Titel „Ist die oberschlesische Sprache polnisch?“ veröffentlichte.60 Auch die akademische Gemeinschaft beteiligte sich finanziell an der Plebiszitkampagne. Am 20. Februar 1921 fand in der Aula der Universität eine Festveranstaltung betreffend oberschlesische Angelegenheiten statt, mit einem Vortrag von Professor Nitsch, der anschließend in der Krakauer Presse veröffentlicht
59 60
Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 9–10. Górnoślązak 1921, Nr. 53.
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wurde.61 An diesem Abend sammelten die Universitätsgemeinschaft, Vertreter der Jagiellonen-Universität, der Akademie der Schönen Künste und der Polnischen Akademie der Künste und Wissenschaften fast 112.000 polnische Mark. Darüber hinaus wurden jeweils 6.000 polnische Mark von Schüler- und Studentenschaft sowie dem Publikum aufgebracht. An dem veranstalteten literarischen Wettbewerb nahm unter anderem der spätere bedeutende Dichter Julian Przyboś, damals selbst noch Student, teil. Der Hauptpreis betrug 1.000 polnische Mark, die Wettbewerbsbeiträge wurden in einer Broschüre mit dem Titel „Ludowi śląskiemu“ (Dem schlesischen Volke) veröffentlicht, die ehrenamtlich von Mitarbeitern der Jagiellonen-Universität erstellt wurde.62 Das Krakauer Zentrum organisierte auch Lehr- und Pädagogikkurse für Oberschlesier, um sie auf die Arbeit in oberschlesischen Schulen vorzubereiten. Entsprechende Lehrkräfte reisten auch nach Oberschlesien, um solche Kurse vor Ort durchzuführen. An der vom Polnischen Plebiszitkommissariat eingerichteten Volksuniversität bildeten sich fast 3.000 Oberschlesier weiter. Gleichzeitig erhielten Oberschlesier Unterstützung, die an den Krakauer Universitäten studierten, indem sie beispielsweise Stipendien erhielten. Eine weitere Aufgabe bestand in der Instandhaltung der Wohnheime. Darüber hinaus gab das Krakauer Zentrum Propagandadrucke und Broschüren heraus und organisierte Sammelaktionen, wobei ganze Wagenladungen von Büchern nach Schlesien transportiert wurden. Auch Wettbewerbe für Plakate zur Volksabstimmung und poetische Werke mit Bezug zu Oberschlesien fanden Eingang in den Veranstaltungskanon, die prämierten Werke wurden anschließend in gedruckter Form veröffentlicht und kostenlos verteilt. Allein die Krakauer Gesellschaft zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens veröffentlichte elf Artikel in diesem Zusammenhang.63 Auch die vielseitige geistige Unterstützung war nicht unbedeutend – sie sollte der gesamten polnischen Gesellschaft, einschließlich Vertretern der Kunstwelt, Theaterkünstlern und Musikern, ein Gefühl der Verbundenheit und Unterstützung im Kampf um Schlesien vermitteln. Konzerte der Geigerin Irena Dubiska, von Musikern der Warschauer Oper, des Posener Edmund Rygier-Theaters und anderer sowie damit einhergehend der Kontakt zur polnischen Kultur sollten ein Kontrastprogramm zur allgegenwärtigen und damit auf Dauer ermüdenden visuellen Propaganda bieten.64 Die bereits erwähnte 61 62 63 64
Heska-Kwaśniewicz, Krystyna: O udziale Uniwersytetu Jagiellońskiego w akcji na rzecz Górnego Śląska w okresie powstań i plebiscytu, in: „Studia Śląskie“ 1980, Bd. XXXVIII, S. 435–436. Ebenda. Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 19. 16–17. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 53.
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Ankunft der Künstler der Warschauer Oper, die übrigens in Hindenburg tätlich angegriffen wurden, war als Kontrapunkt zum Besuch der Wiener Philharmoniker gedacht, die von den Deutschen engagiert wurden.65 Das Warschauer Komitee wiederum unterstützte die Kultur- und Propagandatätigkeit der Oberschlesier, indem es Requisiten und Kostüme für die örtlichen Theater in Höhe von 480.000 polnischen Mark kaufte. Auch sportliche Aktivitäten spielten eine wichtige Rolle – etwa Besuche berühmter Vereine wie Pogoń Lwów66 oder die Organisation von Ausflügen in andere bedeutende polnische Städte, neben Krakau auch Lodz, Lemberg und Warschau.67 Als weiteres Beispiel für die Tätigkeit von Hilfsorganisationen kann die Polnische Kriegsopferhilfe angeführt werden, die auch außerhalb Polens aktiv war, unter anderem in der polnischen Auslandscommunity, vor allem in den Vereinigten Staaten. Ein Bericht ihres Vorsitzenden Stanisław Bełza ermöglicht es, ihre Aktivitäten nachzuvollziehen. Die Kriegsopferhilfe wurde als Zweigstelle der in St. Petersburg ansässigen Gesellschaft für die Unterstützung der armen Familien der am Krieg beteiligten Polen und der durch den Krieg verarmten polnischen Bevölkerung gegründet. Zunächst war sie im Russischen Reich und in den davon besetzten Gebieten (Galizien) tätig und richtete Gasthäuser, Unterkünfte und Verpflegungslokale ein. Nachdem Warschau von den Deutschen besetzt worden war, wurde die Zweigstelle unabhängig.68 Die Sektion Schlesien der Polnischen Kriegsopferhilfe entstand am 3. Dezember 1919 im Nachgang des polnischen Aufstandes in Oberschlesien und deren Folgen – der Massenvertreibung und der Notwendigkeit, die Waisen und Witwen der Aufständischen zu versorgen. Die sozial motivierten Sammlungen erbrachten 96.140 polnische Mark für diesen Zweck. Dies war der erste Schritt zur Einbeziehung der Kriegsopferhilfe in die Volksabstimmungskampagne. Die Mitglieder des Vereins gingen davon aus, dass eine finanzielle Unterstützung der Volksabstimmung zur Verbesserung der Lage der oberschlesischen Bevölkerung beitragen würde, was mit ihren humanitär-nationalen Ideen korrelierte. Dazu hieß es: „Sie [die oberschlesische Bevölkerung, Anm. d. Übers.] von diesen Fesseln zu befreien und für immer mit Polen zu vereinen, bedeutet 65
66 67 68
Archiwum Akt Nowych, Biuro Sejmu RP w Warszawie, (Archiv neuer Akten, Sejmbüro der Republik Polen i Warschau weiter: AAN BS), 1, Centralny Komitet Plebiscytowy (weiter CKP), PKPleb. dla Górnego Śląska Wydział Kult.-Oświatowy do marszałka Sejmu, 21.06.1920, S. 96. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 54–55. Ebenda, S. 56. Bełza, Stanisław: Zdanie sprawy z działalności Sekcji Plebiscytu Śląskiego przy Polskiem Towarzystwie Pomocy Ofiarom Wojny za czas jej istnienia od dnia 3 grudnia 1919 r. po dzień 20 marca 1921 r., Warszawa 1921, S. 4–5.
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nichts anderes, das Vorkommen von Gewalt und Vergewaltigung in unseren westlichen Grenzgebieten zu vermeiden, wenn nicht gar ganz zu beseitigen.“ Zur gleichen Zeit begann die Kriegsopferhilfe, mit den Volksabstimmungsgesellschaften in Warschau zusammenzuarbeiten. Die Idee bestand darin, die Volksabstimmungskampagne mit Sozialspenden zu unterstützen und so den Haushalt des armen, neu gegründeten Staates zu entlasten, während es andererseits auch ideologische Überlegungen gab – und zwar die Konsolidierung der Gesellschaft durch die Idee der Wiedervereinigung. Das Ergebnis sollte die Partizipation der gesamten Gesellschaft des wiedergeborenen Polens für Oberschlesien und seine Bürger sein. Arbeit, die von ihnen wahrgenommen und geschätzt werden konnte: „Um ein altes Land zurückzuerobern, sollte sich die Gesellschaft zuallererst selbst alle Mittel aufbringen, um ihre Liebe zu diesem Land zu bezeugen und damit ihre enge Verbindung damit zu dokumentieren.“ Werfen wir also einen Blick auf die 15 Monate, in denen die Sektion tätig gewesen ist. Sie begann mit der Versendung eines Aufrufs an Aktivisten im eigenen Land und in Amerika, um Spenden zu generieren. Zur gleichen Zeit wurde – dank der Großzügigkeit des Grafen Konstanty Przeździecki – eine Broschüre mit dem Titel „Warszawa Śląskowi“ (Von Warschau nach Schlesien) veröffentlicht und weiträumig verbreitet. Eine zweite und dritte Auflage war in Europa, den Vereinigten Staaten und Südamerika für die dortige polnische Gemeinschaft erhältlich. Durch die Ausstellung zur Volksabstimmung in Sosnowitz wurden Tausende von Exemplaren auch in Oberschlesien verteilt. Die Broschüre enthielt Vorträge von Alfons Parczewski, Stanisław Bełza, Józef Rostek und Władysław Evert. Unter ihrem Einfluss bildeten sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten Volksabstimmungsausschüsse in großer Zahl. Die Popularität der Broschüre veranlasste die Aktivisten, weitere Beiträge zu drucken. Dazu gehörten „Prawda o walucie polskiej“ (Die Wahrheit über die polnische Währung) von Stanisław Kempner, „Lud znad Wisły ludowi znad Odry“ (Das Weichselvolk an das Odervolk) und „Nasza stuletnia walka o niepodległość“ (Unser 100 Jahre langer Kampf um die Unabhängigkeit) von Irena Kosmowska sowie „Śląsk musi być nasz“ (Schlesien muss unser sein), „Ratujmy sieroty śląskie, Śląsk polski“ (Retten wir die schlesischen Waisenkinder. Ein polnisches Schlesien) und „W przededniu plebiscytu na Śląsku Górnym“ (Am Vortage der Volksabstimmung in Oberschlesien) von Stanisław Bełza.69 Den nächsten Schritt stellte der Druck von fünf Proklamationen an die Oberschlesier dar, die in einer Auflage von jeweils 250.000 Exemplaren erschienen. 69
Ebenda, S. 5.
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Der Autor dreier dieser Werke war Stanisław Bełza: „Głos znad Wisły do braci znad Odry“ (Eine Stimme von der Weichsel an die Brüder von der Oder), „Młodzież Warszawy do młodzieży Śląska“ (Die Jugend von Warschau an die Jugend von Schlesien) und „Nie wierz Niemcowi bracie“ (Traue dem Deutschen nicht, Bruder). Melania Parczewska wiederum war die Verfasserin der Proklamation „Kobiety polskie do sióstr śląskich“ (Die polnischen Frauen an die schlesischen Schwestern) und Romualda Baudouin de Courtenay steuerte „Do Ślązaków“ (An die Schlesier) bei. Die genannten Drucke wurden vom Komitee zur Verteidigung der westlichen Grenzen der Großpolen in Krakau und von der Schlesischen Plebiszit-Außenstelle in Sosnowitz verteilt, aber auch von der oberschlesischen sowie der polnischen Presse verbreitet, unter anderem in der Zeitschrift „Słowo Polskie“ in Argentinien.70 Am 10. August 1920 beschloss der Vorstand des Vereins angesichts der bolschewistischen Bedrohung, Mittel für die Bedürfnisse der Soldaten von General Haller bereitzustellen, wofür 350.000 polnische Mark vorgesehen waren, und eine nationale Anleihe im Wert von 100.000 polnischen Mark zu kaufen, um damit die Öffentlichkeit im In- und Ausland zu informieren.71 Auch die Agitation in Schlesien wurde weiterhin finanziert. Die Propagandatätigkeit von Józef Rostek kostete 60.000 polnische Mark, ebenso viel wurde für den Wiederaufbau der von der deutschen Miliz zerstörten Druckerei von Bronislaw Koraszewski in Oppeln (Opole) ausgegeben, und auch polnische Chöre sowie Gemeindeorchester in Schlesien wurden nach wie vor unterstützt. Darüber hinaus verteilte man Postkarten mit Ansichten polnischer Städte, Porträts von polnischen Dichterpropheten und Gemälde polnischer Maler, vor allem Jan Matejko. Spezielle Wanderkinos zeigten Filme zur polnischen Geschichte und Diavorträge. Für knapp 37.000 polnische Mark wurden Bücher für den Volkslesesaal in Oppeln neu gebunden. Es wurden Reisen für Agitatoren bezahlt, unter anderem für evangelische Aktivisten aus Warschau in den Kreis Kreuzburg (Kluczbork), und polnische Organisationen unterstützt, die in Oberschlesien aktiv waren, wie die Polnische Gewerkschaft und der Polnische Frauenverein. Für diesen Zweck standen insgesamt 15.000 polnische Mark bereit. Des Weiteren wurden Wettbewerbe für Propagandabroschüren ausgeschrieben, deren Gewinner mit Geldpreisen belohnt und deren Werke gedruckt und in Oberschlesien verteilt wurden.72 Der internationale Aufruf erbrachte fast dreimal so viele Einnahmen (2.851.939,20 polnische Mark) wie der nationale Aufruf (1.062.361,13 polnische Mark). Es ist wahrscheinlich, dass die ausländischen Spender einfach 70 71 72
Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 6–7. Ebenda, S. 8–11.
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wohlhabender waren. Am 22. März, zwei Tage nach dem Plebiszit, fand eine Sitzung der Polnischen Kriegsopferhilfe statt, auf der eine Resolution verabschiedet wurde: „In der Annahme, dass die seit Oktober 1919 bestehende Plebiszitsektion angesichts der am 20. März in Oberschlesien durchgeführten Volksabstimmung aufgelöst werden musste, beschloss die Polnische Kriegsopferhilfe, stattdessen eine Sektion Nationalkulturelle Arbeit für Oberschlesien zu gründen, die unabhängig vom Schicksal dieser Region bereits jetzt intensiv darauf hinwirken sollte, die künstlich germanisierten Städte zu entdeutschen, das Nationalbewusstsein möglichst breiter polnischer Schichten in der Region zu wecken und sie möglichst eng mit Polen zu verbinden. Das verbliebene Guthaben in Höhe von 514.129,58 polnischen Mark wurde von der neu geschaffenen Abteilung übernommen. Die Umwandlung nach Durchführung des Plebiszits erfolgte auch in Anbetracht „der Notwendigkeit, die nationale Arbeit für Oberschlesien nun in großem Umfang einzuleiten.“73 Die Vielzahl an Akteuren und die Zersplitterung der Strukturen beeinträchtigten die Wirksamkeit der Maßnahmen und behinderten zu einem gewissen Grad auch die Arbeit des polnischen Plebiszitkommissariats, das gezwungen war, Korrespondenz mit verschiedensten Stellen zu führen. Dies veranlasste die Behörden vermutlich auch dazu, eine Stelle zur Koordinierung und Kontrolle der Hilfsaktionen einzurichten. Dies geschah im Juni 1920, als auf einem Kongress verschiedenster Organisationen in Warschau das Zentrale Plebiszitkomitee gegründet wurde.74 Die Volksabstimmungskomitees, mit Ausnahme derjenigen, die auf dem Gebiet der Volksabstimmung tätig waren, sollten ihre gesammelten Gelder fortan an das Zentrale Plebiszitkomitee überweisen.75 Um das Profil des Komitees zu schärfen, wurde dieses von einer der wich tigsten Personen des Staates, dem Präsidenten des Sejms, geleitet. Diese Funktion hatte zu jener Zeit Wojciech Trąmpczyński inne. Von da an hielt das Zentrale Plebiszitkomitee Kontakt mit dem Plebiszitkommissariat in Beuthen (Bytom) und überwachte dessen Bedarfe. Das Zentrale Plebiszitkomitee war ein parteiübergreifendes Gremium, dessen Sitz sich im Gebäude des Sejms der Republik Polen befand. Ihm waren die Ausschüsse in Krakau, Posen, Warschau, Lemberg, Lodz und Lublin unterstellt. Das Zentrale Plebiszitkomitee richtete ein beratendes Gremium ein, den Plebiszitrat, der dem Ministerrat unterstellt war und sich aus Vertretern der lokalen Komitees sowie der Armee und des Innenministeriums zusammensetzte, was den Rang des Komitees 73 74 75
Ebenda. Cimała, Bogdan: Warszawa a Powstania śląskie, in: Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982, S. 598. AAN BS, 1, CKP, Okólnik do Komitetów Plebiscytowych, S. 184.
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verdeutlichen und die Frage der Vorbereitung auf die Volksabstimmung zu einer Angelegenheit von staatlicher Bedeutung heben sollte. Das Komitee beschaffte finanzielle Mittel, übernahm Verlagstätigkeiten, druckte Propagandaerzeugnisse und unterstützte diplomatische Aktionen im Ausland, indem es Broschüren über den polnischen Anspruch auf Schlesien in Fremdsprachen herausgab. Es koordinierte und organisierte auch spezielle Kampagnen in Polen – unter anderem als Organisator der Oberschlesischen Woche. Obgleich das Zentrale Plebiszitkomitee faktisch die Aufsicht über alle regionalen Organisationen hatte, machte sie von dieser Funktion kaum Gebrauch, sodass die Organisationen ein hohes Maß an Autonomie und Handlungsfreiheit genossen. Das Zentrale Plebiszitkomitee beschränkte sich auf die Vorlage von Initiativen und Richtlinien, was für die Behörden sehr bequem war. Der Grund dafür war, dass weder ein neuer Apparat noch neue Strukturen geschaffen werden mussten, da auf bereits vorhandene zurückgegriffen werden konnte. Zugleich wurde die Basisbewegung organisiert und zentralisiert.76 Hier lohnt sich ein Blick auf die Funktionsweise dieses Gremiums und anhand von Beispielen auch auf die Aktivitäten einiger Hilfsorganisationen. Mithilfe von erhaltenen Archivunterlagen des Zentralen Plebiszitkomitees, wie der Korrespondenz mit dem polnischen Plebiszitkommissariat in Beuthen, können wir feststellen, welche Bedürfnisse vom Beuthener Kommissariat artikuliert wurden und welche Maßnahmen das Zentrale Plebiszitkomitee in dieser Hinsicht ergriffen hat. Auch lässt sich nachvollziehen, welche Formen der Unterstützung bevorzugt umgesetzt wurden. Zur Bedarfsermittlung wandte sich das Zentrale Plebiszitkomitee direkt an das Polnische Plebiszitkommissariat. Wie sich herausstellte, richtete sich die Hauptsorge des Polnischen Plebiszitkommissariats auf den Mangel an qualifiziertem Personal. Die geistigen Eliten Oberschlesiens waren deutsch. Das Polnische Plebiszitkommissariat bat das Zentrale Plebiszitkommissariat um logistische Unterstützung und um die Entsendung von Aktivisten und Animateuren, die für die Organisation der Aktivitäten von Vereinigungen wie Landwirtschaftskreisen, Gesangsvereinen und anderen benötigt wurden. Außerdem fehlte es an Leitern, Agitatoren, die unter den Reisenden in der Bahn arbeiteten, und Rednern. Es wurden Schritte in diese Richtung unternommen. Täglich meldeten sich Freiwillige, die in Oberschlesien arbeiten wollten, beim Zentralen Plebiszitkommissariat und den örtlichen Volksabstimmungskomitees. Sie wurden nach Oberschlesien entsendet.77 Da in Zips (Spisz) und Arwa (Orawa) keine Volksabstimmung 76 77
Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 26. AAN BS, 1, CKP, Prezydium Rady Ministrów do Centralnego Komitetu Plebiscytowego, 22.06.1920, S. 3; ebenda, Prezydium Rady Ministrów do Centralnego Komitetu Plebiscytowego, 20.07.1920, S. 14.
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zustande gekommen war, wurde vorgeschlagen, die Agitatoren in den oberschlesischen Teil zu verlegen.78 Vor allem Krakau war, wie bereits erwähnt, als kulturelles und bildungspolitisches Zentrum des Landes aktiv an diesen Maßnahmen beteiligt. Entsprechende Schulungen wurde auch in Großpolen, in Biedrusko, durchgeführt, wo sich der Unterricht an geflüchtete Aufständische richtete, die sich nach der 1919 verkündeten Amnestie nicht zur Rückkehr entschlossen hatten (diese Aktion war übrigens der gravierendste Ausdruck für die Kontinuität der Arbeit der Feldkomitees).79 Es wurden Versuche unternommen, Priester in agitatorische Tätigkeiten einzubinden, die unter dem Vorwand der Missionierung politisch aktiv sein sollten, womit bekanntlich der Fürstbischof Adolf Bertram nicht einverstanden war. Die Anweisung lautete, „Missionare“ in die Pfarreien zu schicken und dort „außerhalb der Kirche“ Vereine gründen zu lassen, um die Bevölkerung religiös-national „aufzuklären“. Jesuiten und Redemptoristen wurden nach Oberschlesien entsandt, sowie polnische Pastoren in das protestantische Gebiet des Kreises Kreuzburg.80 Die Jesuiten schickten unter der Leitung von Pater Kazimierz Bisztyga vier Priester, die ab dem 1. Oktober 1920 in drei Ortschaften des Kreises Rosenberg (Olesno), in einer Ortschaft im Kreis Namslau (Namysłów) und in drei Ortschaften im Kreis Cosel (Koźle) missionierten. Für das Jahr 1921 war ihr Aufenthalt in sechs Ortschaften des Kreises Oppeln geplant.81 Die Redemptoristen wiederum führten Missionen in Pfarreien in den Bezirken Kattowitz und Oppeln durch.82 Im Kreis Lublinitz (Lubliniec) war kein einziger Pfarrer bereit, diese „Missionare“ aufzunehmen. Auf der anderen Seite kamen sieben Einladungen aus dem Kreis Oppeln und weitere aus anderen Kreisen.83 In diesem Zusammenhang ist die Initiative eines Komitees in Sosnowitz interessant, das beim Zentralen Plebiszitkomitee die Finanzierung eines Denkmals für die gefallenen Aufständischen des ersten schlesischen Aufstandes beantragt hat, die auf dem Friedhof von Sosnowitz begraben wurden. Vor Ort hatte man beobachtet, dass zahlreiche Pilgerfahrten auf dem Weg nach Tschenstochau die Gräber der Aufständischen besuchten. Ihr würdiges Gedenken sollte ein Beweis für die Dankbarkeit und Unterstützung der 78 79 80 81 82 83
Ebenda, Prośba przewodniczącego Centralnego Komitetu Plebiscytowego Marszałka Sejmu Trąmpczyńskiego, 17.07.1920, S. 13. Zieliński: Stosunek społeczeństwa, S. 39. AAN BS, 1, CKP, Oddział religijny PKPleb. do marszałka Sejmu, 23.09.1920. Ebenda, PKPleb. dla G. Śl. W Bytomiu do CKP, 11 XI 1920, S. 177. Ebenda. Ebenda, Marszałek Sejmu do o. Kazimierza Bisztygi, superiora domu misyjnego T.J. w Dziedzicach, S. 181.
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polnischen Bürger sein, zu einem starken Symbol der Einheit und einem wirksamen Mittel der Agitation werden. Außerdem setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch die Pilgerfahrten selbst ein hervorragendes Propagandainstrument waren. Pilger aus Schlesien erhielten eine Ermäßigung von 80 Prozent auf ihre Bahnfahrt und Unterstützung bei der Suche nach Unterkünften. Der bereits erwähnte Pater Rzymełka von der Krakauer Gesellschaft zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete wurde zum Klarenberg in Tschenstochau geschickt, um den Oberschlesiern besondere Predigten zu halten.84 Auf Ersuchen des Plebiszitkommissariats, das die Organisation von Pilgerfahrten als wirksames Agitationsmittel betrachtete und mithilfe aktiver Stadtbewohner Pilgerfahrten nach Tschenstochau organisierte, unterstützte das Zentrale Plebiszitkomitee diese mit Zuschüssen. Beispielhaft wurde Teodor Kiser genannt, der im Volksabstimmungskomitee von Tschenstochau aktiv war und aus diesem Grund seine berufliche Tätigkeit hatte aufgeben müssen.85 Das Zentrale Plebiszitkomitee organisierte auch Hilfe für Flüchtlinge und Aufständische, die sich noch in Polen aufhielten. Sie bekamen freie Kost und Logis. Von ihrer Betreuung erhoffte man sich dabei naturgemäß auch propagandistische Vorteile. Weiterhin wurde beschlossen, diese Bemühungen auf die Familien von Aufständischen und Flüchtlingen auszudehnen, die in Oberschlesien verblieben waren und sich aufgrund der Emigration oder des Todes ihrer Ernährer in einer schwierigen Situation befanden.86 Auf der Tagesordnung standen zudem die Organisation und Sicherstellung des Vertriebs von Plebiszitausweisen sowie die Plebiszitkorrespondenz87 und die Organisation der Lebensmittelhilfe.88 Zur Frage der Leistungen schlug Emil Cyran vom Polnischen Roten Kreuz 4.000 polnische Mark für Witwen, 2.000 polnische Mark für Invaliden, 1.000 Mark für Eltern und 300 Mark für Kinder vor. Er forderte, das Vorhaben noch vor der Volksabstimmung bekannt zu machen, um es für Propagandazwecke nutzen zu können.89 Insgesamt standen 6.871.000 polnische Mark für die genannten Zwecke zur Verfügung. Damit wurden 78 Invaliden und 78 Witwen, 193 Kinder von gefallenen Aufständischen, 62 Kinder 84
85 86 87 88 89
Ebenda, Miejscowy Komitet Plebiscytowy w Sosnowcu do Centralnego Komitetu Plebiscytowego w Warszawie, 02.08.1920, S. 20; ebenda, Miejscowy Komitet Plebiscytowy w Sosnowcu do Centralnego Komitetu Plebiscytowego w Warszawie, 08.10.1920, S. 25; ebenda; Marszałek Sejmu do związku Ziemian w Częstochowie, S. 167; Marszałek Sejmu do Komitetu Plebiscytowego w Częstochowie, 02.09.1920, S. 168. Ebenda, Polski Komitet Plebiscytowy do CKP, 18.07.1920, S. 103–104. Ebenda, Bank Przemysłowców w Poznaniu do CKP, 02.03.1921, S. 46. Ebenda, Ministerstwo Poczt i Telegrafów do CKP, 03.03.1921, S. 47. Ebenda, Towarzystwo Obrony Zachodnich Kresów Polski w Krakowie do CKP, 03.03.1921, S. 49–50. Ebenda, PCK dla Śląska do CKP, 09.03.1921, S. 52.
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von Invaliden und 53 Eltern unterstützt.90 Zugleich wurden Anstrengungen unternommen, um die Arbeit des polnischen Plebiszitkommissariats in Beuthen technisch zu unterstützen. Unter anderem spendete das Zentrale Plebiszitkomitee neun Fahrzeuge für diese Zwecke.91 Finanziert wurden weiterhin die Lebenshaltungskosten für Flüchtlinge sowie für Schüler und Studenten, darunter 50 Aufständische, 50 Seminaristinnen und 40 Lehrer aus Krakau. Die Mittel wurden an die Gesellschaft zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete überwiesen.92 Von den Anfängen seiner Tätigkeit bis zum Ende des Jahres 1920 überwies das Zentrale Plebiszitkomitee drei Millionen polnische Mark an den Plebiszitkommissar, sowie 20.000 Mark an verschiedene Organisatoren für Ausflüge nach Oberschlesien sowie 500.000 an das Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen.93 Auch die polnische Presse wurde mit gezielten Subventionen unterstützt, so erhielt beispielsweise der „Goniec Śląski“ aus Beuthen eine halbe Million polnische Mark.94 Das Maß an Aktivität und Spendenbereitschaft in der Öffentlichkeit war zweifelsohne groß, wenngleich es hinter den Erwartungen zurückblieb. Bis Dezember 1920 waren 11.201.683 polnische Mark zusammengekommen, davon zehn Millionen vom Ministerium und der Nationalen Union in Amerika.95 Dies stellte das das Zentrale Plebiszitkomitee jedoch nicht zufrieden, das die Großzügigkeit und das Engagement der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam und mit unverhohlenem Neid beobachtete, während es auf die dortigen Erfahrungen zurückgriff. Einer der Versuche, die Spendenkampagne in Schwung zu bringen, bestand in der Organisation der bereits erwähnten Oberschlesischen Woche im ganzen Land um die Jahreswende 1919/20 mit zahlreichen kulturellen, pädagogischen und politischen Veranstaltungen, die zweifellos nach dem Vorbild ähnlicher Oberschlesischer Tage auf dem Reichsgebiet im Rahmen der Oberschlesischen Grenzsammlung organisiert wurde.96 Die vom gegnerischen Lager eingebrachten Ideen wurden abermals kopiert. In den Anfang 1921 ergriffenen Maßnahmen ist der Versuch zu sehen, den ungünstigen Trend der abnehmenden Unterstützung für die polnische Sache in Schlesien umzukehren, was im polnischen Lager Besorgnis hervorrief. Im Rahmen der Oberschlesischen Woche sammelte das Komitee zur Verteidigung 90 91 92 93 94 95 96
Ebenda, Obliczenia zapomogowe, S. 54. Ebenda, Korespondencja Marszałka Sejmu, 14.01.1921, S. 183. Ebenda, CKP do Ministra Aprowizacji 09.03.1921, S. 209. Ebenda, Rozchód CKP za okres 15.06–11.12.1920, S. 148. Ebenda, Red. Gońca Śląskiego do CKP, 28.02.1921, S. 43–44. Ebenda, Dochód CKP za okres 15.06.–11.12.1920, S. 149. Zieliński, Stosunek społeczeństwa, S. 31.
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Schlesiens in Posen 18.662.070 polnische Mark, unter anderem 1.147.643 von Privatpersonen, 5.222.135 von Vereinen sowie Aktiengesellschaften und 593.034 von der Armee.97 Dorota Sula berichtet wiederum, dass die Sammlung, die im Rahmen der Oberschlesischen Woche in der ehemaligen preußischen Region stattfand, 10.603.268 polnische Mark einbrachte. Diese Summe setzte sich zusammen aus den Beiträgen von: Aktiengesellschaften und Unternehmen (5.074.373 polnische Mark), Posener Kaufleute (646.504), Vereine (100.529), die Armee (405.229), Ämter (134.691), Kreiskomitees (2.484.427). Darin enthalten waren auch Beiträge von Einzelspendern (608.838 polnische Mark), Beiträge, die durch Straßensammlungen, in Lokalen, Theatern und anderen öffentlichen Einrichtungen gesammelt wurden (727.139 polnische Mark), sowie kirchliche Beiträge in Höhe von 421.538 polnischen Mark. Diese Zahlen sind jedoch nicht vollständig, da sie nicht die Angaben aller Kreise enthalten.98 Ein Mittel der Aktivierung, die Anfang 1921 stattfand, war die Herausgabe von Zeitschriften in Polen, die sich mit der Volksabstimmung befassten. Die Wochenzeitschrift „Dla Górnego Śląska“ (Für Oberschlesien) beispielsweise wurde ab Februar vom Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen herausgegeben. Darin fanden sich auch Informationen über den Verlauf der Oberschlesischen Woche in der Hauptstadt, die am 30. Januar 1921 begann. Es wurden Sammlungen, Verlosungen, Vorträge in Schulen und Vorlesungen organisiert. Schriftsteller organisierten Büchersammlungen mit ihren eigenen Werken, die sie nach Schlesien schicken wollten. Die Straßenbahnen trugen den Slogan „Pamiętajmy o Śląsku“ (Erinnern wir an Schlesien) und zeigten Spendenaufrufe. Zusätzliche finanzielle Mittel wurden auch bei den zahlreichen Kundgebungen gesammelt, während Theaterkünstler auf ihre Gagen verzichteten. Auch die Erlöse von Faschingsbällen, Briefmarkenversteigerungen sowie Kino- und Theaterkarten oder Restaurantumsätze wurden gespendet. Die Kaufleute trugen im Laufe der Wochen drei Prozent ihrer Bruttoeinnahmen bei. Ähnliche Kampagnen gab es auch in anderen Städten. Indes sammelten Soldaten eine Million polnische Mark, die sie dem Oberbefehlshaber übergaben, der den Betrag spendete. Allein in Warschau sollen drei Millionen polnische Mark gesammelt worden sein.99 Das Problem, mit dem sich das Zentrale Plebiszitkomitee konfrontiert sah, war die Organisation der Ankunft der so genannten „Emigranten“, d.h. der 97 98 99
AAN, BS, 1, CKP, Zestawienie zebranych składek Tygodnia Górnośląskiego 26.12.1920– 28.02.1921, S. 144. Sula: Pomoc Wielkopolski dla Górnego Śląska, S. 95. Dla Górnego Śląska 1921, Nr. 1, S. 1–8.
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in Oberschlesien geborenen, aber nicht ortsansässigen Personen, die auf der Grundlage der Bestimmungen von Artikel 88 des Versailler Vertrages für die Teilnahme an der Volksabstimmung berechtigt waren. Mit unverhohlener Bewunderung blickte man auch hier auf das deutsche Engagement bei der Organisation der Ankunft prodeutscher Emigranten. Um die polnische Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, wurde der Nachdruck eines Artikels aus der „Magdeburger Zeitung“ mit dem Titel „Abreise der Oberschlesier zum Plebiszit“ veröffentlicht.100 Das Thema rückte schnell in den Fokus der Tätigkeit des Zentralen Plebiszitkomitees und wurde Gegenstand eines intensiven Schriftverkehrs. Das bis dahin marginalisierte Problem gewann an Bedeutung, als deutlich wurde, welche Dynamik und welches Ausmaß die Organisation der Ausreise der Emigranten in Deutschland angenommen hatte. Sämtliche Kräfte und Ressourcen des Zentralen Plebiszitkomitees waren gebunden. Da der Ausgang der Volksabstimmung von diesen Stimmen abhängen konnte, kümmerte sich das Komitee zum einen um die Registrierung der Wahlberechtigten sowie die Verteilung der Wahlkarten und zum anderen um die Beschaffung von Mitteln für die Reise- und Versicherungskosten derjenigen, die an der Abstimmung teilnehmen wollten. Außerdem wurden Schutzvorkehrungen getroffen, da man Gewalt von deutscher Seite befürchtete. Ein eigens gegründetes Konsortium polnischer Versicherungsgesellschaften schloss für jeden Wähler eine Versicherungspolice in Höhe von 1.000 polnischen Mark ab, d.h. insgesamt wurden 10 Millionen polnische Mark aufgewendet.101 Aufgrund der Befürchtung, von den Deutschen ins Visier genommen zu werden, sicherte und kontrollierte das Militär sämtliche Verkehrswege.102 Um die Reise zu erleichtern, stellte das Zentrale Plebiszitkomitee drei Omnibusse, welche die Auswanderer zu ihren Wahllokalen brachten.103 Sie kamen aus der Hauptstadt Warschau.104 Außerdem wurde das Kriegsministerium ersucht, alle Fahrzeuge, die dem Garnisonskommando in Kielce vom 15. bis 24. März zur Verfügung standen, für den Transport der Wähler zu den Versammlungsorten zu reservieren, insbesondere für Orte, die weit von Bahnhöfen entfernt lagen, wie die Gebiete Koziegłowy, Praszka und Wieluń.105 Darüber hinaus wurden die Reisen in den Zügen der Polnischen Staatsbahn in Absprache mit dem Eisenbahnministerium organisiert.106 100 101 102 103 104 105 106
AAN BS,1, CKP, Marszałek Sejmu do Kuriera Warszawskiego, 08.11.1920, S. 174. Ebenda, CKP do Ministerstwa Skarbu, 09.03.1921, S. 208. Ebenda, CKP do MSW, 08.03.1921, S. 198. Ebenda, Marszałek Sejmu do mjr. Wysockiego, 08.03.1921, S. 194. Ebenda, CKP do prez. M. Warszawy,09.03.1921, S. 207. Ebenda, CKP do MSW, 08.03.1921, S. 199. Ebenda, CKP do Komitetu Obrony Śląska w Poznaniu, 09.03.1921, S. 202.
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Außerdem erhielten die Emigranten Proviant und finanzielle Zuwendungen (3 kg Brot, 1,5 kg Wurst, 500 g Zucker, 200 Zigaretten und 100–300 polnische Mark pro Tag bzw. 200 Reichsmark, je nachdem, ob die Reise bis zu 6 Stunden dauerte oder länger). Die Fahrkarten wurden u.a. von den Betrieben finanziert, in denen die Votanten beschäftigt waren (natürlich auf polnischem Staatsgebiet).107 Lokale Komitees wie dasjenige für die Verteidigung Schlesiens in Posen und Bromberg (Bydgoszcz), das Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen auf dem Gebiet des ehemaligen Königreichs Polen, die Gesellschaft für die Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens in Krakau und das Komitee für die Verteidigung der westlichen Grenzgebiete in Lemberg waren ebenfalls aktiv an der Kampagne zur Organisation der Durchreise der „Emigranten“ beteiligt.108 Diejenigen, die mit Sonderzügen zur Wahl fuhren, wurden noch intensiver betreut. Sie wurden zu Sammelplätzen gebracht, wobei Kranke und Versehrte besondere Berücksichtigung fanden. Der erwähnte Proviant für die Wähler umfasste speziell in Posen 10 Pfund Schweinespeck, die gleiche Menge Wurst, 25 Pfund Brot, 5 Pfund Zucker, Zigaretten und Bargeld in Höhe von 200 polnischen Mark oder 100 Reichsmark. In Krakau erhielten sie doppelt so viel Geld. Auch die zurückgebliebenen Familienmitglieder erhielten materielle Unterstützung.109 Im Zentrum des Landes bemühten sich die lokalen Behörden darum, dass die Wahlberechtigten, sofern beide Elternteile verreisten, ihre Kinder in Betreuungseinrichtungen unterbringen konnten. Zudem bemühten sie sich um Erleichterungen bei den Arbeitgebern, um eine Freistellung von der Arbeit zu erwirken und die Betreuung der zeitweise verlassenen Wohnungen zu gewährleisten.110 Mit der Verkehrsabteilung der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission fanden Gespräche über den Transport durch das oberschlesische Volksabstimmungsgebiet statt. Sie sollte Verhandlungen mit der deutschen Regierung aufnehmen, damit die polnischen Wähler die eingesetzten Sonderzüge nutzen konnten.111 In Kleinpolen gab es rund 2.000 Wahlberechtigte. Die lokalen Ausschüsse beteiligten sich nicht nur an der Aktion zur Registrierung der Wahlberechtigten, sondern versuchten auch, ihnen Urlaub, Verpflegung und Versicherung zu beschaffen.112 Als man erkannt hatte, dass die deutsche Mobilisierung in der 107 108 109 110
Ebenda, Odpis korespondencji konsula generalnego Daniela Kęszyckiego, S. 35–36. Zieliński: Udział emigrantów, S. 469–470. Ebenda, S. 472. AAN BS,1, CKP, CKP do Towarzystwa Obrony Kresów Zachodnich w Krakowie, 08.03.1921, S. 196–201. 111 Ebenda, Odpis korespondencji konsula generalnego Daniela Kęszyckiego, S. 35–36. 112 Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 8–9.
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Frage der Teilnahme von Emigranten eine polnische Niederlage befördern konnte, startete man eine Protestaktion, um diese Personengruppe von der Volksabstimmung auszuschließen. Dies ist umso erstaunlicher, als dass es sich um eine polnische Idee handelte. So gab es am 20. Oktober 1920, nach der verlorenen Volksabstimmung in Ermland und Masuren, Proteste in Obornik (Oborniki) und Zempelburg (Sępólno) gegen „Fälschungen und die Teilnahme von Emigranten“ an der bevorstehenden Volksabstimmung in Oberschlesien, und im Januar 1921 wurde im Rahmen der Oberschlesischen Woche in Lemberg eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, „Emigranten“ nicht zur Wahl zuzulassen. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit zu persönlichen Opfern, der Behördenapparat zum Handeln und die Jugend zur ständigen Wachsamkeit aufgefordert. Am 23. Januar 1921 fand in Auschwitz (Oświęcim) ebenfalls eine Kundgebung gegen die Beteiligung von Emigranten statt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine koordinierte und kontrollierte Aktion von höherer Stelle gehandelt hat.113 Unmittelbar nach dem Plebiszit organisierte das Zentrale Plebiszitkomitee Protestaktionen, koordinierte die Auflösung lokaler Komitees, überwachte deren finanzielle Abwicklung114 und kümmerte sich um die Liquidation von Vermögenswerten, auch durch Versteigerungen.115
„Alles für Oberschlesien“?
Es bleibt die Frage, ob die Unterstützung der polnischen Gesellschaft ausreichend gewesen ist. Hätte Polen mehr erreichen können? Haben tatsächlich „alle“ „alles für Oberschlesien“ getan? Schätzungen zufolge stellten die polnischen Behörden 30 Millionen polnische Mark für den Abstimmungskampf zur Verfügung, was nach Ansicht von Jan Pachoński fünfzehnmal weniger war als der von Deutschland bereitgestellte Betrag.116 Andererseits kann der öffentliche Beitrag schwerlich, wenn überhaupt, beziffert werden. Er fiel – verglichen mit der deutschen Gesellschaft – sicherlich ebenfalls geringer aus, da dort mit wesentlich größerem Eifer an die Sache herangegangen wurde, was zum einen auf die Mobilisierung zur Verteidigung der bedrohten Heimat, aber auch auf ein größeres Bewusstsein für den drohenden Verlust Oberschlesiens zurückzuführen ist. Ryszard Kaczmarek fasste die polnische Hilfe zusammen und 113 114 115 116
Zieliński: Udział emigrantów, S. 482–483. AAN BS, 1, CKP, CKP do lokalnych komitetów plebiscytowych, 08.04.1921, S. 223. Ebenda, CKP do Rządowej Komisji Likwidacyjnej do spraw plebiscytowych, S. 232. Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 5.
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stellte fest, dass sie unter Einsatz großer finanzieller und personeller Ressourcen durchgeführt wurde.117 Schauen wir uns an, welche staatlichen Strukturen am Vorabend des Kampfes um Oberschlesien vorhanden waren und wie die wirtschaftliche Situation des Staates und der polnischen Gesellschaft aussah, von deren Großzügigkeit viel abhing, auch – ob sie der Aufgabe überhaupt gewachsen war. Die polnische Seite hatte bei der Konfrontation das Nachsehen. In Deutschland gab es Strukturen, die es ermöglichten, Hilfsmaßnahmen wesentlich wirksamer zu organisieren und durchzuführen. Die in der Kaiserzeit entwickelten Mechanismen hatten sich bewährt und funktionierten auch während des jüngsten Krieges gut.118 Unterdessen steckte der gesamte Staatsapparat Polens noch in den Kinderschuhen, da er aus getrennten Verwaltungs-, Steuer- und Währungssystemen nach der Teilung hervorgegangen war. Der polnische Staat trat nach nur einem Jahr seines Bestehens in den Prozess der Volksabstimmung ein. Außerdem war die polnische Gesellschaft vor allem infolge des Ersten Weltkrieges stark verarmt. Der Zustand der Staatsfinanzen war wiederum ein Spiegelbild des Zustands dieser Gesellschaft. Sowohl das Königreich Polen als auch Kleinpolen waren neben Frankreich und Belgien die Hauptschauplätze der Kämpfe während des europäischen Konflikts gewesen. Zwischen 1914 und 1918 fanden auf 85 Prozent des Gebietes der künftigen Zweiten Republik Polen Kampfhandlungen statt, die zu beispielloser Zerstörung führten.119 Ein Zeitzeuge bewertete die Situation des Landes wie folgt: „Unser Land ist ein einziges Gebiet der Zerstörung, ein Feld des Hungers.“120 Polen war flächendeckend zu einem Gebiet geworden, das einen Wiederaufbau benötigte, für den der Staat enorme Mittel bereitstellen musste. Unter diesen Bedingungen war es schwierig, großzügige Spenden für Oberschlesien zu generieren, zumal sich das Land zu dieser Zeit im Krieg mit dem bolschewistischen Russland befand, der wenige Tage vor der Volksabstimmung am 18. März 1921 mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages in Riga endete. Im Sommer 1920 befand sich die Hälfte des polnischen Territoriums und der Bürger daher außerhalb 117 Kaczmarek: Powstania Śląskie, S. 335–336. 118 Aktionen der deutschen Gesellschaft zur Unterstützung der deutschen Armee während des Ersten Weltkriegs auf Mikroebene am Beispiel von Hindenburg (Zabrze), vorgestellt von Korol-Chudy, Aleksandra, siehe: eadem, Sierpień 1914 – społeczeństwo Zabrza wobec wojny w świetle prasy lokalnej, in: Kroniki miasta Zabrza 2015, Nr. 7 (24), S. 9–38. 119 Kowalczyk, Rafał: Polityka gospodarcza Niemiec na Śląsku i w Zagłębiu Dąbrowskim w czasie I wojny światowej, in: Racięski, Jarosław/Witkowski, Michał J. (Hg.): Górny Śląsk a I wojna światowa, Katowice 2015, S. 27. 120 Z notatnika Juliusza Zdanowskiego, zitiert nach: Chwalba, Andrzej: 1919. Pierwszy rok wolności, Wołowiec 2019, S. 159.
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der Verwaltung der polnischen Behörden unter bolschewistischer Besatzung, was jegliche Hilfe erschwerte. Wie bereits erwähnt, stand der Konflikt mit dem bolschewistischen Russland 1920 im Mittelpunkt der Aktivitäten und Gedanken der politischen Elite und der Gesellschaft. Denn hier ging es nicht nur um ein Stück Land, sondern um die staatliche Existenz. Dies hatten auch die Deutschen erkannt. Sie rechneten zu dieser Zeit eigentlich mit dem Fall Polens und der Rettung Oberschlesiens für Deutschland. Schließlich standen die deutschen Unruhen von August 1920 nicht ohne Grund unter dem Banner von Finis Poloniae, wie Korfanty erwähnte.121 Erst mit dem für Polen siegreichen Krieg gegen die Bolschewiki wurde das Schreckgespenst einer deutsch-russischen Zusammenarbeit und einer Rückkehr zu den Grenzen von 1914 abgewendet. Es handelte sich jedoch um einen äußerst kostspieligen Sieg. Der Krieg im Osten sollte die polnische Regierung zehn Milliarden Franken in Gold kosten. Die finanziellen Möglichkeiten des Staates und der Gesellschaft waren also angesichts dieser Tatsachen stark eingeschränkt, der Kraftakt zur Unterstützung damit umso größer. Im Ergebnis stand ein großer Erfolg für den jungen Staat und seine Gesellschaft.122 Das Staatsoberhaupt, Marschall Józef Piłsudski, war im Gegensatz zu Korfanty, der den Ausgang der Abstimmung nach dem Zweiten Schlesischen Aufstand optimistisch einschätzte, ein Realist.123 Bereits 1920 hatte er am Erfolg Polens bei der Volksabstimmung gezweifelt. Er begründete seinen Unglauben an einen siegreichen Ausgang unter anderem mit den Erfahrungen aus den Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen: „Das schwierigste Thema ist Oberschlesien. Ich kann nicht an unseren Sieg dort glauben. Es scheint mir klüger zu sein, einen Kompromiss zu finden, der uns den reichsten Teil Oberschlesiens, z.B. bis Dzieditz (Dziedzice), sichert. Dieser Gedanke wird jedoch in Polen nicht möglich sein.“124 Piłsudski war offensichtlich besorgt über das Fehlen einer angemessenen Atmosphäre für einen Kompromiss, der sicherlich von allen politischen Seiten abgelehnt worden wäre. Seiner Meinung nach waren die für den Abstimmungskampf getätigten Ausgaben sinnlos, 121 Korfanty, Wojciech: Odezwa do ludu śląskiego, Katowice 1927, S. 10. 122 Pachoński: Pomoc Krakowa dla Górnego Śląska, S. 5. 123 Im Bericht des Polnischen Plebiszitkommissariats über den Generalstreik und die bewaffnete Bewegung vom 19. bis 26. August 1920 an das Präsidium des Ministerrats schrieb Korfanty: „Unsere derzeitige Situation ist ausgezeichnet. Die Deutschen geben sogar zu, dass an einem für die Polen günstigen Abstimmungsergebnis nicht gezweifelt“ wird, siehe: Wojciech Korfanty, O powstaniu 1920 roku, bearb. v. Zbigniew Gołasz, in: CzasyPismo 2021, Nr. 1 (19), S. 153. 124 Nowik, Grzegorz: Odrodzenie Rzeczypospolitej w myśli politycznej Józefa Piłsudskiego 1918–1922, Teil 2, Warszawa 2020, S. 306.
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rausgeschmissenes Geld, was nichts daran änderte, dass er selbst spendete, und zwar in beträchtlichem Umfang – eine Million polnische Mark.125 Da er aus dem militärischen Bereich kam, sagte er voraus, dass die Beilegung des Konflikts mit bewaffneten Mitteln erfolgen würde, und erklärte: „Ich werde 4.000 meiner besten Leute“ zur Unterstützung der bewaffneten Bewegung in Oberschlesien einsetzen.126 Tatsächlich nahmen mehrere tausend beurlaubte Soldaten und Offiziere der polnischen Armee am dritten polnischen Aufstand teil. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass sich beide Seiten des Konflikts seit dem ersten Aufstand, der der deutschen Seite die Entschlossenheit des polnischen Lagers vor Augen geführt hatte, nicht nur auf die Volksabstimmung vorbereiteten, sondern auch auf eine bewaffnete Auseinandersetzung.127 Aus dem Polnischen von David Skrabania
125 Drozdowski, Marek: Śląsk i Zagłębie Dąbrowskie w myśli politycznej Józefa Piłsudskiego, in: Niepodległość i Pamięć 1997, Nr. 4/2, S. 43. 126 Nowik: Odrodzenie Rzeczypospolitej, S. 254–255. 127 Ebenda, S. 259.
Der Abstimmungskampf im Rheinland und in Westfalen: Das Beispiel Bottrop Lutz Budrass Einleitung In den Industrieregionen der preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen gab es 1910 rund 31.000 Menschen, die im Regierungsbezirk Oppeln geboren waren. Nach der gleichen Zählung lebten in den beiden westlichen Provinzen knapp eine Viertel Million polnische Muttersprachler. Beide Gruppen konzentrierten sich im Ruhrgebiet, waren aber dort ungleichmäßig verteilt. Menschen mit Polnisch als Muttersprache fanden sich überwiegend im Osten und Norden des Ruhrgebiets, beispielsweise in den Städten Herne und Recklinghausen (je knapp 12.500), im Kreis Bochum (17.000), im Kreis Dortmund (36.000) und im Kreis Gelsenkirchen (40.000). Genau dort wohnten aber verhältnismäßig wenige Oberschlesier: in Herne und Recklinghausen 400 und 500, in Bochum 800, in Gelsenkirchen 1.700, in Dortmund knapp 2.000. Nicht ganz so deutlich unterschied sich die relative Größe der beiden Gruppen in den großen Städten im westlichen Ruhrgebiet. In Duisburg lebten rund 7.000 Menschen mit polnischer Muttersprache und 900 Oberschlesier, in Oberhausen knapp 9.000 Polnischsprachige bei 1.000 Oberschlesiern. In der Stadt Essen gab es knapp 4.000 Polnisch sprechende Personen, davon knapp 1.000 im Regierungsbezirk Oppeln geborene.1 Eine Häufung von Angehörigen beider Gruppen fand sich nur in drei, relativ genau zu bestimmenden Gegenden im Ruhrgebiet. In der Stadt Hamborn, heute Teil von Duisburg, gab es 17.500 Polnisch sprechende Menschen und knapp 2.500 Oberschlesier; im Kreis Essen, der sich überwiegend nördlich der Stadt Essen ausdehnte, bei einer ähnlich großen Zahl Polnischsprachiger etwa 2.000 Oberschlesier. Am größten war die Verdichtung von Menschen mit diesen beiden statistischen Merkmalen jedoch im Kreis Recklinghausen, der sich südwestlich der gleichnamigen Stadt bis hin zum Kreis Essen erstreckte. Von dessen 250.000 Einwohnern sprachen 40.000 Polnisch als Muttersprache. Gleichzeitig lebte dort die Masse derer, die im Regierungsbezirk Oppeln geboren waren, nämlich 9.500 Personen. Und im Kreis Recklinghausen gab es auch die mit Abstand größte Überschneidung beider Gruppen, die für die 1 Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat 11 (1914), S. 26–31. Danach auch das folgende.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_016
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Volksabstimmung über Oberschlesien recht bedeutend war: Ziemlich genau zwei Drittel der 9.500 in Oberschlesien Geborenen – 6.562 – gaben an, Polnisch als Muttersprache zu sprechen. Das betraf vor allem eine Gemeinde im Kreis Recklinghausen, die zu spät Stadt wurde, als dass sich ihre Rolle als Zentrum der polnisch sprechenden Oberschlesier im Ruhrgebiet schon bei der Volkszählung 1910 hätte statistisch niederschlagen können, nämlich Bottrop – die Hauptstadt der Oberschlesier im Westen und dies schon seit 1871, lange bevor polnische Arbeiter aus anderen Provinzen – überwiegend Posen – ins Ruhrgebiet wanderten.2 Die enorme Verdichtung von Oberschlesiern in Bottrop ging auf die Essener Kaufleute zurück, die 1860 das Bergregal des Herzogs von Arenberg erworben und dazu die Arenberg’sche AG für Bergbau und Hüttenbetrieb gegründet hatten. Einer der Kaufleute, Ernst Waldthausen, war als Wollhändler mehrfach nach Oberschlesien gereist, und pflegte wohl entsprechende Kontakte, die es der Arenberg’schen AG möglich machten, eine Elitenwanderung von gelernten Bergarbeitern in Gang zu setzen, um dem extremen Fachkräftemangel im Bergbau der westlichen Provinzen zu begegnen. Bis 1908 stellte die Arenberg’sche AG fast 15.000 oberschlesische Bergleute ein, die überwiegend aus dem Abbaugebiet bei Rybnik und dem südlich von Ratibor gelegenen Hultschiner Revier stammten. Diese Strategie sorgte für eine einzigartige unternehmerische Erfolgsgeschichte. Die Arenberg’sche AG konnte schon 1873, bald nachdem sie mit zahlreichen Oberschlesiern den Betrieb auf ihrer größten Zeche Prosper II in Bottrop aufgenommen hatte, eine Dividende von nicht weniger als 40 Prozent ausschütten, 1890 und 1891 lag diese sogar bei 80 Prozent. Das Unternehmen bequemte sich überhaupt erst dazu, in größerer Zahl auch Arbeiter aus den anderen östlichen Provinzen einzustellen und mühsam anzulernen, als der Zustrom von Bergarbeitern aus dem Kreis Rybnik wegen des industriellen Aufbruchs in Oberschlesien zur Jahrhundertwende versiegte.3
2 Zur Quantifizierung der oberschlesischen Einwanderung ins Ruhrgebiet und nach Bottrop im Kontrast zur älteren Forschung: Skrabania, David: Keine Polen? Bewußtseinsprozesse und Partizipationsstrategien unter Ruhrpolen zwischen der Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik, Herne 2019, S. 56f. 3 Eyll, Klara van: Ernst Waldthausen (1811–1883), in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien 9 (1967), S. 14–38; Schmidt, H. Th.: Belegschaftsbildung im Ruhrgebiet im Zeichen der Industrialisierung, erläutert am Beispiel der Zechen Prosper I–III der Arenberg Bergbau GmbH in Bottrop (Westfalen), in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 2 (1957), S. 261–272, hier S. 266f.; 100 Jahre Arenberg, 1856–1956, Essen 1956, S. 16ff.
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Es ist davon auszugehen, dass die Oberschlesier, die 1910 in anderen Städten und Kreisen des Ruhrgebiets lebten, zu einem großen Teil aus Bottrop dorthin gewandert waren: Die anderen Gemeinden, auf welche die skizzierte Häufung der beiden statistischen Merkmale in den Kreisen Recklinghausen und Essen zurückgeht – Polnischsprechende und in Oberschlesien Geborene – gruppierten sich konzentrisch um Bottrop herum: in Osterfeld, Gladbeck und Horst-Emscher im Kreis Recklinghausen;4 in Gerschede, Dellwig, Karnap und Katernberg im Kreis Essen. Auch die Häufung in Hamborn, 20 km südwestlich, ging offenbar auf eine Binnenwanderung aus Bottrop zurück. Nur 15,5 Prozent der dort lebenden Polnisch Sprechenden gaben 1910 an, in diesem Ort geboren zu sein. Das war einer der niedrigsten Werte im Ruhrgebiet, während der Kreis Recklinghausen den mit Abstand höchsten aufwies: 40,1 Prozent der dort lebenden Polnischsprachigen waren Ortsgebürtige. Die Sache schien also ausgemacht zu sein. Der Anteil der beim Plebiszit abstimmungsberechtigten gebürtigen Oberschlesier war 1921 naturgemäß noch geringer als 1910, doch bewies der Umstand, dass auch ihre im Westen geborenen Nachkommen Polnisch als Muttersprache angaben, dass die nationalpolnische Haltung der Oberschlesier in Bottrop und den Nachbargemeinden anscheinend ungebrochen war. Bei den preußischen Gemeindewahlen im März 1919 erhielt die Polenpartei in Bottrop 6.164 von insgesamt 20.593 abgegebenen Stimmen:5 „Von 70.000 Einwohnern in Bottrop sind mindestens 25.000–30.000 Schlesier (Kinder eingerechnet). Wahlberechtigt waren etwa 7–8.000 Menschen, welche fast sämtlich in Oberschlesien geboren sind. Hiervon sind mindestens 90 % ganz polnischer Gesinnung,“6 stellte ein Bottroper Oberschlesier 1921 fest. Dass sie sich nicht als Teil des deutschen Nationalstaats begriffen, hatte ein großer Teil von ihnen schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 zum Ausdruck gebracht, bei denen die Polenpartei nicht angetreten war. Die Wahlbeteiligung, die in Bottrop mit insgesamt 75,8 Prozent ohnehin deutlich unter dem Reichsdurchschnitt lag, war in den Stimmbezirken, in denen die Polenpartei im März 1919 ihre besten Ergebnisse erzielen sollte, noch viel geringer: In den vier Stimmbezirken des oberschlesischen Viertels, das sich südöstlich der Bottroper Innenstadt bis
4 Gemeindelexikon für die Provinz Westfalen sowie die Fürstentümer Waldeck und Pyrmont, Berlin 1909, S. 68f. 5 Werte nach Bucksteeg, Josef: „Wie eine Pflanze in fremder Erde“. Zur Geschichte der oberschlesischen Polen in Bottrop, Bottrop 2008, S. 144f. Leicht abweichend Murphy, Richard: Gastarbeiter im Deutschen Reich. Polen in Bottrop 1891–1933, Wuppertal 1982, S. 161. 6 Zuschrift eines „polentreuen Oberschlesiers im Westen“, Der Weiße Adler, 13.3.1920.
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knapp vor die Tore der erwähnten Zeche Prosper II erstreckte, lag sie bei nur rund 63 Prozent.7 Die Hoffnung, die gebürtigen Oberschlesier aus Bottrop würden kollektiv für Polen stimmen, täuschte dennoch. Etwa ein Viertel der Abstimmungsberechtigten im Rheinland und in Westfalen lebte in Bottrop, allerdings gibt es keine Schätzung darüber, wie viele von ihnen zur Volksabstimmung reisten. Die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier jedenfalls brachten im März 1921 genau 1.711 dorthin – nachdem „Polenanhänger“ unter ihnen „entlarvt und ausgestoßen“ worden waren.8 Die deutsche Seite hatte für Bottrop höchstens 2.500 potenzielle Stimmen angesetzt9 und die Mobilisierung schlug sich sichtbar nieder: sowohl im Kreis Rybnik und erst recht im Kreis Ratibor wirkte sich das Votum der sogenannten eingeborenen Nichtbewohner zugunsten Deutschlands aus.10 In den Gemeinden im Kreis Ratibor zeigte sich eine annähernd vollständige Korrelation der Zahl der Angereisten mit der Anzahl der Stimmen für das Deutsche Reich und auch in den Gemeinden im Kreis Rybnik gab es einen solchen, wenngleich weniger ausgeprägten, statistischen Zusammenhang. Die Enthaltung bei den Wahlen zur Nationalversammlung und das große Mandat für die Polenpartei bei den Gemeinderatswahlen bedeutete eben nicht, dass die Bottroper Oberschlesier auch nach Oberschlesien reisten, um für Polen zu stimmen. Das Stimmverhalten der Bottroper Oberschlesier ist ein Beleg dafür, dass die nationale Zugehörigkeit, anders als in der Abstimmungsphase unterstellt, keineswegs alle anderen Interessen überlagerte. Obwohl die Bottroper Oberschlesier 1919 offenbar mehrheitlich davon überzeugt waren, zur polnischen Nation zu gehören, setzten sie diese Überzeugung 1921 ebenso mehrheitlich nicht darin um, zur Abstimmung in ihre Heimatgemeinden zu reisen und dort für Polen zu votieren. Die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier wollten zwar Glauben machen, dass dies auf ihre pro-deutsche Agitation 7
8 9
10
Bottroper Volkszeitung, 25.01.1919; als oberschlesisches Viertel wird nachfolgend das Gebiet der Stimmbezirke 9, 22, 23 und 24 bei den Wahlen 1919–1921 bezeichnet. Ähnlich, aber auf anderer Datengrundlage wird das Gebiet von Murphy: Gastarbeiter, S. 130–133 definiert. Bottroper Volkszeitung, 18.03.1921; Nowak, Bezirksvorsitzender der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier, an Oberbürgermeister Jarres, Duisburg, 10.03.1922, Stadtarchiv Duisburg, 50/81. Der Schwarze Adler, 15.11.1920; Dieser Mobilisierungsgrad lag etwas unter dem Durchschnitt im Reich insgesamt: von den 250.000 erhofften Stimmen kamen 192.000 zusammen: Witt, Peter Christian: Zur Finanzierung des Abstimmungskampfes und der Selbstschutzorganisationen in Oberschlesien 1920–1922, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 13 (1973), S. 59–76, hier S. 66f. Siehe dazu den Beitrag von Andrzej Michalczyk in diesem Band.
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zurückzuführen war,11 doch liegt die Vermutung nahe, dass die Enthaltung der noch 1919 polnisch gesinnten Bottroper Oberschlesier weniger auf einen Wandel der Identitätskonstruktion zurückging, als vielmehr auf einen Wandel der materiellen Erwartungen an das Ergebnis der Abstimmung. Es gab zwei Ereignisse zwischen 1919 und 1921, die diese Erwartungen veränderten und damit auch die Haltung zur Frage, ob Oberschlesien deutsch oder polnisch sein sollte. Diese werden im Folgenden nacheinander diskutiert: Die Annexion des sogenannten Hultschiner Ländchens durch die Tschechoslowakei 1920 und die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Bottrop im Januar und Februar 1919 sowie infolge des Kapp-Putsches im März und April 1920. Abschließend wird zu prüfen sein, inwieweit die Agitation der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier diesen Wandel unterstützte. Zuerst soll jedoch etwas genauer auf die Wahrnehmung der oberschlesischen Gemeinde in Bottrop eingegangen werden, die sich besonders im Stadtwerdungsprozess Bottrops spiegelte, der sich zwischen 1907 und 1919 hinzog. Anschließend wird die Verschiebung im Wahlverhalten zwischen 1919 und 1921 genauer betrachtet, denn es gab knapp vier Wochen vor der Abstimmung in Oberschlesien eine Doppelwahl (zum preußischen Landtag und zum westfälischen Provinziallandtag), bei der die Polenpartei – ähnlich wie 1919 – nur bei den Wahlen zum Provinziallandtag antrat. Die Ergebnisse dieser Wahl lassen sich daher gut mit denen von 1919 vergleichen, um Anhaltspunkte für die Bewertung der erwähnten Ereignisse zu finden.
Die Stadtwerdung Bottrops, das oberschlesische Viertel und die Wahlen in Bottrop 1919 und 1921
Die große oberschlesische Gemeinde in Bottrop wurde weder von den deutschen noch von den polnischen Zeitgenossen als außergewöhnlich angesehen. Es verwundert wenig, dass die nationalpolnische Agitation sie in erster Linie als Polen wahrnahm; aber auch in der deutschen Diskussion über die „Polenfrage im Ruhrkohlengebiet“, so der Titel der einflussreichen Studie von Johann Victor Bredt, fehlte stets ein Hinweis darauf, dass sich darin auch eine oberschlesische Frage verbarg. Bredt und andere untersuchten zwar masurische, kaschubische und litauische Einwanderer getrennt von den polnischen, da sie sich „politisch und ethnographisch“ von den Polen unterschieden, verbuchten
11
Nowak, Bezirksvorsitzender der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier, an Oberbürgermeister Jarres, Duisburg, 10.03.1922, Stadtarchiv Duisburg, 50/81.
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die Oberschlesier hingegen umstandslos als Polen.12 Der Alldeutsche Verband differenzierte in seiner Untersuchung von 1901 sorgfältig nach den Herkunftsprovinzen, ließ aber keinen Zweifel daran, dass die Bottroper Oberschlesier Polen waren: „Prosper I und Prosper II gehören zum Bergrevier West-Essen und liegen in den Gemeinden Gerschede und Bottrop. Erstere beschäftigt 1.116, letztere 2.023 Mann polnischer Sprache. Dieselben stammen zum größten Teile aus Oberschlesien und zwar auf Prosper I 783, auf II 1.658 Mann.“13 Es gab zwar gelegentlich Anflüge von Bedauern, da auf „diese Weise […] zahlreiche Bergleute deutscher Abstammung zu den Polen gerechnet“14 würden, die noch 1921 stark betonte Vorstellung, Oberschlesien sei durch die Ansiedlung von Deutschen aufgewertet worden,15 fehlte jedoch bei der Betrachtung der Oberschlesier im Ruhrgebiet. Ein differenzierender Blick auf die Oberschlesier hätte das Narrativ gefährdet, das den deutschen Diskussionen um die „Polenfrage im Ruhrkohlengebiet“ generell zugrunde lag – die Idee, das „Deutschtum“ müsse sich des Vordringens der Polen in den Westen erwehren, um dem kulturellen Abstieg zu entgehen: „Der polnische Arbeiter zieht aus auf den höheren Verdienst, der ihn im Westen lockt; dort macht er deutsche Arbeiter entbehrlich, drückt die Preise und die Kultur herab, verpflanzt das Polentum in rein deutsche Gebiete.“16 Die angebliche Bedürfnislosigkeit und Unreinlichkeit der Polen, ihre Herkunft aus den Weiten der Gutherrschaft im Osten, ihre höhere Geburtenzahl, ihr Katholizismus sowie ihr ausgeprägtes Vereinswesen wurden als Ausdruck einer Strategie zur Unterwanderung der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft gedeutet – durch „Elemente […], die einen allen Zuzüglern gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Tiefstand“17 repräsentierten. In dieser Deutung konnte selbst die Zweisprachigkeit als besonders geschickte Strategie im Volkstumskampf gesehen werden: „Geht das reine Polentum im allgemeinen auch nicht so stark vorwärts, wie man glauben könnte, vielmehr scheinbar ein wenig zurück, so vermehrt sich doch umso stärker das deutsch-polnische Element – d.h. die Zahl derer, die zwar 12 13 14 15 16 17
Bredt, Johann Victor: Die Polenfrage im Ruhrkohlengebiet. Eine wirtschaftspolitische Studie, Leipzig 1909, S. 10ff.; Closterhalven, Karl: Die polnische Bevölkerung in Rheinland und Westfalen, in: Deutsche Erde. Zeitschrift für Deutschkunde 10 (1911), S. 114–120. Die Polen im rheinisch-westfälischen Steinkohlen-Bezirke, hrsg. v. Alldeutschen Verband, Gau Ruhr und Lippe, München 1901, S. 20. Closterhalven, Karl: Die polnische Bevölkerung in Rheinland und Westfalen, in: Deutsche Erde. Zeitschrift für Deutschkunde 10 (1911), S. 114–120, hier S. 114. Haubold-Stolle, Juliane: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919–1956, Osnabrück 2008, S. 69–71. Dix, Arthur: Die Völkerwanderung von 1900, Leipzig 1898, S. 54. Polen im rheinisch-westfälischen Steinkohlen-Bezirke, S. 42.
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das Glück haben, von frühester Jugend auf zwei Sprachen zu beherrschen, im Herzen aber stets polnisch bleiben.“18 Ein Verweis auf die Elitenwanderung, auf die die Anwesenheit der Oberschlesier im Ruhrgebiet zurückging, störte diese abschätzige Deutung empfindlich. Für die antipolnische Agitation war es höchst opportun, die Oberschlesier als Polen zu sehen. Für Bottrop hatte das gravierende Folgen. Weil die oberschlesische Gemeinde bereits eine Generation alt war und die Arenberg’sche AG schon in den 1880er Jahren, besonders aber seit der Jahrhundertwende, einen ausgedehnten Werkswohnungsbau aufgelegt hatte, pendelten immer weniger Einzelwanderer zwischen den Zechen im Westen und den Familien in Oberschlesien. Die oberschlesischen Familien wohnten in Bottrop und ihre etwas höhere Geburtenzahl schlug sich deutlich in der Statistik der Gemeinde nieder.19 Bottrop wuchs zunächst noch gemächlich, doch seit 1890 rapide: hatte es zwischen 1870 und 1887 ganze 17 Jahre gedauert, bis die Zahl der Einwohner von rund 5.000 auf 10.000 gestiegen war, so verdoppelte sich diese in jeder der folgenden Dekaden: auf 20.000 im Jahr 1897, 40.000 1907 und knapp 70.000 zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Wegen des enormen Wachstums der Einwohnerzahl wurde seit Ende 1904 im Gemeinderat diskutiert, einen Antrag auf Verleihung der Westfälischen Städteordnung zu stellen. Nach eineinhalb Jahren Vorbereitung richtete Bottrop ihn 1906 auf dem Dienstweg über die übergeordneten Behörden an das Preußische Ministerium des Innern, das ihn zu sichten hatte, ehe der preußische König die Städteordnung verlieh.20 Bottrop war beileibe nicht die einzige Gemeinde im Ruhrgebiet, die kreisfreie Stadt werden wollte. Etliche strebten das an – entweder allein, oder gemeinsam mit einer Nachbargemeinde: so Hamborn, das von rund 7.000 Einwohnern 1890 auf 100.000 im Jahr 1910 angewachsen war, oder auch Wanne und Eickel, die 1910 zusammen 70.000 Einwohner zählten. Die meisten Anträge wurden jedoch von Gemeinden in den Kreisen Essen und Recklinghausen gestellt, von Bottrop, aber auch Gladbeck, Buer, Osterfeld, Horst und Altenessen.21 All diese Anträge scheiterten beim ersten Versuch; einigen Gemeinden wurde die Städteordnung teils mehrfach versagt. Im Kern machten die betroffenen Kreise ihr wirtschaftliches 18 19 20 21
Dix, Völkerwanderung, S. 54. Hartewig, Karin: Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhrgebiet, 1914–1924, München 1993, S. 22f. Biskup, Heike: Von der Landgemeinde zur Industriestadt. Bottrops langer Weg bis zur Verleihung der Stadtrechte. Unveröffentlichter Vortrag beim „Tag der Westfälischen Geschichte“, 11.05.2019. Ich danke Frau Biskup für die Überlassung des Vortragsmanuskripts. Zu den „Industriedörfern“ im Ruhrgebiet siehe Vonde, Detlev: Revier der großen Dörfer. Industrialisierung und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet, Essen 1989, hier S. 128.
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Interesse geltend, die steuerkräftigen Gemeinden nicht zu verlieren. Meist wurde die Ablehnung mit einer engen Auslegung der Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen von 1856 begründet. Darin wurde von einer künftigen Stadt ein städtischer Charakter der Bebauung sowie Sozial- und Gewerbestruktur gefordert. Die preußischen Behörden trauten den Gemeinden oftmals auch einfach nicht zu, eine städtische Polizei aufzubauen. Gelegentlich wurden hohe Fluktuation und ethnische Vielfalt der Einwohner angeführt. Bottrop war jedoch die einzige Gemeinde im Ruhrgebiet, der die Städteordnung neben den angeführten sonstigen Bedenken aus „politischen“ Gründen verweigert wurde, da sie zu „einem Drittel polnische Bevölkerung“ habe.22 Mit dieser Begründung lehnte der Kreistag des Kreises Recklinghausen den Antrag 1907 ab. Die übergeordneten Behörden folgten dieser Empfehlung. Einen zweiten Anlauf nahm Bottrop 1913, stellte den Antrag nach Beginn des Ersten Weltkrieges aber zunächst zurück, bald nachdem er bei der Kreisverwaltung in Recklinghausen eingegangen war. Erst im Frühjahr 1918 bat die Gemeinde um Wiederaufnahme des Verfahrens und stieß sogleich auf den Widerspruch des Landrates, der seine Unterstützung abermals versagte: Die Bottroper Bevölkerung bestehe „fast zur Hälfte aus Polen“, die zuletzt politisch „ungeheuer rührig“ gewesen seien;23 die Verleihung der Städteordnung sei deshalb höchst bedenklich. Der Regierungspräsident in Münster schloss sich dieser Einschätzung mit dem ausweichenden Argument an, während des Krieges keine Stadterhebung unterstützen zu wollen, und so entschied auch der preußische Innenminister. Zwar änderte sich die Haltung zur Stadtwerdung Bottrops nach der Revolution, als der Kreistag und das Regierungspräsidium im Frühjahr 1919 zusagten, den dritten Bottroper Antrag zu unterstützen. Doch nun war es die Nachbargemeinde Gladbeck, die das „Polenargument“ als Sprungbrett verwendete, um selbst Stadt zu werden: „Die Einwohner Bottrops sind zum großen Teil fremdländischer insbesondere polnischer Herkunft. Gladbeck hingegen besitzt eine weit sesshaftere und in sich geschlossenere Bevölkerung.“24 Allerdings schlug sich dieses Argument nicht mehr spürbar zugunsten Gladbecks nieder. Am 21. Juli 1919 erhielten beide Gemeinden, Bottrop und Gladbeck, vom preußischen Staatsministerium die Städteordnung. Es war ohnehin demütigend für die Oberschlesier, dass die Abfuhr für die Gemeinde Bottrop mit ihrer Anwesenheit begründet wurde – stammten sie doch aus einer Region, in der Orte wie Rybnik, Ratibor oder Loslau 22 23 24
Zit. n. Biskup, Landgemeinde, S. 5. Zit. n. ebenda, S. 8. Zit. n. ebenda, S. 14.
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(Wodzisław) schon im Hochmittelalter das Stadtrecht erworben hatten. Die Stadtwerdungsdebatte prägte die oberschlesische Gemeinde in Bottrop aber vor allem mittelbar. Denn im Bewusstsein um die antipolnischen Ressentiments gab es eine kollektive Anstrengung der Eingesessenen, möglichst alle Hinweise auf die Oberschlesier zu verbergen. Dies zeigte sich nicht zuletzt in den unaufhörlichen Bemühungen, die Wahl eines Vertreters der Polenpartei in den Gemeinderat zu verhindern, was erst 1913 gegen den dezidierten Widerstand des Zentrums gelang.25 In der einzigen Tageszeitung, der Bottroper Volkszeitung, stramm katholisch und zentrumstreu, wurde zwar regelmäßig über die „Polenfrage“ berichtet, nie jedoch unter Rückgriff auf die Lebenswelt der Oberschlesier vor Ort. In ihrem Fall begnügte sich die Zeitung damit, penetrant gegen die Behauptung vorzugehen, die Hälfte der Bottroper seien Polen: „Das ist nicht der Fall; von der Einwohnerschaft unserer Gemeinde sind 1/3 Polen“.26 Es gab keine Inserate auf Polnisch, aber auch keine deutschsprachigen von oberschlesischen Vereinen. Lediglich die Polizeiberichte über allerlei Vergehen und die regelmäßigen Ankündigungen der polnischen Messen verrieten, dass es eine beträchtliche oberschlesische Gemeinde in Bottrop gab. Die eingesessenen Westfalen und die Oberschlesier lebten in zwei vollständig voneinander getrennten Lebenswelten; zwischen ihnen gab es nur eine Schicht von ebenfalls zugewanderten katholischen Ostpreußen aus dem Ermland, die allerdings zu dünn war, um die sozialen Beziehungen sichtbar aufzulockern:27 „Ich kenne sehr nette Polen, wirklich liebe Leute,“ schrieb Anfang 1921 ein Redakteur der Bottroper Volkszeitung, der monatlich das Stadtgeschehen in einer launigen Glosse zusammenfasste, „ich habe manchen guten Freund darunter, sei es Nordpol’, sei es Südpol’.“28 Das blieb auch so, nachdem Bottrop Stadt geworden war. Die Oberschlesier wurden nicht als Teil der städtischen Gesellschaft angesehen, sondern ausgegrenzt und verleugnet. Anlässlich der Amtseinführung des ersten Bürgermeisters der Stadt, dem ursprünglich aus Köln stammenden Verwaltungsjuristen Erich Baur,29 im Mai 1920, druckte die Bottroper Volkszeitung eine Festausgabe, die sowohl eine bis in die Bronzezeit 25 26 27
28 29
Bucksteeg: Pflanze, S. 114–120. Bottroper Volkszeitung, 20.11.1913, zit. n. Bucksteeg: Pflanze, S. 117. Budrass, Lutz: Von Biertultau (Biertułtowy) nach Batenbrock. Oberschlesier in Bottrop, in: Budrass, Lutz/Kalinowska-Wójcik, Barbara/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 2013, S. 111–146. Bottroper Volkszeitung, 29.01.1921. Lilla, Joachim: Leitende Verwaltungsbeamte und Funktionsträger in Westfalen und Lippe (1918–1945/46), Münster 2004, S. 115.
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zurückreichende Darstellung der bescheidenen Geschichte der neuen Stadt als auch eine ganzseitige Würdigung der Arenberg’schen AG enthielt.30 Die oberschlesischen Zuwanderer – gleich ob als Polen oder Deutsche – wurden weder in diesen beiden Texten noch sonst in der Festausgabe erwähnt. Im Gegenteil, Baur selbst berief sich in seiner Rede bei seiner Einführung ausdrücklich auf die „kernige, an Geist und Körper gesunde Urbevölkerung“, die für das Gedeihen der neuen Stadt sorgen werde.31 Die Oberschlesier erwähnte auch er mit keiner Silbe. Die Verleugnung der oberschlesischen Zuwanderer durch die Eingesessenen reproduzierte die Ressentiments. Denn die aus der Stadtgesellschaft ausgegrenzten Oberschlesier taten genau das, was ihnen die antipolnischen Agitatoren vorwarfen. Sie zogen sich auf die sozialen Beziehungen und die Vereine in der oberschlesischen Gemeinde zurück: „Genau wie in seiner Heimat, so grenzt sich der Pole »in der Fremde« von den Deutschen ab. Er verkehrt nicht mit Deutschen, sondern nur mit Seinesgleichen. Er bemüht sich nicht die deutsche Sprache zu gebrauchen oder zu erlernen.“32 Die Siedlungsstruktur unterstrich diesen Rückzug auf eine Stadt in der Stadt. Oberschlesier lebten, auch da etliche von ihnen Grundbesitz erworben hatten, 1921 in allen Teilen der Stadt.33 Verdichtungen entstanden in den Werkssiedlungen der Zechen, so im Umkreis der Ausfallstraßen zu den Nachbargemeinden Gladbeck und Horst im Nordosten und Osten, an denen die Arenberg’sche AG zwischen 1908 und 1912 neue Schachtanlagen (Prosper III und Arenberg-Fortsetzung) errichtet hatte. Eine weitere, die älteste Verdichtung, gab es im Süden an der Ausfallstraße zur Zeche Prosper I. Das Zentrum der Oberschlesier befand sich aber nach wie vor bei der Zeche Prosper II im Südosten, in der vor und während des Ersten Weltkrieges weitere Schächte – verbunden mit entsprechendem Wachstum der Belegschaft – niedergebracht worden waren. Das Viertel hatte eine eigene Zentralität herausgebildet, da hier noch kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges eine Kirche, St. Michael, geweiht worden war, die sich dadurch auszeichnete, dass für jede deutschsprachige zwei polnischsprachige Messen gelesen wurden. Das war die oberschlesische Stadt in der Stadt, wenngleich kein Ghetto: „Niemand verlangte, dass die Polen dort wohnten und es wohnten auch nicht nur Polen dort.“34 30 31 32 33 34
Bottroper Volkszeitung, Festnummer zur Einführung des Ersten Bürgermeisters Dr. Erich Baur, 14.05.1920. Bottroper Volkszeitung, 15.05.1920. Die Polen im rheinisch-westfälischen Steinkohlen-Bezirke, S. 44. Bredt: Polenfrage, S. 83. Murphy: Gastarbeiter, S. 139.
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Die Dynamik der Ressentiments sowie das Wechselspiel aus Nichtachtung und sozialem Rückzug machte aus dem oberschlesischen Viertel ein polnisches: hier fielen die Enthaltung bei der Wahl zur Nationalversammlung und der Stimmenanteil für die Polenpartei bei den Gemeinderatswahlen 1919 mit Abstand am höchsten aus. Tabelle 15.1 Stimmen und Wahlanteile im oberschlesischen Viertel* und im Rest der Gemeinde Bottrop bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19.01.1919 und bei den Gemeinderatswahlen am 09.03.1919
Nationalversammlung, Jan. 1919
Zentrum USPD MSPD DDP DVP DNVP
Stimmen, oberschlesisches Viertel Stimmen, Bottrop ohne oberschlesisches Viertel Anteile (%), oberschlesisches Viertel Anteile (%), Bottrop ohne oberschlesisches Viertel
1.051
1.030 440
0
185
9.846
3.111 5.173
67
1.388 36
38,8
38,1
16,3
0,0
6,8
0,0
50,2
15,9
26,4
0,3
7,1
0,2
Gemeinderatswahlen, März 1919
Zentrum USPD MSPD DDP DVP Sonst.
Polen Summe
Stimmen, oberschlesisches Viertel Stimmen, Bottrop ohne oberschlesisches Viertel Anteile (%), oberschlesisches Viertel Anteile (%), Bottrop ohne oberschlesisches Viertel
668
197
7.988
141
Summe
0
2.706 19.621
46
134
16
2.009
3.211
1.533 2.300
517
826
63
4.155 17.382
20,8
6,1
4,4
1,4
4,2
0,5
62,6
46,0
8,8
13,2
3,0
4,8
0,4
23,9
Quellen: Bottroper Volkszeitung, 25.01.1919 und 10.03.1919; Bucksteeg: Pflanze, S. 144f. (Als oberschlesisches Viertel wird das Gebiet der Stimmbezirke 9, 22, 23 und 24 der Gemeinde bzw. Stadt Bottrop verstanden.)
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Im oberschlesischen Viertel gab es 1919 etwa 4.500 Wahlberechtigte. Ihre große Wahlenthaltung bei den Wahlen zur Nationalversammlung wird allein daran sichtbar, dass die Stimmzahl bei den Gemeinderatswahlen 1919 anstieg, während sie insgesamt rückläufig war. Allerdings gingen bei den Gemeinderatswahlen nur knapp 500 Personen mehr zu den Urnen, sodass die Mehrzahl an Stimmen für die Polenpartei zu drei Vierteln zulasten der Parteien ging, die sich auch im Januar 1919 zur Wahl gestellt hatten. Während die liberalen Parteien (DVP und DDP) ohnehin nur wenige Stimmen erhielten, war es nicht das Zentrum, das die größten Einbußen zu verzeichnen hatte – im Gegenteil: am meisten litten die beiden sozialdemokratischen Parteien. Zwar erhielt auch das Zentrum etwa 400 Stimmen weniger, die USPD verlor jedoch über die doppelte Zahl. Während die Mehrheitssozialdemokraten ebenfalls mehr als eine Halbierung ihrer Stimmzahl hinnehmen mussten, büßte die USPD im oberschlesischen Viertel – entgegen dem Trend in Deutschland insgesamt – mehr als vier Fünftel ihrer Wähler ein, ein Effekt, der in der gesamten Gemeinde noch etwas milder ausfiel und daher den katastrophalen Einbruch kaschierte. Anscheinend hatte die Alternative für die Oberschlesier, die im März 1919 die Polenpartei wählten, im Januar 1919 überwiegend darin bestanden, entweder nicht zur Wahl zu gehen oder sich für die radikalste Partei zu entscheiden, die zur Wahl stand – die Unabhängigen, die sich 1917 infolge des Streits über die Burgfriedenspolitik von der SPD abgespalten hatten und 1919 die Sozialisierung des Bergbaus, den Ausbau des Rätesystems, die Auflösung der Armee, aber auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Sowjetrussland und Polen forderten.35 Dieser Trend setzte sich bei den Wahlen fort, die einen Monat vor der Abstimmung über Oberschlesien, am 20. März 1921, zum Provinziallandtag von Westfalen und parallel zum Preußischen Landtag stattfanden. Die Polenpartei trat nur bei den Wahlen zum Provinziallandtag an. Die Möglichkeit, sich bei einer Wahl zu enthalten, gab es zwar, der Wahlzettel zur Landtagswahl konnte aber auch ungültig gemacht werden, wenn die Wähler in diesem Fall das Kreuz bei keiner der anderen Parteien machen wollten.
35
Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1921, S. 193f.
23,5 19,4
26,1
42,9
Quelle: Bottroper Volkszeitung, 21.02.1921.
900 4.706
1.000 10.391
Stimmen, oberschlesisches Viertel Stimmen, Bottrop ohne oberschlesisches Viertel Anteile (%), oberschlesisches Viertel Anteile (%), Bottrop ohne oberschlesisches Viertel
KPD
21,5
45,7
Zentrum
32,5
31,0
Westfälischer Provinziallandtag, Feb. 1921
1.208 5.169
1.155 10.967
Stimmen, oberschlesisches Viertel Stimmen, Bottrop ohne oberschlesisches Viertel Anteile (%), oberschlesisches Viertel Anteile (%), Bottrop ohne oberschlesisches Viertel
KPD
Zentrum
Preußischer Landtag, Feb. 1921
3,3
1,5
57 798
USPD
3,7
1,8
66 887
USPD
17,1
13,8
529 4.150
MSPD
17,4
15,0
558 4.177
MSPD
0,3
0,0
0 63
DDP
0,3
0,0
1 83
DDP
8,3
6,6
252 2.020
DVP
8,1
7,0
260 1.942
DVP
1,1
0,5
19 263
DNVP
1,1
0,5
20 257
DNVP
7,2
26,8
1.027 1.737
Polen
0,4
1,1
44 106
Ungültig
2,2
12,2
453 528
Ungültig
3.828 24.234
Sum.
3.721 24.010
Sum.
Tabelle 15.2 Stimmen und Wahlanteile im oberschlesischen Viertel und im Rest der Stadt Bottrop bei den Wahlen zum Preußischen Landtag und zum Westfälischen Provinziallandtag am 20.02.1921
244 Lutz Budrass
Abstimmungskampf im Rheinland und Westfalen: Bottrop
245
Bei einer sowohl in der Stadt als auch im oberschlesischen Viertel im Vergleich zu 1919 etwa 20 Prozent höheren Anzahl an Wahlberechtigten36 – vermutlich durch zahlreiche Neuwähler – zeigte sich ein ähnliches Bild wie 1919. Die zahlreichen ungültigen Stimmen bei der Wahl zum Landtag kamen der Enthaltung bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 gleich. Die Stimmzettel für die Polenpartei addierten sich ebenfalls aus Verlusten der anderen Parteien. Es gab jedoch zwei gravierende Unterschiede. Die Zahl der Wähler, die zur Polenpartei wechselten, fiel erheblich geringer aus als noch 1919 und die Verluste konzentrierten sich – gerade im oberschlesischen Viertel – nennenswert auf nur zwei Parteien, das Zentrum und die KPD. Während es 1919 noch annähernd 1.500 Wechselwähler im oberschlesischen Viertel gegeben hatte, welche die katastrophalen Einbußen gerade bei der USPD erklären, lag diese Zahl nun, bei einer größeren Zahl an Wahlberechtigten, bei rund 500. Davon entfielen auf das Zentrum – proportional zu 1919 – 155 Wähler. Die größten Verluste im Vergleich zur Landtagswahl verzeichnete aber die KPD, die bei den Wahlen zum Provinziallandtag 308 Stimmen weniger erhielt, was ihren Stimmenanteil zwar reduzierte, aber nicht in dem Ausmaß wie es bei der USPD 1919 der Fall gewesen war. Alle anderen Parteien, die endgültig marginalisierte USPD eingeschlossen, hielten ihre Stimmenzahl bei den Wahlen zum Provinziallandtag. Durch den Vergleich lassen sich die Wähler im oberschlesischen Viertel in vier Gruppen einteilen: Zunächst gab es nach wie vor eine große Anzahl derer, die bei keiner „deutschen“ Wahl abstimmten, also auch dann nicht, wenn die Polenpartei antrat: Diese Gruppe – berechnet aus der Differenz zwischen der generellen Wahlbeteiligung und der Wahlbeteiligung im oberschlesischen Viertel bei den Wahlen mit Beteiligung der Polenpartei – umfasste 1919 schätzungsweise 500 und bei der Preußenwahl 1921 immerhin noch rund 300 Wahlberechtigte. Dann gab es eine zweite Gruppe, die zur Wahl ging, wenn die Polenpartei antrat, die aber keine andere Partei wählen wollte. Sie lässt sich aus der höheren Wahlbeteiligung bei der Gemeinderatswahl 1919 im Vergleich mit den Wahlen zur Nationalversammlung ableiten, sowie aus der Zahl der ungültigen Stimmen bei der Landtagswahl 1921 und der höheren Wahlbeteiligung bei der Provinziallandtagswahl. Diese Gruppe umfasste in beiden Fällen ebenfalls etwa 500 Wahlberechtige. Bei der dritten Gruppe handelte es sich um die regelrechten Wechselwähler, die eine andere Partei wählten, wenn die Polenpartei nicht zur Wahl stand. Sie war 1921 erheblich geschrumpft und zählte nur noch 500 Wähler, während es zwei Jahre zuvor noch etwa 1.500 gewesen waren. Umso größer fiel die vierte Gruppe aus, die eine „deutsche“ 36
Bottroper Volkszeitung, 23.02.1921.
246
Lutz Budrass
Partei wählte, gleichgültig, ob die Polenpartei antrat oder nicht. Während dazu bei den Gemeinderatswahlen 1919 gerade einmal 1.202 gehört hatten, war die Gruppe nun auf 2.757 Wähler angewachsen. Selbst wenn eine – wie erwähnt – größere Zahl an Wahlberechtigten zugrunde gelegt werden muss, stellte dies eine signifikante Verschiebung im Wahlverhalten dar, vor allem, wenn damit eine erhebliche Stabilisierung der Wahlanteile der „deutschen“ Parteien einherging – ausgenommen das Zentrum und vor allem die KPD. Diese Verschiebung im Zentrum der Oberschlesier im Westen musste sich zwangsläufig auch bei der Volksabstimmung auswirken. Eine Option für Polen konnte allenfalls den drei ersten Gruppen unterstellt werden, wobei sich die dritte aus Personen zusammensetzte, die noch im Februar 1921 unentschieden waren. Alle drei zusammen machten dann aber nur noch höchstens ein Viertel der Wahlberechtigten aus. Es konnte nicht mehr die Rede davon sein, dass die Oberschlesier in Bottrop zu „90 % ganz polnischer Gesinnung“ waren und das galt gleichermaßen für alle, die in Oberschlesien und im Westen geboren waren. Das war aber umso bemerkenswerter, da sich das Verhältnis seit 1919 in das Gegenteil verkehrt hatte, denn 1919 konnte mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass zwar nicht 90 Prozent, aber immerhin 75 Prozent der erwachsenen Einwohner des oberschlesischen Viertels zu den ersten drei Gruppen gehört hatten. Worauf kann also diese dramatische Verschiebung zurückgeführt werden – und wie erklärt sich die politische Radikalisierung der Oberschlesier, die sich in einem enorm gestiegenen Anteil der Kommunistischen Partei niederschlug?
Die Abtretung des Hultschiner Ländchens und die Unruhen 1919/1920 als Determinanten der politischen Haltung der oberschlesischen Gemeinde in Bottrop am Vorabend der Volksabstimmung
Als Richard C. Murphy 1973 aus Iowa ins Ruhrgebiet kam, um Quellen für seine Studie über die polnische Einwanderung nach Bottrop zu sichten, bewegte er sich in einer historiographisch, aber vor allem politisch kontroversen Diskussion. Erst wenige Monate zuvor hatte der Bundestag nach emotionalen Debatten den sogenannten Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen ratifiziert. Darin erkannte die Bundesrepublik faktisch die Oder-Neiße-Grenze an und schuf damit die wichtigste Voraussetzung für das heutige partnerschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. An der Ruhr-Universität in Bochum, an die Murphy während seiner Forschungen angebunden war, begann etwa zur gleichen Zeit Christoph
Abstimmungskampf im Rheinland und Westfalen: Bottrop
247
Klessmann damit, eine Studie über die Ruhrpolen anzufertigen, die den Geist des Warschauer Vertrages historiographisch reflektierte. Die Grenzziehung bei Klessmann bestand hauptsächlich darin, auf die Keile zu verzichten, die die preußische Statistik versucht hatte, in die polnische Nation zu treiben. Sie hatte immer sehr genau zwischen Polen, Masuren, Kaschuben, Litauern, Ein- und Mehrsprachigen unterschieden, um auf diese Weise das „schwebende Volkstum“ und das Germanisierungspotential in einzelnen Regionen und Gruppen auszuloten. Von dieser politisierten Bevölkerungsstatistik wollte Klessmann sich freimachen.37 Ähnlich hatte schon 1961 Hans-Ulrich Wehler in einem Aufsatz argumentiert, der den Beginn der modernen Ruhrpolenforschung markiert.38 Wehler und Klessmann waren sich darin einig, dass allenfalls die evangelischen Masuren sicher von den katholischen Polen unterschieden werden konnten, sonst gingen beide davon aus, dass die Gruppe der Polen, die ins Ruhrgebiet kam, ethnisch und sozial homogen war. Diese Idee der Homogenität der Ruhrpolen, gleich aus welcher preußischen Provinz sie stammten, war ein spezifischer Beitrag der modernen deutschen Sozialgeschichte zum politischen Aufbruch der 1970er Jahre. In diesem Geist verfasste Richard Murphy seine Studie über die Polen in Bottrop. Sie basierte im Kern auf einer statistischen Auswertung einer repräsentativen Stichprobe von 322 Zuwanderern aus dem Melderegister der Gemeinde zwischen 1891 und 1920 sowie deren 311 Kindern. Obwohl das Melderegister nicht nach Nationalität unterschied, ging Murphy – um das Verhalten der „Polen“ mit dieser Stichprobe zu analysieren – davon aus, dass sämtliche Zuwanderer aus den „stark polnisch besiedelten“ Provinzen, also Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien, polnischer Nationalität waren.39 Er meinte verschmerzen zu können, dass er damit eine ganze Reihe von Deutschen in Bottrop zu Polen erklärte. Im Verlauf seiner Untersuchung muss ihm jedoch klargeworden sein, dass seine Annahme in ganz anderer Hinsicht in die Irre führte, und zwar so sehr, dass sie den wissenschaftlichen Wert seiner Forschung insgesamt in Frage stellte. Um die Daten nicht zu verfälschen, musste er den Schleier an einer Stelle ein wenig lüften, nämlich dort, wo es um die Frage der Abwanderung der „Polen“ nach 1918 ging. Murphy stellte fest, dass etwa zwei Drittel (65,8 Prozent) von ihnen in Bottrop blieben und nur 11,6 Prozent nach Polen oder in eins der Abstimmungsgebiete zogen. Alle anderen (22,6%) 37 38 39
Klessmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet, 1870–1945, Göttingen 1978, S. 20f. Wehler, Hans-Ulrich: Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, in: VSWG 48 (1961), S. 203–235, hier S. 208–212. Murphy: Gastarbeiter, S. 18f.
248
Lutz Budrass
„zogen in andere Städte Deutschlands oder in andere Länder.“ Was genau darunter zu verstehen war, erläuterte er so: „Knapp über ein Prozent von ihnen wählte Frankreich als Ziel, während 6,4 Prozent in die Niederlande zogen.“40 Murphy schwieg sich allerdings darüber aus, in welche Städte und Länder die restlichen 15,2 Prozent der „Polen“ aus seiner Stichprobe wanderten, die nicht die Niederlande oder Frankreich als Ziel wählten. Die Stichprobe, die der mittlerweile verstorbene Murphy zog, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es ist aber mit Sicherheit davon auszugehen, dass die meisten jener 15,2 Prozent in ein Land zogen oder ziehen mussten, das in Murphys Studie gar nicht erwähnt wird, nämlich die Tschechoslowakei. Die Anwesenheit von mährischen Oberschlesiern in Bottrop wurde zeitgenössisch und in frühen Darstellungen über die Geschichte der Zuwanderung ins Ruhrgebiet öfter belegt,41 es dauerte aber bis 2012, ehe die entsprechenden Quellen gesammelt und analysiert wurden.42 Gleichwohl existieren auch weiterhin nur splitterhafte Erkenntnisse über die Größe und Haltung dieser Gruppe. Um 1908 gab es annähernd 1.000 Mährer in Bottrop,43 1918 nach einer groben Schätzung 2.000.44 Das war allenfalls ein Zehntel der Polnisch sprechenden Oberschlesier, jedoch scheitert eine genauere Differenzierung ohnehin daran, dass sich die slawischen Dialekte im Kreis Ratibor, woher die Mährischsprechenden stammten, und im benachbarten Kreis Rybnik, aus dem die Mehrheit der Polnischsprechenden kam, nur in der Schreibweise merklich voneinander unterschieden, und im sozialen Kontakt in Bottrop weiter anglichen. Nach nationaltschechischer Auffassung waren die Oberschlesier in den Kreisen Rybnik und Ratibor sowieso allesamt polonisierte Tschechen.45 Die Zuwanderer aus den genannten Kreisen unterschieden sich allerdings deutlich in der Qualifikationsstruktur. Während aus Rybnik überwiegend gelernte Bergarbeiter kamen, hatte im Kreis Ratibor, in dem es nur im äußersten Süden, im sogenannten Hultschiner Revier, einen eher kleinen 40 41 42
43
44 45
Murphy: Gastarbeiter, S. 178. Schmidt: Belegschaftsbildung, S. 267. Kořalka, Jiří; Kořalková, Květa: Tschechen im Rheinland und Westfalen 1890–1918, in: Jiří Kořalka; Johannes Hoffmann (Hg.): Tschechen im Rheinland und Westfalen 1890–1918. Quellen aus deutschen, tschechischen und österreichischen Archiven und Zeitschriften, Wiesbaden 2012, S. 11–32; S.a. Budrass: Birtultau, S. 117f. Bericht über die Missionsreise des Hultschiner Pfarrers Hugo Stanke zu den mährischen Katholiken in Westfalen, März-April 1908, in: Tschechen im Rheinland und Westfalen, S. 99–103. Ursprünglich auch in: Jürgen Brandt (Hg.): Die Polen und die Kirche im Ruhrgebiet. Ausgewählte Dokumente zur pastoral und kirchlichen Integration sprachlicher Minderheiten im Deutschen Kaiserreich, Münster 1987, S. 215–219. Nach der Angabe auf einer Postkarte im Stadtarchiv Bottrop, Bucksteeg: Pflanze, S. 148f. Budrass: Birtultau, S. 117f. u. 141.
Abstimmungskampf im Rheinland und Westfalen: Bottrop
249
Bevölkerungsanteil mit Bergbautradition gab, eine Sekundärwanderung eingesetzt, die hauptsächlich Gemeinden im Norden des Kreises bis hin zur Stadt Ratibor erfasste. Deren Bevölkerung war zu mehr als 75 Prozent mährischsprachig und im bergbaulichen Sinne unqualifiziert,46 so dass sich die Wanderer von dort eher nicht im Bergbau, sondern als Maurer verdingten, für die es bei den zahlreichen Projekten für neue Zechen und Werkssiedlungen in Bottrop erheblichen Bedarf gab. Die Mährer in Bottrop pflegten ihre lokalen Traditionen und Trachten sorgfältig, ließen sich nur mühsam zum Eintritt in den katholischnationaltschechischen Verein bewegen,47 und verhielten sich „den Polen gegenüber“ anfangs noch „ziemlich feindlich.“48 Die antipolnische Agitation nahm sie jedoch nicht als gesonderte Gruppe wahr,49 die Ausgrenzung in Bottrop traf sie ebenso wie die Polnischsprechenden. Der soziale Rückzug auf die oberschlesische Gemeinde, in der mährische und polnische Oberschlesier Tür an Tür wohnten, verstärkte auch die Binnenbeziehungen zwischen ihnen, woraus sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bereits etliche Ehen bildeten.50 Am Ende gehörten die Mährer auch zu den Wählern der Polenpartei: Das Wahllokal, in dem die Polenpartei 1919 ihre höchste Stimmenzahl in Bottrop erhielt, war seit den zwanziger Jahren das Vereinslokal des Vereins Heimattreuer Hultschiner.51 Die tschechoslowakische Delegation erhob auf der Friedenskonferenz in Versailles 1919 in dem sogenannten Beneš-Memorandum über das „tschechische Oberschlesien“ den Anspruch auf einen breiten Landstreifen im Süden Oberschlesiens, der die beiden Kreise Ratibor und Rybnik nahezu vollständig umfasste. Diese Maximalforderung konnte zwar bei weitem nicht realisiert werden, im Artikel 83 des Versailler Vertrages wurde jedoch verfügt, dass Deutschland ein relativ kleines Gebiet im Süden des Kreises Ratibor, das sogenannte Hultschiner Ländchen, an die Tschechoslowakei abtreten musste. Im Artikel 85 des Vertrages waren die bekannten Optionsrechte für Deutsche in der Tschechoslowakei und Tschechoslowaken in Deutschland festgelegt: sie 46 47 48 49 50 51
Festschrift des Königlich preußischen Statistischen Bureaus zur Jahrhundertfeier seines Bestehens, Bd. II, Berlin 1905, S. 16; Kořalka/Kořalková: Tschechen, S. 16. Bericht Stanke, in: Tschechen im Rheinland und Westfalen, S. 100f. Bericht über die Mährer in Bottrop, 25.11.1905, in: Tschechen im Rheinland und Westfalen, S. 78; Schmidt, Belegschaftsbildung, S. 267. Kořalka/Kořalková: Tschechen, S. 16. Die Eltern von Ernst Wilczok, dem langjährigen Oberbürgermeister der Stadt Bottrop nach dem Zweiten Weltkrieg, stammten aus dem Rybniker Revier und dem Hultschiner Ländchen. Der Heimattreue Schlesier 13 (1938), S. 252.
250
Lutz Budrass
konnten sich innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages für die Staatsbürgerschaft ihres Heimatlandes entscheiden, mussten dann aber das Land, in dem sie wohnten, innerhalb eines Jahres verlassen. Wenngleich das Auswärtige Amt zahlreiche Vorstöße machte, um auch im Hultschiner Ländchen eine Volksabstimmung abzuhalten oder, besser noch, die Mährer im Süden des Kreises Ratibor zur Volksabstimmung über Oberschlesien zuzulassen,52 blieb es dabei. Das Hultschiner Ländchen wurde im Februar 1920 von den deutschen Behörden geräumt und von der Tschechoslowakei annektiert. Das Optionsrecht, das alle Mährer zwei Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages, also bis zum 10. Januar 1922, auch für ihre Ehefrauen und unmündigen Kinder ausüben durften, stürzte die Mährer in Bottrop in ein Dilemma. Für die Bergleute hatte die Entscheidung für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft Sinn, da sich ihnen durch die Annexion des Hultschiner Ländchens – anders als im Kaiserreich – der direkte Zugang zum Bergrevier bei Mährisch Ostrau öffnete, in dem es genügend Arbeitsmöglichkeiten für gelernte Bergarbeiter gab. Die ungelernten mährischen Nachzügler aus dem Norden des Kreises Ratibor hingegen mussten abwägen, ob sich ein Verbleib in Bottrop oder ein Wechsel in die Tschechoslowakei lohnte – und damit eben auch in eine Gegend, die zwar von ihrem ursprünglichen Geburtsort nicht weit entfernt, aber durch eine Staatsgrenze davon getrennt war. Das Familienprinzip bei der Option setzte zudem Ehen von Mährern aus dem Norden und dem Süden des Kreises Ratibor unter Druck – es bestand die Gefahr, dass Generationen einer Familie durch die Option für die Tschechoslowakei unterschiedliche Staatsbürgerschaften erhielten. Für die Bewertung des Stimmverhaltens in der Abstimmung über Oberschlesien am 20. März 1921 war zentral, dass diese das Dilemma der Mährer in Bottrop noch vergrößerte. Auch wenn sie sich als Polen sahen, war die Perspektive nach dem Informationsstand von 1921, dass ein polnisches Oberschlesien – mit einer gleichartigen Optionsausübung – die geschilderten Schwierigkeiten für die Abwägung über die wirtschaftliche Zukunft und den Familienzusammenhalt potenziert hätten: Ein im Hultschiner Ländchen geborener Bergmann hätte sich entscheiden können, entweder Deutscher zu werden und in Bottrop zu bleiben, oder Pole zu werden, um dann im Rybniker Revier – also nicht in der Nähe seines Geburtsortes – zu arbeiten, oder die geschilderte tschechische Option zu wählen. Ein im Norden des Kreises Ratibor geborener mährischer Maurer wäre hingegen dazu gezwungen gewesen, Pole zu werden, um in seinen Heimatort zurückkehren zu können, hätte dann 52
Wever (Prag) an das Auswärtige Amt, 04.10.1919, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Ser. A, Bd. 2, Göttingen 1984, Dok. 186, S. 333–335.
Abstimmungskampf im Rheinland und Westfalen: Bottrop
251
aber nur unter Schwierigkeiten in Bottrop oder in Mährisch Ostrau arbeiten können und sah sich daher mit einem wirtschaftlichen Abstieg konfrontiert. Mit der Perspektive auf die Wahrung des vitalen sozialen Zusammenhalts hätte ein polnisches Oberschlesien durchaus bedeuten können, dass die einzelnen Mitglieder einer Familie drei unterschiedliche Staatsbürgerschaften bekamen und dabei in jedem Fall sozial oder wirtschaftlich verloren hätten. Die Aussicht, dass ganz Oberschlesien polnisch werden würde, rief in der oberschlesischen Gemeinde Unbehagen über die wirtschaftliche und soziale Zukunft hervor und angesichts dessen war es zumindest für die aus dem Norden des Kreises Ratibor unendlich viel besser, wenn Oberschlesien deutsch blieb. Dann konnte alles so bleiben wie es war: In Bottrop zu wohnen und zu arbeiten und zugleich die soziale Bindung zum Heimatort zu erhalten. Die Zwangslage, die durch ein polnisches Oberschlesien zu entstehen drohte, brachte den größten Teil der mährischen Oberschlesier aus dem Kreis Ratibor dazu, für Deutschland zu stimmen – in jedem Fall diejenigen, die in Bottrop ihr Auskommen gefunden hatten. In geringerem Maß betraf diese Zwangslage auch Familien, die aus Mährern aus dem Kreis Ratibor und Polen aus dem Kreis Rybnik entstanden waren: auch sie hatten in ihrer spezifischen Lage ein Interesse daran, dass Oberschlesien deutsch blieb – völlig unabhängig davon wie sie sich selbst sahen: als Deutsche, Polen oder Tschechoslowaken. Dann nämlich blieben der Ort, in dem sie wohnten und arbeiteten, und der Ort, aus dem sie stammten, im gleichen Staat und eine Grenze in der Familie wurde vermieden. Allein daraus ergab sich das eingangs skizzierte Abstimmungsverhalten der aus Deutschland angereisten Oberschlesier aus dem Kreis Ratibor; mit der potenziellen Zerstörung des sozialen und familiären Zusammenhalts und der Furcht vor einem wirtschaftlichen Abstieg erklärte sich vermutlich auch die große Stimmenzahl für Deutschland unter den angereisten Oberschlesiern aus dem Kreis Rybnik. Die Abtretung des Hultschiner Ländchens ohne Volksabstimmung schuf nur für diejenigen eine vorteilhafte Entscheidungssituation, die qualifizierte Bergleute waren und sich bessere Aufstiegschancen im Mährisch Ostrauer Revier ausrechneten. Sie optierten in großer Zahl für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und verließen Bottrop in den folgenden Jahren.53 53
In den Meldekarten der Stadt Bottrop aus den 1920er Jahren sind zahlreiche Besuche von mittlerweile tschechoslowakischen Familienangehörigen nachzuweisen. Als Beispiel für familiäre Verbindungen aus dem Hultschiner Revier nach Bottrop siehe Plenge, Heinz: Einmal Bottrop–Oberschlesien und zurück. Erlebnisberichte eines Jungen in der Zeit von 1937–1945. Norddeich o. D. [1994].
252
Lutz Budrass
Das Ergebnis der preußischen Landtags- bzw. Provinziallandtagswahl in Bottrop nahm die Entscheidung bei der Volksabstimmung vorweg: Die wachsende Gruppe von Wählern einer „deutschen“ Partei – gleichgültig, ob die Polenpartei antrat oder nicht – reflektierte, dass etliche Oberschlesier geradezu gezwungen waren, „Deutsche“ zu werden – nicht aus einer diffusen nationalen Überzeugung heraus, sondern zur Wahrung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Position.54 Dies war umso schmerzhafter, als dass sich zur gleichen Zeit erwies, dass die Stigmatisierung der Polen in der deutschen Gesellschaft insgesamt und in Bottrop im Speziellen keineswegs abnahm. Die Ressentiments gegen Polen im Ruhrgebiet speisten sich erheblich aus der größeren Radikalität der polnischsprechenden Bergarbeiter.55 Hatte die organisierte Arbeiterbewegung sie zunächst als Lohndrücker und Streikbrecher wahrgenommen, dann zu integrieren versucht, wandelte sich die Wahrnehmung nach den sogenannten Herner Krawallen 189956 und dem Bergarbeiterstreik 190557 dahingehend, dass die Polen die organisierte Arbeiterbewegung durch ihre Neigung zu Gewalt und Kompromisslosigkeit eher schädigten als beförderten. Es ist der Ruhrpolenforschung seit jeher schwergefallen, diese Radikalität zu erklären. Aus der Vorstellung von einer sozialen und ethnischen Homogenität der Ruhrpolen leitete sich das irreführende Argument ab, die landwirtschaftlich geprägten polnischen Arbeiter hätten keine Tradition und Erfahrung im industriellen Arbeitskampf besessen und daher aufbrausend statt geordnet gestreikt.58 Dagegen ist in jüngerer Zeit formuliert worden, dass es vielmehr die Gruppensolidarität und die gemeinsame regionale und lokale Herkunft mit fortdauernden Verbindungen in die Heimat waren, die den „polnischen“ Arbeitern den Rückhalt gaben, Streiks länger durchzuhalten und auch schärfer auszufechten als ihre deutschen Kollegen.59 Die Oberschlesier in Bottrop bildeten dabei keine Ausnahme, im Gegenteil. Der soziale Rückhalt stabilisierte ihre Position im Arbeitskampf, zumal sie durch ihre Rolle als Facharbeiterelite ohnehin eine vorteilhafte Verhandlungsposition gegenüber der Arenberg’schen AG hatten. Ohne Oberschlesier war in 54 55 56 57 58 59
Zur Bedeutung des sozialen Aufstiegs generell: Skrabania: Keine Polen, S. 163ff. Kulczycki, John: The Foreign Worker and the German Labor Movement. Xenophobia and Solidarity in the Coal Fields of the Ruhr, 1871–1914, Oxford/Providence 1994, S. 261. Die Polen im rheinisch-westfälischen Steinkohlen-Bezirke, S. 101ff. Bredt: Polenfrage, S. 101. Tenfelde, Klaus: Die „Krawalle von Herne“ im Jahre 1899, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 15 (1979), S. 71–104, bes. S. 92; Klessmann, Bergarbeiter, S. 120f. Kulczycki: Foreign Worker, S. 261f.; dieses Argument formulierte schon Bredt: Polenfrage, S. 48f.
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Bottrop keine Kohle zu fördern, das zeigte sich im Jahr 1905, als die Bergleute auf Prosper II noch streikten, während ihre Kollegen auf den anderen Zechen des Ruhrgebiets längst wieder eingefahren waren.60 Diese Radikalität der Oberschlesier dehnte sich während der Revolution vom Arbeitskampf auf die Politik aus: Seit November 1918 gab es in Bottrop – wie im Ruhrgebiet insgesamt – eine undurchsichtige Lage, in der sich ein eher gemäßigter Arbeiter- und Soldatenrat, Sicherheitswehren auf den Zechen, Volkswehr und Polizei sowie Unabhängige Sozialdemokraten und schließlich Mitglieder der neu gegründeten KPD einander wegen überlagernder Themen befehdeten: Ernährungslage, Schutz der Revolution und ihrer Errungenschaften, Zusammensetzung des Arbeiter- und Soldatenrates und Sozialisierung des Ruhrbergbaus. Diese Auseinandersetzungen spitzten sich seit Januar 1919 in einer anwachsenden Streikbewegung zu und wurden immer öfter mit Waffengewalt ausgetragen.61 In Bottrop kulminierte die Entwicklung, als die Bottroper Volkswehr am 18. Februar 1919 Streikposten von USPD und KPD auf den Zechen Prosper I und Prosper II – die zuvor ihrerseits die Sicherheitswehr der Zechen angegriffen und entwaffnet hatten – überwältigte und sie teils im neuerbauten Rathaus einsperrte. Ein Großverband aus schwer bewaffneten radikalen Arbeitern aus Bottrop und dem westlichen Ruhrgebiet – Schätzungen gehen von bis zu 5.000 Teilnehmern aus – befreite sie nach längerem Artilleriebeschuss des Rathauses am 19. Februar 1919, und besetzte die Gemeinde. Es gab erhebliche Verluste auf beiden Seiten, allein dreizehn Mann der Besatzung des Rathauses – ein Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates sowie Polizisten und Volkswehrmitglieder – wurden getötet, teils, nachdem sie sich bereits ergeben hatten. Etwa 90 Polizeibeamte und Volkswehrmitglieder wurden gefangengenommen und verschleppt.62 Der Bottroper Rathaussturm war keineswegs das einzige, aber wahrscheinlich das blutigste Gefecht während der Revolution im Ruhrgebiet. Bekannt wurde er allerdings erst durch die darauffolgenden Ereignisse: Der kommandierende General im Wehrkreis Münster – bereits zuvor von der 60 61
62
Kulczycki: Foreign Worker, S. 194. Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt/M. 1985, S. 85–100; Lucas, Erhard: Märzrevolution 1920. Bd. 1: Vom Generalstreik gegen den Militärputsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand, Frankfurt/M. 1970, S. 39–44. Drucksache 3228: Bericht des Untersuchungsausschusses über die Ursachen und den Verlauf der Unruhen in Rheinland und Westfalen in der Zeit vom 1. Januar bis 19. März 1919, in: Sammlung der Drucksachen der verfassungsgebenden preußischen Landesversammlung. Tagung 1919/21, 10. Band, Berlin 1921, S. 5585–5674, hier S. 5612–5618. Danach auch das folgende.
254
Lutz Budrass
Reichsregierung zum Eingreifen ermächtigt – setzte das „westfälische“ Freikorps Lichtschlag nach Bottrop in Marsch. Dessen Vorausabteilung traf am 22. Februar in Bottrop ein und nahm zunächst Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit den Kommunisten auf. Nach dem Eintreffen des Hauptverbandes am folgenden Tag besetzte das Freikorps jedoch die Gemeinde im Handstreich. Dabei wurde auch der Verhandlungsführer auf Seiten der Kommunisten, der Maurer Aloys Fulneczek, der am 19. Februar selbst aus dem Polizeigefängnis im Rathaus befreit worden war, festgesetzt und nach seiner erneuten Inhaftierung erschossen. Da seit dem Rathaussturm einige Tage vergangen waren, hatte sich einer der bekanntesten Berliner Pressefotografen vor Ort eingefunden, der ein ikonisches Foto des verhafteten Fulneczek machte. Durch einen Agenturbericht erreichte die Nachricht von dessen Ermordung Zeitungen in ganz Europa und selbst in den Vereinigten Staaten. Der Tod Fulneczeks war dementsprechend auch einer der wenigen Fälle aus dem Ruhrgebiet, die Emil Julius Gumbel 1922 in seine Sammlung politischer Morde von rechts aufnahm.63 Nach der Ausrufung des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch am 13. März 1920 entstanden im Ruhrgebiet abermals aufständische Gruppen, welche die mit Kapp verbündeten Freikorps bekämpften und sich im Laufe des Monats zu einer sogenannten Roten Ruhrarmee zusammenschlossen. Sie brachten das Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle – lange nachdem der Putsch gescheitert und der Generalstreik beendet worden war – und setzten in den Städten und Gemeinden sogenannte Vollzugsräte als Regierungen ein. Die bekannteste Schlacht während des Märzaufstands war die Eroberung des Wasserturms in Steele bei Essen am 23. März 1920, jedoch war auch Bottrop erneut Schauplatz schwerer Gefechte bei der Rückeroberung der Stadt durch die Marinebrigade Löwenfeld zu Ostern 1920. Das Freikorps war kurz zuvor im Grenzschutz in Oberschlesien eingesetzt worden und ging nach eigener Darstellung seit dem 3. April mit „roher Gewalt“64 vor: Nach einem Vorstoß mit Panzerwagen folgte ein Artilleriegefecht, das über fünfzig Tote zurückließ.65 Nach der Eroberung der Stadt setzte die Marinebrigade Löwenfeld – unter Billigung des Stadtrates – ein Standgericht ein, das neben anderen 14 Bergleute der Zeche
63 64 65
Amerfoortsch Dagblatt, 25.02.1919; The Sun (New York), 26.02.1919 u.a.; s. a. Illustrierte Geschichte des Weltkriegs 1914/19. Neunter Band, Stuttgart u.a. o. D. [1920], S. 472; Gumbel, Emil Julius: Vier Jahre politischer Mord, Berlin-Fichtenau 1922, S. 14f. Bose, Ulrich von: Vormarsch gegen Essen, in: Ernst von Salomon (Hg.): Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1938, S. 194–402, hier S. 199. Bottroper Volkszeitung, 06.04.1920; Zu den Berichten in Oberschlesien: Weißer Adler, 28.04.1920.
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Prosper II erschießen ließ. Bis in den Mai 1920 hinein ermordeten Angehörige des Freikorps Bergleute in Bottrop.66 Die Gefechte der Jahre 1919/20 überschatteten die Mobilisierung zur Volksabstimmung in Oberschlesien, nicht allein wegen der zeitlichen Nähe, sondern weil sie die Vorbehalte gegen die Oberschlesier bestätigten: Die Kämpfe in Bottrop seien besonders blutig gewesen, weil die Stadt von Polen dominiert werde. Diese Behauptung wurde insbesondere an der Person Aloys Fulne czeks festgemacht, der 1882 in Pyschcz (Píšť), einer überwiegend mährischsprachigen Gemeinde im Süden des Kreises Ratibor geboren war, die seit 1920 zur Tschechoslowakei gehörte. Über Fulneczek hieß es noch 1938 in einer Selbstdarstellung des Freikorps Lichtschlag: „Ein wild aussehender Pole, Fulneczek, Häuptling der Rotgardisten, stellte sich als Kommandeur von Bottrop vor […] Fulneczek, der, entgegen einem mit ihm »verabredeten« Aufruf, zum Widerstand hetzte, wurde bei einem Fluchtversuch erschossen.“67 Der Offizier der Marinebrigade Löwenfeld, der bei der Sitzung des Bottroper Stadtrats am 6. April 1920 die Einsetzung des Standgerichts begründete, behauptete bei gleicher Gelegenheit mit Rückblick auf den Einsatz des Freikorps im Grenzschutz, dass es „wesentlich ein Verdienst unserer Truppen“ gewesen sei, „wenn uns Oberschlesien jetzt erhalten bleibt“, sodass einer der Abgeordneten der Polenpartei mit Blick auf die Lage in Bottrop darum bitten musste, „doch recht loyal gegenüber der polnischen Bevölkerung (zu) verfahren, auch mit Rücksicht auf die Abstimmung in Oberschlesien.“68 Der Vorwurf gegen die Oberschlesier als Unruhestifter, der die brutale Vorgehensweise rechtfertigte, wurde aber nicht allein von den Freikorps vorgebracht, sondern gerade von den gemäßigten Kräften. Ein sozialdemokratischer Gewerkschaftssekretär, der als Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates im Februar 1919 im belagerten Rathaus ausgeharrt hatte, gab zu Protokoll, dass sich „die Spartakisten in der übergroßen Mehrheit aus Polen zusammensetzten.“69 Diese Ressentiments gegen die Oberschlesier als Verantwortliche für die blutigen Unruhen wurden in der Agitation zur Volksabstimmung schamlos ausgenutzt. Am 11. Februar 1921 begann in Essen der Prozess gegen die Angreifer auf den Steeler Wasserturm, den die Bottroper Volkszeitung in den folgenden
66 67 68 69
Bottroper Volkszeitung, 07.04.1920; Lucas, Erhard: Märzrevolution 1920. Bd. 3: Die Niederlage, Frankfurt/M. 1978, S. 370; Gumbel, Mord, S. 59ff. Mahnken, Heinrich: Der erste Hammerschlag. Die Aktion des Freikorps Lichtschlag nördlich Essen 1919, in: Ernst von Salomon (Hg.): Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1938, S. 81–86, hier S. 86. Bottroper Volkszeitung, 07.04.1920. Drucksache 3228, S. 5616.
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Wochen intensiv begleitete.70 Sonst druckte sie nur Aufrufe zur Abstimmung oder schablonenhafte Agenturberichte über Oberschlesien ab und ging erst in den letzten Tagen vor und nach dem 20. März auf die Oberschlesier vor Ort und ihre Reise zur Abstimmung ein. Nur ein einziger Text stellte eine direkte Verbindung der Stadt zu Oberschlesien her, und er weckte gezielt Assoziationen mit den Unruhen von 1919 und 1920. Darin ging es um August Banko, der zwar 1885 in der Nähe von Radlin geboren, aber schon mit seinen Eltern nach Bottrop gekommen war. Von Anfang 1918 bis zu Revolution inhaftiert und 1919/20 stellvertretender Vorsitzender der USPD im Reichstagswahlkreis Recklinghausen, war Banko wie Fulneczek am 19. Februar 1919 aus dem Rathaus befreit worden, hatte aber anschließend keinen Schaden genommen. Er gehörte bei den Unruhen 1920 zu den „Haupthetzern“, wie es in der Zeitung hieß. Banko rief nach dem Kapp-Putsch als einer der ersten zum Widerstand auf und wurde am 20. März 1920 zum Leiter der Kriminalabteilung des Vollzugsrates in Bottrop ernannt. Er entzog sich durch Flucht nach Ratibor den Racheaktionen der Marinebrigade Löwenfeld und unterstellte sich dort im Mai 1920 dem Schutz der Interalliierten Militärkommission, als seine Verhaftung und Auslieferung drohten. Der Essener Staatsanwalt spielte Bankos Schreiben an die Interalliierte Militärkommission der Bottroper Volkszeitung zu, die es gut acht Monate später, einen Tag vor den Wahlen in Preußen und einen Monat vor der Volksabstimmung in Oberschlesien mit etlichen abschätzigen Kommentaren in voller Länge abdruckte – Bankos Eltern und Geschwister lebten nach wie vor in Bottrop. Dabei versäumte sie nicht, darauf zu verweisen, dass Banko in Ratibor mittlerweile Parteisekretär der Polnischen Sozialistischen Partei geworden war.71 Das Wahlverhalten der Oberschlesier muss im Licht dieser sich – wider Erwarten – verschärfenden Ressentiments gesehen werden: Hatte es im Kaiserreich eine diffuse Furcht vor der Zerstörung der deutschen Kultur durch die „Polen“ gegeben, die sich auch gegen die Oberschlesier gerichtet und in Bottrop zu Ausgrenzung und sozialem Rückzug geführt hatte, wandelte sich diese in den ersten Jahren der Republik zu einer offenen Feindschaft, die über die Assoziation der „Polen“ mit den blutigen Aufständen legitimiert wurde72 und sich in der stillschweigenden Billigung der zahlreichen Morde äußerte. Zumindest die mährischen Oberschlesier, die sich aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen schon 1919 dazu entschieden hatten, Deutsche zu bleiben, 70 71 72
Beispielsweise Bottroper Volkszeitung, 18.02.1921. Bottroper Volkszeitung, 19.02.1919. Diese Assoziation wurde in ähnlicher Form auch in Oberschlesien hergestellt und verbreitet: Haubold-Stolle, Mythos, S. 73.
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aber auch jene, die sich nach der Teilung Oberschlesiens aus ähnlichen Gründen für die deutsche Option entscheiden wollten, mussten eine alternative Gruppenidentität entwickeln, um sich sichtbar dieser nun erst recht feindlichen Umwelt entgegen zu stellen. Sich stolz als „Pole“ zu zeigen, wie es noch bei der Gemeinderatswahl 1919 der Fall gewesen war, kam wegen des Optionszwangs für die, die blieben, nicht mehr in Frage. Darin ist wohl auch der Grund dafür zu sehen, dass die Fundamentalopposition zum deutschen politischen System, die Wahl der KPD, so attraktiv für diejenigen Oberschlesier war, die sich für Deutschland entschieden.
Heimattreue als Identitätsangebot
Die Vorstellung, dass die Oberschlesier für die besondere Radikalität der Kämpfe im Ruhrgebiet verantwortlich waren, prägte auch die Organisation, die eigentlich alles daran setzte, sie zur Volksabstimmung zu bringen, die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier: Die „Führer und die Menge der Roten Armee bei den Märzunruhen 1920“ seien „zum allergrößten Teil Polen“ gewesen, hieß es in einer Denkschrift des Duisburger Bezirksleiters der Heimattreuen, Nowak, im Februar 1922: „Besteht am Ort keine besondere Polenpartei, schließt er sich den Kommunisten an.“73 Die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier schossen im Ruhrgebiet wie überall im Reich seit 1920 wie Pilze aus dem Boden. Die Landesgruppe Westfalen-Rheinland war 1929 mit annähernd 80 Ortsgruppen die mit Abstand größte, größer sogar als die Landesgruppe Niederschlesien, die nur knapp 50 Ortgruppen umfasste.74 Die Besonderheit der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier war dennoch, dass es sie überhaupt gab. Die Registrierung von Oberschlesiern für die Abstimmung in ihren Geburtsgemeinden war ein bürokratischer Prozess, der ohnehin die Einwohnermeldeämter der Gemeinden zur Mitwirkung zwang, in denen sie wohnten. Denn diese mussten für eine Eintragung in die Abstimmungslisten die Identität der Antragsteller bestätigen. Außerdem gab es nur bei diesen Einwohnermeldeämtern Datensätze über die Geburtsorte. Aber auch sonst betrafen die Organisation der Sonderzüge sowie die Sammlung und Betreuung der Abstimmenden in erster Linie die kommunalen, aber auch überregionalen Verwaltungen. In 73 74
Die Polen im rheinisch-westfälischen Industriebezirke, Anlage zu Nowak an Jarres, 01.02.1922, Stadtarchiv Duisburg, 50/81. Oberschlesischer Heimatkalender, hrsg. vom Presse-, Statistischen und Verkehrsamt der Provinzialverwaltung von Oberschlesien, Ratibor/Landeshaus, Gleiwitz 1929, S. 140–142.
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kaum einer zeitgenössischen Bewertung der Abstimmung fehlt der geradezu euphorische Dank an die verschiedenen Behörden, deren rastloser Einsatz eine solch große Beteiligung an der Volksabstimmung überhaupt erst möglich gemacht habe.75 Der Umweg über die Verbände der Heimattreuen erklärt sich naturgemäß daraus, dass sie nur diejenigen ansprachen, von denen angenommen werden konnte, dass sie für den Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland stimmen würden, während Gleiches den polnischen Organisationen unterstellt wurde. Das war aber dennoch nicht der Kern der Sache. Durch die Einschaltung der Verbände der Heimattreuen war die Abstimmungsorganisation dem demokratischen Prozess, dem die Verwaltungen in den Kommunen und Ländern ja seit der Revolution folgen mussten, entzogen.76 Das ging auf den Ursprung der Verbände zurück, die sich schon Ende 1918 als „Freie Vereinigung zum Schutze Oberschlesiens“ in Oppeln gegründet hatten. Ziel war es, eine „Propagandazentrale“ gegen die „großpolnischen Bestrebungen auf Absprengung Oberschlesiens“ zu schaffen77 und als solche durfte sie keine offenen Verbindungen zu staatlichen oder halbstaatlichen Organisationen unterhalten, um diese nicht zu diskreditieren. Vor allem musste eine nichtstaatliche Organisation außenpolitisch keine Rücksicht nehmen und deshalb übernahmen die als Verein organisierten Vereinigten Verbände heimattreuer Oberschlesier anstelle der staatlichen Reichszentrale für Heimatdienst die Agitation der „Emigranten“, als die Abstimmungspropaganda im Spätsommer 1920 Fahrt aufnahm.78 Gleichwohl hingen die Heimattreuen am Tropf der preußischen und der Reichsregierung. Aus dem Prüfungsbericht, den der Reichsrechnungshof 1922 über die Ausgaben für die „oberschlesischen Propaganda-Organisationen“ erstellte, ging hervor, dass aus Mitteln des Landes Preußen, des Reiches und der sogenannten Grenzspende 1,15 Mrd. Reichsmark – das entsprach zu dieser Zeit knapp 68,5 Mio. Goldmark – an sie geflossen waren.79 Diese gewaltige Summe, die auch der Finanzierung des Schlesisches Ausschusses als „Hauptträger der politischen Propaganda“, des „ganz geheimen“ Nachrichtendienstes von Carl 75 76 77 78 79
Siehe beispielsweise das Rundschreiben des Preußischen Innenministers Severing an die Beamten und staatlichen Angestellten im Oberschlesischen Abstimmungsgebiet, 04.07.1922, Stadtarchiv Duisburg, 50/81. Laubert, Manfred: Die oberschlesische Volksbewegung. Beiträge zur Tätigkeit der Vereinigung Heimattreuer Oberschlesier, Breslau 1938, S. 5. Laubert: Volksbewegung, S. 5–9. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 265; Witt: Finanzierung, S. 66. Witt: Finanzierung, S. 76.
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Spiecker sowie der Subventionierung von Lebensmitteln und Konsumgütern in Oberschlesien diente, zeigte aber auch, dass die Aktionen der Heimattreuen nur einen kleinen Teil eines größeren Geflechts politischer und militärischer Maßnahmen darstellten, durch das die Oberschlesier dazu gebracht werden sollten, am 20. März 1921 für Deutschland zu stimmen.80 Aus der Finanzierung der Propaganda ließ sich aber vor allem ablesen, wer der wichtigste Akteur in der Abstimmungsfrage war, denn den größten Anteil – gut ein Viertel der gesamten Summe – erhielt die Zentralstelle für die Durchführung der Oberschlesischen Abstimmung unter der Leitung von Hans-Heinrich von Kahlden, der zwar im Frühjahr 1920 aus der Reichwehr verabschiedet worden war, dafür aber den Charakter als Oberstleutnant und die Erlaubnis zum Tragen der Uniform des Generalstabs des Heeres erhalten hatte.81 Die Zentralstelle von Kahlden war für die Erfassung der Stimmberechtigten, deren Transport zur Abstimmung, Verpflegung und Unterbringung zuständig und von ihr erhielten die Heimattreuen auch den größten Teil ihrer Mittel.82 Die Zentralstelle von Kahlden stand für die Interessen der Reichswehr bei der Abstimmung, und von ihr ausgehend ließ sich auch die Verbindung zu Oberstleutnant Friedrich Wilhelm Freiherr von Willisen herstellen, der in dieser Frage anscheinend an der Spitze der Aktivitäten des deutschen Militärs stand. Willisen war exponiertes Mitglied der sogenannten OHL-Clique, einer Gruppe von Generalstabsoffizieren, die sich während des Krieges um Erich Ludendorff und Wilhelm Groener gebildet hatte. Als Vertrauter von Groener war er einer der wichtigsten Exekutoren des Ebert-Groener-Paktes von November 1918, dessen Inhalt im Wesentlichen darin bestand, dass die OHL mit den ihr verbliebenen Machtmitteln Ordnung im Innern schaffen sollte, für den Preis, dass die Vorrechte des Offizierskorps in der Republik nicht angetastet wurden. Willisen organisierte in diesem Sinne den Einsatz von Freikorps im Baltikum und in Oberschlesien, wodurch die Tendenzen zur Gründung von Volkswehren ausgeräumt wurden, die das Gewaltmonopol der Reichswehr 80
81
82
Bericht über das finanzielle und Prüfergebnis bei den oberschlesischen PropagandaOrganisationen, 12.02.1923, Bundesarchiv, Berlin (BArch) R2/24692. Alle Zitate daraus. Witt: Finanzierung, S. 76; dazu (andeutungsweise) auch: Laubert: Volksbewegung, S. 89–92; zu Spiecker siehe Hitze: Ulitzka, S. 269. Kahlden wird in der Literatur mit einem falschen Vornamen aufgeführt, was offenbar auf einen Irrtum von Witt: Finanzierung, S. 66 zurückgeht, vgl. Hitze: Ulitzka, S. 355; Tooley, T. Hunt: National Identity and Weimar Germany. Upper Silesia and the Eastern Border, 1918–1922, Lincoln, Nebr. 1997, S. 193; zur Biographie Kahldens: Möller, Hans: Geschichte der Ritter des Ordens „pour le mérite“ im Weltkrieg, Band 1, Berlin 1935, S. 545–547. Witt: Finanzierung, S. 66f.
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von rechts und links in Frage gestellt hatten. Als Willisen ebenso wie Kahlden im Frühjahr 1920 aus der Reichswehr verabschiedet war, wurde er Präsident des neu gegründeten Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum, unter dessen Dach sich die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier dann auch offiziell sammelten. Jedenfalls waren die Heimattreuen durch Kahlden und Willisen ein Zwillingsgeschöpf des Grenzschutzes Ost, der wiederum von der Organisation von Carl Spiecker unterstützt wurde, und die darin sichtbar werdende sorgfältige Aufteilung der Reichswehrpolitik auf propagandaund gewaltproduzierende Verbände erklärt auch, warum die Heimattreuen jede Verbindung zu den überkommenen Ost-Organisationen wie etwa dem Ostmarkenverein scheuten. Denn diese hatten eine unberechenbare Neigung, selbst zur Waffe zu greifen, und das zu unterbinden war das wichtigste Motiv der Reichswehr.83 Die Agitation der Heimattreuen im Ruhrgebiet und die Vorbereitung der Abstimmung waren entsprechend „generalstabsmäßig“ aufgezogen.84 In Bottrop tauchten die Heimattreuen erstmals Ende August 1920 auf, als sämtliche politischen Parteien eine Kundgebung für Oberschlesien – mit mehreren tausend Teilnehmern – abhielten.85 Alsbald bildeten sich allein in Bottrop vier Ortsgruppen. Im Oktober 1920 veranstalteten die Heimattreuen einen Vortrag von Paul Nieborowski, der eigentlich am 24. stattfinden sollte, wegen zahlreicher Störungen aber abgebrochen und eine Woche später erneut angesetzt werden musste.86 In den folgenden Monaten beschränkten sich die Heimattreuen aber darauf, die Abstimmung zu organisieren, begleitet von zahlreichen Aufrufen, die eher schablonenhaft die Bedeutung Oberschlesiens für die deutsche Wirtschaft und Nation, nicht aber für die Oberschlesier vor Ort, beschworen. Sie registrierten die Abstimmungsberechtigten, buchten Termine für die Aufnahme der Passfotografien, erläuterten das Abstimmungsverfahren und die Regeln für die Kostenerstattung, organisierten Sonderzüge, 83
84 85 86
Tooley: Identity, S. 193 u. 268; Zu Willisen siehe Hömig, Herbert: Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, München, Paderborn 2000, S. 72–78; Kilian, Jürgen: „Wir wollen die geistige Führung der Armee übernehmen“. Die informelle Gruppe von Generalstabsoffizieren um Joachim von Stülpnagel, Friedrich Wilhelm von Willisen und Kurt von Schleicher, in: Gundula Gahlen, Daniel M. Segesser, Carmen Winkel (Hg.): Geheime Netzwerke im Militär 1700–1945, Paderborn 2016, S. 167–183; Fenske, Reiner: Imperiale Verbände im Deutschland der Zwischenkriegszeit im Vergleich. Die Beispiele des „Deutschen Ostbundes“ und der „Deutschen Kolonialgesellschaft“, Diss. TU Dresden 2018, S. 83. Hitze: Ulitzka, S. 360. Bottroper Volkszeitung, 31.08.1920. Bottroper Volkszeitung, 03.11.1920; diese Störungen wurden auch in Oberschlesien registriert: Rybniker Stadtblatt, 24.11.1920; Der Schwarze Adler, 15.11.1920.
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Passierscheine, Verpflegung und Unterbringung, alles konsequent begleitet von Mahnungen, die Vielzahl an Terminen nicht zu verpassen.87 Die Abwicklung übernahm ein eigenes Büro in der Innenstadt, wobei Ende Januar 1921 zusätzlich auch noch eine Arbeitsgemeinschaft Oberschlesien gegründet wurde, deren Mitglieder für die „Grenzspende“ für Oberschlesien sammelten, um die staatlichen Mittel der Heimattreuen aufzustocken.88 Dabei rückte in Bottrop, aber auch in anderen Städten des Ruhrgebiets, allmählich ein weiteres Interesse in den Vordergrund. Die oberschlesische Kohle wurde in der Abstimmungsagitation nun besonders hervorgehoben, da durch die Ablieferungsbestimmungen im Versailler Vertrag ein Kohlenmangel entstanden war, der weite Teile der deutschen Industrie lahmzulegen drohte.89 Deshalb wurden auch die Streiks der Bergarbeiter im Januar/Februar 1919 und März/April 1920 – namentlich in Bottrop – so brutal niedergeschlagen. Sicher ging es darum, möglichst viele Deutschgesinnte an die Urnen in den jeweiligen Heimatgemeinden zu bringen, um damit indirekt auch eine Chance auf die oberschlesische Kohle zu wahren. Wesentlich größer war aber die vermittelte Gefahr, dass ein großer Teil der polnisch Gesinnten gemeinsam mit ihren Nachkommen anschließend auch für die polnische Staatsbürgerschaft optieren, abwandern und damit die Förderung der Ruhrkohle gefährden würde. In der Agitation der Heimattreuen in Bottrop entstand schon während der Abstimmung das Momentum, durch Feierlichkeiten zur Abreise und Rückkehr der Sonderzüge nach Oberschlesien ein kommunales Wir-Gefühl zu erzeugen, das die loyalen Oberschlesier nach den Jahren der Missachtung symbolisch als Teil der neuen Stadt vereinnahmen sollte.90 Die Umzüge zur Rückkehr der Sonderzüge mit ihren immer gleichen Ansprachen und Zugordnungen entwickelten zwar auch eine gewisse Routine und Sterilität, die der Agitation der Heimattreuen ohnehin anhaftete, doch war damit ein Akzent für die künftige Arbeit der Heimattreuen gesetzt. Sowohl in Oberschlesien als auch im Ruhrgebiet wurden direkt nach der Abstimmung Überlegungen angestellt, die Arbeit der Heimattreuen zu verstetigen – in Oberschlesien zur weiteren Abwehr der polnischen Agitation
87 88 89 90
Siehe etwa Bottroper Volkszeitung, 07.01.1921, 12.01.1921, 23.02.1921, 28.02.1921. Bottroper Volkszeitung, 21.01.1921; Bericht über das finanzielle und Prüfergebnis bei den oberschlesischen Propaganda-Organisationen, 12.02.1923, BArch R2/24692; siehe auch Witt: Finanzierung, S. 76. Dies war einer der Hauptgegenstände der Konferenz von Spa: Weißbuch über die Konferenz von Spa, 24.07.1920, in: Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, Bd. 363, Berlin 1924, Nr. 187. Bottroper Volkszeitung, 22.03.1921.
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und zur festen Verankerung der deutschen Kultur,91 im Ruhrgebiet, um zu verhindern, dass der polnische Einfluss so stark wurde, dass „der von den hiesigen Polen schon heute ausgesprochene Wunsch in Erfüllung gehen“ könnte, „dass auch in Rheinland-Westfalen eine Volksabstimmung stattfinden muss.“92 Das eigentliche Interesse der fest besoldeten Funktionäre der Heimattreuen war leicht zu durchschauen – doch bestanden die Ortsgruppen der Vereinigten Verbände der Heimattreuen Oberschlesier bis in den Zweiten Weltkrieg hinein weiter und propagierten auch in Bottrop eine unverfänglich als „schlesisch“ etikettierte Kultur. Sie entwickelten sich – wie in den Zeitschriften der Vereinigten Verbände zu lesen – mit Festen, gemeinsamen Ausflügen und Kinderfreizeiten zu Orten der organisierten Geselligkeit, in denen unterschwellig die soziale Integration in die städtische Gesellschaft vorangetrieben wurde; vor allem, weil die Verwendung von Deutsch als Umgangssprache die Grundbedingung für eine Teilnahme war. Dabei zeigte sich, dass der Name der Verbände dem Unbehagen entgegenwirkte, das während der oberschlesischen Abstimmung insgesamt zu spüren gewesen war: Für alle, die sich aufgrund ihrer Verwandtschaft, aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen, nicht entscheiden wollten oder konnten, ob sie Tschechoslowaken, Polen oder gar Deutsche waren, die aber auch nicht zu den Kommunisten gehören wollten, war das Angebot, einfach nur heimattreu zu sein, das mit Abstand attraktivste.
91 92
Carl Müller, Grundlegendes über die fernere Polenabwehr in Oberschlesien, 02.05.1921, BArch R2/24696. Die Polen im rheinisch-westfälischen Industriebezirke, Anlage zu Nowak an Jarres, 01.02.1922, Stadtarchiv Duisburg, 50/81.
Die Kultur der Migration in Oberschlesien und ihr Einfluss auf das Ergebnis der Volksabstimmung Andrzej Michalczyk Im deutsch-polnischen Konflikt um die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens kam den außerhalb von Oberschlesien lebenden Migranten und Migrantinnen eine gewichtige Rolle zu. Sie wurden auf Wunsch der polnischen Delegation im Rahmen der Friedensverhandlungen in Versailles zur Stimmabgabe bei der Volksabstimmung in Oberschlesien zugelassen, d.h. alle über 20-jährigen Personen mit einem Geburtsort innerhalb des Abstimmungsgebietes durften in ihre ursprünglichen Heimatorte reisen, um am 20. März 1921 persönlich abzustimmen. Die polnische Seite versprach sich davon ein eindeutiges Votum der polnischsprachigen „Weggezogenen“, wie sie zeitgenössisch genannt wurden, für den Anschluss ihrer Heimatregion an Polen. Beiden Konfliktparteien gelang es, insgesamt 191.303 außerhalb von Oberschlesien lebende Menschen als Wahlberechtigte zu mobilisieren, davon kamen gut 180.000 vor allem aus dem Reichsinneren, sowie aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Österreich, und nur etwa 10.000 aus den polnischen Gebieten. Wie Benjamin Conrad in diesem Band gezeigt hat, mussten etwa 170.000 von den wahlberechtigten „Emigranten“ ihre Stimme tatsächlich abgegeben haben. Insgesamt waren es fast 16 Prozent von knapp 1,2 Mio. Stimmen, die auf Ausgewanderte entfielen. Diese Ausgewanderten aus dem Westen des Reiches, aus Bayern, Sachsen, Berlin und Breslau stellten dabei eine überwältigende Mehrheit. David Skrabania hat überaus plausibel herausgearbeitet, dass die oberschlesische Binnenmigration im Reichsinneren vor dem Ersten Weltkrieg bei einer Gesamteinwohnerzahl im späteren Abstimmungsgebiet von knapp 2 Mio. Menschen insgesamt mehr als 300.000 Menschen betraf.1 Dies verdeutlicht die herausragende Bedeutung der Migrationen für Oberschlesien. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass die Zahl der Oberschlesierinnen und Oberschlesier, die sich zu einem Zeitpunkt ihres Lebens wenigstens temporär, wenn auch vielleicht nur für wenige Monate, im Reichsinneren aufgehalten und auch Migrationserfahrungen gemacht haben, diese vorsichtige, konservative Schätzung von mehr als 300.000 noch einmal deutlich erhöht. Hinzu kommt 1 Michalczyk, Andrzej/Skrabania, David (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2023.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_017
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der Einfluss der dauerhaft oder temporär pendelnden Ausgewanderten auf ihre Familien und heimatliche Milieus. Das Migrieren war nämlich nicht nur ein singuläres Ereignis, vielmehr hatten die bereits erfolgten Auswanderungen weitere Migrationsentscheidungen zur Folge – und dies immer wieder aufs Neue. Dabei wurden die Entscheidungen darüber, wer ging und wer (erst einmal) blieb, in erster Linie im Familienverbund getroffen. So scheint es, dass die Erfahrung von Migration selbst bzw. mit deren Auswirkungen konfrontiert zu werden ein „habitual imprint“2 Oberschlesiens gewesen ist – außergewöhnlich viele Familien kamen damit früher oder später in Berührung. Vor diesem Hintergrund muss das Ergebnis des Plebiszits nicht nur hinsichtlich der Bedeutung der Stimmen der ohnehin sehr großen Gruppe der Weggezogenen überprüft werden, sondern auch vor dem Hintergrund des Einflusses des Migrationsphänomens als Ganzes in Relation zum Ergebnis analysiert werden. Gleichzeitig müssen sowohl die geographische Komponente (die Verteilung der Stimmen der Weggezogenen und die unterschiedliche Intensität der Migrationserfahrungen in der Region) als auch die soziale Komponente (hier vor allem die sozialen Aspirationen der Migranten und ihrer Familien) stets mitgedacht werden. Erst dann wird die ganze Komplexität des Zusammenhangs zwischen Migration und politisch-gesellschaftlicher Haltung in all ihren Facetten zu Tage treten. Innerhalb der Forschung wird angenommen, dass die Migrantenstimmen einen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Volksabstimmung genommen haben. Die Weggezogenen aus dem Reichsinneren wurden mit Unterstützung der deutschen Behörden in gut organisierten Bahntransporten kostenfrei in ihre Heimat gebracht, in der Hoffnung, dass sie zugunsten Deutschlands abstimmen würden. Nach den Berechnungen des Polnischen Plebiszitkommissariats ordnete man der deutschen Seite 182.288 und der polnischen nur 10.120 Stimmen zu, bei einem Ergebnis von insgesamt 707.605 deutschen und 479.359 polnischen Stimmen.3 Ohne die Beteiligung der Migranten, so der Grundtenor in der sich darauf stützenden polnischen Literatur, wäre der Ausgang des Plebiszits vermutlich mehr oder weniger unentschieden gewesen. Freilich gibt es dafür aber keine tragfähigen Beweise, da die Stimmabgabe geheim vonstattenging. Einiges spricht allerdings dafür, dass die „deutschgesinnten“ Migranten tatsächlich zugunsten Deutschlands 2 Vgl. für Südosteuropa Brunnbauer, Ulf: Globalizing Southeastern Europe: Emigrants, America, and State since the Late Nineteenth Century, Lanham 2016, S. 23. 3 Korowicz, Marek: Górnośląska ochrona mniejszości na tle stosunków narodowościowych, Katowice 1938, S. 37. Zu diesen Zahlen vgl. aber kritische Stellungnahme im Aufsatz von Benjamin Conrad in diesem Band.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
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abgestimmt haben: An vielen Orten bekamen sie Verpflegung und Unterkünfte zur Verfügung gestellt, manchmal kamen sie aber nicht bei Verwandten unter, sondern blieben in provisorisch errichteten Baracken in den deutsch dominierten Kreisstädten, wie beispielsweise in Cosel (Koźle), Ratibor (Racibórz) oder Tarnowitz (Tarnowskie Góry).4 Manche trauten sich nicht in ihre ländlichen Heimatorte zurück, da sie von der besorgniserregenden Berichterstattung der deutschen Medien über einige besonders hoch gehängte Gewalttaten der polnischen Seite eingeschüchtert waren. Der dadurch vermittelte Eindruck kann durchaus einen zusätzlichen und unmittelbaren Einfluss auf die Stimmabgabe gehabt haben. Nichtsdestotrotz sind auch andere Fälle bekannt, bei denen die Rückkehrer aus dem Reichsinneren die organisierten Transporte als willkommenen Anlass für Familienbesuche und eine kostenlose Heimreise nutzten bzw. tatkräftig und erfolgreich für Polen agitierten.5 Die Haltung der Heimkehrer vor Ort sollte dabei nicht unterschätzt werden, zumal sich deren Wirkungsradius weit über die einzelne Stimme hinaus erstrecken und die Stimmung in der einstigen Heimat beeinflussen konnte. So müssen wir uns von den vermeintlich präzisen Berechnungen der polnischen Seite verabschieden und den Einfluss des Migrationsphänomens auf die Volksabstimmung anhand einer längeren Zeitachse analysieren und für jeden oberschlesischen Kreis einzeln gewichten. Im nächsten Schritt ist es wichtig, die Gemeindeebene genauer unter die Lupe zu nehmen und an einigen konkreten, lokalen Beispielen zu zeigen, wie das Stimmverhalten durch das gesamte Spektrum von Migrationserfahrungen beeinflusst wurde. Um die geografische Verteilung der Migrantenstimmen beim Plebiszit 1921 und das Ausmaß des Migrierens und eines damit einhergehenden potenziellen Wissens- und Wertetransfers zu verdeutlichen, müssen wir einen Schritt zurückgehen und die Ergebnisse der Volkszählung von 1910 betrachten. Diese wurde am 1. Dezember durchgeführt und erfasste ausschließlich die „ortsanwesende Bevölkerung“. Dabei fällt auf, dass gerade in den westlichen und südwestlichen Kreisen der Anteil an erfassten Männern deutlich geringer war als die Zahl der ortsanwesenden Frauen. Wenn wir dabei annehmen, dass sich das Verhältnis zwischen Einwohnerinnen und Einwohnern normalerweise einigermaßen ausgewogen gestaltet, bekommen wir einen wichtigen Indikator für das Ausmaß der Migrationen. Die auf der Kreisebene im Westen, 4 Vgl. Chronik von Czissek, unter: http://czyszki.eu/viewtopic.php?t=287 [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021]; Alte Chronik von Wellendorf, unter: http://turze.net/ [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021]; Jan Nowak: Kronika miasta i powiatu Tarnowskie Góry [1927], Tarnowskie Góry 2014. 5 Franciszek Bul. In: Wspomnienia Opolan, hrsg. v. Wiktor Kornatowski, Kazimierz Malczewski, Warszawa 1960, S. 69.
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Südwesten und in den Industriekreisen der Region erfassten Zahlen sind in Tabelle 16.1 zusammengestellt.6 Tabelle 16.1 Migrantische Stimmen beim Plebiszit
Männer (%-Anteil)
Frauen (%-Anteil)
Migrantische Stimmen beim Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
Westliche und südwestliche Kreise: Kreis Ratibor Kreis Leobschütz Kreis Neustadt Kreis Oppeln Kreis Kreuzburg
49.162 (45,8%) 36.728 (44,6%) 23.302 (46%) 71.225 (47,2%) 24.717 (47,8%)
58.197 (54,2%) 45.514 (55,4%) 27.386 (54%) 79.615 (52,8%) 26.951 (52,2%)
13.560 (20%) 22.090 (34%) 11.404 (30%) 23.172 (23%) 15.459 (40%)
Industriereviere: Kreis Beuthen Kreis Kattowitz Kreis Zabrze Kreis Königshütte Kreis Rybnik
133.973 (50,8%) 133.063 (51,2%) 81.291 (50,9%) 36.262 (49,9%) 61.301 (49,5%)
129.587 (49,2%) 13.288 (10%) 126.917 (48,8%) 14.474 (11%) 78.519 (49,1%) 7.988 (10%) 36.379 (50,1%) 4.674 (11%) 62.437 (50,5%) 10.058 (12%)
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
Auffallend ist das deutliche Männer-Defizit in den westlichen und südwestlichen Kreisen. Offensichtlich waren viele Pendler-Männer und womöglich auch ein Teil der pendelnden Frauen von ihren Arbeitsstätten im Reichsinneren Anfang Dezember 1910 noch nicht zurückgekehrt. Hunderttausende aus den ländlichen Kreisen Neustadt (Prudnik), Leobschütz (Głubczyce), Kreuzburg (Kluczbork), Oppeln (Opole) und zum Teil auch Rosenberg (Olesno), Cosel und Groß-Strehlitz (Strzelce Opolskie) beteiligten sich nämlich an dem großen Infrastrukturausbau der zentralen Regionen des deutschen Staates. Als Maurer, Zimmerleute, Verputzer, Maler, Schlosser oder 6 Die Ergebnisse der Volkszählung 1910 und des Plebiszits 1921 wurden mit Hilfe der „Anwendung zur Analyse der Ergebnisse der Volksabstimmung“ zusammengestellt: https:// silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
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Tischler, ungelernte Bau- und Erdarbeiter fanden sie Arbeit beim Bau von modernen Kanalisationsnetzen und Wasserleitungen, Industrieobjekten und Schlafkasernen in Breslau, Berlin, Leipzig oder in den Werften von Hamburg und Bremerhaven. Sie unterstützten darüber hinaus die Anlegung neuer Bahnlinien und Straßen zwischen diesen Metropolen. Neu war dabei, dass in großem Maß auch Oberschlesierinnen an diesen Bewegungen beteiligt waren und zusätzliches Einkommen beisteuerten. Das am häufigsten praktizierte Modell der Mobilität war dabei ab den 1890er Jahren die saisonale Arbeit im Reichsinneren von März bis Weihnachten. In den restlichen Monaten mussten Bau- und Erdarbeiten witterungsbedingt pausieren. Die meist am Rande der Ortschaften befindlichen Wohnstätten der mobilen Häusler, Handwerker und Tagelöhner wirkten also über lange Zeit entvölkert, erst in den Wintermonaten füllte sich das gesamte Dorf wieder mit Leben. In den industrialisierten Kreisen sah das Einwohnerbild am 1. Dezember 1910 entscheidend anders aus als in ländlichen Gegenden im Westen und Südwesten: Es gab einen leichten Überschuss an Männern, weil die Nachfrage nach (männlichen) Arbeitskräften vor Ort besonders hoch war und die Notwendigkeit einer Arbeitsaufnahme im Reichsinneren nicht bestand. Die Tabelle zeigt also die Hotspots der Migration und die damit einhergehende Beteiligung von Weggezogenen am Plebiszit: Im Durchschnitt waren 16 Prozent „migrantische“ Stimmen – dabei verdeutlicht erst die geografische Aufteilung, in welchen Kreisen der Migrationshabitus der Einwohnerschaft eine herausragende Rolle gespielt hat, und zwar in solchen mit Stimmenanteilen von 20 bis über 40 Prozent, und in welchen die Zehn-Prozent-Marke praktisch nicht überschritten wurde. So möchte ich mich im Folgenden auf diejenigen Kreise konzentrieren, die von Migrationen besonders stark beeinflusst waren. Hierbei ist ein Blick auf die Gemeindeebene ratsam. Im westlichen und südwestlichen Oberschlesien finden wir zahlreiche Ortschaften mit einem ausgesprochen unausgewogenen Männer-FrauenZahlenverhältnis, in denen der Anteil an Migrantenstimmen beim Plebiszit gleichzeitig überdurchschnittlich hoch war. Die folgende Tabelle bildet nur einige charakteristische Beispiele ab, wobei der Fokus auf Gemeinden mit etwa 1.000 bis 4.000 Einwohnern liegt (d.h. größer als die kleinsten Dörfer und kleiner als die Kreisstädte). In den westlichen und südwestlichen Kreisen bildeten sich fast flächendeckend Migrationshochburgen heraus. Bemerkenswert ist, dass fast alle dortigen Gemeinden von Migrationsbewegungen ins Reichsinnere erfasst wurden, und zwar unabhängig von den vor Ort vorherrschenden Sprachen und Konfessionen. Ob deutsch-, oberschlesisch-polnisch- oder mährischsprachig, ob katholisch oder evangelisch, praktisch alle Familien nutzten
268
Andrzej Michalczyk
Tabelle 16.2 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik]
Männer (%-Anteil)
Frauen (%-Anteil)
Stimmen Stimmen Migrantische für PL für D Stimmen beim (in %) (in %) Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
Kranowitz, Kr. Ratibor [über 90% mährisch-kath.] Pilitsch, Kr. Leobschütz [98% dt.spr.-kath.] Branitz, Kr. Leobschütz [70% dt., 20% mährisch, 10% oberschl.-poln; 90% kath., 10% ev.] Bauerwitz, Kr. Leobschütz [fast alle kath., 65% dt. spr, 35% oberschl.-poln. oder zweispr.] Wanowitz, Kr. Leobschütz [über 90% dt.spr.-kath.] Deutsch-Rasselwitz, Kreis Neustadt [98% dt.spr. und kath.] Klein Strehlitz, Kr. Neustadt [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Polnisch-Würbitz, Kr. Kreuzburg [80% oberschl.-poln., meist ev., aber auch kath.; 20% dt.spr., fast alle ev.]
1.246 (41,5%)
1.753 (58,5%)
424 (19%)
97%
3%
570 (40,5%) 836 (59,5%) 371 (33%)
100%
0%
1.504 (43%) 1.996 (57%) 532 (26%)
100%
0%
1.161 (43,2%)
1.524 (56,8%)
663 (30%)
99%
1%
565 (44%)
715 (56%)
457 (39%)
100%
0%
1289 (44%) 1642 (56%) 840 (33%)
99%
1%
776 (43%)
1.025 (57%) 526 (32%)
87%
13%
356 (43,9%) 455 (56,1%) 475 (51%)
99%
1%
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
269
Tabelle 16.2 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse (fortges.)
Frauen (%-Anteil)
Stimmen Stimmen Migrantische für PL für D Stimmen beim (in %) (in %) Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik]
Männer (%-Anteil)
Nassadel, Kr. Kreuzburg [gemischt ev. und kath., gemischtspr., viele zweispr.] Pitschen, Kr. Kreuzburg [80% dt.spr., meist ev., aber auch kath., 20% oberschl.-poln., ev. und kath.] Reinesdorf, Kr. Kreuzburg [fast 90% oberschl.poln. und ev.]
570 (47,7%) 625 (52,3%) 432 (43%)
95%
5%
1.140 (45,6%)
97%
3%
100%
0%
1.360 (54,4%)
985 (45%)
346 (47,5%) 382 (52,5%) 317 (49%)
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
„das Netz ihrer technischen Möglichkeiten“7 und bewegten sich gekonnt auf den ausgetretenen Pfaden der Pendelmigration. Die sehr hohen Zahlen der Migrantenstimmen beim Plebiszit bestätigen das Ausmaß dieses Phänomens und die aufrechterhaltenen Verbindungen in die Heimat. Hier stechen sehr viele Gemeinden aus dem Kreis Kreuzburg und dem niederschlesischen Restkreis Namslau (Namysłów, wo das Plebiszit auch durchgeführt wurde) mit über 40-prozentigen Anteilen, teils sogar einer absoluten Mehrheit migrantischer Stimmen heraus. Wahrscheinlich hat hier auch die fast unmittelbare Nähe zu der schnell wachsenden Metropole Breslau, vor dem Ersten Weltkrieg die fünftgrößte im Reich, eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Gleichzeitig handelte es sich um eine evangelische Bevölkerung, egal ob deutsch- oder 7 Esch, Michael: Migration: Transnationale Praktiken, Wirkungen und Paradigmen, in: Frank Hadler/Matthias Middell (Hg.): Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Band I. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2017, S. 131–187, hier 147.
270
Andrzej Michalczyk
polnischsprachig, was ein Ankommen „in der Fremde“ des protestantisch geprägten Niederschlesiens erleichterte. Die „migrantischen“ Stimmen beeinflussten das Ergebnis des Plebiszits in diesen Kreisen ganz eindeutig: Praktisch flächendeckend stimmten 90 bis 100 Prozent der Wahlberechtigten für Deutschland. Die Verflechtungen gen Westen respektive ins Reichsinnere waren in den Kreisen sehr ausgeprägt und es überrascht nach wie vor, dass die polnische Delegation die Miteinbeziehung der Weggezogenen als vorteilhaften Schachzug erachtet hat – offensichtlich kannte sie die Verhältnisse vor Ort im Westen und Südwesten der Region nicht. Die Hauptzielgruppe des polnischen Plebiszitkommissariats stellten jedoch nicht die meist deutschsprachigen, wenn auch oft katholischen Gemeinden um Leobschütz, Neustadt oder Ratibor dar, ebenso wenig wie die evangelischen, oft polnischsprachigen Ortschaften um Kreuzburg. Im Zentrum der polnischen Propagandaarbeit standen vielmehr die oberschlesischpolnischsprachigen und zugleich katholischen Gemeinden – hier erhoffte sich die polnische Seite ein klares Votum für Polen. Es lohnt sich daher, einen Kreis näher zu analysieren, in dem die Polnischsprachigen dominierten und in größeren Dörfern weitgehend unter sich lebten. Im Gegensatz dazu stellten Polnischsprachige in den Kreisen Leobschütz, Neustadt oder Kreuzburg nur eine Minderheit dar bzw. bildeten sprachlich gesehen Inselsiedlungen, weshalb sie wohl auch unter dem Einfluss der deutschsprachigen Mehrheit standen und daher schließlich mit 80 bis 90 Prozent für Deutschland stimmten. Ein geeignetes Beispiel stellt der nördliche Teil des Kreises Oppeln dar. In der folgenden Tabelle seien nur einige charakteristische Beispiele aufgeführt. Das Ergebnis der Volksabstimmung in diesen fünf Ortschaften, aber auch in fast allen anderen Orten nördlich von Oppeln mit ähnlicher gesellschaftlicher Struktur, war eindeutig: Deutschland bekam in der Regel mindestens zwei Drittel, zum Teil sogar bis zu 95 Prozent aller Stimmen. Die unmittelbare Bedeutung der „migrantischen“ Stimmen liegt auf der Hand. Aber erst eine Betrachtung der Kultur der Migration vor Ort erlaubt tiefergehende Schlüsse: Der durch Migrationen verursachte Wandel soziokultureller Haltungen, Orientierungen und Erwartungen hatte weitaus größere Auswirkungen auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Die Hunderten von Migranten in jeder Ortschaft sorgten nämlich nicht nur für Geld-, sondern auch für Wissens- und Wertetransfers: Sie brachten neue Erfahrungen in die Herkunftsgebiete. Für die fünf oben genannten Ortschaften verfügen wir über eine etwas umfassendere Quellen- und Literaturüberlieferung, die uns eine klare Polarisierungslinie entlang der Migrationskultur erkennen lässt.8 Diejenigen, 8 Siehe: Michalczyk, Andrzej/Skrabania, David (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
271
Tabelle 16.3 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse im nördlichen Teil des Kreises Oppeln
Männer „Ortsanwesende (%-Anteil) Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik] Dammratsch [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Alt Schalkowitz [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Groß Döbern [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Poppelau [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Bierdzan (Gemeinde) [fast alle kath.-oberschl.-poln.]
Frauen (%-Anteil)
Stimmen Stimmen Migrantische für PL Stimmen beim für D in % in % Plebiszit (% aller Stimmen)
1.044 (45,1%) 1.269 (54,9%) 583 (33%)
94%
6%
1.187 (44,4%) 1.487 (55,6%) 550 (30%)
75%
25%
1.115 (45%)
382 (21%)
68%
32%
1.018 (43,9%) 1.303 (56,1%) 592 (30%)
75%
25%
368 (44,4%)
74%
26%
1.363 (55%)
461 (55,6%)
159 (26%)
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
die überregional mobil waren und flexible Arbeitsverhältnisse auf dem großstädtisch-industriellen Markt im Reichsinneren hatten, entschieden sich meist für Deutschland. Ihre transmigrantischen Netzwerke als Grundlage für ökonomische Existenz und sozialen Aufstieg sahen viele für den Fall eines Anschlusses an Polen gefährdet. Hingegen kam die Unterstützung für Polen in erster Linie aus den Reihen der alten, aber schrumpfenden bäuerlichen Eliten. Sie waren als landwirtschaftliche Produzenten auf dem lokalen Markt verankert und überregional in westliche Richtung wenig vernetzt. Viel eher stellten einige Großbauernfamilien eine Art polnische Avantgarde dar. Mehrere führende Großbauern in Alt Schalkowitz (Stare Siołkowice) betrieben schon seit 1893 einen lokalen Ableger der polnisch-katholischen Gesellschaft Oświata (Bildung). An ihrer Spitze stand Alexander Psikala, ein wohlhabender Bauer. Parallel dazu organisierte sich eine Gruppe von, für lokale Verhältnisse, reichen Bauern in einer Darlehenskasse für gegenseitige Hilfe nach dem
272
Andrzej Michalczyk
Vorbild von polnischen Bauern aus der Provinz Posen.9 Die Verbindungen in die polnischen Gebiete waren also lebendiger als ins Reichsinnere und mündeten meist in eine Unterstützung für Polen. Über eine ähnliche gesellschaftliche Spaltung berichtete Stanisław Ossowski aus Groß Döbern (Dobrzeń Wielki): Dort wurden einige im Dorf hochrespektierte Bauern und Betreiber von größeren Handwerksbetrieben „Großpolen“, „Riesenpolen“, „schreckliche Polen“ genannt und agitierten beim Plebiszit für Polen.10 Für die westlichen und südwestlichen Kreise Oberschlesiens lässt sich insgesamt ein klarer Zusammenhang zwischen Migration und Abstimmungsverhalten feststellen, und zwar unabhängig von den vor Ort vorherrschenden Sprachen und Konfessionen. Die massenhaften Arbeitsaufnahmen der Landbevölkerung im Reichsinneren verursachten bahnbrechende Rückkopplungen zu den Heimatdörfern der Beteiligten.11 In den drei Dekaden der Mobilität vor dem Ersten Weltkrieg unterlagen die soziokulturellen Beziehungen in den Heimatorten dabei einem großen Wandel. Die zwar bescheidenen, aber stabilen Löhne der mobilen Arbeiterinnen und Arbeiter strömten in die Dörfer. Zugleich bedeutete dies einen bis dato unbekannten Bargeldfluss, der die Karten der sozialen Verhältnisse neu mischte. Die mobilen Pendler und die vorerst dauerhaft Ausgewanderten begannen mit der Errichtung neuer, großer Häuser und konkurrierten bei deren Ausstattung auf Augenhöhe mit den bisherigen kulturellen Trendsettern – den lokal seit jeher bedeutenden, alteingesessenen Großbauernfamilien. Zwar konnten auch diese durch neue Düngemittel ihr Einkommen steigern, und profitierten dabei zum Teil vom frischen Baugeld im Dorf, mit dem sie Ziegeleien und holzverarbeitende Betriebe gründeten, jedoch holten die mobilen Unterschichten diesmal ökonomisch schnell auf und setzten dabei voll auf das profitable Arbeitereinkommen, ohne die Gewinne restlos ins Ackerland zu reinvestieren. So verschob sich das symbolische Kapital langsam vom Bodenbesitz hin zum modernen Konsum städtischer Prägung, der in den großen Metropolen beobachtet und zuhause implementiert werden sollte. Der Lebensstil der Arbeiterfamilien im Dorf wurde nachahmungswürdig und einige „Neureiche“ bzw. „Maurer“, wie sie im Dorf meist genannt wurden, übernahmen die Rolle der lokalen Trendsetter. Die Migranten rekrutierten sich meist aus den armen Dorfschichten, aber durch das gestiegene 9 10 11
Kutyma, Manfred: Siołkowice. Zarys dziejów wsi opolskiej, Opole 2007, S. 303. Im Original: „wielkie Poloki“, „ogromne Poloki“, „okrutne Poloki“. Ossowski, Stanisław: Zagadnienie więzi regionalnej i więzi narodowej na Śląsku Opolskim, in: ders.: Dzieła, Bd. 3, Warszawa 1967, 251–299, hier 265. Vgl. Michalczyk, Andrzej/Skrabania, David (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
273
ökonomische Kapital wurden sie immer mehr respektiert und auch auf dem Heiratsmarkt begehrter. Migration und Mobilität bedeuteten ökonomischen und sozialen Aufstieg für bisher benachteiligte dörfliche Schichten. Diese sahen allerdings ihren bescheidenen Erfolg durch einen Anschluss an Polen gefährdet und die finanzielle Stabilität nur durch uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gesichert. Tabelle 16.4 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse südlich und südöstlich von Oppeln
Frauen (%-Anteil)
Stimmen Stimmen Migrantische für PL für D Stimmen beim in % in % Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik]
Männer (%-Anteil)
Kossorowitz, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Zlönitz, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Przywor, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Nakel, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Kupferberg, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Konty, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Tarnau, Kr. Oppeln [fast alle kath.-oberschl.-poln.]
266 (46,4%) 307 (53,6%) 35 (9,6%)
9%
91%
346 (47,7%) 380 (52,3%) 48 (10,8%)
18%
82%
288 (51%)
19 (5,8%)
23%
77%
410 (49,5%) 419 (50.5%) 37 (7,6%)
28%
72%
184 (49,6%) 187 (50,4%) 14 (6,9%)
30%
70%
328 (49,5%) 334 (50,5%) 32 (8%)
35%
65%
613 (44,4%) 768 (55,6%) 87 (9,6%)
40%
60%
276 (49%)
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
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Andrzej Michalczyk
Den Einfluss der (diesmal eingeschränkten) Kultur der Migration bestätigt ein Blick auf oberschlesisch-polnisch-katholische Ortschaften südlich und südöstlich von Oppeln. Dort verzeichnete die polnische Seite die höchsten Stimmenanteile im gesamten Kreis. Zwei Gründe lassen es uns vorsichtig annehmen, dass die Gegend zu den am wenigsten verwobenen mit dem Arbeitsmarkt im Reichsinneren gehörte. Das Männer-Frauen-Verhältnis war dort bei der Volkszählung 1910 ausgewogener als in den bisher analysierten Gebieten, und auch der Anteil der „migrantischen“ Stimmen lag deutlich unter dem Durchschnitt des Kreises Oppeln. Im letzten Schritt sollen noch die südlichen Teile der Kreise Ratibor und Rybnik analysiert werden. Sie wiesen auf den ersten Blick keine herausragend hohen Zahlen an „migrantischen“ Stimmen auf (Kreis Ratibor 20 Prozent, Kreis Rybnik 12 Prozent), allerdings waren sie an den am längsten anhaltenden und vor 1900 intensivsten Migrationsströmen beteiligt und, so das zentrale Argument, gerade wegen der weitverbreiteten Migrationserfahrungen stimmten die Menschen dort überdurchschnittlich oft für Polen. Um diesen Zusammenhang besser verstehen zu können, müssen wir zeitlich einen Schritt zurückgehen. Südlich von Rybnik und im östlichen Teil des Kreises Ratibor ging die Industrialisierung in den 1870er Jahren, trotz reicher Kohlevorkommen, in Anbetracht erschwerter Abbaubedingungen nur schleppend voran. Aufgrund wiederholter Förderstopps und des damit verbundenen Abbaus von Arbeitsplätzen kam es dazu, dass sich insbesondere um Ratibor und Rybnik eine gemischte Erwerbsform aus Landwirtschaft, Handwerk und Bergbau etablierte.12 Die Beschäftigungspausen der gut qualifizierten Bergleute begannen die Direktionen der Zechen an Ruhr und Emscher ab 1870 für sich zu nutzen und lockten die gelernten Spezialisten zugunsten einer schnellen Expansion in ihre Betriebe.13 Entscheidend war dabei die Lohndifferenz: In den 1870er Jahren konnten Bergleute aus Oberschlesien im Ruhrgebiet fast das Doppelte verdienen, zu Ende des Jahrhunderts immer noch etwa ein Viertel bis ein Drittel mehr als in der Heimat. Dies erklärt, warum Bergmänner aus den Ortschaften südlich von Rybnik und Ratibor in der Regel nicht in das Revier um Gleiwitz (Gliwice) und Zabrze zogen, zumal sie ihr Zuhause ohnehin verlassen mussten und die vermeintliche Vor-der-Tür-Industrie hinter ausgedehnten Wäldern ohne ausreichende Verkehrsanbindung lag. Dies traf auf den nördlichen Teil 12 13
Vgl. Michalczyk/Skrabania (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens. Budraß, Lutz: Von Birtultau (Biertułtowy) nach Batenbrock. Oberschlesier in Bottrop, in: Budraß, Lutz/Kalinowska-Wójcik, Barbara/Michalczyk, Andrzej (Hg.): Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa), Bd. 40, Essen 2013, S. 126–127; Michalczyk/Skrabania (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
275
des Kreises Rybnik nicht zu, denn dort befanden sich die Zechen direkt hinter der Türschwelle.14 Vor allem aus dem Kreis Ratibor machten sich die Menschen zwischen 1880 und 1918 ununterbrochen auf den Weg ins Ruhrgebiet – das oberschlesische Industrierevier war eindeutig nicht die erste Wahl, ebenso wenig das neue Bergbaurevier, das ab den 1890er Jahren südwestlich von Rybnik schnell zu expandieren begann. Die Tradition der Wanderungen auf ausgetretenen Pfaden ins Ruhrgebiet war in den Ortschaften südlich und östlich von Ratibor offensichtlich sehr stark verankert, was die entscheidende Bedeutung von bi-lokalen informellen Netzwerken hervorhebt und im Kontext des Wahlverhaltens beim Plebiszit eine gewichtige Rolle gespielt hat. Tabelle 16.5 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse südlich und östlich von Ratibor
Frauen (%-Anteil)
Stimmen Stimmen Migrantische für PL für D Stimmen beim in % in % Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik]
Männer (%-Anteil)
Benkowitz, Kr. Ratibor [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Tworkau, Kr. Ratibor [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Kreuzenort, Kr. Ratibor [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Zabelkau, Kr. Ratibor [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Lubom, Kr. Ratibor [fast alle kath.-oberschl.-poln.]
763 (44,2%) 962 (55,8%) 148 (13%)
49%
51%
967 (45%)
1181 (55%) 257 (19%)
66%
34%
554 (45,7%) 657 (54,3%) 262 (29%)
61%
39%
479 (45,1%) 582 (54,9%) 182 (24%)
49%
51%
807 (46,5%) 930 (53,5%) 281 (22%)
31%
69%
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
14
Vgl. Jeleń, Edward: Pamiętnik górnika. Pisany w siedemdziesiątym piątym roku życia od 1 października 1930 roku, Kraków 2002; Michalczyk/Skrabania (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens.
276
Andrzej Michalczyk
Die hier als Beispiele genannten Ortschaften wiesen zwar ähnliche sprachlichkonfessionell-soziale Strukturen auf, wie die oben analysierten Gemeinden nördlich von Oppeln, sie stimmten jedoch viel stärker zugunsten Polens. Der prozentuale Anteil der migrantischen Stimmen lag insgesamt etwas niedriger als um Oppeln, aber die Summe der Migrationserfahrungen im Reichsinneren, hier vor allem im Ruhrgebiet, fiel deutlich höher aus – die Wanderungstraditionen waren weitreichender und intensiver, die Beteiligung der Rückkehrer fiel mehr ins Gewicht. Der zuletzt genannte Faktor war im benachbarten Teil des Kreises Rybnik geradezu ausschlaggebend. Dies verdeutlichen die repräsentativen Beispiele der nachfolgenden Tabelle. Tabelle 16.6 Migrantische Stimmen und Abstimmungsergebnisse in beispielhaften Gemeinden im Kreis Rybnik
Stimmen Stimmen für PL für D in % in % (absolute Zahl)
„Ortsanwesende Bevölkerung“ am 01.12.1910 [sprachl. und konfess. Charakteristik]
Männer Frauen Migrantische (%-Anteil) (%-Anteil) Stimmen beim Plebiszit (% aller Wahlberechtigten)
Krzischkowitz, Kr. Rybnik [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Czirsowitz, Kr. Rybnik [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Gorschütz, Kr. Rybnik [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Mschana, Kr. Rybnik [fast alle kath.-oberschl.-poln.] Marklowitz, Kr. Rybnik [fast alle kath.-oberschl.-poln.]
449 (48,8%)
472 (51,2%)
118 (20%)
(112) 19%
81%
435 (41,8%)
606 (58,2%)
200 (27%)
(148) 20%
80%
535 (45,3%)
645 (54,7%)
288 (30%)
(270) 28%
72%
855 (47,7%)
938 (52,3%)
165 (15%)
(126) 12%
88%
752 (48,7%)
792 (51,3%)
131 (15%)
(112) 12%
88%
Quelle: https://silesia-plebiscite.netlify.app [zuletzt aufgerufen am 13.07.2021].
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
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Südlich von Rybnik verzeichnete die polnische Seite durchweg einen klaren Sieg, und zwar trotz gleicher sprachlich-konfessioneller Zusammensetzung wie im nördlichen Umland von Oppeln und hoher Anteile an „migrantischen“ Stimmen bzw. Migrationserfahrungen im Reichsinneren. Ein Zahlenverhältnis ist besonders bemerkenswert: Die Anzahl der „migrantischen“ Wahlberechtigten und deren Stimmen in Relation zur absoluten Zahl der Stimmen für Deutschland – in mehreren Gemeinden südlich von Rybnik gab es weniger Stimmen für Deutschland als dort abstimmende Ausgewanderte. Es ist also eine Tatsache, dass ein Teil der Migrantinnen und Migranten für Polen gestimmt hat. Aber noch wichtiger: Die Summe von Migrationserfahrungen dort war eine der höchsten im gesamten Oberschlesien. Aus dem Rybniker Süden rekrutierten sich die Pioniere der Wanderungen in die berg- und hüttenmännischen Zentren des Ruhrgebiets. Die Gegend war bis 1900 das erste und intensivste Auswanderungszentrum von Oberschlesien ins Reichsinnere. Die gelernten Bergmänner brachten ein dort noch nicht vorhandenes Knowhow an Ruhr und Emscher: den Abbau von Kohle in großen Tiefen. Durch ihr spezifisches Wissen – ein gefragtes Alleinstellungsmerkmal – erhielten sie überdurchschnittlich gute Löhne und bildeten in den Zechenkolonien eine Art Arbeiterelite.15 Dennoch kehrten sehr viele Rybniker Familien zurück in ihre Heimatorte, denn südwestlich von Rybnik begann sich ab den 1890er Jahren ein neues Bergbaurevier herauszubilden und schnell zu expandieren. Die Lohndifferenz schien für die Rybniker um 1900 keine besondere Relevanz mehr zu haben. Die neuen Großzechen um Rydultau, Pschow (Pszów) und Radlin zahlten zwar etwas weniger als diejenigen in Bottrop, Essen oder Oberhausen, jedoch waren sie tagtäglich von Zuhause aus zu erreichen und erforderten keinen Wegzug aus der Heimat. Bemerkenswert ist, dass sich viele Bergmänner aus der Umgebung von Rybnik etwa ab 1900, als Hunderttausende ins Reichsinnere gingen, für die entgegengesetzte Richtung und eine Rückkehr in die Heimat entschieden. Typisch war dabei eine starke Fluktuation in und damit zwischen den beiden Bergbaugebieten. Offensichtlich konnten die Beteiligten schnell umdenken und größtmögliche Vorteile aus den neuen Rahmenbedingungen ziehen. Der Einfluss des Wissenstransfers auf den Ausgang des Plebiszits südlich von Rybnik war gravierend. Wie David Skrabania herausgearbeitet hat, brachten die Rückkehrer auch organisatorisches Know-how und erstarktes politisches Engagement in ihre Abstammungsorte mit: 15
Budraß: Von Birtultau (Biertułtowy) nach Batenbrock, S. 124–127, 133.
278
Andrzej Michalczyk Die Erfahrungen aus der Gründung und Etablierung von Vereinsstrukturen und der alltäglichen Vereins- bzw. Gremienarbeit sowie an der Ruhr ausgearbeitete Organisationskonzepte wurden in einer Art Wissenstransfer auf Oberschlesien übertragen. Zahlreiche in diesem Bereich aktiv gewesene Auswanderer gründeten nach ihrer Rückkehr auch in Oberschlesien Vereine oder engagierten sich beim Aufbau diverser Organisationsstrukturen polnischer Vereinigungen. Antoni Podeszwa, in Bottrop Mitglied im St. Barbara- und später St. Hyazinth-Verein, organisierte ab 1906, nachdem er mit seiner Familie in [Czirsowitz] Czyżowice bei Loslau sein Erbe angetreten hatte, in diesem Dorf und in Gorschütz, Turza und Jedlownik mehrere (polnisch-national ausgerichtete) Gesangsvereine.16 In Rogau war Bernard Klon mit anderen Westfalen-Rückkehrern Mitorganisator der ersten polnischen Vereine und eines polnischen gesellschaftlichen Lebens vor Ort.17 Vor allem die bei Kriegsende nach Oberschlesien zurückkehrenden Auswanderer brachten ihr organisatorisches Geschick und ihre Erfahrungen hinsichtlich der Gründung und Führung eines Vereins mit in die Heimat und trugen erheblich dazu bei, dass die polnische Nationalbewegung in diesem Teil Oberschlesiens im Vorfeld des Plebiszits vor allem auf dem Land klar die Oberhand gewann.18
Die Wissenstransfers waren äußerst intensiv und die Verflechtungen zwischen den Auswanderungsräumen und Ankunftsgemeinden sehr eng: Bemerkenswert dabei ist, dass das Gros dieser Personen bei ihrer Ausreise in den Westen noch nicht volljährig gewesen ist. Dennoch nahmen sie nach ihrer Rückkehr führende Positionen in den dörflichen oder Siedlungshierarchien ein. In gewisser Weise müssen gesellschaftliche Strukturen, die sich innerhalb der oberschlesischen Community in Bottrop und Umgebung ausgebildet haben, übertragen worden sein beziehungsweise über viele Jahre an beiden Orten parallel zueinander funktioniert und sich weiterentwickelt haben.19
Offensichtlich wurden Wandernde in ihren Herkunftsgemeinden nicht nur respektiert, sondern oft zu meinungsbildenden Trendsettern. Südlich von Rybnik kehrten sie zum großen Teil noch vor der Abstimmung zurück in ihre Heimatorte, sodass ihre Stimmen in der Statistik nicht als „migrantische“ Stimmen erfasst wurden. Aber die Bedeutung dieser durch Migrationserfahrungen zu Trendsettern gewordenen Menschen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der 16 17 18 19
Połomski, Franciszek: Ze wspomnień starego ‚Westfaloka‘ – A. Podeszwy, in: Studia Śląskie, Bd. 1, 1958, S. 262. Klon: Księga rodziny Klonów, S. 6. Vgl. Kapitel „Arbeitsmigrationen und Mobilität zwischen Oberschlesien und dem Ruhrgebiet, Berlin und Mitteldeutschland (1860er bis 1930er Jahre)“ von David Skrabania in: Michalczyk/Skrabania (Hg.): Migrationsgeschichte Oberschlesiens. Ebd.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
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südliche Teil des Kreises Rybnik wurde gerade durch ihren Einfluss zur Hochburg der polnischen Seite. Alle Ortschaften um Rybnik und Loslau (Wodzisław Śląski) stimmten eindeutig für Polen und praktisch alle hatten lange und intensive Auswanderungsvorgeschichten in den deutschen Westen. Warum also wirkte sich die Kultur der Migration bei gleichen sprachlich-konfessionellen Voraussetzungen nördlich von Oppeln und südlich von Rybnik so unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich aus? Diskursgeschichtlich betrachtet haben wir offensichtlich viel zu lange und zu oberflächlich angenommen, dass das Phänomen der Migrationen ins Reichsinnere beim Plebiszit flächendeckend der deutschen Seite zugutekam und deren Ergebnis entscheidend beeinflusste. Diese Annahme müssen wir korrigieren. Es ist offensichtlich, dass die Kultur der Migration ins Reichsinnere in den westlichen und südwestlichen Kreisen zum ökonomischen und sozialen Aufstieg der dörflichen Unterschichten beigetragen hat – WEIL MIGRATION ins Reichsinnere möglich war und intensiv praktiziert wurde. Im Falle eines verhinderten Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt drohte den Wandernden der soziale Abstieg. Südlich von Ratibor und vor allem um Rybnik gestalteten sich die Migrationserfahrungen entschieden anders. Die Bergmannsfamilien genossen aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation eine relativ hohe soziale Stellung sowohl in ihren Herkunftsorten als auch im tiefen Westen des Reiches, aber: gerade WEIL MIGRATION ins Ruhrgebiet möglich war, zeigten sich ihnen auch die Grenzen des sozialen Aufstiegs. Sie profitierten zwar sehr lange von ihrer beruflichen Stellung und der Nachfrage nach ihrem Know-how, gleichzeitig merkten sie nach einigen Jahren im Westen aber auch, dass ein weiterer Aufstieg und eine zusätzliche Anhäufung von sozialem Kapital in der Fremde nicht mehr möglich oder nur äußerst schwer zu erreichen waren. Es war für sie als preußische Bürger, zugleich aber kulturell Fremde, im Ruhrgebiet nicht möglich, bessere Positionen im Bergbau z.B. über Tage als technisches Personal oder gar als leitende Angestellte zu erhalten. Sie spürten offensichtlich eine gläserne Decke über ihren Köpfen, die solche Bemühungen von Vornherein zum Scheitern verurteilte, wenngleich sie schon auf einem relativ hohen Niveau der sozialen Hierarchie in das Migrationsgeschehen eingestiegen waren. Viele Ehrgeizige entschieden sich daher ab etwa 1900, in den heimatlichen Bergbau zurückzukehren, während die in Bottrop und Umgebung Verbliebenen nach dem Zusammenbruch des Reiches 1918 möglicherweise wieder Hoffnung gehegt haben, ihr Fortkommen in der deutschen Gesellschaft im neuen, sozialen deutschen Staat ausbauen zu können. Diese Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht: Die oberschlesischen Zuwanderer wurden in Bottrop marginalisiert und befanden sich immer mehr
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Andrzej Michalczyk
unter Assimilationsdruck. Bei den Kommunalwahlen 1919/1920 protestierten sie dagegen mit ihren Stimmen für die polnische Partei.20 Und als sich 1921 die politische Option eines Anschlusses ihres heimatlichen Bergbaureviers an Polen eröffnete, setzten vor allem die Rückkehrer, aber auch ein Teil der Auswanderer ihre Hoffnungen in einen (in Deutschland verwehrten) sozialen Aufstieg im neuen polnischen Staat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Schicksal der aus dem Umland von Posen Ausgewanderten. Sie begannen im Ruhrgebiet auf dem untersten Level als unqualifizierte Hilfsarbeiter, Erdarbeiter, Handlanger oder Koksarbeiter jenseits des Zechentores.21 Ein Teil von ihnen schaffte es aber nach einigen Jahren, zu Schleppern und Hauern im besser dotierten Bergbau aufzusteigen, also zu einem Level, an dem die Rybniker ihre Migrationsgeschichten erst begannen. Besonders viele Posener erreichten den begehrten Status, gerade weil viele Rybniker ab ca. 1900 in ihre Heimat zurückkehrten. Für die Posener öffneten sich nun die Tore des sozialen und ökonomischen Aufstiegs und es waren vor allem auch sie, die am längsten versuchten, im Ruhrgebiet zu bleiben, sogar noch nach 1918 – denn ihr bergmännisches Knowhow hätte in ihren Ursprungsorten weit entfernt von jeglichen Industriezentren nicht eingesetzt werden können, trotz des vermeintlich vorteilhaften Umstandes, dass ihre Region Teil des unabhängigen Polens geworden war.22 Ihre Hoffnungen auf ein gutes und stabiles Leben verbanden sie also mit dem Ruhrgebiet. Ähnliches galt für die Arbeitsmigranten aus dem Westen und Südwesten Oberschlesiens: Sie begannen ihre Migrationsgeschichten auf der untersten sozialen Ebene als einfache Arbeiterinnen und Arbeiter und waren vor dem Ersten Weltkrieg dabei, sich immer fester als zuverlässige Arbeitskräfte mit stabilem Einkommen zu etablieren. Sie dürften noch viel Hoffnung gehabt und einen weiteren bescheidenen Weg nach oben auf dem deutschen Arbeitsmarkt erwartet haben. Dementsprechend stimmten sie 1921 massenhaft für Deutschland. Wie Waldemar Grosch in seiner nach wie vor besten Analyse der Abstimmungspropaganda plausibel gezeigt hat, dominierte im Vorfeld des Plebiszits ganz eindeutig ein Themenkomplex: stabile Wirtschaft/stabiler Arbeitsmarkt – soziale Sicherheit – sozialer Aufstieg. Auch wenn die polnische Seite die Bedeutung des ideologischen, „natürlichen“ Arguments der sprachlichen, konfessionellen, kulturellen Übereinstimmung stets in den 20 21 22
Vgl. Beitrag von Lutz Budrass in diesem Band. Budraß: Von Birtultau (Biertułtowy) nach Batenbrock, S. 136. Ebd., S. 144.
Migrationskultur in Oberschlesien und die Volksabstimmung
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Vordergrund zu rücken versuchte, fokussierten sehr viele Wähler die pragmatischen wirtschaftlich-sozialen Folgen der Abstimmung. Was die Forschung dabei sehr lange unterschätzt hat, ist der Einfluss der Kultur der Migration auf die wirtschaftlich-sozial begründete Wahlentscheidung der großen Mehrheit der mobilen Oberschlesier und Oberschlesierinnen.
TEIL IV Mechanismen der Plebiszitkampagne
Das Polnische Plebiszitkommissariat als Werkzeug im Abstimmungskampf Mirosław Węcki
Einführung
Obwohl die polnisch-deutschen Kämpfe um Oberschlesien in den Jahren von 1919 bis 1921 in der polnischen Geschichtsschreibung hauptsächlich mit der Erinnerung an die drei Aufstände in Verbindung gebracht werden, nimmt auch die Tätigkeit der Institution, die für die polnische Volksabstimmungskampagne 1920 und 1921 verantwortlich gewesen ist, also das Polnische Plebiszitkommissariat für Oberschlesien, einen wichtigen Platz darin ein. Die Organisation, die Personalausstattung und die Arbeitsmethoden des Kommissariats wurden bereits in zahlreichen Studien beschrieben. Im Rahmen dieses Textes beschränke ich mich daher auf die Auflistung der wichtigsten Positionen aus diesem umfangreichen Katalog. An erster Stelle sind einige Memoiren polnischer Plebiszit-Aktivisten zu nennen.1 Obwohl sie eine wichtige Quelle für das Wissen über die Aktivitäten des Polnischen Plebiszitkommissariats darstellen, ist offensichtlich, dass sie oft ein sehr subjektives Bild vermitteln, das durch die Bedingungen der Zeit, in der sie erstellt wurden, belastet ist. Ein gutes Beispiel dafür sind die Memoiren des polnischen Volksabstimmungskommissars Wojciech Korfanty, die er 1931 in seiner eigenen Tageszeitung „Polonia“ veröffentlichte, d.h. während eines heftigen politischen Streits mit dem SanacjaWojewoden von Schlesien, Michał Grażyński.2 Nota bene publizierte auch er seine Memoiren aus der Zeit der schlesischen Aufstände, in denen er Korfantys damalige Tätigkeit leugnete und seine eigenen Verdienste in einem günstigen Licht erscheinen ließ.3 Verschiedene Aspekte der Geschichte des Polnischen 1 Bożek, Arkadiusz: Pamiętniki, Katowice 1957; Dąbrowski, Włodzimierz: Górny Śląsk w walce o zjednoczenie z Polską. Źródła i dokumenty z lat 1918–1922, Katowice 1923; Dubiel, Paweł: Spojrzenie w przeszłość (Wspomnienia działacza śląskiego), Katowice 1973; Gawrych, Józef A.: Hotel Lomnitz. Z tajemnicy szefa wywiadu, Katowice 1947; Hanke, Edward: Trudy i oczekiwania. Wspomnienia lekarza, Warszawa 1965; Pamiętniki powstańców śląskich, Bd. I, II, Katowice 1957, 1961; Hawranek, Franciszek (Hg.): Powstania śląskie i plebiscyt w dokumentach i pamiętnikach, Opole 1980; Tyc, Teodor: Pamiętnik, Poznań 1931. 2 Korfanty, Wojciech: Wspomnienia i marzenia, „Polonia“ 1931. Siehe auch: Zieliński, Władysław (Hg.): Wojciecha Korfantego „Marzenia i zdarzenia“, Katowice 1984. 3 Grażyński, Michał: Walka o Śląsk. Fragmenty wspomnień sierpień 1920–czerwiec 1921, Katowice 1931.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_018
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Mirosław Węcki
Plebsizitkommissariats waren Gegenstand wissenschaftlicher Studien von Wincenty Karuga, Władysław Zieliński, Edward Długajczyk, Bożena MasnykMalec, Wanda Musialik und anderen.4 Diese Thematik ist darüber hinaus ein integraler Bestandteil jeder Biografie von Wojciech Korfanty.5 Nicht zuletzt sind polnische Publikationen mit enzyklopädischem und lexikalischem Charakter zu nennen, allen voran die monumentale „Encyklopedia Powstań Śląskich“6 sowie der vor kurzem erschienene „Słownik Powstań Śląskich“7, der zahlreiche Schlagwörter aus diesem Themenkomplex enthält.8 In der diesbezüglich weitaus bescheideneren deutschen Geschichtsschreibung ist vor allem die umfangreiche Studie von Waldemar Grosch über die polnische und deutsche Plebiszitpropaganda in Oberschlesien zu nennen.9 Als Quellengrundlage für die Aktivitäten und die Organisation des Polnischen Plebiszitkommissariats ist dessen archivarischer Nachlass, der derzeit im Staatsarchiv in Katowice aufbewahrt wird, anzuführen.10 Er enthält 398 Akteneinheiten, die jedoch nur einen Teil der Aktivitäten des Kommissariats abbilden. Die umfangreich erhaltene zeitgenössische Presse stellt ebenfalls eine wichtige Quelle dar.11 4
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Karuga, Wincenty: Organizacja Polskiego Komisariatu Plebiscytowego dla Górnego Śląska, Opole 1966; Zieliński, Władysław: Ludzie i sprawy hotelu „Lomnitz“, Katowice 1984; Masnyk-Malec, Bożena: Plebiscyt na Górnym Śląsku, Opole 1991; Musialik, Wanda: W kręgu polityki i władzy. Polskie środowiska przywódcze górnośląskiego obszaru plebiscytowego z lat 1921–1939, Opole 1999; Długajczyk, Edward: Wywiad polski na Górnym Śląsku 1919–1922, Katowice 2001; Masnyk, Marek: Granica polsko-niemiecka na Górnym Śląsku w polityce Polski i mocarstw zachodnioeuropejskich w 1921 roku, Opole 2005. Orzechowski, Marian: Wojciech Korfanty. Biografia polityczna, Wrocław 1975; Karski, Sigmund: Albert (Wojciech) Korfanty. Eine Biographie, Dülmen 1996; Lewandowski, Jan F.: Wojciech Korfanty, Warszawa 2013; Bębnik, Grzegorz/Rosenbaum, Sebastian/Węcki, Mirosław: Wojciech Korfanty 1873–1939, Warszawa 2018; Krzyk, Józef/Szmatloch, Barbara: Korfanty. Silna bestia, Katowice 2020. Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982. Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. I, II, III, Katowice 2019; 2020; 2021. Fic, Maciej u.a.: Polski Komisariat Plebiscytowy, in: Fic/Kaczmarek (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. II: II powstanie śląskie. Sierpień 1920, Katowice 2020, S. 158–173. Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2002. Archiwum Państwowe w Katowicach (Staatsarchiv in Kattowitz, weiter: APK), zespół nr 12/15 Polski Komisariat Plebiscytowy dla Górnego Śląska w Bytomiu (weiter: PKPleb.). Diese Materialien sind mittlerweile in ihrer Gesamtheit auf der Internetplattform des polnischen Staatsarchivs verfügbar: https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/zespol/-/ zespol/140281. Ein Großteil davon ist online auf der Internetplattform der Schlesischen Digitalen Bibliothek verfügbar: https://www.sbc.org.pl/dlibra.
Das polnische Plebiszitkommissariat im Abstimmungskampf
Abb. 17.1
Wojciech Korfanty, Illustration von Willibald Krain, gezeichnet am 1.2.1921 im Polnischen Plebiszitkommissariat in Beuthen, SHOS/OSLM.
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Institutionelle Fortführung
Die Entscheidung im Versailler Vertrag, das Schicksal Oberschlesiens durch eine Volksabstimmung zu regeln, bedeutete theoretisch den Vorzug der diplomatischen Option auch in diesem Aspekt des polnisch-deutschen Territorialstreits. An die Stelle der bewaffneten Auseinandersetzung trat ein Propagandakampf, der die Oberschlesier dazu bringen sollte, die von den rivalisierenden Staaten gewünschte Wahl zu treffen. Der kurze, wenn auch gewaltsame Erste Schlesische Aufstand von August 1919 änderte daran nichts – er heizte den Konflikt allenfalls noch an. In den folgenden Monaten wurden beiderseits konkrete Vorbereitungen für die bevorstehende Volksabstimmung getroffen. Organisatorisch konnten sowohl die polnische als auch die deutsche Seite auf politische, soziale und kulturelle Organisationen mit mehreren Zehntausend Mitgliedern zurückgreifen, die mitunter bereits seit dem 19. Jahrhundert in der Region tätig waren. Eine wichtige Voraussetzung für die bestmögliche Nutzung des Potenzials dieser Organisationen war die Schaffung von Institutionen, die in der Lage waren, die Aktivitäten von Tausenden von Aktivisten vor Ort zu koordinieren. In dieser Hinsicht konnte sich die polnische Seite auf ihre eigenen Erfahrungen und Organisationsstrukturen stützen, die seit Ende 1918 auf dem preußischen Gebiet bestanden. Im November desselben Jahres wurde in Posen (Poznań) der Oberste Volksrat (Naczelna Rada Ludowa, NRL) gegründet, der als politische Vertretung der polnischen Bewohner der preußischen Ostprovinzen (Pommerellen, Großpolen und Oberschlesien) agierte. Vom 3. bis 5. Dezember 1918 fand in Posen der sogenannte Sejm des Polnischen Viertels (Polski Sejm Dzielnicowy) statt, also das Teilungsgebietsparlament der polnischen Länder im ehemaligen preußischen Teilungsgebiet. In allen Gebieten mit polnischer Bevölkerung, einschließlich des Regierungsbezirks Oppeln, wurden Wahlen abgehalten. Von großer Bedeutung war die Tatsache, dass mit Wojciech Korfanty ein polnischer Politiker aus Oberschlesien zu den Kommissaren des Obersten Volksrates gehörte, der (zusammen mit einem anderen Oberschlesier, Józef Rymer) nicht nur als Vertreter der Region in Posen wahrgenommen wurde, sondern auch energische Bemühungen um die Eingliederung seiner Heimat in die wiedergeborene Republik Polen anführte. Das Unterkommissariat wurde zur Vertretung des Obersten Volksrates in Oberschlesien, eingerichtet im Dezember 1918 in Beuthen (Bytom). Dem Unterkommissariat gehörten Aktivisten an, die verschiedene polnische politische und soziale Kreise in Oberschlesien repräsentierten, wie Kazimierz Czapla, Józef Rymer, Konstanty Wolny und Józef Biniszkiewicz. Das Unterkommissariat hatte die Aufgabe, die polnische Bevölkerung gegenüber den preußischen
Das polnische Plebiszitkommissariat im Abstimmungskampf
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Behörden zu vertreten und die Angliederung Oberschlesiens an Polen vorzubereiten (durch entsprechende Propagandaaktivitäten und die Ausbildung künftiger polnischer Verwaltungskader und Lehrer). Die deutschen Behörden im Regierungsbezirk Oppeln sahen diese Aktivitäten als Bedrohung an, insbesondere im Zusammenhang mit dem Erfolg des Großpolnischen Aufstandes, der vom Obersten Volksrat in Posen angeführt wurde. Aus diesem Grund verboten sie im Mai 1919 das Unterkommissariat des Obersten Volksrates in Beuthen und verhafteten gleichzeitig eine Reihe polnischer Aktivisten. Einige von ihnen konnten diesem Schicksal entgehen und nach Sosnowitz (Sosnowiec) gelangen, nicht weit entfernt, aber bereits auf polnischem Gebiet, wo sie ihre politische Arbeit „im Exil“ fortsetzten.12 Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles am 28. Juni 1919 bot den polnischen Institutionen in Oberschlesien jedoch die Möglichkeit, erste Vorbereitungen für die Volksabstimmung aufzunehmen. Schon im Juli 1919 konnte in Kattowitz (Katowice) das Zentrale Informationsbüro für die Koalition (Centralne Biuro Informacyjne dla Koalicji, CBIdK) unter der Leitung von Wojciech Korfanty eingerichtet werden. Nach dem Ausbruch des Ersten Schlesischen Aufstandes lieferte es der alliierten Kommission unter der Leitung des französischen Generals Charles Joseph Dupont Informationen über deutsche Übergriffe auf die polnische Bevölkerung in Oberschlesien. Die polnische Seite nutzte die brutalen Repressionen (einschließlich zahlreicher Hinrichtungen von gefangenen Aufständischen), die von den deutschen Truppen bei der Niederschlagung des Aufstandes ausgeübt wurden, gekonnt für Propagandazwecke. Es sei erwähnt, dass einer der Mitarbeiter des Büros ein Gutsbesitzer aus Großpolen war – Daniel Kęszycki, der einige Monate später auf Empfehlung von Korfanty Generalkonsul der Republik Polen in Oppeln wurde.13 Unabhängig von den Tätigkeiten der Aktivisten des Beuthener Unterkommissariats des Obersten Volksrates (das im September 1919 in das Kommissariat der schlesischen Volksräte in Sosnowitz umgewandelt wurde) und der lokalen polnischen Verbände, kann das Zentrale Informationsbüro daher als eine weitere Institution betrachtet werden, deren Mitarbeiter später enge Vertraute von Wojciech Korfanty als polnischem Volksabstimmungskommissar wurden. Die eigentlichen organisatorischen Vorbereitungen für die Einrichtung des Polnischen Plebiszitkommissariats begannen im Oktober 1919, als das 12 13
Fic, Maciej: Podkomisariat Naczelnej Rady Ludowej, in: Fic/Kaczmarek (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. I: I powstanie śląskie. Sierpień 1919, Katowice 2019, S. 122–129. Węcki, Mirosław: Kęszycki Daniel, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. III: III powstanie śląskie. Maj-lipiec 1921, Katowice 2021, S. 543–544.
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Mirosław Węcki
Generalplebiszitsekretariat (Generalny Sekretariat Plebiscytowy, GSP) mit Sitz im Hotel „Lomnitz“ in Beuthen gegründet wurde. Es wurde von drei aus Oberschlesien stammenden polnischen Aktivisten geleitet: Dr. Maksymilian Wilimowski, Konstanty Wolny und Edward Rybarz. Vor Ort stützten sich ihre Aktivitäten auf die lokalen polnischen Volksräte. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde angenommen, dass die polnische Volksabstimmungskampagne materielle, organisatorische und personelle Unterstützung aus Polen erhalten würde. Mitte November 1919 fand in Posen ein Treffen der Vertreter der Komitees zur Verteidigung Schlesiens statt, die auf polnischem Gebiet gegründet worden waren. Wie damals vereinbart, sollten die Komitees aus Großpolen das künftige Polnische Plebiszitkommissariat unterstützen, indem sie Lebensmittel lieferten, Beamte ausbildeten und polnische Landwirtschaftskreise im Abstimmungsgebiet organisierten. Die Warschauer Komitees sollten Propagandamaterial bereitstellen und Agitatoren ausbilden. Die Komitees in Kleinpolen wiederum waren für die Ausbildung von Plebiszitaktivisten, die Organisation einer Presseagentur und die Durchführung einer Veröffentlichungskampagne auf dem Territorium der Republik Polen zuständig. Diese noch vorläufigen Vorbereitungen wurden vom Generalplebiszitsekretariat bis zur Einrichtung des eigentlichen Polnischen Plebiszitkommissariats koordiniert, das im Februar 1920 seine Arbeit aufnahm.14
Das Polnische Plebiszitkommissariat für Oberschlesien und die Behörden der Republik Polen
Der Beginn der Aktivitäten des Polnischen Plebiszitkommissariats stand mit zwei wichtigen Umständen in Verbindung: 1. Im Februar 1920 übernahm die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission die Macht im oberschlesischen Abstimmungsgebiet. Kurz zuvor hatten die Einheiten der Reichswehr das Gebiet verlassen, und die verbliebene deutsche Verwaltung war der Befehlsgewalt der Alliierten unterstellt worden. Dies führte zu einer deutlichen Erweiterung der Möglichkeiten polnischer Organisationen, in dem umstrittenen Gebiet tätig zu werden. 2. Die Ernennung von Wojciech Korfanty zum polnischen Plebiszitkommissar. Zwar hatte ihn das Präsidium des Ministerrates der Republik Polen bereits im Dezember 1919 als Kandidaten benannt, die endgültige Ernennung jedoch wurde erst am 20. Februar 1920 von Staatschef Józef Piłsudski unterzeichnet. Interessanterweise entschloss sich 14
Lis, Michał: Generalny Sekretariat Plebiscytowy, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 137.
Das polnische Plebiszitkommissariat im Abstimmungskampf
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Piłsudski zu diesem Schritt, obwohl Korfanty bereits zu dieser Zeit einer seiner erbitterten politischen Gegner war. Sogar Piłsudski war offenbar der Ansicht, dass der charismatische Korfanty die perfekte Besetzung für die Rolle war. Mit dieser Einschätzung lag er nicht falsch. Der ehemalige Reichstagsabgeordnete machte sich sofort daran, die Arbeit des Polnischen Plebiszitkommissariats zu organisieren, das er trotz vieler Widrigkeiten bis 1921 mit fester Hand führte. Auf Ersuchen der polnischen Regierung fanden sich in den Reihen des Polnischen Plebiszitkommissariats auch Vertreter verschiedener polnischer Gruppierungen aus Oberschlesien wieder, so etwa der Gewerkschafter und führende Politiker der Nationalen Arbeiterpartei (Narodowa Partia Robotnicza, NPR), Józef Rymer, der Leiter der oberschlesischen Strukturen der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS), Józef Biniszkiewicz, und der polnische Rechtsanwalt, nationale Aktivist und enge Korfanty-Mitstreiter Konstanty Wolny als Vertreter der Christlichen Volksunion (Chreścijańskie Zjednoczenie Ludowe, ChZL). Auch hierin zeigte sich eine gewisse Kontinuität. Wie der Plebiszitkommissar selbst waren diese Personen seit langem an den Bemühungen beteiligt, Oberschlesien in die Republik Polen einzugliedern. Ihre Ernennungen bedeuteten die Schaffung einer „gemeinsamen Front“ aller polnischen politischen Parteien im Abstimmungsgebiet sowie einer breiten gesellschaftlichen Basis zur Sicherung der Unterstützung für das Polnische Plebiszitkommissariat. Dies bedeutete jedoch nicht, dass ihre Zusammenarbeit mit Korfanty immer gut gewesen ist (mit Ausnahme von Wolny). Anekdotisch illustriert wird die Beziehung zwischen Korfanty (immerhin ein rechter Politiker) und dem Sozialisten Biniszkiewicz durch eine Situation, die sich im Hotel „Lomnitz“ zugetragen haben soll. Eines Tages hetzte Korfanty seinen Hund (einen Schäferhund namens Moryc) „scherzhaft“ auf Biniszkiewicz, was angeblich zu unangenehmen Verletzungen an einer besonders empfindlichen Körperstelle geführt hat.15 Dieser Vorfall wirft sicherlich kein gutes Licht auf den Kommissar. Ungeachtet gewisser Animositäten spielte Korfanty jedoch eine herausragende Rolle als Leiter und Organisator der polnischen Plebiszitkampagne. Dies belegen sowohl die Berichte seiner Kollegen (sogar der politischen Gegner) als auch die heftigen Angriffe der deutschen Propaganda auf ihn in den Jahren 1920 und 1921. Auch wenn die Position des Kommissars Korfanty in Verbindung mit der ihm eigenen Energie, seinem Ehrgeiz, aber auch seiner apodiktischen Art zum Anführer der polnischen Bevölkerung in Oberschlesien in den Jahren 1920 und 1921 machte, so darf nicht vergessen werden, dass das Polnische Plebiszitkommissariat eine von der polnischen Regierung geschaffene, kontrollierte 15
Zieliński: Ludzie i sprawy hotelu, S. 58–59.
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Mirosław Węcki
und getragene Institution war. Am 29. Juni 1920 erhielt diese Unterstützung durch die Gründung des überparteilichen Zentralen Plebiszitkomitees (Centralny Komitet Plebiscytowy, CKP) in Warschau unter dem Vorsitz des SejmMarschalls Wojciech Trąmpczyński eine zusätzliche institutionelle Form. Das Zentrale Plebiszitkomitee koordinierte die Arbeit der polnischen Organisationen, die das Plebiszitkommissariat finanziell unterstützten. Darüber hinaus wurde bei der polnischen Regierung ein Plebiszitrat als beratendes Gremium für das Zentrale Plebiszitkomitee eingerichtet, dem auch Vertreter des Kriegsministeriums angehörten.16 Während der Abstimmungskampagne und des anschließenden Dritten Aufstandes stand Korfanty in engem Kontakt mit den verschiedenen Premierministern der polnischen Regierung. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass Korfanty in Grundsatzfragen keine völlige Entscheidungsfreiheit hatte und von den Bestimmungen der polnischen Regierung abhängig war, deren Politik er umsetzte. Andererseits stellten ihm die polnischen Behörden alle notwendigen Mittel zur Verfügung. So arbeitete der bereits erwähnte Generalkonsul der Republik Polen in Oppeln, Daniel Kęszycki, eng mit Korfanty zusammen, insbesondere im Bereich der offiziellen und inoffiziellen Kontakte mit der Interalliierten Kommission. Dies veranlasste den Bevollmächtigten der Reichsregierung für Oberschlesien, Fürst Hermann von Hatzfeldt zu Trachenberg, im April 1920, folgende Stellungnahme an seine Berliner Vorgesetzten zu senden: „Das Konsulat ist schnell zu einem Zentrum polnischer Agitation und Konspiration geworden. Rege Kontakte zwischen dem französischen Teil der Besatzungsbehörden und dem Konsulat sind deutlich erkennbar.“17
Propagandaapparat oder Quasi-Regierung?
Laut Korfanty sollte das Plebiszit „eine große Propaganda-, Bildungs- und Sozialaktion sein, die alle Bereiche des kollektiven Lebens einschloss.“18 Ausgehend von dieser Annahme modifizierte er wahrscheinlich höchstpersönlich die ursprünglichen Pläne für die Organisationsstrukturen des Polnischen Plebiszitkommissariats in erheblichem Maß. Nach einem Entwurf, den Maximilian 16 17 18
Lis: Centralny Komitet Plebiscytowy, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 68. APK, PKPleb., Sign. 307/I, Deutscher Bevollmächtigter für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien. Überblick über die Lage in Oberschlesien im Monat März, Oppeln 6 IV 1921, S. 207–209. Zieliński: Polski Komisariat Plebiscytowy, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 425.
Das polnische Plebiszitkommissariat im Abstimmungskampf
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Hauke noch Mitte 1919 erstellt hatte, sollte das Kommissariat aus folgenden Abteilungen bestehen: Bekanntmachungen und Pressepropaganda, Redner und Agitatoren für Kundgebungen, Emigration, Organisation von Kundgebungen und Kontakte zu den Alliierten sowie Kontrolle der Wahllisten.19 Bei einer solchen Struktur wurde davon ausgegangen, dass sich der Tätigkeitsbereich auf die Volksabstimmungskampagne und die damit verbundenen administrativen und politischen Probleme beschränken würde. Korfantys Konzept ging aber noch viel weiter: Das Polnische Plebiszitkommissariat sollte nicht nur Propaganda betreiben, sondern auch eine Reihe von Aktivitäten im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Angliederung Oberschlesiens an Polen anregen und koordinieren, was als Verweis auf die Aufgaben des ehemaligen Obersten Volksrates in Posen und seines Unterkommissariats in Beuthen zu verstehen ist. Zu diesem Zweck war es notwendig, den propolnischen Teil der Bevölkerung der Region in weitaus mehr Bereichen zu mobilisieren als nur für die Kampagne zur Volksabstimmung selbst. Dies spiegelte sich in der Organisationsstruktur des Polnischen Plebiszitkommissariats wider, dessen Ausgestaltung eigentlich erst im Oktober 1920 als abgeschlossen angesehen werden konnte. Anstelle der 1919 geplanten fünf Abteilungen wurden schließlich 27 Organi sationseinheiten innerhalb des Polnischen Plebiszitkommissariats geschaffen. Korfanty wählte deren Leiter sowie die Chefs der untergeordneten Einheiten persönlich aus. Bei den „Vorstellungsgesprächen“ achtete er unter anderem darauf, keine Personen mit linken (d.h. Piłsudski-nahen) Tendenzen einzustellen.20 Dies war vermutlich nicht allein auf seine eigenen politischen Sympathien für die Nationaldemokratie und die Christdemokraten zurückzuführen, sondern auch auf den Wunsch, Menschen um sich zu scharen, die aus den ihm nahestehenden ehemaligen preußischen Ostgebieten (vor allem aus Oberschlesien) stammten, im Gegensatz zum „roten“ Gebiet, dem ehemaligen Königreich Polen (innerhalb des ehemaligen russischen Teilungsgebietes). Vielleicht war dies eine Ebene seines persönlichen Konflikts mit Piłsudski, dessen Beginn auf den November 1918 datiert werden kann. Während er in seinem Vorhaben, die wichtigsten Posten im Polnischen Plebiszitkommissariat persönlich zu besetzen, weitgehend erfolgreich war, konnte er nicht verhindern, dass der Einfluss der Piłsudski-Anhänger in der im Untergrund aktiven Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens (POW GŚ) allmählich zunahm. Im Laufe der Zeit führte dies aufgrund eines sich verschärfenden Konflikts über das Konzept des Kampfes um Oberschlesien (Korfanty: Diplomatie und politisches 19 20
Fic: Polski Komisariat Plebiscytowy, S. 162. Zieliński: Ludzie i sprawy hotelu, S. 61.
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Handeln, POW GŚ: bewaffneter Kampf) dazu, dass sich im polnischen Lager eine starke Opposition zu Korfanty herausbildete.21 Die Gruppe der Abteilungsleiter des Kommissariats wurde auf jeden Fall von Aktivisten aus Oberschlesien dominiert – es waren 16 an der Zahl.22 Neben ihnen waren mindestens acht Aktivisten aus Großpolen in den Behörden des Kommissariats tätig, während nur wenige Führungskräfte aus anderen Gebieten Polens stammten. Der Personalbestand war natürlich viel höher – im April 1920 zählte das Kommissariat 120 Büro- und Verwaltungsangestellte, im Februar 1921 waren es insgesamt bereits mehr als 226 Personen. Hinzu kamen etwa 2.300 Beschäftigte, die in den Strukturen vor Ort tätig waren (Mitarbeiter der 17 Kreiskomitees sowie der ihnen unterstellten kommunalen Ausschüsse und Berater bei den alliierten Bezirkskontrolleuren), und etwa 1.000 „ad hoc Beschäftigte“. Zu Beginn des Jahres 1921 waren damit insgesamt etwa 3.700 Personen mit verschiedenen Aufgaben innerhalb des Polnischen Plebiszitkommissariats zu Gange.23 Nach den Berechnungen von Wanda Musialik handelte es sich bei den meisten um gebürtige Oberschlesier – nur 25 Prozent waren außerhalb des Abstimmungsgebietes (hauptsächlich in Großpolen) geboren.24 Eine solche Auswahl von Mitarbeitern des Kommissariats ergab sich natürlich aus der Anzahl der oberschlesischen Aktivisten, die für die Volksabstimmungskampagne eingesetzt werden konnten, obwohl auch der Propagandaaspekt wichtig war, denn damit zeigte man, dass es Oberschlesier selbst waren, die den Anschluss ihrer Region an Polen anstrebten. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Zehntausende von Mitgliedern polnischer Organisationen, Gewerkschaften und politischer Parteien, die im Abstimmungsgebiet aktiv waren, ebenfalls beteiligt gewesen sind. Die Mitarbeiter aus anderen Regionen sollten insbesondere intellektuelle und technische Kaderlücken füllen. Es ist jedoch bezeichnend, dass die meisten von ihnen aus Großpolen stammten, was wahrscheinlich sowohl auf die bewusste Politik von Korfanty als auch auf die Tradition des Einflusses Großpolens in Oberschlesien zurückzuführen ist. Dieses wahre Heer an Menschen war in einer streng zentralisierten Struktur organisiert, die von Korfanty vom Hotel „Lomnitz“ in Beuthen aus geführt wurde. Die einzelnen Abteilungen des Kommissariats erarbeiteten im Rahmen der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten Richtlinien für verschiedene Bereiche der öffentlichen Tätigkeit und leiteten sie an die Kreiskomitees weiter, 21 22 23 24
Ebenda, S. 44–45. Fic: Polski Komisariat Plebiscytowy, S. 162. Ebenda, S. 162. Musialik, Wanda: Polskie elity plebiscytowe na Górnym Śląsku 1921 r., in: Lis, Michał u.a. (Hg.): Drogi Śląska do Polski, Opole 1996, S. 62–64.
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die vor Ort für die Umsetzung zuständig waren.25 Man kann der Meinung von Sigmund Karski zustimmen, dass das Kommissariat „einer Miniaturausgabe einer echten Regierung“ glich.26 Wie polnische Forscher zu diesem Thema zu Recht festgestellt haben, entsprach die allgemeine Konzeption der propagandistischen und „vorbereitenden“ Rolle des Polnischen Plebiszitkommissariats den Tätigkeitsbereichen der verschiedenen Abteilungen.27 Eine detailliertere Gliederung, die sich in erster Linie auf die Propagandafunktionen konzentrierte, schlug Waldemar Grosch vor, der fünf inhaltliche Gruppen unterschied: 1. allgemeine Aufgaben und interne Verwaltung des Kommissariats; 2. Presse und Propaganda; 3. kulturelle Propaganda; 4. militärische Organisation; 5. auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen ausgerichtete Propaganda.28 Ohne die Sinnhaftigkeit dieses Ansatzes in Abrede stellen zu wollen, schlage ich für die Zwecke dieses Textes eine etwas andere Einteilung vor, die meiner Meinung nach dem Wesen der Aktivitäten des Polnischen Plebiszitkommissariats besser entspricht: 1. organisatorische und politische Funktionen; 2. Propaganda; 3. organisatorische und personelle Vorbereitungen für die Angliederung Oberschlesiens an Polen. Diese Aufteilung ist insofern konventionell, als dass die Aufgaben einiger Abteilungen gleichermaßen organisatorischer, propagandistischer und „vorbereitender“ Natur waren.
Organisatorische und politische Funktionen
Wie jede große Organisation benötigte auch das Polnische Plebiszitkommissariat einen effizienten Verwaltungs- und Büroapparat. Das Herzstück bildete dabei das Präsidialbüro im Hotel „Lomnitz“, das Korfanty und seinen Stellvertretern ständig zur Verfügung stand. Erster Büroleiter war Dr. Franciszek Matuszczyk, der im Herbst 1920 von Dr. Włodzimierz Dąbrowski abgelöst wurde (seines Zeichens ebenfalls Sekretär von Korfanty und Autor von Memoiren aus 25
26 27 28
Die Intensität der Verwaltungsarbeit eines solchen Apparates lässt sich an den erhaltenen Aktenbeständen des Polnischen Plebiszitkommissariats ablesen. So enthalten die Dokumentationsmappen des Kreisplebiszitkomitees in Kattowitz 1.139 Seiten verschiedener Rundschreiben und Anweisungen, die von März 1920 bis März 1921 an die ihm unterstellten kommunalen Strukturen gerichtet waren. Dabei muss daran erinnert werden, dass es eine gewisse Lücke in der Dokumentation dieses Komitees geben könnte, da sein Sitz während der Unruhen in Kattowitz im August 1920 von deutschen Demonstranten geplündert und in Brand gesetzt wurde. Vgl. APK, PKPleb., Sign. 298. Karski: Albert (Wojciech) Korfanty, S. 207. Zieliński: Ludzie i sprawy hotelu, S. 52; Fic: Polski Komisariat Plebiscytowy, S. 162. Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 65–89.
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dieser Zeit).29 Auch die Personalabteilung (unter der Leitung von Pfarrer Józef Niedziela, später von Józef Ziaja, einem Lehrer aus Tworog [Tworóg]) war Korfanty direkt unterstellt, und natürlich für die Personalkader der Plebiszitaktivisten zuständig. Die von Wincenty Matejczyk geleitete Wirtschaftsabteilung zeichnete für die Verwaltung der Gelder (aus Subventionen der polnischen Regierung, sozialen Sammlungen in Polen und im Ausland – einschließlich der USA – sowie aus dem Verkauf von durch den Geheimdienst gefälschten Dokumenten an Deutsche) und anderer Vermögenswerte des Kommissariats (einschließlich aus Polen gelieferter Autos und Motorräder) verantwortlich. Die Organisationsabteilung (unter der Leitung von Dr. Roman Konkiewicz) überwachte die Bildung und Tätigkeit der Plebiszitkomitees vor Ort, während die Propagandaabteilung für die Verteilung von Flugblättern, Plakaten usw. zuständig war, d.h. für den logistischen Aspekt der Tätigkeit des Polnischen Plebiszitkommissariats. Die Abteilung für Innenpolitik (unter der Leitung von Dr. Edward Hanke) übernahm die Beobachtung verschiedener in Oberschlesien tätiger Organisationen, um dort eine polnische Agitation in Gang zu setzen. Die von Dr. Kazimierz Rakowski geleitete diplomatische Abteilung war für die Kontakte zwischen den Behörden des Kommissariats und der Interalliierten Kommission sowie für die Erstellung von Berichten für die polnische Regierung zuständig. Eine wichtige Rolle spielte auch die Rechtsabteilung, die Konstanty Wolny unterstellt war. Sie beriet das Kommissariat in rechtlichen Fragen und unterstützte Polen, die von deutschen Behörden diskriminiert wurden, juristisch. Eine wichtige Aufgabe der Mitarbeiter dieser Abteilung, die in der Kommission für lokale Selbstverwaltung tätig waren, bestand in der Analyse des Entwurfs des Organischen Statuts der Wojewodschaft Schlesien, das im Juli 1920 vom polnischen Sejm als gesetzliche Grundlage für die Autonomie im polnischen Teil Oberschlesiens in der Zwischenkriegszeit verabschiedet wurde. Die Verwaltungsabteilung (unter der Leitung von Paweł Kempka) übernahm eine doppelte Funktion (in Bezug auf die laufenden Maßnahmen für die Volksabstimmung und die „vorbereitenden“ Arbeiten). Einerseits war sie für die Überwachung der deutschen Verwaltung im Abstimmungsgebiet und für die Besetzung von Beamtenstellen mit polnischen Kandidaten zuständig, andererseits organisierte sie Verwaltungslehrgänge für zukünftige Mitarbeiter der Verwaltungsstrukturen der Wojewodschaft Schlesien. Von großer Bedeutung für die Wirksamkeit der politischen und propagandistischen Aktivitäten des Polnischen Plebiszitkommissariats war die von Józef Alojzy Gawrych geleitete Nachrichtenabteilung. Die Art ihrer Tätigkeit entsprach ihrem Namen. Die gesammelten Materialien nutzte der Propagandaapparat 29
Dąbrowski: Górny Śląsk w walce; ders.: Trzecie powstanie śląskie. Rok 1921, Londyn 1973.
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u.a. dazu, die deutsche Seite zu kompromittieren. Die Abteilung gewährte darüber hinaus dem Personal des Hotels „Lomnitz“, einschließlich Korfanty selbst, Schutz.
Propagandistische Funktionen
Die Hauptaufgabe des Polnischen Plebiszitkommissariats bestand natürlich in der Propagandaarbeit. Die Multidirektionalität dieser „großen Propaganda-, Bildungs- und Sozialaktion, die alle Bereiche des kollektiven Lebens organisierte“, wird durch die Anzahl und Kompetenz der beteiligten Abteilungen belegt. Da die Presse eines der wichtigsten Einflussmittel darstellte, ist hier als erstes die Presseabteilung zu nennen, die von dem Journalisten Edward Rybarz geleitet wurde. In den Jahren 1920 und 1921 veröffentlichte er mehrere Dutzend polnisch-, deutsch- und französischsprachige Titel.30 Die Verlagsabteilung (Leiter: Józef Herman, Kasper Wojnar) war für die Redaktion, Herausgabe und Verteilung anderer, weite Verbreitung findender Propagandamittel zuständig, d.h. Broschüren, Flugblätter und Plakate in verschiedenen Größen. Das Zentralamt für Druck und Papier bildete die Lagerbasis für die oben genannten Erzeugnisse. Von der Professionalität der Vorbereitung von Propagandainhalten für das Polnische Plebiszitkommissariat zeugt die Tätigkeit des in Posen angesiedelten Statistikamtes, das unter anderem von einem polnischen Rechtsanwalt oberschlesischer Herkunft, Dr. Józef Potyka, geleitet wurde. Seine Mitarbeiter erarbeiteten verschiedene statistische Inhalte, die während der Volksabstimmungskampagne Verwendung fanden.31 Eine weitere Aufgabe dieser Denkfabrik bestand darin, die Registrierung der Wahlberechtigten für das Plebiszit zu verwalten, so dass sie den organisatorischen und politischen Abteilungen des Kommissariats zuzuordnen ist. Einen weiteren Bereich der Propaganda bildete die Organisation von Filmvorführungen, Theateraufführungen und Auftritten von Gesangskreisen, die den Oberschlesiern die polnische Kultur näherbringen sollten. Diese Aktivitäten wurden von der Kulturabteilung unter der Leitung von Dr. Ignacy Nowak 30 31
Mehr dazu u.a. in: Glensk, Joachim: Polska i niemiecka prasa plebiscytowa i powstańcza na Śląsku, Opole 1981; Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 104–157. Die Arbeitsweise des Statistischen Amtes wird in einem Rundschreiben deutlich, das im Sommer 1920 an die polnischen Plebiszitkomitees ging. Darin wird der Bedarf an Daten über die in Oberschlesien in den Jahren 1914–1918 ausgezahlten deutschen Kriegsanleihen formuliert, die von den einzelnen Gemeinden zur Verfügung gestellt werden sollten. APK, PKPleb., Sign. 298, Okólnik Polskiego Komitetu Plebiscytowego w Katowicach do podległych placówek z 8 VII 1920, S. 863.
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koordiniert. Ähnlichen Aktivitäten widmete sich die Bildungsabteilung (mit Dr. Maksymilian Hasiński an der Spitze), indem sie Veranstaltungen der polnischen Bildungsvereine abstimmte und verschiedene Exkursionen, Kurse und Vorträge organisierte (oft unter Beteiligung von Agitatoren, darunter Lehrer aus der Republik Polen).32 Innerhalb des Polnischen Plebiszitkommissariats gab es auch Abteilungen, die für ganz konkrete Propagandaaktivitäten zuständig waren, die sich an bestimmte Bevölkerungsgruppen richteten oder sehr spezifische Mittel einsetzten. Die Abteilung für Land- und Forstwirtschaft von Kazimierz Niegolewski importierte Fachliteratur, landwirtschaftliche Produkte und Nutztiere für die oberschlesischen Bauern. Zugleich führten die Mitarbeiter der Abteilung eine einschlägige Agitationskampagne durch, indem sie z.B. für die Grundsätze des polnischen Agrarreformgesetzes warben, das die Parzellierung von Land im Besitz von Großgrundbesitzern vorsah. Die Versorgungsabteilung (unter der Leitung von Mieczysław Paluch, später von Paweł PrzyklenkFrankowski) versorgte die Oberschlesier mit aus Polen importierten Lebensmitteln und Bedarfsartikeln. Sie wurden an Genossenschaften und Kaufleute veräußert oder einfach an Bedürftige verteilt. Die Sozial- und Landwirtschaftsabteilung unter der Leitung von Paweł Dubiel unterstützte Arbeitslose, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit aufgrund propolnischer Aktivitäten verloren hatten. Abgesehen von der unbestrittenen sozialen Bedeutung der beiden oben genannten Abteilungen, hatten sie sicherlich auch den gewünschten Propagandaeffekt. Angesichts der Religiosität der Oberschlesier (90 Prozent der Bevölkerung waren katholisch) könnte auch die Tätigkeit der zuletzt, im Oktober 1920 eingerichteten Kirchenabteilung unter Pfarrer Michał Lewek eine gewichtige Rolle gespielt haben. Sie bereitete Inhalte und Materialien vor, um die Menschen mittels religiöser Argumente davon zu überzeugen, für Polen zu stimmen.33 Die Abteilung für Auslandspropaganda unter der Leitung von Dr. Jan Górski war für die Propagierung des polnischen Standpunktes in der europäischen Presse (aber auch in den USA) zuständig. Zur Gruppe der Propagandaabteilungen gehörte auch die Abteilung für Auswanderung (unter der Leitung von Ryszard Knosała, Dr. Wiktor Zając und Jakub Kowal czyk). Sie registrierte die nach Polen, in andere Teile Deutschlands, in die 32 33
Die Kultur- und die Bildungsabteilung entstanden am 1. August 1920. Zuvor war eine einzige Kultur- und Bildungsabteilung für sämtliche Aktivitäten zuständig gewesen. Fic: Polski Komisariat Plebiscytowy, S. 165. Eine weitere Aufgabe der kirchlichen Abteilung bestand in der Kontaktpflege zu Vertretern des Vatikans, um unfreundliches/ungebührliches Verhalten des deutschen Klerus gegenüber Polen zu melden.
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Tschechoslowakei, nach Österreich und Ungarn ausgewanderten oberschlesischen Polen und ermunterte sie zur Teilnahme an der Volksabstimmung.
Die Vorbereitung des Anschlusses Oberschlesiens an Polen
Wie bereits erwähnt, ist das Polnische Plebiszitkommissariat auch vor der Volksabstimmung und der endgültigen Entscheidung der Alliierten an umfangreichen Aktivitäten zur Vorbereitung der Angliederung des oberschlesischen Abstimmungsgebietes oder zumindest eines Teils davon an die Republik Polen beteiligt gewesen. Diese Tätigkeit beschränkte sich auf die Organisation von Ausbildungskursen, die es den Absolventen, polnischen Oberschlesiern, ermöglichen sollten, Positionen in verschiedenen Verwaltungs- und Wirtschaftsbereichen der Wojewodschaft Schlesien einzunehmen, deren Gründung bereits im Juli 1920 angekündigt worden war. So bildete die Abteilung für Bergbau und Hüttenwesen (unter der Leitung des Ingenieurs Antoni Rowiński, später des Ingenieurs Józef Kiedroń) Personal für die Schwerindustrie aus. Gleichermaßen handhabten es die Abteilung für Eisenbahn und Post (Ingenieur Józef Dobrzycki, Arzt Franciszek Wilczek) sowie die Abteilung für Industrie und Handel (Arzt Bernard Diamand, Ingenieur Józef Kiedroń), die Bewerber für eine künftige Arbeit in ihren Sektoren annahmen. Die Abteilung für Gesundheit (Dr. Józef Rostek) bereitete hingegen ganz allgemein den Aufbau eines polnischen Gesundheitswesens vor – auch durch die Ausbildung Klinikpersonal. Einige Abteilungen konzentrierten sich eher auf systemische Aktivitäten. So führte die Schulabteilung (unter Dr. Ludwik Schirmeisen, dann Dr. Józef Komischke) Kurse für Lehrer durch und rekrutierte gleichzeitig oberschlesische Jugendliche für das Studium an polnischen Lehrerseminaren. Es wurden auch Vorbereitungen getroffen, um ein polnisches Justizwesen aufzubauen und die im Abstimmungsgebiet bestehenden Strafvollzugsanstalten von den deutschen Behörden zu übernehmen. Wie der Name schon sagt, war dafür die Abteilung für Justiz und Strafvollzug unter der Leitung von Tadeusz Stark zuständig. Abgesehen von den praktischen Aspekten dieser Vorbereitungen ist anzumerken, dass sie auch eine große propagandistische Bedeutung hatten. Allein die Vorbereitung von Oberschlesiern auf die Übernahme von Positionen in der künftigen Wojewodschaft Schlesien, die bisher in der Regel den Deutschen vorbehalten gewesen waren, wirkte sich sicherlich auf die Bestrebungen der lokalen Bevölkerung aus. Wahrscheinlich erhoffte sich ein großer Teil von denjenigen, die im März 1921 für Polen stimmten, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und einen sozialen Aufstieg.
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Neben die oben dargestellten allgemeinen und besonders wichtigen Einheiten des Polnischen Plebiszitkommissariats ist noch die Abteilung für Leibeserziehung (unter der Leitung von Dr. Maksymilian Wilimowski) zu stellen, die für die Koordinierung derjenigen Organisationen zuständig war, die sich um die körperliche Ertüchtigung kümmerten, wie die Pfadfinder, die SokółTurnbewegung (Falken), die Sportvereine, der Oberschlesische Jugendverband und der Verband der Ausflugsvereine „Jaskółka“. Ihre Mitglieder beteiligten sich aktiv an der polnischen Abstimmungskampagne und häufig auch an den Aufstandskämpfen. Die Polnische Militärorganisation in Oberschlesien (ab August 1921 Zentrale für Leibeserziehung, ab Dezember desselben Jahres Kommando zum Schutz des Plebiszits) ist ähnlich einzuordnen. Wenngleich diese geheimen Streitkräfte Kommissar Korfanty unterstellt waren, handelte es sich um eine separate Struktur, deren Aufgaben sich von denen des „zivilen“ Plebiszitkommissariats unterschieden.34 Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass viele Mitglieder der Polnischen Militärorganisation in Oberschlesien an der Plebiszitkampagne beteiligt waren. Formell unabhängig vom Kommissariat, aber eng mit ihm zusammenarbeitend, agierte auch die Delegation des Polnischen Roten Kreuzes unter der Leitung von Emil Cygan.
Zusammenfassung
Die Volksabstimmung vom 20. März 1921 in Oberschlesien bedeutete das Ende der Tätigkeit des Polnischen Plebiszitkommissariats in seiner bisherigen Form. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt nicht aufgelöst wurde, kam es in den folgenden Wochen zu einer schrittweisen „Demobilisierung“ seines Personals. Das organisatorische Grundgerüst blieb noch bis zum Ausbruch des Dritten Schlesischen Aufstandes (3. Mai 1921) bestehen. Erst dann trat Korfanty vom Amt des Kommissars zurück und übernahm gleichzeitig die Funktion des Diktators der Aufständischen. Das Personal, das sich in den vergangenen Jahren um ihn geschart hatte, wurde problemlos in die Oberste Aufstandsbehörde (Naczelna Władza Powstańcza) eingegliedert. Doch darin bestand nicht die einzige Fortführung ihrer Tätigkeit. Nach der Beendigung des Aufstandes im Sommer 1921 entstand ein neues Gremium zur Vertretung der polnischen Bevölkerung Oberschlesiens – der Oberste Volksrat unter dem Vorsitz von Józef Rymer. Seine inzwischen ganz offen formulierte Aufgabe, insbesondere nach der endgültigen Entscheidung über die Aufteilung des oberschlesischen 34
Mehr zur Organisationsstruktur und den Kompetenzen der Polnischen Militärorgani sation für Oberschlesien im Text von Grzegorz Bębnik in diesem Band.
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Abstimmungsgebietes im Oktober 1921, bestand darin, eine polnische Verwaltung in dem Polen zugewiesenen Gebiet aufzubauen. Damit galt die „vorbereitende“ Aufgabe des Polnischen Plebiszitkommissariats im Sommer 1922 als erfüllt, nun da ein Teil des Abstimmungsgebietes als Wojewodschaft Schlesien an Polen angeschlossen wurde. Ein Blick auf die Zuständigkeiten und die Struktur des polnischen Plebiszitkommissariats zeigt den enormen organisatorischen Aufwand der polnischen Seite in ihren Bemühungen um Oberschlesien. Diese blieben nicht auf Tausende von oberschlesischen Polen beschränkt. Das Kommissariat erhielt große Unterstützung von den Behörden der Republik Polen (und deren Gesellschaft). Es sei nochmals daran erinnert, dass die Plebiszitkampagne von intensiven Aktivitäten der polnischen Regierung auf diplomatischer, wirtschaftlicher und militärischer Ebene begleitet wurde. Die gut ausgebaute Struktur des Plebiszitkommissariats und die Effizienz seiner Arbeit, von der die zahlreichen Propagandamaterialien aus dieser Zeit anschaulich Zeugnis ablegen, widerlegen die stereotype Meinung, dass gute Organisation kein polnisches Charakteristikum ist. Obwohl das Endergebnis der oberschlesischen Volksabstimmung von polnischer Seite mit Enttäuschung aufgenommen wurde, war allein die Tatsache, dass sich fast 500.000 Einwohner Oberschlesiens für den Anschluss ihrer Heimatregion an Polen – also für einen Staat, der gerade erst gegründet (wiedergeboren) worden war und noch eine große Unbekannte darstellte – entschieden hatten, ein unbestreitbarer Erfolg, sowohl für die Behörden als auch für die Mitarbeiter des Kommissariats. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Die deutschen Strukturen im Rahmen des oberschlesischen Abstimmungskampfes Guido Hitze Wird über vermeintlich typisch deutsche Eigenschaften gesprochen, heißt es oft, die Deutschen zeichneten vor allem Disziplin, Organisationsvermögen und Verwaltungseffizienz aus. Überträgt man diese Zuschreibung auf den deutschen Abstimmungsapparat zur Zeit des oberschlesischen Plebiszits, so müsste ein erdrückender Vorteil der deutschen Seite gegenüber dem polnischen Kontrahenten hinsichtlich der Planung und Durchführung der mit der Volksabstimmung in Zusammenhang stehenden Aktivitäten bzw. bürokratischen Maßnahmen zu konstatieren sein. Doch obwohl die Interalliierte Plebiszitkommission (IK) wie auch die polnische Seite von genau diesem Vorteil ausgingen und ihn entsprechend einzudämmen versuchten, ergibt sich im historischen Rückblick ein komplett gegenteiliger Eindruck. Denn eine geschlossene, homogene und straff-hierarchische deutsche Abstimmungsorganisation hat es im Fall Oberschlesiens zu keiner Zeit gegeben. Deren Strukturen waren vielmehr polykratisch, dezentral und zum Teil dichotomisch. Zu diesem einigermaßen überraschenden Befund führt allein schon eine Übersicht der wichtigsten deutschen Strukturen bzw. Organisationseinheiten zu Beginn des Abstimmungskampfes. Politisch relevant waren vor allem die Stelle des Deutschen Bevollmächtigten bei der Interalliierten Plebiszitkommission (IK) unter dem französischen General Henri le Rond als diplomatische Vertretung der Reichsregierung (Hermann Fürst von Hatzfeldt1; ab Mai 1921 Hans Graf Praschma2) sowie das deutsche Plebiszitkommissariat unter 1 Hermann Friedrich Anton Fürst von Hatzfeldt zu Trachenberg (1848–1933) gehörte als Freikonservativer Ende des 19. Jahrhunderts zur Minderheit der schlesischen „Staatskatholiken“ und übte als erster Katholik von 1894 bis 1903 das Amt des Oberpräsidenten der Provinz Schlesien aus; vgl. Neubach, Helmut: Die Verwaltung Schlesiens zwischen 1848 und 1945, in: Heinrich, Gerd/Henning, Friedrich-Wilhelm/Jeserich, Kurt G. A. (Hg.): Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung, Stuttgart u.a. 1992, S. 877–941, hier S. 883. 2 Johannes (Hans) Nepomuk Maria Friedrich Pius Emanuel Kajus Hubertus Graf Praschma, Freiherr von Bilkau (1867–1935) gehörte zum adelig-konservativen Flügel der Zentrumspartei, 1900–1918 bzw. 1903–1918 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstages, 1922–1930 Vertreter der Provinz Oberschlesien im Deutschen Reichsrat; vgl. Hitze, Guido: Hans Graf Praschma (1867–1935), in: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder XII, Würzburg 2017, S. 223–235.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_019
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Plebiszitkommissar Kurt Urbanek (Zentrum). Dessen Hauptaufgabe bestand darin, den Wahlkampf organisatorisch vorzubereiten und zu koordinieren, für einen ordnungsgemäßen Verlauf der Volksabstimmung zu sorgen und die Interessen der deutschgesinnten Bevölkerung gegenüber der IK, aber auch dem polnischen Plebsizitkommissariat zu vertreten. Sozusagen hinter den Kulissen und völlig unabhängig von den erstgenannten Stellen agierte der sogenannte „Bevollmächtigte des (preußischen) Staatskommissars für die öffentliche Ordnung“ in der sogenannten „Stabsstelle Spiecker“. Als Träger der „stillen Propaganda“ stand diese unter der Leitung des namensgebenden jungen preußischen Beamten Carl Spiecker (Zentrum)3 und diente offiziell der „Bekämpfung der bolschewistischen Gefahr“ in Oberschlesien. Ihr eigentlicher, von Spiecker ebenso brillant wie skrupellos durchgeführter Auftrag bestand hingegen einerseits in einer stetigen und zuverlässigen, nüchternen Analyse der aktuellen Situation im Abstimmungsgebiet („Amtliche Berichte der Dienststelle Spiecker“ unter Anwendung modernster demoskopischer Methoden), andererseits aber in der Ausspionierung der IK und der polnischen Seite mittels eines weitverzweigten Nachrichtendienstes und Agentennetzes. Hinzu kamen Sabotageakte und eigene propagandistische Aktivitäten (bspw. die Gründung bzw. der Ankauf von Zeitungen, Bestechungen von Journalisten und Multiplikatoren oder die Subventionierung deutschgesinnter Parteien und Vereine etc.). Carl Spiecker konnte dabei auf „schwarze Kassen“ zurückgreifen und unterlag keinerlei rechtlichen Beschränkungen, was sich vor allem hinsichtlich der berüchtigten rechtsradikalen „Fememorde“ in Oberschlesien als hochproblematisch erweisen sollte.4 Schließlich waren auch die zuständigen Abteilungen in der Reichskanzlei bzw. dem Preußischen Staatsministerium, den Innen- sowie Finanzministerien des Reichs und Preußens und die Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes darum bemüht, Einfluss auf das Geschehen zu nehmen bzw. wenigstens einen Überblick über die immer komplizierter und auch widersprüchlicher werdenden Ereignisse und Strukturen zu behalten. 3 Carl Spiecker (1888–1953), 1920–1922 Vertreter des Staatskommissars für öffentliche Ordnung in Oberschlesien, 1922–1923 Verlagsdirektor des Zentrumsorgans „Germania“, 1923–1925 Ministerialdirektor und Pressechef der Reichsregierung, 1930–1932 Beauftragter der Reichsregierung für die Bekämpfung des Nationalsozialismus, 1946 Mitbegründer der Deutschen Zentrumspartei, 1948 Wahl zum Vorsitzenden des wiedergegründeten Zentrums, 1947 MdL Nordrhein-Westfalen, 1947–1949 Mitglied des Wirtschaftsrates, 1949 Übertritt in die CDU, 1949–1953 Minister ohne Geschäftsbereich des Landes Nordrhein-Westfalen. Zu Spiecker jüngst Kiene, Claudius: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie, Berlin u.a. 2020. 4 Vgl. ebenda, S. 39–49.
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Abb. 18.1
Guido Hitze
Kurt Urbanek, Illustration von Willibald Krain, gezeichnet am 3.2.1921 im deutschen Plebiszitkommissariat in Kattowitz, SHOS/OSLM.
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Neben die politische Ebene trat als weiterer wesentlicher Faktor die Propaganda. Hier wirkte in erster Linie der „Schlesische Ausschuss“ in Breslau, entsprechend außerhalb des Abstimmungsbezirks und damit auch außerhalb des Zugriffs der IK. Er stand unter der Leitung des beurlaubten Rybniker Landrats Hans Lukaschek5 (Zentrum). Er hatte die Funktion Ende 1919 als Nachfolger des sozialdemokratischen vormaligen preußischen Staatskommissars für Oberschlesien, Otto Hörsing, übernommen. Im „Schlesischen Ausschuss“ waren sämtliche maßgeblichen Parteien (SPD, Zentrum, DDP, DVP, DNVP) und Gewerkschaftsverbände (Gewerkschaftsring, Christlicher Deutscher Gewerkschaftsbund, Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) vertreten. Er fungierte offiziell als „halbamtliche Propagandastelle“ und war finanziell weitgehend autonom. Außerdem beriet und unterstützte der „Schlesische Ausschuss“ das deutsche Plebiszitkommissariat in Kattowitz. An seiner Seite stand der „Verband Heimattreuer Oberschlesier“ (VHO) für die Regierungsbezirke Oppeln und Breslau unter der Leitung des Ratiborer Notars Adolf Kaschny6 (Zentrum), zuständig für die Unterstützung der deutschen Propagandatätigkeit an der Basis im Abstimmungsbezirk. Während der schlesische Ableger eher zentrumsdominiert war, stand die nationale Dachorganisation der „Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier“ (VVHO) stark unter dem Einfluss rechtsliberaler und deutschnationaler Kräfte, wurde aber von allen deutschen Parteien mit Ausnahme der KPD unterstützt. Ihr oblag die Organisation prodeutscher Manifestationen und Kundgebungen im nichtbesetzten Reichsgebiet, vor allem die „Betreuung“ abstimmungswilliger sogenannter „Emigranten“ vorzugsweise in Berlin-Brandenburg, Sachsen und dem Ruhrgebiet. Bei dem dritten Akteur handelte es sich um die „Reichszentrale für 5 Hans Lukaschek (1885–1960), Jurist, 1918/19 Landrat des Kreises Rybnik (zuvor Bürgermeister von Rybnik), 1922–1927 deutscher Vertreter in der Gemischten Kommission des Völkerbundes für Oberschlesien in Genf, 1927–1929 Oberbürgermeister von Hindenburg, 1929–1933 Oberpräsident der Provinz Oberschlesien, nach dem erzwungenen Abschied aus dem Amt Rechtsanwalt in Breslau, aktiv im deutschen Widerstand als Mitglied im Kreisauer Kreis und Verbindungsmann zum militärischen Widerstand des 20. Juli, 1944/45 Haft und Verfahren vor dem Volksgerichtshof (Freispruch Ende April 1945!), Mitgründer der CDU in Berlin im Juni 1945, 1945/46 Mitglied der Landesregierung von Thüringen, 1948 Vizepräsident des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet, 1949–1953 erster Bundesminister für Vertriebene, Initiator des Bundesvertriebenengesetzes („Lastenausgleich“); vgl. u.a. Hitze, Guido: Hans Lukaschek (1885–1960), in: Morsey, Rudolf/Rauscher, Anton (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 11. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 2004, S. 143–159 u. 339f. 6 Adolf Kaschny (1881–1951), 1924–1933 Oberbürgermeister von Ratibor, 1946 Eintritt in die CDU, 1950–1951 Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen; vgl. Hitze, Guido: Adolf Kaschny (1881–1951), in: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder IX, Insingen 2007, S. 399–411.
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Guido Hitze
Heimatdienst“ (RFH), eine Art Vorläufer der „Bundeszentrale für politische Bildung“.7 Diese war eigentlich als Antrags- und Bewilligungsbehörde für den „Schlesischen Ausschuss“ zuständig, trat jedoch zunehmend als politisches Aufsichtsorgan mit eigener agitatorischer Kompetenz auf. Formal vollkommen unabhängig von den deutschen staatlichen Stellen, aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die deutsche Seite, war der „Bund der Oberschlesier“ (BdO). Als Vertretung der sogenannten „Freistaatsanhänger“ nahm er offiziell eine neutrale Stellung zwischen Deutschland und Polen ein und schwenkte erst unmittelbar vor dem Abstimmungstermin auf eine prodeutsche Position um. Wohl maßgeblich finanziert von der oberschlesischen Schwerindustrie, konnten dem BdO keine direkten organisatorischen bzw. finanziellen Verbindungen zu den deutschen politischen Institutionen nachgewiesen werden, wenngleich der deutsche Standpunkt zumindest insofern von ihm profitiert hat, als dass der Bund mit seiner Agitation für einen längeren Zeitraum deutschlandkritische Stimmen binden konnte, die ansonsten wohl zu Polen tendiert hätten. Wenn Peter-Christian Witt im Jahr 1973, also vor beinahe 50 Jahren, festgestellt hat, dass die deutschen Maßnahmen im Abstimmungskampf in Oberschlesien noch immer nicht historisch systematisch erfasst und analysiert worden sind,8 so besteht dieses Desiderat im Grunde bis heute fort. Einzelne Arbeiten, wie die Biographien von Wojciech Korfanty9 und Carl Ulitzka10
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Die „Reichzentrale für Heimatdienst“ ging 1919 aus der im März 1918 noch im Kaiserreich gegründeten „Zentralstelle für Heimatdienst“ hervor und war unmittelbar der Reichskanzlei zugeordnet. Ihre Hauptaufgabe bestand in der streng formalen Vermittlung der Grundkenntnisse der demokratischen Regierungsform mittels Rednerschulungen und der Unterstützung republikfreundlicher Organisationen wie dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Allerdings litt die Reichszentrale zeit ihrer bis 1933 andauernden Existenz unter einer unzureichenden finanziellen wie personellen Ausstattung sowie der unübersehbaren Tendenz ihrer verbeamteten Mitarbeiter, angesichts der Kriegsfolgen und insbesondere des Versailler Vertrags auch unter den neuen demokratischen Vorzeichen vor allem Propaganda im nationalen Interesse zu verbreiten. Außerdem fehlten ihr ein administrativer Unterbau und ein regionaler Referenzrahmen in den deutschen Ländern. Vgl. Wippermann, Klaus W.: Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Köln 1976. Witt, Peter-Christian: Zur Finanzierung des Abstimmungskampfes und der Selbstschutzorganisationen in Oberschlesien 1920–1922, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1973), S. 59–76, hier S. 60. Karski, Sigmund (unter Mitwirkung von Helmut Neubach): Albert (Wojciech) Korfanty. Eine Biographie, Dülmen 1990. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002.
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bzw. des Zentrumskanzlers Joseph Wirth11, oder thematisch eingegrenzte Untersuchungen wie diejenige über die Propaganda in Oberschlesien12 haben bestimmte Lücken geschlossen und wichtige Fragen beantwortet, eine umfassende Gesamtdarstellung können sie allerdings nicht ersetzen. Im Folgenden soll daher versucht werden, die markantesten Phänomene, Entwicklungen und Ereignisse innerhalb der deutschen Abstimmungsorganisation vor, während und nach dem Plebiszit vom 20. März 1921 zu skizzieren. Sowohl Deutschland als auch Polen waren bei der IK mit einem eigenen staatlichen Vertreter akkreditiert, da es sich bei dem Abstimmungsgebiet um ein völkerrechtlich vorübergehend autonomes Gebilde handelte. Polens Interessen wurden bei der IK durch den Generalkonsul Daniel Kęszycki vertreten, für Deutschland nahm diese Aufgabe Hermann Fürst von Hatzfeldt, Herzog zu Trachenberg, wahr. Die Bestellung des Fürsten Hatzfeldt zum Deutschen Bevollmächtigten sagte allerdings noch nichts über den genauen Aufbau des deutschen Abstimmungsapparates aus, da Hatzfeldt lediglich die Interessen des Reiches bei der IK vertrat, ansonsten aber weder für die innerschlesischen Verhältnisse noch für die eigentliche Wahlkampagne zuständig war. Es war also dringender Handlungsbedarf gegeben, zumal Polen schon für klare Verhältnisse gesorgt hatte: Bereits am 28. Dezember 1919 hatte Warschau den gebürtigen Oberschlesier Wojciech Korfanty zum Leiter der gesamten Plebiszitkampagne bestimmt. Den gesamten Winter 1919/20 über arbeitete Korfanty intensiv am Aufbau seines Propagandaapparates. Im Februar 1920, parallel zur Machtübernahme der IK, konstituierte sich im Beuthener Hotel „Lomnitz“ schließlich offiziell das „Polnische Plebiszitkommissariat“ (Polski Komisariat Plebiscytowy). Auf deutscher Seite erkannte man rasch, wie gefährlich das offensichtliche Propaganda- und Organisationsgenie Korfanty werden konnte, zumal der ehemalige Reichstagsabgeordnete im Volk sowohl über einen hohen Bekanntheitsgrad als auch über die nötige Glaubwürdigkeit verfügte. Folgerichtig intervenierte das Reich daher bei der IK gegen die Zulassung Korfantys als Plebiszitkommissar. Doch anders als im Fall des Ratiborer Pfarrers und Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei, Carl Ulitzka, in dem Gen. Henri Le Rond umgehend den polnischen Einwänden gegen eine Berufung zum deutschen Plebiszitkommissar entsprochen hatte, wurde der deutsche Protest gegen Korfanty nun als unbegründet zurückgewiesen.13 Der polnische 11 12 13
Küppers, Heinrich: Joseph Wirth. Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik, Stuttgart 1997, insbesondere S. 123–154. Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2003. Vgl. hierzu sowie zum Aufbau des polnischen Plebiszitkommissariats Karski: Korfanty, S. 205–207.
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Plebiszitkommissar vermochte seine Organisation somit weiter konsequent auszubauen. Bis April 1920 beschäftigte er mehr als 1.000 Mitarbeiter, deren Aufgabe es war, „alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Oberschlesien zu erfassen.“14 Das Hotel Lomnitz wurde zu einer regelrechten Regierungszentrale, die auf dem neuesten Stand der Technik, vor allem der Nachrichtentechnik, war und zudem über einen bestens ausgerüsteten Fuhrpark verfügte. Da die Zahl der Beschäftigten weiter stieg, musste bald ein zweites Hotel in Beuthen, der „Schlesische Hof“, angemietet werden. Über allem wachte Korfanty persönlich; er hielt die Kontakte zur Warschauer Regierung, er koordinierte die polnische Propaganda, er befehligte die geheimen polnischen Spionage- und Kampftruppen, er schaffte die nötigen immensen Finanzmittel heran und er verhandelte mit der IK, mit deren Präsidenten, dem französischen General Le Rond, er sich glänzend verstand. Der polnische Generalkonsul Daniel Kęszycki war nicht mehr als eine blasse, diplomatisch aber erforderliche Staffage. Was aber hatte die deutsche Seite diesem bemerkenswerten polnischen Organisationsgrad entgegenzusetzen? Zunächst nicht viel. Nachdem Hans Lukaschek Ende 1919 als Nachfolger von Staatskommissar Hörsing zum neuen Propagandachef für Oberschlesien berufen worden war, entstand unter seiner Leitung in Breslau ein neues Gremium, der „Schlesische Ausschuss“15. Zum Jahresbeginn 1920 befanden sich die deutschen Strukturen jedoch noch im Aufbau; in Oberschlesien selbst gab es bis dato überhaupt keine zentrale deutsche Propagandastelle. Der „Schlesische Ausschuss“ war deshalb in Breslau angesiedelt worden, weil sich in der alten schlesischen Provinzhauptstadt immer noch sämtliche, für Oberschlesien wichtigen politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen befanden. Angesichts der alliierten Besetzung des Abstimmungsbezirkes erwies sich dies als ausgesprochener Vorteil, da die offiziell als „halbamtlich“ eingestufte Propagandastelle Lukascheks dadurch dem direkten Zugriff der Entente entzogen war. Tatsächlich reichten die Befugnisse des beurlaubten Rybniker Landrates beinahe an diejenigen eines „Reichskommissars“ für Oberschlesien heran, vor allem auf finanziellem Gebiet.16 Aber der Malus blieb bestehen, dass Deutschland dem polnischen
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Ebenda, S. 207. Zum „Schlesischen Ausschuss“ siehe auch Birke, Ernst: Schlesien, in: Sante, Georg Wilhelm (Hg.): Geschichte der deutschen Länder („Territorienploetz“), Bd. 2: Die deutschen Länder vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Würzburg 1971, S. 188–244, hier S. 236 und Vogel, Rudolf: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Leipzig 1931, S. 89f. Vgl. Vogel: Deutsche Presse, S. 89.
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Plebiszitapparat in Oberschlesien selbst bis auf weiteres nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Halb aus der Not der Umstände geboren, halb aus Kalkül, war die deutsche Propaganda, von Breslau aus koordiniert, bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr verhalten und eher subversiv betrieben worden. Sie stand dabei um die Jahreswende 1919/20 unter recht ungünstigen Vorzeichen. In weiten Teilen Oberschlesiens herrschte zu jener Zeit eine schon beinahe euphorische propolnische Begeisterung, die ihre Hauptursache, neben einer dezidiert antipreußischen Grundstimmung, in einer in Polen augenscheinlich weit besseren Versorgungslage hatte. In eindeutig deutschgesinnten Kreisen machte sich dagegen zunehmend Resignation breit.17 Unmittelbar nach der interalliierten Besetzung aber begann sich das Bild zu wandeln. Anfang April 1920 berichtete Lukaschek nach Berlin von einer „starken Ernüchterung“, die in Oberschlesien mittlerweile eingetreten war und die dazu geführt habe, dass „von einer nationalistischen Erregung für Polen nicht mehr die Rede“ sein konnte.18 Aus diesem Grund wäre man nach intensiven Beratungen mit Ulitzka und den anderen oberschlesischen Parteiführern sowie den Vereinigten Verbänden bzw. der „Reichszentrale für Heimatdienst“ zu dem Schluss gekommen, von deutscher Seite aus endlich die Öffentlichkeit zu suchen. Nach dem interalliierten Verdikt gegen Ulitzka war zunächst Lukaschek bereit, in die Rolle eines „deutschen Korfanty“ zu schlüpfen. Es war aber wiederum der Pfarrer von Ratibor-Altendorf, der Lukaschek gemeinsam mit dem Fürsten Hatzfeldt von solch einer Überlegung abbrachte. Ulitzka machte geltend, dass es Lukaschek gelungen sei, unter Aufbietung seines ganzen persönlichen Einflusses eine einheitliche Linie unter den deutschen Parteien herbeizuführen, die sogar so antagonistische Kräfte wie das Zentrum und die Sozialdemokraten miteinschloss. Dennoch, so Ulitzka, könne angesichts der „ganz eigenartigen Volkspsychologie in Oberschlesien“ nicht versucht werden, „Zentrum und Sozialdemokratie offen zusammengehend in Oberschlesien erscheinen zu lassen.“ In einem solchen Fall würde sich das Zentrum selbst „des Einflusses auf die niedrigen, konfessionell sehr empfindlichen Volksbestandteile“ berauben und „den Polen die größten Angriffsflächen bieten“. Ein offenes Auftreten Lukascheks aber würde genau diese Kooperation zwischen Zentrum und Sozialdemokratie öffentlich und das dringend erforderliche interne Wirken des Breslauer Propagandachefs, vor allem bei der katholischen Geistlichkeit, unmöglich machen. Fürst Hatzfeldt ergänzte die Bedenken Ulitzkas mit dem Hinweis, dass Lukaschek als lediglich beurlaubter Landrat „immer als der 17 18
Hitze: Ulitzka, S. 265f. Ebenda, S. 267.
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von der deutschen Regierung eingesetzte Propagandachef erschienen wäre“ und damit sein Wirken vor den unerbittlichen Augen der Entente „ein sehr schnelles Ende genommen hätte.“19 Nach Abwägung aller Umstände empfahl Lukaschek schließlich in Absprache mit Ulitzka und Hatzfeldt den bisherigen Bürgermeister der Landgemeinde Roßberg bei Beuthen, Kurt Urbanek20, „als in jeder Hinsicht“ geeigneten Kandidaten in das Amt des deutschen Plebiszitkommissars zu berufen. Dieser Personalvorschlag wurde von den deutschen Stellen aufgegriffen und auch von der IK akzeptiert.21 Am 5. Mai 1920 rief Urbanek öffentlich zur Bildung eines deutschen Plebiszitkommissariats und der entsprechenden Unterkommissariate in den Kreisen und großen Städten des Abstimmungsbezirkes auf. Am 4. Juli 1920, mehr als fünf Monate nach Korfanty, konnten die organisatorischen Arbeiten für das Plebiszitkommissariat für Deutschland, das seinen Sitz im Hotel „Goldener Stern“ in Kattowitz nahm, als abgeschlossen gelten. Weder von seiner finanziellen Ausstattung noch im Hinblick auf seinen Aufgabenbereich vermochte es allerdings einem Vergleich mit seinem polnischen Konterpart standzuhalten.22 Am 13. April 1920 fand in Breslau eine Konferenz leitender Regierungsbeamter Preußens und des Reiches23 statt, auf der über das deutsche Vorgehen in Oberschlesien während der Abstimmungszeit beraten wurde. Die Teilnehmer waren sich rasch darüber einig, dass die deutsche Propaganda bisher viel zu unauffällig und vor allem zersplittert gewesen sei. Nun sei es an der Zeit, „das nur als ganz ausgezeichnet durchdacht und organisiert zu 19 20 21
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Ebenda. Zu Kurt Urbanek (1884–1973) siehe Abmeier, Hans-Ludwig: Zur Biographie von Kurt Urbanek, in: Oberschlesisches Jahrbuch 1 (1985), S. 84–117. Vgl. Karski: Korfanty, S. 206. Über seine Arbeit als deutscher Plebiszitkommissar für Oberschlesien hat Urbanek selbst zweimal öffentlich berichtet: Urbanek, Kurt: Das deutsche Plebiszitkommissariat, in: Der Oberschlesier 8 (1926), S. 188–194; ders.: Plebiszitkommissar in Oberschlesien, in: Hupka, Herbert (Hg.): Leben in Schlesien. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, München 1962, S. 29–42. Hitze: Ulitzka, S. 267f. Diese strategische „Unterlegenheit“ der deutschen Seite wird allerdings durch die unterschiedlichen Ausgangspositionen, über die Deutsche und Polen in Oberschlesien verfügten, ein Stück weit relativiert: „Da sich die staatliche und kommunale Verwaltung sowie die Industrie ganz mit Deutschland identifizierten und die überall in der Provinz tätigen Kultur-, Sport-, Krieger- und Landwehrvereine, »treudeutsch« gesinnt, die Plebiszitarbeit kräftig unterstützten, war der Aufgabenbereich des deutschen Kommissariats viel enger umrissen als der des polnischen und seine Aktivität dadurch geringer.“ Siehe; Karski, Sigmund: Der Abstimmungskampf in Oberschlesien 1920–1921, in: Oberschlesisches Jahrbuch 12 (1996), S. 137–162, hier, S. 142. Teilnehmer waren u.a. Landrat Alfred von Bärensprung aus dem preußischen Innenministerium, der Geheime Regierungsrat Roland Brauweiler sowie der Legationsrat beim Auswärtigen Amt, Hans Adolf von Moltke. Vgl. Hitze: Ulitzka, S. 268.
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bezeichnende Beispiel der Polen nachzuahmen“ und selbst eine möglichst straff und einheitlich geführte Organisationsform zu entwickeln. Die Nominierung Kurt Urbaneks zum deutschen Plebiszitkommissar wurde in diesem Sinne von allen Anwesenden ausdrücklich begrüßt. Mit dem Plebiszitkommissariat wurde die deutsche Propagandatätigkeit allerdings nun nicht etwa auf eine, sondern vielmehr auf drei Säulen gestellt: Die erste bildete unmittelbar die Organisation Urbaneks in Oberschlesien. Ihre Hauptaufgabe sollte darin bestehen, den Wahlkampf organisatorisch vorzubereiten und zu koordinieren, für einen ordnungsgemäßen Verlauf der Volksabstimmung zu sorgen sowie die Interessen der deutschorientierten Bevölkerung gegenüber der IK zu vertreten. Die zweite Säule bestand aus dem „Schlesischen Ausschuss“ in Breslau, der vor allem für die politischen Kontakte zu den Berliner Regierungsstellen des Reiches und Preußens, für die Beschaffung der Finanzmittel sowie die Agitation im Reichsgebiet zuständig war, und die dritte und vielleicht wichtigste Säule bildete der Träger der sogenannten „stillen Propaganda“, der „Bevollmächtigte des Staatskommissars für die öffentliche Ordnung“, Dr. Carl Spiecker.24 Der junge Niederrheiner, katholisch und ein Mann des Zentrums, stellte sozusagen die deutsche Antwort auf Korfanty dar: einfallsreich, gewandt, verschlagen, zuweilen auch skrupellos in der Wahl seiner Mittel, arbeitswütig und der eigenen Regierung gegenüber stets loyal, avancierte der Vollblutpolitiker Spiecker gewissermaßen zur Geheimwaffe der deutschen Propaganda in Oberschlesien.25 Stolz beglückwünschte man sich in Breslau zu dem Umstand, dass es offenbar gelungen war, im Fall Spieckers sogar die stets wachsame IK zu übertölpeln. Offiziell wurde dessen Dienststelle, deren Hauptaufgabe neben der nüchternen Analyse der tatsächlichen Lage26 vor allem darin bestand, die polnische Abstimmungsmaschinerie mit allen Mitteln auszuspionieren und zu sabotieren, gegenüber der Besatzungsbehörde einfach „das Mäntelchen 24 25 26
Offiziell trug die am 15.02.1920 eingerichtete „Organisation Spiecker“ die Bezeichnung „Oberschlesische Leitstelle des Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung“; vgl. Witt: Finanzierung, S. 66 bzw. 69. Urbanek: Plebiszitkommissar, S. 33, schreibt über Spiecker: „Mit vorgehaltener Hand wurde uns von einer geheimnisvoll durch Oberschlesien geisternden Persönlichkeit, Dr. Spiecker mit Namen, wie von einem Tabu geflüstert.“ Insofern gehören die täglichen Lageberichte Spieckers an das preußische Innenministerium in der Tat zu den seriösesten Quellen für die Aufstands- und Plebiszitzeit in Oberschlesien. Vgl. Vogel: Deutsche Presse, S. 103: „Die Presse war sich darin einig, dass Dr. Spiecker über den zuverlässigsten und sichersten Nachrichtenapparat verfügte, der damals in Oberschlesien existierte. Seine Stimmungsbilder und regelmäßigen dienstlichen offiziellen Berichte über die Lage im Abstimmungsgebiet und die Aussichten der Abstimmung sind vielleicht die einzigen ungefärbten und wirklich zuverlässigen gewesen, die der preußischen Regierung unter der Menge der anderen zugingen.“
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umgehängt“, eine „Stelle zur Bekämpfung der bolschewistischen Gefahr“ zu sein.27 Da die IK, insbesondere aber die Franzosen, ein Ausgreifen des Kommunismus offensichtlich noch mehr fürchteten als einen möglichen deutschen Abstimmungssieg in Oberschlesien, akzeptierte man Spiecker und seinen Nachrichtendienst von dort aus. Seine Agenten bestanden überwiegend aus Lehrern, die wiederum von keinem Geringeren als dem Reichstagsabgeordneten des Zentrums, Thomas Szczeponik,28 angeführt wurden29. Fasst man die Ergebnisse der Breslauer Konferenz vom 13. April 1920 zusammen, so erhält man ein Ergebnis, das eigentlich nicht im Sinne der Teilnehmer sein konnte: Neben den bereits erwähnten drei Hauptsäulen – „Schlesischer Ausschuss“, Plebiszitkommissariat, Organisation Spiecker – existierten noch die VVHO als eigenständige Propagandaorganisation. Die „Reichszentrale für Heimatdienst“ wachte darüber hinaus nach wie vor über die finanzielle Ausstattung der einzelnen Unternehmungen, und im preußischen Innenministerium versuchte unterdessen eine „Zentralstelle für Oberschlesien“ unter dem durch die IK suspendierten Landrat von Kreuzburg/OS, Alfred von Bärensprung30, und versehen mit einem eigenen „Oberschlesischen Beirat“, den Überblick zu behalten. Nicht zuletzt gab es auch noch den Reichsbevollmächtigten bei der IK mit eigener Nachrichtenstelle und Spezialbüro31. Angesichts der hier wieder einmal sichtbar werdenden deutschen Neigung zur Überbürokratisierung und der daraus resultierenden unklaren Kompetenzverteilung kann es nicht verwundern, dass die deutsche Seite während der kommenden Monate selbst zu einem ihrer hartnäckigsten Gegner werden sollte. Die Annahme, mit den Beschlüssen der Breslauer Konferenz vom 13. April 1920 bzw. der Einrichtung eines deutschen Plebiszitskommissariats seien wenigstens die gröbsten organisatorischen Stolpersteine innerhalb des 27 28
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Hitze: Ulitzka, S. 269. Thomas Szczeponik (1860–1927); 1919–1922 Kreisschulrat für die Bezirke Nikolai und Kattowitz, 1919 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung als Abgeordneter der Zentrumspartei, 1920–1922 Mitglied des Reichstags, 1923 Gründer des „Verbandes der deutschen Katholiken in Polen“, Vorsitzender der Deutschen Katholischen Volkspartei in Ost-Oberschlesien, 1922–1927 Mitglied im Schlesischen Sejm in Kattowitz und Senator in Warschau. Vgl. Webersinn, Gerhard: Thomas Szczeponik. Ein Leben für Glaube, Volkstum und Heimat, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 16 (1971), S. 159–214. Vgl. hierzu auch Urbanek: Plebiszitkommissariat, S. 33 f. Alfred von Bärensprung amtierte seit 1913 als Landrat in Kreuzburg und war als Nichtschlesier und Protestant ein typisches Beispiel für die preußische Personalpolitik in Oberschlesien. Zum Organisations- und Kompetenzwirrwarr auf deutscher Seite auch Vogel: Deutsche Presse, S. 90.
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deutschen Abstimmungsapparates aus dem Weg geräumt gewesen, sollte sich bald als trügerisch erweisen. Von April bis zum Hochsommer 1920 folgte eine ganze Kette von unerquicklichen Auseinandersetzungen, ausgetragen hauptsächlich zwischen dem „Schlesischen Ausschuss“ in Breslau und der „Reichszentrale für Heimatdienst“ und entzündet in erster Linie an Fragen der Finanzierung sowie der politischen Kompetenzen. Bereits am 26. April 1920 schrieb Hans Lukaschek einen geharnischten Protestbrief an Reichskanzler Gustav Bauer (SPD), in dem sich der deutsche Propagandachef, der sein Gehalt aus Spendengeldern der Industrie bezog, angesichts der offenkundigen „Desintegration im deutschen Lager“32 über die ständigen Kompetenzüberschreitungen der „Reichszentrale“ beschwerte und seinen baldigen Rücktritt ankündigte. Dank der Eigenmächtigkeit der „Reichszentrale“, der vereinbarungsgemäß lediglich „die rechnungsmäßige Kontrolle“ der Arbeit des „Schlesischen Ausschusses“ oblag, drohte die oberschlesische Propaganda „in den Akten deutscher bürokratischer Verwaltungskunst“ zu ersticken. Die ihm, Lukaschek, verbindlich zugesagte „unbeschränkte Handlungsfreiheit“ und „volle Verantwortlichkeit“ werde ständig seitens der „Reichszentrale“ dadurch konterkariert, dass sie „mündliche Zusagen“ nicht einhielt „und schriftliche Anträge wochenlang liegen“ ließ. Zudem nutzte sie „ihre Macht als Geldgeberin“, um dringend erforderliche Etaterhöhungen ohne triftigen Grund abzulehnen, und das, obwohl sein Gegenspieler Korfanty „monatlich das mindest[ens] 10fache“ dessen ausgeben könne, was dem „Schlesischen Ausschuss“ zur Verfügung stünde. Durch diese „Verfahrensweise der Reichszentrale“ sei er praktisch „lahm gelegt“, weil „bürokratische Beschränktheit und Ressort-Partikularismus uns hindernd im Wege stehen“, so das bittere Fazit Lukascheks. Durch seine Rücktrittsdrohung aufgeschreckt, handelte die Reichskanzlei umgehend und berief für Ende April eine Besprechung über die Forderungen des Breslauer Propagandachefs in Berlin ein. Dabei erhielt Lukaschek sowohl die verlangten Geldmittel in Form eines monatlichen Zuschusses von fünf Millionen und eines ständigen „Reservefonds“ in Höhe von zehn Millionen Mark als auch das Versprechen einer zukünftigen Beschränkung des Einflusses der „Reichszentrale“. Mit den Ergebnissen der Berliner Zusammenkunft von Ende April 1920 schien die finanzielle Absicherung der deutschen Abstimmungspropaganda endgültig geregelt zu sein. Je zur Hälfte übernahmen das Reich und Preußen alle nichtmilitärischen Ausgaben, während zusätzliche Mittel in Form eines „Ausgleichsfonds der Oberschlesischen Industrie“ und einer sogenannten, im Reich gesammelten „Grenzspende“ von privater Seite 32
So Vogel: Deutsche Presse, S. 88.
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beigesteuert wurden.33 Die Finanzierung militärischer Projekte, in erster Linie des Selbstschutzes, oblag vollständig dem Reich. Angesichts dieser komplizierten Finanzierungsverhältnisse, die über offizielle, halboffizielle und inoffizielle Kanäle geregelt wurden, verloren die Verantwortlichen jedoch schon bald den Überblick, was wiederum Chaos und erneute heftige Auseinandersetzungen nach sich zog.34 Doch auch die Ende April in Berlin erzielte Übereinkunft hielt nicht lange stand. Schon zwei Monate später beschwerte sich Lukaschek bei der „Reichszentrale“ über erneute Versuche, selbstständig in der oberschlesischen Propagandaarbeit tätig zu werden. „Meinen Beobachtungen von Anfang an nach“, schrieb der Vorsitzende des „Schlesischen Ausschusses“ erbost, „will sich die Reichszentrale auf den Standpunkt stellen, dass sie die politische Behörde und ich ihr Angestellter sei. Unter diesen Umständen würde ich keinesfalls dieses Amt weiterführen.“ Im Juli setzte die „Reichszentrale“ unter Umgehung Lukascheks eine große Besprechung in Berlin an, zu der auch Carl Ulitzka eingeladen war. Im Anschluss an diese Konferenz machte die „Reichszentrale“ konkrete Anstalten, eine Zentralisierung der oberschlesischen Pressepropaganda in eigener Regie durchzuführen. Nun war auch beim Leiter der oberschlesischen „Zentralstelle“ im preußischen Innenministerium, Landrat Alfred von Bärensprung (DNVP), das Ende des Geduldsfadens erreicht. Am 26. Juli 1920 forderte er die Reichskanzlei unter Hinweis darauf, dass in erster Linie er bzw. „das Preußische Staatsministerium im Einvernehmen mit dem Reichskabinett“ in der oberschlesischen Politik ausschlaggebend waren, dringend auf, die „Reichszentrale für Heimatdienst […] anzuweisen, sich in Zukunft jeglicher Einmischung in die oberschlesische Politik und Propagandatätigkeit zu enthalten und sie zu belehren, dass sie lediglich die Auszahlung der für die Propaganda benötigten Gelder zu vermitteln“ habe. Die Beschwerde Bärensprungs löste eine weitere Chefbesprechung über die Organisation der Propaganda in Oberschlesien – seit Mitte April immerhin schon die dritte – aus, die am 3. August 1920 im Berliner Reichstagsgebäude stattfand. Zum wiederholten Male beschlossen die anwesenden Parteien, dass für die örtliche Propaganda in Oberschlesien allein Landrat Lukaschek zuständig sei, und dass sich die „Reichszentrale für Heimatdienst“ jedes unmittelbaren Eingriffes in die oberschlesischen Verhältnisse zu enthalten habe; ihr oblag lediglich die Kontrolle der bereitgestellten Finanzmittel, die Propagandaleitung vor Ort hingegen
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Vgl. Witt: Finanzierung, S. 66 f. Zum Schreiben Lukascheks vom 26.04.1920 und der anschließenden Berliner Besprechung vom 29. und 30.04.1920 siehe Hitze: Ulitzka, S. 289f.
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sollte künftig „von allen bürokratischen Fesseln möglichst befreit“ werden.35 Wie sich zeigen sollte, verhinderte nur der Ausbruch des Zweiten Polnischen Aufstandes Mitte August 1920, dass auch diese Vereinbarung binnen kürzester Zeit Makulatur wurde. Angesichts der oben beschriebenen Verhältnisse überrascht die These der polnischen Geschichtsschreibung, die polnische Seite sei im oberschlesischen Abstimmungskampf, „obwohl nominell gleichberechtigt, der deutschen technisch, materiell, organisatorisch und hinsichtlich ihres Personalstandes unterlegen“ gewesen.36 Eine solche Unterlegenheit lässt sich jedoch nicht belegen. Zwar hatte Deutschland in Oberschlesien unleugbare Vorteile, da sich nicht nur der niedere Verwaltungsapparat, allen voran das Schulwesen, nach wie vor in deutschen Händen befand, sondern auch die gesamte Industrie sowie ein Großteil der landwirtschaftlichen Betriebe. Hinzu kam als großes Plus die überwiegend deutsche Sicherheitspolizei (Sipo), die allerdings unter strenger alliierter Aufsicht und speziell unter französischem Oberbefehl stand.37 Demgegenüber verfügte die polnische Seite über das offensichtliche Wohlwollen der IK und eine offene Grenze nach Polen, die aufwendige geheimdienstliche Agenten- und Schmuggelaktivitäten, wie sie die Abteilung Spiecker durchzuführen hatte, weitgehend überflüssig machte sowie eine straff zentralistische und dementsprechend homogene Abstimmungsorganisation und eine zumindest gleichwertige finanzielle Ausstattung bzw. politische Unterstützung seitens der Warschauer Regierung.38 Hinzu kam der nicht zu unterschätzende zeitliche Vorsprung gegenüber den Deutschen. Die Wirren des Zweiten Polnischen Aufstandes sowie der sich zuspitzende Konflikt mit der IK und ihrem Präsidenten Le Rond im Spätsommer 1920 hatten vorübergehend die internen Differenzen im deutschen Propagandaapparat wenn auch nicht vollständig zum Verstummen gebracht, so doch zumindest in den Hintergrund gedrängt. Aber lange sollte diese Ruhe nicht währen. Anlass zu neuem Streit im deutschen Lager bot ausgerechnet die Verständigungsaktion 35 36
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Ebenda, S. 290–292. So Lesiuk, Wiesław: Plebiszit und Aufstände in Oberschlesien, in: „Wach auf, mein Herz, und denke“. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg 1740 bis heute, herausgegeben von der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch e. V. Berlin und dem Verein Schlesisches Institut Oppeln, Berlin/Oppeln 1995, S. 232–246, hier S. 237. Die Sipo zählte nach der Auflösung des Grenzschutzes knapp 3.500 Mann. Nach polnischen Angaben hatte die POW zur gleichen Zeit etwa 21.000 Mann unter Waffen; vgl. Karski: Abstimmungskampf, S. 139–141. Nach Karski: Korfanty, S. 208, erhielt Korfanty schon im Verlauf des Jahres 1919 monatlich fünf Millionen deutsche und vier Millionen polnische Mark allein aus staatlichen Mitteln; hinzu kamen zahllose private Spenden.
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mit dem polnischen Gegner, die von Carl Ulitzka angestoßen und vom Vertreter des Deutschen Bevollmächtigten für Oberschlesien, Roland Brauweiler, in Absprache mit dem Plebiszitkommissar Urbanek sowie dem Legationsrat im Auswärtigen Amt, von Moltke, offiziell zum Abschluss gebracht worden war.39 In ihr sah die „Reichszentrale für Heimatdienst“ in Berlin nun eine günstige Gelegenheit, sich ein für alle Mal als einzig maßgebliche Instanz innerhalb der deutschen Abstimmungsorganisation durchzusetzen. Bereits am 31. August 1920 sprach der offizielle Vertreter der „Reichszentrale“ beim „Schlesischen Ausschuss“, Mylius, im preußischen Innenministerium vor, um schwere Anschuldigungen gegen Lukaschek und den von ihm geleiteten Ausschuss zu erheben. Am 25. September legte Mylius nach, in dem er unter der dem Tarnmantel eines „Kassenprüfungsberichts“ politisch mit der Arbeit des „Schlesischen Ausschusses“ abrechnete. Er könne dem Finanzgebaren des Ausschusses keine Entlastung erteilen, da die finanzielle Geschäftsführung desselben „so große Missstände“ aufweise, dass „unter allen Umständen der Erfolg, welcher mit der Bereitstellung der Reichsmittel“ zu Propagandazwecken beabsichtigt gewesen sei, als sehr fraglich bezeichnet werden müsse. Aber nicht nur in der Geschäftsführung des „Schlesischen Ausschusses“ herrschten „Ungeregeltheit und Systemlosigkeit“, auch die „unmittelbare Propaganda“ sei „völlig bedeutungslos“, da „ihr der erforderliche klare prodeutsche Inhalt“ (!) fehle. Deutlich zeige sich dieser Sachverhalt, so Mylius, am Beispiel des Zentrums und seines oberschlesischen Vorsitzenden Ulitzka. Das Zentrum erhalte zwar erhebliche materielle Zuwendungen, aber dennoch habe „die Verständigungsaktion dieser Partei nicht verhindert“ werden können. Mylius schloss seinen Bericht mit der Feststellung, dass es erst durch die maßgeblich von Ulitzka und anderen betriebene Kompromisspolitik gegenüber Korfanty zur „Katastrophe“ gekommen sei. Nach deren Eintreten könne er eine weitere Mitzeichnung von Abhebungen aus dem Reservefonds nun nicht länger verantworten.40 In seiner Erwiderung auf den Mylius-Bericht führte der Leiter der deutschen Abstimmungspropaganda, Lukaschek, aus, für ihn sei offensichtlich, dass Mylius „im Auftrage der R.F.H. [Reichszentrale für Heimatdienst] eine politische Kontrolle auszuüben habe“, die in einer Überprüfung bestünde, „ob die Gelder auch in der richtigen, d.h. politisch richtigen Weise verausgabt“ würden. Ein solches Verhalten aber stünde in eklatantem Widerspruch zu den während der Konferenz im Berliner Reichstagsgebäude erst am 3. August 1920 getroffenen Vereinbarungen, nach denen lediglich dem Deutschen Bevollmächtigten eine politische Kontrolle der deutschen Propagandamaßnahmen 39 40
Vgl. Hitze: Ulitzka, S. 298–314. Ebenda, S. 338f.
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gestattet sei. Ausdrücklich verteidigte Lukaschek den Aufkauf verschiedener oberschlesischer Tageszeitungen und deren Übergabe vornehmlich an das Zentrum, zumal die Ansprüche des Reiches jederzeit, nicht zuletzt „durch die Auswahl der als Mittelsmänner auftretenden Persönlichkeiten, die über alle Zweifel erhaben sind“, gesichert seien. Abgesehen davon, dass sämtliche von Mylius gemachten Zahlenangaben falsch seien, habe er, Lukaschek, während seiner Tätigkeit einsehen müssen, dass es in Oberschlesien in Bezug auf die Organisation der Abstimmungspropaganda schlicht nicht möglich sei, bürokratisch zu verfahren. Unter diesen Umständen könne er sich einfach nicht länger des Eindruckes erwehren, „dass die R.F.H. absichtlich Sabotage-Politik gegenüber dem Schl. Ausschuss und damit letzten Endes gegenüber den oberschl. Interessen“ betreibe.41 Der Sabotage-Vorwurf Lukascheks war zwar hart, machte aber nichtsdestoweniger in zutreffender Weise deutlich, worum es der „Reichszentrale“ mit ihrer permanenten Störpolitik tatsächlich ging. Hier versuchten mitnichten kleinkarierte Buchhalter im Dschungel des Abstimmungskampfes für vermeintliche Ordnung zu sorgen; in dieser Auseinandersetzung tobte vielmehr hinter den Kulissen ein handfester Machtkampf um den entscheidenden politischen Einfluss in Oberschlesien vor und vor allem auch nach dem angesetzten Plebiszit. Die „Reichszentrale“ verkörperte den traditionellen Berliner Zentralismus ebenso wie den alten protestantisch-hakatistischen Geist des Ostmarkenvereins: Beiden gemeinsam aber war ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Erscheinungsformen des Politischen Katholizismus und speziell seiner in Oberschlesien gezeigten vermeintlichen „Polenfreundlichkeit“. Für die „Reichszentrale“ bedeutete ein vielversprechendes Eintreten für Deutschland in erster Linie die strikte Abgrenzung gegenüber allem „Polnischen“, ein stramm national ausgerichtetes politisches Denken, ein Bekenntnis zum Berliner Einheitsstaat sowie, damit verbunden, eine klare Absage an alle „ultramontanen“ und autonomistischen katholischen Selbstbehauptungsbestrebungen in Oberschlesien. Für diese aber standen das von Carl Ulitzka geführte Zentrum sowie die übrigen leitenden Persönlichkeiten vor Ort (Urbanek, Lukaschek, Kaschny und Spiecker), und es schien die besten Aussichten zu haben, sich in Oberschlesien auch nach der Abstimmung dauerhaft als dominierende politische Kraft behaupten zu können. Eine solche Entwicklung jedoch galt es für die „Reichszentrale“ unter allen Umständen zu verhindern, selbst wenn dies auf Kosten der Effizienz und Einheitlichkeit der deutschen Sache im Abstimmungsgebiet gehen sollte, und deshalb war auch Lukascheks 41
Ebenda, S. 339f.
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an sich böse Bezeichnung von der bewussten „Sabotage-Politik“ durchaus angebracht.42 Mylius selbst hatte in seinem Bericht den entscheidenden Hinweis auf diese kontraproduktive Strategie der „Reichszentrale“ mit dem entlarvenden Satz gegeben, die Existenz des Plebiszitkommissariats habe eine „große Schädigung der Vereinigten Verbände“ bewirkt, indem deren Tätigkeit durch das relativ unabhängige Agieren Urbaneks und Lukascheks „unterhöhlt“ worden sei. Die VVHO seien jedoch „die einzige wirkliche Propagandaorganisation“ im deutschen Sinne. Hervorgegangen aus der „Freien Vereinigung“ des Oppelner Handelskammersyndikus Walther von Stoephasius waren diese aber der propagandistische Arm der protestantisch-deutschnational eingestellten Richtung in Oberschlesien und standen daher durchaus in Opposition zu dem vom „Schlesischen Ausschuss“ respektive dem Zentrum favorisierten Agitationskonzept. Alle Versuche der VVHO, sämtliche deutsche Parteien, allen voran das Zentrum, in einer Art nationalem Frontverband zu vereinigen und sie dadurch auf die eigene politische Richtung festzulegen, scheiterten jedoch am vehementen Widerstand des Zentrums. Wenn Ulitzka, Kaschny und auch Lukaschek dennoch zum engeren Führungszirkel des für Schlesien zuständigen VHO gehörten, so stellte dies den umgekehrten Versuch dar, Einfluss auf die politische Ausrichtung der Vereinigten Verbände zu nehmen bzw. stets über deren beabsichtigte Vorgehensweise umfassend und direkt informiert zu sein. Von einer inhaltlichen Identifizierung der Zentrumsführung mit den Zielen und Methoden der VVHO aber kann keine Rede sein. So warnte der Generalsekretär der Katholischen Volkspartei (KVP), wie sich das Zentrum seit Dezember 1918 in Oberschlesien nannte,43 Franz Ehrhardt, die Reichsregierung bereits im Juli 1920 eindringlich davor, im Abstimmungsgebiet Personen schalten und walten zu lassen, „die Oberschlesien nicht sehr genau“ kennen würden und einen unangebrachten „Hurrapatriotismus“ verbreiteten: „Nur durch eine ruhige sachliche Agitation, die auch der polnischsprachigen Bevölkerung in vollstem Maße gerecht“ werde, so Ehrhardt, könne „es ermöglicht werden, dass Oberschlesien beim Deutschen Reiche“ bleibe. Hans Lukaschek wiederum hatte seinerseits angesichts der vorhandenen Spannungen alle Hände voll zu tun, um einen jederzeit möglichen offenen Eklat zu verhindern, der den internen Machtkampf innerhalb des deutschen Lagers an die Öffentlichkeit gebracht hätte.44
42 43 44
Ebenda, S. 340f. Vgl. ebenda, S. 183f. Ebenda, S. 341f.
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Anfang Oktober 1920 musste die „Reichszentrale“ dann endgültig einsehen, dass auch ihr offensiver Vorstoß vom Vormonat, die allein maßgebliche politische Kompetenz innerhalb der deutschen Abstimmungsorganisation zu erlangen, letztendlich gescheitert war. Die offiziellen Regierungsstellen Preußens und des Reiches vertrauten schließlich doch eher den Argumenten der handelnden Personen vor Ort als den aus ideologischen Motiven geborenen Ratschlägen sachfremder Berliner Bürokraten. Mitentscheidend für eine solche Haltung der Regierungsinstanzen war jedoch, wie die „Reichszentrale“ nicht grundlos vermutete, die einflussreiche Stellung des Zentrums als stärkste politische Kraft in Oberschlesien wie auch als Regierungspartei in Preußen und im Reich. Unter diesen Umständen sah sich die „Reichszentrale“ gezwungen, das aussichtslos gewordene Ringen mit dem „Schlesischen Ausschuss“ zu beenden und sich völlig aus der politischen Verantwortung in Oberschlesien zurückzuziehen. Dennoch beharrte sie weiterhin auf ihrem Standpunkt, dass die dort von der deutschen Seite eingeschlagene Richtung „zwangsläufig zum Verluste Oberschlesiens für Deutschland“ führen müsse.45 Ein wesentlicher Kritikpunkt der Reichszentrale am Gebaren der vor Ort Verantwortlichen war der Aufkauf bzw. die Neugründung oberschlesischer Presseerzeugnisse mit Kosten in Millionenhöhe gewesen. Dabei hatte auch in diesem Fall die polnische Seite unter Wojciech Korfanty den Propagandawettlauf eröffnet.46 Die deutsche Seite musste auf die publizistische Offensive Korfantys entsprechend reagieren und tat dies ihrerseits mit zahlreichen Neugründungen, die allerdings jeweils eng an die hinter diesen stehenden Verbände und Organisationen gebunden blieben, sodass eine konzertierte Pressearbeit wie im polnischen Lager faktisch unmöglich war.47 Die wichtigsten deutschen Zeitungsneugründungen waren zweifelsohne der „Schwarze Adler“ in Königshütte – als Gegenstück zum „Weißen Adler“ Korfantys – sowie das satirische Wochenblatt „Pieron“. Der Pressestelle Spiecker in Breslau gelang es, für diese deutsche Konkurrenz zu Korfantys „Kocynder“ so ziemlich alles, was in Deutschland auf dem Gebiet der Satire Rang und Namen hatte, zu verpflichten. Für die redaktionelle Gestaltung wurde kein geringerer als 45
46 47
Ebenda, S. 342. Die Deutung Witts, in: Zur Finanzierung des Abstimmungskampfes, S. 66, die „Reichszentrale“ habe sich im Herbst 1920 lediglich deshalb aus der Propagandatätigkeit in Oberschlesien zurückgezogen, weil die an ihre Stelle tretenden „privaten“ Organisationen bei ihrer Tätigkeit „sehr viel weniger innen- und außenpolitische Rücksicht nehmen mussten als die offizielle Reichszentrale für Heimatdienst“, ist angesichts der vorliegenden Quellen kaum haltbar. Hitze: Ulitzka, S. 279f. Zur Struktur aber auch zur Zersplitterung der deutschen Presse im Abstimmungskampf vgl. ausführlich Vogel: Deutsche Presse, S. 80–105 bzw. 119–139.
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Kurt Tucholsky gewonnen; für die Karikaturen zeichneten prominente Berliner Künstler wie Heinrich Zille, Paul Halke, Willi Steinert, Arthur Johnson oder Hans Lindloff verantwortlich. Dadurch atmete der „Pieron“ oftmals eine Atmosphäre schärfster „Luft aus Großstadtgassen mit ihrer schonungslos bitteren Satire, draufgängerischem Spott, aber auch zynischer Weltweisheit“, verbunden mit der „Weckung von erotischen, revolutionären und sentimentalen Instinkten“ jeder Art.48 Welch’ Wunder, dass das Zentrum in Oberschlesien gegen „den bösen Geist, den man [da] zu Hilfe gerufen“ hatte,49 Sturm lief. So brillant die Idee eines deutschen Gegenstückes zum „Kocynder“ auch war, so krankte jener doch an dem gleichen Grundübel wie viele andere aus dem Reich nach Oberschlesien importierte Propagandaerzeugnisse: sie trafen, so sehr sie sich auch bemühten, nicht den Lebensnerv der zweisprachigen Bevölkerung und erzielten daher auch nur eine begrenzte Wirkung.50 Immerhin zeigt das Engagement solch politisch „links“ stehender Künstler wie Kurt Tucholsky oder Heinrich Zille, wie sehr die Erhaltung eines deutschen Oberschlesiens als nationales Anliegen betrachtet wurde, das nahezu alle Parteien und gesellschaftlichen Kräfte im Reich einte. Die Darstellung der deutschen Abstimmungsstrukturen in Oberschlesien kann aber nicht abgeschlossen werden, ohne noch einen kurzen Blick auf die dritte, wenngleich kleinste und auf das engste mit der Autonomiefrage verknüpfte Richtung zu werfen: die Agitation des „Bundes der Oberschlesier“ (BdO). Der BdO vertrat bis zum Plebiszit im März 1921 in seinem zweisprachigen, von Alojzy Pronobis herausgegebenen Organ „Der Bund – Związek“ 48 49 50
So Vogel ebd. S. 130. Ebd. Vgl. Karski: Korfanty, S. 231–234. Mit der von Berlin aus initiierten Abstimmungspropaganda ging August Scholtis in seinem „Ostwind“ hart ins Gericht: „Man sah die oberschlesische Frage vor lauter Beamten und Schornsteinen nicht. […] Ganz abgesehen davon, daß die meisten Zuhörer gar nicht wußten, was das Wort Kultur bedeutete, ferner was das Wort Industrie für einen Sinn hatte, phrasierten die Deutschen mit den Schönheiten des deutschen Vaterlandes, mit den Schönheiten des Rheines oder der bayerischen Alpen, kurz mit Sachen, die der Bauer nie im Leben vernommen hatte, die ihn vielleicht belustigen konnten, die aber seinem eigentlichen Herkommen, der endlichen Verteilung des riesengroßen Landbesitzes der feudalen deutschen Herren, durchaus nicht entsprachen.[…] Man erzählte von rauchenden Schornsteinen. Von der deutschen Kraft. […] Man wies hin auf die Schulen, die herrlichen Bauten in den Städten und vergaß, daß in den Städten die Deutschen ihre eigenen Errungenschaften genossen. Daß für den Kumpel und Bauern keine Schulen und Bequemlichkeiten da waren. – Man redete. Redete immer vorbei an den Wünschen dieses Volkes. […] Berlin vergaß vollends die Verquickung der nationalen Sache mit der sozialen durch die polnischen Agitatoren […] Berlin vergaß vollends den realen Sinn der Menschen.“ Scholtis, August: Ostwind. Roman. Mit einem Nachwort von H. Lipinsky-Gottersdorf, München 1986, S. 227–229.
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konsequent die Freistaatsoption, obwohl diese weder zur Abstimmung stand, geschweige denn eine Chance hatte, von der Entente auch nur als theoretische Möglichkeit der Lösung der oberschlesischen Frage in Betracht gezogen zu werden. Mit einer recht hohen Auflage von 40.000 Exemplaren war der „Bund“ bemüht, gleichermaßen auf Abstand zu Deutschland und Polen zu gehen und seinen eigenen, gemäßigt „katholischen“ Standpunkt zu wahren.51 In der Folge hielten die Polen „die Zeitung für deutsch, die Deutschen umgekehrt für polnisch.“52 Einen besseren Beweis für seine Unabhängigkeit konnte sich der BdO gar nicht wünschen. Erst unmittelbar vor der Abstimmung, nach einer Informationsreise der BdO-Führung nach Warschau und nach Berlin sowie einem überaus herzlichen Empfang bei Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum), empfahl der BdO seinen Anhängern die Entscheidung für Deutschland. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass der BdO der deutschen Option die ganze Zeit über nähergestanden hatte als der polnischen, auch wenn keine direkten Verbindungen zur deutschen Seite bzw. größere finanzielle Zuwendungen durch dieselbe nachzuweisen sind.53 Nach dem Plebiszit vom 20. März mit seinem für Deutschland insgesamt günstigen Ergebnis blieben die jeweiligen Abstimmungsapparate zunächst bestehen und waren darum bemüht, den Ausgang der Volksabstimmung nach innen, vor allem aber auch gegenüber der internationalen Öffentlichkeit als eigenen Erfolg darzustellen. Gleichzeitig bereiteten sich beide Seiten intern auf die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts um die endgültige Grenzziehung in Oberschlesien vor. Während in Deutschland nach außen hin ein dem eigenen Ansehen durchaus förderlicher Friedenskurs verfolgt wurde, steuerte die Reichsregierung gegen den ausdrücklichen Widerstand Preußens im Verborgenen in die genau entgegengesetzte Richtung. In Verbindung mit dem Bemühen des Kabinetts Fehrenbach um die Bildung der „Schwarzen Reichswehr“54 war es vornehmlich Reichsfinanzminister Joseph Wirth, der über seinen „große[n] Gewährsmann“ Carl Spiecker55 und unter Umgehung des geltenden Haushaltsrechts erhebliche Mittel in den Aufbau eines funktionsfähigen deutschen „Selbstschutzes“ in Oberschlesien fließen
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Zur Agitation des BdO in der Abstimmungszeit vgl. Vogel: Deutsche Presse, S. 112f. Ebenda, S. 113. Hitze: Ulitzka, S. 288f. Küppers: Wirth, S. 145. Vgl. zur maßgeblichen Rolle Wirths bei Planung, Aufbau und Finanzierung der „Schwarzen Reichswehr“, die ausdrücklich als „Wehrinstrument“ gegen Polen konzipiert war, auch Hörster-Philipps, Ulrike: Joseph Wirth 1879–1956. Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 1998, S. 86–93. Küppers: Wirth, S. 147.
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ließ. Diese Bemühungen Spieckers56 entbehrten angesichts des weiteren Ausbaus der polnischen Geheimorganisationen in Oberschlesien sowie nie verstummender Gerüchte über einen nach dem Plebiszit erfolgenden neuerlichen polnischen „Putsch“ nicht einer gewissen Berechtigung, zumal man auf deutscher Seite langsam jegliches Vertrauen in die IK verloren hatte. Das Einsickern zahlreicher „freiwilliger Selbstschutzkämpfer“ sowie der anhaltende Waffenschmuggel in den Abstimmungsbezirk bargen jedoch die erhebliche Gefahr einer vorzeitigen Entdeckung durch die französischen Militärinstanzen und damit einer moralischen und politischen Diskreditierung des Reiches. In dieser politisch hochsensiblen Phase drohten von einer solchen Entwicklung unabsehbare und vor allem unangenehme Konsequenzen. Daher flehte der Deutsche Bevollmächtigte für Oberschlesien, Fürst Hatzfeldt, die zuständigen Stellen in Berlin förmlich an, den weiteren Aufbau geheimer militärischer Verbände unverzüglich zu unterbinden.57 Der deutsche Vertreter des Reiches stieß mit diesem Ansinnen in Berlin allerdings auf taube Ohren. Trotz der geheimen Anstrengungen der Reichsregierung waren die Deutschen unmittelbar vor und nach dem Ausbruch des Dritten Polnischen Aufstandes in Oberschlesien Anfang Mai 1921 der polnischen Seite militärisch hoffnungslos unterlegen. Inoffiziell, aber von enormer Bedeutung war schließlich während des Dritten Aufstandes und nach erfolgter Auflösung des deutschen Plebiszitkommissariats der sogenannte „Zwölferausschuss“ in Oberglogau. Diesem gehörten – wie der Name schon sagt – insgesamt zwölf Vertreter der deutschen Parteien und Gewerkschaften Oberschlesiens unter dem Vorsitz von Carl Ulitzka, dem Führer der stärksten Partei Oberschlesiens, der KVP, an. Stellvertreter war der jüdische Sanitätsrat und DDP-Politiker Max Bloch. Der Zwölferausschuss fungierte als Repräsentant der deutschgesinnten Bevölkerung Oberschlesiens gegenüber der Reichsregierung und der IK und besaß angesichts eines völligen Machtvakuums in den von Deutschen kontrollierten Bezirken des Abstimmungsgebietes eingeschränkte administrative Vollmachten. Er, und nicht etwa der Deutsche Bevollmächtigte (ab 12. Mai 1921 Hans Graf Praschma), führte, von der IK akzeptiert, direkte Waffenstillstandsverhandlungen mit den alliierten Mächten und stoppte den Vormarsch der Freikorps auf das oberschlesische Industriegebiet, wo es unweigerlich zu Zusammenstößen mit den französischen Streitkräften und damit zum Krieg mit Frankreich gekommen wäre. Der militärische Führer des Selbstschutzes, 56 57
Vogel: Deutsche Presse: S. 102, bezeichnet unter Berufung auf Gespräche mit Spiecker die „Organisation des deutschen Selbstschutzes und politischen Abwehrdienstes“ ausdrücklich als eine von dessen Hauptaufgaben. Hitze: Ulitzka, S. 372.
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General Karl Hoefer, ordnete sich ausdrücklich der Befehlsgewalt des zivilen Zwölferausschusses unter, der bis zum Abschluss des Räumungsplanes im Abstimmungsgebiet Anfang Juli 1921 amtierte.58 Zieht man eine vorläufige Bilanz, so ergibt sich folgendes Bild bezüglich der deutschen Abstimmungsstrukturen in Oberschlesien: Die deutschen Verwaltungsakten dokumentieren ein frappierendes Durch- und Gegeneinander, das keineswegs allein von einer gewissen Überbürokratisierung herrührte, sondern auch von unüberbrückbaren ideologischen Differenzen innerhalb der verantwortlichen Instanzen und Verbände. So stand in der grundsätzlichen Frage der oberschlesischen Autonomie die Reichsregierung der um die staatliche Einheit des Landes fürchtenden Preußischen Staatsregierung gegenüber, die Sozialdemokratie misstraute dem oberschlesischen „Zentrumsklerikalismus“, die konservativen altpreußisch-protestantischen Machteliten in den zuständigen Berliner Ministerien beider Administrationen wiederum verdächtigten das Zentrum des latenten oder sogar offenen Landesverrats zugunsten Polens. Hinter den Kulissen tobte ein politischer Meinungsstreit, in dem es nur vordergründig um die bessere Strategie zur Abwehr der polnischen Ansprüche auf Oberschlesien ging. Mindestens ebenso sehr rangen hier verschiedene parteipolitische Richtungen um die Herrschaft in einem deutschen Oberschlesien nach dem Plebiszit, über dessen ökonomisches und politisches Gewicht innerhalb Preußens und des Reiches sich alle Beteiligten absolut im Klaren waren: Monarchismus, Zentralismus, Nationalismus und das starre Konzept einer aggressiven Germanisierung prallten auf die Vorstellungen von einem föderalen deutschen Staatsaufbau und darin einem über Verfassung, geschichtliche Tradition und soziale Bindungen integrierten, kulturell autonomen, demokratischen, sozial modernen und zugleich kirchlich-konfessionell geprägten sowie – und das war in den Augen der Gegner der gefährlichste Punkt – selbstverwalteten Oberschlesien. Die Auseinandersetzungen gipfelten in verschwundenen Geldern, gefälschten Bilanzen, paramilitärischen Abenteuern und andauernden massiven Interventionen von landfremder Seite in den Aufbau einer wirkungsvollen deutschen Abstimmungspropaganda. Der Ausgang der oberschlesischen Volksabstimmung bewies am Ende, dass die Konzeption einer weitgehend „entnationalisierten“, auf die Wahrung kultureller, sprachlicher und konfessioneller Identität sowie die nachhaltige Besserung der sozialen Verhältnisse abgestellten Agitation deutlich erfolgreicher war als die gleichermaßen abstrakte wie holzschnittartige, zum Teil scharf chauvinistische Propaganda der Berliner Zentralstellen. 58
Vgl. Hitze: Ulitzka, S. 395–433, zum Zwölferausschuss bes. S. 413–416.
Polnische konspirative und paramilitärische Strukturen während des Abstimmungskampfes Grzegorz Bębnik Die Diskussion der Titelthematik sollte natürlich ganz am Anfang beginnen, nämlich Ende 1918 und bei den damit verbundenen Hoffnungen, die im polnischen Lager in Oberschlesien genährt wurden (in diesen Überlegungen identisch mit den Grenzen des damaligen Regierungsbezirks Oppeln und ab Oktober 1919 mit denjenigen der Provinz Oberschlesien). Der Erfolg des Großpolnischen Aufstandes im Dezember 1918, bei dem die ehemalige preußische Provinz Posen (oder zumindest ein bedeutender Teil davon) an die Republik Polen angeschlossen wurde, belebte die propolnische Stimmung und weckte Hoffnungen auf einen ähnlichen Verlauf der Ereignisse in diesem Teil der damaligen Provinz Schlesien. Auslöser dafür war das polnische Heer, deren Vorposten sich an der nahen Grenze – also jenseits der Flüsse Brinitz (Brynica), Przemsa (Przemsza) und Weichsel (Wisła) – befanden. Die Nachrichten von der Friedenskonferenz in Versailles waren ermutigend; man ging allgemein davon aus, dass die Region – oder zumindest der innerhalb der Grenzen des genannten Regierungsbezirks liegende Teil – gemäß den vorangegangenen Planungen bedingungslos an Polen angegliedert werden würde, ohne dass es zu Teilungen oder gar einer Volksabstimmung kommen würde. Diese Überzeugung war unter anderem der Grund dafür, dass man sich, wie in der ehemaligen Provinz Posen, nicht zum bewaffneten Kampf entschloss, sondern auf diplomatische Lösungen hoffte. Diese sollten – davon ging man fest aus – selbstverständlich alle polnischen Forderungen umfassen und innerhalb der nächsten Tage gefunden werden. Umso überraschender, wenn nicht gar bitterer, fielen die Beschlüsse der Pariser Friedenskonferenz im Juni aus. Für Oberschlesien wurde eine Volksabstimmung beschlossen, wozu sowohl deutsche Proteste als auch das traditionelle britische Bestreben, das kontinentale Machtgleichgewicht zu wahren, beigetragen hatten. Es war nicht mehr möglich, die verlorene Zeit aufzuholen. Die vorübergehende militärische und politische Schwäche der jungen Weimarer Republik, von der die Region Großpolen zuvor profitiert hatte, gehörte der Vergangenheit an, und unter den neuen Bedingungen leistete ein bewaffneter Aufstand keine Garantie mehr für einen Erfolg. Im Gegenteil, er konnte nun als eine Negierung der feierlich angenommenen Bestimmungen der Friedenskonferenz interpretiert werden.
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Dies bedeutete jedoch nicht, dass der Aufbau paramilitärischer Strukturen gänzlich aufgegeben wurde, da diese ja sämtliche nichtpolitische Aktivitäten, einschließlich des bewaffneten Kampfes und militanter Aktivitäten, unterstützen konnten. Entsprechende Aufgaben sollten von der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens (Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, POW GŚl) wahrgenommen werden. Der Name selbst erinnert an die Polnische Militärorganisation (Polska Organizacja Wojskowa, POW), eine von Józef Piłsudski zu Beginn des Ersten Weltkrieges gegründete Untergrundorganisation. Nach Auffassung von Mieczysław Wrzosek zählte dieser zu den Inspiratoren für die Gründung der Polnischen Militärorganisation Oberschlesien, wobei etwaige Zusammenhänge noch nicht vollständig geklärt sind (was Paweł Parys mit dem knappen Satz „Es gibt widersprüchliche Berichte über die Gründung der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens“ ausdrückt).1 So ist Ryszard Kaczmarek in seiner jüngsten grundlegenden Monografie über die Aufstände der Ansicht, dass der Oberste Volksrat in Posen (Poznań), auf dessen Initiative hin Anfang 1919 die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens gegründet wurde, die erste Geige gespielt hat.2 Andererseits hält Wrzosek die „Piłsudski“Spur insofern für glaubwürdig, als dass die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens von Anfang an eng mit den Warschauer Zentren in Verbindung stand, und Zygmunt Wiza, der Initiator ihrer Gründung, wohl kaum das Vertrauen von Kazimierz Czapla, dem Leiter des Beuthener Unterkommissariats des Obersten Volksrates, genoss (obwohl beide aus Provinz Posen stammten).3 Dieses Unterkommissariat stand wiederum unter dem überwältigenden 1 Noch 1977 schrieb Wacław Ryżewski, dass „die Frage der Bewertung dieser Organisation, insbesondere ihrer Ursprünge, ihres ideologischen Gesichts und ihrer Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Aufstände, eines der am wenigsten erklärten und gleichzeitig kompliziertesten Forschungsprobleme ist, um welches sich viele Missverständnisse angesammelt haben […].“ Ryżewski, Wacław: Trzecie powstanie śląskie. Geneza i przebieg działań bojowych, Warszawa 1977, S. 39. An gleicher Stelle macht Ryżewski auf ein Grundproblem aufmerksam, nämlich den Mangel an Quellen, sowie grundlegende Widersprüche in den vorhandenen Quellen oder die Deutung der sich überschneidenden ideologischen Auseinandersetzungen in der Zwischenkriegszeit. Siehe auch: Parys, Paweł: Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. 1: I powstanie śląskie sierpień 1919, Katowice 2019, S. 130. 2 Kaczmarek, Ryszard: Powstania śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polsko-niemiecka, Kraków 2019, S. 105. 3 Wrzosek, Mieczysław: Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, in: Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982, S. 414. Die Angelegenheit wurde noch durch andere Umstände verkompliziert; Wiza sollte in Oberschlesien als Abgesandter des Posener Obersten Volksrates auftreten. Iwaszkiewicz, Witold: Wiza Zygmunt, in: Hawranek, Franciszek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 440. Möglicherweise war das, was uns heute als Streit zwischen „Piłsudski-Anhängern“ und „Posenern“ (oder, wenn man
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Einfluss von Wojciech Korfanty, der sich zu dieser Zeit in Posen aufhielt und an der Arbeit des Posener Obersten Volksrates beteiligt war; es überrascht daher nicht, dass die Beuthener Einrichtung den politischen Visionen des Posener Zentrums und von Korfanty selbst folgte. Hauptmotiv dafür war, eine offene militärische Konfrontation zu vermeiden und eine diplomatische Lösung für das Schicksal Oberschlesiens zu finden, die zu diesem Zeitpunkt nicht nur möglich, sondern unvermeidlich schien. Abgesehen von diesen nicht mehr aufzuklärenden Anfängen ist festzustellen, dass die im Entstehen begriffene Organisation in der vorteilhaften Lage war, sich auf bestimmte, bereits bestehende Strukturen in der Region stützen zu können. Bereits 1895 war in Beuthen (Bytom) das erste oberschlesische „Nest“ des Turnvereins „Sokół“ (Falke) gegründet worden, eine durch und durch patriotische und de facto paramilitärische Organisation. Aus ihren Kreisen kam im Oktober 1918, also noch vor dem Waffenstillstand, der Anstoß zur Gründung der „Bürgergarde für Oberschlesien“ (Straż Obywatelska dla Górnego Śląska), deren Strukturen sich exakt an denen des „Sokół“ orientierten. Da der „Sokół“ unter dem überwältigenden Einfluss des nationaldemokratischen Lagers (Nationaldemokraten) stand, musste auch die Bürgergarde eben diesem ausgesetzt sein. Die Initiative stieß schnell auf deutsche Gegenwehr und wurde bereits in ihren Anfängen niedergeschlagen. Die weitere Arbeit stützte sich daher auf legal tätige Militärvereine, eine Organisationsform, die in Opposition zu den deutschen Kriegervereinen geschaffen wurde, obwohl sie sich explizit an deren Modell orientierte. Die Befürchtung, dass das im Konflikt mit den Anhängern des „Kommandanten“ (gemeint ist Piłsudski) befindliche Lager der Nationaldemokratie die Kontrolle über den Kern der bewaffneten Organisation übernehmen wollte, kann ein zusätzlicher Faktor gewesen sein, der die Piłsudski-nahen Kreise dazu veranlasste, an der Schaffung von Strukturen der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens zu arbeiten. Ryżewski selbst schreibt vorsichtig über die Konkurrenz zwischen den Zentren in Posen und Warschau, ohne die Überlegenheit des einen oder des anderen zu werten.4 Wie bereits erwähnt, gehen die Anfänge der Polnischen Militärorganisation auf Januar 1919 zurück, als Wiza, der aus Posen nach Beuthen kam, Józef Dreyza, dem Leiter des oberschlesischen Bezirks „Sokol“, Pläne für die Gründung einer geheimen Kampforganisation vorlegte. Die ergriffenen Maßnahmen führten zur Gründung des Haupt-Exekutivkomitees der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens unter der Leitung von Józef Grzegorzek. Nach Angaben von Mieczysław Wrzosek soll das erste Treffen bereits am noch weitergeht – den Korfanty-Anhängern) erscheint, ursprünglich ein eher persönlicher Streit. 4 Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 41.
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11. Februar in Beuthen stattgefunden haben, wahrscheinlich unter Beteiligung einiger von Grzegorzek ernannter Bezirkskommandanten, die hauptsächlich aus dem „Sokol“ rekrutiert wurden. Soweit wir wissen, wurden für die Kreise Falkenberg (Niemodlin), Grottkau (Grodków), Neisse (Nysa), Leobschütz (Głubczyce), Kreuzburg (Kluczbork) und Rosenberg (Olesno) keine Kommandanten ernannt, was an sich schon ein Beleg für die damalige Ausdehnung der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens ist.5 Man ging davon aus, dass jeder Kreis in der Lage sein würde, eine Einheit in Regimentsstärke zu bilden; die einzelnen Gemeinden sollten Kompanien organisieren, um diese später zu Bataillonen zusammenfassen zu können. Dementsprechend wurde großer Wert auf die Beschaffung von Waffen, Munition und Ausrüstung gelegt, hauptsächlich aus den Händen revoltierender deutscher Soldaten. Nimmt man den Bewaffnungszustand der aufständischen Einheiten im Jahr 1919 als Indikator, so hat diese Aktion eher keinen spektakulären Erfolg gebracht. Gewinnbringender verlief dagegen die intensive Personaloffensive, die vor allem auf Grundlage bereits aktiver polnischer Organisationen, in erster Linie des „Sokół“, aber auch – zumindest theoretisch – kultureller oder bildungspolitischer Vereine betrieben wurde. Dank dieser Tatsache zählte die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens im April 1919 etwas mehr als 10.000 vereidigte Kämpfer, von denen jedoch nur jeder Fünfte mit einem Gewehr ausgestattet werden konnte.6 Trotz dieser offensichtlichen Mängel fasste das Exekutivkomitee im Rahmen seiner Sitzung vom 12. April 1919 in Beuthen den Beschluss, den Aufstand innerhalb von 10 Tagen, d.h. am 22. April (laut Ryszard Kaczmarek am 20. April) zu starten. Offensichtlich stand dieses Datum im Zusammenhang mit den aus Frankreich eintreffenden Transporten der Haller-Armee, von der man fälschlicherweise annahm, dass sie mehr oder weniger spontan in Oberschlesien einmarschieren und die Region der Republik Polen manu militari anschließen würde. Diese Entscheidung wurde von Korfanty überstimmt, der dabei von der Armeeführung aus der Provinz Posen unterstützt wurde; angesichts der laufenden Friedensverhandlungen in Paris hätte – so die Annahme – ein solches Vorgehen die polnische Position nicht gestärkt, sondern eher geschwächt. Unter anderen Bedingungen als Ende des Jahres 1918 war es auch schwierig, mit einer Wiederholung des Erfolgs des Posener Aufstandes zu rechnen.7 In der Zwischenzeit bildete sich innerhalb der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens ein Phänomen der Doppelherrschaft heraus, verkörpert durch eine konkurrierende Dispositionszentrale, nämlich das Militärdezernat 5 Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa, S. 414. 6 Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 112. 7 Ebenda, S. 115–116; Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa, S. 416.
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(auch bekannt als Abteilung für militärische Angelegenheiten) im Unterkommissariat des Obersten Volksrates, das von dem „Militärdezernenten“ Józef Dreyza angeführt wurde. Infolge des immer wirkungsvolleren Widerstands der deutschen Militär- und Polizeidienste wurde der Sitz des Dezernats außerhalb deren Reichweite nach Sosnowitz (Sosnowiec) verlegt; etwa zur gleichen Zeit beschloss die Mehrheit der Mitglieder des Exekutivkomitees, auf das Gebiet der Republik Polen in die im Teschener Schlesien gelegenen Flüchtlingslager in Petrowitz (Piotrowice) und Schwarzwasser (Strumień) umzuziehen. Aus nachvollziehbaren Gründen waren weder dieser Dualismus noch die räumliche Entfernung der beiden Zentren voneinander einer effizienten Verwaltung der Organisation förderlich, stattdessen führten sie zu Missverständnissen aller Art. All dies muss nicht nur in den niederen Organisationseinheiten ein Gefühl der Ungeduld und der wachsenden Frustration ausgelöst haben. In der Literatur ging man lange Zeit davon aus, dass der sogenannte Rosenberger Aufstand ein Ergebnis dieses Zustands war. Er brach am 7. Juni auf Initiative lokaler polnischer Aktivisten im Kreis Rosenberg aus, die wohl darauf hofften, den Einzug polnischer Truppen von der nahen Grenze in das Kreisgebiet provozieren und dieses in der Folge in die Republik Polen eingliedern zu können, um somit vollendete Tatsache zu schaffen.8 Es scheint jedoch, als hätten wir es hier eher mit einer Ablenkungsaktion zu tun, angeregt vom polnischen militärischen Geheimdienst (ab Mai 1919 Abteilung II des Generalstabs genannt), mit dem Nebeneffekt, dringend benötigte Waffen zu beschaffen. Das Thema ist in der Tat voller Unklarheiten jeglicher Art.9 Beeinflusst von der vorherrschenden Stimmung und den beunruhigenden Nachrichten von der Pariser Friedenskonferenz beschlossen Dreyza und sein Dezernat, auf eigene Faust (d.h. ohne Zustimmung des Exekutivkomitees) zu handeln und legten als neuen Termin für den Aufstand die Nacht vom 22. auf
8 Das von Franciszek Hawranek skizzierte Bild des Rosenberger Aufstandes zeigt also auf einer Mikroebene die Herausforderungen, denen sich der Aufstand im gesamten Regierungsbezirk Oppeln gegenübersah, d.h. erstens der drastische Mangel an Waffen und zweitens die fehlenden Aussichten auf ein Eingreifen der polnischen Truppen. Dies wären die wichtigsten, wenn nicht sogar die einzigen Faktoren für das Scheitern der gesamten Aktion gewesen. Hawranek, Franciszek: Powstanie oleskie 1919, in: ders. u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 437. Ryszard Kaczmarek hingegen, der den neuesten Forschungstand zu den Ursachen dieses „Aufstandes“ vorstellt, führt den Misserfolg auf die mangelnde Koordinierung der Aktivitäten innerhalb der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens selbst sowie auf die Aktionen der militärischen Geheimdienstler der Polnischen Armee zurück, die ihrer eigenen Logik folgten. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 116–117. 9 Siehe dazu: Jagieła, Przemysław: Powstanie oleskie, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. 1, S. 246–251.
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den 23. Juni fest.10 Auch dieses Mal konnte das Vorhaben nur durch das energische Eingreifen Korfantys verhindert werden, der sich einerseits stark auf diplomatisches Handeln verließ, andererseits aber auch um den blassen Charakter der paramilitärischen Strukturen im Vergleich zur Reichswehr wusste. Die Befehle zur Absage der Militäraktionen gingen jedoch nicht überall rechtzeitig ein, sodass z.B. der Aufstand in Cosel (Koźle) von den Deutschen schnell niedergeschlagen wurde, was gleichzeitig zur Aufdeckung der lokalen Strukturen der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens führte.11 Für Korfanty selbst war dieser zweite, diesmal im allerletzten Moment vereitelte Versuch, auf eine bewaffnete Beilegung des oberschlesischen Konflikts zu setzen (mit unbekannten Folgen für die polnische Seite), ein deutliches Warnsignal. Da er merkte, dass ihm die Kontrolle aus den Händen zu gleiten drohte, beschloss er, ein untergeordnetes Hauptkommando der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens einzurichten, das von Alfons Zgrzebniok, einem ehemaligen Leutnant des kaiserlichen Heeres, geleitet wurde. Gleichzeitig wurde nach der vorausgegangenen Neutralisierung von Dreyza (ohne jedoch sein Dezernat aufzulösen) die Liquidierung des Exekutivkomitees angeordnet, jedoch nicht durchgeführt; der Dualismus innerhalb der Machtstrukturen der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens ging somit in einen Trialismus über.12 Von da an konkurrierten drei verschiedene Zentren um den Einfluss in der Organisation (die recht weit voneinander entfernt lagen – in Beuthen, Sosnowitz und Petrowitz, später Schwarzwasser), was sich während des Ersten Aufstandes in fataler Weise rächen sollte. Die Militärorganisation Oberschlesiens arbeitete natürlich nicht in einem organisatorischen Vakuum. Wir haben bereits ihre Zugehörigkeit zu den Zentren Posen (vor allem das Hauptquartier der Posener Armee) und Warschau (bisher eher im Hintergrund) erwähnt. Im Frühjahr 1919 kam es hier 10
11 12
Józef Grzegorzek beschreibt malerisch den oben erwähnten Druck der Gemeinschaft: „Indessen erwarteten die Kreiskommandanten und einige Bataillonskommandanten, als sie vergeblich das Exekutivkomitee stürmten, um endlich eine Lösung für den Aufstand herbeizuführen, mehr Verständnis von Dreyza. Zu diesem Zweck begannen sie, nach Sosnowitz zu reisen und Dreyza den Kopf »zu waschen«“. Grzegorzek, Józef: Pierwsze powstanie śląskie 1919 r. w zarysie, Katowice 1935, S. 135. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 118–119. Ebenda, S. 119–120 und 143; Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa, S. 417; ders.: Dowództwo Główne Polskiej Organizacji Wojskowej Górnego Śląska (DG), in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 98–99. Auch wenn das militärische Dezernat praktisch obsolet war, belasteten die Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Stab von Zgrzebniok und dem Exekutivkomitee die Tätigkeit der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens enorm. Den Standpunkt des Exekutivkomitees legt Józef Grzegorzek dar, siehe: ders.: Pierwsze powstanie, S. 141–148, der Standpunkt des Hauptkommandos ist in der Arbeit von Jan Ludyga-Laskowski nachzulesen, siehe ders.: Zarys historii trzech powstań śląskich 1919–1920–1921, Warszawa-Wrocław 1973, S. 92–93.
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zu einer radikalen Veränderung, als die Organisation einfach der Abteilung II unterstellt wurde. Ende Juni jedoch wurde die Aufsicht über sie vom Stab der neu geschaffenen Südwestfront der polnischen Armee unter der Leitung von General Józef Haller übernommen. Dies geschah trotz der Proteste des Exekutivkomitees, das sich weigerte, sich Haller und damit dem Warschauer Kommando der polnischen Armee unterzuordnen. Diese Episode stellte in der Tat einen weiteren Zwischenfall im Konflikt zwischen Posen und Warschau (auch bekannt als Nationaldemokraten gegen Piłsudski-Anhänger) dar.13 Tabelle 19.1 Stand der Kräfte der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens in verschiedenen Zeiträumen des Jahres 1919
Monat
Mitgliederzahl
Ausrüstung Gewehre Maschinengewehre
März April Mai
5.020 10.510 13.992
920 2.362 3.813
August
23.225
3.788
Kurzwaffen Handgranaten
keine Angaben 220 14 2.312 21 keine Angaben 34 2.523
180 910 1.466 3.685
Zusammengestellt nach Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 50.
Daher verwundert es nicht, dass der Ausbruch des Ersten Aufstandes bei nüchterner Betrachtung das Ergebnis einer Kombination aus verschiedenen Missverständnissen, Kommunikationsfehlern und partikularistischen Ambitionen bestimmter enger Kreise oder Einzelpersonen gewesen ist. Es stimmt, dass die Entscheidung, einen Waffengang zu beginnen, in dem oben erwähnten Lager in Petrowitz getroffen wurde; ausschlaggebend hierfür waren allerdings Personen, die sich außerhalb der genannten Zirkel befanden, wobei neben den Zuständigkeiten auch die Existenz des Hauptkommandos völlig außer Acht gelassen wurde. Bereits am 11. August eröffneten die Kreiskommandanten unter der Führung von Józef Grzegorzek im Rahmen eines Treffens in Beuthen de facto eine Front gegenüber dem Hauptkommando und schickten ihr Oberhaupt mit einer doppelten Aufgabe nach Schwarzwasser: erstens, einen Modus vivendi zwischen ihnen und dem Zentrum von Zgrzebniok (und gleichzeitig Korfanty) auszuhandeln, und zweitens – eine Art Ultimatum mit der 13
Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 120–123.
Polnische Strukturen im Abstimmungskampf
331
Forderung nach sofortigem Eintritt in den Kampf zu stellen. Da Zgrzebniok selbst (der sich zu diesem Zeitpunkt in Warschau aufhielt) nicht im Lager Schwarzwasser angetroffen wurde, ging das Dokument an den Stabschef Jan Wyglenda, der sich jedoch nicht für solch wichtige Entscheidungen zuständig fühlte. Er lud die Befehlshaber für den 15. August zu einem Treffen ein, das vor Ort stattfinden sollte. Aufgrund der geringen Teilnehmerzahl wurde es jedoch auf den 18. August verschoben (erwähnenswert ist hier, dass sich Grzegorzek in seinen späteren Memoiren stark von den aufständischen Ideen distanzierte und behauptete, er sei dagegen gewesen). Doch bereits in der Nacht vom 15. auf den 16. desselben Monats verhafteten die Deutschen am Bahnhof in Pawlowitz (Pawłowice) mehrere zurückkehrende Führer, darunter auch Grzegorzek selbst, und fanden bei ihnen wichtige Organisationsunterlagen. Irritiert, aber nach wie vor kampfeslustig schickten die Emigranten im Lager Petrowitz (unter der informellen Führung von Maksymilian Iksal) einen Aufruf zum Aufstand an die Kreiskommandanten in Rybnik und Pless (Pszczyna), dem diese nach anfänglichem Zögern folgten. Es liegt auf der Hand, dass die mühevoll aufgebaute Polnische Militärorganisation Oberschlesiens auf diese Weise in eine Schlacht gegen einen überwältigend überlegenen Feind gedrängt wurde; diese endete, wie sie enden musste, nämlich mit einer totalen Niederlage. Das erhoffte Eingreifen polnischer Truppen konnte unter den damaligen Umständen nur im Bereich des Wunschdenkens bleiben.14 Die Niederlage wäre sicherlich endgültig gewesen, hätten die Alliierten nicht kurz davorgestanden, die Regierungsgewalt über das Abstimmungsgebiet zu übernehmen. Bereits am 3. September traf die Interalliierte Kommission für Oberschlesien unter der Leitung des französischen Generals Charles-Joseph Dupont in Kattowitz ein. Die bald verkündete Amnestie und dann (im Februar 1920) die Einrichtung einer alliierten Besatzungsverwaltung bedeuteten, dass die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens nach dem schweren Schlag im August wiederaufgebaut werden konnte. Dies wurde sowohl durch die Abwe senheit deutscher Streitkräfte vor Ort als auch durch die unverhohlene, manchmal sogar ostentative Freundlichkeit der französischen Truppen begünstigt.15 14
15
Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 143–194; Grzegorzek: Pierwsze powstanie, S. 155–158. Die Überlegungen von Jan Ludyga-Laskowski zum Aufstand von 1919 können ebenfalls als Beispiel für typisches Wunschdenken betrachtet werden: „Wenn sich damals eine Person gefunden hätte, die fähig gewesen wäre, die gesamte bewaffnete Bewegung zu leiten, eine Person, die in der Lage gewesen wäre, die beispiellose Kampfeslust der Aufständischen zu nutzen, wer weiß, welchen Verlauf der erste oberschlesische Aufstand genommen hätte […].“ Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 110. Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 112–113; Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 215–216. Siehe ebenso: Rosenbaum, Sebastian: „Nie przybyliśmy na Śląsk dla własnej przyjemności, ale aby wykonać pożyteczną pracę.“ Niektóre wątki obecności wojsk sprzymierzonych na
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Grzegorz Bębnik
Die formelle Auflösung der Polnischen Militärorganisation und die Gründung der sogenannten Polnischen Verteidigung Oberschlesiens (Polska Obrona Górnego Śląska) als Ersatz sollte nicht unnötig den Eindruck erwecken, dass es sich um ein anderes Gebilde handelte; eine „Umbenennung“ war vielmehr notwendig, um die organisatorischen Angelegenheiten zu ordnen und entbehrliche Kontakte abzubrechen. Die Organisation setzte ihre Aktivitäten fort und kehrte im Dezember 1919 aufgrund des Erfolgs, den die Ergebnisse der damaligen Kommunalwahlen darstellten, zu ihrem alten Namen zurück.16 Gleichzeitig wurde die wiedergeborene Polnische Militärorganisation Oberschlesiens faktisch der Abteilung II des Hauptstabes unterstellt; die Offiziere der Abteilung II, die formell an der Arbeit des polnischen Plebiszitkommissariats beteiligt waren, gründeten im Rahmen der zweiten Sektion der Plebiszitabteilung die Abteilung B mit Hauptmann Tadeusz Puszczyński an der Spitze. Ihre Vorgesetzten, d.h. der Leiter der Plebiszitabteilung, Oberstleutnant Bogusław Miedziński, der Leiter der Abteilung II, Oberstleutnant Ignacy Matuszewski, und der Minister für Militärische Angelegenheiten selbst, General Kazimierz Sosnkowski, galten als Piłsudskis engste Mitarbeiter.17 In einer solchen Situation wurde die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens de facto zu einem Werkzeug von Piłsudski selbst. Eine weitere nachhaltige Auswirkung des Aufstands war die Verlegung des Sitzes des Hauptkommandos aus den Flüchtlingslagern im Teschener Schlesien nach Sosnowitz am gegenüberliegenden Ufer der Brinitz im Dombrowaer Kohlebecken.18 Auch die sogenannte Oberschlesische Miliz sollte erwähnt werden. Sie entstand in den Lagern für die Flüchtlinge des Ersten Aufstandes, die sich in Polen (meist in der Nähe der oberschlesischen Grenze) befanden. Sie umfasste rund 4.500 Soldaten in 14 Bataillonen, die in der Regel von Oberschlesiern angeführt wurden, wobei die eigentliche Befehlsgewalt von polnischen Offizieren ausgeübt wurde, die offiziell als Ausbilder fungierten. Das Hauptquartier der Oberschlesischen Miliz wurde zunächst von Oberst Michał Żymierski und später von General Juliusz Bijak geleitet; es befand sich in Sosnowitz. Die Miliz
16 17
18
Górnym Śląsku (1920–1922), in: Rosenbaum, Sebastian (Hg.): W obcym kraju … wojska sprzymierzone na Górnym Śląsku 1920–1922, Katowice 2011, S. 129–130. Kwiatek, Aleksander: Polska Obrona Górnego Śląska, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 414. In seinen Memoiren schreibt Bogusław Miedziński über diese Beziehungen Folgendes: „Wenn es um persönliche Angelegenheiten ging, wurde die Hierarchie der Ersten Brigade meist auf diese Weise dargestellt: Zuerst kommt der Kommandant, dann der Chef, dann ein langes, langes Nichts und dann Śmigły, und weiter gab es eine Liste von Regimentsund Bataillonskommandeuren, in der die Reihenfolge je nach Uhrzeit und der Person, die sie erwähnte, wechselte.“ Miedziński, Bogusław: Wspomnienia, Teil 4, Zeszyty Historycz ne (Paryż) 1976, Nr. 36, S. 126. Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 60; Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 109–110.
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Polnische Strukturen im Abstimmungskampf
wurde im Januar und Februar 1920 aufgelöst, woraufhin die große Mehrheit ihrer Mitglieder nach Oberschlesien zurückkehrte, wo sie die Reihen der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens verstärkten.19 Die „wiedergeborene“ Polnische Militärorganisation Oberschlesiens arbeitete von Dezember 1919 bis Juni 1920 im Rahmen von sechs Bezirken, die wiederum in Regionen und lokale Organisationen gegliedert waren (von den ersteren soll es 73, von letzteren 542 gegeben haben, mit insgesamt 7.815 vereidigten Mitgliedern und etwa 20.000 Sympathisanten, Stand: April 1920). Ein Blick auf ihre territoriale Struktur und ihre „Hauptquartiere“ zeigt deutlich, in welchen Kreisen der polnische Untergrund den größten bzw. den geringsten Einfluss hatte. Tabelle 19.2 Organisatorischer Stand der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens zwischen Dezember 1919 und Juni 1920
Nummer und Kreise innerhalb eines Bezeichnung des Bezirks Bezirks
Bezirkskommandant
I – Lublinitz
Paweł Golaś
II – Oppeln III – Ratibor IV – Gleiwitz V – Beuthen VI – Kattowitz
Lublinitz, Rosenberg und Kreuzburg Oppeln, Leobschütz, Groß Strehlitz und Neustadt Ratibor, Cosel und Rybnik Tost-Gleiwitz und Hindenburg Beuthen und Tarnowitz Kattowitz und Pless
Jan Błana St. Mastalerz Karol Grzesik Jan Zejer Józef Szafarczyk, anschließend Walenty Fojkis
Zusamengestellt nach Wrzosek, Mieczysław: Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 417; Ludyga-Laskowski: Zarys historii trzech powstań, S. 159.
Ende Mai 1920 wurde das Hauptkommando grundlegend umstrukturiert und de facto von aus der polnischen Armee stammenden Kadern übernommen (Mieczysław Wrzosek verwendet hier den eleganten Begriff „verstärkt“).20 19 20
Kwiatek Aleksander: Milicja Górnośląska, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 305. Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa, S. 417. In seinem Kommentar zu den Memoiren von Jan Ludyga-Laskowski geht Bolesław Woszczyński sogar noch weiter und schreibt:
334
Grzegorz Bębnik
Gleichzeitig verzeichnete die Organisation einen sukzessiven Anstieg an Kadern, die verschiedenen Angaben zu Folge zwischen 7.000 (LudygaLaskowski) und 8.180 (Baczyński) Mitglieder hatten.21 Im Juni wurde die Organisation nochmals erweitert, indem drei zusätzliche Bezirke gebildet und in ihrer Größe an die tatsächlichen Kräfte angepasst wurden. Die Landkreise Neustadt und Leobschütz gehörten den beschriebenen Strukturen (zumindest anfangs) nicht an; vom erstgenannten wurde nur ein Teil in das Abstimmungsgebiet einbezogen, der zweitgenannte erst später hinzugenommen. Tabelle 19.3 Organisatorischer Stand der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens zwischen Juni und August 1920
Nummer und Bezeichnung des Bezirks
Kreise innerhalb eines Bezirks
Bezirkskommandant
I – Lublinitz II – Kreuzburg-Rosenberg III – Oppeln IV – Groß Strehlitz V – Cosel VI – Ratibor-Rybnik VII – Pless-Kattowitz VIII – Beuthen-Tarnowitz IX Tost-Gleiwitz-Hindenburg
Lublinitz Kreuzburg und Rosenberg Oppeln Groß Strehlitz Cosel Ratibor und Rybnik Kattowitz und Pless Beuthen und Tarnowitz Tost-Gleiwitz, Hindenburg
Paweł Golaś Jan Pleszka Jan Błana Jan Dropała Karol Grzesik Józef Buła Walenty Fojkis Rudolf Kornke Stanisław Mastalerz
Zusammengestellt nach: Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, S. 417; Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 162–163.
Die Bezirke wurden in Regionen unterteilt, in denen die Kräfte in lokalen Organisationen konzentriert waren. Sie wurden von „Vertrauensleuten“ verwaltet, die ihrerseits Zehnergruppen unter der Leitung von Gruppenführern
21
„Im Gegensatz zu den Behauptungen des Autors [J. Ludyga-Laskowski, Anm. d. Aut.] wurden alle Änderungen in der Struktur und im Personal des Hauptkommandos der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens im Einvernehmen und mit Zustimmung der Abteilung II des Stabes des Ministeriums für Militärische Angelegenheiten vorgenommen. All diese Änderungen wurden jedoch ohne Rücksprache mit Wojciech Korfanty vollzogen, der bereits seit dem 20. Februar 1920 als Plebiszitkommissar tätig war. All dies hatte seine konkrete politische Grundlage in der laufenden Auseinandersetzung zwischen dem Belvedere-Lager (Piłsudski-Anhänger) und den Nationaldemokraten.“ Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 161 (Kommentar von Bolesław Woszczyński). Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 159.
Polnische Strukturen im Abstimmungskampf
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zusammenfassten. Schon damals wurde vorgeschlagen, taktische Einheiten auf der Grundlage dieser Struktur zu bilden (Regionen sollten Kompanien, Kreise Bataillone und Bezirke Regimenter bilden). Darüber hinaus sollten in jeder Region zwei Sturmabteilungen in ständiger Kampfbereitschaft stehen. Die Selbstverteidigung der Bergwerke, Stahlwerke und Eisenbahngesellschaften wies ebenfalls eine Zehnerstruktur auf, es handelte sich sozusagen um industrielle Schutzeinheiten. Der Verband der ehemaligen Angehörigen der Haller-Armee, an deren Spitze kein Geringerer als J. Ludyga-Laskowski (ab 20. April 1920 Stabschef der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens und hauptamtlicher Offizier der Abteilung II) stand, fungierte als Pendant dazu.22 Die Zeit des Zweiten Aufstandes stellte eine weitere wichtige Zäsur in der Geschichte des polnischen Untergrunds in Oberschlesien dar. Theoretisch wurde die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens am 25. August 1920, also praktisch noch während der Aufstandskämpfe, aufgelöst; diese Entscheidung hatte offensichtlich Korfanty getroffen, der über die tatsächliche (und noch wachsende) Autonomie der ihm theoretisch unterstellten paramilitärischen Strukturen, die während des Aufstandes zutage trat, stark beunruhigt war. Die Auflösung war im Übrigen aber auch eine der Bedingungen des alliierten Kommandos gewesen, das sich bereit erklärt hatte, die Sicherheitspolizei aufzulösen und durch eine gemischtnationale oberschlesische Polizei zu ersetzen (die polnischen Mitglieder dieser „Abstimmungspolizei“ waren natürlich überwiegend Angehörige der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens). Die wichtigste Rolle spielten hierbei jedoch interne Streitigkeiten innerhalb des polnischen Lagers; der Kreis um Korfanty, der militärische Mittel nur als Ergänzung der diplomatischen Maßnahmen betrachtete, stieß mit den Befürworten des bewaffneten Kampfes zusammen. Dabei wurde das letztgenannte Milieu offensichtlich von Piłsudski-Anhängern dominiert.23 Auch wenn das Konzept von Korfanty eine Zeit lang zu funktionieren schien, bewies die weitere Entwicklung das Gegenteil. Die polnischen Untergrundstrukturen änderten nur ihre Organisationsform, indem sie sich zunächst in die Schlesische Selbstverteidigung (Samoobrona Śląska) und bald darauf, ab September desselben Jahres, in die so genannte Zentrale für Leibesübungen (Centrala Wychowania Fizycznego, CWF) umwandelten, die, wie Wrzosek schreibt, „offiziell als Förderer von Körperkultur und Sport auftreten“ sollte.24 Auch hier ging die Initiative von der Abteilung II aus; nach Jan Łączewski war „das Personal des CWF (im Gegensatz zur aufgelösten 22 23 24
Wrzosek: Polska Organizacja Wojskowa, S. 417–418; Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 163–165. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 330–331. Wrzosek, Mieczysław: Powstańcze działania zbrojne w 1921 r. w opolskiej części Górnego Śląska, Opole 1981, S. 21.
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[…] Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens) mit Fachleuten besetzt“, d.h. mit Offizieren der Abteilung II. Alfons Zgrzebniok erhielt den Posten des Stabschefs, theoretisch also des „Mannes Nr. 2“, während die Zentrale für Leibesübungen zunächst von Hauptmann Mieczysław Paluch und später von Leutnant Mieczysław Chmielewski geleitet wurde. Stellvertretender Stabschef und zugleich Leiter des Organisationsreferates war Hauptmann Michał Grażyński, Leiter des Einsatzreferates wurde Hauptmann Tadeusz Puszczyński und Leiter des Diversionsreferats Leutnant Stanisław Baczyński. Dieser Stab, der nota bene im Beuthener Hotel „Lomnitz“, dem Sitz des Polnischen Plebiszitkommissariats, untergebracht war, wurde gemeinhin als „Zentrale“ bezeichnet, was zu einigen Missverständnissen führen konnte.25 Einige der oben genannten Namen sind uns bereits begegnet, andere werden wir im weiteren Verlauf dieses Textes kennenlernen. Es besteht kein Zweifel, dass ähnlich enge Beziehungen mit Warschau zu einer erheblichen Stärkung der Position der Befürworter einer bewaffneten Konfrontation geführt haben. Tabelle 19.4 Stärke der Zentrale für Leibesübungen laut Bericht vom 4. Oktober 1920
Kreis
Kampfbereite Mitglieder
Kattowitz Pless Rybnik Ratibor Neustadt Groß Strehlitz Beuthen Hindenburg Tost-Gleiwitz Tarnowitz Lublinitz Rosenberg Oppeln Insgesamt
1.728 1.713 2.000 400 78 509 1.500 ca. 1.000 ca. 800 958 441 250 500 ca. 11.877
Zusammengestellt nach: Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 23. Anmerkung: In der obigen Liste fehlen Daten aus dem Kreis Cosel; im Kreis Kreuzburg gab es diese Strukturen nicht. 25
Łączewski, Jan: Centrala Wychowania Fizycznego, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 65–66; Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 22; Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 65–66.
Polnische Strukturen im Abstimmungskampf
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Von den zahlreichen organisatorischen Neuerungen ist sicherlich der Ausbau der Strukturen, insbesondere auf Kreisebene, besonders hervorzuheben, bei dem den örtlichen Kommandeuren Berufsoffiziere oder Unteroffiziere der polnischen Armee – offiziell als „Adjutanten“ oder „taktische Berater“ bezeichnet – zugeordnet wurden, die in der Regel nicht aus der Region kamen. Eine Kontrollfunktion sollte wiederum von den durch die „Zentrale“ eingerichteten Inspektoraten wahrgenommen werden; von den fünf bestehenden Inspektoraten ist die Vakanz des Kommandanten des Inspektorats V (für die Kreise Kreuzburg, Lublinitz und Rosenberg) bemerkenswert, was wiederum die Schwäche der lokalen Strukturen zu belegen scheint (obwohl Bolesław Woszczyński geneigt ist, dies auf „ernste personelle Schwierigkeiten“ zurückzuführen, was angesichts der oben erwähnten „Verstärkungen“ und der zahlenmäßigen Entwicklung der Organisation kaum glaubhaft ist).26 Zusammenfassend schreibt Wacław Ryżewski, dass „auf diese Weise schrittweise ähnliche Strukturen in die Organisationsstrukturen der Zentrale für Leibesübungen eingeführt wurden wie in regulären Armeen, d.h. eine hierarchische Unterordnung der einzelnen Zellen und ein zentralisiertes Kommandosystem.“27 Gemäß Łączewski konzentrierten sich die Aktivitäten der Zentrale für Leibesübungen auf vier Hauptbereiche: 1. Die Organisation der Kampfgruppen in Oberschlesien (ab November 1920 in Kompanien und Bataillone umgewandelt), 2. die Organisation der fliegenden Verbände und der sogenannten „Todesbataillone“ (bei denen es sich in Wirklichkeit um Elite-Angriffsbataillone handelte), 3. Aufklärung und Spionageabwehr, 4. sowie Terror- und Sabotageaktionen.28 Zur Jahreswende 1920/21 zählte die Zentrale für Leibesübungen 15.835 vereidigte und ausgebildete Mitglieder; sie konnte aber auch auf eine noch einmal so große Zahl von Sympathisanten zählen, die in de facto untergeordneten Organisationen wie dem „Sokol“ oder verschiedenen Sportvereinen organisiert waren. Natürlich war auch der polnische Teil der oberschlesischen Polizei auf der Aktivseite.29 In Anbetracht der ursächlichen Rolle des polnischen Ministeriums für Militärische Angelegenheiten, die bei all diesen Maßnahmen deutlich wurde, ist es nicht mehr verwunderlich, dass die Mitglieder der Zentrale 26 27 28 29
Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 217 (Kommentar von Bogusław Woszczyński). Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 67–68. Łączewski: Centrala Wychowania Fizycznego, S. 66, Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 216–217; Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 25. Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 216.
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für Leibesübungen am 31. Dezember 1920 auf Befehl von General Kazimierz Sosnkowski, der dieses Ministerium leitete, den Freiwilligen der regulären Armee gleichgestellt wurden.30 Erwähnenswert sind auch die Aktivitäten des sogenannten Verbandes der Freunde Oberschlesiens (Związek Przyjaciół Górnego Śląska, ZPGŚl), die in Wirklichkeit eine weitere Gründung der Abteilung II war. Wie Aleksander Kwiatek unverblümt feststellt, „bestand die Aufgabe der ZPGŚl darin, der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens materielle Hilfe zu leisten, um Kampfmittel im Grenzgebiet zu sammeln, militärische Kurse zu organisieren und Aufklärung zu betreiben.“31 Das Ende des Jahres 1920 markiert den Beginn eines weiteren tiefgreifenden Wandels in der Geschichte des polnischen Untergrunds in Oberschlesien. Im Dezember tauchte Oberstleutnant Paweł Chrobok (Pseudonym „Kunowski“), ein ehemaliger Berufsmajor des kaiserlichen Heeres, in der Region auf. Dies war das unmittelbare Ergebnis einer Konferenz, die Korfanty am 11. Dezember desselben Jahres in Kępno (Kempen) abgehalten hatte; sein Gesprächspartner war General Kazimierz Raszewski gewesen, der damals das Generalbezirkskommando in Posen leitete (eine militärische Verwaltungseinheit, die später als Korpsbezirk bezeichnet wurde). Wie aber wurde General Raszewski (übrigens ein weiterer hoher Offizier des ehemaligen kaiserlichen Heeres, die er als Oberstleutnant verließ) plötzlich Teil dieser Geschichte? Es ist davon auszugehen, dass das entschlossene Handeln der Offiziere der Abteilung II, die der Zentrale für Leibesübungen angehörten, Warschau dermaßen beunruhigte (wahrscheinlich sowohl das Ministerium für Militärische Angelegenheiten als auch weitere Regierungskreise), dass man es für angebracht hielt, die „Betreuung“ des oberschlesischen Untergrunds einer militärischen Struktur zu übertragen, die für diesen Zweck vermutlich prädestiniert war, nämlich dem Generalbezirkskommando Posen. Dies geschah auch, und bedeutete zugleich, wie von Wrzosek beschrieben, „die Umstrukturierung der oberschlesischen Untergrundkräfte in eine Organisation nach militärischen Grundsätzen, mit einer Aufteilung in Kampfeinheiten und taktische Verbände.“32 30 31
32
Łączewski: Centrala Wychowania Fizycznego, S. 66. Kwiatek, Aleksander: Związek Przyjaciół Górnego Śląska, in: Hawranek u.a. (Hg.): Ency klopedia Powstań Śląskich, S. 664. Diese Kurse oder militärischen Schulungen, die natürlich auf dem Gebiet der Republik Polen stattfanden, fanden unter dem Deckmantel von „Exkursionen“ statt. Siehe: Łączewski: Centrala Wychowania Fizycznego, S. 66. Die Intensität dieser Exkursionen belegt eine große Anzahl an Erinnerungsfotos von Teilnehmern in diversen Veröffentlichungen. Siehe auch: Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 359, 366–368. Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 27–28; Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 75–76; Łączewski: Dowództwo Obrony Plebiscytu, in: Hawranek u.a. (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, S. 99–100.
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Die letzten Vorbereitungen für einen bewaffneten Aufstand waren hier unschwer zu erkennen; andererseits wollte man die neue Organisation so nah wie möglich an die Behörden der Republik Polen heranführen, um das Risiko eines verfrühten Ausbruchs eines weiteren Aufstands auszuschließen. Diese neue Qualität sollte durch die Änderung des Namens der Organisation und damit auch des Oberbefehlshabers unterstrichen werden. Chrobok übernahm diese Funktion, während die ehemalige Zentrale für Leibesübungen in das Plebiszit-Verteidigungskommando (Dowództwo Obrony Plebiscytu, DOP) umgewandelt wurde. Dies regelte ein Befehl von General Sosnkowski vom 19. Dezember 1920, während der erste Befehl von Oberstleutnant Chrobok vom 15. Januar 1921 nicht nur das Plebiszit-Verteidigungskommando der ehemaligen Zentrale für Leibesübungen unterstellte, sondern auch alle polnischen Untergrundaktivitäten in Oberschlesien und Umgebung, also auch den Verband der ehemaligen Angehörigen der Haller-Armee, die demobilisierten Soldaten des ehemaligen Beuthener Schützenregiments, die Flüchtlinge, die sich in Lagern auf polnischem Gebiet aufhielten, sowie der Verband der Freunde Oberschlesiens. Ein Blick auf die Struktur des Hauptquartiers des PlebiszitVerteidigungskommandos (diesmal auf polnischem Territorium – zunächst in Grodziec, dann traditionell in Sosnowitz), das als Warschauer Industrieund Baugesellschaft (Warszawskie Towarzystwo Przemysłowo-Budowlane) getarnt war, lässt den Schluss zu, dass sich diesmal erfahrene Stabsoffiziere an die Arbeit machten. Folgende Abteilungen entstanden: I. Organisation und Mobilisierung (Hauptmann Jan Wyglenda, dann Hauptmann Alojzy Horak), II. Information und Geheimdienst (Józef Witczak, dann Leutnant Jan Kowalewski), III. Operationen (Leutnant St. Baczynski, dann Leutnant Remigiusz Grocholski), IV. Material (Hauptmann Zdzislaw Orlowski), Va. Offizierskader (Hauptmann Franciszek Harazim), Vb. Soldatenkader. Diese Struktur wurde schnell erweitert bzw. umgestaltet und erfasste beispielsweise auch die Leiter der Pioniere, der Eisenbahnen, der Gendarmerie usw. Es gab auch ein Destruktionsreferat, das von Hauptmann Puszczyński geleitet wurde, der später für seine Aktion „Mosty“ (Brücken) berühmt wurde, die den Dritten Aufstand eröffnete.33 In Beuthen wurde das sogenannte Hauptinspektorat als Delegation beim Polnischen Plebiszitkommissariat belassen, in dem u.a. Karol Grzesik und Michał Grażyński arbeiteten; es verfügte über eine direkte Weisungsbefugnis gegenüber den einzelnen Inspektoraten.
33
Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 29–31.
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Tabelle 19.5 Verzeichnis der Feldinspektorate des Plebiszit-Verteidigungskommandos, Stand: Frühjahr 1921
Inspektorat
Zu den einzelnen Inspektoraten gehörende Kreise
I
Kattowitz, Beuthen, Hindenburg und Wiktor Przedpełski Königshütte (Kreisstadt) Ratibor, Pless und Rybnik Mikołaj Witczak Tost-Gleiwitz und Tarnowitz Jan Plackowski, danach Jan Grey Lublinitz und Rosenberg Alojzy Nowak Oppeln und Kreuzburg Wincenty Mendoszewski Groß Strehlitz, Cosel und Neustadt Krzysztof Konwerski
II III IV V VI
Inspektor
Zusammengestellt nach: Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 78–79; Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 32.
Die personelle Zusammensetzung des Oberkommandos änderte sich dementsprechend: Der aus der Provinz Posen stammende Oberstleutnant Maciej Mielżyński wurde Chroboks Stellvertreter (ebenfalls ein ehemaliger deutscher Offizier, Rittmeister des elitären Breslauer Leib-Kürassier-Regiments „Großer Kurfürst“), während der Stab zunächst von Hauptmann Henryk Zborowski geleitet wurde, dessen Stellvertreter Leutnant Chmielewski war, und später von Major Stanisław Rostworowski, der zuvor ein Ausbildungslager in Sosnowitz geleitet hatte.34 Auch hier waren Konflikte persönlicher Natur (zumindest teilweise) vorprogrammiert, wenngleich sie auch in unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle und die Aufgaben der bewaffneten Konspiration wurzelten. Chrobok, ein Oberschlesier und ehemaliger Major des preußischen Heeres, war bestrebt, das Plebiszit-Verteidigungskommando in eine Art halb-getarnten weiteren Generalbezirk umzuwandeln. Vielen seiner Mitarbeiter (und nicht nur ihnen) gefiel ein solch ostentativer Verzicht auf die Geheimhaltung seiner Arbeit nicht, und Korfanty selbst soll einer davon gewesen sein. Laut Wrzosek „hat er [Oberst Chrobok, Anm. d. Aut.] sich nicht auf die Offiziere der aufgelösten Zentrale für Leibesübungen gestützt und sie damit verprellt. Es gelang ihm
34
Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 74; Łączewski: Centrala Wychowania Fizycznego, S. 99.
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auch nicht, das Vertrauen der aus Polen versetzten Offiziere zu gewinnen.“35 Wrzosek war zudem der Meinung, dass die oben erwähnten Versuche, das Plebiszit-Verteidigungskommando in eine Art Militärbezirk umzuwandeln, zwar „den ehrgeizigen Absichten der um die dynamische Persönlichkeit von Michał Grażyński gruppierten Offiziere entsprechen konnten“,36 aber auch sie empfanden die Idee Chroboks, die Mitglieder des Untergrunds, die die Rekrutierungsbedingungen erfüllten, nach Polen zu versetzen, wo sie reguläre oberschlesische Divisionen bilden sollten, als Bedrohung. Hier gingen die Ansichten von Grażyński und Korfanty Hand in Hand. Ältere Studien weisen nur halbherzig auf einen weiteren, wahrscheinlich wichtigeren Umstand hin – Chroboks eigenes, durch den jahrelangen Dienst in der preußischen Armee geprägtes Auftreten, das Offiziere, die aus Galizien oder Kongresspolen kamen, geradezu unerträglich gefunden haben müssen.37 Es ist heute schwer nachzuvollziehen, welche Gründe hier vorgeherrscht und bei der Entscheidung zur Entlassung des bisherigen Kommandanten am 3. April 1921 eine entscheidende Rolle gespielt haben könnten. Es bleibt festzustellen, dass angesichts der Tatsache, dass die gesamte Arbeit des PlebiszitVerteidigungskommandos von dem polnischen Ministerium für Militärische Angelegenheiten nicht nur unterstützt, sondern vielmehr ihm unterstellt war, die Zuschreibung einer Art außergewöhnlicher Leistungsfähigkeit an Chrobok, dank derer er in der Lage war, unabhängig über die „Schaffung oberschlesischer Divisionen“ auf dem Gebiet der Republik Polen zu entscheiden (was, wie bereits erwähnt, von Wrzosek als Stein des Anstoßes, insbesondere gegenüber Korfanty, angeführt wird),38 nicht überzeugend wirkt. Ryszard Kaczmarek beschreibt unter Bezugnahme auf Dokumente des deutschen Nachrichtendienstes den Prozess der Rekrutierung und Ausbildung, der auf polnischem Territorium stattfand, wobei der Schwerpunkt auf dem Sammellager in 35 36 37
38
Wrzosek: Trzecie powstanie śląskie, S. 31. Ebenda: S. 31. Wacław Ryżewski schreibt ein wenig darüber, obwohl der Hintergrund seiner zirkulären Phrasen („… ehrgeizige Handlungen …“, „an einer preußischen Offiziersschule erzogen …“, „Mentalität und Manieren […] typisch für einen preußischen Offizier …“) leicht durchschaubar ist. Es mutet jedoch seltsam an, dass diese Eigenschaften laut Ryżewski für Oberschlesier unerträglich gewesen sein sollen. Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 100–101. In den Kommentaren zum Werk von Jan Ludyga-Laskowski ist dagegen zu lesen: „Gleichzeitig wurde eine Kommission eingesetzt, die den Wahrheitsgehalt der von einer Gruppe von Offizieren gegen Oberst Chrobok erhobenen Anschuldigungen untersuchen sollte (unter anderem wurde behauptet, er habe das preußische Arbeitssystem [Unterstreichung des Autors] angewandt und sich nicht an die Regeln der Konspiration gehalten.)“ Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 222 (Kommentar Bolesław Woszczyński). Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 31.
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Tschenstochau (Częstochowa) lag.39 Auch wenn die dort genannten Zahlen und Fakten (Ausbildung von bis zu 50.000 Mann, davon 20.000 Oberschlesier allein in Tschenstochau, Rekrutierungsbüros in Polen, regelmäßiger Sold usw.) etwas übertrieben erscheinen mögen, ist es schwer anzunehmen, dass sie allein auf Chroboks individuelle Initiative zurückzuführen sind. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Verdacht, dass der gesamte Konflikt (den Korfanty angesichts einer fast sicheren bewaffneten Konfrontation um jeden Preis vermeiden wollte) hauptsächlich auf persönlicher Ebene ausgetragen wurde, an Wahrscheinlichkeit. Da offenbar keine Zeit mehr blieb, einen Nachfolger für „Kunowski“ zu finden, wurde sein Platz einfach von seinem derzeitigen Stellvertreter, Oberstleutnant Mielżyński, eingenommen. Dieser eher unerwarteten Wendung des Schicksals verdankte er auch seine Position als Oberbefehlshaber der Aufständischentruppen im bevorstehenden Dritten Aufstand. Dessen Ausbruch war angesichts der verlorenen Abstimmung und der für die polnische Seite ungünstigen Pläne zur Aufteilung der Region (die von den weiterhin propolnischen Franzosen nicht verhindert werden konnten) bereits ausgemachte Sache. Der immer noch andauernde Ausbau der Organisation (am Vorabend des Beginns der Kampfhandlungen sollen 40.470 Mitglieder dem Plebiszit-Verteidigungskommando unterstellt gewesen sein, außerdem wurde mit einem Zustrom von 20.000 Freiwilligen gerechnet) sowie der intensive Waffenschmuggel aus den Beständen der polnischen Armee (nachdem bereits 27.597 Handfeuerwaffen, 290 schwere Maschinengewehre, 250 leichte Maschinengewehre, 250 Granatwerfer und 70.000 Handgranaten in Oberschlesien waren, wurde postuliert, dass noch weitere 33.000 Gewehre, 50 schwere Maschinengewehre und 100 leichte Maschinengewehre etc. geliefert werden würden) führten dazu, dass die Ereignisse eine eigene Dynamik entwickelten. Den ganzen Prozess noch zu stoppen, war schon so gut wie unmöglich. Ganz offensichtlich wollte das aber auch niemand. Sowohl Korfanty, der von den Franzosen über den Stand der Verhandlungen über die Aufteilung des Abstimmungsgebietes informiert wurde, als auch die Offiziere des Plebiszit-Verteidigungskommandos (die ja dem Ministerium für Militärische Angelegenheiten unterstellt waren) waren sich der Unvermeidlichkeit eines weiteren bewaffneten Zusammenstoßes bewusst. Das einzige Problem stellte dessen Ausmaß dar: Sollte sich die Aktion, wie von Korfanty vorgesehen, auf eine Art „bewaffnete Demonstration“ beschränken, wie etwa im Fall der „Selbstverteidigung“ von August 1920, oder sollte es – wie von den „Falken“ im 39
Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 360–362.
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Stab des Plebiszit-Verteidigungskommandos gewünscht – auf eine umfassende deutsch-polnische Konfrontation nach dem Vorbild des Posener Aufstandes vom Dezember 1918 hinauslaufen, ungeachtet der unvorhersehbaren Folgen.40 Höchstwahrscheinlich am 22. April erließ der neue Kommandeur des Plebiszit-Verteidigungskommandos seinen „Operativen Befehl Nr. 1“, mit dem große Verbände (operative Gruppen genannt) gebildet wurden: „Nord“, „Ost“ und „West“ (letztere wurde bald in „Süd“ umbenannt).41 Der nächste Schritt, der den bevorstehenden Ausbruch des Aufstandes ankündigte, bestand in der von General Sosnkowski angeordneten Unterstellung sowohl von Mielżyński als auch des gesamten Plebiszit-Verteidigungskommandos unter Korfanty persönlich. Sie fand am 26. April statt; die Tatsache, dass sich – wie Ryszard Kaczmarek festgestellt hat – ein Teil der beteiligten Kräfte auf dem Gebiet der Republik Polen befand, stellte dabei kein Hindernis dar.42 Drei Tage später, am 29. April, wurde auf einer Versammlung im Hotel Lomnitz beschlossen, dass der Aufmarsch der Verschwörer am 2. Mai um 23 Uhr stattfinden und der Kampf vier Stunden später, also am 3. Mai um 3 Uhr, beginnen sollte. Am Vortag, also am 2. Mai, wurde die oberschlesische Industrie durch einen Generalstreik lahmgelegt. Am selben Tag, gegen 11 Uhr vormittags, unterzeichnete Korfanty den Befehl zum Aufstand.43 In diesem Moment waren die Würfel gefallen. Betrachtet man die oben skizzierte Geschichte der polnischen bewaffneten Konspiration in Oberschlesien, kommt man nicht umhin, über die tatsächliche Beteiligung polnischer staatlicher und militärischer Akteure (diese beiden Aspekte müssen klar voneinander getrennt werden) an drei aufeinanderfolgenden Aufständen nachzudenken. Während, wie wir gesehen haben, im Jahr 1919 die Beziehungen der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens zu den Behörden in Warschau im weitesten Sinne des Wortes locker waren und von Kontakten mit dem Zentrum in Posen abgelöst wurden, konnte man bereits in den Monaten nach der Niederschlagung des Ersten Aufstandes von einer raschen Unterordnung seiner Strukturen unter das Ministerium für Militärische Angelegenheiten sprechen. Ein Auslöser dafür waren zweifelsohne kritische Reflexionen über den Augustaufstand 1919 selbst. Persönliche und institutionelle Streitigkeiten oder auch das Entscheidungschaos in den 40 41 42 43
Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 376–381. Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 223–225; Wrzosek: Powstańcze działania zbrojne, S. 35–36. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 379. Im Kommentar zum Werk von Jan LudygaLaskowski ist jedoch zu lesen, dass dies erst am 30. April „in den Abendstunden“ geschah. Ludyga-Laskowski, Zarys historii, S. 228 (Kommentar von Bolesław Woszczyński). Ludyga-Laskowski: Zarys historii, S. 226–229.
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Kommandozentralen (mit dem Ergebnis, dass ein selbsternanntes Zentrum im Lager Petrowitz die tatsächliche Macht an sich riss) führten dazu, dass die obersten Militärbehörden der polnischen Republik von der Notwendigkeit überzeugt waren, den oberschlesischen Untergrund unter strenge Aufsicht stellen und mit der Zeit sogar in die militärischen Strukturen eingliedern zu müssen. Die ursächliche Rolle des Ministeriums für Militärische Angelegenheiten und der dazugehörigen Abteilung II wurde am Vorabend des Dritten Aufstandes besonders deutlich; es muss noch einmal betont werden, dass das Ministerium selbst damals von Piłsudskis engstem und vertrautestem Mitarbeiter, General Sosnkowski, geleitet wurde, während die Abteilung II von einem der später bedeutendsten Piłsudski-Anhänger jener Zeit, Oberstleutnant Matuszewski, geführt wurde. Der Leiter der Abteilung für Volksabstimmungen, Oberstleutnant Miedziński, der nach 1926 zu den prominenten Mitgliedern der sogenannten Gruppe der Obersten gehörte, ist ebenfalls bereits erwähnt worden. In der historischen Literatur der Volksrepublik Polen wurde dagegen immer wieder die halsbrecherische Ansicht vertreten, dass sowohl die Regierungskreise der Zweiten Republik als auch Piłsudski selbst kein Interesse an Oberschlesien gehabt haben (was besonders grotesk ist, wenn man es mit der Beteiligung von Mitgliedern des Volksnationalen Verbandes, d.h. der parlamentarischen Emanation der Nationaldemokratie in der damaligen Regierung von Wincenty Witos, vergleicht). Ohne dessen Zustimmung hätte General Sosn kowski wahrscheinlich keine einzige Patrone aus den Armeebeständen freigegeben, ganz zu schweigen davon, dass er dem größten militärischen Einsatz der polnischen Armee seit dem polnisch-bolschewistischen Krieg zugestimmt hätte. Daher sollten wir die eher verzweifelten Versuche vieler Autoren jener Zeit, wie beispielsweise von Wacław Ryżewski, diese beiden völlig konträren Standpunkte – einerseits die Treue zu den propagandistischen Erfordernissen und andererseits die möglichst genaue Wiedergabe der in den Dokumenten verzeichneten materiellen Fakten– übereinzubringen, als eine Art rhetorische Übung betrachten.44 Es ist anzumerken, dass noch heute (wenngleich eher in der Presse) das vollumfängliche Wissen über die umfassende Beteiligung der Republik Polen an den Aufständen und der Volksabstimmung als unbequem gilt. Der Mechanismus dieser Verdrängung ist recht einfach zu erklären; die Aufdeckung der Rolle polnischer staatlicher Institutionen, verschiedener 44
Siehe: Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 69–73. Abgesehen vom Archivmaterial zitiert Ryżewski ausführliche Memoiren und Berichte der damals an den Ereignissen beteiligten Offiziere der polnischen Armee, wie Stanisław Baczyński und Stanisław Rostworowski. Ryżewski: Trzecie powstanie śląskie, S. 428, 430 (Bibliografie).
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Dienste oder der Armee kann zur Hinterfragung der hartnäckig wiederholten These führen, dass die Aufstände (insbesondere der dritte) spontane Auflehnungen der Lokalbevölkerung waren. Indessen liegt es auf der Hand, dass selbst die beste logistische Unterstützung ohne eine tatsächliche Beteiligung eines bedeutenden Teils der Bevölkerung der Region nichts nützte. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Das deutsche militärische und konspirative Engagement im Oberschlesienkonflikt 1918–1921 (vom Kriegsende bis Juli 1921) Matthias Lempart Das „kriegerische“ Thema des vorliegenden Beitrages soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verfasser der festen Überzeugung ist, dass es bei allen militärischen Konflikten im Endeffekt darum geht, die als Feind identifizierte Person oder Personengruppe auf dem Schlachtfeld zu töten. Was ist also ein Krieg oder eine kriegsähnliche Auseinandersetzung anderes, als ein – um es drastisch und zugleich nüchtern zu formulieren – gegenseitiges Abschlachten? Ist es nicht eine letzte Wahrheit und gerade für unseren christlich geprägten Kulturraum exakt zutreffend, was kein geringerer als Gerhart Hauptmann auf der Oberschlesien-Protestkundgebung am 15. Juli 1921 in Berlin in Worte gefasst hat?: „Krieg mag heroische Kräfte entfesseln, und auch der letzte hat sie entfesselt, aber damit auch andere, ruchlose Kräfte. Und ich komme über die Tatsache nimmermehr hinweg, daß er das fünfte Gebot: »Du sollst nicht töten!« durch ein anderes ersetzt: »Töte von deinen Mitmenschen soviel du nur kannst!«“1 Zur Wahrheit gehört darüber hinaus jedoch auch, dass bei den allermeisten kriegerischen Konflikten die eine Seite agiert und die andere reagiert. Umso größere Schuld nimmt diejenige Seite auf sich, die versucht, einen Streitfall mit Gewalt zu lösen oder – in Eroberungsabsicht – das Ziel durch einen Angriff zu erreichen, was aber den Einzelnen, auch wenn er zu den Verteidigern gehört, nicht von seiner moralischen Verantwortung für sein persönliches Tun im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten freispricht. Nach dieser grundsätzlichen, aus der Sicht des Autors notwendigen Vorbemerkung soll nun das eigentliche Thema behandelt werden. ***
1 Für ein ungeteiltes deutsches Oberschlesien! Öffentliche Protest-Versammlung unter Vorsitz von Wirkl. Geh. Rat Professor D. Dr. A. von Harnack am 15. Juli 1921 im großen Saal der Philharmonie zu Berlin. Ansprache von Gerhart Hauptmann, Bundesarchiv Berlin (BAB), R 43-I/357, Bl. 183 R.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_021
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Das militärische und konspirative Engagement der deutschen Seite im mehrere Jahre lang andauernden Oberschlesienkonflikt lässt sich in drei relativ klar abgrenzbare Phasen einteilen. Erstens ist dies die Zeit vom Kriegsende 1918 bis zur Räumung des Plebiszitgebietes durch die Reichswehr Ende Januar/Anfang Februar 1920 vor der Ankunft der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitskommission mit ihren Truppenkontingenten. Zweitens ist dies die konspirative Phase des deutschen Engagements, ein „Krieg im Dunkeln“, wie er zeitgenössisch genannt wurde. Er dauerte von Februar/März 1920 bis zum Ausbruch der Kämpfe im Mai 1921 an, wobei er erst nach August 1920 in seine „heiße“ Phase überging. Und schließlich die dritte und am besten bekannte Phase: Das militärische Engagement während des dritten polnischen Aufstandes in Oberschlesien von Mai bis Juli 1921, der de facto ein polnisch-deutscher Stellvertreterkrieg, ein deutsch-polnischer Hybridkrieg in Oberschlesien, war.2 Die deutschen Regierungsstellen waren spätestens gegen Ende des Weltkriegs gewarnt, dass der Verbleib der Ostprovinzen bei Preußen, darunter auch Oberschlesiens (als Regierungsbezirk Oppeln Teil der Provinz Schlesien), durch polnische Territorialansprüche gefährdet war. So hat am 8. Oktober 1918 Roman Dmowski, der Führer der polnischen Nationaldemokraten, in seiner Denkschrift an den US-Präsidenten Wilson u.a. den Anschluss des größten Teiles Oberschlesiens an Polen gefordert;3 das Gleiche tat Wojciech Korfanty in seiner bekannten Reichstagsrede vom 25. Oktober 1918, in der er erklärte, „dass wir die polnischen Kreise Oberschlesiens und Mittelschlesiens – keinen einzigen deutschen Kreis! – […] beanspruchen.“4 Der Schutz der deutschen Grenze in Oberschlesien oblag seit Kriegsende der oberschlesischen 117. Infanteriedivision, die zwischen dem 28. und 30. November 1918 aus dem Westen kommend in Oberschlesien eintraf, bzw. der daraus am 29. Mai 1919 hervorgegangenen Kleinen Reichswehrbrigade Nr. 32 unter dem Kommando von Generalmajor Karl Hoefer.5 Im Jahr 1862 in Pless (Pszczyna) geboren, war er ein erfahrener, hochdekorierter Offizier und Träger des Eichenlaubes zum 2 Vgl. aktuell Kaczmarek, Ryszard: Powstania śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polskoniemiecka, Kraków 2019. 3 Roos, Hans (fortgeführt von Alexander, Manfred): Geschichte der Polnischen Nation 1918– 1985. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart u.a. 1986, S. 45. 4 https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003418_00111.html (aufgerufen am 5. Mai 2022). 5 Vgl. Hoefer, Karl: Oberschlesien in der Aufstandszeit 1918–1921. Erinnerungen und Dokumente, Berlin 1938, S. 10–32; dort auch die beiden Daten (S. 13, 32).
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Orden Pour le Mérite, dem höchsten preußischen Militärorden, verliehen für die Erstürmung des Kemmelberges in Flandern im April 1918. Ab diesem Zeitpunkt war er Kommandeur der 117. Infanteriedivision. Dem Autor scheint es – das sei am Rande vermerkt – als wäre Hoefer später als deutscher Oberkommandierender während des dritten Aufstandes den polnischen Oberbefehlshabern, Oberstleutnant Maciej Mielżyński, und seinem Nachfolger, Oberstleutnant Kazimierz Zenkteller, durch seine militärische Kompetenz und Erfahrung deutlich überlegen gewesen. Nicht zuletzt darin ist die Ursache der polnischen Niederlagen in der zweiten Maihälfte und der ersten Junihälfte 1921 zu suchen. Mitte August 1919, kurz vor dem Ausbruch des ersten polnischen Aufstandes, verfügte Hoefer in Oberschlesien über rund 30.000 abwehrbereite Männer,6 die regulär und dementsprechend gut bewaffnet waren. Die Kräfte seiner Grenzschutzbrigade, ca. 15.000 Mann, wurden verstärkt durch andere Reichswehreinheiten sowie mehrere Freikorps, darunter die aufgrund ihres hohen Anteils an Offizieren gewissermaßen elitäre und streng antirepublikanisch eingestellte 3. Marine-Brigade von Loewenfeld (1.500 Mann), die erst am 2. August ins Abstimmungsgebiet kam7. Die Freikorps bestanden, wie der Name schon sagt, aus Freiwilligen, was zur Folge hatte, dass ihre Kampfkraft im Jahr 1919 in der Regel deutlich höher war als die der regulären Reichswehreinheiten, die oft den revolutionären „Zersetzungserscheinungen“ nicht standhielten. In Bezug auf den Verlauf der Kämpfe während des ersten, rasch niedergeschlagenen Aufstandes (16./17. bis 24. August 1919) lässt sich, ohne hier ins Detail gehen zu können, Folgendes feststellen: In Anbetracht der enormen Diskrepanz hinsichtlich der Bewaffnung und auch der zahlenmäßigen Stärke zwischen den polnischen Kräften – von den rund 23.000 potentiellen Aufständischen beteiligte sich ein großer Teil aus diversen Gründen gar nicht erst an den Kampfhandlungen8 – und den regulären deutschen Einheiten stellte es eine geradezu wahnwitzige, unverantwortliche Unternehmung dar, einen Aufstand anzuzetteln, der auch nur von einem Teil der in dieser Frage gespaltenen Aufständischenführer eigenmächtig beschlossen wurde.9 Das 6 Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 142. 7 Ebenda, S. 137, 142; Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 52–56. Ein ähnlich strukturiertes Freikorps, die 2. Marine-Brigade Ehrhardt, kam erst am 26. August 1921, nach der Niederschlagung des Aufstandes, in Oberschlesien an, ebenda, S. 56. Sie übernahm den Grenzschutz an der Przemsa bei Myslowitz und hisste dort auf dem Bismarckturm an der ehem. Dreikaiserecke als weithin sichtbares Zeichen ihrer antirepublikanischen Einstellung die Reichskriegsflagge, s. Krüger, Gabriele: Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971, S. 35. 8 Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 141–142. 9 Der nominelle Kommandeur der Aufständischen, Józef Grzegorzek, schrieb nach Jahren in seinem Buch Pierwsze powstanie śląskie 1919 roku w zarysie, Katowice 1935, S. 157: „Z powodu niedostatecznego przygotowania bojowego oddziałów powstańczych, przede wszystkiem
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Ergebnis war eine unverhältnismäßig hohe Zahl von etwa 500 Todesopfern aufseiten der Aufständischen und eine unbekannte, aber gewiss signifikant höhere Zahl von Verletzten.10 Die deutschen Opferzahlen fielen demgegenüber deutlich geringer aus, wenn auch nicht unbedeutend und daher ebenfalls tragisch; sie beliefen sich auf rund 100 Tote plus Verletzte.11 Man muss Wojciech Korfanty in seiner Haltung 1919 Recht geben, als er sein Ziel in einer politischen Lösung, dem Abstimmungssieg, sah. Er hatte den Ausbruch eines Aufstandes zwei Mal (im April und Juni 1919) direkt verboten und auch im August 1919 war er strikt dagegen. Unterführer der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens (Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska, POW GŚ), die aber genau darauf drängten, bezeichnete er als „Jungen, die Lust auf einen kleinen Krieg hätten“ (chłopcy, którym zachciało się wojenki).12 Die militärische und sicherheitspolitische Lage in Oberschlesien änderte sich für die deutsche Seite radikal, als die Reichswehr Ende Januar/Anfang Februar 1920 das Abstimmungsgebiet, in dem sie sich zuvor völlig legal aufgehalten hatte, räumen musste. An ihre Stelle trat die Sicherheitspolizei (SiPo), eine Art kasernierte Bereitschaftspolizei. Sie war zwar gut ausgerüstet und ausgebildet, aber zahlenmäßig schwach, da sie nur ca. 4.000 Mann umfasste.13 Dementsprechend stellte sie nur einen schlechten Ersatz für die Reichswehrverbände dar. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass neben der SiPo seit dem Frühjahr 1920 auch alliierte Truppen im Abstimmungsgebiet stationierten, die primär für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zuständig waren. Erst kurz vor Beginn des zweiten Aufstandes (19. bis 25. August 1920) wurde damit begonnen, eine größere Untergrundorganisation, die Kampforganisation Oberschlesien (KOOS), aufzubauen, über die jedoch nur sehr wenig bekannt ist. Es scheint, als sollte diese im Gegensatz zur Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens erst einmal keine Untergrundarmee bilden, sondern vornehmlich einen Nachrichtendienst im Abstimmungsgebiet etablieren.14
jednakże słabego uzbrojenia oraz ogromną pod tym względem przewagą »Grenzschutzu« zapadła [16.8.1919, M. L.] uchwała nie dopuścić za żadną cenę do rozpoczęcia zbrojnego powstania.“, zitiert nach Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 144. (Übers. „Aufgrund der unzureichenden Kampfvorbereitung der aufständischen Truppen, vor allem aber ihrer schlechten Bewaffnung, und der enormen Überlegenheit des Grenzschutzes in dieser Hinsicht wurde [am 16.8.1919, M. L.] beschlossen, einen bewaffneten Aufstand um jeden Preis zu verhindern.“). Vgl. dazu und darüber hinaus Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 143–150. 10 Ebenda, S. 194. 11 Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 47. 12 Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 115–116, 119–120 (Zitat), 143–144. 13 Ebenda, S. 244–245, 584. 14 Ebenda, S. 263–264, 354.
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Relativ viele Erkenntnisse liegen uns hingegen über die Spezialpolizei des Oberschlesischen Selbstschutzes (weiter Spezialpolizei), so der volle Name, unter dem Kommando von Heinz Oskar Hauenstein vor. Hauenstein, Deckname „Heinz“, wurde 1899 in Dresden geboren. Er war Kriegsfreiwilliger und zuletzt Fähnrich. Bereits 1919 hatte er Oberschlesien kennengelernt, als er dort ein halbes Jahr lang als Mitglied der Marinebrigade von Loewenfeld eingesetzt und an der Niederschlagung des ersten Aufstands beteiligt gewesen war. Als die Marinebrigade Oberschlesien Ende Januar 1920 verlassen musste, wurde sie in der Umgebung von Breslau stationiert.15 Im Februar 1920 bat Dr. Carl Spiecker, der frisch in Breslau (Wrocław) eingetroffene Vertreter des preußischen Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, Loewenfeld um einige Leute für seinen persönlichen Schutz (die Kriminalbeamten aus Berlin waren noch nicht in Breslau angekommen). Die Wahl fiel auf Hauenstein, der mit einer ihm unterstellten Gruppe in der Folgezeit offenbar einen guten Eindruck bei Spiecker hinterließ. Auf jeden Fall, gewiss auch auf Empfehlung von Loewenfeld hin, baute der 20-jährige Unteroffizier Hauenstein16 ab Ende Februar/Anfang März 1920 zusammen mit dem aus Berlin gesandten Kriminalrat Weitzel die Spezialpolizei, auch „Organisation Heinz“ genannt, auf, deren Chef er im Anschluss wurde.17 Die Aufgaben der Spezialpolizei bestanden wohl anfangs „nur“ in der Spionageabwehr und dem Aufbau eines eigenen Spionagenetzes.18 Vermutlich erst unter dem Eindruck der blutigen Ereignisse während des zweiten Aufstandes wurden dann Anfang September 1920 in Brieg vier Stoßtrupps für Sonderaufgaben gebildet.19 Ihre Mitglieder stammten aus mehreren ehemaligen Freikorps; den Kern der Truppe bildeten allerdings ehemalige Angehörige der 3. Marinebrigade.20 Die Zentrale der Stoßtrupps der Spezialpolizei, geleitet von Hauenstein, befand sich in Breslau. Sie verfügte über einen eigenen Fuhrpark sowie eine spezielle Ausbildungsstätte, genannt Stoßtruppschule, in Liegnitz (Legnica). Dort lag auch einer der vier Stoßtrupps mit je 15 16 17 18 19 20
Glombowski, Friedrich: Organisation Heinz (O. H.). Das Schicksal der Kameraden Schlageters, Berlin 1934, S. 19–22; Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München-Berlin, zs-1134, Heinz Oskar Hauenstein, Aktennotiz v. 18.07.1956, S. 1. Der in seinen Urteilen eher zurückhaltende Gen. Hoefer bezeichnete Hauenstein als „junge(n), aber außerordentlich umsichtige(n) und tatkräftige(n) ehemalige(n) Einjährige(n) Unteroffizier“, Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 84. IfZ, zs-1134, Hauenstein, S. 1. Ebenda. Glombowski: Organisation Heinz, S. 34–41. Ebenda, S. 40.
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25 Mann (unter Oberleutnant Schnepper); ein weiterer in Neisse (Nysa, Oberleutnant Schwieder) und zwei in Breslau (Oberleutnant Bergerhoff und Oberleutnant Hesse) traten hinzu. Ihre Aufgabe bestand darin, größere Aktionen unterschiedlicher Art im Abstimmungsgebiet durchzuführen, die häufig mit Waffengebrauch oder sogar Kampfeinsätzen einhergingen. Zur Ausführung eines Auftrags wurden die Trupps über die Demarkationslinie geschickt und nach erfolgreicher Durchführung wieder zurückgezogen.21 In allen Kreisen des Abstimmungsgebietes arbeiteten wiederum Beobach tungstrupps der Spezialpolizei, die aus Einheimischen gebildet in den Abschnitten Nord, Mitte und Süd, mit Sitzen entsprechend in Kreuzburg (Kluczbork), Gleiwitz (Gliwice) und Ratibor (Racibórz) zusammengefasst waren. Laut Friedrich Glombowski, einem engen Vertrauten Hauensteins und Mitglied des Neisser Stoßtrupps, besaß die Spezialpolizei außerdem „in jedem Dorfe mindestens einen Vertrauensmann“.22 Die einheimischen Mitglieder der Spezialpolizei bereiteten die jeweiligen Aktionen der Stoßtrupps vor, nahmen aber nie selbst daran teil, um nicht enttarnt zu werden. Darüber hinaus verfügte die Spezialpolizei über zwei Nachrichtenabteilungen, eine in Kattowitz (Katowice), die sich mit der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens befasste, und eine in Oppeln (Opole), die auf die Interalliierte Regierungskommission angesetzt war.23 Es hat ganz den Anschein, dass es zumindest Überschneidungen zwischen den Vor-Ort-Strukturen der Spezialpolizei im Plebiszitgebiet und der erwähnten KOOS gegeben hat oder hat es sich, zumindest anfänglich, gar um (teil-)identische Strukturen gehandelt? Darauf würden eine ähnliche Aufgabenstellung und der gleiche territoriale Organisationsaufbau hindeuten.24 Erst nach dem zweiten Aufstand wurde intensiver an den Ausbau einer breiter aufgestellten Abwehrorganisation (KOOS?) gedacht, was sich jedoch angesichts der für Waffentransporte nur schwer überwindbaren Grenze des Abstimmungsgebietes als äußerst schwierig erwies.25 21 22 23 24 25
Ebenda, S. 42; v. Oertzen, F[riedrich] W[ilhelm]: Die deutschen Freikorps 1918–1923, München 1937, S. 137–140. Glombowski: Organisation Heinz, S. 42. Ebenda; Oertzen: Die deutschen Freikorps, S. 140. Vgl. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 263–264. Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 83–84, bei Hoefer heißt die geheime Abwehrorganisation jedoch nicht KOOS, sondern „Zentrale“ mit ihrer militärischen Leitung unter Major a.D. Beckmann, später Oberst a.D. von Schwartzkoppen, und der politischen und finanziellen Leitung unter Dr. Spiecker. Vgl. dazu auch Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 354–356, Kaczmarek schreibt u.a. (S. 354): „Niestety informacje o niej [o KOOS] są nad wyraz nikłe i mało konkretne.“ (Übers.: „Leider sind die Informationen über sie [die KOOS] äußerst dürftig und wenig konkret“.)
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Zu den Aufgaben der Spezialpolizei gehörten nicht nur das Ausspionieren des Gegners oder die Vernichtung der Waffen- und Munitionslager, sondern auch die physische „Liquidierung“ von Personen, die als besonders gefährliche Feinde, Verräter, gegnerische Spione und dergleichen erachtet wurden. Die Spezialpolizei war also auch eine Art Terrortruppe, zumal sich auch die gegnerische Seite des individuellen Terrors als Mittel des Abstimmungskampfes bediente.26 Das Brisante an der Tätigkeit der Spezialpolizei war, dass Hauenstein, der nicht selbstständig, sondern immer im Auftrag handelte, seine Tötungsaufträge – wie er es behauptete – indirekt von Dr. Spiecker, dem de facto Vertreter der preußischen Regierung in Breslau und Leiter der politischen Plebiszitaktion („Organisation Spiecker“), erhielt. In den 1950er Jahren äußerte sich Hauenstein darüber wie folgt: „Alle Aufträge, die an die SpezialPolizei ergingen, waren Spiecker bekannt und wurden von ihm genehmigt.“ Und weiter: „Er [Hauenstein] selbst und mit ihm die »Organisation Heinz« waren jedoch Spiecker offiziell auftrags- und verwaltungsmäßig nicht unterstellt, sondern gehörte[n] weiterhin dem Selbstschutz O.S. an, damit, falls etwas »passierte«, über Spiecker die Regierung nicht belastet wird.“ So bekam Hauenstein seine Aufträge über den aktiven Reichswehr-Leutnant Dr. Gottfried Hobus, der, um in der Leitung des Selbstschutzes tätig zu sein, „aus der Reichswehr formal ausscheiden musste“.27 Hobus selbst hob 1928 die Unterstellung der Spezialpolizei und die Hauptverantwortung der militärischen Leitung des Selbstschutzes für die Tötungsaufträge hervor: Die Organisation Heinz „[hatte] die strenge Anweisung, ohne Zustimmung der militärischen Leitung keine auf die Tötung abzielende Handlung vorzunehmen. Wenn die militärische Leitung jedoch zu diesem Entschluss kam“, dann wurde ein entsprechender Auftrag erteilt. „Dies“ sei jedoch, unterstrich ergänzend Hobus, „wenn auch nicht mit dem aktenkundigen, so doch mit dem stillschweigenden Einverständnis der politischen Leitung“ geschehen. Die Beteiligten seien sich allerdings schon damals dessen bewusst gewesen, dass „mit einer klaren Deckung durch die entsprechenden höheren Dienststellen niemals zu rechnen sein dürfte.“28 26
27 28
Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 293–295, 304–305, dort auch weitere Quellen- und Literaturhinweise. Nach wie vor fehlt eine zentrale Studie zum Thema Gewalt (gegen die Zivilbevölkerung) im Sinne der modernen Gewaltforschung in Bezug auf die Jahre 1918–1921 in Oberschlesien. Aktuell bei Kaczmarek, Powstania śląskie, viele Beispiele von Gewalt gegen Zivilisten, siehe z.B. S. 346–350. IfZ, zs-1134, Hauenstein, S. 1–2. Vgl. auch Glombowski, Organisation Heinz, S. 216–219. IfZ, zs-2146, Gottfried Hobus, Hobus an Hauenstein, Entwurf mit Begleitbrief, Leipzig, 7.5.1928, Abschrift, S. 3.
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Im Verlauf des aufsehenerregenden Stettiner Fememordprozesses im April/ Mai 1928 gegen Edmund Heines (SA-Führer und Polizeipräsident von Breslau 1933–1934) hätten die von der Spezialpolizei ausgeführten Tötungen vielleicht restlos aufgeklärt werden können, hätte das Gericht eine weitere Erörterung über diese Frage nicht im letzten Moment „infolge diskreter Absprachen“ zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigern29 abgebrochen. Bei den Tötungen handelte es sich de facto um die Ausführung von Todesurteilen, die u.a. an eigenen Staatsbürgern vollzogen wurden, ohne dass die ordentliche Justiz sich damit befasst hätte, was natürlich den demokratischen Rechtsstaat auf den Kopf stellte.30 Bei der Vernehmung Hauensteins in Stettin kam – schockierend genug – immerhin ans Licht, dass die Spezialpolizei nach seiner groben Berechnung in den Jahren 1920 und 1921 (innerhalb von ca. sieben Monaten) rund 200 Tötungsaufträge in Oberschlesien ausgeführt hat.31 Insgesamt ging die Zahl der Einsätze der Spezialpolizei in die Hunderte, mit einem zeitlichen Schwerpunkt in den ersten Monaten des Jahres 1921.32 In dem tendenziell verherrlichenden „Erinnerungsbuch“ an die „Organisation Heinz“ werden vom Autor, Friedrich Glombowski, verschiedene Beispiele aus der Tätigkeit der Spezialpolizei genannt. Der Autor, als Mitglied eines Stoßtrupps selbst direkt beteiligt, hat beispielsweise eines Tages eine halbe Million Mark nach Ratibor für die dortige Selbstschutzorganisation gebracht. Auf der Rückfahrt transportierte er Akten des polnischen Plebiszit-Kreiskomitees in Cosel (Koźle), die er dem zuvor von den einheimischen Mitgliedern der Spezialpolizei unter Alkohol gesetzten Kreiskommissar abgenommen haben will.33 Glombowski nennt auch ein Beispiel einer Tötung eines „Verräters“, wie er ihn nennt. Es handelte sich um einen gewissen Wolny aus Gleiwitz, der immer wieder deutsche Selbstschutzangehörige an die französische Kriminalpolizei ausgeliefert haben soll. Schließlich „[kam] von Breslau aus der Befehl, ihn unter allen Umständen unschädlich“ zu machen. Wolny, der sich geschickt schützte, wurde nach 14 Tagen Beobachtung auf offener Straße in Gleiwitz erschossen.34 Einer der größten und effektivsten Einsätze der Spezialpolizei 29 30 31
32 33 34
Kiene, Claudius: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie, Berlin 2020, S. 107. Vgl. IfZ, zs-2146, Hobus, Entwurf. IfZ, zs-1134, Hauenstein, S. 2–3; Glombowski: Organisation Heinz, S. 215–216; Nagel, Irmela: Fememorde und Fememordprozesse in der Weimarer Republik, Köln, Wien 1991, S. 34–35, 250–254. Neulich differenzierte Betrachtung zur Rolle Spieckers im oberschlesischen Abstimmungskampf und zum Stettiner Fememordprozess bei Kiene: Karl Spiecker, S. 39–49, 104–105; dort auch weitere Literatur- und Quellenhinweise. Oertzen: Die deutschen Freikorps, S. 139. Glombowski: Organisation Heinz, S. 44–46. Ebenda, S. 56–60, 63 (Zitate).
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war zweifelsohne die Befreiung von 17 deutschen politischen Gefangenen aus dem Gefängnis in Cosel, das unter französischer Oberleitung stand, in der Nacht vom 4. auf den 5. März 1921.35 Bevor abschließend auf die Zeit des dritten Aufstandes eingegangen werden soll, sei hier noch eine lokale deutsche paramilitärische Organisation erwähnt, die der bereits genannte Oberleutnant Karl Bergerhoff, einer der vier späteren Stoßtruppführer der Spezialpolizei, im Frühjahr 1920 (vor Mai) als SiPoOffizier in Hindenburg gegründet hat. Sie nannte sich „Schwarzer Adler“ (bzw. Sportverein „Schwarzer Adler“) und war nach Ansicht Bergerhoffs „die erste Selbstschutzformation auf Oberschlesiens Boden und für alle späteren Organisationen im Industriegebiet richtungsweisend“.36 Das Vorbild der „Schwarzen Schar“ wirkte ihm zufolge so überzeugend, dass in „allen umliegenden Dörfern bis weit in den Kreis Beuthen (Bytom) und Kattowitz hinein verwandte Organisationen aufgezogen [wurden]“. „Deren Fäden“ seien jedoch alle in Hindenburg zusammengelaufen, was womöglich auf eine übergeordnete Rolle des „Schwarzen Adlers“ schließen lässt.37 Nach Bergerhoff war es letztendlich den neu entstandenen deutschen Organisationen und den von ihnen ergriffenen Maßnahmen zu verdanken, dass im August 1920, „als der Polnische Aufstand über das Land dahinrollte“, dieser „an vielen Orten nicht Fuß fassen [konnte]“. Der Gründer des „Schwarzen Adlers“ hob in diesem Zusammenhang insbesondere die Verteidigung von Friedenshütte (Frydenshuta, später Nowy Bytom, als Exklave dem Stadtkreis Beuthen zugehörig) hervor, „die alle polnischen Angriffe […] blutig abschlug“, und zwar – tatsächlich oder vermeintlich – dank der von den Hindenburgern gelieferten umfangreichen Waffenbestände. Auch Hindenburg selbst habe der polnischen Besetzung im August 1920 laut Bergerhoff nur durch das umsichtige Handeln des „Schwarzen Adlers“ entgehen können.38 In Bezug auf den dritten Aufstand (3. Mai bis 5. Juli 1921), dessen militärischer Verlauf gut bekannt ist, können aus Rücksicht auf den Beitragsumfang 35
36 37 38
Ebenda, S. 51–56; Bergerhoff, Karl: Die Schwarze Schar in O/S. Ein historischer Abschnitt aus Oberschlesiens Schreckenstagen, Gleiwitz 1932, S. 15, 17, 19. Glombowski gibt die Zahl der befreiten Gefangenen mit 21 an (Glombowski, Organisation Heinz, Fotounterschrift vor S. 33), die Angabe von Bergerhoff (S. 15), der den Einsatz geleitet hat, scheint jedoch glaubwürdiger zu sein. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 13. Ebenda. Bergerhoffs Ausführungen müssten auf ihren Wahrheitsgehalt erst überprüft werden. In seiner Veröffentlichung findet sich allerdings auf S. 8 ein aufschlussreiches Fotodokument, das den „Schwarzen Adler“ im Mai 1920 auf einem demonstrativen Ausmarsch Richtung „polnisch stark durchsetztem“ (ebenda, S. 11) Bujakow (Kr. Hindenburg) zeigt. Zu sehen sind etwa 70 junge Männer, geschart um die Vereinsfahne.
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nur zwei Fragen angesprochen werden, die aus der Sicht des Verfassers besonders interessant erscheinen bzw. noch immer Klärung bedürfen. Den Ausgangspunkt für die erste Frage bildet die grundlegende Feststellung, dass die deutsche Seite auf die Ordnungsmacht der Interalliierten Regierungskommission vertraute – vor dem Hintergrund der strengen Bestimmungen des Versailler Vertrags zur militärischen Abrüstung blieb es ihr auch nicht viel anderes übrig – und dadurch auf einen größeren bewaffneten Konflikt um das Abstimmungsgebiet völlig unvorbereitet war.39 Daher scheint die Frage, wie es organisatorisch und auch rein technisch-logistisch möglich gewesen war, innerhalb weniger Tage mehrere Freikorps in den Kampf zu schicken und überraschend schnell eine erste, noch lückenhafte Frontlinie aufzubauen, mehr als berechtigt zu sein. Die Vorgänge, die allmählich zu einer Frontkonsolidierung geführt haben, können am Beispiel des Freikorps Roßbach anschaulich dargestellt werden. Der aus Hinterpommern stammende Gerhard Roßbach war ohne Zweifel einer der bekanntesten Freikorpsführer der Nachkriegszeit. Mit seinem bereits im November 1918 in Gruppe bei Graudenz aufgestellten Freikorps wurde er im Grenzschutz Ost in Westpreußen eingesetzt und kämpfte danach im Baltikum (Oktober bis Dezember 1919). 1920 nahm er in Mecklenburg am KappPutsch teil, bevor sein Freikorps, formell ein Reichswehr-Jägerbataillon, direkt danach von der Regierung gegen die Rote Ruhrarmee eingesetzt wurde. Nach der Auflösung des Bataillons im Mai 1920 bildete Roßbach mit seinen Leuten eine Arbeitsgemeinschaft (AG Roßbach).40 Längst funktionierte eine solche Arbeitsgemeinschaft – zumal die genannte AG nicht die einzige war, die aus den Reihen der aufgelösten Freikorps entstand. Die Roßbacher, oft ohne Zivilstellungen, wurden – dank Roßbachs Bemühungen sowie seines „Ruhms“ und der damit verbundenen, auch privaten Kontakte zu den ostelbischen Großgrundbesitzern – gruppenweise als Land- und Forstarbeiter oder Feldschützer auf großen Gütern untergebracht, und zwar unter der Aufsicht von Offizieren des Freikorps, die mit ihnen in der arbeitsfreien Zeit Militärübungen abhielten. Roßbach sorgte demnach für Arbeitsplätze und den Lebensunterhalt seiner Leute, brachte diese damit aber zugleich in ein enges Abhängigkeitsverhältnis. So blieben sie für ihn, dafür sorgten auch die beaufsichtigenden Offiziere, jederzeit mobilisierbar und 39
40
Vgl. dazu u.a. Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 110–114, 205; Hitze, Carl Ulitzka, S. 393, 401–402, s. auch insbesondere die Anm. 1076 (S. 401), dort heißt es, bis 8. Mai „standen an mobilen deutschen Einsatzkräften [Freikorpsangehörige] (…) lediglich etwa 1.500 Mann zur Verfügung“; aktuell Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 377, 387– 391. Vgl. auch z.B. Glombowski: Organisation Heinz, S. 75; IfZ, zs-1134, Hauenstein, S. 2. Gerhard Roßbachs Vernehmung, Leipzig, 11.05.1923, Abschrift, BAB, R 1507/211, Bl. 149–150.
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einsatzbereit.41 Im Frühjahr 1921 bestand die AG Roßbach aus drei Gauen, dem Gau Hubertus in Mecklenburg und den Gauen Pommern und Mittelschlesien, wobei letzterer seit Herbst 1920 bestand.42 Was sich Anfang Mai 1921, nach dem Ausbruch des Aufstands, abgespielt hat, erläuterte Roßbach in einer Vernehmung, wohl weitgehend wahrheitsgemäß und nachvollziehbar, folgendermaßen: „Im Frühjahr 1921 ging der in Schlesien befindliche Teil der Arbeitsgemeinschaft auf dringende Anforderung der damaligen Kommandostelle des oberschlesischen Selbstschutzes in Breslau (Oberst von Schwartzkoppen) in das Aufstandsgebiet, obwohl ich auf telegrafische Anfrage dem schlesischen Führer meiner Arbeitsgemeinschaft, Rittmeister Freiherr von Loën, streng untersagt hatte, die Mannschaften einzusetzen. Gleich darauf wurde ich selber dringend nach Breslau gebeten und habe dann das eigenmächtige Handeln des Hrn. v. Loën nachträglich gutgeheißen. Gleichzeitig konnte ich mich der dringenden Bitte des Selbstschutzes nicht verschließen, weitere Teile der Arbeitsgemeinschaft aus Pommern und Mecklenburg in Oberschlesien einzusetzen.“43 Die Roßbacher aus Mittelschlesien, etwa in Kompaniestärke, kamen in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai in Kreuzburg an und wurden noch am selben Tag in den Kampf gegen die Aufständischen bei Sausenberg an der Zembowitzer Bahn geschickt.44 Wie aber hat sich der Transport der Roßbacher ins Abstimmungsgebiet abgespielt und wer hat für ihre Bewaffnung gesorgt? In einer Art Räuberroman des seinerzeit bekannten Schriftstellers Arnolt Bronnen, der als Quelle – wenngleich mit sehr vielen Einschränkungen – einigen Wert besitzt, heißt es dazu, auch wenn der Text natürlich nicht wörtlich zu verstehen ist: „Inzwischen war die Schlesien-Gruppe der Roßbacher, kümmerlich bewaffnet, doch unverzagt, an die Grenze des von den Feindverbands-Truppen – man hatte ja erfahren, in welcher Weise – besetzten Gebiets gekommen. Da stand an einer kleinen Haltestelle ein einsamer Waggon. Landsknechte können Stahl und Pulver auch durch die dicksten Mauern hindurch riechen; dieser Waggon roch nach 41
42 43 44
Ebenda, Bl. 150; Sauer, Bernhard: Gerhard Roßbach – Hitlers Vertreter für Berlin. Zur Frühgeschichte des Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, S. 7–8, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), H. 1, S. 5–21; Behrens, Beate: Mit Hitler zur Macht. Aufstieg des Nationalsozialismus in Mecklenburg und Lübeck 1922–1933, Rostock 1998, S. 18–20. Gerhard Roßbachs Vernehmung, Leipzig, 11.05.1923, Abschrift, BAB, R 1507/211, Bl. 150– 151; Informantenbericht betr. Formation Roßbach, Breslau, 14.05.1922, BAB, R 1507/345, Bl. 244. Gerhard Roßbachs Vernehmung, Leipzig, 11.05.1923, Abschrift, BAB, R 1507/211, Bl. 151. Katsch, Hermann: Der oberschlesische Selbstschutz (O.S.S.S.) im dritten Polenaufstande, Berlin, Leipzig 1921, S. 67, 69; Hoefer: Oberschlesien in der Aufstandszeit, S. 114–115.
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Waffen und wurde daher eilig gekapert. (Die Reichswehr, so erfuhr man, war nett genug gewesen, ihn dort zu vergessen.) Der Vollständigkeit halber lieh man sich auch eine Lokomotive dazu, und der Trupp fuhr hinüber ins Kampfgebiet. Schon am Abend dieses Tages traf er auf den Polen […]“.45 Anhand des oben beschriebenen Weges der AG Roßbach von ihrer Mobilisierung bei Breslau bis hin zum Fronteinsatz bei Kreuzburg ist deutlich das zu ersten Erfolgen führende Muster erkennbar: Bei der bestehenden außenpolitischen Lage, die einen Einsatz der Reichswehr unmöglich machte, musste auf bereits organisierte oder zumindest halborganisierte freiwillige Kampfformationen zurückgegriffen werden, die schnell mobilisierbar und kampffähig waren. Den staatlichen Stellen, darunter der Reichswehr, fiel die geheim gehaltene technisch-logistische Aufgabe zu, diese Verbände zu bewaffnen und sie möglichst rasch an die Front zu transportieren. Nach einem im Grunde ähnlichen Schema spielten sich auch der Transport an die Front und der erste Einsatz der anderen Freikorps ab, die sich bereits in der ersten Woche nach dem Ausbruch des Aufstands (3. Mai 1921) an den Kampfhandlungen beteiligt haben, was im Folgenden in aller Kürze anhand von zwei weiteren Beispielen gezeigt werden soll. Heinz Oskar Hauenstein, der sich zu Beginn des polnischen Angriffs in Hamburg befand, wurde per Telegramm aufgefordert, nach Breslau zu kommen. Um keine Zeit zu verlieren, reiste er per Flugzeug dorthin. Im Anschluss fuhr er weiter nach Neisse, wo er ein Waffenlager der Reichswehr „requirierte“ und sein Freikorps, das „Sturmbataillon Heinz“, aufstellte. Den Kern der Mannschaften bildeten die ihm noch bis zuletzt unterstellt gewesenen Angehörigen der Spezialpolizei. Bereits am 7. Mai besetzte Hauensteins Freikorps Stellungen im Brückenkopf Gogolin auf dem Ostufer der Oder.46 Oberleutnant Bergerhoff gründete schon am 4. Mai ein Freikorps unter dem Namen „Schwarze Schar“, „deren Stamm sich aus Mitgliedern des »Schwarzen Adlers« bzw. befreundeter Organisationen rekrutierte“. Das Freikorps, zunächst 400 Mann stark, traf am 5. Mai mitsamt Waffenarsenal am Ratiborer Bahnhof ein und besetzte Stellungen am Westufer der Oder. Woher diese „reichliche Waffenausrüstung“ stammte und ob (wenn ja, von wem) der „Schwarzen Schar“ ein Sonderzug zur Verfügung gestellt worden war, mit dem sie nach Ratibor gelangte, dazu erfahren wir aus Bergerhoffs Erinnerungen nichts.47 Als das Freikorps einige Tage später nach Twardawa (Twardawa) verlegt wurde, berichtete Bergerhoff allerdings, dass es „in dem ihm zur Verfügung 45 46 47
Bronnen, Arnolt: Roßbach, Berlin 1930, S. 113. Glombowski: Organisation Heinz, 83–84; IfZ, zs-1134, Hauenstein, op. cit., S. 2. Bergerhoff: Die Schwarze Schar, S. 21.
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gestellten Zuge“ dorthin fuhr, „wo es zunächst den mitgebrachten Zug zwecks schnellerer Verschiebung an andere Kampfabschnitte behielt.“48 Eine zweite Frage, die den Verfasser beschäftigt und die seines Erachtens immer noch ein sehr wichtiges Forschungsdesiderat darstellt, ist diejenige nach der quantitativen Beteiligung einheimischer Oberschlesier an den Kampfhandlungen auf deutscher Seite. Eine genauere Untersuchung dieser Frage würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen. Es bleibt hier daher nur nüchtern festzustellen, dass unter deutschen Historikern kein ausgeprägtes Interesse für diese Frage besteht, während der Standpunkt der polnischen Historiographie, soweit der Verfasser die inzwischen unermessliche Anzahl an Publikationen zum Thema Aufstände und Plebiszit überblicken kann, seit Jahrzehnten gleichgeblieben ist. In einem älteren zusammenfassenden Beitrag wurde er so auf den Punkt gebracht: „[…] in Anbetracht von ca. 50.000–60.000 Teilnehmern des dritten schlesischen Aufstandes […] [betrug] der Prozentsatz der polnischen Freiwilligen [d.h. der Freiwilligen von außerhalb Oberschlesiens, Anm. d. Aut.], je nach Schätzung, zwischen 4–6% und 10–12%. (…) Im polnischen Schrifttum wird […] darauf hingewiesen, dass in den [deutschen, Anm. d. Aut.] Selbstschutzverbänden während des dritten Aufstands das Verhältnis der Zugereisten aus Deutschland oder sogar Österreich zu den Einheimischen in verschiedenen Freikorps gerade umgekehrt als bei den Aufständischen war“,49 d.h. also, dass dieser, nach Einschätzung der polnischen Geschichtsforschung, zwischen 88 und 96 Prozent zugunsten der „Zugereisten“ betragen haben muss. Im Umkehrschluss hätten die einheimischen Oberschlesier, die mit der Waffe in der Hand auf der deutschen Seite gekämpft haben, also nur zwischen vier und zwölf Prozent aller deutschen Selbstschutzangehörigen ausgemacht. Kann das aber sein? Aufgrund von zahlreichen, weit verstreuten und bis jetzt, nach Ansicht des Verfassers, nicht genügend gewürdigten Quellen und Hinweisen, lässt sich die These aufstellen, dass in den Reihen des deutschen Selbstschutzes viel mehr einheimische Oberschlesier gekämpft haben, als bislang in der (polnischen) Fachliteratur angenommen wurde. Im Folgenden sollen einige der o.g. Quellen und Hinweise in aller Kürze angeführt werden: 48 49
Ebenda. Lesiuk, Wieslaw/Sroka, Irena: Die oberschlesischen Aufstände in der Bewertung der letzten 75 Jahre aus polnischer Sicht, S. 179, in: Via Silesia, Bd. 3 (1996), S. 162–183. Der aktuellen polnischen Forschung folgend umfassten die polnischen Streitkräfte im dritten Aufstand zunächst 30.000 Mann, während es gegen Ende des Aufstandes 46.000 Mann waren, siehe Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 364.
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In einem Agentenbericht an den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO) über das Freikorps Roßbach von Mai 1922 heißt es: „Bei Beginn des Maiaufstandes in Oberschlesien stellte Roßbach auf Wunsch der Leitung [des Selbstschutzes, Anm. d. Aut.] erst eine Kompanie, sodann ein Bataillon auf. Später bildete [sich] unter Hinzuziehung von Einheimischen [Unterstreichung d. Aut.; gemeint sind Freiwillige aus den Kreisen Kreuzburg und Rosenberg], Flüchtlingen [Unterstreichung d. Aut.; gemeint sind Flüchtlinge aus den von den polnischen Aufständischen besetzten Gebieten bzw. den blockierten Städten des Industriegebietes] und Aulockleuten50 das Regiment Schlesien im Abschnitt Rosenberg. Das Regiment hatte 3 Bataillone … [und] war knapp 2.000 Mann stark“51. In einem anderen, amtlichen Bericht über das Freikorps Roßbach ist zu lesen: „Das von Roßbach und seinen Leuten gegebene gute Beispiel hat auf die heimattreuen Ortseinwohner – Arbeiter und Bürger – so zündend gewirkt, daß sich um diese Schar allmählich im ganzen Kreis Kreuzburg ein über alle Parteien stehender Selbstschutz gebildet hat, der den Insurgenten in harten Kämpfen Ort für Ort hat wieder abnehmen können.“52 Das am 5. Mai in Ratibor eingetroffene Freikorps „Schwarze Schar“ bestand im Grunde, wie oben erwähnt, aus den Mitgliedern des „Schwarzen Adlers“ aus Hindenburg sowie Mitgliedern ähnlicher Organisationen aus dem Industriegebiet, also wohl zum allergrößten Teil aus einheimischen Oberschlesiern. In Ratibor wuchs das Freikorps binnen weniger Tage von 400 auf 800 Mann an. Der Zuwachs ging vermutlich, zumal er fast unmittelbar nach dem Ausbruch des Aufstands erfolgte, ebenfalls auf die Freiwilligen aus den Reihen der Einheimischen zurück. Erst später, am 10. Mai in Twardawa, stieß noch eine Kompanie hinzu, bei der Bergerhoff explizit erwähnte, dass es sich um die „bereits in Berlin zusammengestellte Kompanie Zimmermann“ handelte. Damit erreichte die „Schwarze Schar“ ihre endgültige Stärke von 1.000 Mann. Insgesamt wird man wohl davon ausgehen können, dass Bergerhoffs Freikorps von bis zu 80% (800 Mann) aus einheimischen Oberschlesiern bestand.53 Dieser Vermutung wird durch die angenommene Identität der Gefallenen Angehörige des aufgelösten schlesischen Freikorps von Aulock. Der Gründer des Freikorps Hubertus von Aulock stammte aus dem Kreis Kreuzburg. Informantenbericht betr. Formation Roßbach, Breslau, 14.05.1922, BAB, R 1507/345, Bl. 244. Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO) an Reichsminister des Innern, betr. Arbeitsgemeinschaft Roßbach, [29.06.1921] (?), BAB, R 1507/345. Bl. 20 R. Bergerhoff: Die Schwarze Schar, S. 21.
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der „Schwarzen Schar“ erhärtet. Zwischen 21. Mai und 30. Juni 1921 fielen 14 namentlich bekannte Mitglieder. Davon trugen zehn Namen, die auf eine oberschlesische Herkunft hindeuten, d.h. 71 Prozent der Gefallenen der „Schwarzen Schar“.54 In einer Monographie über das Freikorps Oberland heißt es: „In Neustadt OS waren inzwischen am 11. Mai [1921] abends halb 8 Uhr die ersten Oberländer eingetroffen und hatten dort eine Kaserne bezogen. Schon in den ersten Nachtstunden meldete sich eine Reihe von Oberschlesiern [Unterstreichung d. Aut.], die in das Freikorps aufgenommen werden wollte“55. Unter den 52 Gefallenen des Freikorps Oberland in Oberschlesien befanden sich drei Tote, deren Nachnamen eine oberschlesische Herkunft vermuten lassen (Werner Rutkowski, Karl Smer czeck, Max Sonsalla), was nur knapp 6 Prozent der Oberland-Gefallenen ausmachte.56 Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Freikorps Oberland erstens in seiner Masse bereits als zahlenmäßig starke Kampfformation (um 1.000 bis 1.500 Mann) aus Bayern kam,57 sodass die freiwilligen Oberschlesier nicht so sehr ins Gewicht fielen; zweitens waren es wohl vornehmlich einheimische Freiwillige aus dem einsprachig deutschen Neustadt (Prudnik) und seiner Umgebung, wo die typisch oberschlesischen Namen deutlich seltener vorkamen. Ihre mehrheitlich „rein“ deutschen Nachnamen lassen sie unter den Gefallenen des Oberlands – falls überhaupt einige von ihnen zum Tode gekommen sein sollten – nicht als Oberschlesier identifizieren. Am 26. Mai 1921 haben die polnischen Aufständischen den Versuch einer deutschen Selbstschutzabteilung vereitelt, aus dem eingeschlossenen Gleiwitz auszubrechen.58 Ebenda, S. 55, 57. Die Namen der zehn Gefallenen (alphabetisch geordnet): Georg Dombrowski, Adalbert Dzierzawa, Franz Dzionsko, Max Grabowski, Paul Gralka, Karl Morczinek, Max Skeppnik, Karl Skupin, Johann Stawowicz, Oskar Zymorek. Selbstverständlich ist der oberschlesische oder polnische Klang bzw. die Etymologie dieser Nachnamen nur ein Indiz für die oberschlesische Herkunft, dennoch scheint die Annahme, dass es sich bei den zehn Personen um einheimische Oberschlesier handelte, nicht zuletzt aufgrund der Genese der „Schwarzen Schar“, plausibel zu sein. Die Namen der vier übrigen Gefallenen der „Schwarzen Schar“, bei denen, womöglich zu Unrecht, die oberschlesische Herkunft nicht angenommen wurde, lauten: Herbert Kühn, Max Karry, Josef Nittke, Karl Schweter. Kuron, Hans Jürgen: Freikorps und Bund Oberland, Erlangen 1960, S. 79. Ebenda, Gefallenentafel vor der Titelseite. „Rutkowski“ ist natürlich kein typisch oberschlesischer Nachname. Die oberschlesische Herkunft von Werner Rutkowski scheint aber auch nicht ganz ausgeschlossen zu sein. Ebenda, S. 79–81, 83; Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 595–596. IPN, Abteilung Katowice (Kattowitz), Pressebeilage „100-lecie Powstania Śląskie“ v. 26.04.2021, Kalendarium, S. 11.
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Dieser Hinweis soll hier nur signalisieren, dass es in den großen oberschlesischen Städten einen aktiven deutschen Selbstschutz gab, der an den eigentlichen Kampfhandlungen an der Front nicht teilnehmen konnte, weil die Städte von den Aufständischen blockiert wurden. Das wird in der polnischen Geschichtsforschung z.T. ähnlichgesehen. Die vermeintlich oder tatsächlich niedrige Beteiligung der Oberschlesier unter den Selbstschutzangehörigen „resultierte [objektiv] (…) daraus, dass in den großen Städten der örtliche Selbstschutz von den Aufständischen blockiert wurde. Deswegen überwogen in der Kampforganisation Oberschlesiens, kommandiert von General Karl Hoefer, während der deutschen Gegenoffensive in der Umgebung von Sankt Annaberg die deutschen Freiwilligen von außerhalb Oberschlesiens“.59 5. Im heutigen Oberschlesien sind dem Verfasser zwei Gefallenendenk mäler mit Namen von Einheimischen bekannt, die während des dritten Aufstands auf der deutschen Seite gekämpft haben. In Kranowitz (Krzanowice), Kreis Ratibor, sind es drei Namen und in Poborschau (Poborszów), Kreis Kandrzin-Cosel, zwei.60 Es stellt sich die Frage, ob noch weitere Denkmäler mit Namen von einheimischen SelbstschutzGefallenen existieren. Oder gab es vielleicht bis 1945, was zu vermuten wäre, viel mehr solche Denkmäler in Oberschlesien? 6. Schließlich der letzte, aber wohl wichtigste Hinweis: Die bekannte Gefallenenliste des Selbstschutzes (dritter Aufstand) von Hermann Katsch aus dem Jahr 1921 umfasst 176 Namen.61 Nach ihrer Sichtung ist der Verfasser zu dem Schluss gekommen, dass rund 30 Prozent der Gefallenen von der Liste Namen tragen, die eine oberschlesische Herkunft wahrscheinlich machen. Wenn aber – so die Annahme – 30 Prozent der Gefallenen Oberschlesier waren, dann haben in den Reihen des Selbstschutzes logischerweise ebenfalls rund 30 Prozent Oberschlesier gekämpft, denn warum sollten im Durchschnitt mehr Oberschlesier gefallen sein als gekämpft haben?
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Lesiuk/Sroka: Die oberschlesischen Aufstände, S. 179. Die Information, dass es sich im Fall von Kranowitz um einheimische Freiwillige gehandelt hat, verdankt der Verf. Hrn. Dr. Gonschior und Hrn. Newerla, beide aus Ratibor. Die Hinweise waren umso wertvoller, als zwei Gefallene, Emil Kreis und Erdmann Glassmann, „rein“ deutsche Namen hatten. Der dritte Gefallene hieß Anton Juretzka. Die Verhältnisse in Poborschau sind dem Verfasser persönlich bekannt, es bestehen keine Zweifel, dass die beiden Gefallenen Poborschauer waren. Sie hießen Josef Maicher und Robert Koletzko und waren damit Träger typisch oberschlesischer Namen, beide fielen am 4. Juni 1921. Katsch: Der oberschlesische Selbstschutz, S. 98–101.
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Man kann natürlich mit Recht einwenden, dass sich hinter den oberschlesi schen Familiennamen in Wirklichkeit Personen aus Ost- und Westpreußen, aus Posen oder Selbstschutzangehörige aus dem Ruhrgebiet verborgen haben könnten, die bereits seit einer oder mehr als einer Generation Westdeutsche waren. Das wird sicherlich zu einem Teil auch der Fall gewesen sein. Der Abzug dieser Gruppe wird jedoch wohl mehr als ausgeglichen durch Oberschlesier, die „rein“ deutsche Familiennamen trugen (so z.B. wie die beiden Kranowitzer Gefallenen Glassmann und Kreis, die übrigens nicht in der Liste von Katsch verzeichnet sind) und so unter den 176 Namen nicht als Oberschlesier zu identifizieren sind. Um der hier aufgeworfenen Frage auf den Grund zu gehen, wäre es umso wichtiger, die verschollene oder vernichtete Selbstschutz-Gefallenenkartei zu rekonstruieren, die in den 1930er Jahren in Oppeln erstellt worden war und 452 nachgewiesene Todesfälle beinhaltete.62 Erstens würde das die zu untersuchende Personengruppe wesentlich erweitern (im Vergleich mit den 176 Namen bei Katsch) und dadurch repräsentativere Schlussfolgerungen ermöglichen. Zweitens könnte es vielfältige prosopografisch ausgerichtete Studien anregen, die u.a. die Frage der Beteiligung der einheimischen Oberschlesier an den Kampfhandlungen 1921 womöglich weitgehend klären würden. *** Dass es sich im Falle des dritten Aufstandes de facto um einen unerklärten Stellvertreterkrieg zwischen Polen und Deutschland gehandelt hat, konnte Ryszard Kaczmarek vor kurzem in dem hier oftmals zitieren Werk sehr überzeugend darlegen und nach Ansicht des Verfassers abschließend klären.63 Kämpften auf der Ebene der Mannschaften auf deutscher Seite nicht aber wesentlich mehr einheimische Oberschlesier als bisher angenommen? Das Verhältnis von rund 70 Prozent (Freiwillige aus dem Innern Deutschlands) und 30 Prozent (oberschlesische Freiwillige), in absoluten Zahlen also etwa einerseits 21.000 bis 28.000 und andererseits 9.000 bis 12.000 Mann,64 scheint nach Ansicht des Verfassers erheblich zutreffender zu sein als das bisher in der (polnischen) Historiographie geschätzte Verhältnis von ca. 88 bis 96 Prozent (nichtoberschlesische Freiwillige) zu 4 bis 12 Prozent (oberschlesische Freiwillige). Hinzu kommt, dass das 70-zu-30-Prozent-Verhältnis wahrscheinlich 62 63 64
Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 514. Kaczmarek: Powstania śląskie. Ebenda, S. 404, mitsamt einer Schätzung der Stärke der deutschen Selbstschutzverbände auf 30.000 bis 40.000 Mann (Stand zum Abschluss der Kämpfe).
Deutsches militärisches und konspiratives Engagement
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noch eine deutliche Korrektur zugunsten der Einheimischen erfahren hätte, hätten die in den großen Städten eingeschlossenen Selbstschutzangehörigen an den Kämpfen teilnehmen können. War also der dritte Aufstand im Jahr 1921 nicht zugleich – in einem weit größeren Ausmaß als bisher geglaubt – ein tragischer oberschlesischer Bürgerkrieg im klassischen Sinne des Wortes?
„Głosuj za Polską“ – „Wählt deutsch“. Propagandakampagne zur Volksabstimmung Sebastian Rosenbaum
Politische Propaganda im Schatten des Ersten Weltkrieges
Jede Parlamentswahl im Regierungsbezirk Oppeln, der zwölf Abgeordnete in den Reichstag entsandt hat, wurde von Wahlkämpfen begleitet, die mitunter sehr hitzig verliefen, wie 1903, als die polnische Nationalbewegung das Monopol der Zentrumspartei brach und Wojciech Korfanty aus dem Wahlkreis Zabrze-Kattowitz ins Parlament einzog.1 Die damalige Wahlkampfrhetorik war jedoch nicht so grundlegend und radikal wie die Propagandakampagne, die in Oberschlesien in der Zeit der Volksabstimmung aufkam.2 Genauer gesagt, 1 Zur Analyse der Wahlen im Oppelner Regierungsbezirk vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Struve, Kai: Górny Śląsk na przełomie XIX i XX wieku – nacjonalizacja społeczeństwa w perspektywie porównawczej, in: Rosenbaum, Sebastian (Hg.): Górny Śląsk i Górnoślązacy. Wokół problemów regionu i jego mieszkańców w XIX i XX wieku, Katowice-Gliwice 2014, S. 16–36. 2 Über die Volksabstimmungskampagne sind mehrere monografische Studien verfasst worden. Trotz der Voreingenommenheit behält die Dissertation von Vogel ihren sachlichen Wert: Vogel, Rudolf: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Beuthen OS 1931. Grundlegende Monographien: Zieliński, Władysław: Polska i niemiecka propaganda plebiscytowa na Górnym Śląsku, Wrocław u.a. 1972; Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2002. Die Arbeit von Grosch ist als sachlich zu bezeichnen. Hingegen zollt Zieliński dem „Zeitgeist“ der Volksrepublik Polen in seinen Schlussfolgerungen Tribut: Die deutsche Propaganda sei negativ zu bewerten, da sie Ausdruck eines „aggressiven Imperialismus“ sei und sich „lügender, verleumderischer Argumente, vulgärer oder gar grober Angriffe auf die polnische Nation“ bediene. Die polnische Propaganda ließe indes „das Nationalbewusstsein vieler Oberschlesier reifen und ihre Verbundenheit mit dem Polentum stärken“ und wäre daher insgesamt positiv zu bewerten. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 232–233. Dennoch bleibt diese Studie ebenso wie diejenige von Grosch wertvoll. Zu den kleineren Studien vgl. z.B.: Smołka, Leonard: Między „zacofaniem“ a „modernizacją“. Polsko-niemiecki obraz wroga w okresie powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku, Wrocław 1992. Berücksichtigung der Plebiszitpropaganda auch in allgemeinen Studien zum Plebiszit, vgl. die jüngste polnische Monographie: Fic, Maciej: Plebiscyt górnośląski 20 marca 1921 roku. Najbardziej demokratyczna forma wyboru?, Warszawa 2022, S. 124–164. Eine Sammlung von Propagandaflugblättern aus der Volksabstimmungskampagne vgl. Duda-Koza, Agata/ Pawłowicz, Weronika: Tylko z Polską … Druki ulotne z okresu powstań śląskich i plebiscytu w zbiorach Biblioteki Śląskiej, Katowice 2008. Bildmaterial vgl. auch in: Krzyk, Józef: Wojna papierowa. Powstania śląskie 1919–1921, Warszawa 2014. Eine wertvolle vergleichende Monographie über visuelle Propaganda in verschiedenen Volksabstimmungsgebieten ist hier zu
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_022
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hatte die Agitationsoffensive in der Region bereits zum Ende des Ersten Weltkrieges begonnen. Etwas mehr als eine Woche, nachdem polnische Aktivisten ihren Anspruch auf Oberschlesien öffentlich gemacht hatten (am 25. Oktober 1918 in Korfantys Rede im Reichstag), was von den polnischen Medien gebührend publiziert wurde, gründete sich in Oppeln eine hakatistische Organisation namens Freie Vereinigung zum Schutze Oberschlesiens (FVSOS), deren Ziel es war, den polnischen Ansprüchen auf die Region durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken. Die Organisation verfügte über eine solide finanzielle Basis, gab drei Zeitschriften (darunter eine in polnischer Sprache) heraus, organisierte Vorträge, veröffentlichte Flugblätter und Broschüren.3 Die Propagandakampagne sollte den deutschen Charakter Oberschlesiens dokumentieren, um den polnischen Kreisen, deren Einfluss überwiegend vom Gebiet der Polnischen Republik ausging, die Argumente zu entreißen. Einen Versuch der Begrenzung stellte die Einführung der antipolnischen Zensur im Februar und dann im April 1919 dar.4 Doch erst mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages (28. Juni 1919) kam es zu einer qualitativen Veränderung in der Konkurrenz zwischen polnischen und deutschen Diskursen in Oberschlesien. Von da an war die Propaganda plebiszitär ausgerichtet, d.h. sie sollte die Bewohner der Region dazu bringen, in einer bestimmten Weise abzustimmen. Dies bedeutete mehrere Änderungen. Eine davon war, dass beide Seiten des Konflikts eine koordinierte Propagandakampagne, also eine besonders aggressive, thematisch fokussierte Form der Propaganda, durchführten. Die Kampagne fiel in eine unruhige Nachkriegszeit, in der die Erfahrungen mit der Kriegspropaganda, der Dämonisierung des Feindes und der Manipulation von Informationsbotschaften, noch sehr lebendig waren. Die in der Volksabstimmungskampagne sichtbare Radikalisierung der sprachlichen und visuellen Seite der Propaganda war auch eine Folge des Ersten Weltkrieges, als sich verrohte Formen der diskursiven und visuellen Beeinflussung entwickelten, bei denen auch vor der Animalisierung des Gegners und seiner drastischen Darstellung nicht zurückgeschreckt wurde (vgl. die Kampagne zu den sogenannten deutschen Gräueltaten, german
finden: Jebsen, Nina: Als die Menschen gefragt wurden. Eine Propagandaanalyse zu Volksabstimmungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Münster-New York 2015, S. 72–276. 3 Die Arbeit hinter den Kulissen dieser Organisation wird von dem Schriftsteller Robert Kurpiun in seinem Tagebuch beschrieben, vgl. Kurpiun, Robert: Am Abgrund. Das Jahr 1919 in einer oberschlesischen Grenzstadt. Nach Tagebuchblättern, Breslau 1942, S. 78ff.; Laubert, Manfred: Die oberschlesische Volksbewegung. Beiträge zur Tätigkeit der Vereinigung heimattreuer Oberschlesier 1918–1921, Breslau 1938, S. 1–48. 4 Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 119.
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atrocities, in der britischen Propaganda). Die Propaganda wurde zu einer Art Verlängerung des Krieges – mit Worten und in Bildern.5 Trotz der vielen Sachargumente kommt man nicht umhin, auch bezüglich der Volksabstimmungskampagne folgendes festzustellen, um Arthur Ponsonby zu zitieren: „when war is declared, truth is the first casualty“ („Nach der Kriegserklärung ist die Wahrheit das erste Opfer“). Es wäre jedoch ein Fehler, die Volksabstimmungskampagne auf rudimentäre Formen der visuellen Kriegsführung zu reduzieren. Die Soziotechnik der Propaganda (verstanden als Methoden und Aktionen, die darauf abzielen, das gewünschte Verhalten von Einzelpersonen und Personengruppen zu erreichen) ging über sprachliche und visuelle Mittel hinaus, die klassischerweise mit Volksabstimmungskampagnen verbunden sind. Im Wesentlichen war Propaganda also eine multi-instrumentale Partitur, in der die Erzeugung von Stimmungen und Emotionen, vor allem durch kulturelle Interaktion, materielle Maßnahmen in Form von Soforthilfe und schließlich politische Gewalt eine ebenso wichtige Rolle spielten wie Diskurse und Ikonografie. So umfasste die Propaganda auch Aktionen wie Stimmenkäufe (gegen Geld, Lebensmittel oder anderes), Drohungen mit Entlassung von der Arbeit, Druck seitens des Klerus (mit dem Argument, eine Stimme für Polen/Deutschland sei eine Sünde), Nötigung zur Stimmabgabe unter Belagerung der Wahllokale durch Schläger am Tag der Volksabstimmung.6 Da es sich dabei jedoch nicht um Beeinflussung durch Überzeugungskraft im eigentlichen Sinne handelte, sollen solche Aktionen an dieser Stelle vernachlässigt und der Fokus stattdessen auf die Analyse der Diskurse und Ikonographie gelegt werden. Propaganda wird im Folgenden vor allem kommunikationstheoretisch verstanden, als eine Form der politischen Kommunikation, die nicht so sehr der Information oder der ernsthaften Diskussion dient, sondern der Überredung 5 Zum Thema Kriegspropaganda vgl. u.a. Demm, Eberhard: Ostpolitik und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2002. Vgl. auch Horne, John/Kramer, Alan: Deutsche Kriegsgräuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2018, S. 260–332; Ponsonby, Arthur: Lügen in Kriegszeiten. Kritische Betrachtungen, Frankfurt am Main 2022 (Buch von 1928); Górny, Maciej: „Duch w chorem ciele“. Główne narracje propagandy w czasie I wojny światowej, in: Schramm, Tomasz/Szymczak, Damian (Hg.): Kwestia polska w propagandzie w okresie pierwszej wojny światowej, Poznań 2018, S. 59–73. Allgemeine Bemerkungen zur Kriegspropaganda: Morelli, Anne: Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2015. 6 Rosenbaum, Sebastian: „Prawda i prawo są po naszej stronie“. Plebiscyt górnośląski z 20 marca 1921 roku w Tarnowskich Górach i powiecie tarnogórskim w świetle „Tarnowitzer Kreis- und Stadtblatt“ i „Tarnowitzer Zeitung“, in: Rocznik Muzeum w Tarnowskich Górach 2019, S. 86–166; Łakomy, Ludwik: Niemiecka propaganda plebiscytowa, in: ders. (Hg.): Plebiscyt Górnośląski 1921 – 20 III – 1936. Wydawnictwo pamiątkowe w 15-letnią rocznicę, Katowice [1936], S. 42–43.
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und Überzeugung.7 Der Begriff wird jedoch in Anlehnung an Talcott Parsons neutral und nicht abwertend behandelt, als eine Beeinflussung der Einstellungen und Handlungen der Menschen durch sprachliche und visuelle Reize.8 Dennoch ist es wichtig, den manipulativen Charakter der Propaganda und den Einsatz von Tricks zu bedenken, die darin bestehen, Tatsachen vorzutäuschen, zu verunklaren, zu verdrehen („graue“ Propaganda) oder schlichtweg zu fälschen – also Fehlinformationen zu übermitteln und/oder den tatsächlichen Absender zu verschleiern („schwarze“ Propaganda).9 Die in dem vorliegenden Beitrag enthaltene Analyse soll die fünf Fragen nach dem Modell von H.D. Lasswell beantworten (who says? what? through what channel? to whom? with what effect?10), was jedoch nicht immer möglich ist, insbesondere wenn es darum geht, die Auswirkungen einer bestimmten Form der Einflussnahme zu bewerten.
Strukturen und Mittel der Propaganda
Ebenso wichtig wie die Ausrichtung der Propaganda auf das Plebiszit war deren Strukturierung auf der Grundlage spezifischer Organisationen – Plattformen, die sich für agitatorische Aktivitäten zuständig zeigten. Es sollte betont werden, dass sowohl die deutschen als auch die polnischen Strukturen die Ziele von Regierungen verfolgten, die – um Edward L. Bernays zu zitieren – „die Fäden zog[en] und die öffentliche Meinung kontrollierte[n]“11. Auf deutscher Seite12 wurde diese Rolle ab Herbst 1919 von den Vereinigten Verbänden Heimattreuer Oberschlesier übernommen, die zum Teil aus der ehemaligen nationalistischen FVSOS hervorgegangen waren, sich jedoch von ihren Verbindungen zur hakatistischen Bewegung gelöst hatten, um ihre Mitarbeiterbasis erweitern und ihre Reichweite vergrößern zu können. Mit hundert lokalen Gruppen aus etwa 10.000 Vertrauensleuten in den 19 Kreisen des Volksabstimmungsgebietes bildeten sie eine beachtliche Kraft. Gleichzeitig koordinierten die Heimattreuen auch die Propaganda für Oberschlesien im
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Bussemer, Thymian: Propaganda. Konzepte und Theorien, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 13. Parsons, Talcott: Szkice z teorii socjologicznej, Warszawa 1972, S. 179. Dobek-Ostrowska, Bogusława/Fras, Janina/Ociepka, Beata: Teoria i praktyka propagandy, Wrocław 1997, S. 33–34. Vgl. Kolczyński, Mariusz: Strategie komunikowania politycznego, Katowice 2008, S. 17. Bernays, Edward L.: Propaganda, Wrocław 2020. Vgl. den Beitrag von Guido Hitze in diesem Band.
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Inneren des Reiches, außerhalb des Abstimmungsgebietes.13 Die Steuerung der Agitation lag jedoch in den Händen des Schlesischen Ausschusses mit Sitz in Breslau und Beuthen. Das Plebiszitkommissariat für Deutschland war in diesem Bereich von geringer Bedeutung. Nicht unbedeutend war hingegen auch die Rolle der Pressestelle im Büro des Staatskommissars für öffentliche Ordnung und Sicherheit, Karl Spiecker, der grauen Eminenz der preußischen und der Reichsbehörde in der oberschlesischen Frage.14 Zwischen diesen Stellen und Zentren wurden unter Leitung der Behörden die Inhalte und Formen der Kampagne entwickelt. Dieser Zersplitterung der koordinierenden Akteure auf deutscher Seite stand eine weitgehende Zentralisierung auf polnischer Seite gegenüber,15 und zwar im Polnischen Plebiszitkommissariat in Beuthen, das mit den Behörden in Warschau, vor allem mit dem Zentralen Plebiszitausschuss, in Verbindung stand. Letztgenannte Institution leitete seit Juni 1920 die propagandistischen Vorbereitungen in der Republik Polen und versorgte auch die polnische Bewegung in Oberschlesien mit Flugblättern, Pamphleten, Finanzen und Agitatoren. Erste Kurse für Plebiszit-Agitatoren richtete der Verband zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete Polens in Krakau, Posen und Warschau bereits im Sommer 1919 aus. Das Komitee für die Wiedervereinigung Oberschlesiens mit der Republik Polen in Warschau entsandte etwa 400 Personen, die als Sprecher auftraten.16 Insgesamt waren 2.700 dem Kommissariat unterstellte Agitatoren im Einsatz.17 In den oben genannten Einrichtungen wurden Propagandainhalte vorbereitet (gelegentlich auch produziert) und an die Verantwortlichen in Presse, Kultur, Bildung, Wirtschaft, Sport und Politik weitergegeben. Von dort aus wurde das Programm dann mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – von 13
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Zuletzt vgl. Grudniewski, Jakub: Zjednoczone Związki Wiernych Ojczyźnie Górnoślązaków (Vereinigte Verbände Heimattreuer Oberschlesier), in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. I, I powstanie śląskie w 1919 roku, Katowice 2019, S. 344–349. Vgl. auch Laubert: Die oberschlesische Volksbewegung, S. 60f. Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 37–54; Kiene, Claudius: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie, Berlin-Bern 2020, S. 39–50. Vgl. den Artikel von Mirosław Węcki in diesem Band. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 87–90; Centralny Komitet Plebiscytowy, in: Hawranek, Franciszek (Hg.): Encyklopedia Powstań Śląskich, Opole 1982, S. 68. Die Mehrheit der polnischen Plebiszit-Agitatoren stammte entweder aus dem Plebiszitgebiet oder gehörte nationalen Organisationen an, aber auch der Anteil der Einwanderer war beträchtlich (1/4 von 400 analysierten Aktivisten) – vgl. Musialik, Wanda: Polskie elity plebiscytowe na Górnym Śląsku 1921 r., in: Lis, Michał: Drogi Śląska do Polski, Opole 1996, S. 62–64.
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Massenveranstaltungen mit Chören, Amateurtheateraufführungen und Vorträgen bis hin zu Flugblättern, die von Hand zu Hand verteilt wurden – an die breite Masse der Bevölkerung der Region herangetragen. Dabei setzte man vor allem auf direkte Beeinflussung über die bereits erwähnten kulturellen Veranstaltungen, Kundgebungen, Ausflüge, z.B. nach Krakau, gesellschaftliche Feiern, aber auch die sogenannte „Flüsterpropaganda“ – Botschaften, die individuell und vertraulich im privaten Gespräch übermittelt wurden.18 Die seit der Vorkriegszeit bestehenden oder unmittelbar nach dem Krieg gegründeten Vereine mit unterschiedlichsten Profilen bildeten somit einen zweiten, unverzichtbaren Agitationskreis. Diese Strukturen standen ebenso wie wirtschaftliche Betriebe auch hinter einer weiteren Form der Propaganda – der materiellen Einflussnahme. Dies geschah in Form von Geld- oder Sachspenden, Schenkungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs oder der Gewährung anderer Hilfen, beispielsweise bei der Arbeitssuche oder im beruflichen Fortkommen. Solch unmittelbare Einwirkungen wurden häufig mit Gewaltakten beantwortet – etwa durch die Auflösung von Kundgebungen und Vorträgen oder Angriffe auf Redner der Gegenseite.19 Die Milieuführer, darunter der (vor allem katholische) Klerus, spielten eine führende Rolle. Die Verteilung seiner Sympathien für die Volksabstimmung wurde in der Literatur unterschiedlich bewertet; schätzungsweise haben etwa 120 katholische Priester direkt an der Kampagne für das Plebiszit auf der einen oder anderen Seite teilgenommen. Von den etwa 500 Geistlichen in der Diözese Breslau soll die große Mehrheit – etwa 400 – die deutsche Sache unterstützt haben; etwa 100 Priester befürworteten die polnische Bewegung. Die polnische Seite profitierte außerdem von der agitatorischen Fürsprache mehrerer Dutzend Priester von außerhalb der Diözese.20 Indirekte (unpersönliche) Propaganda wurde über Massenmedien verbreitet, vor allem in gedruckter, schriftlicher und ikonographischer Form – angefangen bei der Presse, über Proklamationen, Flugblätter, Plakate und so unscheinbare Mittel wie Aufkleber und Ersatzgeld (Notgeld). Dieses quantitativ umfassende Material (einige Flugblätter wurden in einer Auflage von einer halben Million Exemplaren herausgegeben) bildete den Kern der propagandistischen Arbeit. Wie man sieht, wurden zusätzlich zu den bereits erwähnten ikonografischen Veröffentlichungen zwei weitere Mittel eingesetzt: 18 19 20
Auf polnischer Seite glaubte man, dass die Deutschen Bettler in die Region schickten, um ihnen über die schlimmen Zustände in Polen Bericht zu erstatten. Die Polen schickten nachrichtlich Aufwiegler als Hausierer um die Häuser. Fic: Plebiscyt górnośląski, S. 133. Fic: Plebiscyt górnośląski, S. 128–130, 161–164. Myszor, Jerzy: Duchowieństwo katolickie wobec powstań i plebiscytu, in: CzasyPismo o historii Górnego Śląska 2018, Nr. 1 (13), S. 44.
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das schriftliche – als Text, Argumentation und Polemik und das visuelle – in Form von Filmen und Diashows.21 Gerade dank der modernen, durch Technik mechanisch vervielfältigten Bildträger wie Presseschriften und Flugblätter war ein intensiver „Bilderkampf“, d.h. die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch visuelle Massenmittel, möglich geworden. Und da das „Phantasma der Nation“ bereits seit Jahren eine immer gewichtigere Rolle in der Repräsentationskunst im Dienst einer bestimmten Ideologie spielte, war es leicht, zu einer solchen Ikonographie zu greifen, die an nationale Stereotypen appellierte.22 Im Fall der Propaganda für die Volksabstimmung in Oberschlesien war dies von entscheidender Bedeutung, da die gesamte Kampagne ein Aufeinanderprallen zweier nationaler Narrative mit einem starken nationalistischen Stigma und der Schaffung eines negativen Bildes des Gegners, seiner Dämonisierung und Diffamierung darstellte, unterstützt durch die bestehenden nationalen Klischees.
Von der Presse über das Plakat bis zum Film
Die Rolle des Zeitungswesens bei der Plebiszitpropaganda war ebenfalls von grundlegender Wichtigkeit:23 Die Presse stand in ständigem Kontakt mit ihren Lesern, lieferte ununterbrochen sachdienliche Argumente und hatte dank ihrer wachsenden Auflage eine große Reichweite. Sie war damals die Hauptinformationsquelle, ein weit verbreitetes Medium mit vielen regionalen und lokalen Titeln, aber auch nationalen Zeitungen und Zeitschriften, die aus dem Hinterland des Reiches oder aus Polen kamen. Aber auch dieses Medium hatte seine Grenzen. Die Eigentumsverhältnisse der Zeitungen waren 21 22 23
Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 103. Friedrich, Jacek: Walka obrazów. Przedstawienia wobec idei w Wolnym Mieście Gdańsku, Gdańsk 2018, S. 7, 9. Umfangreich zur Presse siehe Vogel: Deutsche Presse und Propaganda; aus dieser Zeit auch die Skizze von Bar, Adam: Prasa górnośląska w okresie plebiscytu i powstań, Katowice 1935; Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 104–157; Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 115–144. Die weiteren Ausführungen stützen sich vor allem auf diese Werke, aber die Literatur zum Thema ist umfangreich, vgl. z.B.: Glensk, Joachim: Prasa okresu plebiscytu i powstań śląskich (w 65. rocznicę plebiscytu), Opole 1987; Glensk, Joachim: Polska i niemiecka prasa plebiscytowa i powstańcza na Śląsku, in: Studia Śląskie 1981, Bd. XXXIX, S. 88–148; Kuczera, Sabina: Propaganda plebiscytowa na łamach „Górnoślązaka“ w okresie bezpośrednio poprzedzającym plebiscytu górnośląski, in: Śląski Almanach Powstańczy 2018, Bd. 4, S. 29–45; Siuciak, Mirosława: Polska agitacja patriotyczna w prasie górnośląskiej okresu powstań i plebiscytu 1919–1921, in: Język Polski 2020, H. 4, S. 51–67.
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unterschiedlich; manchmal handelte es sich um kommerzielle Unternehmen, die auf Gewinne aus Anzeigen, Beilagen, amtlichen Bekanntmachungen und Klein- oder Todesanzeigen angewiesen waren. Die Leser erwarteten Informationen aus ihrer Stadt, ihrer weiteren unmittelbaren Umgebung und ihrem Landkreis. Sie wollten nicht unbedingt politische Pamphlete lesen. Darüber hinaus wurde der ideologische Einfluss der Presse durch die Zensur eingeschränkt, zunächst durch die deutsche Zensur, eingeführt von den sozialdemokratischen Behörden (Zentraler Volksrat in Breslau, Staatskommissar Otto Hörsing), die sich ab Februar 1919 vor allem gegen Spartakus- und propolnische Propaganda richtete, ab Februar 1920 gefolgt von der alliierten Zensur, die von der Interalliierten Kommission oder deren Kreisbehörden (controlleur du circle) verwaltet wurde. Bis zum Zeitpunkt der Volksabstimmung, d.h. im Verlauf von etwas mehr als einem Jahr, hatte die Interalliierte Kommission 29-mal die Veröffentlichung von Zeitungen aufgrund von alliiertenkritischen Texten vorübergehend untersagt. Dies betraf hauptsächlich deutsche Titel; nur einmal wurde die Veröffentlichung einer polnischen Zeitung ausgesetzt. Während also bis Februar 1920 vor allem die polnische Presse zensiert wurde, so betraf dies nach diesem Zeitpunkt stärker die deutschen Medien. Es ist nicht überraschend, dass beide politischen Lager der Presse große Aufmerksamkeit schenkten. Die Ausgangslage war für die polnische Seite denkbar ungünstig – 1916 lag das Verhältnis von deutschen zu polnischen Zeitungen bei 109:16, was sich auch in der Nachkriegszeit nicht ändern sollte. Der Plebiszitskampf war jedoch eine Zeit des Aufkommens neuer Titel sowie des starken Anstiegs ihrer Auflage (dank Subventionen und nicht aufgrund einer gestiegenen Nachfrage) und gleichzeitig von Veränderungen in der Eigentümerstruktur einiger Zeitungen. Das Polnische Plebiszitkommissariat, auf deutscher Seite der Schlesische Ausschuss und zahlreiche weitere Strukturen waren recht aktiv bei der Übernahme bestehender Zeitschriften, wobei beide Seiten teils um den Einfluss auf einen bestimmten Titel konkurrierten. Dies war beispielsweise bei der katholischen Tageszeitung „Oberschlesische Volksstimme“ aus Gleiwitz der Fall, deren Verleger Friedrich Feldhuß bereit war, die Zeitung an die Polen abzutreten, weil diese eine ordentliche Summe boten. Übertroffen wurde das Angebot jedoch von deutscher Seite durch Karl Spiecker, und so ging die Tageszeitung in den Besitz einer Gruppe von Gleiwitzer Aktivisten der Zentrumspartei (Katholische Volkspartei) über.24 Neben den bisher erschienenen Zeitschriften, die sich für Materialien mit propagandistischem, 24
Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 134; SHOS, DOK 00427, Der Roman meines Lebens. Erinnerungen und Erfahrungen eines Achtzigjährigen von Friedrich Feldhuss, [1947], Manuskript.
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polemischem Inhalt öffneten, und teils von den oben erwähnten, die von auf die Aufbereitung von einschlägigem Material spezialisierten Pressebüros versorgt wurden, wurden auch neue Titel herausgebracht. Solch journalistische Wochenblätter wie die deutsche Zeitung „Der Schwarze Adler“25 oder der polnische „Weiße Adler“,26 aber auch satirische Zeitschriften wie der deutsche „Pieron“27 oder der polnische „Kocynder“,28 ermöglichten es, sich ganz auf die plebiszitäre Agitation zu konzentrieren, was für die Tageszeitungen mit ihrem Informationsprimat nicht infrage kam. Die Medien waren unterschiedlich, das Ziel war das gleiche – Agitation. Angesichts der Verrohung der Medien ist es nicht verwunderlich, dass auch der Einsatz von schwarzer Propaganda nicht unterlassen wurde, wie im Fall der Fälschung der Ausgaben von „Katolik“ vom 18. und 19. März 1921 durch die deutsche Seite. Für die Presseangelegenheiten des Polnischen Plebiszitkommissariats war eine spezielle Presseabteilung zuständig; sie bereitete Material für polnische Zeitungen vor, um vereinheitlichte Inhalte zu erzeugen. Einen Sonderfall bildete allerdings der Beuthener Pressekonzern „Katolik“ von Adam Napieralski, der sich dem Kommissariat nicht unterordnen wollte, wenngleich er nie gegen Korfanty auftrat oder gar eine polnische Linie verfolgte, doch eine gewisse Distanz zum Korfanty-Kreis wahrte; er war außerdem durch seine prodeutsche Haltung während des Ersten Weltkrieges in Erinnerung geblieben. In einem allgemeinen Überblick sollte jedoch betont werden, dass sich die polnische Presse relativ einheitlich zeigte, während die deutschen Titel durch eine stärkere interne Differenzierung gekennzeichnet waren (die liberalen, demokratischen, nationalen und katholischen Strömungen entgingen nicht den Bemühungen zur Aufrechterhaltung politischer Differenzen), und zwar trotz der Einflussnahme des Presseamtes von Spiecker oder des Schlesischen Ausschusses. Dies lag auch daran, dass es auf deutscher Seite kein Zentrum für die Durchführung der Abstimmungsagitation gab (was in anderen Artikeln dieses Bandes näher beschrieben ist). Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die
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Sczodrok, Karl: „Der Schwarze Adler“, in: Der Oberschlesier 1926, Nr. 8, S. 258–261. Ratajewski, Jerzy: „Der Weisse Adler“, polskie czasopismo walczące, Opole 1965. Neulich erschienen: Bockelmann, Lars: „Pieron“, an anti-Polish satirical magazine in the wake of the Treaty of Versailles. Success and paradoxes of an ephemeral publication, in: Matériaux pour l’Histoire de notre temps, 2020, vol. 135–136, Nr. 1–2, S. 8–15. Neulich erschienen: Skowronek, Piotr: Rola „Kocyndra: czasopisma wesołego górnoś ląskiego, [które] wychodzi kiedy chce i kiedy może“ w okresie powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku, in: Pethe, Aleksandra/Musialik-Chmiel, Anna/Śpiewak, Rafał (Hg.): Polskość w narracjach medialnych z perspektywy Górnego Śląska, Katowice 2019, S. 111–159.
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Pressearbeit der Deutschen von polnischer Seite als von Spiecker „glänzend und listig“ gelenkt bewertet wurde.29 Auf Initiative von Korfanty begann das Polnische Kommissariat bereits Ende 1919, deutschsprachige Zeitungen aufzukaufen, um sie dann in propolnischem Geist zu veröffentlichen. Wie es scheint, sollten damit weniger die erklärten Deutschen überzeugt werden, Polen zu unterstützen, als vielmehr diejenigen Oberschlesier erreicht werden, die die polnische Schriftsprache nicht benutzten, und das waren offenbar viele. Versuche, populäre katholische Tageszeitungen wie die „Oberschlesische Volksstimme“ aus Gleiwitz oder den „Oberschlesischen Kurier“ aus Königshütte zu erwerben, scheiterten. Erworben werden konnte für 620.000 Reichsmark jedoch die „Oberschlesische Grenz-Zeitung“ aus Beuthen, eine der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei nahestehende Zeitung, die bisher keine große Leserschaft gehabt hatte. Im Januar 1920 folgte der Kauf der „Kreuzburger Zeitung“, die bis dahin mit der Deutschnationalen Volkspartei verbunden gewesen war, und im Mai desselben Jahres der „Schwientochlowitzer Zeitung“, beides lokale Blätter aus unterschiedlichen Teilen des Abstimmungsgebietes, die unterschiedliche Zielgruppen erreichten. Wie Władysław Zieliński bemerkt hat, entstand dadurch eine kleine Marktlücke für die deutsche Presse, die sofort durch neue deutsche Zeitungen gefüllt wurde. Die Polen aber kauften nicht nur deutsche Titel, sondern schufen vielmehr auch eigene deutschsprachige Angebote, wie den bereits erwähnten „Weißen Adler“, der schon im Januar 1919 in Oppeln erschien. Die Deutschen taten es ihnen gleich – ab März 1919 gab es die polnischsprachige, aber deutschfreundliche Wochenzeitung „Dzwon“ im Handel, die später vom Schlesischen Ausschuss finanziell unterstützt wurde.30 Im Laufe der Zeit erschienen im Umfeld des polnischen Kommissariats Dutzende von Zeitschriften in beiden Sprachen sowie eine Informationszeitschrift in französischer Sprache, die sich an französische Beamte und Soldaten richtete („Le Messager de Haute-Silésie“) und vom polnischen Kommissariat herausgegeben wurde. Das Material der Broschüren wurde oft außerhalb der Region erstellt und spiegelte nicht immer die Gefühle und Erwartungen der Oberschlesier wider – was vielleicht auch ihr Schwachpunkt war. Die Flugschriften bildeten 29 30
Łakomy: Niemiecka propaganda plebiscytowa, S. 39. Die Idee, solche Zeitschriften herauszugeben, war in den Regionen, in denen die Volksabstimmung stattfand, sehr beliebt. In Kärnten zum Beispiel gaben die Österreicher eine slowenisch-sprachige Zeitschrift, „Koroško Koroškem“ („Kärnten den Kärntnern“), heraus. Sie war proösterreichisch, herausgegeben im Kreis des Heimatdienstes, der führenden österreichischen Organisation in der Region. Fräss-Ehrfeld, Claudia: Geschichte Kärntens 1918–1920. Abwehrkampf – Volksabstimmung – Identitätssuche, Klagenfurt 2000, S. 176.
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das Hauptinstrument der diskursiven Beeinflussung, aber es ist schwer zu sagen, wie groß der Leserkreis war, den sie erreichten: Vermutlich eher klein, da sie nicht leicht zu lesen waren und einige von ihnen ein gewisses Maß an Bildung erforderten. Sowohl bei den Absendern als auch bei den Empfängern handelte es sich in der Regel um belesene Menschen, und erstere verwendeten Argumente, die nicht immer ein breites Publikum erreichten. Schwierig gestaltet sich auch eine Einschätzung hinsichtlich der Zahl der veröffentlichten Broschüren; hier herrscht Uneinigkeit unter den Historikern, ob die deutsche oder die polnische Seite tatkräftiger war. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zahlen ähnlich ausfielen, obwohl der polnische Historiker Władysław Zieliński behauptet hat, dass die Deutschen den Polen mit hundert veröffentlichten Flugblättern zahlenmäßig überlegen waren; das Gegenteil glaubte der deutsche Historiker Waldemar Grosch. Ein gewisser dialogischer Charakter dieser Veröffentlichungen ist charakteristisch: Einige stellten eine Antwort auf die Schriften des Gegners dar, die angebliche oder tatsächliche Lügen und Manipulationen aufzeigten; andere dienten nicht unbedingt Propagandazwecken, sondern waren eher als Informationsmaterial gedacht, das im Rahmen der Kampagne veröffentlicht, aber nicht in diesem Sinne verfasst wurde.31 Andere, kürzere und einfachere Formen – in der Regel einseitige Flugblätter und Plakate – richteten sich eher an die breite Masse der Bevölkerung. Sie sind als wichtigstes Medium im Zusammenhang mit der Überzeugungsarbeit bei Volksabstimmungen anzusehen. In Auflagen von 200.000 bis 300.000 oder sogar 500.000 Stück gedruckt, von Flugzeugen aus verteilt, an Mauern und Zäunen aufgehängt, auf der Straße und bei Kundgebungen verteilt, wurden sie vor allem in der Endphase des Wahlkampfs allgegenwärtig. Sie vermittelten klare und wirkmächtige Botschaften, indem sie die Leser einschüchterten, auf deren Kritiklosigkeit setzten, negative nationale Stereotypen verstärkten, immer wieder Bezug auf Fragen des Lebensunterhalts nahmen und komplexe wirtschaftliche Inhalte auf moderne Art und Weise präsentierten, teils unter Verwendung origineller Infografiken. Auf diese Weise entstanden „Extrakte von Propaganda-Argumenten“ (Zieliński).32 Noch prägnanter fielen die Aussagen der sogenannten „Vignetten“ aus – kleine, kostengünstig herzustellende und überall angebrachte Aufkleber – sowie der mit Schablonen auf Wände 31
32
Zieliński, Polska i niemiecka propaganda, S. 105–106; Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 420–426. Vgl. auch: Śleziak, Marta: „Lesen und weitergeben“. Ephemere Drucke vor der Volksabstimmung in Oberschlesien (1921) als Beispiel einer effektiven Kommunikation, in: Studia Germanica Gedanensia 2019, Nr. 41, S. 297–316. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 110.
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gemalten Slogans. Diejenigen, die keine Zeit oder Muße hatten, längere überzeugende Texte in Zeitungen oder Broschüren zu lesen, wurden auf diese Weise mit starken Botschaften bedacht. Das wohl wirksamste Propagandamittel war jedoch das Plakat, das sich visueller, ikonographischer und künstlerischer Mittel bediente.33 Da Plakate einen qualitativ hochwertigen Druck erforderten, war ihre Herstellung teuer – dies war sicherlich ein gewichtiger Nachteil und erhöhte die Kosten der Kampagne beträchtlich. Außerdem bestand die Gefahr, dass beispielsweise in einem entschieden propolnisch orientierten Dorf verhängte deutschfreundliche Plakate (und umgekehrt) unmittelbar wieder entfernt wurden, sodass davon auszugehen war, dass dessen Wirkung hinter den Erwartungen zurückbleiben würde.34 Die Motive der Plakate tauchten auch in Zeitungsbeilagen von geringerer Qualität auf. Ähnliche visuelle Motive fanden sich darüber hinaus in den erwähnten satirischen Zeitschriften „Pieron“ und „Kocynder“ sowie auf den weit verbreiteten Post- und Ansichtskarten, die als mit Plakaten verwandtes Überzeugungsmedium betrachtet werden können.35 Für die genannten Zeitschriften und Plakate wurden prominente Satiriker und Karikaturisten von (in der Regel) außerhalb der Region angeworben, wie – auf deutscher Seite – Heinrich Zille, Karl Arnold, Erich Schilling, Arthur Johnson, Fritz Wolff, Walter Trier, Kurt Szafranski, Hans Lindloff, Fritz Schoen (Schön), Jo Steiner, Paul Halke, Willi Steinert, Georg Mühlen-Schulte, Erich Wilke, Heinrich Kley, Wilhelm Schulz, Arthur Wasner, Willibald Krain, Theo Matejko, Willi Jaeckel, Rudolph Bethge, Franz Markau, Adolf Münzer, Otto Firle, Paul Stollreither, Walter Riemer, Theodor Leisser, Josef Huber-Feldkirch, Bruno Zwiener oder Erich J. Gottschlich. Auf polnischer Seite wurden Künstler wie Antoni Romanowicz, Wacław Lipiński, Jerzy Gelbard, Karol Kranikowski, Kazimierz Grus, Maja Berezowska, Kamil Mackiewicz, Zdzisław Czermański, Zygmunt Kurczyński, Julian Fałat, Bogdan Nowakowski und Stanisław Ligoń (der als „Karlik“ die meisten Illustrationen für „Kocynder“ lieferte) verpflichtet. Letzterer stammte als einziger von den Aufgezählten aus Oberschlesien.36 33
34 35 36
Procek, Maria: Plakaty powstań śląskich i plebiscytu, in: Zeszyty Gliwickie 1967, Bd. V, S. 97–122; Porwoł, Paweł: Z problematyki badań nad polską wizualną propagandą plebiscytową, in: Pawłowski, Ignacy: Z walk o polskość Śląska 1919–1921, Opole 1974, S. 197–212. Beste Analyse ikonografischer Motive – Jebsen: Als die Menschen gefragt wurden, S. 72–276. Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 162. Jaworski, Rudolf: „Wählt deutsch!“ – „Głosuj za Polską!“. Zur Postkartenpropaganda in Oberschlesien (1919–1921), Darmstadt 2021. Themen des Plebiszits erschienen auch in illustrierten satirischen Zeitschriften außerhalb der Region, wie der polnischen Zeitschrift „Mucha“ und dem deutschen „Simplicissimus“.
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Künstler, die für die Propaganda arbeiteten, verwendeten bewährte Schemata. Ein gutes Beispiel für die Übernahme fremder Ideen stellt das dänische Plakat zur Volksabstimmung in Schleswig dar. Es zeigt einen Jungen, der eine dänische Flagge in der Hand hält, die von einer deutschen Inschrift gerahmt wird: „Mutter stimm Dänisch, denk an mich“. Polnische Künstler übernahmen das Motiv fast eins zu eins, wobei sie sogar die Gesichtszüge des Kindes und die Anordnung der Schriftzüge kopierten, wenngleich sie den Jungen durch ein Mädchen mit der polnischen Flagge in der Hand ersetzten. Sie versahen das Ganze mit dem fast identischen Slogan „Mutter denk an mich, wähle Polen“.37 Nina Jebsen zählt einige der vorherrschenden visuellen Motive auf, die sich durch das ikonografische Propagandamaterial, nicht nur in Oberschlesien, ziehen. Dazu gehören neben der Staatssymbolik (Flagge, Wappen) die Landkarte (mit der die Rechte an der Region dokumentiert werden), die Verbindung zum und das Recht auf den Besitz des heimischen Bodens, die Landschaft der Region, der Bauer – Sämann – Arbeiter, die Frau – vor allem als Mutter, das Kind, die Bedrohung durch den Tod (Skelett, Totenschädel), wirtschaftliche Motive, Religion (Heilige), Personifikationen (Wolf, Esel) sowie für verschiedene Zwecke zu beschwörende Figuren (Korfanty als negative Figur, Teofil Kupka, der von polnischen Aktivisten ermordet wurde, als Warnung). Mit Hilfe dieser Auswahl von Motiven und Themen wurde eine komplexe Argumentation aufgebaut, die für die eine oder andere Seite überzeugen sollte. Die Verwendung von Filmen zu Propagandazwecken bleibt vergleichsweise unklar.38 Innerhalb der Kulturabteilung des polnischen Plebiszitkommissariats gab es eine kinematografische Abteilung, über die jedoch nur bekannt ist, dass sie über zwei Wagen und Projektoren für die Vorführung von Filmen auf Reisen verfügte.39 Schon allein aufgrund der Tatsache, dass sich die Kinos mehrheitlich in deutschem Besitz befanden, kam dieses Medium eher für 37 38
39
Polen oder Deutschland? Oberschlesien am Scheideweg. Zum 100. Jahrestag der Volksabstimmung in Oberschlesien / Polska czy Niemcy? Górny Śląsk na rozdrożu. W setną rocznicę plebiscytu na Górnym Śląsku, Texte v. Zbigniew Gołasz, [Ratingen 2021], S. 91. Zu diesem Thema u.a. Augustowski, Kazimierz: Filmy plebiscytowe w walce o polskość Górnego Śląska, in: Ekran 1961, Nr. 13, S. 10; Rzepka, Weronika: Nie damy ziemi skąd nasz ród …, in: Film 1978, Nr. 49, S. 3–5; Dies: Film na Śląsku w okresie powstań i plebiscytu 1919–1921, in: Zaranie Śląskie 1979, H. 2, S. 243–254; Lewandowski, Jan F.: Wojna kinematografów. Kino na Górnym Śląsku w okresie powstań i plebiscytu 1918–1922, in: Gwóźdź, Andrzej: Nie tylko filmy, nie same kina. Z dziejów X muzy na Górnym Śląsku i w Zagłębiu Dąbrowskim, Katowice 1996, S. 27–39. Biel, Urszula: Śląskie kina między wojnami czyli przyjemność upolityczniona, Katowice 2002, S. 325–327.
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deutsche Kreise infrage.40 Ein Problem stellten allerdings die von der Interalliierten Kommission auferlegten Zensurbeschränkungen dar. Für Wanderkinos, die vor allem kleinere Städte ohne feste Veranstaltungsorte besuchten, war es einfacher, den strengen Auflagen der Zensur zu entgehen. Auf deutscher Seite war die Firma „Wanderkino Oberschlesien“ mit mehreren Bussen und Projektoren in diesem Geschäftsfeld tätig.41 Dabei sind nur wenige Propagandafilme bekannt. Wir wissen, dass die polnische kinematografische Abteilung mehrere patriotische Demonstrationen mit Hilfe einer Kamera aufgenommen hat, um sie später in den Wanderkinos zu zeigen. Auch gaben polnischen Behörden zu Propagandazwecken mehrere Filme in Auftrag, deren Titel auf patriotische Themen verwiesen, die nicht nur oberschlesische, sondern auch polnische Kultur betrafen: „Nie damy ziemi stąd nasz ród [Wir werden das Land, aus dem wir kommen, nicht aufgeben], Powstanie polskie na Górnym Śląsku [Polnischer Aufstand in Oberschlesien], Tańce polskie [Polnische Tänze].“ Darüber hinaus wurden zwei Spielfilme gedreht, die künstlerisch aber wohl eher schwach waren,42 ergänzt um eine Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen, aufgenommen in Deutschland. Kurz vor der Volksabstimmung entstand zudem der Dreiakter „Brennendes Land. Ein Spielfilm aus Oberschlesien“ von Heinz Herald aus dem kleinen Studio von Ilag-Film (Isenthal und Juttke) in Berlin. Er spielt in der Zeit der Volksabstimmung in Oberschlesien und zeigt die politisch gespaltene Familie Walewski. Der Film war offensichtlich polenkritisch, ebenso wie James Bauers „Der Kampf um die Heimat“, der nicht mehr zur Plebiszitpropaganda gehörte, da er erst im Sommer 1921 fertiggestellt und offenbar vom Oberschlesier Hilfswerk finanziert wurde. Es handelte sich um ein monumentales Werk mit Tausenden Statisten in den kollektiven Szenen. Zentrales Thema waren die Kämpfe des Dritten Aufstandes. Von den Dokumentarfilmen sind „Oberschlesien und der Friedensvertrag“ von Ende 1920 oder der Ilag-Film „Bilder aus dem oberschlesischen Kampfgebiet“ von Mai 1921 besonders zu nennen.43 Die vorgestellten Beispiele bilden bei weitem nicht den vollständigen Bestand an solchen Filmen ab, zumal wahrscheinlich auch einfache Landschaftsfilme eine gewisse Propagandafunktion erfüllten, indem sie möglicherweise von Tafeln mit entsprechenden Inhalten begleitet wurden. 40 41 42 43
Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 109. Biel: Śląskie kina, S. 324. Ebenda, S. 326; Lewandowski: Wojna kinematografów, S. 35. Maśnicki, Jerzy: Płonący kraj. Górny Śląsk w niemieckim kinie niemym, in: Gwóźdź, Andrzej (Hg.): Historie celuloidem podszyte. Z dziejów X muzy na Górnym Śląsku i w Zagłębiu Dąbrowskim, Kraków 2005, S. 98–108.
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Propaganda-Inhalte
In seiner Analyse der Propaganda für das Plebiszit weist Waldemar Grosch auf mehrere Leitthemen hin, um die sich die gesamte Agitation drehte:44 a) das Recht auf Oberschlesien (im Mittelpunkt stand die historische Argumentation, aber auch Fragen der geographischen Lage der Region wurden aufgeworfen); b) die Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg (demokratische Veränderungen in Deutschland, die Entstehung und innere Situation Polens); c) die regionale Autonomie in Oberschlesien; d) die Kritik an den Prinzipien der Volksabstimmung; e) die Frage nach der politischen Gewalt (Opfer und „Märtyrer“, Repressionen); f) Chancen und Risiken der neuen Nachkriegsrealität (z.B. die Frage der polnischen Grenzkriege, der Krieg Polens gegen die Bolschewiki); g) die Verantwortung der Eltern für die Zukunft ihrer Kinder; h) der Einfluss der Religion; i) die Identität der Oberschlesier; j) stereotype Feindbilder und schließlich k) wirtschaftliche Aspekte. Auf der Grundlage einer Analyse von 455 Quellen (179 deutsche und 276 polnische) – hauptsächlich Plakate, Flugblätter, Postkarten und Aufkleber – ermittelte Grosch die folgende Verteilung der einzelnen Themen:45 a) das Recht auf Oberschlesien – in 2,3 Prozent der genannten Materialien präsent; b) Veränderungen in der Nachkriegszeit – 5,27 Prozent; c) Autonomie – 3,74%; d) Kritik an der Volksabstimmung – 5,05 Prozent; e) Gewalt – 9,89 Prozent; f) Kriegsgefahr – 8,79 Prozent; g) Verantwortung der Eltern – 6,81 Prozent; h) Religion – 10,77 Prozent; i) „Volkstum“ der Oberschlesier – 27,69 Prozent; j) Abwertung des Gegners – 32,75 Prozent; k) Wirtschaft – 37,14 Prozent. l) „suggestiver Aufruf“ (der Art „wählt Polen!“) – 18,68 Prozent.
Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Propaganda dominierten demnach drei Themen: wirtschaftliche Fragen, die Diffamierung des Gegners und die nationale Sache. Im polnischen Fall standen auch die Themen Gewalt und Religion weit oben auf der Tagesordnung, während im deutschen Fall die 44 45
Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 165–359. Ebenda, S. 360–365. Die Zahlen beziehen sich auf den prozentualen Anteil der Medien (Flugblätter, Plakate usw.), die den Hinweis enthalten, und nicht auf die Häufigkeit des Hinweises in den einzelnen Dokumenten. Die letztgenannte Berechnungsmethode führt zu etwas anderen statistischen Ergebnissen.
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Kriegsgefahr im Zusammenhang mit den Grenzkämpfen Polens dominierte.46 Zu bedenken ist, dass sich die oben genannten Ergebnisse auf eine Auswahl von Propagandamitteln beziehen; sie umfassen nicht den Inhalt von Zeitungen und Broschüren, die sicherlich mehr historische Argumente enthielten als einseitige Plakate und Flugblätter, die mit Bildern und griffigen Slogans arbeiteten. Bleibt man im Kreis der Analysen von Grosch, so lässt sich auf die spezifischen Schlagworte und Themen hinweisen, die er in den einzelnen Bereichen verortet. Im Spektrum der historischen Argumente für das Recht auf Oberschlesien führt Grosch folgende Inhalte auf:47 die Besiedlung der Region in der Antike und im frühen Mittelalter; die Rolle des schlesischen Herrschergeschlechts der Piasten; die Abspaltung Oberschlesiens von Polen im Mittelalter und sein Verhältnis zu Böhmen sowie Oberschlesien als Teil des preußischen Staates. In dem Themenblock über die Veränderungen in Deutschland und Polen nach dem Krieg wurden dagegen folgende Fragen aufgeworfen:48 Die Größe und Stärke Polens (im Gegensatz zur Schwäche des besiegten Deutschlands); die inneren Veränderungen in beiden Ländern (zum Guten oder zum Schlechten) und die Regierungsform (Destabilisierung versus Stabilität der demokratischen Behörden). Während die unterschiedlichen Formen der Erweiterung der regionalen Autonomie in Deutschland (Provinz, Bundesland) und Polen (autonome Wojewodschaft) keiner Erläuterung bedürfen, war die Frage der Kritik am Plebiszit im Rahmen der Plebiszitkampagne etwas komplizierter.49 Dieses Thema war jedoch ebenfalls und sogar in Bezug auf die Legitimität des Plebiszits präsent (die polnische Seite bestand darauf, dass ihr die Region ohne Abstimmung zugeteilt werden sollte). Diskutiert wurden die Abtrennung des Abstimmungsgebietes vom Deutschen Reich und seine Unterstellung unter alliierte Besatzung, die Einführung der zwei Stimmzettel (als Grundlage für die Einschüchterung von Personen, die mit einem einbehaltenen Stimmzettel das Wahllokal verließen), die Art und Weise der Aufstellung von Listen der Wahlberechtigten und vor allem die Teilnahme von Emigranten an der Volksabstimmung, die ein wichtiges Motiv für die Auseinandersetzungen war. Auch die Art der „religiösen“ Argumentation war vielschichtig.50 Hier wurde auf historische Fragen verwiesen, wie die Zugehörigkeit zu bestimmten 46 47 48 49 50
Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 366. Ebenda, S. 165–172. Ebenda, S. 173–178. Ebenda, S. 183–190. Ebenda, S. 221–246.
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Diözesanstrukturen, die Geschichte der katholischen Kirche in Oberschlesien oder das Verhältnis zwischen Katholizismus und Polentum. Auf der einen Seite wurde Polen als Mutterland des Katholizismus dargestellt, das antemurale Christianitatis, und auf der anderen Seite der antichristliche Charakter Deutschlands und die Vorherrschaft des Protestantismus in diesem Land hervorgehoben. Grosch sieht in der Betonung kirchlicher und geistlicher Autorität ein wichtiges Element religiöser Propagandathemen, sowohl durch die Beteiligung des Klerus an der Agitation als auch durch Appelle der Priester (und des Heiligen Stuhls) als eine Art Orakel, durch Berufungen auf Gott, die Jungfrau Maria, die Heiligen und Hinweise auf das ewige Leben. Władysław Zieliński wies darauf hin, dass der Kern der polnischen Argumente dieser Themengruppe darin bestand, auf Deutschland (Preußen) als ein dem Katholizismus grundsätzlich feindlich gesinntes, lutherisches Land hinzuweisen, sodass „die Wahl Polens (…) ein Kampf für das Wohl der katholischen Kirche ist, (…) ein Kampf für die Rettung der Oberschlesier.“51 Die Deutschen betonten ihrerseits, der Katholizismus wäre gerade aus den deutschen Landen nach Polen gekommen; zudem wären die deutschen Katholiken für ihre Frömmigkeit bekannt. Es wurde hervorgehoben, dass Polen derzeit von Sozialisten regiert wurde, also von stark antiklerikal eingestellten Personen (was nicht ausschloss, dass an anderer Stelle betont wurde, dass die Republik Polen ein reaktionäres Land war).52 Im polnischen Lager war man der Meinung, dass der Pfarrer Paul Nieborowski mit seinem polnischsprachigen Pamphlet „Guter Rat eines katholischen Priesters zur Wahl“, religiöse (das Christentum kam aus Deutschland) mit zivilisatorischen Argumenten (der kulturelle Fortschritt kam ebenfalls aus dem Westen) verband, und damit „der deutschen Sache einen großen Dienst erwies […].“53 Die Deutschen wiesen darauf hin, dass die Berufung der Polen auf ihren Katholizismus mit der Anwendung politischer Gewalt (Aufstände) kollidierte.54 Eine visuelle Manifestation dieses Arguments war die Zeichnung in „Pieron“, die Korfanty mit hassverzerrtem Gesicht und geballten Fäusten zeigte; er stand neben Christus. Jesus erklärt: „Ich predige Euch die Liebe“, worauf Korfanty antwortet: „Ich predige Euch den Haß“. Wie die statistischen Berechnungen von Grosch zeigen, spielte die Frage nach der Identität der Oberschlesier eine erhebliche Rolle während der Kampagne.55 Der Autor weist auf zwei Themen hin, die von beiden Seiten 51 52 53 54 55
Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 175–177 (Zit. S. 177). Ebenda, S. 177. Łakomy: Niemiecka propaganda plebiscytowa, S. 41. Kaisig, Karl: Die polnische politische Propaganda in Oberschlesien und die deutsche Abwehr. Historisch-kritische Skizze, Gleiwitz 1924, S. 19–22. Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 247–283.
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angesprochen werden: einerseits die Ungenauigkeit früherer Statistiken zur nationalen Identität, insbesondere aus den Jahren 1900, 1905 und 1910, und andererseits, dass die Wahlbeteiligung als Prüfstein der Nationalität dienen sollte. Dennoch betonte die polnische Seite unmissverständlich, dass alle gebürtigen Oberschlesier Polen seien, allenfalls wären einige von ihnen als Opfer der Germanisierung von der Nation abgerückt („Renegaten“). Streitgegenstand war der oberschlesische Dialekt, der von beiden Seiten unterschiedlich wahrgenommen wurde. Die deutsche Seite argumentierte, die Bewohner der Region hätten eine natürliche Neigung zu den Deutschen, die „polnischen Oberschlesier“ seien keine „Polen“; betont wurde ihre Besonderheit, gleichsam ein eigenes Volk zu sein. Ein wichtiges Motiv war auch die Forderung nach der Gleichberechtigung der Oberschlesier, die zu „Herren im eigenen Haus“ werden sollten, während sie in Deutschland bisher „Bürger zweiter Klasse“ gewesen waren, diskriminiert von der Verwaltung, unterdrückt von Magnaten und Kapitalisten. Die Deutschen wiederum wiesen darauf hin, dass die Oberschlesier in den Kriegen, die Polen um seine Grenzen führte, zu Kanonenfutter werden und der Willkür des Adels zum Opfer fallen konnten. Aus diesem „identitären“ Themenkomplex bestand laut Władysław Zieliński der zentrale Inhalt der polnischen Agitation. Ihm zufolge war der Kern der Argumentation für die polnischen Rechte an der Region der polnische Charakter Oberschlesiens, das ethnische Polentum seiner Bewohner, das von der jahrhundertelangen Germanisierung fast unberührt geblieben sei. Aus diesem Grund propagierte das Polnische Plebiszitkommissariat auch die These von der absoluten Gewissheit eines polnischen Sieges bei der Volksabstimmung. Die Deutschen hingegen vertraten die These, dass es in Oberschlesien keine Polen gab, sondern nur eine polnischsprachige Bevölkerung, „polnischsprachige Preußen“, eine Mischbevölkerung germanisch-slawischer Abstammung. Während die Deutschen verkündeten, dass die sogenannte polnische nationale Wiedergeburt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nur das Ergebnis des fremden Einflusses „großpolnischer Agitatoren“ (aus der Provinz Posen) gewesen sei, betonten die Polen das Polentum der einheimischen Bevölkerung und das „hakatistische Gift“, das die gesamte deutsche Nation mit dem Geist der Germanisierung und der Ausrottung des Polentums vergifte. Auch nach 1918, nach der Gründung der Republik in Deutschland, setzte sich die antipolnische Politik, die Unterdrückung der Polen fort: „Sowohl das Kaiserreich als auch die sozialistische Republik waren und sind Feinde des Polentums.“56 Der sozialdemokratische Präsident Friedrich Ebert erschien als Schüler und Erbe Friedrichs des Großen, wie in Bogdan Nowakowskis satirischer Zeichnung in 56
Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 179.
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der Warschauer Zeitschrift „Mucha“. Diese Meinungen spiegelten auch eine bestimmte Sicht der Vergangenheit wider: Für die Polen stellte die preußische Herrschaft ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine Zeit der Unterdrückung dar, während die deutsche Seite diese als Blütezeit der Region betrachtete. Die polnische Propaganda berief sich auf die dauerhaften historischen Verbindungen zwischen Oberschlesien und den polnischen Gebieten, insbesondere im Mittelalter, während diese nach Ansicht der Deutschen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts unterbrochen worden waren, woraufhin die Region unter deutschen Einfluss geraten war, vor allem durch die mittelalterliche Kolonisation.57 Als Vorwand für wahllose Angriffe und eine besondere Brutalisierung der Propaganda diente die Darstellung des Gegners, die sowohl eine integrative (die eigene Gruppe um sich scharend) als auch eine desintegrative Methode (die Bindung an die andere Gruppe lösend) war.58 Beiderseitige Vorwürfe betrafen Lüge und Betrug, Verbrechen, Gewaltbereitschaft und ein beklagenswertes kulturelles Niveau der Feinde. Einzelne Personen wurden gezielt angegriffen – vor allem der Leiter des polnischen Lagers, Wojciech Korfanty; er wurde reihenweise negativ dargestellt: als Anführer krimineller Banden, als zynischer Lügner, der sich privat bereichern wollte, als amoralischer Agitator und straffälliger Abtrünniger (die Deutschen glaubten, er sei deutscher Herkunft). Gleichzeitig wurden nationale Stereotype in Gang gesetzt: die zivilisatorische Unterlegenheit der Polen, ihr anarchischer Charakter, ihre Misswirtschaft (polnische Wirtschaft), die Vergänglichkeit des polnischen Staates (Saisonstaat), die polnische „Rückständigkeit“ und die deutsche „Modernisierung“.59 Es wurde eine Antithese konstruiert: „Polnische Unordnung gegen deutsche Ordnung und Solidität“.60 Um die kulturelle Unterlegenheit der Polen zu demonstrieren, wurde an das Elend der polnischen Emigranten aus Galizien oder Russisch-Polen erinnert, die über Myslowitz nach Oberschlesien gekommen waren. Die polnischen „Adligen“ wurden als Blutsauger dargestellt, die ihre „Untertanen“ wie Sklaven behandelten, als zukünftige Ausbeuter der Oberschlesier. „Was erwartet Polen von mir?“, fragt das Dienstmädchen ihren 57 58 59
60
Ebenda, S. 169–174, 178, 179. Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 284–309; Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 184. Zu diesem Thema vgl. kürzlich Kornat, Marek: Niższość cywilizacyjna wrogiego narodu. Niemieckie dyskursy o Polsce i Polakach 1919–1945, Warszawa 2020, S. 31–178. Dies war in gewisser Weise eine Umkehrung der deutschen Propagandalinie aus dem Ersten Weltkrieg, in der die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens (die als deutsches Verdienst angesehen wurde und 1916 erfolgte) positiv konnotiert war. Kaczmarek, Ryszard: Kwestia polska podczas I wojny światowej w propagandzie na Górnym Śląsku, in: Schramm/Szymczak: Kwestia polska, S. 123–142. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 188.
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Herrn, einen preußischen Junker, in einer der satirischen Zeichnungen. „Dass du mich an die Robe küssen musst und ich dich wie ein polnischer Edelmann ohrfeigen darf“, antwortet der Junker. Die Polen bekräftigten das Stereotyp des aggressiven und brutalen „Kreuzritters“ – des Militaristen, des arroganten und Polen verachtenden „Prusak“ (Preuße), des Junkers und Magnaten, des sich für eine überlegene menschliche Spezies haltenden Ausbeuters, des „Kulturträgers“ unter den slawischen Wilden.61 Falschheit und Täuschung sind, so die polnische Propaganda, angeborene Eigenschaften der Deutschen und insbesondere der Preußen. Sie haben sich Schlesien mit Gewalt angeeignet, sie haben es illegal in Besitz genommen, was typisch für sie sei. Ihre angebliche Kultur ist vorgetäuscht: In Wirklichkeit sind sie Barbaren, die eine Zerstörung Europas anstreben und deren Militarismus den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verursacht hat. Die Deutschen präsentierten Polen als aggressives Land, das versucht, nichtpolnische Gebiete zu annektieren und dafür nicht vor Krieg zurückschreckt. Polen war ein militarisiertes Land, das sich in einem ständigen Kriegszustand befand, während Deutschland nach 1918 entwaffnet war und die Oberschlesier im Gegensatz zu Polen nicht mehr als „Kanonenfutter“ benötigte. Ein großer Erfolg für die polnische Seite war im Zusammenhang dieser Vorwürfe also die Unterzeichnung des Friedens von Riga mit dem bolschewistischen Russland, die allerdings erst am 18. März 1921, also mehr oder weniger am Vorabend der Abstimmung, stattfand.62 Bei der Aktivierung negativer Bilder von Gegnern wurden häufig personifizierende Tierbilder verwendet: Deutsche wurden als Wölfe oder Kakerlaken dargestellt (aber auch von Polen finden sich in „Pieron“ „wolfsähnliche“ Karikaturen). Menschen, die „falsch“ gewählt hatten wurden als Esel dargestellt, Oberschlesier als Vieh präsentiert – als Ochsen, die zum Schlachter geführt wurden, oder Milchkühe, die gemolken werden mussten. Auch Schweine waren ein häufiges Motiv – Korfanty beispielsweise wurde als mageres, auf Dung liegendes Schwein dargestellt, das sich dann in einen gemästeten Eber in eleganter Kleidung verwandelte. Ein Preuße als monströses Schwein, das über Oberschlesien herrscht, wurde beispielsweise in der Warschauer Zeitschrift „Mucha“ abgedruckt. Die Entscheidung für eine der beiden Optionen wurde als Versklavung oder gar als Tod dargestellt. „Nur mit Polen wird das schlesische Volk die Fesseln der Unfreiheit sprengen können“, hieß es auf einem Plakat. „Seid keine Sklaven 61 62
Zu polnischen nationalen Stereotypen über Deutsche vgl. Wrzesiński, Wojciech: Sąsiad. Czy wróg? Ze studiów nad kształtowaniem obrazu Niemca w Polsce w latach 1795–1939, Wrocław 2007 (2. Aufl.), S. 199–508. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 183–184, 187, 192–194, 197/198.
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des deutschen Leichnams“, stand auf einem anderen, mit dem Bild eines Skeletts unter einer Pickelhaube. Auf einem anderen Plakat mit einem Totenkopf stand: „Den Oberschlesiern droht der Tod, wenn sie bei den Deutschen bleiben!!! Vor Hunger, Pest, Krieg und Eingliederung nach Deutschland bewahre uns, Herr!“ Auf einem deutschen Plakat tauchte ein Totenschädel mit einer typisch polnischen militärischen Schirmmütze (rogatywka) auf. Die wirtschaftliche Argumentation spielte auf beiden Seiten eine wichtige Rolle.63 Grosch zählt einige maßgebliche Punkte auf. Vor allem auf polnischer Seite wurde die im August 1919 in der Republik verabschiedete Parole der Agrarreform mit Nachdruck vertreten; es wurde auf die Dominanz des Großgrundbesitzes in Oberschlesien hingewiesen, dessen Parzellierung erst nach der Eingliederung nach Polen möglich sein würde. Die Angst vor einer wirtschaftlichen Diskriminierung der Region war in der Agitation beider Seiten deutlich spürbar. Vor allem aber wurde auf die schwierige Lage des betreffenden Landes hingewiesen: Deutschland leide unter dem Joch der Reparationen und Schulden, zudem habe es wirtschaftlich wichtige Gebiete und viele wertvolle Rohstoffe verloren, es sei ein „geschlagener und bankrotter“ Staat. Oberschlesien sollte nun also zum Hauptzahler der deutschen Reparationsleistungen (Zahlungsmichel) werden. Die polnische Seite hatte es hier viel leichter – die von ihr angeführten Fakten waren unbestreitbar und belasteten die deutsche Hypothek. Als die Deutschen argumentierten, dass auch Polen nicht frei von Kriegsschulden war, konterte die polnische Agitation mit einer Berechnung, der zufolge die Republik Polen 139-mal weniger Schulden hatte als Deutschland. Im Gegensatz dazu war es für die deutsche Seite ein Leichtes, zu argumentieren, dass Polen im Vergleich zu Deutschland ein rückständiges, armes, unproduktives Land ohne Industrie und Landwirtschaft mit einem hohen Anteil an Analphabeten und einem Mangel an Facharbeitern und Kadern sei. Die polnische Propaganda versuchte, dieses Narrativ zu untergraben, indem sie darauf hinwies, dass Oberschlesien im zukünftigen polnischen Staat eine besondere, führende und dominierende Rolle spielen würde, dass es eine Art wirtschaftlicher Champion sein würde, anders als in Deutschland, wo es im Vergleich zu anderen Teilen Deutschlands eine benachteiligte Region darstellte und die Oberschlesier ausgebeutet wurden sowie niedrigere Löhne erhielten als im Hinterland des Reiches. Auch wurde berichtet, dass die polnischen Steuern niedriger waren als die deutschen und dass die polnische Währung stärker sei und Polen ein großer Markt für die oberschlesische Industrie werden konnte. Weitere wichtige Themen, die aus 63
Grosch: Deutsche und polnische Propaganda, S. 310–359; Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 200–205.
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zwei gegensätzlichen Blickwinkeln erörtert wurden, waren die Erhaltung der deutschen sozialen Errungenschaften, das Lohnniveau, die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsbedingungen, die Lebensmittelversorgung und damit verbunden die drohende Hungersnot. Die Deutschen verbanden wirtschaftliche Argumente mit Stereotypen über das Land beziehungsweise die Nation und wiesen auf den Wahrheitsgehalt des alten Slogans „In Polen ist nichts zu holen“ hin. Es wurde argumentiert, dass Oberschlesien im Falle eines Zusammenschlusses mit Polen mit billigen polnischen Arbeitskräften überschwemmt würde, was zu einem Rückgang der Löhne und einer Verringerung der sozialen Errungenschaften führen und die Region auf Jahrzehnte sozial zurückwerfen würde. Der deutsche Aktivist Kaisig schrieb, dass die Polen astronomische Berechnungen anstellten, um zu beweisen, dass die Arbeitnehmer in Sosnowitz oder Lodz in Bezug auf die Lebenshaltungskosten besser dastanden als die oberschlesischen Arbeitnehmer. Dies wurde allerdings durch den Hinweis übertrumpft, dass keine oberschlesischen Arbeitnehmer nach Sosnowitz oder Lodz abwanderten, sondern polnische Arbeitnehmer immer wieder nach Oberschlesien kamen.64 Ein geschicktes Argument der polnischen Seite war die Berufung auf die Ideen deutscher Industrieller, die auf die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses des oberschlesischen Industriegebietes mit dem Dombrowaer Industriebecken in Kleinpolen hinwiesen. Oberschlesien konnte ohne Verbindungen zu Polen wirtschaftlich nicht existieren, weil es für die oberschlesische Kohle in Deutschland nur einen kleinen Markt gäbe, ebenso wie für Stahlprodukte, so die polnische Propaganda.65 Kaisig analysierte den Inhalt der polnischen Propaganda fortlaufend und wies auf sieben thematische Hauptmotive hin: 1) die Ausbeutung, vor allem der Kleinbauernschaft, durch die deutschen Großgrundbesitzer; 2) die Verachtung der Deutschen als „Herrenrasse“ für die unteren, „polnischen“ Gesellschaftsschichten; 3) die Befreiung von sprachlicher und nationaler Unterdrückung; 4) das Hausrecht – die Polen sind die einheimische Bevölkerung, die Deutschen die Eindringlinge; 5) das Polentum – die Oberschlesier sollen sich als Polen im polnischen Staat wiederfinden; 6) die Religiosität als polnische Domäne und 7) das Motiv der Autonomie.66 Kaisig betonte, dass die polnische Agitation auf einer Reihe von formalen Tricks basierte, um bestimmte Grundhaltungen aufzubauen. Hierzu zählte er auf: die Darstellung Deutschlands als fremde, feindliche Macht, den deutschen Staat als bankrott, die Untergrabung der Autorität der deutschen Beamten, die Zuschreibung der schlimmsten 64 65 66
Kaisig: Die polnische politische Propaganda, S. 21. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 222. Kaisig: Die polnische politische Propaganda, S. 18–19.
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Methoden den Deutschen (obwohl auf polnischer Seite selbst angewendet), Einschüchterung, Bluff, den Missbrauch von Religion, das „Zweckentfremden von Begriffen“ (der Begriff Hakatismus bezog sich nicht auf eine bestimmte Bewegung, sondern auf alles, was gegen die polnische Bewegung gerichtet war) sowie die Verherrlichung des neuen Polens.67 Die Lüge war ein Mittel beider Seiten, die bereitwillig den tatsächlichen Zustand ihres Landes verfälschten und idealisierte Mythen aufbauten, die wenig mit der Realität zu tun hatten.68 Historische, ethnisch-sprachliche, konfessionelle und wirtschaftliche Argumente sowie die negative Stereotypisierung des Gegners bildeten somit den Rahmen für die Propaganda-Agitation. Ryszard Kaczmarek ist der Ansicht, dass „die wichtigste Rolle jedoch wahrscheinlich die von beiden Seiten für Oberschlesien in Aussicht gestellten Entwicklungsperspektiven im Falle eines Votums für Polen oder für Deutschland gespielt haben“.69 Dabei ging es sowohl um die Autonomie des Abstimmungsgebietes als auch um den kulturellen Rahmen (Religion) und den wirtschaftlichen Status der Region sowie ihrer Bewohner in dem einen oder anderen Land. Dabei lieferten beide Seiten starke Argumente für ihre jeweils gegensätzlichen Thesen. Diese Haltung deutet darauf hin, dass sich die Wähler von einer Art Pragmatismus, um nicht zu sagen Opportunismus, leiten ließen: Sie stimmten für die Seite, von der sie sich mehr Vorteile versprachen. Das Problem besteht nun darin, wie Grosch zu Recht festgestellt hat, dass wir zwar die Propaganda-Argumentation erkennen können, aber nicht in der Lage sind, die Frage zu beantworten, welche Teile davon die Wahlentscheidung beeinflusst haben. Hierfür fehlt es an relevantem Quellenmaterial. Dabei ist festzustellen, dass Gustave Le Bon wohl Recht hat, wenn er schreibt, dass „nicht die Art der Tatsachen, sondern die Art und Weise, wie sie die Öffentlichkeit erreichen, ihre Wirkung auf die Vorstellungskraft der Massen bestimmt. Sie haben eine starke Wirkung, wenn sie durch ihre Anhäufung lebendige Bilder hervorrufen, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzen. Wer die Vorstellungskraft von Menschenmengen zu beeinflussen
67 68 69
Ebenda, S. 15–16. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 211. Kaczmarek, Ryszard: Powstania śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polskoniemiecka, Kraków 2019, S. 338. Vgl. auch Minaczkiewicz, Tadeusz: Stosunki społeczne na Śląsku Opolskim w latach 1922–1933, Wrocław 1976, S. 8–18; Hawranek, Franciszek: Sprawa prowincji górnośląskiej w niemieckiej propagandzie plebiscytowej, in: Hawranek, Franciszek/Zieliński, Władysław (Hg.): Pięćdziesięciolecie powstań śląskich. Materiały z sesji naukowej zorganizowanej w 50. rocznicę III powstania śląskiego, Katowice 1973, S. 257–265.
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weiß, der weiß auch, wie man sie beherrscht.“70 Im Fall der fraglichen Volksabstimmung bestand diese Art der Nachrichtenübermittlung in der negativen, schonungslosen Stereotypisierung des Gegners. Dies führte zu einer Polarisierung der oberschlesischen Gemeinschaft, die in zwei äußerst feindselige Lager gespalten wurde. Aber, wie Reinhart Koselleck betont hat, „die sprachlichen Bestimmungen, wer, wo und warum ein Feind ist, reichen nicht aus, um Feindschaft zu erzeugen.“ Es muss echte „psychische Dispositionen“ und Bedingungen unterschiedlicher Art geben, welche „die Feindschaft generieren helfen“.71 Die Abstimmungspropaganda appellierte an tatsächlich vorhandene Vorurteile und Ressentiments der im Plebiszitgebiet lebenden Oberschlesier, Deutschen und Polen. Sie hat sie im Rahmen einer reinen Negativkampagne verstärkt und zugespitzt, sodass diese „Feindbegriffe“ zum Zeitpunkt der Abstimmung ein entscheidender Faktor waren. So gesehen erscheint die Abstimmung als eine tatsächliche Abstimmung für Deutschland und gegen Polen oder für Polen und gegen Deutschland. Es waren also nicht kühles Kalkül und Pragmatismus, sondern vielmehr leidenschaftliche Emotionen, die hinter der Stimmabgabe gestanden haben mögen. Wie es wirklich war, lässt sich leider kaum eindeutig feststellen. Gemäß einem salomonischen Urteil könnten beide Entscheidungsstrategien nebeneinander bestanden haben. Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass, wie von Władysław Zieliński festgestellt, „die Propaganda des Plebiszits (…) ein Modell grundlegender Ansichten prägte, das von vielen Oberschlesiern für viele Jahre vertreten wurde.“72 Man könnte hinzufügen: Nicht nur von Oberschlesiern, und nicht nur für einige Jahre, sondern zum Teil bis heute.
70 71 72
Le Bon, Gustave: Psychologia tłumu, Kęty 2004, S. 37. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 175–176. Zieliński: Polska i niemiecka propaganda, S. 5.
TEIL V Volksabstimmung, Ergebnisse, Reaktionen
Organisatorische Normen für die Durchführung des Plebiszits in Oberschlesien im Jahr 1921 Jakub Grudniewski Dieser Artikel ist in mehrere Teile untergliedert. Zunächst werden die diplomatischen Schritte erörtert, die zur Bildung der technischen Normen für die Durchführung des Plebiszits geführt haben, beginnend mit den Verhandlungen auf der Pariser Konferenz und endend mit den Ereignissen, die dem Plebiszit in Oberschlesien einige Monate vorausgegangen sind. Anschließend werden die wichtigsten Punkte der Volksabstimmungsordnung vorgestellt und schließlich die internen Anweisungen für die Büros, in denen die Abstimmung am 20. März 1921 stattfinden sollte, analysiert. Auf der Pariser Konferenz regte die polnische Delegation unter der Leitung von Roman Dmowski die Einsetzung einer „Kommission für polnische Angelegenheiten“ (die sogenannte Cambon-Kommission) an, die sich mit den Einzelheiten der künftigen Grenzen des polnischen Staates befassen sollte. Die polnischen Ansprüche erstreckten sich auch auf Oberschlesien. In diesem Fall bezog sich Dmowski auf den 13. Punkt des Friedensprogramms des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Thomas Woodrow Wilson, vom Januar 1918. Ihm zufolge sollten Gebiete, die von einer „unbestreitbar polnischen Bevölkerung“ bewohnt wurden, nach Polen eingegliedert werden, und Oberschlesien war nach Ansicht der polnischen Delegation in Paris genau solch ein Gebiet. Dieses Argument wurde durch statistische Daten aus dem Jahr 1910 gestützt, aus denen hervorging, dass 52,9 Prozent der Oberschlesier Polnisch und 40 Prozent Deutsch als Muttersprache angaben, 7 Prozent erklärten ihre Zweisprachigkeit und 0,1 Prozent verwendeten Mährisch (in der Region Hultschin/Hulczyn/Hlučin). Die polnische Delegation ging davon aus, dass die Muttersprache ein objektives Kriterium für die Staatsangehörigkeit war, und erkannte darüber hinaus an, dass die sogenannten Zweisprachigen in Wirklichkeit Polen waren.1 Zunächst waren die Aussichten, dass Dmowskis Forderungen in Paris (zumindest zu einem großen Teil) anerkannt werden würden, vielversprechend. Nach der Eröffnung der Konferenz wurde die informelle Leitung 1 Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 207–208; R. Kaczmarek, Powstania Śląskie 1919 – 1920 – 1921. Nieznana wojna polsko-niemiecka, Kraków 2019, S. 42–44.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_023
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von US-Präsident Woodrow Wilson übernommen, der eine antideutsche Haltung vertrat. Dies zeigte sich in der Besetzung der aus oberschlesischer Sicht wichtigsten Kommissionen: der bereits erwähnten „Hauptkommission für polnische Angelegenheiten“ (Commission des affaires polonaises) unter dem Vorsitz von Jules Cambon und der Kommission für die deutsch-polnische Grenze unter dem Vorsitz von General Henri Le Rond. Am 19. März 1919 legte die Hauptkommission Pläne für das künftige Territorium des polnischen Staates vor, die den Erwartungen Dmowskis entsprachen. Änderungen an den Vorschlägen der Kommissionen Cambon und Le Rond kamen nur unter dem Einfluss der britischen Seite zustande, die befürchtete, dass Deutschland auf dem europäischen Kontinent zu schwach und das Kräfteverhältnis unausgewogen sein würde: Danzig (Gdańsk) sollte nicht an Polen angegliedert, sondern eine „freie Stadt“ unter dem Protektorat des Völkerbundes werden und einige Bezirke der Provinz Posen und Westpreußen bei Deutschland verbleiben; eine Volksabstimmung sollte über die Nationalität einzelner Gebiete in den Regierungsbezirken Marienwerder (Kwidzyn) und Allenstein (Olsztyn) entscheiden. In Oberschlesien (mit Ausnahme der Kreise Neisse [Nysa] und Neustadt O.S. [Prudnik], die bei Deutschland verbleiben sollten) war zunächst keine Volksabstimmung geplant (der Kreis Oppeln [Opole] sollte in seiner überwiegenden Mehrheit an Polen angeschlossen werden), obwohl die britische Seite auch hier Einwände erhob. Die oben genannten Vereinbarungen wurden am 7. Mai 1919 an die deutsche Seite übergeben.2 Im Mai 1919 kam es in Oberschlesien zu Protesten gegen die Beschlüsse der Pariser Konferenz. Dies führte ab dem 1. Juni des Jahres zu einem Positionswechsel auf britischer Seite. Die Briten unterwarfen sich im Rahmen Konferenz nicht dem „französischen Diktat“, und ihre Einwände bezogen sich vor allem auf die Oberschlesien-Frage. Premierminister David Lloyd George wies darauf hin, dass die wirtschaftliche Bedeutung Oberschlesiens für Deutschland zu groß war, um das Gebiet in seiner Gesamtheit an Polen abzutreten. Ein solcher Schritt würde auch das wirtschaftliche Potenzial Deutschlands schwächen und das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent stören („balance of power“-Doktrin). Fragen der Nationalität blieben für die Briten gegenüber wirtschaftlichen und politischen Fragen zweitrangig. Am 2. Juni 1919 fand ein Treffen der „Großen Vier“ statt, bei dem der britische Premierminister erklärte, dass in Oberschlesien eine Volksabstimmung erforderlich war, da das Gebiet seit 600 Jahren von Polen getrennt gewesen sei. Die britische Position stieß auf den Widerstand der französischen Delegation unter der Leitung des französischen Premierministers Georges Clemenceau. Da keine Einigung erzielt 2 Hitze: Carl Ulitzka, S. 208–209.
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werden konnte, wurden die Gespräche am 5. Juni erneut aufgenommen. Wilson und Clemenceau versuchten, Lloyd George davon zu überzeugen, dass Oberschlesien unbestreitbar polnisches Gebiet war, doch Lloyd George entgegnete, dass das Elsass nach denselben ethnographischen Kriterien deutsches Gebiet wäre. Schließlich wurde die Idee eines Plebiszits in Oberschlesien von US-Präsident Woodrow Wilson aufgegriffen, der sich bereit erklärte, eine Volksabstimmung unter der Kontrolle der Interalliierten Kommission zu organisieren.3 Die Franzosen gaben jedoch nicht auf. Mit der Leitung der neuen Kommission, die das Plebiszit zu organisieren hatte, wurden der für seine propolnischen Sympathien bekannte amerikanische Historiker Robert Lord und Le Rond betraut.4 Letztgenannter versuchte unmittelbar, die Arbeit des Komitees zu sabotieren, indem er erklärte, er habe Polen diejenigen oberschlesischen Kreise zugesagt, in denen bei den letzten Reichstagswahlen ein Kandidat der polnischen Bewegung gewonnen hatte. Diese Idee stieß auf heftigen Widerstand von britischer Seite. Daraufhin versuchte Le Rond, das Plebiszit zugunsten der Polen so weit wie möglich zu verschieben und die deutschen Beamten und Militärs sowie den katholischen Klerus aus Oberschlesien zu entfernen, da letzterer zweifelsohne deutschfreundlich gesinnt war.5 Am 12. Juni 1919 stimmte der Rat der Vier schließlich einer Volksabstimmung in Oberschlesien zu. Sie sollte unter dem Protektorat des Obersten Rates der Alliierten und unter Aufsicht des Völkerbundes stattfinden, um jeglichen Einfluss der deutschen Seite auf den Abstimmungsprozess auszuschließen.6 Am 14. Juni wurde diese Entscheidung der polnischen Delegation mitgeteilt. Dabei zeigte sich der polnische Ministerpräsident Ignacy Paderewski tief enttäuscht, da Oberschlesien zuvor „Polen versprochen“ worden war.7 Artikel 88 des Friedensvertrages enthielt einen Passus über die Durchführung eines Plebiszits in Oberschlesien. Er wurde der deutschen Seite am 16. Juni 1919 zur Genehmigung vorgelegt. Gleichzeitig wurde angekündigt, dass die Tschechoslowakei im Falle einer deutschen Niederlage bei der Volksabstimmung den Kreis Leobschütz (Głubczyce) erhalten würde und – unabhängig vom Votum in polnischer Sache – auch einen Teil des Kreises Ratibor (Racibórz), das sogenannte Hultschiner Ländchen. Gleichzeitig wurden 3 Ebenda, S. 212–214. 4 Masnyk, Marek: Dzieje najnowsze – po 1918 roku, in: Bahlcke, Joachim/Gawrecki, Dan/ Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu, Gliwice 2011, S. 224. 5 Hitze: Carl Ulitzka, S. 214. 6 Ebenda, S. 215. 7 Ebenda.
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Teile der niederschlesischen Kreise Groß Wartenberg (Syców), Guhrau (Góra), Militsch (Milicz) und Namslau (Namysłów) ohne Plebiszit an die polnische Seite abgetreten. Die Volksabstimmung in Oberschlesien war das einzige Zugeständnis, das die Deutschen in dem schließlich am 28. Juni 1919 unterzeichneten Vertrag hatten erreichen können.8 Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesienbefasste sich erst im Spätherbst 1920 mit den Bedingungen des Plebiszits. Dies war auf die Haltung der Franzosen zurückzuführen, die den Termin der Volksabstimmung auf Wunsch der polnischen Seite so weit wie möglich hinausgezögert hatten. Nach Ansicht der polnischen Seite sollte die Besetzung Oberschlesiens durch die alliierten Streitkräfte so lange wie möglich andauern, um den Einfluss der verbliebenen deutschen Verwaltung auf die Volksabstimmung auf ein Minimum zu reduzieren. Darüber hinaus sollte diese Besetzung es der polnischen Seite ermöglichen, eine umfassende PlebiszitAgitation durchzuführen. Seit November 1920 wurden im Botschafterrat die endgültigen Bedingungen für die Durchführung des Plebiszits verhandelt. Die Italiener engagierten sich in dieser Angelegenheit nur widerwillig. Darüber kam es zu einem Konflikt zwischen den Briten und den Franzosen. Letztere vertraten traditionell eine propolnische Position, während Erstere die Haltung von Befürwortern der deutschen Seite einnahmen.9 Den Hauptstreitpunkt bildete die Frage der sogenannten „Emigranten“. Dank intensiver Bemühungen auf polnischer Seite hatte die Versailler Friedenskonferenz bereits einen Passus verabschiedet, der besagte, dass bei den geplanten Volksabstimmungen im Osten des Reiches nicht nur die dort lebende Bevölkerung stimmberechtigt sein sollte, sondern auch alle dort geborenen, aber inzwischen weggezogenen Menschen zur Wahl zugelassen waren. Zu dem Personenkreis, der damals auf polnischer Seite direkt mit der Frage der sogenannten Emigranten befasst war, gehörte auch Wojciech Korfanty, der in dieser Angelegenheit beim polnischen Vertreter in Paris, Roman Dmowski, intervenierte. Korfanty erwartete, dass die Oberschlesier, die die Region im 19. und frühen 20. Jahrhundert Richtung Westeuropa und Berlin verlassen hatten, sich für die Angliederung Oberschlesiens an Polen entscheiden würden.10 Ein weitaus geringerer Teil der Oberschlesier 8 9
10
Ebenda, S. 216. Rosenbaum, Sebastian: „Nie przybyliśmy na Śląsk dla własnej przyjemności, ale aby wykonać pożyteczną pracę“. Niektóre wątki obecności wojsk sprzymierzonych na Górnym Śląsku (1920–1922), in: ders. (Hg.): W obcym kraju … Wojska sprzymierzone na Górnym Śląsku. 1920–1922, Katowice 2011, S. 212–213. Czapliński, Marek: Śląsk od pierwszej po koniec drugiej wojny światowej, in: Czapliński, Marek/Kaszuba, Elżbieta/Wąs, Gabriela/Żerelik, Rościsław (Hg.): Historia Śląska, Wrocław 2002, S. 361.
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war nach 1918 nach Zentralpolen und Großpolen gezogen, aber auch sie sollten die polnische Seite bei der Volksabstimmung stärken. Die Entente-Staaten stimmten dem Vorschlag der polnischen Seite zu, und niemand glaubte zu dieser Zeit daran, dass die Emigranten in der Lage sein würden, das gesamte Plebiszit zugunsten der deutschen Seite zu entscheiden. Schon frühere Plebiszite in Ost- und Westpreußen hatten gezeigt, dass die polnische Seite mithilfe der Emigranten in die Falle ihrer eigenen Propaganda tappte. Ein solcher Vorfall (wie bei diesen Volksabstimmungen in Oberschlesien) sollte sich nicht wiederholen. Aus diesen Gründen unternahm die polnische Seite ab September 1920 zahlreiche Anstrengungen, um Emigranten von der Volksabstimmung in Oberschlesien auszuschließen. Korfanty änderte seinen Kurs und vertrat die Ansicht, dass die Neuankömmlinge entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages in Oberschlesien weilen durften.11 Im Botschafterrat trat Frankreich unterdessen erneut als Fürsprecher der polnischen Seite auf. Die Chancen eines Ausschlusses der Emigranten vom Plebiszit waren jedoch gering. Die Briten beriefen sich auf die Aussage von General Le Rond aus dem Jahr 1919, wonach „die Tatsache, in einem bestimmten Gebiet geboren worden zu sein, ein ausreichendes Kriterium für die Teilnahme an der Volksabstimmung in Allenstein und Marienburg“ darstellte. Angesichts der Unmöglichkeit, ihre Wünsche zu verwirklichen, schlugen die Polen gemeinsam mit den Franzosen einen Kompromiss vor: Nur die Oberschlesier, die ein „echtes Interesse an Oberschlesien“ hatten, sollten an der Volksabstimmung teilnehmen dürfen (wobei niemand genau sagen konnte, worin sich dieses Interesse an Oberschlesien bestehen sollte). Die Abstimmung dieser Personen sollte erst nach der eigentlichen Abstimmung der in Oberschlesien lebenden Wähler stattfinden. Doch auch dieser Vorschlag stieß auf heftigen Widerstand von britischer Seite. Mitte November 1920 war der Botschafterrat mit seinen Verhandlungen in eine Sackgasse geraten. Gegen Ende des Monats gelang jedoch wider Erwarten doch noch eine Einigung. Diese beruhte auf der Idee des britischen Botschafters in Berlin, Lord Edgar d’Abernon, die Emigranten entweder an ihrem derzeitigen Wohnort oder im Plebiszitgebiet abstimmen zu lassen, allerdings zu einem anderen Zeitpunkt. Frankreich stimmte der ersten Option rasch zu, woraufhin der Vorschlag der polnischen und der deutschen Regierung vorgelegt wurde. Berlin lehnte es jedoch unter Berufung auf die Bestimmungen des Versailler Vertrages kategorisch ab, die Abstimmung der Emigranten getrennt abzuhalten.12 11 12
Węcki, Mirosław: Korfanty Wojciech, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik powstań śląskich, Bd. 2. Drugie powstanie śląskie (sierpień 1920), Katowice 2020, S. 388. Hitze: Carl Ulitzka, S. 348.
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Die gesamte Situation in Bezug auf die Bedingungen der Volksabstimmung geriet erneut für mehrere Monate in eine Sackgasse, bevor Oberst Harold Percival, der britische Kommissar der Interalliierten Kommission, vom britischen Außenministerium im Januar 1921 Unterstützung für die deutsche Seite erwirkte. Gemeinsam mit Alberto de Marinis, dem italienischen Kommissar, sprach er sich für eine gleichzeitige Abstimmung im Plebiszitgebiet aus. Le Rond hingegen scheute sich, den im November 1920 geschlossenen Kompromiss zu ändern, es sei denn, die polnische Seite hätte zuerst zugestimmt, dann hätte sich auch Frankreich mit einer getrennten Abstimmung in der westlichen und der östlichen Zone des Plebiszits einverstanden erklärt. Die Briten wollten einer solchen Lösung jedoch nicht zustimmen, da es ihrer Ansicht nach das Ergebnis der Abstimmung beeinflusst hätte, wenn im östlichen Teil des Plebiszitgebietes eine frühere Abstimmung stattgefunden hätte, da die Polen dort mit einer größeren Zahl von Stimmen rechnen konnten. Am 30. Dezember 1920 beschloss London, vier Bataillone nach Oberschlesien zu entsenden, um endlich eine endgültige und gleichzeitige Volksabstimmung herbeizuführen. Die Briten demonstrierten ihre Entschlossenheit schon auf der Botschafterkonferenz vom 9. Februar 1921, doch erst auf der Sitzung des Obersten Rates am 21. Februar 1921 kam es zu einem Durchbruch in Sachen Abstimmung durch die Emigranten: Im Gegenzug für den Abzug der britischen Truppen erklärten sich die übrigen Alliierten bereit, einen einheitlichen Abstimmungstermin für ganz Oberschlesien festzulegen – Sonntag, den 20. März 1921.13 Die deutsche Seite gewann einen weiteren Verbündeten, den neuen apostolischen Nuntius in Oppeln, Pfarrer Giovanni Battista Ogno Serra. Offiziell wahrte er die politische Neutralität, doch hinter den Kulissen agierte er zugunsten Deutschlands. Am 30. Dezember 1920 gab die Interalliierte Kommission die „Vorschriften für die Volksabstimmung in Oberschlesien“ heraus.14 Nach Abschluss der Verhandlungen in London am 23. und 28. Februar 1921 wurden genaue Bestimmungen definiert, wann und wie das Plebiszit durchgeführt werden sollte. Die Anordnung vom 30. Dezember traf die deutsche Seite unvorbereitet, während Wojciech Korfanty bereits vorher versucht hatte, diese dadurch zu beeinflussen, dass er den Alliierten die polnischen Erwartungen mitgeteilt hatte. Von den zahlreichen Anmerkungen, welche die deutsche Seite später machte, waren vor allem folgende drei von Bedeutung: Die Deutschen kritisierten die Bestimmung, der zu Folge Personen, die nicht in Oberschlesien geboren waren, aber mindestens seit dem 1. Januar 1904 dort lebten, für die Abstimmung in Betracht kamen. Dies schloss sämtliche Arbeiter, Techniker, 13 14
Ebenda, S. 349. Masnyk: Dzieje najnowsze, S. 225.
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Ingenieure und Beamte von der Teilnahme an der Volksabstimmung aus, die sich im letzten Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Oberschlesien niedergelassen hatten. Die Deutschen schätzten, dass zwischen 50.000 und 100.000 Menschen auf diese Weise von der Wahl ausgeschlossen wurden. Sie plädierten stattdessen für den 1. Januar 1918 als Stichtag für den „Ausschluss“ der nicht-einheimischen Oberschlesier.15 Zudem kritisierten die Deutschen, dass auch Personen, die das Gebiet der Volksabstimmung nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages aus politischen Gründen hatten verlassen müssen, keine Stimmmöglichkeit hatten. Sie protestierten gegen den Ausschluss aller Beamten, Lehrer, Mitglieder der Magistrate, Präsidenten der Gutsbezirke und Landgemeinden aus den Volksabstimmungsausschüssen. Von den mit dieser Kritik verbundenen deutschen Forderungen wurde jedoch keine einzige akzeptiert. Die Verordnung über die Durchführung der Volksabstimmung erhielt am 28. Februar 1921 ihren endgültigen Wortlaut.16 Stimmberechtigt waren Personen, die zugleich folgende Bedingungen erfüllten: 1. Sie mussten im Abstimmungsgebiet geboren und am 1. Januar 1921 mindestens 20 Jahre alt gewesen sein,17 2. Sie mussten vor dem 1. Januar 1904 im Abstimmungsgebiet gewohnt haben („dort seit dem 1. Januar 1904 oder seit einem früheren Zeitpunkt ihren Wohnsitz haben“), 3. Sie waren von den deutschen Behörden aus dem Abstimmungsgebiet ausgewiesen worden. Die Wähler sollten sich entweder für die Zugehörigkeit zu Polen oder zu Deutschland entscheiden. Jede Person verfügte über eine Stimme (Artikel 1).18 Auch Frauen waren stimmberechtigt. Personen, deren Rechte aufgrund einer psychischen Erkrankung eingeschränkt waren, sollten vom Wahlrecht ausgeschlossen werden (Artikel 2).19 Die Wahlberechtigten wurden in die jeweiligen Listen eingetragen: „gebürtige Einwohner“, „gebürtige, aber nicht in Oberschlesien ansässige Einwohner“, „nicht gebürtige Einwohner“ (seit dem 1. Januar 1904 oder länger ansässig, aber nicht in Oberschlesien geboren) oder „Ausgewiesene“ (Artikel 3).20 Die Eintragung in das Wählerverzeichnis erfolgte in derjenigen Gemeinde, in der die Person am 1. Oktober 1920 wohnte
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Hitze: Carl Ulitzka, S. 352. Ebenda, S. 357. Nawrot, Dariusz: Zagłębie Dąbrowskie wobec drugiego powstania śląskiego i plebiscytu, in: Fic/Kaczmarek (Hg.): Słownik powstań śląskich, Bd. 2, S. 353. Regulamin plebiscytu na Górnym Śląsku. Vorschriften für die Abstimmung in Oberschlesien, Opole 1921, S. 3. Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 3–4.
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(Ausgewiesene stimmten in der Gemeinde ab, aus der sie ausgewiesen worden waren – Artikel 4).21 Das Abstimmungsgebiet wurde folgendermaßen abgesteckt: entlang der Grenze zwischen Oberschlesien und Polen, der Grenze zwischen Oberschlesien und dem Gebiet des Deutschen Reiches (festgelegt in Paris am 9. Januar 1920) und der Grenze zwischen Oberschlesien und der Tschechoslowakei gemäß Artikel 83 des Versailler Vertrages. Dabei wurde das letztgenannte Gebiet durch einen Beschluss des Botschafterrates vom 20. Juli 1920 am 6. Dezember 1920 einer Volksabstimmung unterzogen. Die Stimmbezirke orientierten sich an den Gemeinden – jede Gemeinde bildete einen Stimmbezirk (vgl. Art. 7).22 Die Gutsbezirke wurden wie folgt eingeteilt: Gutsbezirke mit bis zu 101 Einwohnern bildeten keine eigenen Stimmbezirke – sie wurden den gleichnamigen Nachbargemeinden angegliedert; Gutsbezirke mit 102 bis zu 601 Einwohnern bildeten eigene Stimmbezirke, hatten aber keinen Paritätischen Ausschuss und kein eigenes Stimmbüro; Gutsbezirke mit mehr als 601 Einwohnern bildeten vollwertige Stimmbezirke. Grundlage hierfür bildete die bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 ermittelte Bevölkerungsgröße (Artikel 8).23 Die Stimmbezirke wurden derart in Wahlbezirke eingeteilt, dass die Zahl der Wähler 800 und die Zahl der Gesamteinwohner 1.200 nicht überstieg. In Gemeinden, die mehrere Wahlbezirke umfassten, wurden die ständig dort wohnhaften Wähler („Ansässige“) entsprechend den Bezirken, in denen sie wohnten, einem bestimmten Wahlbezirk zugeordnet, während die „nicht ansässigen“ Wähler alphabetisch und gleichmäßig auf verschiedene Bezirke verteilt wurden (Artikel 9).24 Die Vorbereitungsarbeiten für das Plebiszit verliefen wie folgt: Am 10. Januar 1921 trat die Wahlordnung in Kraft; am selben Tag nahmen die interalliierten Kreisbüros ihre Arbeit auf; zwischen dem 10. und 14. Januar wurden die paritätischen Gemeindeausschüsse gebildet; vom 14. Januar bis zum 3. Februar (20 Tage lang) wurden die Wählerlisten erstellt; ab dem 6. Februar wurden die vorläufigen Listen zur Einsichtnahme ausgelegt; am 17. Februar um 18 Uhr endete die Beschwerdefrist; bis zum 3. März sollten die Interalliierten Büros (und bis zum 8. März die Regierungskommission) über die Beschwerden entscheiden. Der Tag der Abstimmung (20. März) wurde zunächst nicht in der
21 22 23 24
Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 5. Ebenda. Ebenda, S. 5–6.
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Wahlordnung angekündigt (die Interalliierte Kommission holte dies erst am 23. Februar nach).25 Was die Volksabstimmungsbehörden anbelangt, so richtete die Interalliierte Kommission für jede Gemeinde des Abstimmungsgebietes einen „Paritätischen Gemeindeausschuss“, für jeden Abstimmungsbezirk ein „Wahlbüro“ und in jedem Kreis ein „Interalliiertes Kreis-Plebiszitbüro“ ein (Artikel 11).26 Der Paritätische Gemeindeausschuss bestand aus vier Mitgliedern (je zwei von der deutschen und der polnischen Seite). Für jeweils 2.400 Einwohner wurde auf die gleiche Weise ein Unterausschuss gebildet. Die Mitglieder der Ausschüsse und Unterausschüsse stammten aus der Einwohnerschaft des entsprechenden Bezirks. Der Vorsitzende des paritätischen Ausschusses wurde per Los bestimmt (die beiden Seiten übernahmen jeweils den Vorsitz in der Hälfte der Stimmbezirke). Den stellvertretenden Vorsitzenden stellte immer die jeweils andere Seite (Artikel 12).27 Beschlüsse über die Aufnahme einer Person in das Wählerverzeichnis mussten einstimmig gefasst werden (war dies nicht möglich, entschied das „Interalliierte Büro“). Letzteres war auch die Berufungsinstanz (Artikel 13).28 Die paritätischen Ausschüsse sollten ihr Amt spätestens am 14. Januar 1921 antreten (Artikel 14).29 Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Wählerverzeichnisse zu erstellen, die Wahlbezirke und Wahlbüros einzurichten und diese in der Gemeinde zu beaufsichtigen. Sie hatten die Möglichkeit, die Gemeindebehörden um Unterstützung bei der Durchführung des Plebiszits zu bitten (Artikel 15).30 In jeder Gemeinde sollte es so viele Wahlbüros geben, wie es Wahlbezirke gab. In den Gemeinden, in denen es nur einen oder zwei Wahlbezirke gab, stellte das Gebäude des Paritätischen Ausschusses das Wahlbüro (Artikel 16) dar.31 Ein Paritätischer Gemeindeausschuss setzte sich aus vier Titular- und vier Hilfsmitgliedern zusammen, wobei der Grundsatz der paritätischen Vertretung beider Seiten galt. Ihre Mitglieder sollten sich aus Personen rekrutieren, die in Oberschlesien und nach Möglichkeit in der betreffenden Gemeinde ansässig waren.
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https://ipn.gov.pl/pl/historia-z-ipn/140549,Miroslaw-Wecki-Plebiscyt-na-GornymSlasku-20-marca-1921.html (aufgerufen am 15.03.2022); Regulamin plebiscytu …, S. 6. Ebenda. Ebenda, S. 6–7. Ebenda, S. 7. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
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Der Paritätische Ausschuss wählte die Mitglieder der Wahlbüros, wobei die Wahl vom Interalliierten Büro nochmals bestätigt werden musste. Der Vorsitzende des ersten oder einzigen Wahlbüros sollte von der gleichen Seite (deutsch oder polnisch) sein wie der Vorsitzende des Paritätischen Ausschusses, der Vorsitz des zweiten Wahlbüros fiel an die andere Seite und abwechselnd immer so weiter (Artikel 17).32 Die Wahlbüros sollten zehn Tage vor der Wahl eingerichtet werden (Artikel 18).33 Ein solches Büro umfasste darüber hinaus drei Beamte, darunter einen Bezirkskontrolleur, der weitgehende Befugnisse hatte und dessen Vertreter in der Regierungskommission saßen. Den Vorsitz führte der Kreiskontrolleur, in seinem Gremium saßen je ein Vertreter der polnischen und der deutschen Seite (jede Seite schlug der Regierungskommission einen Titular- und zwei Ersatzberater zur Genehmigung vor, Artikel 19).34 Das interalliierte Büro sollte die paritätischen Ausschüsse in den Bezirken aufstellen, sie überwachen, die vorläufigen Wählerverzeichnisse kontrollieren und eine endgültige Liste festlegen, die Organisation der Abstimmung überwachen und deren „Freiheit, Offenheit und Geheimhaltung“ gewährleisten (Artikel 20).35 Die Kandidaten für die paritätischen Ausschüsse und die Wahlbüros sollten aus einer Liste ausgewählt werden, die doppelt so viele Namen enthielt wie Sitze zu besetzen waren. Ausgeschlossen waren: Beamte im aktiven Dienst (der deutschen Reichs- sowie preußischen, Landes-, Kreis- und Gemeindeämter); Mitglieder der Magistrate sowie Vorsitzende der Gemeinden und Gutsbezirke; von der Regierungskommission eingesetzte Fachberater zur Wahrung der Interessen der polnischsprachigen Bevölkerung und auch Geistliche verschiedener Konfessionen. Die Mitglieder der paritätischen Ausschüsse und Abstimmungsbüros konnten entlassen werden und erhielten eine Vergütung für ihr Amt (Artikel 21).36 In jeder Gemeinde wurde unter der Kontrolle des paritätischen Ausschusses zunächst ein vorläufiges Wählerverzeichnis in zweifacher Ausfertigung erstellt. Die darin verzeichneten Personen wurden in vier Kategorien eingeteilt: A. Personen, die in Oberschlesien geboren worden waren und ihren Wohnsitz im Abstimmungsgebiet hatten. Von Amts wegen eingetragen.
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Ebenda, S. 7–8. Ebenda, S. 8. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 8–9.
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B. Personen, die in Oberschlesien geboren worden waren, aber dort nicht wohnten. Sie wurden nur auf schriftlichen Antrag hin vom Paritätischen Ausschuss aufgenommen, dem sie ein Foto beizufügen hatten, das für den Personalausweis benötigt wurde, mit dem sie nach Oberschlesien einreisen und wählen konnten. Außerdem mussten sie die Namen von zwei oder mehr Personen angeben, die ihre Identität bestätigen konnten. C. Personen, die außerhalb Oberschlesiens geboren worden waren, aber mindestens seit dem 1. Januar 1904 im Abstimmungsgebiet wohnten. Dies war durch Vorlage einer Wohnsitzerklärung oder mittels einer Bestätigung ihrer späteren Wohnorte durch die Gemeindeverwaltung und die Polizei nachzuweisen (wenn sie seit jeher nur an einem Ort gewohnt hatten, übernahm dies der Paritätische Ausschuss). D. Personen, die außerhalb Oberschlesiens geboren worden waren und am 1. Januar 1904 im Abstimmungsgebiet wohnten, diesen Wohnsitz aber infolge der Ausweisung durch die deutschen Behörden verloren hatten, sollten einen Antrag auf Registrierung an die Regierungskommission in Oppeln richten (Artikel 23–27).37
Für die Vernachlässigung der Pflichten im Zusammenhang mit dem Plebiszit waren Strafen von 50 bis zu 500 Mark vorgesehen, bei vorsätzlicher Vernachlässigung von 200 bis zu 2.000 Mark. Die Fälschung von Urkunden und Dokumenten in Bezug auf das Wahlrecht wurde mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe von 500 bis 5.000 Mark (auch in Kombination) bestraft. Gleiches galt für die Behinderung der Tätigkeit der für das Plebiszit Verantwortlichen (Artikel 36–39).38 Die Art und Weise der Abstimmung war nicht in der „Wahlordnung“ festgelegt, sondern wurde per Dekret der Interalliierten Kommission verkündet. Weitere Informationen über die organisatorische Bedingungen für die Durchführung der Volksabstimmung selbst waren in den sogenannten „Anweisungen für die Wahlbüros“ enthalten.39 Alle Mitglieder und ihre Stellvertreter sollten sich um 7.30 Uhr in den Wahlbüros und Ausschüssen einfinden. Die Stellvertreter mussten während der gesamten Abstimmungszeit anwesend sein, um die Mitglieder der Wahlbüros und Ausschüsse bei Bedarf zu vertreten und einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen.40 Zugleich waren die Beamten die einzigen Personen, die sich ständig im Wahllokal aufhalten durften. Alle anderen mussten sofort nach der Stimmabgabe wieder gehen. Dies sollte durch speziell angewiesene Wachtrupps, bestehend aus zwei Polen und zwei Deutschen, gewährleistet werden. „Es soll besonders darauf geachtet werden, 37 38 39 40
Ebenda, S. 9–11. Ebenda, S. 13. Instrukcja dla biur wyborczych. Instruktion für die Wahlbüros, Bytom G.S. [1921], passim. Ebenda, S. 4.
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dass sich Beamte, Arbeitgeber oder deren Vertreter (Hofinspektoren, Jäger), Lehrer und Priester nicht über das notwendige Maß hinaus im Wahllokal aufhalten. Ihre Anwesenheit konnte den ruhigen und ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung beeinträchtigen.“41 Natürlich war es nicht erlaubt, vor oder in den Räumlichkeiten zu agitieren. Die Stimmabgabe erfolgte in speziellen Kabinen, die einzeln betreten werden mussten und in denen der Wähler den Stimmzettel in einen Umschlag steckte. Ein äußerst wichtiger Bestandteil der Stimmabgabe bei der Volksabstimmung war die vorherige Identifizierung des Wählers. Die Wähler der Kategorie A wiesen sich durch eine rote Karte aus, während die Wähler der Kategorie C über eine grüne Karte und eine Stimmkarte verfügten. Besaß jemand weder Ausweis noch Stimmkarte, so konnte er dennoch wählen, aber nur, wenn seine Identität von den Einwohnern der Gemeinde bestätigt wurde. Wichen einzelne Angaben im Personalausweis oder auf der Stimmkarte von den Eintragungen im Wählerverzeichnis ab, konnte der Verdacht der Urkundenfälschung durch die Aussage zweier in der Gemeinde ansässiger, „wahlberechtigter, allgemein bekannter und geachteter“ Personen ausgeräumt werden. Personen der Kategorie B wurden anders behandelt. War ein Wähler den Mitgliedern des Wahlbüros nicht persönlich bekannt, musste er seine Identität durch eine mit einem Foto versehene Stimmkarte bestätigen. Bei weiteren Zweifeln hinsichtlich der Identität wurden persönliche Informationen (z.B. Geburtsdatum und -ort oder letzter Wohnort) abgefragt. Gelang die Verifizierung nicht, musste die Unterschrift mit derjenigen auf dem Einreiseantrag verglichen werden. Hatte ein Wähler der Kategorie B keine Stimmkarte bei sich, durfte er keine Stimme abgeben.42 Wiederum anders wurde verfahren, wenn der Wähler den Mitgliedern des Wahlbüros persönlich bekannt war. In einem solchen Fall durfte er auch dann wählen, wenn seine Dokumente nicht in Ordnung waren oder er sie nicht bei sich hatte.43 Jede Person warf nur einen Umschlag in die Wahlurne. Stimmte die Zahl der Wähler nicht mit der Zahl der Wahlumschläge in der Wahlurne überein, konnte die Wahl in der Gemeinde für ungültig erklärt werden.44
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Ebenda, S. 4–6. Ebenda, S. 8–13. Ebenda. Ebenda, S. 14.
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Die Mitglieder des Wahlbüros stimmten zuerst ab, anschließend erhielt jeder Wähler einen Umschlag und eine polnische und eine deutsche Karte. Alle offiziellen Erklärungen des Vorsitzenden wurden in beiden Sprachen (Deutsch und Polnisch) vorgetragen.45 Punkt 20.00 Uhr endete die Abstimmung. Die Auszählung der Stimmen erfolgte in Anwesenheit von acht Personen (plus dem Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden, die vorab jeweils vier Helfer ausgewählt hatten). Zunächst wurden die Umschläge gezählt und es wurde geprüft, ob die Zahl der Umschläge mit der Zahl der abgegebenen Stimmen übereinstimmte. Dann wurden die Umschläge nacheinander geöffnet und dem Vorsitzenden des Wahlbüros übergeben. Der Vorsitzende las den Inhalt der Umschläge laut vor und übergab sie dem Stellvertreter, der sie folgenden Kategorien zuordnete: Polen – Deutschland – ungültige Stimmen – zweifelbehaftete Stimmen. Gleichzeitig zählten zwei Sekretäre auf Bögen jede Stimmkarte, die für Polen bzw. für Deutschland abgegeben worden war.46 Anschließend wurde das vorläufige Ergebnis der Abstimmung im jeweiligen Wahlbezirk festgestellt, woraufhin alle vier Mitglieder des Wahlbüros das Protokoll in zweifacher Ausfertigung unterzeichneten. Danach meldeten die Vertrauensleute das Ergebnis an das deutsche und das polnische Plebiszitkomitee.47 *** Jahrhundertelang war der Grenzlandcharakter Oberschlesiens der Grund für seine wechselnde staatliche Zugehörigkeit und den Einfluss verschiedener Kulturen und Sprachen gewesen: Tschechisch, Polnisch und Deutsch. Trotz der von den preußischen Behörden in der Ära von Reichskanzler Bismarck durchgeführten Germanisierung war ein großer Teil Oberschlesiens (insbesondere die Dörfer) von Menschen besiedelt, die kein Deutsch sprachen und sich zunehmend von der deutschen Identität distanzierten.48 Diese Faktoren sowie die Interessen der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Nationalstaaten – der Weimarer Republik, der Republik Polen und der Tschechoslowakischen Republik – beeinflussten die Problematik der Neuabsteckung der Grenzen in diesem Gebiet. Jedoch war Oberschlesien nicht die einzige Region in Europa, die auf der Pariser Konferenz derartige Probleme 45 46 47 48
Ebenda, S. 20–23. Ebenda, S. 28–30. Ebenda. Kaczmarek: Powstania śląskie, S. 321.
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aufwarf, weshalb die deutsche Regierung vorschlug, ein Plebiszit als die gerechteste Methode zur Aufteilung des Gebietes unter Berücksichtigung der Präferenzen seiner Bewohner zu erklären. Die Deutschen fürchteten den Verlust Oberschlesiens, das als reiche Region eine Geldquelle für die Zahlung von Kriegsreparationen hätte sein können. Eine Zeit großer Spannungen (mit den schlesischen Aufständen) und die Unfähigkeit, die Interessen der Großmächte unter einen Hut zu bringen, führten jedoch dazu, dass das Plebiszit selbst verschoben wurde und seine organisatorischen Normen sehr sorgfältig definiert werden mussten, um nicht den Vorwurf der Bevorzugung einer der beiden Seiten aufkommen zu lassen. Die Tatsache, dass sie überhaupt definiert wurden, ist bereits als Erfolg der internationalen Politik zu werten. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Am Tag des Plebiszits. Der Verlauf der Volksabstimmung vom 20. März 1921 in Oberschlesien im Licht der zeitgenössischen Presse Marek Jurkowski, Beniamin Czapla Zum Ende des Winters 1921 war die oberschlesische Presse davon überzeugt, dass die für Sonntag, den 20. März, angesetzte Volksabstimmung ein Ereignis von großer Bedeutung sein würde. Die Zeitschrift „Katolik“, die den polnischen Standpunkt vertrat, erklärte: „Der 20. März 1921 wird unserem Oberschlesien für immer in Erinnerung bleiben. Einen so wichtigen Tag hat es noch nie gegeben und wird es auch nie wieder geben.“1 In lakonischem Stil griff die deutsche Zeitschrift „Der schwarze Adler“ diesen Gedanken auf: „Oberschlesiens Schicksalsstunde schlägt“2. Am Vorabend der Abstimmung riefen die Zeitungen und Zeitschriften zur sofortigen Übermittlung der Teilergebnisse mit Hilfe der damaligen Kommunikationsmittel auf: Telefon, Telegramm und Postkarte.3 Als die Wahllokale schlossen, begann für viele Pressevertreter eine stundenlange, intensive Arbeit, in deren Rahmen sie den Weg zum Endergebnis mit großer Spannung verfolgten, erste Kommentare sammelten und formulierten. Sobald klar war, 1 Katolik, Nr. 34, 19. März 1921, S. 1. Zur Presse über die Volksabstimmung und die Aufstandszeit sowie zu den Berichten einiger ausländischer Zeitschriften über die politischen Ereignisse in Oberschlesien zu dieser Zeit siehe: Vogel, Rudolf: Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Beuthen 1931; Dubiel, Paweł: Prasa w walce plebiscytowej na Górnym Śląsku, in: Zeszyty Prasoznawcze, 1 (1971), S. 5–16; Zieliński, Władysław: Prasa polska w okresie powstań i plebiscytu na Górnym Śląsku, in: Zeszyty Prasoznawcze 1981, Nr. 4, S. 66–73; Glensk, Joachim: Bibliografia adnotowana śląskiej prasy plebiscytowej i powstańczej, in: Kwartalnik Historii Prasy Polskiej, 2 (1981), S. 59–77; Glensk, Joachim (Hg.): Prasa okresu plebiscytu i powstań śląskich, Opole 1987; Grosch, Waldemar: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919–1921, Dortmund 2003; Węcki, Mirosław: Rok 1919 na Górnym Śląsku na łamach „New York Times“, in: Śląski Almanach Powstańczy 4 (2018), S. 97–106; ders.: Rok 1920 na Górnym Śląsku i II powstanie śląskie na łamach „The New York Times“, in: Śląski Almanach Powstańczy 5 (2019), 39–49; ders.:, Obraz powstań śląskich na łamach „The New York Times“, in: Fic, Maciej/ Węcki, Mirosław (Hg.): Powstania śląskie i plebiscyt górnośląski w przestrzeni publicznej. Kinematografia – muzyka – literatura – publicystyka, Katowice–Warszawa 2020, S. 154–184; Bednarski, Damian: Obraz dwóch pierwszych powstań śląskich i przygotowań do plebiscytu na łamach watykańskiego dziennika „L’Osservatore Romano“, in: ebenda, S. 128–152. 2 Der schwarze Adler, Nr. 33, 20.03.1921. 3 Górnoślązak, Nr. 63, 18.03.1921.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_024
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dass das Plebiszit nicht zu einer eindeutigen und für beide Seiten akzeptablen Lösung der oberschlesischen Frage geführt hatte, nahm das Interesse der Presse an der Abstimmung selbst und ihren Umständen nochmals deutlich zu. Unter den Artikeln, die über Fälschungen und Gesetzesverstöße, Differenzen im Verlauf der Volksabstimmung östlich und westlich der Oder, in den Städten und auf dem Land berichteten, befanden sich auch solche, deren Verfasser die Witterungsverhältnisse in Oberschlesien am Sonntag, dem 20. März 1921, als Vorboten für die Zukunft des umstrittenen Gebietes ansahen. Ein interessanter Bericht über das Plebiszit erschien am Mittwoch, den 23. März, in der in Kattowitz erscheinenden Zeitung „Górnoślązak“ (Der Oberschlesier) unter dem Titel „Dzień głosowania“ (Abstimmungstag). Besonders bemerkenswert fand der Verfasser des Textes die hohe Wahlbeteiligung: „Vielleicht haben noch nie so viele Menschen an Wahlen teilgenommen wie am 20. März 1921. (…) Alle Wahllokale waren mit Wählern überfüllt. In allen Städten und Dörfern war man sich der Ernsthaftigkeit des Augenblicks bewusst, und die Pflicht gegenüber der Geschichte wurde mit vollem Verständnis und in aller Ruhe erfüllt.“4 Die große Zahl der Wahlwilligen wurde auch von der von Theodor Stahr herausgegebenen prodeutschen Agitationswochenzeitung „Der schwarze Adler“ registriert, die in Königshütte (Królewska Huta) unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier massenhafte Verbreitung fand.5 Darin wurde mitgeteilt, dass die Öffnung der Wahllokale in den Städten um 8.00 Uhr morgens „unter sehr großem Andrange“ stattfand. In dem Artikel „Oberschlesien will bei Deutschland bleiben“, der die oben genannten Informationen enthält, ist zu lesen, dass die Situation in ländlichen Gebieten anders aussah.6 Der Andrang an den Wahlurnen begann hier in der Regel erst gegen 9.00 Uhr, da um 8.00 Uhr traditionell die Gottesdienste stattfanden und das Plebiszit auf den von der katholischen Kirche gefeierten Palmsonntag fiel. Es ist bezeichnend, dass in „Der schwarze Adler“, wie auch in „Górnoślązak“, zwar von Menschenmassen an den Wahlurnen die Rede ist, aber nicht davon, dass die Wahlbeteiligung am Tag der „Volksabstimmung“ wesentlich höher gewesen ist als beispielsweise bei Wahlen in der Kaiserzeit. In der von Franciszek Godula herausgegebenen Zeitschrift wiederum werden keine nennenswerten Unterschiede zwischen dem Abstimmungsverhalten in Städten und Dörfern festgestellt. So heißt es im „Górnoślązak“: „In allen Städten und Dörfern wurde der Ernst der Lage verstanden (…). Alle Bevölkerungsschichten, Jung und Alt, die Kranken wurden mit Autos und Pferdewagen 4 Górnoślązak, Nr. 67, 23.03.1921, S. 2. 5 Glensk: Bibliografia adnotowana, S. 76. 6 Der schwarze Adler, Nr. 34, 26.03.1921, S. 1.
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gebracht, und in vielen Städten erreichte die Zahl der Wähler einen noch nie dagewesenen Anteil von 90 bis 100 Prozent.“7 Auch die in Polen erscheinenden Tageszeitungen berichteten über die Volksabstimmung. Eine polnische sozialistische Zeitschrift, „Robotnik“, verlautbarte: „Die Abstimmungen haben pünktlich um 8 Uhr begonnen. In den Industriegebieten geht es völlig ruhig zu. In Städten wie Kattowitz (Katowice), Königshütte und Beuthen (Bytom) gibt es lebhafte Bewegung auf den Straßen. Menschenmassen laufen durch die Straßen, zahlreiche deutsche Autos und Kutschen mit Wählern rasen vorbei. Leider leidet das polnische Plebiszitkommissariat unter einem großen Mangel an Transportmitteln. Vor den Büros stehen Wählertrauben, große in den Landkreisen, kleinere in den Städten.“8 Von der in Berlin erscheinenden Presse wurden die Ereignisse des 20. März in einem weniger enthusiastischen Ton wiedergegeben: „Schon frühmorgens wimmelt es auf den Straßen von Tausenden von Menschen, die vorbei strömen. Es ist ein wahres Fest, das gefeiert werden muss. Und doch fehlen die Fahnen, die Girlanden, die die Straßen von Ostpreußen und Schleswig schmückten. Es gibt keine Wahlplakate oder Aushänge an den Hauswänden, wie sie in Schleswig üblich sind. All dies ist von der Interalliierten Kommission strengstens untersagt worden.“9 Über das „Tragen von Kranken und Behinderten“ zu den Wahllokalen berichtete auch „Der Schwarze Adler“. Diesbezüglich sind die 100.000 Kriegsinvaliden nicht zu vergessen, die im Abstimmungsgebiet lebten.10 Aus dem Bericht in „Der schwarze Adler“ lässt sich schließen, dass es ein für die zweite, nachmittägliche Wahlphase charakteristisches Phänomen war, (nicht nur) kranke Menschen in die Wahllokale zu bringen. Die Zeitschrift weist darauf hin, dass gegen 12.00 Uhr nicht mehr Menschen an den Wahllokalen standen als nach dem Morgengottesdienst. Ein spezifisches Phänomen in dieser Phase der Stimmabgabe war der Transport der Wähler zu den Wahllokalen mit Autos und anderen Verkehrsmitteln. Wie aus dem Bericht im „Robotnik“ hervorgeht, betraf dies vor allem die prodeutsche Wählerschaft. Nach Schließung der Wahllokale um 20.00 Uhr wurden zumindest einige dieser Fahrzeuge eingesetzt, um so schnell wie möglich Informationen über Teilergebnisse der Wahl zu übermitteln. Es ist davon auszugehen, dass die intensive Nutzung von Kraftfahrzeugen während und unmittelbar nach der Volksabstimmung – mit einer aus heutiger Sicht vernachlässigbaren Anzahl 7 8 9 10
Górnoślązak, Nr. 67, 23.03.1921, S. 2. Robotnik, Nr. 75, 21.03.1921. Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 134, 21.03.1921. Diese Gruppe machte sechs Prozent der Bevölkerung dieses Gebietes aus (zwölf Prozent mit Familien gerechnet). Glensk: Bibliografia adnotowana, S. 74.
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von Automobilen – ein für die Zeitgenossen seltenes Verkehrsaufkommen dargestellt haben dürfte. „Der schwarze Adler“ stellte fest, dass am Montag den ganzen Tag und die ganze Nacht über Autos und andere Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs waren. Diese Informationen könnten darauf hindeuten, dass der in dieser Zeitung bereits erwähnte „Schlepperdienst“ zwar „üblich“ war, am Tag der Volksabstimmung aber außergewöhnliche Ausmaße annahm. Auch ein anderer Faktor dürfte zu dem relativ hohen Verkehrsaufkommen am Wahltag beigetragen haben. „Der schwarze Adler“ berichtete, dass während der Volksabstimmung „Autos mit Kontrolleuren der interalliierten Kommissionen besonders auffällig waren“. An diesem Tag fuhren auch französische Panzer durch die Straßen von Kattowitz, Beuthen und Gleiwitz.11 Nach Auffassung der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ wäre der Einsatz gepanzerter Fahrzeuge in den Vororten oder Dörfern nützlicher gewesen, wo die polnische Seite auf die Eskalation der politischen Spannungen drängte.12 In ihrem Artikel über die Wahl erwähnte die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ polnische Geistliche, die „laut Zeugenaussagen ungehindert in ihren Autos durch die Wahlkreise [fuhren] und versuchten, die Menschen zu überreden, für Polen zu stimmen. Nicht selten unter Androhung ernster Konsequenzen!“13 Der deutsche Historiker Helmut Neubach prägte den Begriff „PriesterPolitiker“, um einen Teil des polnischen und deutschen Klerus zu beschreiben, der besonders stark politisch agitierte. Häufig waren diese Priester in den preußischen Landtag gewählt worden, hatten Vereine, Zeitungen oder Zeitschriften gegründet und Texte mit spezifisch nationalen und politischen Inhalten veröffentlicht. Wie beispielsweise „Der schwarze Adler“ schrieb, wurde der gerechte Ablauf der Wahlen an einigen Stellen durch das Verhalten der polnischen Geistlichen gestört, die sich nicht an das Dekret von Kardinal Adolf Bertram, Bischof von Breslau, vom 21. November 1920 hielten, das ihnen die Agitation verbot, und die durch den Appell der polnischen Bischöfe an die Oberschlesier vor dem Plebiszit zusätzlich ermutigt worden waren.14 Dieser Vorwurf spiegelte sich in den Anschuldigungen wider, die von polnischer Seite gegen die deutsche Seite erhoben wurden, und über die Aktivitäten verschiedener „rechtsextremer Hakatisten“ berichteten.15 Einer der so beschriebenen Geistlichen war der Pfarrer Dr. Paul Nieborowski – ein überzeugter Befürworter des Deutschtums in Oberschlesien, der von der propolnischen Presse als Hakatist, 11 12 13 14 15
Der schwarze Adler, Nr. 34, 26.03.1921; Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 133, 20.03.1921. Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 133, 20.03.1921, S. 1. Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 134, 21.03.1921, S. 1. Der schwarze Adler, Nr. 34, 26.03.1921, S. 1. Vgl. Pachoński, Jan: Kraków wobec powstań śląskich i plebiscytu, Warszawa-Kraków 1981, S. 103.
Verlauf der Volksabstimmung in der zeitgenössischen Presse
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Polenfresser, antipolnischer Agitator und preußischer Patriot bezeichnet wurde. Seine Agitation für Deutschland wurde beispielsweise im November 1920 in der Lokalpresse erwähnt.16 Die in Oppeln (Opole) veröffentlichte „Nowiny Codzienne“ vermerkte: „In der in Westfalen erscheinenden Zeitschrift ‚Wiarus Polski‘ lesen wir: Seit einiger Zeit bereist Pfarrer Dr. Nieborowski, der den Menschen in Oberschlesien durch seine eifrige Arbeit für das deutsche Volk bekannt ist, das Rheinland und Westfalen. Er ist bereits in Herne, Bochum, Essen und Dellwig gewesen, wo es ihm dank seines seelsorgerischen Herzens gelungen ist, mit Sozialisten und Kommunisten in Kontakt zu kommen. Er ist auch nach Bottrop gefahren, der größten oberschlesischen Kolonie und hat es gewagt, […] das polnische Volk mit seinen Lehren über die gefälschte polnische Geschichte zu beglücken.“17 Im Jahr 1919 erklärte ein Kolumnist der in Gleiwitz erscheinenden Zeitung „Sztandar Polski“ (Die polnische Standarte) zu Beginn eines Artikels, in dem er die seiner Meinung nach in der Publikation von Pfarrer Nieborowski enthaltenen historischen Unwahrheiten und Falschdarstellungen erörterte: „„Oberschlesien, Polen und der Katholizismus“. Unter diesem Titel ist in Berlin ein Buch des Deutschen Paul Nieborowski erschienen, das nun in Schlesien vertrieben wird. Dieses Buch ist eines der Mittel, die die Deutschen erfunden haben, um Oberschlesien weiterhin in der Unfreiheit des preußischen Systems zu halten.“18 Dieses Buch hatte auch Auswirkungen auf die Volksabstimmung. Nach Angaben des „Oberschlesischen Wegweisers“ wurde die Publikation von einem in Tworkau (Tworków) tätigen Lehrer und politischen Aktivisten, einem gewissen Poremba, unter den Bewohnern des Kreises Rybnik verteilt, wobei er zur Empörung der Polen Schulkinder für diese Aufgabe eingesetzt hat. Das Buch wies auch auf die Haltung der Geistlichen im Bezirk Ratibor (Racibórz) hin. Die Redakteure interessierten sich dahingehend besonders für einen gewissen Pfarrer Janitz, der in Altendorf, einem heutigen Stadtteil von Ratibor, seinen Dienst versah, und den Pfarrer der Gemeinde Ostrog (Ostróg) – Wilhelm Pfleger.19 Beide sollen während des Sakraments der Beichte politische Agitation betrieben haben, indem sie – oft mit Erfolg – versuchten, die Gläubigen dazu zu bewegen, für Deutschland zu stimmen.20 16 17 18 19
20
Vgl. Olszar, Henryk: Udział duchowieństwa śląskiego w życiu narodowym i politycznym II Rzeczypospolitej, in: Śląskie Studia Historyczno-Teologiczne 32 (1999), S. 107–108. Nowiny Codzienne, Nr. 244, 05.11.1920, S. 1. Sztandar Polski, Nr. 5, 03.09.1919, S. 1. Wawoczny, Grzegorz: Ostróg – historia kościoła i cudownego obrazu, Racibórz 2002, S. 52–53. In dieser Zeit wurde die Pfarrgemeinde Altendorf (Stara Wieś) von Pater Carl Ulitzka geleitet. Vgl. Hitze, Guido: Ulitzka Carl, in: Fic, Maciej/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Słownik Powstań Śląskich, Bd. 3, Katowice 2021, S. 603–614. Oberschlesischer Wegweiser, Nr. 31, 08.04.1921, S. 1.
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Wie bereits erwähnt, wurden unmittelbar nach Ende der Abstimmung häufig Autos eingesetzt, um schnell Teilergebnisse zu übermitteln. Schon vor der Volksabstimmung hatte man erwartet, dass das Ergebnis in den kleineren Wahlbezirken etwa eine Stunde nach Schließung der Wahllokale, also gegen 21 Uhr, feststehen würde.21 Die Redaktion des „Górnoślązak“ erhielt gegen 23 Uhr erste Nachrichten über die Ergebnisse der Abstimmung und am Morgen des folgenden Tages hatte sie bereits „gute Nachrichten aus fast allen Bezirken“. Dabei nahm sie die Information, wonach die Mehrheit der Kreise für Polen gestimmt hatte, für bare Münze.22 Genauso, wie die propolnische Presse den Sieg verkündete, so tat es auch die deutsche Presse; so bezifferte die Kattowitzer Zeitung den Vorsprung bei der Gesamtzahl der Stimmen für Deutschland zunächst auf mehr als eine Viertelmillion23 (am 31. März gab „Die oberschlesische Warte“ aus Breslau die Zahl 256.000 an24). Zugleich begannen beide Seiten, sich gegenseitig zu beschuldigen, das Ergebnis fälschen und die Volksabstimmung stören zu wollen. In der Presse wurde relativ viel Platz für alle Arten von Unruhen eingeräumt, die sich auf die eigentliche Abstimmung auswirken konnten. Auf mögliche Manipulationen von polnischer Seite wurde in der deutschen Presse bereits einige Tage vor dem Plebiszit hingewiesen. Am 19. März schrieb die Deutsche Allgemeine Zeitung: „Die Ostgrenze bei Beuthen und Kattowitz wird in keiner Weise von der Armee geschützt […]. Deshalb setzen die Polen hier brutalen Terror ein. Vielleicht ist dies eine Möglichkeit, die Deutschen vom Wählen abzuhalten. Es ist jedoch sicher, dass es hier morgen zu Zusammenstößen kommen wird, wenn die alliierten Truppen die Deutschen nicht schützen.“25 Im satirischen Blatt „Kocynder“, das im Verlag von Karol Miarki26 gedruckt wurde, wurden die Deutschen hingegen beschuldigt, „unser Volk mit Granaten und Gewehren zur Wahl der Deutschen gezwungen zu haben“. In dieser Zeitschrift wurde der deutschen Seite vorgeworfen, an bestimmten Orten rechtswidrig offene Wahlen eingeführt zu haben.27 Obwohl die polnische Presse während der Abstimmungskampagne und in den Tagen unmittelbar vor der Abstimmung über den Terror gegen Polen berichtete, äußerte sie sich nach der Abstimmung begeistert darüber, dass 21 22 23 24 25 26 27
Górnoślązak, Jg. 17, Nr. 63, 18.03.1921, S. 1. Ebenda, Nr. 67, 23.3.1921, S. 2. Kattowitzer Zeitung, Nr. 68, 22.03.1921, S. 1. Die oberschlesische Warte, Nr. 45, 31.03.1921, S. 1. Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 134, 21.03.1921. Kowalak, Tadeusz: Przyczynek do dziejów prasy na Górnym Śląsku w okresie walki o jego powrót do Polski, in: Kwartalnik Historii Prasy Polskiej, 22 (1983), S. 22. Kocynder, Nr. 27, 27.03.1921.
Verlauf der Volksabstimmung in der zeitgenössischen Presse
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in einigen Bezirken ein Sieg errungen wurde, obwohl es zu Aggressionen gekommen war – was ein Beleg dafür sein könnte, dass die Alliierten die Abstimmung in diesen Bezirken recht gut abgesichert hatten. In der deutschen Presse wurde in einem ähnlichen Tonfall berichtet. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei der zerstörten Ortschaft Anhalt (Hołdunów) im Jahr 1920 gewidmet, über die berichtet wurde: „Es kursierten Gerüchte über die Möglichkeit, dass das Dorf von polnischen Banden vollständig abgeschnitten werden könnte. Diese Berichte haben sich jedoch nicht bewahrheitet. Das Dorf war friedlich und die Abstimmung verlief ordnungsgemäß.“28. Und weiter: „In Gieschewald [Giszowiec] und anderen polnischen Dörfern wie Alt Berun [Stary Bieruń] oder Urbanowitz [Urbanowice], d.h. in Gebieten, in denen das polnische Element eindeutig dominiert, endeten die Wahlen am Nachmittag. Auf den Straßen konnte man ganze Gruppen von Jungen sehen, die stolz Mützen mit aufgenähten polnischen Adlern trugen. Sie störten jedoch nicht die Einwohner und zettelten keine Unruhen mit den zahlreichen deutschen Wählern an, die aus den Tiefen des Reiches in Lastwagen oder Autos angereist waren, um ihre Stimme abzugeben.“29 Trotzdem wurden Zwischenfälle während der Abstimmung gemeldet. In einem Artikel in der Zeitschrift „Orędownik Komisariatu Plebiscytowego“ mit dem Titel „Po walnej rozprawie“ (Nach der Schlacht), in dem der polnische Sieg im Kreis Groß Strehlitz (Strzelce Oposlkie) beschrieben wurde, wurde behauptet, dass der Erfolg trotz der Aufstellung „ganzer Regimenter von Milizionären“ vonseiten der Deutschen, um die lokale, „durch und durch polnische“ Bevölkerung einzuschüchtern, errungen wurde. Die Beuthener Zeitschrift beschuldigte die Deutschen auch, die Wähler zu korrumpieren, und bezog sich dabei auf den Fall der polnischen Gefangenen – Oberschlesier –, die nach Oberschlesien geschickt wurden, um an der Volksabstimmung teilzunehmen. Als Gegenleistung für ihre Stimme für Deutschland sollten sie 5000 DM und die Möglichkeit zur Flucht in den Westen erhalten.30 Am 22. März veröffentlichte „Głos Śląski“ einen Artikel über die Korruption bei den Wahlen in Cosel (Koźle): Der Kommissar des Plebiszitbezirks, Dr. Teofil Golus, berichtete, dass sein deutscher Amtskollege, der „suspendierte Kaplan“ Berthold Jankowski, den Einwohnern der Stadt verschiedene Geschenke anbot, damit sie für Deutschland stimmten. Eine Gleiwitzer Zeitung berichtete unter anderem, dass „die Besitzer von Gutshäusern im Kreis Oppeln den Arbeitern Geld angeboten haben, damit sie für Deutschland stimmen“. Für das Mitbringen 28 29 30
Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 133, 20.03.1921. Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 134, 21.03.1921. Orędownik Komisarjatu Plebiscytowego, Nr. 35, 30.03.1921.
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einer polnischen Karte nach der Abstimmung sollten sie zusätzlich 80 Mark erhalten. Die Zeitschrift informierte auch über eine Provokation, die in Ellguth (Ligota Bialska) im Kreis Neustadt O.S. (Prudnik), bereits nach dem Ende der Volksabstimmung um 20.00 Uhr stattgefunden haben soll. In der Nacht von Sonntag auf Montag habe ein Stoßtrupp eine deutsche Flagge auf den Turm der örtlichen Kirche aufgehängt.31 Die Tatsache, dass sich der Vorfall zu einem Zeitpunkt ereignete, als das Ergebnis der Abstimmung noch nicht bekannt war, verdeutlicht nur die angespannte Atmosphäre, in der es erwartet wurde. Auf den Seiten des deutschsprachigen, aber propolnischen „Oberschlesischen Wegweisers“ war von Milizen die Rede, die von den Deutschen bezahlt wurden, um in Tworkau bei Ratibor Terror und Verwirrung zu stiften. Dem Bericht zufolge sollte jedes Mitglied der „Bande“ pro Tag „Arbeit“ etwa 75 DM erhalten. Zum Zeitpunkt der Abstimmung sollten diese Milizen die Einwohner bedrohen und sie dazu zwingen, für die Deutschen zu stimmen. Außerdem wurden, wie in Cosel, Personen, die ihre Absicht erklärten, für Deutschland zu stimmen, oft wertvolle Geschenke angeboten. So wurde berichtet: „Eine Woche vor der Abstimmung schickte der Deutsche Frauenverein Kisten mit Wäsche, Anzügen usw. nach Tworkau. Außerdem erhielt der Lehrer Poremba eine hohe Geldsumme, um zu versuchen, die Wahlberechtigten zu bestechen (…). Einer armen Rentnerin wurde angeboten, dass sie eine Rente erhalten würde, wenn sie für Deutschland stimmt. Ein Kriegsinvalide erhielt 300 Mark von [Pfarrer Carl, Anm. d. Autoren] Ulitzka.“32 Das Folgende wurde über die Abstimmung im Dorf Ruderswald (Rudyszwałd) geschrieben: „Die Abstimmung hier fand unter deutschem Druck statt, den es sonst nirgendwo gibt. Ein Mann namens Rycka, ein Mitglied des Wahlausschusses, entriss dem Rudzelka einen polnischen Stimmzettel und befahl ihm, einen Stimmzettel für Deutschland in die Wahlurne zu legen. Die polnischen Mitglieder der Kommission, die über diese Entwicklung sehr empört waren, wurden als Korfantys Jungs und Aufwiegler beschimpft und sogar mit dem Tod bedroht.“33 In der Beschreibung des Verlaufs der Volksabstimmung wies die propolnische Presse auf die hohe Beteiligung der sogenannten „Emigranten“ am Plebiszit hin. Am 3. April nannte die oben erwähnte Zeitschrift „Orędownik Komisariatu Plebiscytowego“ Zahlen, die den Einfluss der genannten Gruppe auf das Abstimmungsergebnis verdeutlichen sollten: „(…) auf 25.000 Stimmberechtigte kamen im Kreis Rosenberg O.S. [Olesno] 9.000 Emigranten, im Kreis Oppeln waren es 23.000 [Emigranten], im Kreis Kreuzburg [Kluczbork] 31 32 33
Głos Śląski, Nr. 35, 22.03.1921, S. 4. Oberschlesischer Wegweiser, Nr. 30, 07.04.1921, S. 1. Oberschlesischer Wegweiser, Nr. 31, 08.04.1921, S. 1.
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[kamen auf 28.000 Stimmberechtigte] 18.000 [Emigranten], 11.000 Emigranten waren es im Kreis Neustadt O.S.“34. Ihre Teilnahme an der oberschlesischen Volksabstimmung wurde in der polnischen Presse post factum als großes Unglück bewertet: „Wie Satan Eva den Apfel gegeben hat, so hat ein böser Geist den Mächtigen in Versailles vorgeschlagen, dass alle in Schlesien Geborenen wählen dürfen.“35 Es wurde verschwiegen, dass die Beteiligung dieser Emigranten auf Grundlage von Artikel 88 Absatz 4 des Versailler Vertrages auf eine polnische Initiative zurückging, wenngleich Roman Dmowski in Paris die Folgen noch nicht hatte absehen können.36 Die weit überwiegende Mehrheit der Auswanderer, die an der Volksabstimmung teilnahmen, stimmte für Deutschland. Populär wurde die Parole, welche die Anhänger des Verbleibs Oberschlesiens in der Weimarer Republik im Zug von sich gaben: „In Polen ist nichts zu holen“. Der 20. März war jedoch auch ein Tag, an dem die für Polen stimmenden Oberschlesier zur Volksabstimmung anreisten. Sie kamen mit der Eisenbahn unter anderem aus Krakau, Teschen (Cieszyn) oder Großpolen.37 Die Zeitschrift „Głos Śląski“ (Schlesische Stimme) veröffentlichte einen Bericht über die Reise eines Emigranten aus dem Kalischer Land zur Volksabstimmung. Er machte sich um 8 Uhr morgens in Ostrowo (Ostrów Wielkopolski) auf den Weg und kam um 16 Uhr in Beuthen an. In seinem Bericht beschreibt er die Situation, die er in Tarnowitz (Tarnowskie Góry) vorgefunden hat. Dort gab es ihm zufolge Menschenmassen, zahlreiche polnische und deutsche Anhänger, die „Es lebe Polen“, „Hoch Deutschland“ und „Nieder mit Polen“ riefen, sowie Engländer, die mit größter Mühe und Not die Ordnung auf dem Bahnhof aufrechterhielten. Als die Deutschen begannen, dem Reisenden und seinen Begleitern zu erzählen, dass es in Polen nichts zu essen gab, sollen diese verblüfft reagiert und ihnen ein etwa 25 kg schweres Bündel Würste gezeigt haben, was nicht nur die Deutschen, sondern auch die anderen Polen in Erstaunen versetzte. „Offenbar wirkte die Wurst, denn sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Fraktion gab es erstaunte Reaktionen“, berichtet der Auswanderer.38 Die Emigranten wurden auch in der Warschauer Presse erwähnt: „Vor jedem Wahllokal sind lange Schlangen von Wählern zu sehen; mitunter haben sich diese bereits vor 8 Uhr morgens gebildet. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Auswanderer aus Deutschland, die so schnell wie möglich mit regulären Zügen nach Deutschland zurückfahren wollten, ohne auf gesonderte Züge 34 35 36 37 38
Orędownik Komisarjatu Plebiscytowego, Nr. 36, 03.04.1921, S. 243. Ebenda, S. 242. Fikus, Sebastian: Niemieckie interpretacje plebiscytu na Górnym Śląsku w 1921 roku, in: Skoczek, Tadeusz (Hg.): Górny Śląsk 1918–1922, Warszawa 2015, S. 33. Pachoński: Kraków wobec powstań śląskich, S. 100. Głos Śląski, Nr. 35, 22.03.1921, S. 3.
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für Auswanderer und auf das Ergebnis der Volksabstimmung warten zu müssen. Nachdem sie sich vor Ort ein Bild von der Lage gemacht hatten, waren sie davon überzeugt, dass ein polnischer Sieg gewiss war, und beeilten sich daher, die Stadt zu verlassen, da sie befürchteten, bei ihrer Abreise in großer Zahl von der polnischen Bevölkerung und anschließend von den Deutschen in Deutschland verpönt zu werden, weil sie das Plebiszit verloren hatten. Solche Gespräche unter Emigranten waren vor fast jedem Wahllokal zu vernehmen. Andere erklärten ihre überstürzte Abreise mit beruflichen Gründen usw.“39 Wie die polnischen Zeitungen die Deutschen, so beschuldigte auch die deutsche Presse die Polen zahlreicher Terrorakte im Rahmen der Berichterstattung über die Volksabstimmung. Ein anschauliches Beispiel hierfür stellt die zitierte Zeitschrift „Der schwarze Adler“ dar, die als „Leitblatt für die deutsche Presse“ bezeichnet wurde.40 In ihrem am 26. März veröffentlichten Bericht über das Plebiszit heißt es, dass Gewalttaten von Seiten der Polen vor allem in ländlichen Gebieten zu beobachten waren. Der Wochenzeitung zufolge versuchten vor allem Engländer und Italiener, die Sicherheit der dortigen Wahlen zu gewährleisten, aber ihre Bemühungen zeigten nur eine mäßige Wirkung. Am linken Oderufer wurde der Verlauf der Volksabstimmung als friedlich beschrieben – es soll weder Ausschreitungen noch unerlaubten Druck auf die Wähler gegeben haben. Am rechten Oderufer hingegen sollen die Polen brutalen Terror eingesetzt haben – vor allem in den Kreisen Rybnik, Pless (Pszczyna), Tarnowitz sowie im Landkreis Beuthen. Interessanterweise stellte „Der schwarze Adler“ fest, dass die Lage in diesen Landkreisen vor dem Plebiszit „der Zeit des Augustaufstandes in Oberschlesien“ geähnelt hatte, d.h. der Zeit des Zweiten Schlesischen Aufstandes (19./20. bis 25. August 1920). In der Nähe von Pless sollen leere Baracken gesprengt worden sein, die für die Mitglieder der Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier (VVHO) bestimmt gewesen waren. Die Zeitung berichtete, dass die Mitglieder dieser Organisation ständig von polnischen Milizen auf dem Land bedroht wurden. Weiter zeichnete sie ihren Lesern ein dramatisches Bild von der Lage der VVHO-Mitglieder, die in ländlichen Gebieten um Stimmen für Deutschland warben. Es wurde behauptet, dass die paritätischen Volksabstimmungsausschüsse in einigen Orten schlecht funktionierten und dass die deutschen Vertreter eingeschüchtert wurden. In der prodeutschen Presse Oberschlesiens wurde die polnische Seite ganz allgemein der Bestechung von Wählern bezichtigt. In seiner Ausgabe vom 39 40
Robotnik, Nr. 75, 21.03.1921. Zieliński, Władysław: Polska i niemiecka propaganda plebiscytowa na Górnym Śląsku, Wrocław–Gdańsk 1972, S. 120.
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26. März beschuldigte das Satiremagazin „Pieron“ die polnischen Befürworter unmissverständlich der Wahlkorruption. Neben einer Karikatur, in der die Entfernung der aus Großpolen stammenden Agitatoren aus Oberschlesien gefordert wurde, veröffentlichte die Zeitung einen Artikel, in dem Versuch, die Tatsache auszunutzen, dass der 20. März der letzte Wintertag war. So soll der Winter, der am Tag des Plebiszits endete, besonders gewesen sein – statt Schnee soll Geld vom Himmel geregnet sein.41 In seinem Bericht über die Volksabstimmung berichtete „Der schwarze Adler“ über einen rein politisch motivierten Mord: In Niepaschütz (Niepaszyce) im Kreis Gleiwitz (Gliwice) wurde ein Mitglied der VVHO getötet und ein weiteres verwundet. An verschiedenen Orten sollen die Polen nur polnische Stimmzettel verteilt haben. Angeblich drückten polnische Agenten den einfachen Leuten überall auf dem Land, insbesondere den Frauen (wie die Zeitschrift betont), polnische Stimmzettel in die Hand und befahlen ihnen unter Androhung von Strafen, diese in die Wahlurnen zu werfen. Obwohl nach der Volksabstimmung in den Zeitungen immer wieder Terrorund Korruptionsvorwürfe erhoben wurden, war die oberschlesische Presse damals voll von Artikeln, die belegen, dass nach dem aggressiven Ende der Abstimmungskampagne der Tag des 20. März selbst eine vorübergehende Entspannung der politischen Lage mit sich brachte. Der prodeutsche, bilinguale Bund-Związek in Beuthen (von den Polen als Propagandablatt bezeichnet), der dieses vorübergehende Phänomen feststellte, verglich es mit dem Wetter, das an diesem Tag in Oberschlesien herrschte. Der Autor des eine Woche nach dem Plebiszit veröffentlichten Artikels mit dem Titel „Wer hat gesiegt? Kto zwyciężył?“ notierte: „Die durch den Abstimmungskampf erhitzten Gemüter kühlten am 20. März ab wie die Luft. Der dichte Nebel, der nach mehreren schönen, hellen Tagen vor der Abstimmung in den ersten Stunden des 20. März das gesamte Gebiet der Volksabstimmung einhüllte, war in gewisser Weise ein Symbol für die Unklarheit, die das Ergebnis der Abstimmung mit sich brachte. Nur langsam und unwesentlich brachen helle Sonnenstrahlen durch ihn hindurch, wie um anzudeuten, dass sich die Lage in Oberschlesien nun langsam aufklären würde.“42 In der Beschreibung der atmosphärischen Bedingungen war sich die propolnische Zeitschrift „Górnoślązak“ einig und erklärte am Wahltag: „Ein regnerischer, etwas nebliger Morgen hat die Menschen in Oberschlesien am Palmsonntag geweckt. In allen Kirchen unseres Landes fanden am frühen Morgen Gottesdienste statt, und überall baten die zahlreich versammelten Menschen den Schöpfer um seinen Segen für diesen wichtigen 41 42
Pieron, Nr. 13, 26.03.1921. Bund-Związek, Nr. 13, 27.03.1921.
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historischen Tag. Bald fielen hellere Sonnenstrahlen auf die Erde, das Wetter klarte auf, und die Menschen strömten in Scharen zu den Wahlurnen.“43 Die Lokalpresse war eines der wichtigsten Massenmedien, mit denen beide Seiten des oberschlesischen Konflikts ihre Kampagne vor der Volksabstimmung führten. Sie versuchten, potenzielle Anhänger der Gegenseite mit ihren Argumenten zu erreichen, indem sie auch prodeutsche Presse auf Polnisch bzw. propolnische Presse auf Deutsch veröffentlichten. Beide Seiten versicherten ihren Lesern auch, dass die Abstimmung am Sonntag, den 20. März 1921, für die Zukunft der Region von entscheidender Bedeutung war. Als die Abstimmung an diesem Tag begann, schien es, als hätte die Presse ihre Rolle als Propagandastimme in der deutsch-polnischen Rivalität um Oberschlesien vorübergehend ausgesetzt. Bemerkenswert an den ersten Berichten lokaler Zeitschriften über den Tag der Volksabstimmung ist, dass die Abstimmung selbst trotz aller Spannungen, die die Kampagne vor der Abstimmung begleitet hatten, vielerorts friedlich verlief. Als sich jedoch im Nachhinein herausstellte, dass das Plebiszit nicht zu einer für beide Seiten akzeptablen Lösung der oberschlesischen Frage geführt hatte, wurde die Propagandamaschine der Lokalpresse wieder in Gang gesetzt. Eine der ersten Maßnahmen, die sie nach der Volksabstimmung ergreifen konnte, um die von ihr unterstützte Seite dem endgültigen Sieg näher zu bringen, war die Verbreitung von Informationen über die von den politischen Gegnern initiierten Gesetzesverstöße, die die Abstimmung begleitet hatten. Und wenngleich beide, um die Stimmen der Oberschlesier konkurrierenden Seiten in dem Sonnenschein, der am Morgen der Abstimmung durch die Wolken brach, das Versprechen eines erfolgreichen Endes der Abstimmungskampagne für sich sahen, sollten sich ihre Hoffnungen doch als weitgehend vergeblich erweisen. Die Verkündung des Sieges von deutscher und polnischer Seite und die gegenseitigen Anschuldigungen sollten bewirken, dass die Volksabstimmung keine so große Bedeutung für die Zukunft Oberschlesiens hatte, wie einige Vertreter der lokalen Presse vor dem 20. März prophezeit hatten. Die politische Situation in der Region am ersten Tag des Frühlings 1921 konnte daher eher als neblig denn als klar bezeichnet werden. Aus dem Polnischen von David Skrabania
43
Górnoślązak, Nr. 67, 23.03.1921.
Die Ergebnisse der Volksabstimmung und ihre Interpretation Dawid Smolorz Die Volksabstimmung von März 1921 war ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Region, und die Oberschlesier waren sich dessen bewusst. Nicht weniger als 97,5 Prozent der über eine Million und zweihunderttausend Wahlberechtigten gingen zur Wahlurne. 59,4 Prozent, d.h. 707.393 Wähler, sprachen sich für den Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland aus. Andererseits gaben 40,3 Prozent (479.365 Personen) einen Stimmzettel mit der Aufschrift „Polska – Polen“ ab. 3.879 Stimmen wurden aus verschiedenen Gründen für ungültig erklärt.1 Der Sieg Deutschlands fiel also deutlich aus, aber dennoch blieb das Ergebnis weit entfernt von demjenigen in Ost- und Westpreußen, wo 97,5 Prozent bzw. 92,4 Prozent der Bevölkerung für den Verbleib der beiden Abstimmungsgebiete beim Reich stimmten.2 Bei der Analyse des Abstimmungsergebnisses lassen sich zwei klare Tendenzen erkennen. Erstens sah die städtische Bevölkerung ihre Zukunft überwiegend in Deutschland. Nur in drei Zentren, die im März 1921 das Stadtrecht hatten, war das Ergebnis für Polen günstig. In allen drei Fällen handelte es sich um kleine Städte, von denen keine eine Kreisstadt war. Alle befanden sich im Osten der Region, nahe der damaligen Grenze zu Polen. In Alt Berun (Bieruń Stary), damals im Kreis Pless (Pszczyna), zeigte sich die Präferenz sehr deutlich (82 Prozent). In Woischnik (Woźniki) im Kreis Lublinitz (Lubliniec) stimmten 65 Prozent der Einwohner für Polen, in Georgenberg (Miasteczko Śląskie) im Kreis Tarnowitz (Tarnowskie Góry) 55 Prozent.3 In den übrigen oberschlesischen Städten – unabhängig von ihrer geografischen Lage und Größe – sprach sich die Mehrheit der Wähler für Deutschland aus, wobei der Vorsprung teils überwältigend war, zum Beispiel in Leobschütz (Głubczyce) 99,4 Prozent, Kreuzburg (Kluczbork) 96,3 Prozent, Oberglogau (Głogówek) 95,7 Prozent, Cosel (Koźle) 93,0 Prozent, Lublinitz 88,0 Prozent oder Tarnowitz 85,2 Prozent. Auch die Ergebnisse in den Kreisstädten ließen keine Zweifel zu. In der Landeshauptstadt Oppeln (Opole) stimmten 95,0 Prozent der Einwohner für den 1 Kordecki, Marcin/Smolorz, Dawid: Atlas plebiscytu górnośląskiego, Gliwice-Opole 2020. 2 Gogan, Wiesław: Plebiscyt w Prusach Wschodnich i Zachodnich 11 lipca 1920 roku, Pelplin 2010. 3 Hawranek, Franciszek (Hg.): Encyklopedia powstań śląskich, Opole 1982.
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Verbleib Oberschlesiens innerhalb der Reichsgrenzen, in Ratibor (Racibórz) 90,9 Prozent, Kattowitz (Katowice) 85,4 Prozent, Gleiwitz (Gliwice) 78,9 Prozent, Königshütte (Królewska Huta) 74,8 Prozent und Beuthen (Bytom) 74,7 Prozent. Von den größeren Städten kam das Ergebnis in Myslowitz (Mysłowice) einem Unentschieden am nächsten, wo fast 43,9 Prozent der Wahlberechtigten für Polen stimmten. Zweitens: Auf dem Land gab es eine klare Abgrenzung zwischen dem prodeutschen Westen und dem pro-polnischen Osten. Die Trennlinie verlief von Norden aus gesehen ungefähr von Landsberg O.S. (Gorzów Śląski) über Rosenberg (Olesno) und Cosel bis Ratibor, mit einer Verschiebung zugunsten Polens auf Höhe des Kreises Groß Strehlitz (Strzelce Opolskie). Für den Verbleib der Region beim Reich stimmten mehrheitlich die Einwohner der Kreise Leobschütz, Kreuzburg mitsamt dem Namslauer Teil, Cosel mit dem an das Abstimmungsgebiet angeschlossenen Teil des Kreises Neustadt O.S. (Prudnik) sowie der Kreise Lublinitz, Rosenberg, Oppeln, Ratibor und Hindenburg (Zabrze). Andererseits war die Vision eines polnischen Oberschlesiens für die Bewohner der Kreise Beuthen, Kattowitz, Pless, Rybnik, Groß Strehlitz, Tarnowitz und Tost-Gleiwitz (Toszek-Gliwice) überzeugender. In den ländlichen Gebieten entfielen die eindeutigsten Ergebnisse auf die Bezirke Leobschütz, Kreuzburg und Neustadt, wo 99,6 Prozent, 96,0 Prozent bzw. 88,0 Prozent der Stimmen für Deutschland abgegeben wurden. Die größte Unterstützung für die polnische Seite gab es in den Kreisen Pless (74,1 Prozent) und Rybnik (65,2 Prozent). Die Ergebnisse in den Kreisen Hindenburg und Groß Strehlitz waren nahezu unentschieden. Im ersten Fall gewannen die Deutschen mit einem Stimmenverhältnis von 51,0 zu 49,0 Prozent, im zweiten Fall war die polnische Option minimal überlegen (50,7 zu 49,3 Prozent). In mehr als 20 Ortschaften, von denen die meisten im Kreis Leobschütz lagen, wurde keine einzige Stimme für Polen abgegeben. Im Gegensatz dazu kam es kein einziges Mal vor, dass in einer Ortschaft keine Stimme für Deutschland abgegeben wurde. Interessanterweise ergab die Volksabstimmung in drei Orten nach der Addition der Ergebnisse des Dorfes und des auf seinem Gebiet gelegenen Gutsbezirkes ein perfektes Gleichgewicht. Dies waren Groß Kottorz (Kotórz Wielki) im Kreis Oppeln, Rudzinitz (Rudziniec) im Kreis Tost-Gleiwitz und Pawonkau (Pawonków) im Kreis Lublinitz. Die Einwohner von dreizehn Städten im niederschlesischen Kreis Namslau, die zum Abstimmungsgebiet gehörten, stimmten eindeutig für Deutschland. Von den 5.456 Stimmen wurden nur 133 für Polen abgegeben. Abgesehen von den Kreisen Kreuzburg und Rosenberg (in Teilen) stimmte die Mehrheit der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten entlang der polnischen Grenze für Polen. Dies ist bemerkenswert, da sie seit den 1870er Jahren
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dank des kleinen Grenzverkehrs die Möglichkeit hatte, die auf der polnischen Seite der Grenze gelegenen Dörfer zu besuchen. Daher muss sie sich dessen bewusst gewesen sein, dass diese Gebiete im Vergleich zu Oberschlesien wirtschaftlich weniger gut entwickelt waren. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, mehrheitlich für Polen zu stimmen. Die Muttersprache der Einwohner der einzelnen Teile der Region schlug sich nicht automatisch in den Wahlergebnissen nieder. So gewann die deutsche Option in den Kreisen Oppeln, Rosenberg, Cosel, Ratibor, Hindenburg und Lublinitz, deren Einwohner bei der Volkszählung von 1910 mehrheitlich Polnisch als Muttersprache angegeben hatten. Natürlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Kategorie „polnische Sprache“ damals auch den oberschlesischen Dialekt umfasste. Eines der besten Ergebnisse erzielten die Deutschen im Kreis Kreuzburg, wo der Prozentsatz der polnisch- und deutschsprachigen Bevölkerung annähernd gleich groß war (47,2 gegenüber 46,9 Prozent). In diesem Fall war wahrscheinlich auch die protestantische Konfession der Mehrheit der Bevölkerung ein Faktor, der das Ergebnis beeinflusste.4 Mehr als 97 Prozent der Einwohner eines Teiles des Kreises Namslau, der an das Abstimmungsgebiet angeschlossen worden war, stimmten für den Verbleib innerhalb der Reichsgrenzen, obwohl die meisten von ihnen im Alltag einen polnischen Dialekt sprachen. Auch im südlichen Gürtel der Landkreise Leobschütz und Ratibor, in denen eine mährischsprachige Bevölkerung lebte, war die Unterstützung für Deutschland sehr groß. Hier gab es einige Dörfer, in denen nicht eine einzige Stimme für Polen abgegeben wurde. Neben den Einwohnern durften auch Personen wählen, die im Abstim mungsgebiet geboren waren, aber 1921 außerorts wohnten (die sogenann ten „Emigranten“). Der Anteil dieser Kategorie an der Gesamtzahl der Abstimmungsberechtigten betrug etwas mehr als 19 Prozent. Die meisten von ihnen warfen einen Stimmzettel mit der Aufschrift „Deutschland – Niemcy“ in die Wahlurne. Jahrzehntelang behauptete die polnische Seite, einer der Hauptgründe für ihre Niederlage wäre die Teilnahme dieser „Emigranten“ an der Abstimmung gewesen, wobei sie die Tatsache ignorierte, dass Menschen von außerhalb des Abstimmungsgebietes das Wahlrecht auf Antrag von Warschau zugestanden worden war. Im Übrigen hätte Deutschland auch ohne die Beteiligung dieser Gruppe einen Sieg errungen, wenngleich in bescheidenerem Ausmaß (ca. 54 Prozent).5 4 Gemeindelexikon für die Regierungsbezirke Allenstein, Danzig, Marienwerder, Posen, Bromberg und Oppeln auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und anderer amtlicher Quellen, Berlin 1912. 5 Kordecki/Smolorz: Atlas.
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Darüber hinaus scheint es, als wäre die Verwendung des Begriffes „Emigranten“ in polnischen und deutschen Veröffentlichungen sehr ungenau. In den meisten Fällen handelte es sich um Menschen, die aus verschiedenen Gründen einfach in weiter westlich gelegene Gebiete ihres Landes gezogen waren. Nach der angenommenen Nomenklatur handelte es sich bei den „Emigranten“ auch um Personen, die in verschiedenen Lebensabschnitten z.B. von Oppeln oder Oberglogau nach Falkenberg O.S. (Niemodlin) oder Neustadt gezogen waren, die zwar in der Nähe lagen, aber nicht zum Abstimmungsgebiet von 1921 gehörten. Die endgültige Form der Grenze, die vom Botschafterrat am 20. Oktober 1921 angenommen wurde, entsprach nur teilweise dem Abstimmungsergebnis. Die Aufteilung der Region streng nach den in der Volksabstimmung geäußerten Präferenzen hätte zur Bildung zahlreicher Enklaven geführt und damit das Wirtschaftsleben und den Verkehr in der Region lahmgelegt. Im Übrigen sahen die Bestimmungen des Versailler Vertrags bereits in Paragraf fünf der Anlage zu Art. 88 im Abschnitt VIII vor, dass das Abstimmungsergebnis nicht das einzige Kriterium für die Teilung sein sollte: „Nach Beendigung der Abstimmung teilt der Ausschuss den alliierten und assoziierten Hauptmächten die Anzahl der in jeder Gemeinde abgegebenen Stimmen mit und reicht gleichzeitig einen eingehenden Bericht über die Wahlhandlung sowie einen Vorschlag über die Linie ein, die in Oberschlesien unter Berücksichtigung sowohl der Willensbekundung der Einwohner als auch der geografischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften als Grenze Deutschlands angenommen werden soll.“6 Darüber hinaus war der polnische Aufstand, der am 3. Mai 1921 ausbrach, ein weiterer Faktor, der die endgültige Form der Grenze beeinflusste. Er zielte darauf ab, eine für Polen günstigere Aufteilung Oberschlesiens zu erreichen, was auch gelang. Nach dem endgültigen Entwurf der Grenzziehung durch das umstrittene Gebiet wurden dem Deutschen Reich 71 Prozent des Volksabstimmungsgebiets zugestanden, das von etwa 54 Prozent dessen Bevölkerung bewohnt wurde.7 Von den größeren Zentren blieben Beuthen, Gleiwitz, Hindenburg, Oppeln und Ratibor innerhalb der deutschen Grenzen. Polen erhielt einen kleineren Teil der Region, aber einen größeren Teil des Industriegebietes. Das polnische Oberschlesien bestand aus den östlichen Teilen der Kreise Lublinitz 6 Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919, Abschnitt VIII Polen, § 5 der Anlage, http:// www.documentarchiv.de/wr/vv03.html (aufgerufen am 23.05.2022). 7 Bahlcke, Joachim/Gawrecki, Dan/Kaczmarek, Ryszard (Hg.), Historia Górnego Śląska. Polityka gospodarka i kultura europejskiego regionu, Gliwice 2011.
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und Tarnowitz, einem Teil des Kreises Beuthen (ohne die Stadt Beuthen), dem gesamten Kreis Kattowitz und den Städten Kattowitz und Königshütte, den südlichen und östlichen Teilen des Kreises Hindenburg (ohne die Stadt Hindenburg), dem gesamten Kreis Pless, fast dem gesamten Kreis Rybnik, den südöstlichen Randgebieten des Kreises Ratibor und kleinen Teilen des Kreises Tost-Gleiwitz. Wie bereits erwähnt, spiegelte eine solche Aufteilung die Präferenzen der Bevölkerung nur teilweise wider. Einerseits gab es eine Reihe von Städten innerhalb der polnischen Grenzen, deren Einwohner mit überwältigender Mehrheit für die weitere Zugehörigkeit zu Deutschland gestimmt hatten (Kattowitz, Königshütte, Pless, Lublinitz, Tarnowitz). Andererseits gab es in Deutschland immer noch Gebiete, die ganz oder fast gänzlich für eine Eingliederung nach Polen gewesen waren, zum Beispiel die Kreise Tost-Gleiwitz und Groß Strehlitz. Im Kreis Lublinitz befanden sich einige der Dörfer, die überwiegend für Deutschland gewesen waren, nach der Teilung in unmittelbarer Nähe der neuen Grenze, aber auf polnischer Seite. Andererseits blieben mehrere Dörfer, die den Anschluss an Polen befürwortet hatten, bei Deutschland, obwohl die neue Grenze in unmittelbarer Nähe zu ihnen verlief. Aus dem Polnischen von David Skrabania Die vollständigen Abstimmungsergebnisse können in der Download-Sektion der Buch-Webseite unter brill.com eingesehen werden.
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Abb. 24.1
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Ergebnis der Volksabstimmung in Oberschlesien 20. März 1921. Grafik erstellt durch: nikostudio.pl
Reaktionen auf die Ergebnisse der oberschlesischen Volksabstimmung Sebastian Rosenbaum Die Reaktionen auf die Ergebnisse des Plebiszits erfolgten auf drei Ebenen. Nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren Stellungnahmen vertraulicher Art, die innerhalb des Kreises der staatlichen Behörden verfasst wurden und bewusst sachliche Äußerungen enthielten, die ad usum Delphini gemacht wurden und daher nicht mit Propaganda und Überzeugungsarbeit verbunden waren. Offizielle Reaktionen für ein breiteres Publikum wurden durch die Presse, über Proklamationen, Artikel, auf Kundgebungen und im Rahmen von öffentlichen Reden veröffentlicht. Sie sollten „kanonische“ Erzählungen darstellen und wurden in der Regel von den Führern eines bestimmten Milieus formuliert. Die Interpretation der Ergebnisse des Plebiszits war fast so wichtig wie die Abstimmung selbst: Die endgültige Entscheidung über das Schicksal der Region hing theoretisch davon ab, wie die Ergebnisse ausgelegt wurden. Natürlich gab es auch öffentliche Presseanalysen, die sich dieser dogmatischen Funktion der Konstruktion einer korrekten Interpretation entziehen konnten, obwohl es angesichts der weitgehenden Unterordnung der Mehrheit der Presse – sowohl der polnischen als auch der deutschen – unter Propagandafunktionen nicht leicht war, Zeitungsäußerungen zu finden, die sich gegen politische Klischees wenden. Aber es gab auch eine dritte Dimension von Reaktionen auf die Ergebnisse des Plebiszits, und zwar in Form von Interaktionen im öffentlichen Raum, die nicht diskursiv waren und von friedlichen Demonstrationen bis hin zu politischen Gewaltakten reichten.
In Erwartung der Ergebnisse
Beide Seiten gingen mit bestimmten Erwartungen in die Abstimmung: Hoffnungen auf einen Sieg vermischten sich mit Befürchtungen des Gegenteils. Im Dezember 1920 betonten die Führer der Polnischen Militärorganisation Oberschlesiens (POW GŚl.), Alfons Zgrzebniok und Mieczysław Paluch, die „Ungewissheit des Ausgangs der Volksabstimmung (dank der Aufnahme von 300.000 deutschen Migranten)“ und prognostizierten bereits einen weiteren „allgemeinen Aufstand in Schlesien und die endgültige Regelung der
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Zugehörigkeitsfrage mit der Waffe in der Hand“.1 Doch am Vorabend der Volksabstimmung hatte sich die Stimmung deutlich verbessert. Am 20. März meldete sich einer der ranghöchsten Offiziere des Kommandos zur Verteidigung des Plebiszits (DOP), Major Bronisław Sikorski, bei den Behörden in Warschau: „Die Mehrheit der Stimmen wird wahrscheinlich auf Polen entfallen.“2 Ein solch optimistisches Narrativ wurde vor allem für die Öffentlichkeit aufrechterhalten, was offenbar eine mobilisierende Wirkung hatte. Am 17. März veröffentlichte das polnische Plebiszitkommissariat in Beuthen einen von Kommissar Wojciech Korfanty und polnischen Parteiführern unterzeichneten Aufruf, in dem betont wurde: „Wir wissen, daß der 20. März der Siegestag des polnischen Volkes und seine Erlösung aus langjähriger Knechtschaft bedeuten wird.“3 In einer weiteren Proklamation vom 19. März betonte Korfanty: „Die polnische Sache wird am 20. März siegen. Das polnische Volk Oberschlesiens wird befreit werden von der vierhundertjährigen Unterdrückung und Ausbeutung durch das kapitalistische Preußen. (…) In Würde und Ruhe werden wir auf den großen Augenblick warten, in dem die Interalliierte Kommission das Land in die Hände des oberschlesisch-polnischen Volkes übergeben wird“.4 Auch die polnische Presse in Oberschlesien verkündete, dass die Volksabstimmung „ein Ende der deutschen Herrschaft, der deutschen Verbrechen und des deutschen Betrugs“ herbeiführen würde.5 Der Optimismus im polnischen Lager war auch auf die gute politische Lage der Republik zurückzuführen: Am 18. März 1921 unterzeichnete sie den Frieden von Riga mit dem bolschewistischen Russland. Damit gleichbedeutend war die Ostgrenze Polens, unter anderem im Ergebnis des siegreichen Krieges Polens mit dem ehemaligen Zarenreich und zugleich einem der Teilungsstaaten, entstanden. Unterdessen setzten sich die kommunistischen Unruhen in Deutschland fort, und im März 1921 besetzten französische Truppen Düsseldorf und Duisburg und es war leicht, Deutschland in der Presse als destabilisiert
1 1920 grudzień b.d., b.m. – Memoriał przywódców POW na G. Śląsku w sprawie przygotowań do powstania, złożony w Kancelarii Naczelnika Państwa [1920 Dezember o.D., o.O. – Memorandum der Leiter der POW in Oberschlesien über die Vorbereitung des Aufstandes, der Kanzlei des Staatsoberhauptes vorgelegt], in: Jędruszczak, Tadeusz/Kolankowski, Zygmunt (Bearb.): Źródła do dziejów powstań śląskich, Bd. II: Styczeń – grudzień 1920, Wrocław et al. 1970, S. 499. 2 Ryżewski, Wacław: Trzecie Powstanie Śląskie 1921. Geneza i przebieg działań bojowych, Warszawa 1977, S. 89. 3 Korfanty, Wojciech: Rodacy!, Katolik, Nr. 34 vom 19.03.1921; Oberschlesische Grenz-Zeitung, Nr. 65 vom 19.03.1921. 4 Ders.: Rodacy!, Goniec Śląski, Nr. 64 vom 19.03.1921; Oberschlesische Grenz-Zeitung, Nr. 66 vom 20.03.1921. 5 Baczność Górnoślązacy! Niemcy fałszują gazety polskie, Goniec Śląski, Nr. 64 vom 19.03.1921.
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darzustellen, was auch konsequent getan wurde.6 Die polnischen Politiker glaubten daher fest an einen Erfolg. Die deutsche Seite war sich des Ausgangs nicht so sicher. Ein führender Autor der oberschlesischen Heimatliteratur, Robert Kurpiun, vertrat 1919 die Ansicht, dass die Oberschlesier naiv und leichtgläubig waren und bereitwillig der polnischen Propaganda folgten, für die sie je nach Kontext ihre Unterstützung von der einen auf die andere Seite verlagerten.7 Dies stellte einen ernsthaften Risikofaktor dar, der das Endergebnis der Volksabstimmung in Frage stellte. Die Meinung von Kurpiun, einem Mann der deutschnationalen Rechten, kann in gewisser Weise als typisch für die deutsche Seite angesehen werden. Im Dezember 1920 berichtete der Gleiwitzer Abstimmungsaktivist Heinrich Günther: „[…] die einheimischen oberschlesischen Deutschen oder deutschgesinnten sind stark verschüchtert“, was aus dem zweiten schlesischen Aufstand vom August 1920 resultierte. Es wurde verlautbart: „Wir machen nicht mehr mit, denn die Deutschen haben uns zur Zeit des Aufstandes nicht geschützt, besitzen auch nicht die Machtmittel, um uns in Zukunft zu schützen.“8 In ähnlicher Weise berichtete Anfang 1921 Carl Spiecker, der Vertreter des Staatskommissars für öffentliche Ordnung in Oberschlesien: „[…] durch die Gerüchte von neuen Aufständen werden die Deutschgesinnten niedergehalten, so dass sie, besonders im Südostteil nicht wagen, auch nur eine Vereinssitzung zu halten.“9 Diese Haltung wiederum drohte, Hunderte von Menschen zum Rückzug aus der Agitation und anderen Formen der Propagandatätigkeit zu veranlassen. Auch die polnische Seite stellte im Januar 1921 fest, dass „im deutschen Lager eine gewisse Panik zu spüren war, die sich mit dem Näherrücken des Abstimmungstermins verstärkte“, und sogar die Abreisevorbereitungen von Aktivisten und Geschäftsleuten hemmte, wie die Nachrichtenabteilung des polnischen Plebiszitkommissariats feststellte.10 Am 6 7
8 9 10
Kaczmarek, Ryszard: Powstania Śląskie 1919–1920–1921. Nieznana wojna polsko-niemiecka, Kraków 2019, S. 350–351. Rosenbaum, Sebastian: „Przeciw czerwonym i biało-czerwonym“. Rok 1919 w świetle dzienników Roberta Kurpiuna, in: Gwóźdź, Krzysztof/Rosenbaum, Sebastian (Hg.): Rok 1919 na Górnym Śląsku. Czas eskalacji konfliktów, Warszawa-Katowice-Tarnowskie Góry 2021, S. 252. GStAPK, I HA, Rep. 171, Nr. 17, Akten betreffend die Tätigkeit deutscher Vereine und deutsche Propaganda 1920–1921, H. Günther, Bemerkungen über die Agitation auf Grund der bei einer Aufklärungsarbeit gemachten Erfahrungen, Dezember 1920, S. 173. GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 380, Berichte über die allgemeine Lage in Oberschlesien 1919–1923, Der Vertreter des Staatskommissars für öffentliche Ordnung in Oberschlesien, Monatsbericht über die Abstimmungsgebiete, 04.01.1921, S. 353. AP Kat [Staatsarchiv Kattowitz], Polski Komisariat Plebiscytowy dla Górnego Śląska [Polnisches Plebiszitkommissariat für Oberschlesien], Sign. 200, Raport informacyjnopolityczny Nr. 57 [Informationell-politischer Bericht Nr. 57], Beuthen, 10.03.1921, S. 65.
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Vorabend der Abstimmung stellte die deutsche Seite jedoch eine deutliche Verbesserung der Stimmung unter den Deutschen fest: Die Verstärkung der alliierten Truppen durch die Briten führte zu einem gesteigerten Sicherheitsgefühl, und der Zustrom von Emigranten aus dem tiefen Inneren Deutschlands, von denen die meisten eine durchweg deutschfreundliche Haltung vertraten, hatte ebenfalls den beabsichtigten Effekt, und mobilisierte die deutschgesinnten Kreise zusätzlich.11 In der Öffentlichkeit äußerten die Deutschen ihre Zweifel natürlich nicht. Reichskanzler Constantin Fehrenbach von der Zentrumspartei erklärte in einer öffentlichen Rede am 16. März, der kommende Sonntag würde die Vereinigung Oberschlesiens mit dem Deutschen Reich endgültig besiegeln. Er versäumte dabei nicht zu betonen, dass alle Zusagen des Staates in Bezug auf eine mögliche Ausweitung der oberschlesischen Autonomie in vollem Umfang eingehalten werden würden.12 Die deutsche Presse veröffentlichte Prognosen, die von einer „bestimmten offiziellen Einrichtung“ auf der Grundlage von Wählerlisten erstellt worden waren und für die 16 Bezirke (ohne Tarnowitz und Königshütte, da hierfür keine Daten vorlagen) eine Wahlbeteiligung von 63,35 Prozent für Deutschland vorhersagten.13 „Wir sind siegessicher“, erklärten die Vereinigten Verbände Heimattreuer Oberschlesier mittels Proklamation.14 Die Zentrums-Presse prophezeite die baldige Entstehung eines „Bundesstaates Oberschlesien“ innerhalb Deutschlands und bezog sich dabei auf dessen autonomistische Forderungen, die im Gesetz vom 20. November 1920 über die zukünftige Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Oberschlesiens (als deutsches „Land“) zum Ausdruck kamen.15
Inoffizielle Stimmen zu den Ergebnissen
Als am 21. März 1921 die noch unvollständigen Ergebnisse der Abstimmung vorlagen, lösten sie auf polnischer Seite, wie der damalige polnische Militärminister, General Kazimierz Sosnkowski, schrieb, „echte Bestürzung“ aus. In der Denkschrift des Kommandos zur Verteidigung der Volksabstimmung vom 11 12 13 14 15
Ebenda, Bericht des Schlesischen Ausschusses über die Abstimmungsgebiete für die erste Hälfte des Monats März 1921, Breslau, 16.03.1921, S. 397–398. Eine oberschlesische Abordnung beim Reichskanzler, Der oberschlesische Wanderer, Nr. 62 vom 17.03.1921. Das voraussichtliche Ergebnis, Der oberschlesische Wanderer, Nr. 63 vom 18.03.1921. Auf zur Wahl!, Der oberschlesische Wanderer, Nr. 64 von 19.–20.03.1921. Oberschlesische Volksstimme, Nr. 129 vom 19.03.1921 (Aufruf: „Glück auf! Dem Bundesstaat Oberschlesien“).
Reaktionen auf die Ergebnisse der Volksabstimmung
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25. März 1921 wurde festgehalten, dass „das Ergebnis der Abstimmung (…) eine unangenehme Überraschung für die polnische Seite war, die nicht nur mit einem prozentualen Vorsprung in den Ortschaften mit polnischer Mehrheit gerechnet hatte, sondern in der festen Überzeugung ihres absoluten und unbestreitbaren Sieges zur Wahlurne gegangen war.“16 Auch Korfanty betrachtete das Ergebnis als Rückschlag, da er zuvor „siegessicher“ gewesen war, aber nun „wusste er bereits, dass sich seine Vorhersagen nicht bewahrheiten würden, dass seine Hoffnungen, das gesamte Abstimmungsgebiet für Polen zu gewinnen, sich als vergeblich erwiesen hatten“ (Marian Orzechowski).17 In einem Telefongespräch mit dem polnischen Ministerpräsidenten Wincenty Witos betonte der polnische Volksabstimmungskommissar, dass sich die oberschlesische Gemeinschaft nicht mit dem Ergebnis abfinden und zu einem Aufstand aufrufen würde, den er, wenn auch mit einigem Zögern, unterstützen wollte.18 Gleichzeitig erholte sich Korfanty schnell von dem Schock und begann unmittelbar mit der Vorbereitung eines Konzepts zur Teilung der Region; er musste sofort handeln, da die schlechten Ergebnisse auch seiner Position bei den Offizieren des Kommandos zur Verteidigung der Abstimmung geschadet hatten.19 Auch die deutsche Seite wartete gespannt auf die Ergebnisse, die schließlich eine große Überraschung mit sich brachten. Und wenngleich die Freude über den deutlichen Sieg überwog, zeigte sich die deutsche Öffentlichkeit dennoch auch bestürzt über die große Anzahl an Stimmen, die auf Polen entfielen. Guido Hitze beschrieb die Reaktionen treffend als einen Dreiklang aus Freude, Erleichterung und Enttäuschung – Freude über den Sieg, Erleichterung, dass sich die schlimmsten Befürchtungen über den Stimmenfluss der „unsicheren“ Oberschlesier nicht bewahrheitet hatten, und Enttäuschung darüber, dass die Polen in Kreisen wie Tarnowitz, Pless und Rybnik entscheidend gewonnen hatten. Ein Aktivist der Zentrumspartei aus dem Plesser Kreis, Max Pawelke, der von Hitze zitiert wird, schrieb in seinem Tagebuch, das Ergebnis hätte für große Enttäuschung gesorgt.20 Er sprach aus „Plesser“ Sicht, d.h. aus dem Blickwinkel des Kreises, in dem die Deutschen verloren hatten, aber wahrscheinlich ging seine Einschätzung auch darüber hinaus. Denn selbst die deutschen Behörden 16 17 18 19 20
Ryżewski: Trzecie powstanie, S. 90. Orzechowski, Marian: Wojciech Korfanty. Biografia polityczna, Wrocław et al. 1975, S. 218, 220. Krzyk, Józef/Szmatloch, Barbara: Korfanty. Silna bestia, Katowice 2020, S. 151–152. Karski, Sigmund/Neubach, Helmut: Albert (Wojciech) Korfanty. Eine Biographie, Dülmen 1996, S. 317–322. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 364.
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und die dortige Öffentlichkeit waren über das Ergebnis verblüfft. Es war ein Pyrrhussieg, und das Bewusstsein dafür von Anfang an vorhanden. Schlechter als erwartet bewertete der Deutsche Bevollmächtigte für das Oberschlesische Abstimmungsgebiet bei der Interalliierten Kommission in Oppeln, Hermann Fürst von Hatzfeld zu Trachenberg, die Ergebnisse in einem Schreiben an den Reichsaußenminister.21 Obwohl in der Öffentlichkeit der Ruf nach einer Rückgabe der gesamten Region an das Deutsche Reich laut wurde, erkannten die Behörden schnell, dass die Region vor einer Teilung stand. Zu diesem Zweck teilte Fürst von Hatzfeld am 21. April 1921 mit, dass die polnische Seite sich nicht mit einer Beschneidung des Volksabstimmungsgebiets in Form der Kreise Pless und Rybnik für Polen zufriedengeben würde, sondern bereit war, eine Teilung des „alten Industriebezirks zwischen Kattowitz und Gleiwitz“ zu akzeptieren, wobei die erstgenannte Stadt der Republik Polen zugesprochen werden sollte.22 Dies wäre für Deutschland natürlich eine schwer zu akzeptierende Aussicht.
Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Ergebnisse
Den anderen Pol der Reaktionen auf die Ergebnisse der Volksabstimmung bildeten offizielle Erklärungen der wichtigsten Vertreter des jeweiligen Lagers und Pressekommentare, d.h. öffentliche Stellungnahmen. Die Aussagen von Vertretern der zentralen polnischen Behörden, z.B. von Ministerpräsident Witos oder Sejm-Marschall Wojciech Trąmpczyński, die den polnischen Oberschlesiern zu ihrem Erfolg gratulierten, waren rhetorisch hochtrabend, aber inhaltlich eher zurückhaltend. Sie wiesen darauf hin, dass das weitere Schicksal der Region von den Alliierten abhing. Wie Wacław Ryżewski feststellte, war die polnische Gesellschaft trotz der offiziellen Feierlichkeiten zum Sieg des Plebiszits in der Republik enttäuscht über das Ergebnis der Abstimmung.23 Es war eine Sache, Gefühle und Eindrücke zu erleben, eine andere, eine öffentliche Darstellung zu übernehmen. Auf polnischer Seite wurden vor allem die Erklärungen von Korfanty, dem Hauptverantwortlichen für die polnische Plebiszitkampagne, mit Spannung erwartet. In einer Proklamation vom 21. März schrieb er Folgendes und gab damit zugleich die Richtung der Auslegung vor: 21 22 23
Fic, Maciej: Plebiscyt górnośląski 20 marca 1921 roku. Najbardziej demokratyczna forma wyboru?, Warszawa 2022, S. 221. GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 380, Berichte über die allgemeine Lage in Oberschlesien 1919–1923, Deutscher Bevollmächtigter für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien an das Auswärtige Amt, 21.04.1921, S. 401. Ryżewski: Trzecie Powstanie, S. 90–91.
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„Das polnische Volk in Oberschlesien hat einen allgemeinen Sieg errungen. Trotz des deutschen Terrors, trotz des Mißbrauchs des Verwaltungsapparates (…), trotz der Flut deutscher Auswanderer (…), trotz der Fälschungen und Lügen der Deutschen, (…) trotz Hunderter von Millionen deutscher Mark, die für den Stimmenkauf ausgegeben wurden“, haben die Bewohner der östlichen Kreise, einschließlich Teilen des Industriebezirks, mit überwältigender Mehrheit für die „Wiedervereinigung mit dem [polnischen] Vaterland“ gestimmt. Korfanty betonte jedoch, dass „der Kampf noch nicht vorbei“ sei. Nach der Abstimmung folgte die diplomatische Phase: Der Botschafterrat sollte über die Grenzen entscheiden. Die Polen mussten jedoch „ihre Reihen schließen“ und sich dafür einsetzen, dass die polnische Grenze so weit wie möglich nach Westen verschoben wurde.24 Noch wichtiger war die zweite Proklamation des Volksabstimmungskommissars vom 22. März. Korfanty präzisierte: „Es ist uns nicht gelungen, das gesamte Gebiet zu erobern, aber den wertvollsten Teil davon.“ Er legte die Grenze der Teilung der Region fest, die später als Korfanty-Linie bezeichnet wurde – von Oderberg mit dem Flusslauf der Oder durch Collonowska bis zur Grenze mit der Republik Polen bei Kostellitz im Kreis Rosenberg OS. Dies bedeutete, dass er zwei Drittel des Abstimmungsgebietes für sich beanspruchte, mit dem Argument, dass in diesem Gebiet 80 Prozent der Gemeinden für Polen gestimmt hätten. Diese neue Grenze sollte „bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigt werden. Die gesamte polnische Nation, von der Ostsee bis zur Tatra und von der Warthe bis zum Bug, werde sich ihrer Verteidigung widmen, schrieb Korfanty. „Die polnische Regierung wird alles tun, damit es dem ewigen Feind unseres Volkes nicht gelingt, uns mit Hilfe satanischer Einflüsterungen um unseren Sieg zu bringen und uns erneut das Joch jahrhundertelanger Sklaverei und brutaler Ausbeutung aufzuerlegen.“25 Zwei Aspekte dieser Proklamation waren von besonderer Bedeutung. Zunächst forderte die polnische Seite nicht mehr das gesamte Abstimmungsgebiet, sondern nur noch einen Teil davon, einschließlich des Industriegebietes. Damit forderte Korfanty die Teilung der Region. Zweitens enthielt die Proklamation eine Drohung – und zwar die Andeutung eines weiteren Aufstandes, falls die polnischen Erwartungen nicht erfüllt würden. Korfanty rief aber auch zum Verzicht auf sämtliche Gewaltakte oder Rache, zur Großzügigkeit gegenüber den Deutschen und zum geduldigen Abwarten der Entscheidung des Obersten Rates auf.
24 25
Rodacy!, Katolik, Nr. 36 vom 24.03.1921. Rodacy!, Goniec Śląski, Nr. 68 vom 24.03.1921.
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Die öffentliche Meinungsbildung in Polen schlug einen ähnlichen Ton an. Zugleich betonte die Presse: „Der Sieg ist mit uns“. Es wurde darauf hingewiesen, dass „die Menschen, die sich seit jeher auf diesem Land niedergelassen hatten, auf die Stimme des Blutes hörten, die sie vorbehaltlos mit dem polnischen Mutterland verband“.26 Jan Wypler, ein polnischer Aktivist deutscher Herkunft, schrieb in seinem Gedicht „Der Tag der Freiheit“: „Wie sich Natur im Blühgewande hebt, / So stehst du Heimat, heut / verjüngt herauf, / Beginnst vom Joche frei den Siegeslauf!“.27 Der „Goniec Śląski“ stellte fest: „Unser Sieg ist sicher, niemand wird ihn uns nehmen können. Wir sind uns des Zeitpunkts unserer endgültigen Wiedervereinigung mit Polen sicher und erwarten ihn mit Ungeduld“.28 Die deutschsprachige, aber unter der Schirmherrschaft des polnischen Plebiszitkommissariats herausgegebene „Oberschlesische Grenz-Zeitung“ berichtete: „Der 20. März ist für das oberschlesische Volk in der Tat zum Tage seines Sieges geworden. Oberschlesien hat sein Wesen enthüllt. […] Nichts geholfen hat die rastlose, angestrengte Propaganda und Wühlarbeit des preußischen Molochs, der all seine Kräfte, alle List, alle Fähigkeiten gegen uns mobil gemacht hat“.29 In anderen polnischen Zeitungen, die in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, hieß es: „Wir haben gesiegt“30 oder „überwältigende Mehrheit rechts der Oder für Polen“.31 Es wurde betont, dass die östlichen und südlichen Bezirke, in denen die polnische Option vorherrschte, „nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und national eine untrennbare Einheit mit Polen“ bildeten.32 Laut der Zeitung der Nationalen Demokratie „Gazeta Warszawska“ hatte die Volksabstimmung über den polnischen Charakter Oberschlesiens entschieden, da die Mehrheit der Gemeinden im Industriegebiet für Polen gestimmt hatte. Die Region sollte also zu Polen gehören – wenn auch nicht in Gänze, sondern nur der Teil, in dem es eine „mehrheitlich polnische Bevölkerung“ gab, einschließlich Industriegebiet. Dennoch wurde hier auch festgestellt, was die polnische Presse im Gebiet der Volksabstimmung nicht zur Kenntnis genommen hatte: „Wir haben keinen Sieg auf ganzer Linie errungen, und niemand, der die Lage in Oberschlesien kennt, hat das erwartet.“33
26 27 28 29 30 31 32 33
Katolik, Nr. 36 vom 24.03.1921. Wypler, Jan: Der Tag der Freiheit, Oberschlesische Grenz-Zeitung, Nr. 68 vom 22.03.1921. Polski lud Górnego Śląska zwyciężył!, Goniec Śląski, Nr. 67 vom 23.03.1921. Oberschlesische Grenz-Zeitung, Nr. 68 vom 22.03.1921. Ebenda. Oberschlesische Post, Nr. 66 vom 21.03.1921. Polski lud zwyciężył, Kuryer Śląski, Nr. 68 vom 24.03.1921. Czyj Górny Śląsk?, Gazeta Warszawska, Nr. 80 vom 22.03.1921.
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Die polnische Seite stützte ihre Erfolgsthese auf den Paragraphen 4 des Anhangs zu Artikel 88 des Versailler Vertrages mit der Begründung, dass sich daraus eindeutig ergab, dass die Ergebnisse je Gemeinde ausgezählt werden sollten. Sie argumentierten gegen die deutsche Seite, die daraufhin hingewiesen hatte, dass die Deutschen in absoluten Zahlen gewonnen hatten. Die polnischen Zeitungen betrachteten die deutsche Position als Ergebnis der Tatsache, dass sie „den Versailler Vertrag nicht zu Ende gelesen hatten“.34 Dies wurde in der Folgezeit Gegenstand einer heftigen deutsch-polnischen Polemik, wobei sich die Deutschen zu Recht darauf beriefen, dass auch bei einer separaten Auszählung der Stimmen für die einzelnen Gemeinden der Sieg auf ihrer Seite lag.35 Die Polen riefen nichtsdestotrotz den Sieg aus und forderten die Teilung der Region. Aber auch die Deutschen verkündeten einen Erfolg und vertraten die gegenteilige Auffassung von der Unteilbarkeit des Abstimmungsgebietes. Die „Kattowitzer Zeitung“ beklagte, dass die Freude auf deutscher Seite nicht so groß war, wie sie hätte sein sollen.36 Und doch, so wurde ebenfalls betont, gab es eine Viertelmillion mehr Stimmen für Deutschland als für Polen!37 Der deutsche Reichspräsident Friedrich Ebert richtete ein Glückwunschschreiben an den Reichsbevollmächtigten Fürst Hatzfeld, dessen Inhalt ansonsten eher gemäßigt war. Darin begrüßte er die Ergebnisse, bedauerte jedoch zugleich, dass das Ergebnis in einigen Kreisen aufgrund der unrechtmäßigen polnischen Einflussnahme auf die Abstimmung verfälscht worden war. Zugleich machte er keinen Hehl aus seiner Genugtuung darüber, dass die Deutschen eine Mehrheit gewonnen hatten. So erkannte das Oberhaupt der deutschen Republik den deutschen Sieg in der Volksabstimmung offiziell an.38 Am 21. März gaben Ebert und Reichskanzler Fehrenbach eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie betonten, dass „die deutsche Sache in Oberschlesien einen entscheidenden Sieg errungen“, und die einheimische Bevölkerung „ungeachtet aller gegnerischen Versuche, sie dem deutschen Gedanken zu entfremden, in ihrer überwiegenden Mehrheit treu zu dem Vaterlande gehalten [hat]“.39 Aber wie hat der Leiter des Plebiszitkommissariats für Deutschland, Kurt Urbanek, auf die Ergebnisse reagiert? In einer Proklamation vom 22. März,
34 35 36 37 38 39
Co przepisuje traktat wersalski w sprawie plebiscytu, Katolik, Nr. 37 vom 26.03.1921. GStAPK, I. HA, Rep. 171, Deutscher Bevollmächtigter für das Abstimmungsgebiet Oberschlesiens, Nr. 15, Hermann Hatzfeldt an das Auswärtige Amt, 29.03.1921, S. 245. Nach dem Siege, Kattowitzer Zeitung, Nr. 69 vom 23.03.1921. Die deutsche Mehrheit, Kattowitzer Zeitung, Nr. 68 vom 22.03.1921. Der Dank des Reichspräsidenten, Berliner Tageblatt, Nr. 134 vom 21.03.1921. Der Aufruf der Reichsregierung, Kattowitzer Zeitung, Nr. 69 vom 23.03.1921.
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die von den meisten deutschen Zeitungen der Region abgedruckt wurde,40 stellte er fest, „die Heimat ist gesichert“. Keine Kraft kann Oberschlesien aus seiner jahrhundertelangen Verbindung mit Deutschland herauslösen. Wir haben gewonnen, schrieb er, aber wir haben Schaden genommen – hier verwies er auf die Ergebnisse in den Kreisen Tarnowitz, Rybnik und Pless. Er betonte, dass Oberschlesien unteilbar sei, weil die Mehrheit für Deutschland gestimmt habe und dieses Gesamtergebnis zähle. „Vor den Augen der Welt bekennen wir uns zu den Grundsätzen der Unantastbarkeit unserer Grenzen und der wahren Demokratie.“41 Die Betonung der demokratischen Verfahren war nicht zufällig: Urbanek war der Meinung, dass die Demokratie in Form eines Plebiszits funktioniert hatte und dass dessen Entscheidung akzeptiert werden musste. Von der Interpretation des Abstimmungsergebnisses ging er schnell zu einer Beschreibung über, wie das künftige deutsche Oberschlesien aussehen sollte: die Basis sollte eine vollumfängliche Gleichberechtigung aller Bürger in Bezug auf Nationalität, Sprache und Religion sowie der Schutz von Minderheiten bilden. Er rief Deutsche und Polen zum gemeinsamen Aufbau der „Republik Oberschlesien als freien Bundesstaat[es]“ im Rahmen des Deutschen Reiches auf. Der Bürgerkrieg sei beendet, schlussfolgerte er, und eine Zeit der freundschaftlichen und fruchtbaren Zusammenarbeit angebrochen. Urbanek stellte das Ergebnis des Plebiszits als unbestreitbar dar – seiner Meinung nach sei die Zugehörigkeit der Region eindeutig. Von einer Spaltung war keine Rede.42
Einheit oder Teilung?
In den darauffolgenden Tagen entbrannte eine Debatte über die Teilbarkeit der Region. Die „Kattowitzer Zeitung“ schrieb, dass der Oberste Rat nur eine Entscheidung treffen konnte – die Rückgabe Oberschlesiens an Deutschland – und dass der Versuch, die Region zu teilen, eine unerhörte Ungerechtigkeit wäre.43 In einer gemeinsamen Proklamation verkündeten fünf deutsche Parteien die Rückgabe des ungeteilten Gebietes an Deutschland: Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei, Zentrum, Deutsche Demokratische Partei und Sozialdemokratische Partei.44 Die allgemeine deutsche Presse, z.B. die Berliner 40 41 42 43 44
Oberschlesier!, Der Oberschlesier 1921, Nr. 13, S. 255. Ebenda. Ebenda. Folgen der polnischen Niederlage, Kattowitzer Zeitung, Nr. 70 vom 24.03.1921; Einheit und Einigkeit, ebenda. Die Proklamation wurde u.a. in der Kattowitzer Zeitung, Nr. 71 vom 25.03.1921 abgedruckt.
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„Vossische Zeitung“, behandelte das Thema jedoch etwas anders – die Teilung wurde als im Einklang mit dem Versailler Vertrag stehend angesehen. Julius Elbau, ein Kolumnist dieser Zeitung, wies jedoch darauf hin, dass ein Blick auf die Ergebniskarte deutlich mache, dass es unmöglich sei, die Gemeinden mit polnischer Mehrheit aus dem übrigen Abstimmungsgebiet herauszulösen. Eine Teilung wäre daher im Grunde unmöglich, und würde zudem die organische Einheit des gesamten Gebiets zerstören.45 In ähnlicher Weise argumentierte der Chefredakteur Georg Wenzel in der Oppelner Kulturzeitschrift „Der Oberschlesier“: Die beiden Nationen sind im gesamten Gebiet vereint, bilden eine Einheit und können nicht geografisch geteilt und getrennt werden. Er schrieb: „Beinahe in jeder Ortschaft wohnen Deutsche und Polen zusammen. In vielen Orten halten sich die beiden Nationalitäten das Gleichgewicht. […] Das platte Land ist polnisch, die Städte und die Industrieorte sind deutsch. Oder die Oberschicht ist deutsch, die unteren Schichten sind polnisch. […] Überträgt man sich die Wahlergebnisse auf eine Landkarte, so staunt man darüber, wie unvermittelt Deutsches und Polnisches nebeneinanderliegt“.46 Wenzel betonte skeptisch: „die Abstimmung hat keine Entscheidung gebracht. Sie hat rein strategisch das nationale Stärkeverhältnis in Oberschlesien festgestellt“. Er betrachtete das Plebiszit daher eher als eine Art Meinungsumfrage und nicht als einen Mechanismus zur Entscheidung über die Staatlichkeit der Region, und sprach sich dafür aus, Oberschlesien mit dem Deutschen Reich verbunden zu lassen (der Übergang der Region in eine andere Staatlichkeit brächte „[…] neue Erschwerungen des Ausgleichs“), wenn auch in Form eines eigenständigen Bundesstaates, wie auch Urbanek gezeigt hat.47 Eines der Hauptargumente für den Erhalt der Einheit der Region war wirtschaftlicher Natur: Es wurde immer wieder betont, dass Oberschlesien ein Ganzes sei, das nicht ohne wirtschaftlichen Schaden auseinandergerissen werden könne.48 In einem Bericht an Berlin schrieb Fürst Hatzfeld, dass die Region vollständig bei Deutschland verbleiben müsse, da das Auftauchen polnischer Truppen in Oberschlesien den Ausbruch eines Konflikts bedeuten würde, der die Ursache dafür wäre, dass „ganz Mitteleuropa wieder in Kriegsflammen“49 stünde. Die Vorstellung von der Unteilbarkeit der Region und ihrer Belassung 45 46 47 48 49
Elbau, Julius: Die deutsche Mehrheit, Vossische Zeitung, Nr. 134 vom 21.03.1921. Wenzel, Georg: Oberschlesiens Schicksal, Der Oberschlesier 1921, Nr. 13, S. 242. Ebenda. Die Abstimmung und die wirtschaftliche Einheit Oberschlesiens, Der Schwarze Adler, Nr. 35 vom 02.04.1921. GStAPK, I. HA, Rep. 171, Deutscher Bevollmächtigter für den Abstimmungsgebiet Oberschlesiens, Nr. 15, Hermann Hatzfeldt an Auswärtiges Amt, 29.03.1921, K. 245.
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bei Deutschland war im deutschen Lager weit verbreitet, und fast ausschließlich wurde diese Position in der Öffentlichkeit artikuliert, wenngleich insgeheim, wie erwähnt, auch eine mögliche Teilung realisiert wurde. Die Worte Korfantys in seiner Proklamation wurden ernst genommen: Mit Blick auf Oberschlesien forderte man daher eine einheitliche deutsche Verteidigungsfront. Man fürchtete nun nicht mehr den Verlust der gesamten Region, sondern deren Aufteilung und eine Abtrennung von einzelnen Regionen.
Auf der Suche nach Ursachen
Von dem Moment an, als die Ergebnisse verkündet wurden, fragte die Öffentlichkeit auf beiden Seiten nach den Gründen für die unbefriedigenden Ergebnisse – denn während beide Seiten den Sieg verkündeten, konnten sie gleichzeitig ihre Unzufriedenheit mit dem Endergebnis nicht verbergen. Um es zu verallgemeinern: Die Deutschen gaben ihren Misserfolgen die Schuld, d.h. der Niederlage in zahlreichen Kommunen, sowie dem „polnischen Terror“ – „ungeheuerlicher Terror, der im Gebiet östlich der Oder ohne wirksame Gegenmaßnahmen der interalliierten Kommission geherrscht hatte“.50 Diese Argumentation der polnischen Gewalt, die bereits in Eberts Brief an Hatzfeld auftaucht, sollte zu einem der Leitmotive der von deutscher Seite vertretenen Position werden. Auf diese Weise wurde versucht, den schlechten Eindruck, der durch die große Anzahl polnischer Stimmen entstand, zu relativieren. Die Kattowitzer Zeitung betonte, ohne „Gewalt und Einschüchterung“ hätten die Deutschen mit mindestens 20 Prozent mehr Stimmen rechnen können.51 Insbesondere wurde auf diese Weise versucht, die polnische Mehrheit in Kreisen wie Tarnowitz zu erklären, für die der Verband Heimattreuer Oberschlesier reichlich dokumentarisches Material mit angeblichen polnischen Übergriffen gesammelt hatte.52 In anderen Zeitungen wurde auf „mehrere Zwischenfälle“, „recht beklagenswerte Vorkommnisse“, „polnischen Terror“ und „schwere Bluttaten“ in ländlichen Gemeinden mit wenig Engagement der Alliierten für die Erhaltung des Friedens hingewiesen.53 Die Kritik an der Interalliierten Kommission führte dazu, dass der Vertrieb einiger Zeitungen eingestellt wurden, 50 51 52 53
Die deutsche Mehrheit, Kattowitzer Zeitung, Nr. 68 vom 22.03.1921. Das Fazit, Kattowitzer Zeitung, Nr. 69 vom 23.03.1921. Die Ursache des polnischen Erfolges im Kreise Tarnowitz, Oppelner Nachrichten, Nr. 70 vom 25.03.1921. Deutsche Mehrheit!, Der Oberschlesische Wanderer, Nr. 65 vom 21.03.1921.
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z.B. erschien die Gleiwitzer Tageszeitung „Der Oberschlesische Wanderer“ zwei Wochen lang nicht.54 Die deutschen Behörden sahen sich auch veranlasst, die Missstände und Unregelmäßigkeiten am Wahltag sowie die Einschüchterungsversuche gegen Deutsche am Tag der Abstimmung sowie in früheren Tagen – im Grunde genommen bereits seit dem Zweiten Schlesischen Aufstand, d.h. seit August 1920 – international zur Sprache zu bringen. Am 1. April 1921 übergab die Reichsregierung den Alliierten ein Memorandum über die „Wahlbeeinflussung“, in dem fast 800 antideutsche Gewalthandlungen in der Zeit vor der Volksabstimmung aufgelistet wurden. Die umfangreiche, mehr als 470 Seiten umfassende Publikation befasst sich mit den Ereignissen, die unmittelbar vor der Abstimmung und am Tag der Abstimmung selbst stattgefunden haben – Ereignisse, die das Ergebnis der Abstimmung beeinflusst haben könnten.55 Kurz nach dem Plebiszit warfen einige deutsche Zeitungen die gleiche Frage auf und konstatierten: „war das [eine] freie Abstimmung?“56 Es gab aber auch selbstkritische Stimmen. In dem Beuthener Organ der Zentrumspartei „Oberschlesische Zeitung“ wurde darauf hingewiesen, dass das schlechte deutsche Ergebnis im Kreis Tarnowitz auf die falsche Strategie der dortigen Deutschen zurückzuführen sei, die eine starre, hakatistische Haltung eingenommen hatten und nicht in der Lage gewesen waren, auf die polnischsprachigen Oberschlesier zuzugehen.57 Es fehlte auch nicht an aufrichtigen Stimmen. Die liberale Gleiwitzer Tageszeitung „Der Oberschlesische Wanderer“ betonte, dass mit den „weitaus ungünstigeren“ Ergebnissen in den Dörfern zu rechnen gewesen war. Nur die größten Optimisten hätten sich der Illusion hingegeben, dass die Landbevölkerung für die Deutschen stimmen
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Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien in der Zeit des Nichterscheinens des „Wanderers“, Der Oberschlesische Wanderer, Nr. 66–74, 03.04.1921. Schon am 21.03.1921 wurde die Montagsausgabe vom Wanderer auf Anordnung der alliierten Behörden beschlagnahmt, und ein Großteil der Auflage nicht mehr verteilt. In der Folge wurde das Erscheinen der Tageszeitung auf Beschluss der Interalliierten Kommission bis zum 03.04.1921 eingestellt. AP Kat, PKPleb. 278b, Note über Volksabstimmung in Oberschlesien nebst Anlagen 1, 3, 4 und 5, Berlin [1921]; ebenda, 278c, Anlage 2 zur Note über die Volksabstimmung in Oberschlesien (Wahlbeeinflussungen), Berlin [1921]. Beide Bände wurden in der Reichsdruckerei in Berlin gedruckt. Der polnische Terror, Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 135 vom 22.03.1921. Rosenbaum, Sebastian: „Prawda i prawo są po naszej stronie“. Plebiscyt górnośląski z 20 marca 1921 r. w Tarnowskich Górach i powiecie tarnogórskim w świetle gazet „Tarnowitzer Kreis- und Stadtblatt“ i „Tarnowitzer Zeitung“, in: Rocznik Muzeum w Tarnowskich Górach 2019, Bd. VI, S. 155–156.
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würde. Es sollte daher nicht überraschen, dass die Geografie der Stimmen so unterschiedlich ausgefallen war.58 Die polnische Erzählung wies spiegelbildlich auf den „deutschen Terror“ hin. Korfantys „Goniec Śląski“ schrieb am 22. März: „Trotz des deutschen Terrors und der Stoßtruppler von Urbanek und Ulitzka hat sich das schlesische Volk standhaft verteidigt und für Polen gestimmt“.59 In der zitierten Proklamation von Korfanty von diesem Tag wurden auch andere negative Elemente aufgezählt. Im Mittelpunkt des polnischen Narrativs stand jedoch die These vom schädlichen Einfluss der Emigranten, auch als „Fremde“ bezeichnet. Sie seien diejenigen gewesen, die der polnischen Sache am meisten geschadet hätten. Der Geograph Eugeniusz Romer, der übrigens für die Einführung des Wahlrechts für „Auswanderer“ verantwortlich gewesen ist, sich aber im Laufe der Zeit kritisch zu seinen früheren Vorschlägen geäußert hat, war der Meinung, dass „die Polen durch die Ankunft der Emigranten mindestens so viele Stimmen verloren hatten, wie Emigranten hinzugekommen waren, das heißt, dass jeder Emigrant mindestens einen Oberschlesier im deutschen Sinne beeinflusst hat.“60
Von Demonstrationen zu politischer Gewalt
Die Kontroverse über die Interpretation der Ergebnisse griff auch auf die Öffentlichkeit über. Gefeiert wurde vor allem der Sieg – auf beiden Seiten, versteht sich. In Städten wie Posen und Warschau kam es zu großen öffentlichen Demonstrationen. In der Hauptstadt zelebrierte Erzbischof Aleksander Kakowski einen Gottesdienst am Feldaltar auf der Allee des Dritten Mais; es wurden Hymnen wie „Rota“, „Te Deum“ und „Boże coś Polskę“ gesungen und für die Gefallenen der nationalen Sache gebetet. Anwesend waren Abgeordnete, Senatoren und Regierungsvertreter.61 Ähnlich verlief die Demonstration in Posen am 21. März, an der verschiedene uniformierte Verbände („Sokols“, Polizei, Armee), Stadt- und Provinzbehörden, katholische Geistliche sowie „zahllose Menschenmassen“ teilnahmen.62 Ähnliche Ereignisse gab es auch in kleineren Städten – in Obornik in der Wojewodschaft Posen zum Beispiel „war die Stadt die ganze Nacht hindurch beleuchtet, und die gesamte Bevölkerung 58 59 60 61 62
Der Oberschlesische Wanderer, Nr. 65 vom 21.03.1921. Goniec Śląski, Nr. 66 vom 22.03.1921. Zit. nach: Fic: Plebiscyt górnośląski, S. 219. Manifestacja stolicy, Rzeczpospolita, Nr. 78 vom 21.03.1921. Poznań na cześć Górnego Śląska, Rzeczpospolita, Nr. 80 vom 22.03.1921; Uroczystości z okazyj plebiscytu na Górnym Śląsku, Kuryer Śląski, Nr. 68 vom 24.03.1921.
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säumte die Straßen und wartete gespannt auf weitere Informationen über die Abstimmung.“63 Ähnliches geschah in Deutschland. Große Demonstrationen (an denen schätzungsweise bis zu 75.000 Menschen teilnahmen) fanden zum Beispiel in Breslau bereits am Tag der Abstimmung statt.64 Die Züge mit zurückkehrenden Emigranten, die am 21. März 1921 in Berlin eintrafen, wurden am Schlesischen Bahnhof von Reichskanzler Fehrenbach zusammen mit Tausenden von Bürgern feierlich empfangen. In seiner Begrüßungsrede betonte er, dass Oberschlesien das getan hatte, was sich alle erhofft hatten, und dass nun die Zeit für einen neuen Neuanfang gekommen war. Er schloss mit dem Ruf der Bergleute „Glück auf!“ und dem Aufruf im neuen deutschen Oberschlesien mit anzupacken. In den folgenden Tagen wurden die zurückkehrenden Emigranten von anderen Regierungsvertretern, darunter Außenminister Walter Simons, begrüßt. In Berlin waren alle Regierungsgebäude beflaggt, und auch an vielen Privathäusern wehten Nationalflaggen. Kleinere und größere Demonstrationen feierten den Sieg in beiden Ländern, auch in Oberschlesien, in dessen Städten die Deutschen den Erfolg feierten. Die ganze Sache verlief im Allgemeinen harmonisch und friedlich.65 Doch schon bald kam es in Oberschlesien zu politischen Auseinandersetzungen. Beginnend am „Tag danach“ – also dem 21. März 1921 – wurde die Region von einer Welle von Zwischenfällen heimgesucht, die mehr als eine Woche andauerten und bei denen es auch zu Todesfällen kam. Die polnische Presse berichtete über Angriffe auf polnische Aktivisten, die in Städten wie Beuthen, Kreuzburg OS und Kattowitz, d.h. in Städten mit deutscher Mehrheit, stattfanden. Aus dem Kreis Rybnik wurde von Stoßtruppler-Banden berichtet, die angeblich Dörfer mit polnischer Bevölkerungsmehrheit terrorisierten. Parolen über einen „deutschen Putsch“ wurden in den Straßen laut.66 Der Nachrichtendienst des polnischen Plebiszitkommissariats behauptete am 22. März, dass es vonseiten der Deutschen fortlaufend Provokationen gegenüber 63 64 65
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Nastrój w Poznańskiem, Rzeczpospolita, Nr. 78 vom 21.03.1921. (3. außerordentliche Beilage). Oberschlesiertag in Breslau, Kattowitzer Zeitung, Nr. 68 vom 22.03.1921. Die ersten Zurückkehrenden, Berliner Tageblatt, Nr. 134 vom 21.03.1921; Der Dank der Reichsregierung an die Oberschlesier, Berliner Tageblatt, Nr. 135 vom 22.03.1921 (Ausgabe A); Minister Dr. Simons an die Heimkehrenden, Berliner Tageblatt, Nr. 136 vom 22.03.1921 (Ausgabe B); Die Entscheidung in Oberschlesien, Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 134 vom 21.03.1921; Das Echo der Abstimmung im Reich, Kattowitzer Zeitung, Nr. 69 vom 23.03.1921. Teror niemiecki, Goniec Śląski, Nr. 70 vom 27.03.1921; Gwałty niemieckie, Goniec Śląski, Nr. 71 vom 30.03.1921.
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den Polen gab.67 Nachrichten über die Vertreibung polnischer Aktivisten durch deutsche Milizionäre wurden z.B. aus dem Kreis Neustadt OS bekannt.68 Kurz nach der Abstimmung verbreiteten sich auf der polnischen Seite Gerüchte über Pogrome gegen Polen in Kattowitz, die jedoch u.a. von der Warschauer Tageszeitung „Rzeczpospolita“ schnell als falsch zurückgewiesen wurden.69 Ein gegenteiliges, aber ebenso unwahres Gerücht – über einen Angriff regulärer polnischer Truppen („Hallerczycy“) auf das Abstimmungsgebiet – erschien in einigen deutschen Zeitungen.70 Die antideutschen Aktivitäten nahmen zu, doch die polnische Presse betrachtete Informationen darüber als „Mittel der Ablenkung“, „Nachrichten über angebliche polnische Ausschreitungen und Vergewaltigungen in sensationeller Aufmachung“,71 während deutsche Zeitungen von „schweren Ausschreitungen der Polen“, „Putschversuchen“ und „Verfolgung deutschgesinnter Menschen“ sprachen.72 Aus vielen Dörfern wurden Emigranten vertrieben, ebenso wie einheimische Deutsche, Lehrer, Beamte, Gendarmen und Aktivisten, die in nahe gelegene Städte fliehen mussten. So flohen beispielsweise bis zum 28. März fast 700 Menschen aus Dörfern im Kreis Tarnowitz in die Kreisstadt, um Repressionen durch die Polen zu entgehen.73 Im Industriegebiet, genauer in den Gemeinden Nikischschacht, Schoppinitz, Rosdzin, Klein-Dombrowka und Bogutschütz (heute Stadtteile von Kattowitz), wurden deutsche Beamte fortgejagt, was die Arbeit der örtlichen Industriebetriebe lahmlegte. Die „Kattowitzer Zeitung“ schrieb über den „haarsträubenden polnischen Terror“, der die Menschen in Scharen in die Städte flüchten ließ. Tausende von Flüchtlingen zogen vor allem nach Kattowitz. Am Abend des 24. März befanden sich Berichten zufolge bereits 20.000 Flüchtlinge in der Stadt.74 Die deutsche Presse berichtete von „Banden“ von Polen, die durch Dörfer zogen, plünderten, zerstörten und polnische Lieder sangen. „Die Polen 67 68 69 70 71 72 73 74
AP Kat,, PKPleb., Sign. 85, Raport [wydziału wywiadowczego] informacyjno-polityczny Nr. 61, 22.03.1921, S. 77/78. Ebenda, Sign. 62, Informacja o napadach na Polaków w Dobieszowie, pow. prudnicki [Informationen über Angriffe auf Polen in Dobersdorf, Kreis Neustadt OS], 22.03.1921, S. 19. Gwałty niemieckie w Katowicach, Rzeczpospolita, Nr. 79 vom 21.03.1921. Polnischer Einfall in Oberschlesien, Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 137 vom 23.03.1921. Wymysły dla odwrócenia uwagi, Rzeczpospolita, Nr. 80 vom 22.03.1921. Schwere Ausschreitungen der Polen, Berliner Tageblatt, Nr. 135 vom 22.03.1921 (Ausgabe A); Polnische Putschversuche?, Berliner Tageblatt, Nr. 137 vom 23.03.1921 (Ausgabe A); Der Terror der Polen in Oberschlesien, Berliner Tageblatt, Nr. 138 vom 22.03.1921 (Ausgabe B). Rosenbaum: Prawda i prawo, S. 159. Der haarsträubende polnische Terror, Kattowitzer Zeitung, Nr. 70 vom 24.03.1921; Die polnischen Meuchelmörder, Kattowitzer Zeitung, Nr. 71 vom 25.03.1921; Die wichtigsten
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in den kleineren Orten wissen ganz genau, wer deutsch gestimmt hat und mit ihrer ganzen Wut verfolgen sie nun diese »Uebeltäter«“, hieß es in „Der Oberschlesische Wanderer“.75 Bereits Anfang April wurde die Hilfe für betroffene Deutsche – Flüchtlinge, von Gewalt bedrohte, Verwundete – zum Leitthema der deutschen Organisationen. Sie sollte durch ein Netz von Unterkommissariaten geleistet werden, die mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden mussten. Es wurde auch mit der Registrierung von Sachschäden begonnen, um eine Entschädigung beantragen zu können. Auf einer Sitzung des Plebiszitkommissariats für Deutschland in Kattowitz am 4. April 1921 erging ein Aufruf zur Bewaffnung der Beamten der Unterkommissariate, „für den etwaigen Fall eines neuen polnischen Putsches“.76 Dies umso mehr, als am 21. März ein Anschlag auf das deutsche Volksabstimmungsbüro in Orzegow verübt wurde, bei dem 20 Personen zu Schaden kamen.77 Auch Schießereien nahmen zu. In Deutsch Piekar wurden zwei auf deutscher Seite tätige Emigranten, die Gebrüder Dudek (einer von ihnen war Mitglied des paritätischen Plebiszitbüros), überfallen und anschließend erschossen. Die polnische Presse versuchte, die Bedeutung dieses Mordes herunterzuspielen: Es hieß, die Opfer wären Stoßtruppler gewesen und hätten Waffen bei sich gehabt, teils wurden sie auch als „Banditen“ abgetan, die ohne jegliche politische Hintergedanken getötet worden waren.78 Der Tod der Dudeks ist auf die extreme Aufregung der Menge zurückzuführen: Jemand hatte gerufen, sie wären militant gewesen, woraufhin es zu besagter Schießerei gekommen war. An diesem Fall kann man sehen, wie gespannt die Nerven der Menschen in der Region waren – Ruhe und öffentliche Ordnung hingen buchstäblich am seidenen Faden. Die größte Eskalation von Gewalt fand am 21. März in Karf (heute ein Stadtteil von Beuthen OS) statt. Im Verlauf der Kämpfe verloren sechs Gendarmen ihr Leben, ebenso viele wurden verwundet. Die Angreifer waren Polen. Der Nachrichtendienst des Polnischen Plebiszitkommissariats sammelte Material, das bewies, dass deutsche Funktionäre und Kämpfer aus Karf gemeinsam mit der Polizei Provokationen geplant hatten, und als eine größere Gruppe bewaffneter Polen vor Ort aufgetaucht war, hatten die Deutschen
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Ereignisse in Oberschlesien in der Zeit des Nichterscheinens des „Wanderers“, Der Oberschlesische Wanderer, Nr. 66–74, 03.04.1921. Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien. AP Kat, PKPleb., Sign. 85, Sprawozdanie z posiedzenia Komisariatu Plebiscytowego za Niemcami [Bericht über die Sitzung des Plebiszitkommissariats für Deutschland], Kattowitz, 04.04.1921, S. 1. Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien. Vgl. z.B. Katolik, Nr. 36 vom 24.03.1921.
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mehrere Revolverschüsse abgegeben.79 Die polnische Presse versuchte auch, den Vorfall in Karf als polnische Selbstverteidigung darzustellen,80 es scheint jedoch, dass die deutschen Kreise Recht gehabt haben und dass diese dramatische Schießerei, die sich über Stunden hinzog und bei der mehrere Menschen, darunter auch Polizeibeamte, ums Leben kamen, als Gewaltakt einer bewaffneten polnischen Einheit zu werten ist.81 Angriffe bewaffneter Gruppen auf deutsche Polizisten gab es auch in Myslowitz, Schoppinitz, Nikischschacht, Gieschewald, Janow und anderen Orten.82 Am 23. März kam es zu gewaltsamen Protesten der deutschen Parteien und Gewerkschaften. In einem veröffentlichten Aufruf wurde hervorgehoben: „nachdem die Polen in der oberschlesischen Volksabstimmung unterlegen gewesen sind, üben sie, von der polnischen Grenze ausgehend, gegenüber der deutschen Bevölkerung in den Landgemeinden den ungeheuerlichsten Terror aus. (…) Die Interalliierte Kommission trifft ebenso wenig wie im August 1920 Maßnahmen gegen den Aufruhr“.83 Auch am folgenden Tag erhoben mehrere deutsche Organisationen Anschuldigungen gegen die Alliierten, wobei sie ihnen vorwarfen, die Sicherheit der Deutschen nicht ausreichend gewährleistet zu haben.84 Die Reaktion der alliierten Behörden bestand darin, den Belagerungszustand über die Kreise Kattowitz, Beuthen OS, Pless, Rybnik und Königshütte zu verhängen und auf Ersuchen von Fürst Hatzfeld die Koalitionstruppen in den Kreisen Kattowitz und Beuthen zu verstärken.85 Am 25. März legte Fürst Hatzfeld beim Präsidenten der Interalliierten Kommission, General Henri Le Rond, energischen Protest ein. Er wies darauf hin, dass die Situation in einigen Städten trotz des ausgerufenen Belagerungszustandes immer noch festgefahren sei: In Nikolai hätten polnische Aktivisten die Entfernung deutscher Beamter aus dem Magistrat erzwungen und 20 Deutsche seien schwer verprügelt worden; in Schomberg sei das Schaffgotsch-Schloss mit Granaten beworfen worden; in Hohenlinde seien zwei Emigranten aus Glatz ermordet worden.86 79 80 81 82 83 84 85 86
AP Kat, PKPleb., Sign. 85, Pismo wywiadowcy PKPleb. z Karbia, 23.03.1921, S. 80–82. Strzelanina w Karbie, Kuryer Śląski, Nr. 69 vom 25.03.1921. Die polnischen Meuchelmörder, Kattowitzer Zeitung, Nr. 71 vom 25.03.1921. Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien. Ebenda. Ebenda. Truppenverstärkung, Kattowitzer Zeitung, Nr. 71 vom 25.03.1921.; Der Belagerungszustand in Kattowitz, Königshütte, Beuthen, Pleß und Rybnik, Kattowitzer Zeitung, Nr. 72 vom 27.03.1921; Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien. Die wichtigsten Ereignisse in Oberschlesien.
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Laut Ryszard Kaczmarek ereignete sich einer der dramatischsten Vorfälle in diesem kurzlebigen deutsch-polnischen Konflikt am 22. März in Kostuchna (heute ein Stadtteil von Kattowitz), in einer Kolonie in der Nähe der „Boer“Grube. Dort kam es regelmäßig zu Pogromen an deutschgesinnten Menschen, denen auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen, zahlreiche Menschen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Kaczmarek verwendet dieses Beispiel (das wahrscheinlich eher typisch als ungewöhnlich ist), um ein wichtiges Problem bei der Bewertung der politischen Gewalt zu veranschaulichen, die unmittelbar nach der Volksabstimmung entfesselt wurde – die extreme Divergenz der polnischen und der deutschen Sichtweise.87 Was für die Deutschen ein dramatisches Pogrom war, sahen die Polen als kleinlichen Versuch an, übermütige deutsche Beamte einzuschüchtern. Diese Meinungsverschiedenheit bezog sich natürlich nicht nur auf den Vorfall in Kostuchna, sondern auf die Ereignisse in der Region im Allgemeinen: Alle deutschen Anschuldigungen wurden von polnischen Kreisen gekontert und ins Gegenteil verkehrt. Dennoch konnte die Tatsache, dass „etwas“ Beunruhigendes mit der deutschen Bevölkerung geschah, nicht einfach totgeschwiegen werden. Die polnische Presse rief dazu auf, antideutsche Reden zu unterlassen, da sie diese als Provokationen ansahen; es gab Appelle zur Ruhe. Bereits am 19. März hatte Korfanty darauf hingewiesen, dass „deutsche Provokateure Polen zu Gewalttaten provozieren wollten“, und auch nach der Abstimmung kehrte er zu diesem Argument zurück. „Der schändliche Feind hetzt die Polen auf, die deutschen Beamten loszuwerden“, schrieb Korfanty am 22. März. Er hielt dazu an, die antideutschen Aktionen einzustellen, da sie den Kampf um die neue Grenze behinderten. „Keinem Deutschen darf ein Haar gekrümmt werden“, appellierte er.88 Korfanty befürchtete chaotische Zustände, aus denen Verbrechen hervorgehen konnten, die die polnische Gesellschaft international in ein schlechtes Licht rückten. Es waren jedoch nicht nur die polnischen Appelle, die nach einigen Tagen zu einer relativen Beruhigung der Atmosphäre führten. Dieser Umstand war vielmehr auch den alliierten Behörden zu verdanken, die, wie bereits erwähnt, in einigen Bezirken umgehend den Belagerungszustand verhängt hatten. Bereits am 26. März meldete Carl Spiecker den deutschen Behörden „eine gewisse Entspannung“, eine „allmähliche Beruhigung und Stabilisierung der
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Kaczmarek: Powstania Śląskie, S. 347–350. Korfanty, Wojciech: Rodacy!, Goniec Śląski, Nr. 64 vom 19.03.1921; Rodacy!, Goniec Śląski, Nr. 68 vom 24.03.1921.
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Lage“, eben durch das Eingreifen der Koalitionstruppen.89 Die Osterfeiertage, die in diesem Jahr auf den 27. und 28. März fielen, waren bereits vergleichsweise ruhig verlaufen. Die von polnischen Kreisen initiierten Ausschreitungen, unabhängig davon, ob es sich um das Werk deutscher Provokateure oder um spontane Eigeninitiativen handelte, deuten gewissermaßen darauf hin, dass ein Teil der oberschlesischen Polen entgegen den Erklärungen der polnischen Seite das Ergebnis der Volksabstimmung sehr wohl als Misserfolg empfunden und somit auf ein Gefühl von Niederlage reagiert hat. Die Vorkommnisse können auch als Schaffung vollendeter Tatsachen interpretiert werden, entsprechend den Slogans über die bevorstehende Übernahme der Region durch Polen. Darüber hinaus sind sie als eine Vorwegnahme dessen zu sehen, was etwas mehr als einen Monat später geschah, nämlich die stärkste „aktive“ Reaktion auf die Ergebnisse der Volksabstimmung – der Ausbruch des dritten Aufstandes in Oberschlesien. Aus dem Polnischen von David Skrabania
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GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 757, Lageberichte von Dr. Spiecker, Der Vertreter des Staatskommissars für öffentliche Ordnung in Oberschlesien, Bericht Nr. 164, Breslau, 26.03.1921, K. 48.
TEIL VI Fallbeispiele: Volksabstimmungen und Grenzfestlegungen in Europa
Grenzziehung nach afrikanischer Art – oder die Formung des Hultschiner Ländchens Jiří Neminář Nur mit Mühe haben wir das Hultschiner Ländchen erlangt … Wir müssen den Grenzverlauf nach natürlichen und nationalen Maßstäben einfordern und nicht, wie die Grenze bisher nach afrikanischer Art und Weise festgelegt wurde, indem eine gerade Linie entlang größerer Flüsse in einer Entfernung von einer halben Stunde Erreichbarkeit gezogen wurde.1
So schrieb die tschechoslowakische Presse in Reaktion auf das Ergebnis der oberschlesischen Volksabstimmung. Der Verfasser des Artikels betrachtet Oberschlesien hierbei als ein böhmisches Land, das den Tschechen geraubt und dessen Bevölkerung erst kürzlich der Germanisierung und Polonisierung unterzogen worden ist. Zudem sieht er im Falle des Hultschiner Ländchens einen scheinbaren, von Anfang an künstlichen Gewinn, weshalb er die Grenzrevision einfordert. In einer national angespannten Atmosphäre gehörten solche Ansprüche nicht zu den Ausnahmen. Außergewöhnlich war aber durchaus, dass in dem Artikel offen über die nahezu beiläufige Grenzneuziehung gesprochen wurde. Diese Sicht geriet im tschechischen Diskurs dennoch bald in Vergessenheit. Die internationale Situation beruhigte sich und anstelle der Forderung nach einer Revision von Staatsgrenzen musste der neue Gebietszuwachs legitimiert werden. Daher begannen die Journalisten, ebenso wie zahlreiche Historiker, über das Hultschiner Ländchen als Gebiet zu schreiben, das seit undenklichen Zeiten existiert hat und nach dem Ersten Weltkrieg gerechterweise zum tschechischen Staat zurückgekehrt ist. Stellvertretend können folgende zwei Sätze aus unterschiedlichen Büchern zitiert werden: Das Hultschiner Ländchen ging mit den übrigen Teilen des Troppauer Landes im Ersten Schlesischen Krieg 1740 bis 1742 zur Zeit Maria Theresias verloren.“2 „Das Hultschiner Ländchen wurde danach für 175 Jahre ein Teil Preußens und mit dem Versailler Friedensvertrag […] zu seinem Mutterland zurückgeführt.3 1 Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel mit der Forderung nach der Anpassung der Grenze im Hultschiner Ländchen. „Stát československý a plebiscit v Horním Slezsku“, in: Svobodná republika, 25.03.1921 (AMZV, f. II. sekce, S. 133A). 2 Bena, Lev: Hlučínsko, stručné informace a průvodce krajem, Brno 1924, S. 48. 3 Stránský, Rudolf: Hlučínsko, Opava 1938, S. 3. Zitate, die dem obigen Rahmen entsprechen, lassen sich in den meisten studentischen Arbeiten, aber auch in relativ jungen historiographischen Abhandlungen finden. © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_027
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Ob es den Autoren bewusst war oder nicht, sie schufen einen Gründungsmythos, der zu den Grundsäulen der modernen Hultschiner Identität werden sollte.4 Zugleich interpretierten die Verfasser dieser Schriften die Eingliederung des Hultschiner Ländchens als eine logische Folge der Nachkriegsordnung Europas. Aus ihrer Perspektive heraus handelte es sich um eine natürliche Entwicklung, was die oft verwendete Metapher des Raubes und der Wiederkehr in den Mutterschoß zusätzlich stützte. So verstandene Geschichte musste kurzerhand und unvermeidlich in die Eingliederung des Hultschiner Ländchens in die Tschechoslowakei münden. Sofern die Historiker mit diesem Narrativ nicht offen nationale oder Legitimationsziele verfolgten, so vermittelten sie die Geschichte zumindest aus der Perspektive des Erzählers, der sehr gut wusste, wie die Erzählung ausgehen sollte. In diesem Rahmen gab es verständlicherweise keinen Platz für eine Reihe von banalen Fragen, die den glücklichen Ausgang der sich entwickelnden Erzählung stören konnten: Warum wurde gerade das Hultschiner Ländchen eingegliedert? Was wäre gewesen, wenn es nicht dazu gekommen wäre? Ist das Hultschiner Ländchen wirklich von Anfang an Gegenstand des Interesses der tschechoslowakischen Diplomatie gewesen? War die Wahl dieser Region nicht doch eher Zufall? Auf welcher Grundlage wurde die neue Grenze gezogen? Und war es überhaupt legitim, über diese Region in der Zeit vor 1920 zu sprechen? Die Vermutung liegt nahe, dass das Hultschiner Ländchen zufällig entstanden ist. Im Folgenden wird versucht, nachzuweisen, dass diese Region ein Produkt der Nachkriegsentwicklung und ihre endgültige Form auf eine Reihe von Umständen zurückzuführen ist. Daher wird der Fokus auf die Genese der tschechoslowakischen Gebietsforderungen, auf die Verhandlungen im Zuge der Friedenskonferenz und zuletzt auf die Festlegung der Staatsgrenzen gelegt. In dieser Abhandlung werden die Reaktionen auf die besagten Bestrebungen 4 Die gegenwärtige Form der Hultschiner Identität basiert hauptsächlich auf dem kollektiven Gedächtnis, vor allem auf der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, die im tschechischen Kontext spezifisch ist. Ich nehme an, dass ein ebenso wichtiges Element für die Identitätsbildung eine kollektive Vorstellung über die Historizität des Hultschiner Ländchens ist. Eine permanente Unterbreitung der These, dass das Ländchen bereits im 18. Jh. verlorengegangen ist, getrennt oder geraubt wurde, bzw. die unreflektierte Projektion des Hultschiner Ländchens in die Frühgeschichte oder ins Mittelalter erfüllen die Rolle eines Gründungsmythos. Kurz gesagt, entsteht bei den Bewohnern das Gefühl, dass sie eine alte Tradition fortführen müssen oder Träger einer altehrwürdigen regionalen Identität sind. Auf dieselbe Strategie griff auch die deutsche Seite zurück, welche die Hultschiner Bewohner als Nachfolger altgermanischer Stämme ansah. Sie nimmt die Existenz des Hultschiner Ländchens vorweg. So spricht diese Erzählung von der Eingliederung der Region im Jahr 1742 in den preußischdeutschen Staat. Vgl. Bollacher, Eberhard: Das Hultschiner Ländchen im Versailler Friedensvertrag, Stuttgart 1930, S. 19.
Die Formung des Hultschiner Ländchens
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im Landkreis Ratibor, aber auch die Vermessungs- und Markierungsarbeiten bewusst übergangen. Um diese Problematik zu untersuchen, gelangen Methoden der Diskursanalyse und des positivistischen Zugangs zur Anwendung. Als grundlegende historische Quellen dienen Unterlagen aus dem Außenministerium der Tschechischen Republik. Da diese nicht stringent geordnet sind und keine in polnischen, deutschen und französischen Archiven gesammelten Archivstudien beinhalten, ist die Anmerkung notwendig, dass der folgende historische Abriss offensichtliche Quellenlücken aufweist, bzw. lediglich einen Versuch darstellt, eine erste Annäherung an die Problematik zu wagen.
Die Genese der tschechoslowakischen Gebietsforderungen
Als die Tschechoslowakei als Staat gegründet wurde, war nicht eindeutig geklärt, wie ihre Staatsgrenze verlaufen würde. Diese Festlegung sollte in Streitfällen zuallererst vom Willen der Großmächte abhängen oder auf der Grundlage von internationalen Verträgen geregelt werden. Im Falle Böhmens, Mährens und des tschechischen Teiles Schlesiens waren historische Grenzen vorhanden, die einen eindeutigen Ausgangspunkt darstellten.5 Problematisch war allerdings die Gebietsabsteckung der Slowakei und weiterer potentieller Gebietszuwächse etwa um die Grafschaft Glatz, die Lausitz oder um einen Korridor zur Adria. Auch im Fall von Schlesien sah es nach einer Gebietserweiterung zu Lasten Deutschlands aus. Diese Vorstellung geht auf Karel Kramář6 zurück, der sie als Erster noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entwickelt hatte. Er ging davon aus, dass das Territorium des zukünftigen Königreiches Böhmen u.a. um das südwestliche Grenzgebiet Preußisch-Schlesiens bereichert würde, wo das tschechische Element noch vorhanden war.7 Diese Idee wurde zwar verschriftlicht, jedoch geheim gehalten. Es handelte sich eher um einen konzeptionellen Entwurf. Ein öffentlich deklariertes Interesse an Oberschlesien bekundete erst Prof. Tomáš Masaryk im Jahre 1915, als er sich im Schweizer Exil befand.8 Auf einer Landkarte, auf der die Gestalt des geplanten Staates eingezeichnet war, steckte er u.a. den Gebietszugewinn in Oberschlesien ab. 5 Es gab jedoch Diskussionen über eine mögliche Abtretung einiger Ausläufer (Asch/Aš, Friedland/Frýdlant, Schluckenau/Šluknov/, Braunau/Broumov) mit einer deutschsprachigen Mehrheit. 6 Erster Ministerpräsident der Tschechoslowakei in den Jahren 1918/19 [Anm. d. Übers.]. 7 Zitiert nach: Myška, Milan: Zápas Čechů o Hlučínsko, Praha 2000, S. 259. 8 Kapras, Jan: České Slezsko a státní převrat, Opava 1927, S. 19. Grim, Tomáš: Stanovení hranic Hlučínska po I. světové válce, S. 4.
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Dazu gehörten Gebiete am linken Oderufer, deren Grenze grob zwischen Hotzenplotz (Osoblaha) und Cosel (Koźle) und dann entlang der Oder bis nach Oderberg (Bohumín) verlief.9 Diese Gebietsforderung überstieg die territoriale Ausdehnung des mittelalterlichen Herzogtums Troppau und beinhaltete strategisch wichtige Eisenbahnlinien sowie den Zugang zur Oder. Im Verlauf seiner Verhandlungen mit dem Anführer der polnischen Auslandsdelegation, Roman Dmowski, kehrte Masaryk im September 1918 zu der Frage nach der Übernahme der Landkreise Leobschütz (Głubczyce) und Ratibor (Racibórz) zurück. Diese territorialen Veränderungen sollten der in der Gründung befindlichen Tschechoslowakei als Ausgleich für den Abtritt des gesamten oder wenigstens eines Teiles des Teschener Schlesiens angeboten worden werden.10 Ungefähr zur selben Zeit entstanden auch in Paris zwei Landkarten, auf denen Oberschlesien in den tschechischen Staat eingegliedert wurde.11 Die Einverleibung Oberschlesiens wurde auch in den höchsten Sphären der Landespolitik heiß diskutiert. Als Karel Kramář in seinem Brief an Edvard Beneš vom 5. November 1918 die Lage in der Tschechoslowakei schilderte, erwähnte er, dass tschechische Kreise den Landkreis Ratibor (drei Dekanate) einforderten und die Oder als Grenze deklarieren wollten. Große Aufmerksamkeit widmete Kramář auch dem drohenden Konflikt mit Polen und dem Interesse an Oberschlesien, das beide Staaten auf Konfrontationskurs brachte. Daher empfahl er Außenminister Beneš, sich dieser Frage mit erhöhter Aufmerksamkeit zu widmen: „Ohne das östliche Oberschlesien, ohne seine Kohle, können wir nicht
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Die Forderung von Masaryk reproduzierte Milan Myška in seinen Studien, der überdies die These formulierte, dass der Leiter der tschechoslowakischen Auslandsaktion verhältnismäßig gut über die Situation im preußischen Teil Oberschlesiens informiert gewesen ist. Zur Zeit seines Wiener Aufenthaltes traf er sich auch regelmäßig mit Zdena Šemberova, der Tochter des Professors Alois Vojtěch Šembera, dessen dienstliche Absichten auch die schlesische Region berührten und der u.a. Korrespondenz mit Cyprian Lelek führte. Myška geht davon aus, dass im Verlauf der intensiven Debatten zwischen Masaryk und Šembera auch die Frage nach den Mährern in Preußisch-Schlesien zur Sprache kam. Vgl. Myška, Milan: Zápas Čechů o Hlučínsko, S. 260. Eine leider nicht hoch aufgelöste Landkarte ist online einsehbar unter: https://www. lidovky.cz/domov/podoba-ceskoslovenska-masaryk-v-roce-1915-snil-o-hranicichse-srbskem.A170906_223740_ln_domov_ELE/foto/ELE6dd4b9_internetmapatgmrucni. jpg [07.08.2020]. Myška, Milan: Zápas Čechů o Hlučínsko, S. 260. Auf der ersten Karte, die der Tschechoslowakische Nationalrat herausgegeben hat, führt die Grenze vom Hotzenplotzer Umland bis nach Ratibor und weiter bis zur Mitte der Teschener Grenzen. Die zweite Karte reproduziert die französische Sicht und verschiebt den Anfangspunkt dieser Grenze bis Jägerndorf, wobei sie Ratibor bei Deutschland belässt. Vgl. Kapras, Jan: České Slezsko a státní převrat, S. 19f., Myška, Milan: Zápas Čechů o Hlučínsko, S. 260.
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existieren und die Kaschau-Oderberger-Eisenbahn brauchen wir für die Slowakei.“12 Auf die oberschlesische Problematik kam der tschechoslowakische Ministerpräsident Kramář einen knappen Monat später zurück, als er am 1. Dezember eine dreiköpfige oberschlesische Delegation empfing (zwei Personen bezeichnete er als „Wasserpolen“, eine als Deutschen). Womöglich befand sich darunter Josef Koždon13 selbst, da die Schlesische Volkspartei eine Autonomie für Oberschlesien anstrebte. Karl Kramář wurde nämlich der Vorschlag unterbreitet, mit Unterstützung der Tschechoslowakei eine eigenständige (ober-)schlesische Republik zu gründen. Eine gemeinsame Zollunion wurde ebenfalls als Möglichkeit erachtet. „Es war durchaus ein sehr interessantes, aber mühsames Gespräch. Sie wünschten sich, dass wir sie bei der [Versailler] Konferenz unterstützten. Ich habe dies dem Ministerrat vorgelegt und da kamen wir überein, dass dies für uns doch nicht ungünstig sein wird, weil eine solche Volksbewegung für uns eine moralische Stütze für unsere Forderungen bezüglich des Ratiborer Landkreises und des jenseits der Oder liegenden Landesteiles sein wird.“14 Kramář sagte zu, dass die Regierung diesen Vorschlag überdenken würde. In den darauffolgenden Zeilen teilte er Beneš jedoch mit, dass „wir uns heute dafür natürlich nicht öffentlich aussprechen könnten.“ Es scheint so, als wäre zwischen den Verhandlungen mit den Oberschlesiern und dem Verfassen dieser Zeilen eine gewisse Zeit vergangen. Wie allerdings aus dem Brief hervorgeht, sollen diese Ereignisse an einem Tag stattgefunden haben. Natürlich ist der Abschluss des vom Ministerpräsidenten verfassten Exposés zu Oberschlesien wichtig, in dem er schrieb, dass die drei geforderten Dekanate und ein Teil des Kohlebeckens jenseits der Oder nur unter Zwang erlangt werden könnten.15 Da die Eröffnung der Versailler Friedenskonferenz unmittelbar bevorstand, trat die Regierung am 2. Januar 1919 zusammen, um über die tschechoslowakischen Gebietsforderungen abzustimmen. An der Besprechung nahmen auch Vertreter des tschechoslowakischen Amtes für die Vorbereitung der Friedenskonferenz teil, die ihre fachlichen Stellungnahmen vorstellten, an denen sie in den vergangenen zwei Monaten gearbeitet hatten. 12 13
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Dejmek, Jindřich/Kolář, František (Hg.): Československo na pařížské mírové konferenci 1918–1920, Dokumenty československé zahraniční politiky, Bd. I, Praha 2001, S. 70. Josef Koždon (1873–1949) war schlesischer Politiker, Chef der Schlesische Volkspartei (Śląska Partia Ludowa) und Oberbürgermeister von Tscheschisch Teschen. Koždons Beruf war Lehrer, seit 1907 war er als Abgeordneter des Schlesischen Landtages in Troppau tätig. Nach dem ersten Weltkrieg war er großer Propagator einer schlesischen Autonomie. Mehr dazu: Šústková, Hana: Biografický slovník poslanců slezského zemského sněmu v Opavě (1861–1918). Biografický slovník Slezska a severní Moravy. Nová řada 8 (20) – Supplementum, Ostrava 2006. S. 112. Ebenda, S. 97. Ebenda, S. 97.
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Insgesamt wurden vier Varianten möglicher Grenzfestlegungen ausgearbeitet. Die erste beinhaltete das minimale Ausmaß an Forderungen, die der tschechische Staat notwendigerweise erfüllt haben wollte.16 Auf dem Gebiet Oberschlesiens wurde der tschechische Teil des Ratiborer Landkreises und das enge Oderberger Vorland eingefordert. Die zweite Variante ging von einem größeren Anteil am oberschlesischen Kohlerevier aus, wich jedoch einem höheren Anteil an deutscher und polnischer Bevölkerung aus. Bei der dritten Möglichkeit wurde die Fläche des oberschlesischen Kohlereviers deutlich erhöht, während in der vierten Version die Einverleibung der zwischen dem Fluss Warthe und Beuthen (Bytom) liegenden Gebiete anvisiert wurde. Dabei hätte die territoriale Ausdehnung auch die östlich von Oberschlesien gelegenen Gebiete in Richtung Slowakei umfasst. Vom wirtschaftlichen und strategischen Standpunkt her wurde die letzte Variante als ideal angesehen. Es folgte eine lange Debatte, in der die Minister die Problematik erörterten und alle Aspekte thematisierten.17 Gemeinsam war allen kundgetanen Meinungen ein unermesslicher Optimismus und der Glaube an eine reibungslose Entwicklung des zukünftigen Zusammenlebens von Minderheiten. Vor zu großen territorialen Ansprüchen hatte der Großteil der Minister keine Furcht. Der Grund ist vermutlich in der Überzeugung der Regierungsmitglieder zu suchen, der zufolge die nationalen Minderheiten ihre Neigung zum tschechoslowakischen Staat bald kundtun würden, sobald staatlicherseits eine funktionierende und gerechte Verwaltung eingerichtet war.18 Die einzige moderate Haltung nahm Ernährungsminister Bohuslav Vrbenský ein, der sich gegen eine imperialistische Politik aussprach und davor warnte, Gebiete mit einem Überschuss an fremden Elementen einzuverleiben. Nach dieser ergebnisreichen Diskussion fasste die Regierung letztendlich den Beschluss, sich für eine Kombination der zweiten und dritten Variante auszusprechen. Von Oberschlesien sollte ein Teil des südöstlich von Cosel gelegenen Kohlereviers eingefordert werden.19 Die Versailler Friedenskonferenz wurde am 18. Januar 1919 eröffnet. Bereits am 5. Februar wurden die tschechoslowakischen Forderungen öffentlich vorgebracht. In einer dreistündigen Nachmittagsansprache trat Außenminister Edvard Beneš vor dem Zehnerrat auf, der in seinem Exposé die Haltung der 16 17
18 19
Dejmek/Kolář (Hg.): Československo na pařížské mírové konferenci, S. 132. Die Minister zeigten auch offen ihre Haltung. So wissen wir beispielsweise, dass sich Alois Rašín offen für die Eingliederung des Kreises Leobschütz ausgesprochen hat, wonach ihm die anwesenden Geografen erklärten, dass sich dort keine tschechische Minderheit befand (sic!). Ebenda S. 136. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 137.
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Tschechoslowakei, deren Geschichte und ihre territorialen Ansprüche schilderte. In diese Forderungen reihte sich die Eingliederung der Slowakei, der Karpatenukraine, der Grafschaft Glatz, des südmährischen Feldsberger Gebietes, des Weitraer Gebietes und Oberschlesiens ein. Die Verhandlungen fanden nur wenige Tage nach dem Ende des tschechoslowakisch-polnischen Konfliktes um das Teschener Land statt, sodass diese Frage vorrangige Bedeutung hatte. Das Protokoll, in dem der Verlauf der Verhandlungen niedergeschrieben wurde, fällt jedoch zu knapp aus, als dass es eine detailliertere Analyse erlauben würde.20 Es darf jedoch als gesichert angenommen werden, dass Beneš im Wesentlichen den Umfang von elf offiziellen Memoranden zusammengefasst hat, die im Anschluss den Vertretern der Großmächte vorgelegt wurden. Die Schriftstücke wurden allerdings erst im letzten Augenblick finalausgearbeitet, sodass einige von ihnen zum Zeitpunkt der Präsentation noch nicht vollständig vorlagen oder sich gar noch in der Konzeptphase befanden.21 Welche Forderungen bezüglich Oberschlesiens mündlich vorgebracht wurden, geht aus den Protokollen nicht hervor, denn in dem Bericht der tschechoslowakischen Delegation wurden Details über diese Ansprüche außen vorgelassen.22 Auf den Punkt Oberschlesien ging das Gedächtnisprotokoll mit der Nummer „8“ ein.23 Es ist in drei Teile untergliedert, welche historische, ethnographische und wirtschaftliche Argumente enthalten. Die tschechoslowakischen Ansprüche werden darin erklärt und deren Berechtigung 20 21
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23
Das Protokoll wurde in einer privaten Edition veröffentlicht: Miller, David Hunter: My Diary at the Conference of Paris. With Documents, Bd. IXV, New York, 1926, S. 219. Zitiert nach: Valenta, Jaroslav: Připojení Hlučínska, S. 7. Die tschechoslowakischen Gedächtnisprotokolle entstanden aus Memoranden, die Edvard Beneš bereits zuvor ausgearbeitet hatte. Nach der Ankunft der tschechoslowakischen Delegation in Paris erarbeiteten die anwesenden Fachleute jedoch weitere Expertisen, auf deren Grundlage die übrigen Memoranden konzipiert wurden. Mehr dazu vgl. Vácha, Zdeněk: Žádám vás jako vynikajícího odborníka … Organizace odborných prací pro československou delegaci na mírové konferenci v Paříži v letech 1918–1919, Praha 2012, S. 157–160. Interessant ist jedoch die Beobachtung, dass die Spitzenpolitiker offenbar glaubten, die tschechoslowakische Frage wäre eine relativ einfache Angelegenheit, bei der keine Probleme entstünden. Vgl. Dejmek/Kolář (Hg.): Československo na pařížské mírové konferenci, S. 207–210. Der französische und der deutsche Wortlaut der Memoranden wurde veröffentlicht in: Raschhofer, Hermann: Die tschechoslowakischen Denkschriften für die Friedenskonferenz von Paris 1919/1920, In: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 24, Berlin 1937. Die tschechische Übersetzung des Memorandums wurde anlässlich der 100-jährigen Entstehung des Hultschiner Ländchens herausgegeben, vgl. Neminář, Jiří: Československé územní nároky v Horním Slezsku, in: Hlučínsko 10, Teil 1, 2020, S. 11–14.
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gebührend begründet, weshalb die tendenziöse Grundstimmung des Textes nicht allzu sehr überrascht: Das mittelalterliche Königreich Böhmen sei schon damals als tschechoslowakischer Staat bezeichnet worden und die Nationalität habe einen ausgesprochen essentiellen Charakter bekommen. Der Großteil der Bevölkerung in besagtem Gebiet sei tschechischer Abstammung und ein Teil des Gebietes sei von Stämmen bewohnt gewesen, die zwischen Tschechen und Polen hin und her wechselten. Der prozentuale Anteil der tschechischen Bevölkerung wurde im Memorandum deutlich zu hoch angegeben, denn die Autoren schrieben eine tschechische Abstammung auch jenen Bewohnern zu, die sich ethnisch nicht positioniert hatten und nicht als Mähren (Moravci) bezeichnet werden konnten. Aus diesem Grund wurden einige am östlichen Oderufer gelegene Dörfer als tschechisch bezeichnet, obwohl an anderer Stelle des angeführten Textes konstatiert wird, dass sie in preußischen Statistiken als polnisch aufgeführt werden. Der Fokus des Memorandums lag allerdings auf wirtschaftlichen Gründen. Die Tschechoslowakische Republik „benötigt als Industriestaat die Steinkohle, mit der Oberschlesien sehr reich versehen ist. Das tschechische Ostrau-Karwiner-Kohlegebiet betrifft im Teschener Schlesien nur einen Bruchteil der Kohlevorräte von Oberschlesien und umfasst die Reviere Kattowitz-Beuthen-Gleiwitz, Orzesche (Orzesze) und Rybnik. In all diesen Kohlegebieten wurden 1913 438 Millionen Zentner gefördert, während das Ostrau-Karwiner-Kohlegebiet lediglich 93 Millionen Zentner produziert hat. Die Tschechoslowakische Republik fordert nur das Rybniker Kohlebecken ein, also nur einen kleinen Teil der oberschlesischen Lagerstätte und überlässt Polen mindestens die fünffache Produktionsmenge. Sie erhebt Ansprüche auf dieses Revier, weil die Kohlevorräte im Ostrauer Umland bald ausgeschöpft sein werden.“24 Im Abschlussresümee wurde konstatiert, dass das eingeforderte Gebiet klein und der wichtigste Interessensfaktor wirtschaftlicher Natur war. Das Grundproblem dieses territorialen Anspruches, den das Memorandum Nr. 8 formulierte, stellten jedoch die Bewohner des betreffenden Gebietes dar. Sosehr sich die Verfasser des Textes bemühten, eine gegensätzliche Behauptung aufzustellen, so sprach der Großteil der im Einzugsgebiet lebenden Bevölkerung deutsche oder polnische Dialekte und neigte auch zu diesen beiden Gruppierungen. Wie sollte das eingeforderte Gebiet also grob aussehen? Im westlichen Teil umfasste das Territorium den fruchtbaren Leobschützer Kreis und im Osten das Rybniker Kohlebecken. Die neue Staatsgrenze sollte gemäß Memorandum nördlich von Zuckmantel (Zlaté Hory) verlaufen, um Ziegenhals (Głuchołazy) und die wichtige Eisenbahnlinie von Troppau nach Freiwaldau (Jeseník) zu 24
Neminář, Jiří: Československé územní nároky v Horním Slezsku, S. 13.
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umfassen. Im weiteren Verlauf sollte das Gebiet die ursprüngliche Grenze abbilden und erst oberhalb von Hotzenplotz eine andere Richtung nach Osten und Südosten einschlagen, damit die Städte Leobschütz, Bauerwitz (Baborów) und Ratibor an die Tschechoslowakei angeschlossen werden konnten. Knapp sechs Kilometer nördlich von Ratibor sollte die Grenze die Oder überschreiten und weiter nach Osten verlaufen, um die Städte Rybnik, Sohrau (Żory) und Loslau (Wodzisław Śląski) einzubeziehen. Dieser Anspruch wurde in dem Bestreben formuliert, den größten Teil der Eisenbahnanbindungen an die einzelnen Städte zu sichern. Damit wurden auch die Troppauer und Teschener Teile des ehem. Österreichisch-Schlesiens berücksichtigt, die durch die Lage von Mährisch-Ostrau bisher wie durch einen Keil getrennt gewesen waren.
Der Friedensvertrag
Da die Problemfelder verworren und zahlreich waren, entstanden während der Friedensverhandlungen Fachkommissionen, welche die vorgetragenen Ansprüche überprüfen sollten. Am 28. Februar 1919 wurde eine Kommission für tschechoslowakische Angelegenheiten gegründet, mit Vertretern Großbritanniens, der USA, Italiens und Frankreichs besetzt.25 Für die tschechoslowakische Diplomatie unter der Leitung von Edvard Beneš bedeutete dieser Umstand eine weitere Möglichkeit, die eigenen Standpunkte zu erklären und vehement zu vertreten. Die oberschlesische Frage kam in diesem Gremium am 4. März zur Sprache und zählte den Worten von Beneš zufolge zu den schwierigsten. Die Alliierten befürchteten einen weiteren Konflikt mit Polen, deshalb zeigten sie keinerlei Bereitschaft, am rechten Oderufer gelegene Kohlenlagerstätten an die Tschechoslowakei abzutreten. „Ich will hier keiner endgültigen Entscheidung zuvorkommen, allerdings mache ich darauf aufmerksam, dass wir damit rechnen müssen, unseren Standpunkt in Bezug auf das rechte Oderufer schwerlich durchsetzen zu können, wohingegen uns die tschechischen Teile am linken Ufer bestimmt zufallen werden“26, konstatierte Edvard Beneš in einem seiner Berichte. Damit wurde der potentielle Gebietszugewinn in Oberschlesien auf die Kreise Leobschütz und Ratibor eingeschränkt. Dennoch versuchte Beneš, noch im letzten Augenblick bei seinen Kontrahenten Arthur Balfour und Stéphen Pichon zu intervenieren. Er schickte ihnen ein Schreiben, in dem er betonte, dass auch am rechten Oderufer durchaus tschechische
25 26
Vácha: Žádám vás jako vynikajícího odborníka, S. 162. Dejmek/Kolář (Hg.): Československo na pařížské mírové konferenci, S. 246.
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Bewohner lebten, dass es für die Tschechoslowakei aber vor allem darauf ankam, Zugang zu Kohlevorräten zu erhalten.27 Die tschechoslowakischen Forderungen deckten sich in dieser Frage nahezu vollständig mit den polnischen. Die polnische Delegation beanspruchte ein Gebiet, das fast bis Leobschütz reichte. Zugunsten der Tschechoslowakei ließ sie nur kleinere Anpassungen zu. Bei allen Bemühungen erzielte Beneš auf diesem Gebiet keinen Erfolg. Ende März nahm die tschechoslowakische Gebietskommission einen Vorschlag bezüglich der Grenzänderungen entgegen, dem zufolge die Grafschaft Glatz und die am linken Oderufer gelegenen oberschlesischen Gebiete an die Tschechoslowakei fallen, das Egerland jedoch Deutschland zugesprochen werden sollte. Dafür musste sie im Gegenzug auf die Grafschaft Glatz und die am linken Oderufer gelegenen oberschlesischen Gebiete verzichten. Über Gebietszugewinne am rechten Oderufer verlor die Kommission hingegen kein Wort.28 Anfang April gab der Rat der Vier eine Einschätzung hinsichtlich der unterbreiteten Vorschläge für die Grenzanpassungen ab und lehnte diese allesamt ab. Nach den Worten des Historikers Zdeněk Vácha wurde die Tschechoslowakei mit dieser Entscheidung in ihre historischen Grenzen zurückversetzt.29 Der Historiker Jaroslav Valenta stellte hingegen fest, dass die divergierenden Ansprüche der Tschechoslowakei und Polens auf Ansuchen des Rates der Außenminister in einer gemeinsamen Sitzung der tschechoslowakischen und polnischen Gebietskommission verhandelt wurden. Diese legte einen neuen Vorschlag als Kompromisslösung vor, der für die Tschechoslowakei besonders ungünstig ausfiel. „Er sprach ihr einen engen Gebietsstreifen entlang der alten Grenzen des Herzogtums Troppau zu, allerdings so, dass die gesamte Eisenbahnlinie von Ratibor nach Leobschütz auf einem Territorium verblieb, von dem bisher ausgegangen wurde, dass er nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Deutschland an Polen fallen würde.“30 Dass sich in diese Angelegenheit auch einflussreiche polnische Kreise einmischten, bestätigt in seinen schriftlichen Erinnerungen auch Josef Lukeš: „In dieser Situation gerieten nach vielfacher angestrengter Einflussbetätigung seitens Polens die Vertreter der Alliierten, und insbesondere die Franzosen, die sich um gute freundschaftliche Beziehungen zu uns und zu Polen bemühten, in eine unangenehme Situation. Sie wünschten sich, dass sich die Polen mit uns einigten, was aufgrund ihrer übertriebenen Ansprüche aber nicht möglich 27 28 29 30
Ebenda, S. 266. Vácha: Žádám vás jako vynikajícího odborníka, S. 162. Ebenda, S. 163. Valenta: Připojení Hlučínska k Československé republice, S. 7.
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war. Allerdings wollten sie auch nicht selbst entscheiden, damit sich weder die einen, noch die anderen durch einen ungünstigen Beschluss düpiert fühlten. Dies führte zu Verzögerungen, von denen die Polen profitierten, wohingegen sich unsere vorteilhafte Situation verschlechterte, denn die alliierten Staatsmänner, die unseren Vertretern sichere Versprechungen in Bezug auf das Teschener Schlesien und den Kreis Ratibor gemacht hatten, wurden auf Initiative ihrer Staaten schrittweise durch andere Delegierte ersetzt. […] Der Einfluss der Polen wuchs […] Sie bekamen durch diplomatisch verursachte Verzögerungen, was sie wollten, wenn auch in begrenztem Maße.“31 Eine endgültige Entscheidung in der Frage nach dem tschechoslowakischen Gebietszugewinn in Schlesien fiel am 17. April 1919. Die Tschechoslowakei erhielt einen künstlich markierten Gebietsstreifen, der ungefähr bei Rausen (Rusín) im südöstlichen Teil des Ausläufers von Hotzenplotz begann, zu einem südlich von Katscher (Kietrz) gelegenen Punkt führte und von dort aus in östlicher Richtung auf Oderberg (Bohumín) zulief. Während der östliche Teil dieses Territoriums ohne besondere Bedingungen an die Tschechoslowakei fiel, sollte diese den westlichen Teil nur dann zugesprochen bekommen, wenn sich die dortige Bevölkerung im Rahmen einer geplanten Volksabstimmung für Polen aussprach. Die endgültige Grenzziehung nahm dann die Interalliierte Kommission, bestehend aus sieben Mitgliedern, vor. Sie verfügte in dieser Frage über vollständige Autonomie.32 Bedauerlicherweise ist nicht bekannt, wie die Verhandlung verlief, die diesem Beschluss vorausging. Dabei drängt sich die Frage auf, warum nicht wenigstens die bestehenden Grenzen in diesem Gebiet als Ausgangspunkt dienten, beispielsweise die Dekanats- oder Sprachgrenzen, auch wenn letztgenannte deutlich schwieriger nachzuweisen waren. Evident ist, dass die polnische Argumentation deutlich an Gewicht gewann, auch wenn sie in ihren Details heute unbekannt ist.33 Auf jeden Fall handelte es sich um ein Ergebnis, das die ursprünglichen tschechoslowakischen Ansprüche nicht erfüllte. 31 32
33
Lukeš, Josef: Slezsko na mírové konferenci v Paříži, S. 141f. Neben dem o.g. Art. 83 des VFV betraf auch der Art. 88, der die Abstimmungszone begrenzte, diese Gebiete. Darin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die an die ČSR fallende Region nicht dem Ergebnis der geplanten Volksabstimmung unterlag. Gerade in diesem Augenblick tauchten zum ersten Mal die Umrisse des zukünftigen Hultschiner Ländchens auf. Bis dahin war dieses Gebiet im Rahmen der dargestellten Überlegungen immer ein Teil eines größeren Ganzen gewesen. Der VFV, Art. 83 und 88, ist online zugänglich unter: https://www.versailler-vertrag.de/vv3.htm [13.08.2020]. Josef Lukeš erwähnt bspw. eine Landkarte, auf der die polnische Besiedlung im gesamten Gebiet Oberschlesiens bis Troppau und Jägerndorf explizit dargestellt wurde. Lukeš, Josef: Slezsko na mírové konferenci v Paříži, S. 137, 140.
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Die Einverleibung
Der Friedensvertrag wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet und trat am 10. Januar 1920 völkerrechtlich in Kraft. Obwohl die Besetzung der Region unmittelbar nach der Ratifizierung der Verträge erfolgen sollte, leistete die deutsche Seite Widerstand und forderte dies erst nach der Durchführung der Volksabstimmung vorzunehmen. Diese Position lehnte die tschechische Seite kategorisch ab, zog zunächst aber zumindest in Erwägung, lediglich die Sicherheitspolizei und eine kleine Armeetruppe dorthin zu entsenden. Kirchliche, zivile und Verkehrsbehörden sollten vorläufig in deutscher Hand verbleiben.34 Die Haltung Deutschlands zeigte sich mit den Bestimmungen des Friedensvertrags nicht konform, daher appellierte man an die Großmächte, in dieser Angelegenheit einzugreifen. Die Vertreter der Friedenskonferenz äußerten sich dahingehend, dass die tschechoslowakische Seite die Art und Weise der Übernahme des Landkreises Ratibor mit ihrem deutschen Kontrahenten und mit der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesien, die unter der Leitung des Generals Henri Le Rond stand, zu verhandeln hatte. Die Kommission hatte zu dieser Zeit bereits Bestand und war zum höchsten Machtorgan in Oberschlesien bestimmt worden. In dieser Angelegenheit verhandelte der Generalsekretär der tschechoslowakischen Delegation bei der Friedenskonferenz, Štefan Osuský, im Januar 1920 wiederholt mit Le Rond. Das Hauptproblem bestand in der Bestimmung einer „Pufferzone“. Die territoriale Eingliederung sollte mit der Plebiszitzone übereinstimmen, doch musste diese erst abgesteckt werden, um den Grenzverlauf zu bestimmen. Osuský argumentierte damit, dass es sich um eine Plebiszit-, und keine endgültige Grenze handelte und dass der Friedensvertrag in seiner Textfassung lediglich drei Punkte explizit erwähnte. Deshalb versuchte er, die Grenze der Plebiszitzone so weit wie möglich nach Norden zu verschieben, damit sie bis an die Nordgrenze des Katastergebietes von Ruderswald (Rudyszwałd), Haatsch (Hať), Owschütz (Owsiszcze), Pischtsch (Píšť) und Borutin (Borucin) führte. Im südlichen Katastergebiet sollte sie bis Ratsch (Gródczanki)35, Kranowitz (Krzanowice) und Klein Peterwitz (Pietraszyn) reichen. Le Rond aber nahm ein Lineal zu Hilfe und verband damit die beiden Randpunkte, die im Versailler Friedensvertrag genannt waren, um zu 34 35
Ebenda, S. 51. Archiv Ministerstva zahraničních věcí (weiter AMZV, auf deutsch Archiv des Auswärtigen Amtes), Bestand Mírová konference v Paříži, Karton 52, Zpráva Edvarda Beneše Československé delegaci při mírové konferenci v Paříži. In der Textfassung von Osuský wird, ebenso wie im französischen Original der Regierungserklärung, auch noch Katschdom angeführt. Es ist nicht ganz klar, ob es sich dabei um eine falsche Schreibweise von Ratsch-Dominium, oder um Katsch[er]-Dominium handelt.
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beweisen, dass sich die Gebiete der eingeforderten Dörfer oberhalb der Linie befanden. Osuský beharrte weiterhin auf der geforderten Grenze, sodass Le Rond deren Verlauf oberhalb der Gemeinden Ruderswald, Haatsch und Owschütz genehmigte. Als die Grenze auf der Landkarte eingezeichnet worden war, stellte man fest, dass sie noch vor Sandau südlich abdrehen musste. Le Rond lehnte den vorgeschlagenen Verlauf daher doch als zu kompliziert ab und konstatierte, dass es keinen Sinn machte, sich jetzt um die Grenzabsteckung zu bemühen, weil es sich ohnehin nicht um endgültige Grenzen handelte. Nachfolgend wurde ein Protokoll aufgesetzt und unterzeichnet. Darin heißt es, dass die Plebiszitgrenze, wie sie vorläufig bestimmt worden war, einen Beschluss über zukünftige Staatsgrenzen nicht präjudizierte und daher für die Grenzkommission nicht bindend war.36 Schlussendlich wurde in der Erklärung eine vorläufige Verwaltungsgrenze eingerichtet. Diese verlief südlich der Gemeinden Annaberg (Chałupki) bei Kreuzenort (Krzyżanowice), Zabelkau (Zabełków), Ruderswald, Haatsch, Owschütz, Sandau, Borutin, Kranowitz, Klein Peterwitz und Ratsch.37 Im Anschluss führte Osuský Verhandlungen mit der deutschen Delegation, der er die Ergebnisse der bisherigen Gespräche vorlegte. Die deutschen Vertreter beanspruchten die Gemeinden Zauditz (Sudice) und Thröm (Třebom) für sich, deren Eingliederung in die Plebiszitzone Osuský aber nicht akzeptierte.38 Auch das tschechoslowakische Außenministerium legte eine Protestnote dagegen ein, dass Ruderswald, Haatsch, Owschütz und Sandau mit dem Landgut Neu-Woschütz (Hůrky) aus dem Gebiet ausgegliedert werden sollten, da diese Regionen auf Grundlage der Friedensvertragsbestimmungen der Republik unstrittig dazugehörten. Im Übrigen schrieb Minister Beneš in seinem Brief nieder, dass die Bemühungen der Polen, in den genannten Dörfern propolnische Stimmen zu erhalten, mit großer Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben würden. Umgekehrt sagte er voraus, dass die festgelegte Grenzlinie eher zu Lasten Polens ausfallen würde, weil er davon ausging, dass die dortigen tschechischen Bewohner für Deutschland abstimmten.39 Vor der Volksabstimmung hatte das deutsche Militär das oberschlesische Gebiet zu räumen. Für Stabilität und die Überwachung der Plebiszitdurchführung sorgten alliierte Einheiten. Für die Räumung und Besetzung Oberschlesiens waren mehrere Phasen vorgesehen, wobei die alliierten Truppen am 36 37 38 39
Ebenda, S. 51, Zpráva Štefana Osuského Edvardu Benešovi z 12. ledna 1920. Ebenda, S. 51, poř. č. 525, Dispositions concernant la délimitation provisoire de la frontière entre le territoire de plebiscite de Haute-Silésie. Ebenda, S. 51, Zpráva Štefana Osuského Edvardu Benešovi z 12. ledna 1920. Ebenda, S. 52, čj. 1061.
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30. Januar in den Kreis Ratibor einmarschieren sollten. Parallel zur Besetzung der Plebiszitzone war die Besetzung des Hultschiner Ländchens durch die tschechoslowakische Armee geplant.40 Der Leiter der Plebiszitkommission, General Le Rond, griff jedoch ein, so dass diese territoriale Eingliederung verschoben werden musste und erst am 4. Februar 1920 erfolgen konnte.41 Am Vorabend der Besetzung marschierte am Hultschiner Hauptplatz die Infanterie ein, die zur städtischen Garnison gehörte. Sie verabschiedete sich zum letzten Mal und verließ die Stadt mit den Worten „Auf Wiedersehen“ endgültig. Am zweiten Tag wurde das Hultschiner Ländchen besetzt. Einheiten der 8. Troppauer Infanteriedivision setzten sich von Troppau aus nach Klein Hoschütz (Malé Hoštice) und Deutsch Krawarn (Kravaře), von Freiheitsau (Háj ve Slezsku) nach Beneschau (Dolní Benešov) und von Dielhau (Děhylov) nach Hultschin in Bewegung. Überdies kam dort auch ein Reitgeschwader auf feierlich geschmückten Pferden an, begleitet von Regimentsmusik. Der Hultschiner Bürgermeister Johann Lindel begrüßte die Vertreter der tschechoslowakischen Verwaltung, angeführt vom Schlesischen Landespräsidenten, Josef Šrámek. Im Anschluss zelebrierte Pfarrer Hugo Stanke eine Festmesse in der Kirche. Im Verlauf des Tages wurden Schritt für Schritt alle Dörfer besetzt, die entlang der Le-Rond-Linie lagen. Das Hultschiner Ländchen begann damit, Gestalt anzunehmen.42
Die Grenzkommission
Die souveräne Rechtskraft in Bezug auf die Absteckung der Grenze lag in der Kompetenz der Grenzkommission, die mit Vertretern Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Japans, der Tschechoslowakei und Polens besetzt war.43 Diese Kommission wurde am 14. Januar 1920 gegründet, und hielt ihre erste Sitzung in den darauffolgenden Tagen in Paris ab, was bedeutete, dass einige Kommissare noch gar nicht anwesend waren. Als künftiger Kommissionssitz 40 41 42
43
Ebenda, S. 51, S. 52, Zprávy Štefana Osuského. Valenta: Připojení Hlučínska k Československé republice, S. 13. Den Verlauf der Besatzung beschrieb aus deutscher Sicht Reinhold Weigel, der sich den Tendenzen des Hörensagens, den Verleumdungen und Unwahrheiten jedoch nicht widersetzen konnte, vgl. Zemský archiv v Opavě (ZAO), Bestand Pozůstalost Reinholda Weigela, S. 2, Stimmungsbild aus dem Hultschiner Ländchen nach der Besetzung durch die Tschechen. Präsident wurde der französische Oberstleutnant Uffler, britischer Delegat wurde Oberstleutnant Knyvett, Italien vertrat Oltn. Pellicelli, Japan Major Tchutsija, Polen Oberleutnant Dobrzański und Dr. Rostek, die ČSR Jaromír Špaček und Viktor Dvorský, AMZV, f. Mírová konference v Paříži, S. 52, Zpráva o ustanovení delimitační komise.
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wurde Troppau gewählt, obwohl Ratibor eine höhere Präferenz aufwies. Man setzte allerdings voraus, dass in Ratibor zu wenige Wohnungen zur Verfügung standen, weil die Stadt bereits zum Sitz einer anderen Kommission auserkoren worden war. Es befanden sich dort sogar alliierte Kräfte. Aufgrund der internationalen Besetzung der Kommission war es notwendig, genügend Dolmetscher heranzuziehen, welche die Sprachmittlung ins Tschechische, Polnische, Deutsche und in eine der Sprachen der Großmächte, in der Regel ins Französische, sicherstellen sollten. In der Praxis sah das so aus, dass jeder Kommissar einen oder zwei Fahrer, einen Topografen und zwei Dolmetscher zur Verfügung hatte.44 Die Kommission sollte spätestens bis zum 26. Januar 1920 mit der Grenzabsteckung beginnen, sodass das Militär das entsprechende Gebiet bis dahin zumindest teilweise besetzen konnte.45 Die Abreise der Kommissare aus Paris verzögerte sich jedoch ständig. Ein Teil der Kommissionsmitglieder verließ die Stadt erst am 5. Februar und hielt sich danach einige Zeit in Prag auf.46 So begann die ganze Aktion schon mit einer Verspätung. Ein gewisses Problem stellte auch die Entlohnung der Kommissionsmitglieder dar, die in britischen Pfund erfolgte. Da der Umrechnungskurs von Pfund (GBP) in tschechoslowakische Kronen (ČSK) bei 1:250 lag, belief sich das Monatsgehalt eines Offiziers auf 18.750 ČSK. Ein Kommissar hatte Anspruch auf eine Zulage in Höhe von 7.500 ČSK. Unteroffiziere verdienten 10.000 ČSK, Gehilfen 7.500 ČSK, was bereits das Gehalt eines tschechoslowakischen Ministers um 1.500 ČSK und die Bezüge des Ministerpräsidenten um 300 ČSK übertraf. Paradox ist, dass das Hilfspersonal seine Tätigkeit letztendlich gar nicht ausführte, weil diese Arbeit von entsprechenden Kräften aus der Tschechoslowakei für ein Honorar in Höhe von 35 ČSK übernommen wurde.47 Ausländische Beamte, die auf diese Gehaltshöhe kamen, waren sich der realen Kaufkraft der Krone anscheinend gar nicht im Klaren. Die tschechoslowakische Delegation, die an den Friedensverhandlungen partizipiert hatte, unternahm Schritte, um diese Bemessungsgrundlage zu reduzieren. Allerdings konnte sie sich nicht erlauben, mit gehöriger Rasanz offen vorzugehen, um die guten Beziehungen nicht zu gefährden und eventuell Unverständnis auszulösen. Einsprüche gegen überzogene Gehälter liefen letztendlich ins Leere.48 Zu Beginn der Tätigkeit der Kommission waren deren Befugnisse und das Maß ihrer Kompetenzen nicht ganz klar. Aus diesem Grund herrschte unter 44 45 46 47 48
Ebenda. Herudek, Ondřej: Politicko-vojenské přípravy na obsazení Hlučínska 1919–1920, in: Hlučínsko 2020, Teil 2. S. 6–8. AMZV, f. Mírová konference v Paříži, S. 52, telegram. Ebenda, S. 52, Schrift des Außenministeriums der Delegation der ČSR, 03.06.1920. Ebenda, S. 52, Schreiben von Štefan Osuský an das Außenministerium, 29.01.1920.
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den Mitgliedern eine nahezu vollständige Übereinstimmung, dass die im Friedensvertrag niedergelegte Grenzskizze eine gewisse Leitlinie darstellte, auf deren Grundlage zuerst eine Staatsgrenze festgelegt werden sollte, die wenigstens die grundlegenden Umstände respektierte. Es ging allerdings nicht um eine streng definierte Trennlinie, sondern vielmehr um eine ca. fünf Kilometer breite Schneise, innerhalb derer die Grenze festgelegt werden sollte, und die zudem die natürlichen und urbanen Gegebenheiten berücksichtigte. Sogar der polnische Vertreter war geneigt, dieser Erklärung beizupflichten, und zeigte seine Bereitschaft zu territorialen Zugeständnissen. Der einzige ausdrückliche Opponent dieser Interpretation war der britische Vertreter, der die im Friedensvertrag abgesteckte Linie als eine konkrete Grenze wahrnahm. In dieser Situation kam die Kommission überein, dass auch Ratsch, Kranowitz, Klein Peterwitz, Sandau, Owschütz und Haatsch an die Tschechoslowakei gehen sollten. Der tschechoslowakische Kommissar Jaromír Špaček forderte zudem die Einverleibung von Borutin, was beim polnischen Vertreter allerdings auf Missbilligung stieß. Dieser brachte das Argument vor, dass der Gebietszugewinn um Kranowitz für die Tschechoslowakei deutlich vorteilhafter sein würde. Zwar wurde Kranowitz im Friedensvertrag vom Gebietszuwachs ausdrücklich ausgenommen, doch stimmte der Großteil der Kommissare darin überein, dass die Grenzkommission auch für solche Eingriffe über genügend Kompetenzen verfügte. Trotzdem wandte sie sich mit dieser Frage an die Friedenskonferenz. Noch bevor eine Antwort einging, kam es in Oppeln zu einem Treffen mit General Le Rond, dem die veränderte Lage und der bisherige Stand der Dinge erläutert wurden. Der General „bezeichnete diese Frage als unmöglich und unzulässig. Er wies die Kommission an, ihre Aufgabe rein formell zu betrachten und die Grenze tatsächlich so abzustecken, wie der Friedensvertrag sie festgesetzt hatte. Dabei sollte sie es nicht wagen, die Bevölkerung einzubeziehen, oder gar die Grenzziehung des Friedensvertrages, die an die Umstände angepasst worden war, ungefragt zu ändern.“49 Wir erinnern uns: Noch im Januar 1920 hatte Le Rond Štefan Osuský erklärt, dass die eingezeichnete Linie weder endgültig noch verbindlich war. Es ist schwer einzuschätzen, ob es sich schon damals um eine Ausweichtaktik gehandelt hat oder ob Le Rond schlicht und ergreifend umfangreichere Grenzziehungarbeiten hatte vermeiden wollen. Seine Meinung führte jedenfalls dazu, dass die liberale Haltung der Kommission gedämpft wurde. Diese fasste auf ihrer Sitzung vom 27. April 1920 den Beschluss, die Grenze entlang der nördlichen Katasterenden der 49
Ebenda, S. 52, čj. 331, Bericht über die bisherigen Verhandlungen und diesbezüglichen Vorschläge.
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Gemeinden Thröm, Zauditz, Rohow (Rohov), Strandorf (Strahovice), Kuchelna (Chuchelná), Sandau, Owschütz, Haatsch und Schillersdorf (Šilheřovice) zu ziehen. Zwischenzeitlich waren jedoch weiterhin Verhandlungen über die Eingliederung von Kranowitz geführt worden, worauf die Polen bereitwillig verzichteten. Abgesehen davon, dass diese Initiative nicht die geringste Chance gehabt hätte, von den Vertretern der Großmächte anerkannt zu werden, so stieß sie auch bei Štefan Osuský und Edvard Beneš auf gewisse Befürchtungen, die nicht beabsichtigten, eine Revision des Versailler Vertrages zu riskieren.50 Die genannten Gemeinden Haatsch, Sandau und Owschütz sprach die Kommission im Juni 1920 der Tschechoslowakei zu. Auf diese Beschlussfassung reagierte Edvard Beneš augenblicklich, indem er eine Intervention bei der Botschafterkonferenz in Bezug auf die sofortige Besetzung der Dörfer veranlasste, die für den 30. Juli geplant war. Die deutsche Seite focht diese Entscheidung jedoch an. So entschied die Botschafterkonferenz letztendlich, dass eine endgültige Festlegung der Grenzen erst nach dem Abschluss der Volksabstimmung erfolgen konnte. Der Termin für die Durchführung des Plebiszits wurde auf März 1921 gelegt.51 Es entstand eine schwierige Situation. Die Botschafterkonferenz nutzte in ihrem Beschluss den Wortlaut des Abkommens zwischen der tschechoslowakischen Delegation und General Le Rond. Darin wurde die Grenze der Plebiszitzone festgelegt und bestimmt, welche inkriminierten Dörfer zu dieser Zone gehören sollten. Damit wurde der Grenzkommission das Recht abgesprochen, über die im Friedensvertrag festgelegten Grenzführungsfragen zu entscheiden. Die betroffenen Gemeinden gerieten auf diese Weise in eine Sondersituation. Formell sollten sie zur Tschechoslowakei gehören; es wurde sogar die Staatsgrenze festgesetzt, die tatsächliche Machtgewalt übte hier Deutschland aus.52 Am 15. Dezember 1920 stellte die Grenzkommission dann ihre Grenzabsteckungsarbeit vorläufig ein. Die neue Staatsgrenze wurde lediglich im deutschen Landkreis Ratibor offiziell gezogen. Dort, wo sie an den Kreis Leobschütz heranreichte, war die theoretische Möglichkeit gegeben, dass das Gebiet nach der Volksabstimmung an die Tschechoslowakei fiel. Der erwartete Erfolg stellte sich für die Tschechoslowakei jedoch nicht ein und so entstand an den Grenzen ein „blinder Fleck“, den es zu beseitigen galt, d.h. die Grenze musste später offiziell abgesteckt werden.
50 51 52
Ebenda, S. 52, čj. 308, Grenzfestlegung im Kreis Ratibor. Ebenda, S. 52, čj. 1812/1920, f. II. sekce 1918–1939, III. řada, S. 133 A, Výtah z hugesogramu s Paříží dne 27. VII. Ebenda, f. II. sekce 1918–1939, III. řada, S. 133 A, unbeschriftet, unbeschrieben.
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Auch die Tätigkeit der Kommission verlief nicht ohne Komplikationen. Der französische Leiter wurde vornehmlich der Langsamkeit und Befangenheit bezichtigt. In den ersten Wochen musste er sich einer breiten Kritik stellen: „Die Arbeiten der tschechisch-polnischen Grenzkommission verlaufen so langsam, dass die Grenzfestlegung im Hultschiner Ländchen laut Experten bei diesem Tempo 4–5 Monate dauern wird. Wenn man bedenkt, dass die Grenze in dieser Region eindeutig ist und es sich dabei bloß um eine Strecke von ca. 42 Kilometern handelt, können wir schlussfolgern, dass die Festlegung der österreichischen oder slowakischen Grenzen unter der Leitung des derzeitigen Präsidenten dieser Kommission mehrere Jahrzehnte dauern würde, denn Präsident Uffler ist ein Funktionär, der mit seiner peniblen Genauigkeit, seiner Unprofessionalität und seinem Bürokratismus die Arbeiten fürchterlich verzögert. Außerdem ist er uns gegenüber voreingenommen, also wenig wohlgesinnt.“53 Selbst das Außenministerium verlangte, ihn gegen eine geeignetere Person auszutauschen. Bald wurde Uffler jedoch deutlich entgegenkommender bewertet. Auch die tschechoslowakischen Vertreter der Grenzkommission äußerten die Bitte, den französischen Oberstleutnant in seiner Funktion zu belassen.54 Die Kommissionsmitglieder beherrschten ihr diplomatisches Handwerk und ließen keinen Verdacht aufkommen, befangen zu sein. Jaromír Špaček fasste es so zusammen: Machten die Kommissare Zugeständnisse zugunsten einer Seite, dann versuchten sie zugleich, der anderen Seite eine adäquate Kompensation zu bieten. Auch darin sah er eine Ursache dafür, dass sich die Verhandlungen verzögerten und komplizierter erwiesen als gedacht. Ein nicht unbedeutendes Problem stellten eine säumige Arbeitsweise und die mangelnde Disziplin der Kommissionsmitglieder dar. Abgesehen von den Beschwerden über eine ausgiebige Verwendung der Fahrzeuge für private Zwecke (obwohl die Kommissare einen Anspruch auf kostenlose Bahnfahrten erster Klasse hatten) und über Fahrten des Hilfspersonals in höherklassigen Eisenbahnwaggons, die nicht als nötig angesehen wurden, lastete man den Kommissaren Verschwendung an. Jaromír Špaček fasste dies so zusammen: „Die alliierten Kommissionsmitglieder erheben ihre Ansprüche wirklich nachdrücklich, was Komfort und ein angenehmes Leben betrifft, und sie sind keinesfalls bescheiden. Es bedürfte wirklich einer großen Selbstentäußerung, um ihre Ansprüche nicht einfach zurückzuweisen.“55 Wie er weiter ausführte, war eine solche Einschränkung nicht denkbar, weil die Tschechoslowakei 53 54 55
Ebenda, f. Mírová konference v Paříži, k. 52, čj. 6060. Ebenda, S. 52, Abschrift des Telegramms des Oberleutnants Jelínek vom 10.04.1920. Ebenda, S. 52, čj. 331, Bericht über die bisherigen Verhandlungen und diesbezügliche Vorschläge.
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darauf angewiesen war, auf eine günstige Abstimmung hinzuwirken. Špaček fuhr jedoch mit seiner Kritik fort: „Die Herren erheben oft Ansprüche, die zu der Annahme führen müssen, dass sie ihre Aufgabe als Ausflugs- und Vergnügungsreise oder Dienstreise bzw. offizielles Treffen in irgendeiner afrikanischen Kolonie ansehen, wobei man keine Rücksicht auf die Gefühle der Bevölkerung nehmen muss.“56 Die Arbeiten der Grenzkommission waren definitiv nicht einfach. Die deutsche Presse fachte eine Hetzpropaganda an und die Bevölkerung radikalisierte sich, denn es war gelungen, in der Öffentlichkeit die Ansicht zu verbreiten, dass die Eingliederung des Hultschiner Ländchens nicht endgültig und eine Zugehörigkeit zu Deutschland möglich war, sofern die Volksabstimmung in Oberschlesien zu deutschen Gunsten ausfiel. Es kam auch zu Überfällen auf die Kommissionsmitglieder. Beispielsweise bedrohten Einheimische die Mitarbeiter der Grenzkommission am 17. März 1920 in Ratsch mit Äxten und Handgranaten.57 In Haatsch soll die lokale Bevölkerung die ankommenden Kommissionsmitglieder angeblich mit Dreschflegeln und Mistgabeln empfangen haben.58 Die Bevölkerung versuchte, eine Reihe von Grenzsteinen auf unterschiedliche Weise zu beseitigen. Dies geschah meist mechanisch mit Hilfe von Spaten und Spitzhacken. Der Einsatz von Sprengstoff gehörte jedoch ebenfalls nicht zu den Ausnahmen.59 Die Tätigkeit der Kommission wurde darüber hinaus als äußerst langwierig und kostspielig beurteilt. Dieser Umstand war jedoch hauptsächlich auf objektive Faktoren zurückzuführen, weil es sich überhaupt um die erste Kommission handelte, die bezüglich tschechoslowakischer Grenzen ihre Arbeit aufgenommen hatte. Während der Vermessungs- und Vermarkungsarbeiten sammelten einzelne Kommissionsmitglieder erste Erfahrungen im Gelände und machten sich mit den damit verbundenen Aufgaben vertraut. Der tschechoslowakische Kommissar Jaromír Špaček schrieb jedoch in seiner Beurteilung, dass eine langsame Vermessungstätigkeit im Interesse einzelner Mitglieder lag, die nicht geringe Gehälter bezogen und von den Verzögerungen persönlich profitierten. 56 57 58 59
Ebenda, S. 52, čj. 331, Bericht über die bisherigen Verhandlungen und diesbezügliche Vorschläge. Ebenda, S. 52, Abschrift des Berichts von Jaromír Špaček. Ebenda, S. 52, Selbsthilfe der Gemeinde Haatsch, Abschrift des Zeitungsartikels. Im Grenzabschnitt nördlich von Sandau fanden Techniker fünf zertrümmerte Steine und Berichten der Bevölkerung zufolge soll es in Richtung Kuchelna noch mehr davon geben haben. Als Reaktion auf diese Sabotage forderten die tschechoslowakischen Vertreter eine sofortige Grenzbesetzung. AMZV, f. II. sekce 1918–1939, III. řada, S. 133 A, Zpráva Viktora Dvorského, 07.08.1920, des Weiteren: Poškození hranečníků čís. 70 a 74 na říšské hranici německými příslušníky.
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Nachdem die Volksabstimmung durchgeführt worden war, musste die Grenzziehung erneut ins Auge gefasst werden. Die bisherige tschechoslowakisch-polnische Kommission wurde am 1. März 1922 rekonstituiert. Einige Mitglieder wurden ausgetauscht, doch vor allem trat an die Stelle des polnischen ein deutscher Vertreter. Die neue Kommission hatte zur Aufgabe, den bisherigen Grenzverlauf zu revidieren und die deutschen Einwände zu berücksichtigen.60 Unterdessen erwarteten die tschechoslowakischen Vertreter eine Bestätigung ihres bisherigen Standpunktes durch die Kommission. Der deutsche Kommissar griff jedoch die bestehende Grenzregelung als ungültig an, weil sie aus den Verhandlungen mit Polen hervorgegangen war, und schlug vor, im Falle strittiger Dörfer (Haatsch, Sandau und Owschütz) zusätzlich die Meinung der Bevölkerung einzuholen. Dieser Vorgang hätte Deutschland zusätzliche Vorteile verschafft. Einige Kommissionsmitglieder, die bis dahin eine unerschütterliche protschechoslowakische Haltung eingenommen hatten, änderten daraufhin ihre Meinung. Die Frage nach der Grenzziehung entwickelte sich bis zu einem gewissen Grad zu einem rhetorischen Wortgefecht zwischen dem tschechoslowakischen und dem deutschen Kommissar, wobei beide versuchten, die übrigen Beteiligten von der Richtigkeit ihrer Argumente zu überzeugen. Parallel dazu begann ein Ringen um Einflussnahme hinter den Kulissen, was sich insbesondere durch neue Vorschläge und in Form von persönlichen Sympathiebekundungen oder im Gegensatz dazu ausgesprochene Animositäten zeigte. Die Lage wurde immer unübersichtlicher und in manchen Punkten gewann Deutschland an Boden. Weil eine gemeinsame Abstimmung über alle drei Gemeinden nicht unbedingt bedeuten musste, dass das Ergebnis zugunsten der Tschechoslowakei ausfiel, gelang es den tschechoslowakischen Diplomaten, separate Abstimmungen durchzusetzen. Im Dezember wurde daher der Beschluss gefasst, dass Owschütz bei Deutschland verblieb, während Haatsch an die Tschechoslowakei gehen sollte. Eine Entscheidung über Sandau versuchte der tschechoslowakische Vertreter aufzuschieben. Dieser Schritt resultierte nicht nur daraus, dass er dadurch mehr Zeit für eine argumentative Vorbereitung zu gewinnen gedachte, vielmehr rechnete er auch fest mit dem Austausch einiger Kommissionsmitglieder.61 Auf ihrer fünften Sitzung vom 14. März 1923 fällte die Kommission die Entscheidung, dass auch Sandau in die Tschechoslowakei eingegliedert werden 60 61
Ebenda, f. II. sekce 1918–1939, III. řada, S. 133 A, Zpráva čsl. komisaře o stavu jednání na hranici čsl.-německé na Ratibořsku. Ebenda, f. II. sekce 1918–1939, III. řada, S. 133 A, II. a III. zpráva čsl. komisaře pro stanovení stát. hranice o jednání delimitační komise čsl.-německé.
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sollte. Gleichzeitig wurden einige kleine territoriale Anpassungen zugunsten Deutschlands vorgenommen. So bekam Deutschland die Siedlung Rakowetz (Rakowiec) zugesprochen, die sich im Katastergebiet von Schillersdorf befand. Die Westgrenze des Hultschiner Ländchens sollte, bis auf geringfügige Änderungen, entlang der früheren Grenzlinie zwischen den Landkreisen Leobschütz und Ratibor verlaufen. In den frühen Morgenstunden des 16. März 1923 wurden Haatsch und Sandau militärisch besetzt. Mit diesem Schritt wurde die Nordgrenze des Hultschiner Ländchens definitiv festgelegt. Die Grenzkommission beendete ihre Tätigkeit erst am 24. April 1924, viel später, als die Politiker vorausgesehen hatten.62 Vor der Aufnahme der Arbeiten waren doch durchweg optimistische Schätzungen abgegeben worden. So hatte beispielsweise Štefan Osuský erwartet, dass es die Grenzkommission schaffen würde, ihre Tätigkeit auf diesen wenigen Kilometern noch vor der Durchführung der Volksabstimmung im Frühjahr 1920 vollenden zu können, was tatsächlich aber erst im März 1921 gelang.63 Die Kosten für die Arbeit der Kommission beliefen sich auf fast 1,5 Mio. ČSK und sollten von den betroffenen Ländern gedeckt werden. Polen weigerte sich jedoch, die finanzielle Belastung zu tragen und argumentierte damit, dass es in Folge des Plebiszites keine Gebiete nördlich der Linie hinzugewonnen hatte. Deutschland sollte seinen Anteil an Auslagen in Höhe von 684.000 ČSK entrichten.64 Aus den zugänglichen Quellen geht jedoch hervor, dass der Anteil nicht bezahlt wurde.
Fazit
Das Hultschiner Ländchen ist ein Produkt der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Während die frühere historiographische Publizistik nahezu ausschließlich von der Rückgabe des Hultschiner Ländchens an die tschechischen Gebiete geschrieben hat, habe ich versucht, eher von seiner Entstehung – oder metaphorisch ausgedrückt – von seiner Genese zu sprechen. Es ist evident, dass es zu Beginn der diplomatischen Verhandlungen kein Hultschiner Ländchen gegeben hat, das es ein Objekt tschechoslowakischen Interesses gewesen wäre. Die Tschechoslowakei beharrte auf dem Zugewinn einer größeren Region Oberschlesiens, vor allem im Hinblick auf die dortigen Steinkohlelagerstätten. Sobald die tschechoslowakischen Ansprüche aber allmählich mit den polnischen kollidierten, wurde die Chance auf den 62 63 64
AMZV, f. Mírová konference v Paříži, S. 52, č. 3812, Delimitace československo-německá. Ebenda, S. 52, Zpráva Štefana Osuského. Ebenda, S. 52, č. 770/29, Výlohy delimitační komise.
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Gewinn des erwünschten Territoriums zunehmend geringer. Obwohl es im ersten Augenblick schien, als würden die tschechoslowakischen Ansprüche auf Oberschlesien ins Leere laufen, gelang zumindest die Eingliederung eines nicht unbeträchtlichen Gebietes nördlich von Ostrau. Die Gestalt der Region stimmt mit keinem der Entwürfe überein, die von der tschechoslowakischen Diplomatie präzise ausgearbeitet wurden. Sie respektiert auch nicht die objektiven Gegebenheiten, die für die Festlegung von Grenzen heranzogen werden sollten, wie z.B. Wasserläufe, Grenzen von Pfarreigebieten, kirchlichen Dekanaten oder der Erzdiözese Olmütz. Der Gewinn des Hultschiner Ländchens hat die Erwartungen nicht erfüllt. Die Lagerstätten von Kohle und Salz blieben fernab der Grenze, ebenso wie eine Reihe von „mährischen Dörfern“. Die Abtretung dieses Gebietes an die Tschechoslowakei wurde nicht aufgrund der Kenntnis der vorgelegten Unterlagen, sondern mechanisch entschieden – oder wie es eine Tageszeitung nannte – auf afrikanisch. Es ist nicht ganz klar, wer die Änderung des Artikels 83 des Friedensvertrages initiierte, in dem der Vorsitzende der Plebiszitkommission, General Le Rond, die Abtretungsgebiete auf der Karte kennzeichnete. Le Rond ist nicht nur der symbolische Vater des Hultschiner Ländchens in dem Sinne, dass er die berühmte Linie einzeichnete, sondern er ist eher so etwas wie ein Deus ex machina, der während der Vermessungs- und Vermarkungsarbeiten in den Entscheidungsprozess eingriff und diesen auf besondere Weise beeinflusste. Gerade er untergrub die Autonomie der Grenzkommission, obwohl der Friedensvertrag dieser Kommission die Zusicherung dafür gab. Die Grenzziehung selbst stellte ebenfalls keine leichte Aufgabe dar. Sie wurde von einer Reihe von Schwierigkeiten begleitet, wie etwa dem Unwillen der einheimischen Bevölkerung. Vor allem bestand die große Herausforderung darin, alle Kommissare zu einem gemeinsamen Konsens zu führen. Bei der Beschlussfassung über die Zugehörigkeit einzelner Dörfer haben im Falle einiger Kommissare letztendlich nicht lediglich die Raumkenntnis, sondern das diplomatische Protokoll, gemeinsame Sympathien oder Antagonismen eine Rolle gespielt. Entscheidend waren die Konstellationen geopolitischer Beziehungen. Die Schaffung des Hultschiner Ländchens ist diesbezüglich ein Paradebeispiel für die Auswirkung von politischen Machtspielen auf das Leben einfacher Menschen. Die folgende Entwicklung hat letztendlich gezeigt, wie die Bevölkerung mit dieser Situation fertig wurde. Abschließend möchte ich mir nicht nehmen lassen, einen häretischen Gedanken zu äußern. Das Hultschiner Ländchen dürfte überhaupt nicht existieren. Würde es gegenwärtig zu Polen gehören, wäre es keine eigenständige Region, sondern ein natürlicher Teil des Powiat Raciborski (polnischer Kreis Ratibor). Als Relikt früherer Zeiten wären manche Bräuche und
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das Rosenkranzgebet in der hiesigen Mundart in den Gottesdiensten erhalten geblieben. Oder umgekehrt hätten einige Gemeinden, die seinerzeit schon zu Polen gehörten und hinter der imaginären Linie des Generals Le Rond lagen, ein Teil des Hultschiner Ländchens sein können. Aber das führt auf die Ebene der alternativen Geschichtsschreibung.65 Aus dem Tschechischen von Gregor Ploch
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Der Text entstand im Rahmen des Projekts SGS12/FF/2023 Československá společnost v první polovině 20. století II.
Keine Abstimmung im Teschener Schlesien Bartholomäus Fujak Der Erste Weltkrieg veränderte das Antlitz und die politische Lage Europas. Die Kaiserreiche zerfielen und auf der Karte tauchten Staaten auf, die es noch nie oder zumindest längere Zeit nicht als unabhängige Staaten gegeben hatte, darunter Polen und die Tschechoslowakei. Die Grenzbestimmung verlief nicht ohne Probleme und so wurden die Siegermächte bei ihrer Entscheidung hinsichtlich der neuen Grenzziehung in Europa vor viele Probleme gestellt. Die Konflikte bestanden nicht nur an den Grenzen zu den Achsenmächten, sondern teils auch zwischen den neuen Staaten, die aus den Trümmern der alten Monarchien erwuchsen. So war es auch bei der Grenzbestimmung zwischen der Tschechoslowakei und Polen. Während die Tschechoslowakei auf dem Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie ihre Grenzen absteckte, erstreckte sich das neue Polen auf die Gebiete des zaristischen Reiches, des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie. Bei der Staatsgründung gerieten Polen und die Tschechoslowakei daher in einen Konflikt über die Abgrenzung beider Länder. Während sich die Entente in anderen Grenzbereichen darauf geeinigt hatte, die Streitfälle durch ein Plebiszit zu entscheiden, war die Grenzbestimmung zwischen Polen und der Tschechoslowakei, besonders im umstrittenen Teschener Schlesien, nicht auf diese Art und Weise entschieden worden. Doch warum wählten die Siegermächte im Teschener Schlesien eine andere Lösung in der Grenzfrage, wie kam es dazu und welche Folgen hatte diese Entscheidung für die Beziehung zwischen Polen und der Tschechoslowakei?
Die Habsburgermonarchie zerfällt
Mit dem Verlauf des Ersten Weltkrieges nahm im Teschener Schlesien die Armut zu und die Versorgung mit Lebensmitteln wurde zunehmend schlechter. Nicht nur die Zivilbevölkerung, auch die Soldaten in der Teschener Garnison zweifelten am Sieg, vor allem diejenigen, die bereits aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und erneut einberufen worden waren. Dies betraf in der Teschener Kaserne immerhin 200 von insgesamt 600 Soldaten. Die Zusammensetzung des Regiments der Teschener Kaserne entsprach derjenigen der Bevölkerung der Region, die Soldaten waren ethnisch gesehen Polen, Tschechen und Deutsche. Anfänglich hatte es einen gewissen
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_028
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Kriegsoptimismus und eine Phase von politischer Einheit gegeben, sowohl in der Politik als auch beim Militär, doch mit dem Verlauf des Krieges und der Entwicklung der Lage an den Fronten wurden Forderungen der einzelnen Nationen im Habsburgerreich immer lauter. Mit der Stimmung kippten auch die politischen Verhältnisse: Die polnische Bevölkerung sprach sich offen für eine Unabhängigkeit Polens aus, die Deutschen und die „Ślązakowcy“ (Schlesier) verbündeten sich gegen die Polen. Ende Mai 1918 verbanden sich die deutschen politischen Parteien unter dem Namen „Deutscher Volksrat für Ostschlesien“ mit dem Ziel, die Stellung der hiesigen Deutschen zu halten, und zwar, wenn es nicht mit dem schwächer werdenden Österreich-Ungarn funktionierte, so eben in Anlehnung an das Deutsche Reich. Besonders die Bielitzer Politiker verfolgten diese Ziele und wurden vom Teschener Stadtrat unterstützt. Wie unterschiedlich sich die Ziele der Polen und der Deutschen gestalteten, wurde im Oktober 1918 deutlich, als die Habsburgermonarchie zerfiel. Doch damit nicht genug, zusätzlich erschienen die Tschechen auf der politischen Bühne des Teschener Schlesiens als dritte Partei, die eine der Hauptrollen übernahm.1 Bereits am 2. Oktober 1918 legten die polnischen Gesandten dem Wiener Reichsrat die Forderung zum Wiederaufbau eines unabhängigen Polens vor, und zwar mit Zugang zum Meer und mit allen Gebieten, die von Polen bewohnt wurden, was somit auch Oberschlesien und Österreichisch-Schlesien einschloss. Wenige Tage später, am 10. Oktober 1918, trafen sich polnische Gesandte in Krakau und beschlossen die Vorbereitung der Machtübernahme von Österreich-Ungarn in einem dafür günstigen Augenblick. Damit folgten die Krakauer dem Aufruf des Warschauer Regentschaftsrates vom 7. Oktober 1918, der sich wiederum auf die 14 Punkte des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson, vom 8. Januar 1918 berief. Bei diesem Treffen waren ebenfalls zwei Teschener Gesandte anwesend, Tadeusz Reger und der Priester Józef Londzin.2 Wenige Tage später, am 12. Oktober 1918, trafen sich im Polnischen Haus (Dom Narodowy) in Teschen die Repräsentanten der polnischen politischen, sozialen und kulturellen Organisationen. Nach den Berichten von Reger und Londzin aus Krakau und auf Józef Kiedrońs Vorschlag hin wurde beschlossen, dass sich ein Schlesisches Interparteiliches Komitee (Śląski Komitet Międzypartyjny) nach dem Vorbild des Krakauer polnischen Komitees für Galizien begründen sollte. Das Komitee sollte aus 21 Mitgliedern bestehen, gleichmäßig aufgeteilt 1 Bogus, Marzena/Dawid, Łucja/Gojniczek, Wacław u.a.: Cieszyn od Wiosny Ludów do III Rzeczpospolitej, Bd. 3, in: Panic, Idzi (Hg.): Dzieje Cieszyna od pradziejów do czasów współczesnych, Cieszyn 2010, S. 223–224. 2 Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 227.
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unter den 3 Parteien (Polska Partia Socjalno-Demokratyczna Galicji i Śląska, Związek Śląskich Katolików und Polskie Zjednoczenie Narodowe), so dass jede Partei sieben Personen, darunter eine Frau, stellte; am 19. Oktober sollte bereits die erste Versammlung abgehalten werden. Sie verabschiedete eine Resolution, die unter anderem die bedingungslose Zugehörigkeit des Teschener Schlesiens zum unabhängigen und wiedervereinten Polen bekundete. Als Kaiser Karl I. am 16. Oktober 1918 versuchte, die Monarchie zu retten und das Manifest verabschiedete, das die Bildung von lokalen, nationalen Selbstverwaltungen erlaubte, stand bereits die Zusammensetzung der polnischen Vertretung fest. Das kaiserliche Manifest begünstigte die polnischen Bestrebungen, da es die Übernahme der Macht von österreichischen Beamten ermöglichte. So konstituierte sich das schlesische Komitee am 19. Oktober 1918 unter dem Namen Rada Narodowa Księstwa Cieszyńskiego (RNKC) [Nationalrat des Herzogtums Teschen (NHT)] und bildete somit das erste unabhängige polnische Organ in den von Polen bewohnten Gebieten. Die Bevölkerung sprach bei zahlreichen Kundgebungen in den Städten des Herzogtums Teschen, wie Orlau (tsch. Orlova, poln. Orłowo), Oderberg (tsch. Bohumín, poln. Bogumin) und vor allem Teschen (tsch. Těšín, poln. Cieszyn), ihre Unterstützung für den Rat aus und stärkte so dessen Position.3 Am 21. Oktober 1918 informierten die polnischen Politiker den Landeshauptmann in Troppau tsch. Opava, poln. Opawa), Adalbert von Widmann, über die Vorgänge in Teschen. Dieser nahm die Ereignisse zur Kenntnis und leitete die Informationen an das Ministerium des Inneren in Wien weiter, wovon er den NHT am 25. Oktober informierte.4 Noch am gleichen Tag lehnte es der deutsche Stadtrat Teschens ab, sich den Polen unterzuordnen und verkündete die volle Autonomie der Stadt sowie die Übernahme der Funktion des Landrates. Gleichzeitig wurde der Beitritt zu Deutschösterreich verkündet.5 Zwei Tage später versammelten sich bei einer Kundgebung des NHT auf dem Marktplatz von Teschen tausende Menschen, welche die polnischen Bestrebungen unterstützten, die deutschen Bestrebungen ablehnten und die Teschener dazu aufriefen, aus den deutschen Parteien auszutreten und diese nicht länger zu unterstützen. Vor allem in den Städten gab es eine bedeutende Anzahl an Deutschen und deutschfreundlichen Ślązakowcy, doch auch hier konnte keine Einigung in den Bestrebungen erreicht werden. Während die Troppauer Deutschen sich für die Gründung des Sudetenlandes einsetzten, das die Gebiete des 3 Przeperski, Michał: Nieznośny ciężar braterstwa. Konflikty polsko-czeskie w XX wieku, Kraków 2016, S. 133–135; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 227–229. 4 Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 229. 5 Ebenda, S. 224.
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Troppauer Schlesiens und Nordmährens umfassen sollte, strebten vor allem die Teschener und Bielitzer Deutschen die Schaffung eines neutralen Deutschen Staates auf den Gebieten des Teschener Schlesiens und Galiziens an. Die Tschechen strebten die Tschechoslowakei an, als Staat, der die böhmischen Länder mit der Slowakei unter Einhaltung der historischen Grenze der Böhmischen Krone vereinen sollte, also einschließlich Österreichisch-Schlesiens.6 Die NHT agierte weiter und festigte ihre Macht, indem sie ihren Vorteil aus der fehlenden Einigkeit über die Ziele bei den Deutschen zog und aus der Schwäche der Tschechen, die sich im Teschener Schlesien später organisierten als die Polen. Daran änderte auch Widmanns Schreiben vom 29. Oktober 1918 an den NHT nichts, in dem er diesen darüber informierte, dass die Idee der rechtmäßigen Übernahme der politischen Macht nicht korrekt war. In der Tat gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine anerkannte polnische Regierung in Warschau und selbst der Polnische Liquidationsausschuss Galiziens und des Teschener Schlesiens (Polska Komisja Likwidacyjna Galicji i Śląska Cieszyńskiego) entstand erst am 28. Oktober 1918. Am gleichen Tag wurde in Prag die Tschechoslowakische Republik proklamiert und durch die Alliierten international anerkannt. Eine solche Anerkennung fehlte für den sich noch in der Bildungsphase befindlichen polnischen Staat. Als die Tschechen am 30. Oktober das Tschechische Gebietskomitee für Schlesien (TGS) [Zemský národní výbor pro Slezsko (ZNV)] gründeten und somit anfingen, die Aktivitäten der Polen und des NHT im Sinne der protschechischen Bevölkerung zu imitieren, verkündete der NHT, dass das Teschener Schlesien in Anlehnung an den Willen der Bevölkerung und die Worte des Präsidenten Wilson zum unabhängigen Polen gehörte und dass der NHT nun die Macht übernahm. Weiter wurde bekanntgegeben, dass die endgültige Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei von den Regierungen in Warschau und Prag festgelegt werden sollte. Noch am gleichen Tag, am 30. Oktober 1918, trat der Teschener Rat mit der Information an die Landräte von Teschen (Jaxa von Bobowski) und Bielitz (Dr. Jakub Podczaski) heran, dass er gedenke, die Macht im Teschener Schlesien zu übernehmen. Beide Landräte beriefen sich auf das Fehlen von Instruktionen aus Wien und Troppau. Als erfolgreich stellte sich die schnelle Einberufung der Gemeindevorsteher heraus, von denen 60 noch am 30. Oktober in Teschen ein Gelöbnis gegenüber dem Rat ablegten. Weitere folgten diesem Beispiel bis Ende des Monats. Diesmal handelten die Polen schneller, eine ähnliche Bekanntmachung durch den TGS erfolgte erst am 1. November 1918. Im Ergebnis des anfänglichen Spiels um die Machtsicherung 6 Ebenda, S. 230–231.
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kontrollierte weder die eine noch die andere Streitpartei das gesamte Gebiet des Teschener Schlesiens.7 Am 31. Oktober 1918 entschied der NHT, einen Aufruhr in der Teschener Kaserne zu akzeptieren, der von polnischen Offizieren der Garnison vorbereitet worden war. Ähnliche Pläne hatten auch deutsche Offiziere, die nach der Verhaftung polnischer und tschechischer Offiziere die Macht übernehmen und das Herzogtum Schlesien an das Sudetenland anschließen wollten. Den polnischen Offizieren waren diese Pläne bekannt, so dass Eile geboten war. Während einer Versammlung polnischer Offiziere, bei der die Machtübernahme besprochen wurde, kam aus Krakau ein telefonischer Befehl von Brigadier Bolesław Roja. Mit diesem informierte er darüber, dass er das Kommando in Krakau übernommen hatte und forderte die dienstältesten polnischen Offiziere anderer Garnisonen auf, es ihm gleichzutun. In dieser Situation handelten die polnischen Offiziere sofort und besetzten die wichtigsten strategischen Punkte in Teschen mit loyalen polnischen Soldaten, deren Anteil in der Garnison etwa 60 Prozent ausmachte. Sie sicherten somit die Kontrolle über die Stadt. Das überraschte die Deutschen und Oberst Gernt, den Befehlshaber der Teschener Garnison, der daraufhin das Kommando niederlegte. In Teschen wehten polnische Fahnen, durch das Erlangen der Kontrolle über die Garnison wurde die Macht der NHT in Teschen gesichert. Kurz darauf folgten die Städte Bielitz (Bielsko) und Skotschau (Skoczów). Weitere Schritte zur Machtfestigung waren die am 1. November 1918 vollzogene Unterordnung und Anerkennung der NHT durch den Bielitzer Landrat Jakub Podczaski und den frisch ernannten Teschener Landrat Zygmunt Żurawski, die Bekundung der Loyalität der NHT gegenüber dem Landesgerichtspräsidenten in Teschen, Johann Harbich, und die Einigung mit der von Deutschen dominierten Teschener Gemeindeverwaltung. Ein Kompromiss mit den Deutschen war damals sehr wichtig, da das städtische Leben sowohl in Teschen als auch in den übrigen Städten des Teschener Schlesiens mehrheitlich von ihnen dominiert wurde. So übernahm der NHT auf dem von ihm kontrollierten Gebiet zum Abend des 1. Novembers 1918 die politische Macht. Die tschechische Zeitung „Národní listy“ [Volksblätter] berichtete am folgenden Tag, dass die Polen ihre alten chauvinistischen Pläne mit Gewalt realisiert hätten. Dabei erwähnte der Autor, dass keine andere Möglichkeit existierte, als dass das komplette Herzogtum Teschen zur Tschechoslowakei gehörte. Am 3. November 1918 teilte das tschechische Militärkommando in Prag mit, dass das gesamte Teschener Schlesien als tschechisch anzusehen sei und dass Teschen und Oderberg mit tschechoslowakischen Truppen zu besetzen wären. In der Tat waren in den 7 Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 135–139; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 231–232.
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Kasernen, wie in der Teschener Kaserne, sowohl polnische als auch tschechische Bataillone, die sich aus den zerfallenen k. u. k. Einheiten formiert hatten, stationiert. Das polnische Bataillon war durch die Unterstützung der örtlichen Bevölkerung leicht im Vorteil und die Einigung der polnischen und tschechischen Regional-Behörden beinhaltete den Ausmarsch des tschechischen Bataillons mit seiner Ausrüstung nach Friedeck (Frýdek), wo es wiederum eine tschechische Mehrheit in der Stadtbevölkerung gab. Am 4. November 1918 wurde die Polnische Miliz des Teschener Schlesiens (Milicja Polska Śląska Cieszyńskiego) unter dem Befehl von Leutnant Jerzy Szczurek aufgestellt, den Oberbefehl über das polnische Militär im Teschener Schlesien übernahm General Franciszek Aleksandrowicz, der am 17. November von Oberst Franciszek Latinik, dem früheren Kommandanten des Teschener k. u. k. InfanterieRegiments 100, abgelöst wurde.8
Die vorläufige Entscheidung vom 5. November 1918
Am 5. November 1918 kam es zu einer vorläufigen Vereinbarung zwischen dem polnischen NHT und der tschechischen TGS bezüglich der Grenzen. Das Dokument sprach von einer vorübergehenden Lösung der Grenzfrage, die später durch die Regierungen in Prag und Warschau entschieden werden sollte. Beide Regierungen erkannten dieses Dokument an und spielten dabei auf Zeit. Die Grenze im Teschener Schlesien wurde in Anlehnung an die Sprachgruppenzugehörigkeit von 1910 festgelegt. Die TGS kontrollierte den Kreis Friedeck, die NHT die Kreise Teschen und Bielitz. Der Kreis Freistadt wurde zwischen beiden aufgeteilt. Die Verwaltung sollte bestehen bleiben. Dabei erforderten alle personellen Veränderungen im Bereich der Beamtenschaft beiderseitige Zustimmung. Dieser Punkt war für die polnische Seite von Nachteil, da die meisten Beamten in der Verwaltung der Habsburgermonarchie Deutsche und Tschechen waren. Die Polen erhielten die Kontrolle über 77 Prozent der Region, für einen Bereich des Teschener Schlesiens, der zu 70 Prozent von Polen, zu 21,5 Prozent von Deutschen und zu 5,5 Prozent von Tschechen bewohnt wurde. Die tschechoslowakischen Bereiche waren zu 70,2 Prozent von Tschechen, zu 18,9 Prozent von Polen und zu 9,5 Prozent von Deutschen besiedelt. Der größte Teil der hiesigen Industrie lag auf tschechischer Seite, während sich der entsprechende Abschnitt der Kaschau-Oderberger Eisenbahn auf polnischer Seite befand. Diese vorläufige Grenzziehung betrachteten 8 Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 232–234; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 140–144.
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die Polen zugleich als eine endgültige Lösung, jedoch wurde diese Meinung von der tschechoslowakischen Seite nicht geteilt.9 Zunächst verstrichen zwei Wochen, in denen die Verhältnisse zwischen beiden Seiten recht gut waren. Es gab vereinzelt Vorfälle, wie die Vertreibung des tschechischen Zechendirektors in Nieder Suchau, diese wurden jedoch meist durch die Unzufriedenheit der Arbeiter ausgelöst und waren das Resultat der schlechten Lebensmittelversorgung sowie einer starken Ausbreitung von Krankheiten, wie der Spanischen Grippe. Als Józef Piłsudski am 11. November 1918 in Warschau zum vorläufigen Staatsoberhaupt ernannt wurde und er die Regierung unter Jędrzej Moraczewski ernannte, nahm der NHT offiziell Kontakt zu dieser auf. Am 25. November gab es in Warschau eine Sitzung der polnischen Regierung, die sich mit den Angelegenheiten des Teschener Schlesiens befasste. An ihr nahmen die Teschener Hilary Filasiewicz, Józef Londzin und Tadeusz Reger teil und erkannten offiziell die Regierung von Moraczewski an. Während der Sitzung wurden die Bedingungen für die Zusammenarbeit der polnischen Regierung mit dem NHT festgelegt. Die Regierung fasste einen Beschluss, der den NHT bevollmächtigte, in ihrem Namen im Teschener Schlesien zu agieren. Als das Staatsoberhaupt per Dekret vom 28. November 1918 Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung für den 26. Januar 1919 ankündigte, wurden auch die Gebiete des Teschener Schlesiens, die nach der vorläufigen Vereinbarung unter polnische Kontrolle fielen, sowie die polnischen Teile von Zips (Spisz) und Arwa (Orawa) mit aufgeführt. Diese Entscheidung Warschaus traf in Prag auf großes Missfallen, und wurde als Bruch hinsichtlich der vorläufigen Lösung verstanden. Ein Treffen polnischer Lehrer am 30. November 1918, an dem über 300 Lehrkräfte teilnahmen, die sich für die Stärkung der polnischen Sprache unter polnischen Kindern sowie gegen deren Germanisierung und Tschechisierung aussprachen, war sicherlich nicht konfliktmindernd. Am 18. Dezember 1918 wurde in Teschen mit Jan Michejda an der Spitze die vorläufige Landesregierung des Herzogtums Teschen (Tymczasowy Rząd Krajowy Księstwa Cieszyńskiego) einberufen.10 Ab der letzten Novemberwoche verschlechterten sich die Beziehungen zwischen dem NHT und der TGS zusehends, was die Situation entlang der provisorischen Grenze widerspiegelte. Die polnische Miliz war schlecht ausgerüstet, was die gut ausgestatteten und ausgebildeten Einheiten der 9 10
Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 144–146; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 233–234. Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 234–235; Badziak, Kazimierz/Matwiejew, Giennadij/Samuś, Paweł: „Powstanie“ na Zaolziu w 1938 r. Polska akcja specjalna w świetle dokumentów Oddziału II Sztabu Głównego WP, Warszawa 1997, S. 4; Pamiętnik cie szyński 6, S. 66; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 147–162.
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tschechoslowakischen Armee ausnutzten, weshalb sich die Zwischenfälle zunehmend häuften. So wurde z.B. am 16. November 1918 in Peterswald der polnische Arbeiter Tomasz Engelbert erschossen und am gleichen Tag in Lazy (Łazy) eine Hochzeitsfeier unter Beschuss genommen, wobei mehrere Menschen verletzt oder getötet wurden. Beide Seiten setzten auf Propaganda: So wurden verschiedene Parolen an Wänden, Zügen und Straßenbahnen angebracht. Auf beiden Seiten operierten Schlägertrupps, die aus Dutzenden teils bewaffneten Männern bestanden. Auch die Zeitungen führten einen Propagandakrieg; vor allem in den tschechischen Blättern tauchten Forderungen nach einem Anschluss des gesamten ehemaligen Herzogtums Teschen an die Tschechoslowakei auf und ließen in ihrer Argumentation keine andere Option offen zu.11 Die Regierung in Prag war mit der vorläufigen Grenzziehung vom 5. November 1918 lediglich vorübergehend einverstanden gewesen, da sie noch eine recht schwache Position gehabt hatte. Mit ihrer Stärkung wurden auch die Forderungen nach dem Karviner Kohlerevier und dem Teschener Abschnitt der Kaschau-Oderberger Eisenbahnlinie lauter, die den tschechischen Teil des Landes mit dem slowakischen verband. Während also die polnische Seite ihre Forderungen mit ethnografischen Argumenten untermauerte, argumentierte die tschechische Seite mit historischen und wirtschaftlichen Argumenten. Eine Lösung, die beide Seiten zufriedenstellen konnte, zeichnete sich nicht ab. Um ihre Interessen durchzusetzen und ihre Position noch vor Beginn der Pariser Friedenskonferenz zu stärken, entschied sich die Tschechoslowakei, einen neuen Weg einzuschlagen. Prag suchte nach einem Vorwand, um das Problem anderweitig zu lösen. Einen Vorschlag unterbreitete die Warschauer Regierung in Form einer Forderung an tschechische Beamte im Teschener Schlesien: Sie sollten dem polnischen Staat bis zum 25. November 1918 die Treue schwören. Dabei handelte es sich um den Versuch, eine Problemlösung durch die Schaffung vollendeter Tatsachen herbeizuführen.12 Der Polnisch-Tschechoslowakische Krieg vom 23.01. bis 31.01.1919 Bereits Ende November 1918 wurde aus Prag ein Gesandter zur Polnischen Liquidationskommission nach Krakau geschickt, der sich im Namen der Prager Regierung aus dem Vertrag vom 5. November zurückzog und gleichzeitig 11 12
Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 152–153. Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 3; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 236–238.
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forderte, dass die polnische Armee das Teschener Schlesien verlassen sollte. Dabei beließ es Prag zunächst. Es folgten keine unmittelbaren weiteren Schritte mit Ausnahme von verstärkter Propagandaaktivität, in deren Rahmen sich die Tschechoslowakei als eines der Siegerländer präsentierte, das zudem geordnet und einheitlich politisch organisiert war. Im Gegensatz dazu wurde Polen als instabiler und nicht geeinter Staat dargestellt, der im Krieg teils entgegen der Entente aufgetreten sei und aktuell vor Bolschewiken überquelle.13 Die guten Beziehungen der Tschechoslowakei zur Entente sollten in der Konfliktlösung ausgenutzt werden, indem die tschechoslowakischen Militärs der polnischen Militärkommandantur in Teschen vormachten, dass die Forderungen nach einem Rückzug der polnischen Armee von der Entente mitgetragen wurden. Aus diesem Grund erhielten die alliierten Offiziere eine Einladung, gemeinsam mit der tschechoslowakischen Abordnung beim Treffen mit dem polnischen Befehlshaber in Teschen dabei zu sein. Am 23. Januar 1919 um 11:00 Uhr erschien daher im Teschener Schloss, dem Sitz des NHT, eine Gruppe Offiziere in Uniformen der Entente, darunter je ein Offizier aus Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA. Ihre Anwesenheit sollte dem Besuch einen offiziellen Charakter verleihen und ihn als eine Entscheidung der Alliierten präsentieren. Angeführt wurde die Gruppe von Oberstleutnant Josef Šnejdárek, der im Namen der Koalition den Rückzug der polnischen Truppen aus dem Teschener Schlesien forderte. Oberst Latinik ließ sich jedoch durch die Anwesenheit der Offiziere der Entente nicht in die Irre führen, woraufhin Šnejdárek erfolglos mit seiner Begleitung abzog. Kurze Zeit später griffen tschechoslowakische Truppen mit einer Stärke von 16.000 Mann unter Šnejdáreks Befehl den von Polen kontrollierten Teil des Teschener Schlesiens von drei Seiten an. Die polnischen Truppen unter Latinik waren deutlich schwächer. Das stärkste Teschener Bataillon wurde am 9. Januar 1919 trotz Warnungen zur Verteidigung von Lemberg abkommandiert, was die komplette Ignoranz hinsichtlich der Gefahr und einen Mangel an Interesse am Teschener Schlesien vonseiten Warschaus belegt. Es blieben unzureichend ausgerüstete Einheiten mit einer Stärke von etwa 1.500 Mann. Als Verstärkung konnte Latinik ansonsten nur noch über die polnische Miliz verfügen, die nicht einmal Kompaniestärke besaß. Trotzdem lautete Latiniks Befehl aus Warschau: „Auf Gewalt mit Stärke antworten!“ Bei solch einem Kräfteverhältnis konnte er nur durch Verzögerung und Partisanenaktivitäten etwas erreichen. In Karwin (tsch. Karviná, poln. Karwina) und Trzynietz tsch. Třinec, poln. Trzyniec) erwiesen sich die polnischen Bergleute und Hüttenarbeiter als große Unterstützung. Sie ließen sich mit Gewehren und Munition bewaffnen und hielten 13
Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 161–167.
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den gut ausgerüsteten regulären Kräften der tschechoslowakischen Armee stand. Diese Taktik hielt die Gegner zwar nicht dauerhaft auf, verzögerte jedoch deren Vormarsch. Am 26. Januar 1919 beschloss Latinik den Rückzug auf die Weichsellinie und verlegte seinen Befehlsstand von Teschen nach Skotschau.14 Aus Teschen wurden nicht nur alle militärischen Kräfte evakuiert, auch die meisten Mitglieder des NHT entschieden sich, die Stadt zu verlassen. Zunächst gingen sie nach Bielitz, wo sie Angelegenheiten bezüglich der Wahlen erledigten. Danach ging ein Teil nach Krakau und ein Teil verblieb in Bielitz, wo die Anwerbung von Freiwilligen zum Militär als Hauptaufgabe anstand. Der Teil des Rates in Krakau konzentrierte sich wiederum auf den Kontakt mit der Regierung in Warschau. Die Mitglieder der NHT, die in Teschen geblieben waren, wurden von den Besatzern verhaftet. Gleiches widerfuhr einigen Redakteuren polnischer Zeitungen und Zeitschriften, sodass deren Erscheinen eingestellt werden musste.15 Die tschechoslowakische Armee wusste nichts von der Evakuierung Teschens, sodass ihr Angriff vom 27. Januar ins Leere lief; mit größter Vorsicht marschierte sie in Teschen ein. Am 28. Januar 1919 begann die Schlacht um Skotschau, allerdings gelang es den tschechoslowakischen Truppen nicht, die Weichsellinie dauerhaft zu überqueren. Die Frontlinie zog sich ab der ehemaligen preußischen Grenze entlang der Weichsel über eine Länge von über 40 Kilometern. Inzwischen war auf der polnischen Seite Verstärkung eingetroffen, die in Skotschau direkt vom Eisenbahntransport zur Front eilte und so den Durchbruch im letzten Augenblick aufhalten konnten. Obwohl die tschechoslowakischen Kräfte noch stark genug waren, um den Kampf fortzusetzen, wurden sie von Prag gestoppt. Am 30. Januar 1919 erschienen im Stab der polnischen Armee in Skotschau Parlamentarier und unterbreiteten den Polen den Vorschlag eines Waffenstillstandes, auf den die polnische Seite einging. Am 31. Januar wurde der Waffenstillstand von den Oberkommandos beider Staaten bestätigt, genauere Bedingungen sollten in kommenden Tagen ausgearbeitet werden. Währenddessen wurde auch eine Entscheidung auf der Pariser Friedenskonferenz getroffen: Vertreter der Sieger-Mächte und der Repräsentant Polens, Roman Dmowski, unterzeichneten ein Abkommen über die Angelegenheiten des Teschener Schlesiens, das besagte, dass die Verwaltung dieses Gebietes nach der Vereinbarung vom 5. November 1918 fortbestehen 14 15
Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 238–239; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 168– 173. Für eine genauere Beschreibung der Kriegshandlungen siehe Kalendarz Cieszyński, 2021, S. 91–115. Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 239; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 153–155 und 172–173.
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sollte. Šnejdáreks Truppen mussten sich jedoch nicht auf ihre Ausgangspositionen von vor dem 23. Januar 1919 zurückziehen, sondern lediglich hinter den Fluss Olsa. Bis zur endgültigen Entscheidung der Friedenskonferenz sollten die tschechoslowakischen Truppen das Gebiet südlich der Eisenbahnlinie kontrollieren, die polnischen Truppen wiederum das Gebiet nördlich von Teschen. Dadurch erhielt die Tschechoslowakei die Kontrolle über das Karviner Kohlerevier. Nach Teschen, nun Angelegenheit der internationalen Politik, sollte eine interalliierte Kommission kommen. Interessant ist die Tatsache, dass die Alliierten in dem Dokument bereits vermerkten, dass die Lösung der Grenzfrage nicht militärisch von einer der Parteien gelöst werden konnte, sondern dass diese Entscheidung der Friedenskonferenz oblag. Das diesbezügliche Abkommen wurde am 3. Februar 1919 vom Chef der tschechoslowakischen Diplomatie, Edvard Beneš, unterzeichnet. An der Situation änderte auch das Schreiben des NHT vom 5. Februar 1919 an die polnische Delegation in Paris nichts, das in Anbetracht des rein polnischen Charakters des Kreises Teschen eine jede, wenngleich auch vorläufige Grenzziehung außerhalb des Landkreises Teschen forderte. Währenddessen fand am 3. Februar auf dem Teschener Friedhof die Beisetzung der im Kampf gefallenen tschechoslowakischen Soldaten statt. Als am 5. Februar der Inhalt des Vertrages zwischen Dmowski und Beneš im Stab von Latinik bekannt wurde, schickte dieser Parlamentarier zum tschechoslowakischen Stab, um über die einzelnen Schritte des Rückzugs zu sprechen, doch die Tschechen behaupteten, ihnen sei dieser Vertrag unbekannt. Sie versuchten, Zeit zu gewinnen und hofften doch noch auf eine Lösung durch vollendete Tatsachen und deren Akzeptanz durch die Alliierten, was jedoch ausblieb. In der Hoffnung, die Polen zu überraschen, griffen tschechoslowakische Truppen in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 1919 die polnischen Stellungen bei Pruchna, Ochab (Ochaby) und Drahomischl (tsch. Drahomyšl, poln. Drogomyśl an. Die Polen wehrten diesen Angriff jedoch ab. Dieser Vorfall beendete den polnisch-tschechoslowakischen Krieg endgültig, denn nach dem missglückten Angriffsversuch kam es in Anwesenheit der Vertreter der Entente zur schriftlichen Festlegung des tschechoslowakischen Rückzugs und zur polnischen Rückkehr nach Teschen, Freistadt (tsch. Fryštát, poln. Frysztat) und Jablunkau (tsch. Jablunkov, poln. Jabłonków).16 Aber wie haben sich in diesem Krieg die deutschen Parteien verhalten? Sie versuchten, die Situation für sich zu nutzen und legten dem tschechoslowakischen Staat gegenüber am 6. Februar ein Treuegelöbnis ab. Als die Interalliierte Kontrollkommission, angeführt von dem Franzosen Grenard, am 16
Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 239–240; Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 4; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 174–178.
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12. Februar in Teschen eintraf, wurde sie von den Tschechen und den Deutschen begrüßt. Währenddessen forderte der deutsche Bürgermeister Gamroth die Franzosen auf, die Lage bis zur Beilegung des Streits unverändert zu belassen, mit Teschen unter der Kontrolle der Tschechoslowakei, womit er die frühere Vereinbarung mit dem NHT brach. Gleichzeitig überreichte die Delegation der deutschen Parteien den Alliierten ein Memorandum, das die Errichtung eines unabhängigen Staates unter internationaler Kontrolle forderte, welcher von Biała bis Mährisch Ostrau und Mistek reichen sollte. Dieses Vorhaben unterstützten anfänglich auch die Ślązakowcy von Józef Kożdoń, die sich später jedoch für einen Anschluss des ungeteilten Herzogtums Teschen an den tschechoslowakischen Staat aussprachen. Die Polen waren bei der Begrüßung der Kommission nicht anwesend, da sie von den Tschechen falsch informiert worden waren, dass diese erst am 13. Februar 1919 in Teschen ankommen würde.17 Die Interalliierte Kommission war nicht imstande, den Rückzug der tschechoslowakischen Truppen durchzusetzen. Grenard war von Anfang an deutlich der tschechoslowakischen Seite zugeneigt. So wurden am 24. Februar 1919 von der in Warschau residierenden Interalliierten Mission der französische General Henry Niessel, der italienische General Longhena G. Romei und der britische Oberst Wade nach Teschen geschickt, um den Tschechoslowaken zu verdeutlichen, dass die Entscheidung nicht durch das Herbeiführen vollendeter Tatsachen, sondern durch politische Absprachen getroffen werden würde. Sie setzten schließlich die Einhaltung der Vereinbarung über den Rückzug der tschechoslowakischen Truppen durch. Am 25. Februar wurde daraufhin ein militärisches Abkommen unterzeichnet, welches den Verbleib Teschens, Trzynietzs, Jablunkaus und Freistadts unter polnischer sowie Karwins und Oderbergs unter tschechoslowakischer Kontrolle regelte. Zusätzlich wurde eine neutrale Zone entlang der Demarkationslinie bestimmt, in die keine der beiden Seiten einmarschieren durfte. Die Truppenstärke in einem Gürtel von je zehn Kilometern Breite beidseitig der Demarkationslinie durfte jeweils 3.000 Soldaten nicht überschreiten. Diese Lösung unterteilte die Verwaltungseinheiten willkürlich und sorgte für Chaos auf beiden Seiten. Am 27. Februar kehrte die polnische Armee nach Teschen zurück, wo sie von tausenden von Menschen begrüßt wurde. Gleichbedeutend damit kehrten auch alle Mitglieder des NHT zurück.18
17 18
Ebenda, S. 178–180. Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 239–240.
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Das Plebiszit und der Einmarsch der alliierten Truppen in Teschen
Nach dem Krieg stellte sich die Situation anders dar. Polen hatte ein Drittel des vorher verwalteten Gebietes verloren. Es wurde versucht, die zivile Administration in den verlorenen Gebieten im Umfang der Vereinbarung vom 5. November 1918 wiederherzustellen, diesem stand jedoch die neue Realität entgegen, z.B. in Form des Rundschreibens der TGS vom 6. April 1919, welche den Gemeinden untersagte, die Erlasse des NHT zu befolgen. Die Tschechoslowaken erkannten die Schulkommission des Teschener Rates nicht an, genauso wenig wie Feliks Bocheński als Vorsitzenden des Kreisgerichtes in Teschen. Sie hielten die vereinbarten Kohlelieferungen nicht ein und versuchten es weiter mit der Politik der vollendeten Tatsachen. Proteste der Polen und seitens der Kontrollkommission halfen nichts.19 Unterdessen entschied am 14. März 1919 die verfassunggebende Nationalversammlung in Warschau, die Kandidaten aus dem Teschener Schlesien aufzunehmen, am 11. April 1919 gefolgt von der Festlegung über die Zugehörigkeit der polnischen Teile des Teschener Schlesiens zum polnischen Staat.20 Der NHT wertete die Haltung der deutsch geprägten Stadtverwaltung während der tschechischen Besatzungszeit in Teschen als Bruch mit den vorherigen Absprachen und entschied, seinen Einfluss in der Stadtverwaltung zu stärken. Das gefiel den Deutschen nicht, dennoch führte es dazu, dass am 2. Mai 1919 fünfzehn Polen in die Stadtverwaltung aufgenommen wurden. Der Streit zwischen Polen und Deutschen setzte sich auch im Rathaus fort, sodass es die deutschen Ratsmitglieder erst am 27. Juni 1919 zuließen, dass in polnischer Sprache gehaltene Reden auch in polnischer Sprache protokolliert werden durften.21 Währenddessen ging auch die Auseinandersetzung um die Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei weiter – eine Einigung war nicht abzusehen. Eine neue Idee schien die Lösung in diesem Streit zu sein, und zwar die Durchführung eines Plebiszits. Diese Anregung ging auf den polnischen Politiker und hervorragenden Musiker Ignacy Paderewski zurück. Noch im April 1919 gelang es ihm als Außenminister, die Vertreter der USA davon zu überzeugen, die den Vorschlag auf der Friedenskonferenz unterbreiteten. Doch die Entente entschied sich zunächst dagegen: Nicht ein Plebiszit, sondern die Verhandlungen zwischen Prag und Warschau sollten die Lösung herbeiführen. Es folgten mehrere Gespräche zwischen Vertretern der polnischen und der 19 20 21
Ebenda, S. 241. Ebenda. Ebenda, S. 242.
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tschechoslowakischen Seite – sowohl in Paris als auch in Krakau. Es fanden sogar Gespräche zwischen Paderewski und Masaryk in Prag statt, doch alle liefen ins Leere. Die Regierung vor Ort wollte keine Einigung mit Warschau, da sie davon ausging, dass die Tschechoslowakei bei einer Entscheidung durch die Entente ein besseres Ergebnis erreichen konnte. So verstrich die Zeit, die von den Siegermächten für die Einigung zwischen Polen und der Tschechoslowakei angesetzt worden war, ohne dass eine Entscheidung herbeigeführt werden konnte; in Anbetracht der unveränderten Situation im August 1919 wurde die Idee zur Durchführung eines Plebiszits erneut vorgelegt.22 Die Entscheidung zu dessen Durchführung wurde am 11. September 1919 durch den Höchsten Rat der Friedenskonferenz getroffen und am 27. September 1919 offiziell bestätigt. Die Friedenskonferenz stimmte dem Vorhaben zu, da alle bisherigen Verhandlungen zwischen der polnischen und tschechoslowakischen Seite erfolglos verlaufen waren. Das Plebiszit sollte innerhalb von drei Monaten stattfinden und auch die Gebiete von Zips und Arwa einschließen. Stimmberechtigt waren alle Personen, die vor dem 1. Januar 1919 das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten und sich mindestens seit dem 1. August 1914 im Abstimmungsgebiet aufhielten. Beide Konfliktparteien waren nicht mit den Bedingungen des Plebiszits einverstanden und legten Postulate dagegen vor, welche von den Alliierten jedoch nicht berücksichtigt wurden. Sie kündigten das Plebiszit als rein informell an und verwiesen darauf, dass bei der endgültigen Entscheidung auch Verkehrs- und Wirtschaftsfaktoren berücksichtigt werden würden. Die Nachricht über die Durchführung des Plebiszits wurde von der polnischen Bevölkerung im Teschener Schlesien positiv aufgenommen. Die Polen schienen siegessicher, allerdings war die Lage alles andere als eindeutig, da die Deutschen sich auch für die tschechoslowakische Seite aussprechen konnten. In Teschen entstand bereits am 17. September 1919 das polnische Plebiszithauptkomitee (Główny Komitet Plebiscytowy) mit Sitz im Hotel Zentral. Es sollte die Durchführung des Plebiszits vorbereiten. Zum Leiter wurde Kunicki ernannt, weitere Mitglieder waren Dominik Ściskała, Mieczysław Jarosz und Dr. Jan Kotas, alle aus unterschiedlichen Parteien. Einberufen wurden darüber hinaus auch 24 Kreisplebiszitkomitees und über 100 lokale Komitees.23 Die Überwachung des Plebiszits übernahm die Interalliierte Plebiszitkommission unter dem französischen Grafen Gustave Henri Benoît de
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Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 190–193. Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 4; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 242–243; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 193–194.
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Manneville. Sie traf am 20. Januar 192024 in Teschen ein. Am 4. Februar 1920 rückte vor Ort zudem ein französisches Bataillon und wenige Tage später ein italienisches Bataillon ein. Zwei Tage zuvor hatte die Interalliierte PlebiszitKommission die Macht im Teschener Schlesien übernommen. Die Schlesische Miliz wurde aufgelöst und die Gendarmerie der Interalliierten Koalition unterstellt. Weiter entschied die Kommission, dass die Militärlinie vom 25. Februar 1919 jetzt die polnische und tschechoslowakische Administration und Gerichtsbarkeit trennte. So entstanden zwei Präfekturen, eine polnische unter Żurawski und eine tschechische unter Alois Michálek. Die Interalliierte Plebiszit-Kommission sammelte Informationen, die bei der Entscheidung über die Grenzfrage helfen sollten, unter anderem durch Besuche von Friedhöfen in den Städten. Hierbei kam die Kommission jedoch nicht weiter, da die meisten Grabsteine auf den Teschener Friedhöfen weder polnische noch tschechische Inschriften zeigten, sondern deutsche. Dies zeigt sehr deutlich, dass die Kommission keinerlei Kenntnis von der tatsächlichen Lage in dieser Region besaß.25
Der Propagandakrieg von Herbst 1919 bis Sommer 1920
Der Propagandakrieg begann schon zu Beginn des Konfliktes, aber noch vor dem Ausbruch des Krieges gewann er an Stärke und Aggressivität. In der ersten Phase war die tschechoslowakische Presse eindeutig führend und zudem aggressiver. Sie druckte Artikel der englischen Presse ab, in denen Polen und Ungarn, mit denen auch Streit in Grenzfragen herrschte, als bolschewistisch dargestellt wurden. Diese Propaganda war besonders für die Alliierten bestimmt. Tatsächlich genoss die Tschechoslowakei den Zuspruch der Siegermächte, was unter anderem daran auszumachen ist, dass Šnejdárek von Offizieren der Entente begleitet wurde, als er die Räumung des Teschener Schlesiens von Latinik forderte. Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass der Franzose Oberst Gillain (der Befehlshaber des tschechischen 21. Infanterieregiments) offiziell den Oberbefehl über die tschechoslowakischen Truppen in Teschener Schlesien haben sollte, in Wirklichkeit aber Šnejdárek die Truppen führte. Dabei ist es wahrscheinlich auch kein Zufall, dass Šnejdárek einen großen Teil seiner Erfahrung in der Fremdenlegion gesammelt hat, wie übrigens auch viele andere seiner Soldaten, besonders in den Einheiten, denen die meisten Kriegsverbrechen in diesem Krieg gegen Polen vorgeworfen wurden. 24 25
Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 4 – hier wird vom 30. Januar 1920 gesprochen. Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 243; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 186–188.
Keine Abstimmung im Teschener Schlesien
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Der Plan einer rückwirkenden Zustimmung durch die Alliierten für die auf Betreiben der Prager Regierung militärisch erlangte Lösung in der Grenzfrage zu Polen ging nicht auf. Besonders die Franzosen weigerten sich diesbezüglich, da ihnen die Aktion eindeutig zu weit ging. Sie forderten einen sofortigen Stopp, was am 30. Januar 1919 auch geschah. Ab jetzt spielte die Propagandaaktivität der Presse nur noch eine sekundäre Rolle und die Entscheidungen wurden durch die Hintertür-Diplomatie gelenkt.26 Mit Ankündigung des Plebiszits durch die Entente steigerten beide Konfliktparteien ihre Propagandaaktivitäten. Die tschechische Seite wurde dabei sogar direkt aus Prag unterstützt, während sich die polnischen Maßnahmen hauptsächlich auf regionaler Ebene abspielten. Warschau verhielt sich vergleichsweise passiv und überließ das Teschener Schlesien sich selbst. Dagegen mobilisierte Prag alle möglichen Mittel, sodass der Wahlkampf großangelegt war. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Versorgung mit Lebensmitteln. Auf diesem Sektor hatten die Tschechen einen entscheidenden Vorteil: Die Versorgung wurde häufig zum Nachteil von anderen Städten und sogar Prags nach Schlesien umgeleitet, wo die gelieferten Güter in den Konsumläden als Mangelware zu subventionierten Niedrigpreisen angeboten wurden. Einen weiteren Erfolg im wirtschaftlichen Kampf um das Teschener Schlesien und sogleich einen nächsten Baustein in der Propagandaschlacht stellte die Abschaffung der österreichischen Krone und deren Ersatz durch die Tschechoslowakische Krone im Herbst 1919 dar. Übrigens war auf den Geldscheinen der tschechoslowakischen Krone bereits der Schlesische Wappenschild abgebildet. In der auf tschechischem Gebiet nicht mehr gültigen österreichischen Krone zahlten die Tschechen aber ihre Agitatoren aus, damit diese im polnischen Teil des Teschener Schlesiens, für das dort noch gültige Geld alles einkaufen konnten und somit die Versorgungslage weiter verschlechterten. Die Methode wirkte und steigerte die Inflation. Auch der Bildungssektor wurde zum Schauplatz des Propagandakampfes: Auf den durch tschechoslowakisches Militär besetzten Gebieten wurden die polnischen Schulen häufig von der Armee als Unterkünfte benutzt und zahlreiche Lehrer unter verschiedenen Vorwänden verhaftet, was die Arbeit der polnischen Schulen erschwerte. Die dortigen Lehrer wurden am 20. September 1919 von der polnischen Schulkommission dazu aufgerufen, die Sprache der Kinder in den Klassenbüchern zu vermerken, sozusagen als eine Art Umfrage für das Plebiszit. Die polnischen Lehrer gerieten zunehmend unter Druck, ebenso wie Familien, die ihre Kinder für polnische Schulen anmelden wollten. Das Schulwesen wurde sukzessive auf das tschechische System umgestellt und auch in den verbliebenen polnischen 26
Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 181–185.
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Bartholomäus Fujak
Schulen wurde die polnische Sprache dadurch geschwächt, dass zusätzlich die Pflicht zum Tschechisch-Unterricht eingeführt und der Teschener Dialekt unterrichtet wurde.27 Ein weiterer Versuch, Stimmen zu gewinnen, bestand in einer von den Tschechen durchgeführten Befragung. Wer sich weigerte, die Fragebögen auszufüllen, wurde verhaftet. Eine entsprechende Vorlage druckte auch die polnische Zeitung Dziennik Cieszyński (Teschener Tagesblatt) ab. In diesem Dokument hieß es ganz offen, dass die Namen der polnischen Aktivisten und Agitatoren den örtlichen tschechischen Plebiszit-Kommissionen mitgeteilt werden sollten, damit die tschechoslowakischen Behörden diese Personen gegebenenfalls unter einem Vorwand festnehmen konnten. Die Wirkung der Veröffentlichung war so fatal, dass die Prager Regierung etwas tun musste, um die Folgen abzuschwächen. So gab Prag endlich die Erlaubnis dazu, dass die polnische Regierung bei den Škoda-Werken militärische Ausrüstung, insbesondere Geschütze sowie die Lizenz für deren Herstellung, kaufen konnte. Ein Zeitzeuge aus Obersuchau (tsch. Horní Suchá, poln. Sucha Górna) beschrieb die Zeit als Fortsetzung des Krieges, jedoch nicht zwischen den Militärs, sondern zwischen Zivilisten. Die Schlägertrupps bekämpften sich nicht nur mit Fäusten, sondern auch mit Gewehren und Handgranaten. So wurde z.B. ein Zug mit polnischen Bergleuten und Fabrikarbeitern in Suchau beschossen. Die Arbeiter mussten durch die Fenster fliehen und sich verstecken. Anfang 1920 wurde es nicht besser: Die Zahl der Verhaftungen von Polen stieg im tschechisch kontrollierten Gebiet weiter an. Die Polen zahlten dieses Vorgehen mit gleicher Münze heim und standen den Tschechen diesbezüglich in nichts nach.28 Diese Welle von Gewalthandlungen auf beiden Seiten führte zu zahlreichen Kundgebungen in den Städten mal für die eine, mal für die andere Streitpartei. Auf dem Marktplatz in Teschen protestierten am 12. Februar 1920 polnische Lehrer, am 15. Februar 1920 polnische Gemeindevorsteher (Vögte) und am 22. Februar polnische Bergleute. Einige Deutsche und die Ślązakowcy agierten hingegen für die Tschechoslowakei, was wiederum als Provokation aufgefasst wurde und zu Schlägereien führte. Radikale Vertreter beider Seiten versuchten, die Menschen zu beeinflussen und jeweils für ihre Seite zu gewinnen, auch durch Anwendung von Gewalt. Der Wahlkampf brachte vor allem auf der von den Tschechen kontrollierten Seite massive Auseinandersetzungen mit sich. Hierfür ist als Ursache sicherlich die starke polnische Mehrheit unter der Bevölkerung zu sehen. Im Kohlebezirk Ostrau-Karwin kam es sogar zu 27 28
Pamietnik cieszyński 6, S. 67–68; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 243; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 196–198. Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 199–200.
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blutigen Zwischenfällen und es gab ernsthafte Überlegungen für einen Aufstand. In Karwin selbst kam es zu Schießereien zwischen der Tajna Organizacja Wojskowa (Geheime Militärorganisation) und französisch-italienischen Truppen sowie tschechischen Schlägertrupps. Die Interalliierte Kommission versuchte noch im Mai, gegen die Situation vorzugehen und drohte mit Ausnahmezustand und Militärgericht. In dieser Lage konnte die Interalliierte Plebiszit-Kommission weder auf der einen noch auf der anderen Seite die Einhaltung der Punkte aus dem Vertrag durchsetzen.29
Das Plebiszit wird vertagt
Da die Polen zunehmend an der Möglichkeit einer neutralen Durchführung des Plebiszits zweifelten, fingen sie an, die Vorbereitungen ab Mitte März 1920 zu boykottieren. Die Entscheidungen der Interalliierten Plebiszit-Kommission gaben der polnischen Bevölkerung viel Raum, sie als pro-tschechisch zu bezeichnen und auch de Manneville galt in seinen Entscheidungen als protschechisch. Die Einstellung der französischen Regierung Prag gegenüber war freundschaftlich, was die polnische Bevölkerung in dieser Situation von der Zusammenarbeit mit der Kommission abhielt. Sie lieferten die Listen der Stimmberechtigten nicht an de Manneville ab, woraufhin die Pariser Botschafterkonferenz auf Antrag der Interalliierten Plebiszit-Kommission am 4. Mai 1920 entschied, das Plebiszit um zwei weitere Monate nach hinten zu verlegen. Die Unsicherheit der Polen wurde zu einem gewissen Grad auch dadurch verstärkt, dass die ca. 80.000 Deutschen ihrerseits versuchten, Vorteile für sich herauszuschlagen. In Teschen debattierten die polnischen Vertreter am 28. Mai 1920 über die minimalen und maximalen territorialen Forderungen, davon abweichend bestimmten jedoch ihre Repräsentanten in Warschau, dass alle Gemeinden mit 80 Prozent polnischer Bevölkerung an Polen angeschlossen werden sollten. Über die anderen Gemeinden wollte man in gesonderten Verhandlungen entscheiden. Positiv für Polen und negativ im tschechischen Empfinden wirkte sich die Situation an der Front des Krieges mit den Bolschewiki aus.30
29 30
Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 243; Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 4–5; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 201. Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 4–5; Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 244.
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Die Konferenz von Spa vom 5. bis 16. Juli 1920 – kein Plebiszit
In dieser Zeit eskalierte die Gewaltwelle im Abstimmungsgebiet und erreichte Orte, die zuvor gar nicht oder nur vereinzelt betroffen gewesen waren, wie z.B. Skotschau, wo es immer häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen polnischen Schlägertrupps und den Ślązakowcy kam. Am 2. Juli 1920 rief die Interalliierte Plebiszit-Kommission den Ausnahmezustand aus, was Warschau dazu bewog, dem Plebiszit doch zuzustimmen. Diese Entscheidung wurde jedoch gegenstandslos, als die Lösung des Konflikts während der Konferenz von Spa herbeigeführt wurde. Mit der Veränderung der Situation an der Front des Polnisch-Sowjetischen Krieges kam es auch zu einer veränderten Verhandlungsposition der polnischen Regierung. Für das Versprechen militärischer Hilfe für Polen seitens der Alliierten und einer Vermittlung bei Gesprächen mit den Bolschewiki stimmte der polnische Premier Władysław Grabski am 10. Juli 1920 zu, dass die Pariser Botschafterkonferenz die Entscheidung in Grenzfragen, unter anderem im Teschener Schlesien, treffen sollte.31
Die Entscheidung der Pariser Botschafterkonferenz vom 28. Juli 1920
Die Pariser Botschaftskonferenz begann am 19. Juli 1920 und schon am ersten Tag beschäftigte sich das Gremium mit dem Teschener Schlesien. Am 20. Juli stellte der bevollmächtigte Delegat der Republik Polen, Ignacy Paderewski, seinen Stand der Dinge vor. Unterstützt wurde er von Józef Londzin, Józef Kiedroń, Karol Kulisz und Włodzimierz Dąbrowski. Alle Bemühungen waren jedoch vergeblich, da die Entscheidung bereits im Vorfeld getroffen worden war. Verkündet wurde sie am 28. Juli 1920. So war der Grenzverlauf wie folgt: Die Grenze entlang der Olsa, Jablunkau, der westliche Teil von Teschen, Freistadt, Karwin und Oderberg, also das ganze Kohlerevier samt den Zechen und Hüttenwerken sowie der schlesische Teil der wichtigen Bahnlinie KaschauOderberg wurden der Tschechoslowakei zugeteilt. Diese Region bewohnten an die 150.000 Polen, somit wurden zwei Drittel der polnischen Bevölkerung der Teschener Region der Tschechoslowakei zugesprochen. Die polnische Konfliktpartei zeigte sich alles andere als einverstanden mit dieser Entscheidung. Die NHT hielt am 4. August 1920 ihre letzte Sitzung ab, in der sie gegen die Entscheidung protestierte und den Sejm in Warschau aufrief, diese Teilung nicht zu ratifizieren. Die Teschener Deutschen haderten ebenfalls mit dem Ausgang 31
Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 244; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 202–203.
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des Konflikts: Sie sprachen sich gegen eine Teilung der Stadt aus und hätten noch eher dafür plädiert, die ganze Stadt der Tschechoslowakei zuzusprechen. Die Tschechoslowaken waren bedingt zufrieden mit der Lösung. Sie standen den deutschen Städtern skeptisch gegenüber, territorial vermissten sie die fehlenden Teile des Teschener Schlesiens, die als Verlust der Gebiete der Böhmischen Krone beklagt wurden. Die Ratifizierung der Aufteilung durch die Prager Regierung erfolgte somit lediglich mit einer Stimme Mehrheit. Die Teilung der Stadt Teschen gefiel keiner der Parteien und bildete gleichzeitig den Keim für weitere Konflikte entlang der Olsa. Der 28. Juli 1920 war der Stichtag, an dem aus der Stadt Teschen zwei Städte, Cieszyn und Český Těšín, wurden, die sich unabhängig voneinander entwickelten, mit Ausnahme einer kurzen Periode von 1938 – 1945. Seit dem Konflikt gibt es im Polnischen für die Gebiete hinter der Olsa auch die Bezeichnung Zaolzie.32 Schluss Im Endeffekt wurde die Entscheidung weder auf Grundlage von historischen Grenzen noch auf Basis von ethnischen Mehrheiten getroffen. Die Überlegung der Alliierten beinhaltete die Schaffung von zwei stabilen unabhängigen Staaten in Mitteleuropa, die zukünftigen Problemen vorbeugen sollte und einen Gegenpol zu den Deutschen und den Bolschewiken darstellen würden. Dabei war es für das Bestehen der neuen Tschechoslowakei entscheidend, dass die beiden Teile des neuen Staates, die Slowakei sowie Böhmen und Mähren, miteinander verbunden waren. Dafür war die Magistrale von Oderberg nach Kaschau (Košice) eine der wichtigsten Verbindungen dieser Länder. Sie musste zwangsweise zum tschechoslowakischen Staat gehören, obwohl entlang dieser Eisenbahnstrecke im Teschener Schlesien ethnisch eine deutliche Mehrheit von Polen lebte.
32
Bogus/Dawid/Gojniczek u.a.: Cieszyn, S. 245–246; Badziak/Matwiejew/Samuś: „Powstanie“, S. 5–6; Przeperski: Nieznośny ciężar, S. 204–206.
Die Ausführung des Plebiszits in Ost- und Westpreußen Florian Paprotny Nach dem Ersten Weltkrieg sollten dem von US-Präsident Woodrow Wilson postulierten Prinzip des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ folgend die innereuropäischen Grenzen neu gezogen werden. Ein Werkzeug, das dabei Anwendung fand, waren die Plebiszite in den Gebieten des Deutschen Reichs und Deutschösterreichs, in denen das nationale Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung zweifelhaft schien. Insbesondere sollte wieder ein eigener Staat für die vor dem Krieg auf die drei europäischen Kaiserreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland verteilten Polen geschafften werden.1 Zu den im Versailler Vertrag vorgesehen Volksabstimmungen gehörten auch die Plebiszite im südlichen Ostpreußen (Abstimmungsgebiet Allenstein/Olsztyn) und in einem kleinen Teil Westpreußens (Abstimmungsgebiet Marienwerder/ Kwidzyn). Der restliche Teil Westpreußens, westlich der Weichsel, wurde Polen schon vorab ohne Plebiszit als Teil des sogenannten „polnischen Korridors“ zugeschlagen. Zusätzlich erhielt Polen, ebenfalls ohne gesonderte Abstimmung, die im Südwesten Ostpreußens gelegene Stadt Soldau (Działdowo) mitsamt Umland. In der Literatur werden beide Volksabstimmungen oft gemeinsam abgehandelt, da die Provinz Westpreußen nach dem Plebiszit faktisch aufhörte zu existieren und der kleine, bei Deutschland verbliebene östliche Teil am 28. November 1920 an Ostpreußen angegliedert wurde.2 Außerdem fanden beide Plebiszite am 11. Juli 1920 statt.3 Die Abstimmungen fielen deutlich zugunsten Deutschlands aus. Dabei ist besonders interessant, dass auch die polnische bzw. polnischsprachige Bevölkerung überwiegend für Deutschland gestimmt haben muss. Gleicht man das Ergebnis der Volkszählung von 1910 1 Veiter, Theodor: Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts, in: Blumenwitz, Dieter/ Meissner, Boris (Hg.): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 2), Köln 1984, S. 9–36; hier S. 12–14. – Siehe auch: Klein, Eckart: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 4), Berlin 1990, S. 18. 2 Pölking, Hermann: Ostpreußen. Biographie einer Provinz, Berlin 2011, S. 433–438. 3 Kimminich, Otto: Der Selbstbestimmungsgedanke am Ende des Ersten Weltkrieges – Theorie und Verwirklichung, in: Breyer, Richard (Hg.): Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, Bonn 1985, S. 11–39, hier S. 35–36.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_029
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mit dem Ergebnis des Plebiszits ab, wird dies deutlich. So gaben im Bezirk Allenstein 1910 rund 50,5 Prozent als Umgangssprache Deutsch an. Als zweisprachig bezeichneten sich 3,6 Prozent. Nur 13,5 Prozent gaben Polnisch als Sprache an, 32,2 Prozent hingegen Masurisch.4 Das Ergebnis fiel jedoch mit 97 Prozent zugunsten Deutschlands aus. Im Kreis Marienwerder hatten 1910 37 Prozent Polnisch als Umgangssprache angegeben, 62 Prozent Deutsch und ein Prozent war zweisprachig. Auch hier zeigte sich die gleiche Tendenz, 92 Prozent stimmten für den Verbleib bei Deutschland.5 Wie kam es zu dieser eindeutigen Niederlage Polens? Ist dieses Resultat auf den Verlauf des Abstimmungskampfes zurückzuführen, oder doch auf das nationale Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung? Dieser Frage soll auf den nächsten Seiten nachgegangen werden. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei auf den Masuren, die das südliche Ostpreußen bewohnten und ähnlich wie die Oberschlesier einen polnischen Dialekt sprachen.6 Auf der Pariser Friedenskonferenz forderte die von Roman Dmowski geleitete polnische Delegation am 28. Februar 1919 in einem Memorandum die Wiederherstellung von Polen in den Grenzen von 1772, also mitsamt Galizien, dem Posener Land, Westpreußen (ohne den Kreis Stuhm/Sztum) und dem Ermland. Ferner wurde aber auch der Anschluss Oberschlesiens und des südlichen Ostpreußens gefordert, die vor den Teilungen nicht zu Polen gehört hatten. Der nordwestliche Teil Ostpreußens, der mehrheitlich von Litauern bevölkert war, sollte an Litauen gehen, und der verbliebene nördliche Teil mit einer deutschen Mehrheit als unabhängige Republik unter dem Protektorat des Völkerbundes stehen.7 Im Falle der Gebiete, die vor der Teilung nicht zu Polen gehört hatten, wurde als Rechtfertigung der Ansprüche auf die gesprochene Alltagssprache verwiesen und daraus eine nationale Zugehörigkeit abgeleitet.8 Die von Jules Cambon geleitete „Kommission für die polnischen Ansprüche“ schloss sich nach einer eingehenden Prüfung Dmowskis 4 Hensel, Paul: Masuria undoubtedly NOT polish, Berlin 1919; Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Signatur: 13001 Fasc. 5. 5 Belzyt, Leszek: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914, Marburg 1998, S. 109. 6 Siehe dazu Kossert, Andreas: Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001, S. 110ff. 7 Wyszczelski, Lech: Warmia, Mazury i Powiśle w koncepcji przynależności państwowej podczas obrad konferencji paryskiej w 1919 roku, in: Achremczyk, Stanisław (Hg.): Plebiscyty jako metoda rozwiązywania konfliktów międzynarodowych. W 90. Rocznicę plebiscytów na Warmii, Mayurach i Powiślu, Olsztyn 2010, S. 7–34, hier S. 22–23. 8 Rautenberg, Hans-Werner: Probleme der Volksabstimmung vom 11. Juli 1920 im südlichen Ermland und in Masuren, in: Breyer, Richard (Hg.): Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, Bonn 1985, S. 75–91, hier S. 78.
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Konzeption des zukünftigen polnischen Staates jedoch nicht bedingungslos an und empfahl am 12. März 1919 aufgrund der komplexen Nationalitätenverhältnisse das Abhalten einer Volksabstimmung in den ostpreußischen Gebieten Ermland und Masuren.9 Im Ermland gab es eine polnischsprachige Minderheit, die katholisch und deswegen den polnischen Bemühungen gegenüber empfänglicher war als die protestantischen Masuren. Auch hatte das Ermland im Gegensatz zu Masuren vor den polnischen Teilungen bis 1772 zu Polen gehört.10 Der britische Premier Lloyd George befürchtete, dass das Verbleiben einer zu großen deutschen Minderheit im polnischen Staat zu einem neuen Krieg führen würde und überzeugte im weiteren Verlauf der Verhandlungen Präsident Wilson davon, auch im westpreußischen Kreis Marienwerder ein Plebiszit abzuhalten.11 Die polnische Seite war gegen das Plebiszit und beharrte auf der Ungerechtigkeit von dessen Anerkennung als Entscheidung der Bevölkerung zwischen zwei Nationen bzw. Kulturen, denn die deutsche Kultur sei den Bewohnern nur aufgezwungen worden.12 Insgesamt gab sich die polnische Seite aber nur wenig Mühe, den Beschluss der Alliierten zu verändern, da sie andere Punkte als wichtiger erachtete.13 Auch die deutsche Seite lehnte das Plebiszit ab, da ihrer Auffassung nach die Loyalität der Bewohner außer Frage stand.14 Diese Zuversicht war nur allzu verständlich, schließlich handelte es sich bei Ostpreußen immerhin um „das Gebiet, in dem die Anfänge des 9 10
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Rautenberg: Probleme der Volksabstimmung, S. 78–79. – Wyszczelski: Warmia, Mazury i Powiśle, S. 24. Maksymowicz, Sławomir: Plebiscyt na Warmii, Mazurach i Powiślu w polskiej prasie codziennej lat 1919–1920, in: Achremczyk, Stanisław (Hg.): Plebiscyty jako metoda rozwiązywania konfliktów międzynarodowych. W 90. rocznicę plebiscytów na Warmii, Mazurach i Powiślu, Olsztyn 2010, S. 35–62, hier S. 36. – Pölking: Ostpreußen, S. 441. Wyszczelski: Warmia, Mazury i Powiśle, S. 31. Vgl. Wrzesiński, Wojciech: Plebiscyty na Warmii i Mazurach oraz na Powiślu w 1920 roku (Das Plebiszit im Ermland und Masuren sowie dem Weichselland im Jahr 1920), Olsztyn 1974, S. 104. Wrzesiński, Wojciech: Das Recht zur Selbstbestimmung oder die Festigung der staatlichen Souveränität. Die ostpreußischen Plebiszite 1920, in: Jähnig, Bernhart (Hg.): Die Volksabstimmung 1920. Voraussetzungen, Verlauf und Folgen (Tagungsberichte der historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Bd. 17), Marburg 2002, S. 11–26, hier S. 16. – Sławomir Maksymowicz widerspricht der These, dass die polnische Seite sich nicht für die Gebiete interessiert hätte. Vielmehr seien andere Probleme damals vorrangig gewesen, vor allem der polnisch-sowjetische Krieg, Maksymowicz: Plebiscyt na Warmii, Mazurach i Powiślu, S. 35. Siehe dazu: Blanke, Richard: Polish-speaking Germans? Language and national Identity among the Masurians since 1871 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart Bd. 24), Köln 2001, S. 126–127. – Siehe auch: Rautenberg: Volksabstimmung in Ermland und Masuren, S. 79.
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Glanzes des preußischen Königshauses begonnen hatten und wo im Königsberger Schloss die preußischen Könige gekrönt worden waren“15. Ostpreußen war das einzige deutsche Gebiet, das während des Ersten Weltkrieges feindliche Truppen aus der Nähe erlebt hatte. Schon zu Beginn des Krieges marschierten russische Truppen im Süden, in Masuren, ein. Den Höhepunkt der Vorgänge bildete die später mythologisch verklärte Schlacht bei Tannenberg vom 26. bis 30. August 1914, im Zuge derer die deutsche Armee unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg die russische Armee zurückgedrängt hatte. Es folgten weitere Schlachten, sodass Ostpreußen erst am 21. Februar 1915 wieder vollständig unter deutscher Kontrolle stand. Im Zuge der Kämpfe kam es zu massiven Zerstörungen, viele Menschen mussten fliehen, aufgrund der Verschiebung der Frontlinien teilweise mehrfach. Die Russen exekutierten zahlreiche Zivilisten, die sie der Spionage verdächtigten, und deportierten teilweise ganze Familien.16 Diese Gräuel wurden von der Bevölkerung nicht nur der russischen, sondern auch der polnischen Seite zugeschrieben (weil auf russischer Seite auch polnische Soldaten kämpften).17 Um die Not der Bevölkerung zu lindern, flossen schon seit September 1914 monetäre Hilfen Richtung Ostpreußen. Die „Ostpreußenhilfe“ sammelte Spenden und deutsche Städte übernahmen sogenannte „Kriegspatenschaften“ für ostpreußische Landkreise.18 Laut Wojciech Wrzesiński war es eben diese erlebte nationale Solidarität, die auch den polnischsprachigen Masuren zuteilwurde, die ihre Integration in die deutsche Gesellschaft beförderte.19 Im Februar 1920 übernahm die Interalliierte Kommission (IK) die Kontrolle im Abstimmungsgebiet Allenstein. Das deutsche Militär musste das Gebiet räumen und italienische und britische Truppen zogen ein. Auch die Polizei wurde unmittelbar aufgelöst und durch eine Abstimmungspolizei unter der Kontrolle der IK ersetzt. Der amtierenden Regierung wurden polnische Beisitzer zugewiesen, die zwar nicht entscheidungsbefugt waren, aber die Politik der preußischen Beamten beaufsichtigen sollten.20 Die deutsche Seite wurde fortan vom zum Reichskommissar ernannten Deutschnationalen Wilhelm von Gayl repräsentiert, die polnische vom aus Posen stammenden Apotheker
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Wrzesiński: Das Recht zur Selbstbestimmung, S. 11–26, hier S. 14. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 126–130. Wrzesiński: Das Recht zur Selbstbestimmung, S. 17. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 130–131. Wrzesiński: Das Recht zur Selbstbestimmung, S. 17. Pölking: Ostpreußen, S. 439–440.
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Zenon Lewandowski, der als Generalkonsul fungierte.21 Die Beziehungen der IK zu Gayl waren deutlich besser als die zu Lewandowski.22 Der „Ostdeutsche Heimatdienst“ (OHD) fungierte als Dachverband für die deutschen Plebiszitorganisationen und begann bereits im Januar 1919 mit der Beeinflussung der Bevölkerung zugunsten Deutschlands. Er arbeitete eng mit den Heimatvereinen vor Ort zusammen. In Massenkundgebungen, Umzügen und Propagandaschriften wurden der deutsche Charakter des Gebietes und die Vorteile eines Verbleibs bei Deutschland betont.23 Das polnische „Abstimmungskomitee für Masuren“ wurde vom Oberhaupt der EvangelischAugsburgischen Kirche in Polen, Generalsuperintendent Juliusz Bursche, geleitet, während auf der deutschen Seite Kurt Thiel und Dr. Paul Marks den Vorsitz im Vorstand des OHD übernahmen. Eine Schlüsselrolle kam Max Worgitzki zu, der für die Wahlpropaganda zuständig war und mit der Gründung des „Ermländer- und Masurenbundes“ eine Massenorganisation schuf.24 Zum wohl häufigsten Motiv avancierte der Kreuzritter, unter Verweis auf die Schlacht bei Tannenberg (Stębark) im Jahr 1410,25 in welcher der Deutsche Orden gegen das Königreich Polen gekämpft hatte. Die mittelalterliche Auseinandersetzung wurde zusammen mit Hindenburgs Sieg, ebenfalls bei Tannenberg, zur Konstante des ewigen deutsch-polnischen Kampfes in der Grenzmark stilisiert.26 Die deutsche Seite arbeitete auf Initiative des Superintendenten von Johannisburg Paul Hensel vermehrt mit polnischsprachigem Propagandamaterial. Wahlkampfveranstaltungen und Heimatfeste wurden in deutscher und polnischer Sprache veranstaltet. Hensel musste dafür im eigenen Lager viel Kritik einstecken, wobei dennoch auch leitende Funktionäre des Ostdeutschen Heimatdienstes notgedrungen die polnische Sprache benutzten. Sie wussten, dass bei Weitem nicht alle Masuren der deutschen Sprache mächtig waren.27 Hensel sah die Masuren nicht als Polen, sondern als „polnisch21 22 23 24
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Rautenberg, Hans-Werner: Die Stimmung der Bevölkerung im masurischen Abstimmungsgebiet, in: Jähnig (Hg.): Die Volksabstimmung 1920, S. 27–58, hier S. 38, 41, 49. Rautenberg: Die Stimmung der Bevölkerung, S. 49. Schattowsky, Ralph: Deutschland und Polen von 1918/19 bis 1925 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften Bd. 619), Frankfurt a. M. 1994, S. 49–50. – Pölking: Ostpreußen, S. 441. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 145–148. – Rautenberg: Volksabstimmung in Ermland und Masuren, S. 79–80. – Landsmannschaft Ostpreußen (Hg.): Selbstbestimmung für alle Deutschen 1920/1980. Unser Ja zu Deutschland. Zum 60. Jahrestag der Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen am 11. Juli 1920, Hamburg 1980, S. 9. In der polnischen Erinnerungskultur wird diese Schlacht nach einem Nachbarort von Tannenberg (Stębark) benannt, nämlich Grunwald (dt. Grünfelde): Bitwa pod Grunwaldem. Kossert, Andreas: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, München 2006, S. 27. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 148–149.
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sprachige Preußen“. In seiner Denkschrift schrieb er, dass die Masuren ihre regionale Identität und Sprache als masurisch definierten und nicht als polnisch. Da sie protestantisch seien, fühlten sie sich den Preußen näher als den katholischen Polen.28 Hensel übergab die Denkschrift zusammen mit einer Petition mit 144.447 masurischen Unterschriften auf der Pariser Friedenskonferenz dem Obersten Rat.29 Laut Kossert handelt es sich bei der masurischen Sprache um ein Kunstgebilde, das im Zuge der Germanisierungspolitik nach der Reichseinigung 1871 von der deutschen Ostmarkenpolitik erschaffen worden war. So gäbe es im „Masurischen“ kein Wort für die Sprache „Masurisch“, sondern man spräche „po polsku“, also „auf Polnisch“.30 Wie Robert Kempa anhand zeitgenössischer Einschätzungen belegt hat, war der polnischen Seite durchaus bewusst, dass die Masuren sich nicht als Polen verstanden und es schwer werden würde, sie für den polnischen Staat zu gewinnen. Er sah darin auch den Grund, weshalb die polnische Delegation die Abstimmung vermeiden und das Gebiet direkt zugesprochen haben wollte.31 Nur der polnische Ministerpräsident Paderewski war den Plebisziten östlich der Weichsel gegenüber sehr optimistisch eingestellt, was Wrzesiński auf eine mangelnde Kenntnis der ethnischen Situation in den Abstimmungsgebieten zurückführt.32 Der OHD konnte bis zur Übernahme des Gebietes durch die Alliierten auf die Unterstützung des verbliebenen Militärs und der in die Region strömenden Freiwilligenverbände setzen. Für alle Eventualitäten wurden Waffendepots angelegt, da die Deutschen unter den Eindrücken des Großpolnischen Aufstandes in der Provinz Posen standen.33 Das verschaffte der deutschen Seite einen enormen Vorteil, da es der polnischen Seite aufgrund von repressiven Maßnahmen ein Jahr lang, von Januar 1919 bis Februar 1920, nicht möglich war, vor Ort Wahlpropaganda zu betreiben. Erst mit den alliierten Truppen gelangte auch die polnische Abstimmungsorganisation in das Gebiet.34 Polnische Kundgebungen wurden häufig gewaltsam durch deutsche Gruppen gestört. Durch ihr Netz aus Informanten war die deutsche Seite stets über 28 29 30 31 32 33 34
Hensel, Paul: Masuria undoubtedly NOT polish, Berlin 1919; Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Signatur: 13001 Fasc. 5. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 147. Kossert: Masuren, S. 202. Kempa, Robert: Der nordöstliche Teil Masurens im Plebiszit 1920, in: Jähnig (Hg.): Die Volksabstimmung 1920, S. 149–161, hier S. 150–151. Wrześinski: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 103. Schattkowsky: Deutschland und Polen, S. 49–50; siehe auch: Wrześinski: Das Recht zur Selbstbestimmung, S. 24. Wrzesiński: Das Recht zur Selbstbestimmung, S. 19–20.
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polnische Veranstaltungen informiert. Wer sich zu Polen bekannte, oder bei wem auch nur diese Vermutung bestand, wurde in der Presse als „Polenfreund“ denunziert, was soziale Sanktionen mit sich brachte.35 1919 formierte sich in Ostpreußen ein Zweig der paramilitärischen „Polska Organizacja Wojskowa“ (POW; Polnische Armeeorganisation), der sich allerdings nicht besonders ausweitete, da es schlicht an loyalen Rekruten fehlte. Sein Einfluss erstreckte sich allein auf den Landkreis Allenstein. Um den Deutschen dennoch etwas entgegenzusetzen, entstand die „Mazurska Straż Bezpieczeństwa“ (Masurische Sicherheitswehr) mit ca. 2.400 Mann.36 Dabei handelte es sich jedoch nicht um reguläre Truppen wie bei der voll bewaffneten, deutschen „Sicherheitswehr“, die neben den alliierten Einheiten als Ordnungsmacht fungieren sollte. Diese umfasste im Abstimmungsgebiet Allenstein 3.800 Mann und im Abstimmungsgebiet Marienwerder 1.400. Dazu kamen außer der Reihe noch irreguläre deutsche Milizen.37 Die „Sicherheitswehr“ (nicht zu verwechseln mit der „Masurischen Sicherheitswehr“!) verfehlte ihre Verpflichtung gegenüber der polnischen Seite häufig, da sie nicht neutral war. Dagegen protestierte das polnische Plebiszitbüro und rief am 20. April 1920 sogar einen „Plebiszitstreik“ aus. Die polnische Seite verweigerte ihre Teilnahme am Plebiszit und drohte, das Ergebnis nicht anzuerkennen, sofern nicht die im Vertrag festgeschriebenen Bestimmungen erfüllt und zusätzlich die deutschen Milizen aufgelöst würden. Wenngleich der Protest durchaus begründet war, führte diese Aktion nur zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zwischen der IK und dem polnischen Plebiszitbüro, was letztlich sogar im Rücktritt Lewandowskis resultierte. Durch ihre Verweigerung eröffnete die polnische Seite den Deutschen außerdem die Möglichkeit, polnischsprachige Masuren für die für Polen vorgesehenen Plätze in der Kontrollkommission zu nominieren. Erst Lewandowskis Nachfolger Jerzy Andrycz schaffte es, zwischen der IK und dem polnischen Plebiszitbüro zu vermitteln, womit der Plebiszitstreik am 19. Mai 1920 endete und die polnische Seite ihre Tätigkeit ab Juni 1920 wieder aufnahm. Eine Auflösung der Milizen erfolgte im Nachgang allerdings nur teilweise.38 Zu den Stimmberechtigten gehörten nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags auch die abgewanderten Masuren. Die Aufnahme dieser Bestimmung ging auf die polnische Delegation zurück, genauer auf den polnischen
35 36 37 38
Kossert: Masuren, S. 249–250. Wrzesiński: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 140–141. Ebenda, S. 202. Ebenda, S. 222–230.
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Ministerpräsidenten Ignacy Paderewski.39 Erst nach dem katastrophalen Abstimmungsergebnis in Ostpreußen wurde davon Abstand genommen und versucht, die Bestimmung für Oberschlesien auszusetzen.40 Die polnische Seite arbeitete außerdem daran, den aus dem Westen anreisenden Abstimmungsberechtigten eine Durchreise durch den Danziger Korridor zu verweigern, woraufhin die deutsche Seite die Abstimmungsberechtigten auf dem Seeweg nach Ostpreußen bringen musste.41 Dies wirkt aufgrund der Tatsache, dass Polen die Zulassung der verzogenen Abstimmungsberechtigten zunächst befürwortet hat, widersprüchlich, doch scheint außer Paderewski kaum jemand besonders optimistisch bezüglich des Wahlausgangs gewesen zu sein. Lewandowski hatte schon auf der Konferenz in Paris Bedenken gegen die Zulassung der Emigranten geäußert.42 Ca. 25.000 deutschen Stimmberechtigten wurde im Vorfeld des Plebiszits der Übertritt der Grenze verwehrt;43 „wegen angeblich fehlender Legitimationspapiere“44. Das führte zu dem Gerücht, dass die polnische Seite den Korridor geschlossen hätte, um Truppenbewegungen zu verbergen, und ein polnischer Angriff auf das Abstimmungsgebiet bevorstünde.45 Der Tag des Plebiszits wurde schließlich feierlich inszeniert. Die Beflaggung des Gebietes dominierten schwarz-weiß-rote und schwarz-weiße Fahnen, wohingegen schwarz-rot-goldene Fahnen nur vereinzelt vorkamen.46 Hier wurde deutlich, wer die Oberhand im Gebiet hatte, nämlich reaktionäre Kreise um die „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP), deren Duktus auch die Propaganda bestimmt hatte. Es gab deshalb sogar von Seiten der SPD Bedenken, überhaupt mit den Abstimmungsorganisationen zusammenzuarbeiten.47 *** Für eine demokratische Abstimmung mutet es seltsam an, dass sich die Wahlberechtigten ihre Stimmzettel von „Vertrauensleuten“ abholen mussten und in 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Ebenda, S. 124–125. Hitze, Guido: Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 40), Düsseldorf 2002, S. 347–349. Siehe auch: Rautenberg: Volksabstimmung in Ermland und Masuren, S. 83. Kossert: Masuren, S. 251. Wrzesiński: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 125. Rautenberg: Volksabstimmung in Ermland und Masuren, S. 84. Rautenberg: Stimmung der Bevölkerung, S. 53. Ebenda, S. 54. Überliefert ist diese Beflaggung für die Stadt Sensburg, allerdings soll es in den anderen Städten vergleichbar ausgesehen haben, siehe Rautenberg: Stimmung der Bevölkerung, S. 55–56. – Siehe auch Kossert: Masuren, S. 251–254. Rautenberg: Stimmung der Bevölkerung, S. 42–44.
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den Wahllokalen dann nur leere Umschläge ausgehändigt wurden. Das geht aus zwei Handzetteln, die in den Tagen vor der Abstimmung verteilt wurden, hervor, in denen es heißt: Der richtige Stimmzettel wird Euch durch unsere Vertrauensleute gegeben werden; er lautet: ‚Ostpreußen‘ (Prusy wschodnie) Alle anderen Stimmzettel weist zurück oder vernichtet sie.48
Im zweiten Handzettel heißt es: I. Dein Stimmzettel enthält die Worte: Ostpreußen (Prusy wschodnie). Streiche nicht das Wort ‚Prusy wschodnie‘ weg. Wenn Du es tust, ist Deine Stimme ungültig. II. Giebt man Dir einen Stimmzettel, auf dem nur das Wort ‚Ostpreußen‘ oder ‚Deutschland‘ steht, so vernichte ihn. Dieser Stimmzettel ist ungültig. III. […] 3. Sieh nach, ob der Umschlag, der Dir im Wahllokal ausgehändigt wird, leer ist.49
Teilweise wurde die Aushändigung der polnischen Stimmzettel verweigert und von den „Vertrauensleuten“ versucht, den Wahlberechtigten ihre polnischen Stimmzettel wieder abzunehmen. Außerdem kam es auch vor, dass der Inhalt der Umschläge vor dem Einwurf geprüft und im Falle eines polnischen Zettels der Name der Person notiert wurde.50 Die Kontrollkommission für die Durchführung des Plebiszits sollte eigentlich paritätisch besetzt sein. Allerdings nahmen in einigen Kreisen polnischsprachige, deutschgesinnte Masuren die polnischen Plätze ein.51 Den Abstimmenden muss klar gewesen sein, dass ein Bekenntnis zu Polen nach der Wahl zu massiven Repressionen führen würde, und genau so kam es auch. Das Ergebnis fiel mit fast 100 Prozent zu Gunsten Deutschlands aus, bei einer Wahlbeteiligung von 88 Prozent.52 Trotz des eindeutigen Erfolgs für Deutschland entlud sich eine Welle des Hasses gegenüber Personen, die sich für
48 49 50 51 52
Abbildung 5.1 „Handzettel, verteilt vor der Abstimmung“, in: Schmidt, Volker/Freyberg, Wolfgang (Hg.): Die Volksabstimmung am 11. Juli 1920 in Ost- und Westpreußen, herausgegeben von der Landsmannschaft Ostpreußen, Abt. Kultur, Hamburg 1990, S. 36. Abbildung 5.2 „Handzettel, verteilt vor der Abstimmung“ in: Schmidt, Volker/Freyberg, Wolfgang (Hg.): Die Volksabstimmung am 11. Juli 1920 in Ost- und Westpreußen, herausgegeben von der Landsmannschaft Ostpreußen, Abt. Kultur, Hamburg 1990, S. 37. Wrzesiński: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 270. Ebenda, S. 225. Kossert: Masuren, S. 254, 258.
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Polen ausgesprochen hatten. Sie mussten das Land verlassen.53 In Anbetracht der vorherrschenden Bedingungen scheint es fraglich, ob der polnischen Seite überhaupt jemand Chancen eingeräumt hatte. In fünf Dörfern hatte es eine Mehrheit für Polen gegeben, drei davon wurden aufgrund ihrer grenznahen Lage auch tatsächlich an Polen abgetreten.54 Laut Wrzesiński habe außerdem die Formulierung der Optionen auf dem Wahlzettel, also „Ostpreußen“ statt „Deutschland“, den Abstimmenden suggeriert, es würde um einen autonomen Staat Ostpreußen und nicht um einen Verbleib bei Deutschland gehen, was sich wiederrum negativ für die polnische Seite ausgewirkt hätte.55 Die Gründe der polnischsprachigen Ostpreußen, für den Verbleib bei Deutschland zu stimmen, waren sicherlich unterschiedlich. Es ist nicht davon auszugehen, dass ausschließlich ihre nationale Identität ausschlaggebend war. Vermutlich sehnten sich die Menschen auch nach Sicherheit und Frieden und wollten deshalb nicht zum instabilen, jungen Staat Polen gehören, der gerade Krieg gegen Sowjetrussland führte.56 Wrzesiński sieht die Schuld auch bei den Alliierten, sie seien parteiisch gewesen.57 Kossert sieht das Problem eher darin, dass die Alliierten zu wenige Einheiten stationiert hatten und deshalb der ihnen zugedachten Aufgabe nicht gerecht werden konnten.58 Die Alliierten waren auch für die Ansetzung des Wahltermins verantwortlich,59 wobei Paderewskis Optimismus Schuld an dem frühen Termin gewesen ist,60 den zu verschieben die Alliierten sich später weigerten, als die Beziehungen zum polnischen Plebiszit-Kommissariat ihren Tiefpunkt erreicht hatten.61 Das alles bedeutet allerdings nicht, dass die polnischsprachigen Masuren nur durch Zwang zu einer Entscheidung für Deutschland gelangt wären. Auch im bereits an Polen angegliederten Soldauer Gebiet waren die Masuren nur schwer für Polen zu begeistern. So kam es bei einer Veranstaltung des polnischen „Masurischen Komitees“ im Soldaugebiet zu einem Eklat, als die Menge das
53 54 55 56 57 58 59 60 61
Vgl. Kossert: Masuren, S. 254–258. – Siehe auch Bystrzycki, Piotr: Die Bedeutung und Rolle des Soldaugebietes in den Plebisziten in Masuren im Jahre 1920, in: Jähnig (Hg.): Die Volksabstimmung 1920, S. 113–131, hier S. 124. Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 157. Wrzesiński: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 309. Göthel, Thomas: Demokratie und Volkstum. Die Politik gegenüber den nationalen Minderheiten in der Weimarer Republik, Köln 2002, S. 153. Wrzesiński: Das Recht auf Selbstbestimmung, S. 22. Kossert: Masuren, S. 249. Pölking: Ostpreußen, S. 442. Wrzesiński: Plebiscyty na Warmii i Mazurach, S. 103–104. Ebenda, S. 228–230.
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Deutschlandlied anstimmte und die Versammlung sprengte.62 Die Masuren fühlten sich zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht als Polen.63 Festzuhalten bleibt also, dass die deutsche Seite bei der Vorbereitung der Plebiszite enorme Vorteile genoss, was dennoch nicht der ausschlaggebende Grund für das Ergebnis gewesen sein wird. Die protestantischen Masuren fühlten sich Deutschland schlicht näher als dem katholischen Polen. Dies zu ändern hätte enorme Überzeugungsarbeit bedurft, die damals aber von polnischer Seite nicht geleistet werden konnte. Der nationalpolnische Optimismus bekam mit dem Ausgang der Plebiszite einen empfindlichen Dämpfer. Polen nahm sich die Warnung zu Herzen – die bei der Vorbereitung des Plebiszits in Ostpreußen begangenen Fehler wiederholten sich in Oberschlesien nicht.
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Bystrzycki: Die Bedeutung und Rolle des Soldaugebietes, S. 116–117. – Siehe auch Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen, S. 158–159. Vgl. Blanke: Polish-speaking Germans, S. 193.
Die Volksabstimmung in Schleswig 1920 Grażyna Szelągowska Gemäß dem Grundsatz der Selbstbestimmung der Nationen, wie in der Rede des amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson vom 8. Januar 1918 und in seiner Ansprache vor dem amerikanischen Kongress vom 11. Februar desselben Jahres formuliert, wurden nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Europa eine Reihe von Volksabstimmungen durchgeführt (in Oberschlesien, Kärnten, Sopron, Ermland und Masuren sowie Eupen-Malmedy). Sie sollten dazu dienen, neue Grenzen entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit und dem Willen der Völker zu ziehen. Zur Enttäuschung der Dänen ließ Präsident Wilson in seinen 14 Punkten die Frage der deutsch-dänischen Beziehungen und damit die Lösung der dänischen Minderheit in Schleswig offen. Aus der Sicht der Supermächte war dies wahrscheinlich eine unbedeutende Angelegenheit, aber nicht für Dänemark. Nicht umsonst wurde der Verlust der Herzogtümer Schleswig und Holstein im Jahr 1864 von den Dänen als weitere Teilung der dänischen Monarchie betrachtet.1 Dies bedeutete, dass die Dänen die Initiative ergreifen und die Mächte dazu bringen mussten, auch für diese Region Nordeuropas einer Volksabstimmung zuzustimmen. Am 10. Juli 1920 überquerte der dänische Monarch Christian X. auf einem Schimmel die Linie südlich der Stadt Kolding, die bis dahin die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland markiert hatte. Einen Tag später bejubelten Tausende überschwänglicher Dänen in Dybbøl – einem Ort, der an die schreckliche Niederlage der dänischen Armee im Krieg gegen Preußen 1864 erinnert – die Rückkehr dieses Teils von Schleswig nach Dänemark. Symbolische Gesten und Ereignisse verdeutlichten die jahrhundertelange Geschichte der dynastischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der dänischen Monarchie und den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Diese waren so verwoben, dass nur wenige in Dänemark ihr Wesen verstanden, als sie Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem akuten Konflikt eskalierten. Es war lediglich bekannt, dass Schleswig und Holstein „schon immer“ zu Dänemark gehört hatten. Um zu verstehen, wie wichtig Schleswig für Dänemark war, lohnt es sich also, zumindest den Hintergrund und die Entstehung
1 Die erste Teilung stellte der Verlust von Schonen zugunsten Schwedens im Jahr 1658 dar; die zweite Teilung war die Auflösung der dänisch-norwegischen Union und die Angliederung Norwegens an Schweden im Jahr 1814.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_030
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dieses dänisch-deutschen Streits zu skizzieren, der sich stark von der historischen Situation – beispielsweise in Oberschlesien – unterscheidet. Schleswig war ein ehemaliges Lehen der dänischen Krone, und sein Herrscher – als Herzog von Schleswig – war der dänische Monarch. Nach der Einverleibung von Teilen Schleswigs, die der Gottorf-Linie der Herzöge von Holstein gehörten, in das dänische Lehen 1721 herrschte er bereits über das gesamte Herzogtum.2 Ungleich verwirrender waren die Verhältnisse im Herzogtum Holstein. Als Herzog von Holstein herrschte der dänische Monarch nur über Teile des Herzogtums, andere wurden vom Herzog der Gottorf-Linie regiert und wieder andere standen unter der gemeinsamen Verwaltung beider Herzöge. Als Oberhaupt der Oldenburgischen Dynastie verwaltete der dänische Monarch auch die norddeutsche Grafschaft Oldenburg. Staatsrechtlich gesehen waren sowohl Holstein als auch Oldenburg zugleich Teil des Deutschen Reiches, sodass der dänische Monarch als Herrscher dieser Fürstentümer zugleich ein Lehnsherr des Kaisers war. Außerdem galt der Grundsatz der Untrennbarkeit der beiden Herzogtümer, der von der schleswig-holsteinischen Ständeversammlung Mitte des 15. Jahrhunderts beschlossen worden war. In Bezug auf Sprache und Nationalität war die dänische Bevölkerung ungleichmäßig verteilt. Ohne auf eine detaillierte Analyse einzugehen, lässt sich sagen, dass sie in Nordschleswig eindeutig dominierte, während sie südlich des Flusses Ejderen in der Minderheit war. Die geringsten Siedlungskonzentrationen bestanden in Südholstein. Die Geschichte und Eskalation des deutsch-dänischen Konflikts in den Herzogtümern Schleswig und Holstein ist eng mit der Geschichte des dänischen Absolutismus, seines Zusammenbruchs im Jahr 1848 und der Debatte um die 1849 verabschiedete moderne und liberale Verfassung Dänemarks verbunden. Man könnte sogar sagen, dass hier eine Art Rückkopplungseffekt im Gange war: Die Debatte um den Systemwechsel sowie die aufeinanderfolgenden Verfassungsentwürfe implizierten Reaktionen der deutschen Bevölkerung der Fürstentümer und befeuerten die Entzündung des Konflikts. In den Fürstentümern verstärkten sich überdies die separatistischen Forderungen der deutschen Professoren und Studenten der Kieler Universität und des Kieler Bürgertums, die durch die Ereignisse in Deutschland selbst inspiriert waren. Gestützt auf die dynastischen Ansprüche der Augustenborgs – dem 2 Die Holstein-Gottorf’sche Fürstenlinie war eine der Seitenlinien des dänischen Königshauses Oldenburg und wurde von Herzog Adolf I., Enkel von Christian I. und jüngerer Bruder von Christian III., begründet. Unter anderem stammten der russische Zar Peter III. und König Adolf Friedrich von Schweden aus diesem Haus.
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schleswig-holsteinischen Zweig der Dynastie, die Dänemark regierte – forderte das Programm der Separatisten die Trennung der beiden nicht miteinander verbundenen Fürstentümer von der Monarchie und die Schaffung eines unabhängigen deutschen Herzogtums.3 Als Reaktion auf die deutschfreundlichen Tendenzen entstand in Schleswig eine dänische Nationalbewegung unter der ideologischen Führung von zwei Professoren der Kieler Universität, Christian Paulsen und Christian Flor. Im Dialog mit der deutschen Seite veröffentlichte Paulsen 1832 die Schrift „Über Volksthümlichkeit und Staatsrecht des Herzogthums Schleswig“. Unter Hinweis darauf, dass Schleswig ein traditionell dänisches Gebiet und die Hälfte der Bevölkerung noch immer dänisch sei, forderte er, in Bezirken mit dänischer Vorherrschaft (d.h. mit dänischen Schulen und Kirchengemeinden) die dänische Amtssprache einzuführen.4 Dies brachte die sogenannte Sprachenfrage in Nordschleswig auf die Tagesordnung, wo trotz der Dominanz des dänischen Nationalgefühls Deutsch die Amtssprache war.5 Diese komplizierte nationale und sprachliche Zusammensetzung Schleswigs sollte einige Jahrzehnte später, bei der Debatte um die Struktur der Volksabstimmungsbezirke im Jahr 1920, ein erhebliches Problem darstellen. Christian VIII., der seit 1839 auf dem dänischen Thron saß, hatte den Ehrgeiz, die beiden verfeindeten Nationalitäten zu versöhnen, indem er sie in Bezug auf ihre Privilegien gleichstellte. 1840 erließ er das sogenannte „Sprachreskript“, durch das die dänische Sprache in Schleswig in denjenigen Bezirken eingeführt wurde, in denen sie in Schulen und Kirchengemeinden verwendet wurde. Diese Maßnahme zeitigte jedoch den gegenteiligen Effekt – denn die deutschen Einwohner sahen darin einen ersten Schritt zur Dänisierung des gesamten Herzogtums. Der Konflikt verschärfte sich weiter. Ein Ergebnis der Aktivierung der dänischen Einwohner des Herzogtums war die Gründung der ersten nationalen Organisation in Schleswig, der Schleswiger Vereinigung (den Slesvigske Forening), einen Monat später. Ihre Mitbegründer waren 25 Landwirte.6 3 Lorenzen, Hjort P.: Udvalg af Breve fra Mænd og Quinder skrevne gjennem en lang Række Aar til P. Hjort, København 1867–1869, Bd. 1, S. 284: Schreiben vom Nicolai Fogtmann vom 4.12.1830. 4 Paulsen, Christian: Über Volkstümlichkeit und Staatsrecht des Herzogtums Schleswig, Kiel 1832, passim. 5 Lehmann, Orla: Det danske i Slesvig. Tale paa Trykkefrihedselskabets Generalforsamling den 4de Nov. 1836, in: Orla Lehmanns Efterladte Skrifter, bearb. v. Carl Ploug, Bd. III, Kjøbenhavn 1873, S. 68–69, sowie RA. PA. Orla Lehmann, No. 5864, oraz J. Hage Om det danske Sprog i Slesvig, „Fædrelandet“ vom 15.10.1836. 6 Ottosen, Johan: Peder Hiort Lorenzens historiske gerning, 1896, S. 153–160.
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Schließlich ist noch das Phänomen der Volksuniversitäten zu erwähnen, dessen Urheber Nikolai Frederik Severin Grundtvig war: Pastor, Pädagoge, Dichter, Politiker und die bedeutendste Persönlichkeit der dänischen Kultur im 19. Jahrhundert. In mehreren Broschüren stellte Grundtvig einen neuen Lehrplan für die untersten sozialen Schichten vor, der zur Ausbildung eines staatsbürgerlichen und nationalen Bewusstseins beitragen und die Fähigkeiten zur Formulierung von Sprache und Gedanken entwickeln sollte.7 Die genannten Volksuniversitäten entstanden ab den 1840er Jahren in Dänemark, und wurden zunächst genau nach den von Grundtvig vorgeschlagenen genossenschaftlichen Prinzipien aufgebaut. Der nationale Charakter des Grundtvig-Programms führte dazu, dass sich dieses zuerst in Schleswig und Südjütland etablierte, von wo aus es sich ein Jahrzehnt später über das ganze Land ausbreitete. Die erste, 1844 in Rødding gegründete Volksuniversität war bis 1870 in Betrieb, d.h. bis zur Besetzung Schleswigs durch Preußen nach dem preußisch-österreichisch-dänischen Krieg. Nach der Errichtung der konstitutionellen Monarchie in Dänemark im Jahr 1849 (die Verfassung wurde ein Jahr später verabschiedet) stellte der Streit um die Organisation der Monarchie eines der wichtigsten politischen und rechtlichen Probleme in den Jahren von 1848 bis 1864 dar, d.h. die Versuche, Schleswig an Dänemark anzugliedern und dieses Fürstentum dem dänischen Grundgesetz zu unterwerfen. Diese Bestrebungen, die dänische Monarchie gemäß der früheren Politik des Unitarismus aufrechtzuerhalten, lösten ihrerseits den dänisch-deutschen Konflikt aus und hatten schwerwiegende Folgen für das dänische Staatssystem. Abgesehen von einer kurzen konservativen Episode zwischen 1852 und 1855 waren die Nationalliberalen bis 1864 an der Macht. Die politische Couleur der Regierung prägte die nationale Politik, vor allem die späteren Vorhaben, die Fürstentümer formell (durch eine gemeinsame Verfassung) an Dänemark zu binden. Der in den 1840er Jahren entstandene Slogan „Dänemark nach Ejdera“, d.h. die Trennung der beiden Fürstentümer und die Angliederung Schleswigs an Dänemark, wurde wiederbelebt. Den ersten Versuch dieser Art bildete die Verabschiedung einer neuen Verfassung für Dänemark und die beiden Fürstentümer im Jahr 1855. Aufgrund des Widerstands der holsteinischen Länder und
7 Grundtvig, Nikolai Frederik Severin: Det danske Fiir-Kløver eller Danskheden partisk betragtet. København 1836, in: ders.: Værker i udvalg, udg. G. Christensen, H. Koch, Bd. IV, København 1943, S. 145–185, sowie Til Nordmænd om en norsk højskole. Christiania 1837, in: ebenda, S. 186–198.
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des Drucks Preußens sowie der gesamten Deutschen Union wurde sie jedoch drei Jahre später bereits wieder ausgesetzt.8 Eine weitere Initiative ergriffen 1863 die Nationalliberalen, die auf ein mangelndes Interesse Preußens hofften, das mit dem Januaraufstand in Polen beschäftigt war. Im November stimmte das Parlament ab und der Nachfolger des gerade verstorbenen Friedrich VII., Christian IX., unterzeichnete eine neue Verfassung, die Dänemark und Schleswig einschloss. Diese brach die „heilige“ und unantastbare Union der Fürstentümer seit Mitte des 15. Jahrhunderts und rief entsprechend heftige Proteste der deutschen Staaten unter der Führung Preußens hervor. Letztlich dienten die dänischen Beschlüsse dem preußischen Reichskanzler Otto von Bismarck als Vorwand, um seine Pläne zur deutschen Einigung zu verwirklichen. In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1864 überschritten preußische und österreichische Truppen die Ejder und der Zweite Krieg um Schleswig und Holstein begann. Schon bald zeigte sich, dass Dänemark in dieser Auseinandersetzung nicht die geringste Chance hatte. Die Schlacht von Dybbøl am 18. April 1864 wurde für mehrere Generationen von Dänen zum tragischen Symbol der Niederlage, bei der 1.200 dänische Soldaten getötet, 500 verwundet und 3.000 gefangen genommen wurden. Die nachfolgenden Verhandlungen dauerten nicht besonders lange an, da die Siegermächte Dänemark Friedensbedingungen auferlegten. Am 30. Oktober 1864 verzichtete Christian IX. „auf alle Rechte an den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg zugunsten des Kaisers von Österreich und des Königs von Preußen und verpflichtete sich, alle Anordnungen anzuerkennen, die die genannten Herrscher in Bezug auf diese Herzogtümer treffen würden.“9 Infolge dieses Abkommens verlor Dänemark nicht nur Lauenburg und Holstein, sondern auch ganz Schleswig, was dem Verlust von etwa 19.000 Quadratkilometern Land mit 800.000 Einwohnern oder einem Drittel seiner Fläche und Bevölkerung entsprach. Fast 200.000 Schleswiger Dänen fanden sich außerhalb der Landesgrenzen wieder, davon lebten fast 170.000 in den fünf Kreisen Nordschleswigs, wo sie bis zu 99 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Mit dem Frieden von Wien (1864), der den Zweiten Schleswig’schen Krieg beendete, verlor Dänemark die Herzogtümer Schleswig und Holstein an die preußisch-österreichische Koalition (oder formell die Deutsche Union). 8 Es ist erwähnenswert, dass der Urheber des Entwurfs der neuen Verfassung, Ministerpräsident Carl Georg Andræ, 1854 ganz nebenbei eines der ersten Systeme zur Berechnung der Mandate nach dem Verhältniswahlrecht in Europa entwickelte, das in seinen wesentlichen Teilen 1915 in Dänemark eingeführt wurde und mit Änderungen noch heute gilt. 9 Czapliński, Władysław: Dzieje Danii nowożytnej (1500–1975), Warszawa 1982, S. 199.
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Zwei Jahre später, nach einem für Preußen siegreichen Krieg mit Österreich, musste die Habsburgermonarchie ihren Anteil der Macht über die Fürstentümer an Preußen abtreten. Dank der Vermittlung des französischen Kaisers Napoleon III. enthielt der Vertrag übrigens unter Punkt 5 folgende Bestim mung: „Die Einwohner der nördlichen Bezirke Schleswigs werden an Dänemark übergeben, wenn sie sich in einer Volksabstimmung für die Vereinigung mit Dänemark aussprechen.“10 Diese Bestimmung war jedoch nirgends festgelegt, und im Januar 1867 gliederte Preußen die beiden Fürstentümer in Gänze skrupellos ein. Die Forderung nach einem Plebiszit gemäß Paragraph 5 wurde zu einem zentralen Punkt in den Programmen der Schleswiger Dänen und der aufkommenden nationalen Bewegung in Nordschleswig. Als Preußen jedoch 1879 den Bündnisvertrag mit Österreich unterzeichnete, beschlossen beide Mächte einstimmig, ihn aufzuheben. Die dänische Bevölkerung, die Preußen einverleibt worden war, wurde sofort Vereinheitlichungsmaßnahmen unterworfen, die sich nach der deutschen Reichsgründung 1871 noch erheblich verschärften: Beamte und Pastoren mussten einen Eid auf die preußische Verfassung ablegen. Diejenigen, die sich weigerten, wurden ohne Anspruch auf Rente entlassen. Viele junge Menschen, die den dreijährigen Militärdienst in der preußischen Armee fürchteten, flohen nach Dänemark oder in die Vereinigten Staaten. Infolgedessen ging die dänische Bevölkerung in Schleswig zum Nachteil der dänischen Nationalbewegung um fast 10.000 Personen zurück. Der dänischen Sprache wurden Beschränkungen auferlegt, und sie wurde fast vollständig aus den Schulen verbannt (nur in einigen wenigen Stunden in den weiterführenden Schulen blieb sie erhalten). Die dänischen Volkshochschulen, deren Lehrplan fast ausschließlich auf der Pflege dänischer nationaler Traditionen beruhte, wurden geschlossen. Teilnehmer an Versammlungen, bei denen dänische Lieder gesungen wurden, mussten mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen. Selbst die Verwendung des Begriffs „Südjütland“ anstelle von „Nordschleswig“, der auf frühere Verbindungen zu Dänemark hinwies, war strafbar. Zwischen 1897 und 1901, der sogenannten Ära des Oberpräsidenten Köller (nach Ernst Matthias Köller, dem preußischen Gouverneur in Schleswig), verschärfte sich die Repressionspolitik gegen die Dänen erneut, da die preußischen Behörden eine Politik des Aufkaufs von Land der dänischen Minderheit und der Ausweisung nationaler Aktivisten nach Dänemark betrieben. Auch nach Köllers Weggang gab es jedoch eine mehr oder weniger legale Praxis, von 10
Friedensvertrag Preußen-Österreich, 23. August 1866, https://danmarkshistorien.dk/vis/ materiale/freden-i-prag-23-august-1866/ [aufgerufen am 14.02.2022].
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oben herab zu entscheiden, welche dänischen Einwohner Schleswigs die dänische Staatsbürgerschaft beibehalten hatten, um sie aus dem Land ausweisen zu können. Darüber hinaus galten Kinder von Eltern mit dänischer Staatsangehörigkeit bei Erreichen der Volljährigkeit als staatenlos, wodurch ihnen ihre Bürgerrechte in erheblichem Maße entzogen waren. Dank mehrjähriger Verhandlungen des prominenten Führers der dänischen Nationalbewegung in Nordschleswig und langjährigen Mitglieds des preußischen Landtags sowie deutschen Reichstags, Hans Peter Hanssen-Nørremølle, kam es im Januar 1907 zu einer Einigung, in deren Folge fast 4.000 Menschen die Möglichkeit erhielten, die deutsche Staatsbürgerschaft (und damit alle politischen und sozialen Rechte) zu erhalten.11 Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg veränderte die Situation der dänischen Minderheit in Nordschleswig grundlegend. Auch die Rede des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen spielte dabei eine Rolle, auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand in der Entente an die Dänen dachte. Hans Peter Hanssen-Nørremølle, neben den oben genannten Funktionen auch langjähriger dänischer Reichstagsabgeordneter, erörterte angesichts der zu erwartenden deutschen Niederlage am 5. Oktober 1918 inoffiziell diese Frage. In einem Schreiben an die dänische Regierung wies er darauf hin, dass das deutsche Außenministerium sogar eine dänische Initiative für eine Volksabstimmung in Schleswig erwartete.12 Das dänische Volksabstimmungskomitee, das eilig in Flensburg zusammenkam, einigte sich darauf, dass sich die Forderungen auf deutscher Seite auf den Teil von Schleswig konzentrieren sollten, in dem die „dänische Sprache und Identität vorherrschen“, d.h. entlang einer Linie südlich von Tønder und nördlich von Flensburg.13 Am 23. Oktober 1918 legte Hanssen dem Parlament die offizielle dänische Forderung der Annexion der nördlichen und damit dänisch dominierten Teile Schleswigs vor.14 Als Rechtsgrundlage verwies er nicht nur auf die Rede von Präsident Wilson, sondern auch auf den 1879 aufgehobenen Paragraphen 5 11
12 13 14
Es ist erwähnenswert, dass Hans Peter Hanssen-Nørremølle im Reichstag auch mit polnischen Abgeordneten zusammenarbeitete, darunter Stanisław Motty, Pater Ludwik Jażdżewski, Leon Czarliński, Piotr Wawrzyniak und Wojciech Korfanty. Ziel war vor allem der Kampf für die Rechte der nationalen Minderheiten, aus dem sich häufig echte Freundschaften entwickelten. Siehe auch: Czapliński, Władysław: Polska a Dania XVI–XX, in: Studia, Warszawa 1976, S. 322–342. Christiansen, Niels Finn: Klassesamfundet organiseres. 1900–1925. Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie, hrsg. V. O. Olsen, Bd. 12. Copenhagen 1990, S. 275. Ebenda. Die Rede von Hans Peter Hanssen-Nørremølle im Reichstag, 23.10.1918, https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/h-p-hanssen-tale-i-den-tyske-rigsdag-om-graensedragning-islesvig-23-oktober-1918/ [aufgerufen am 14.02.2022].
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des dänisch-preußischen Vertrages von 1864. Dies wurde jedoch von deutscher Seite abgelehnt; allein der Aufruf Wilsons wurde als Rechtsgrundlage akzeptiert. Am selben Tag trat die dänische Regierung zu einer Vollversammlung zusammen, deren Hauptthema die Aufrechterhaltung einigermaßen guter Beziehungen zu Deutschland war. Dafür sollte ein bilaterales und freiwilliges Abkommen über Schleswig geschlossen werden. Nach dem Durchsickern der Information protestierte die britische Regierung jedoch vehement und wies darauf hin, dass ein separates Abkommen in dieser Angelegenheit den dänischen Handel gefährden konnte.15 Am 16. und 17. November versammelten sich Vertreter der dänischen Wahlausschüsse (etwa 60 Personen) in Aabenraa, um das Hanssen-NørremølleKonzept für Nordschleswig zu unterstützen. Die Grenzlinie dieses Gebietes wurde auf Grundlage der Forschungen des Historikers Hans Victor Clausen gezogen, der das Ausmaß der dänischen nationalen Identität akribisch definiert hatte (es deckte sich mit Hanssens Postulat). Die Frage von Mittel- und Südschleswig blieb nicht nur ungelöst, sondern stellte ein ernsthaftes politisches Problem dar. Im Herbst 1918, noch vor Kriegsende, schlossen sich Wissenschaftler, Vertreter des wirtschaftlichen und politischen Lebens sowie des Militärs zur Organisation „Sønderjysk kreds af 1918“ (Südjütländischer Kreis von 1918) zusammen. Der Zirkel war nicht groß, genoss aber die Unterstützung der jungen nationalistischen Konservativen und eines Teils der Studentenvereinigung. Sein Ziel bestand in der Eingliederung ganz Schleswigs bis zur Linie der mittelalterlichen Befestigungsanlagen von Dannevirke (ungefähr auf Höhe der Grenze zu Holstein; dieses südlichste Projekt wurde von Frankreich stark unterstützt) in die dänische Monarchie, oder etwas realistischer, die Teilung Mittelschleswigs mitsamt der Stadt Flensburg. Dieses Konzept war im Vertragstext ursprünglich als Zone drei enthalten (später verworfen). Die Idee bezog sich zum einen auf das Programm der Nationalliberalen, das auf die 1840er Jahre zurückging, und zum anderen auf eine ganze Reihe von nationalen Symbolen. Es wurden verschiedene Argumente vorgebracht: vom historischen Anspruch Dänemarks auf ganz Schleswig (hier ein Verweis auf die Lehnsgeschichte der dänischen Könige, die bis Mitte des 15. Jahrhunderts zurückreicht) bis hin zum Hinweis auf den geplanten neutralen Status des Nord-Ostsee-Kanals. Die Mitglieder des Kreises übten nicht nur Druck auf die dänische Regierung aus, sondern führten auch intensive Gespräche mit Vertretern der Großmächte in Paris. 15
Christiansen: Klassesamfundet organiseres, S. 276.
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In Dänemark hingegen eskalierte der Konflikt gewaltig. Im Februar und März 1920, fast unmittelbar vor der Volksabstimmung, beschuldigten sich die Dänen gegenseitig des Landesverrats (als Verräter wurde auch Hans Peter Hanssen bezeichnet) und des nationalen Chauvinismus. Zudem wurde die Niederlage von 1864 im Krieg gegen Preußen angeführt, deren Grund ja der Versuch gewesen war, Schleswig in die dänische Monarchie einzugliedern. Die Mehrheit der dänischen Minderheit in Schleswig sowie die liberale Regierung von Ministerpräsident Carl Theodor Zahle sprachen sich jedoch für eine Eingliederung der nördlichen Teile Schleswigs aus und betonten, dass es sonst eine unerwünschte deutsche Minderheit in Dänemark geben würde. Die dänische Regierung optierte entschieden für die Version von Hans Peter Hanssen-Nørremølle, der das Konzept eines Plebiszits in speziell abgegrenzten Zonen entwickelt hatte, und auf dringendes Ersuchen der dänischen Regierung verschwand die dritte Zone aus dem Vertrag. In Nordschleswig, nördlich der Stadt Flensburg (Zone eins), sollte die Abstimmung en bloc erfolgen, um die Stimmen aus den deutsch dominierten Städten zu außer Acht lassen zu können. Und in Mittelschleswig, einschließlich Flensburg (Zone zwei), wurden Volksabstimmungsbezirke eingerichtet, die mit den Gemeinden übereinstimmten. Dieses Vorgehen wurde schließlich von den Großmächten im Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 akzeptiert.16 Die Einteilung in Wahlbezirke war eindeutig eine Folge der vorausgesagten günstigen Ergebnisse für Dänemark. Gemäß dem Versailler Vertrag sollte die Volksabstimmung in Schleswig in zwei Runden stattfinden: in Nordschleswig und in Mittelschleswig, mit Flensburg als Hauptzentrum. Die deutschen Behörden waren verpflichtet, das Gebiet südlich der Linie Schleswig (Stadt) – Husum zu räumen, was die deutsche Verwaltung jedoch nur teilweise und nur in den südlichen Bezirken durchführte. Eine internationale Kommission aus Vertretern Frankreichs, Großbritanniens, Norwegens und Schwedens (Commission Internationale de Surveillance du Plebiscite Slesvig, CIS) wurde eingesetzt und französische Truppen besetzten das umstrittene Gebiet. Der Vertrag legte vier Kategorien von Wahlberechtigten fest: diejenigen, die im Abstimmungsgebiet geboren waren und dort lebten; diejenigen, die außerhalb des Abstimmungsgebiets geboren waren, aber dort lebten; diejenigen, die anderswo geboren waren, aber seit dem 1. Januar 1900 in Schleswig lebten; und diejenigen, die außerhalb Schleswigs geboren waren und vor 1900 im Abstimmungsgebiet gelebt hatten, aber von der deutschen Verwaltung aus dem Land ausgewiesen worden waren. Wie man sieht, versuchte der Vertrag 16
Fink, Troels: Da Sønderjylland blev delt 1918–1920, Aabenraa 1979, S. 19.
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auf interessante Art und Weise, alle möglichen Varianten des Schicksals der Dänen und Schleswiger nach der Niederlage von 1864 zu berücksichtigen. In Fortführung dieser Denkweise versuchten die dänischen Behörden, für jede Kategorie je eine Wahl durchzuführen („vier Wahlurnen“), was die CIS jedoch ablehnte. Am 10. Februar 1920 stimmten in Nordschleswig (Zone I) 74,2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung für den Anschluss an Dänemark. Insgesamt nahmen 101.652 Bürgerinnen und Bürger an der Abstimmung teil, was einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 91,5 Prozent entsprach. Ähnlich wie bei der Volksabstimmung in Oberschlesien nahm auch eine große Gruppe von „Emigranten“ an der Abstimmung teil. Dies waren etwa 28.000 Personen von fast 111.000 Wahlberechtigten – 16.638 kamen aus dem Norden (wahrscheinlich aus Dänemark) und 11.609 aus dem Süden (Schleswig und Holstein). Schätzungen zufolge stimmten 62 Prozent von ihnen für Dänemark und 38 Prozent für Deutschland. Am 14. März desselben Jahres stimmte Mittelschleswig (Zone II) für die deutsche Option, und zwar mit einem Verhältnis von 80 zu 20 Prozent der dänischen Stimmen. In Flensburg entschieden sich 75 Prozent der Bevölkerung für die Zugehörigkeit zu Deutschland. Wie in Oberschlesien oder Ermland und Masuren wurde auch in Schleswig ein Propagandakrieg geführt, bei dem hauptsächlich Flugblätter eingesetzt wurden. Ihr Inhalt konzentrierte sich in erster Linie auf wirtschaftliche Themen und die Situation der Arbeiterklasse (die deutschen Flugblätter befassten sich insbesondere mit der Situation in Flensburg).17 In ähnlicher Weise betonten die Dänen (bezeichnenderweise fast ausschließlich auf Deutsch) den dänischen Wohlstand, die Stärke der dänischen Landwirtschaft, aber auch ihre starke Demokratie und hohe politische Kultur.18 Im Mai 1920 wurde Nordschleswig sukzessive eingenommen und dänische Truppen rückten ein. Es wurden dänische Münzen eingeführt, Lokomotiven der dänischen Staatsbahn im Schienenverkehr eingesetzt, und sogar an den Austausch der preußisch-blauen Uniformen der Postboten durch dänische rote wurde gedacht. Am 15. Juni übernahm Dänemark offiziell die Verwaltung. Das Gesetzespaket für die „Vereinigung Südjütlands mit der dänischen Monarchie“ war Anfang Juli 1920 fertig. Am 10. Juli überschritt König Christian X. feierlich die Grenze südlich von Kolding. Einen Tag später trafen sich rund 17 18
Flugblatt-Sammlung, https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/tyske-flyveblade-underafstemningskampen-i-nord-og-mellemslesvig-1920/ [aufgerufen am 14.02.2022]. Flugblatt-Sammlung, https://danmarkshistorien.dk/leksikon-og-kilder/vis/materiale/ danske-flyveblade-under-afstemningskampen-i-nord-og-mellemslesvig-1920/ [aufgerufen am 14.02.2022].
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100.000 Dänen von beiden Seiten der ehemaligen Grenze in Dybbøl, dem Ort der schrecklichen Niederlage der dänischen Armee im Jahr 1864, um mit der königlichen Familie, Regierungsmitgliedern, Parlamentariern und Vertretern fast aller Gesellschaftsschichten einen der glücklichsten Momente in der Geschichte Dänemarks des 20. Jahrhunderts zu feiern. Infolge der Grenzänderung wurden rund 30.000 Schleswiger deutscher Nationalität dänische Staatsbürger, während eine dänische Minderheit von fast 10.000 Personen in Deutsch-Südschleswig verblieb. Detaillösungen – wie der genaue Grenzverlauf, die Übernahme von Ämtern oder die Regelung des Bildungswesens, des Eisenbahnwesens und von wirtschaftlichen Fragen (z.B. betreffend die Fischerei) usw. – waren im deutsch-dänischen Vertrag von 1922 enthalten. Der Status der Minderheiten auf beiden Seiten der Grenze wurde nicht festgelegt: Dänemark hielt eine solche Lösung (d.h. ein bilaterales Abkommen) für eine zu weitgehende Einmischung der deutschen Behörden.19 *** Die Schleswig-Frage tauchte 1945 unerwartet wieder auf: Die bei der Unabhängigkeit eingesetzte provisorische Regierung lehnte eine Revision der deutsch-dänischen Südgrenze kategorisch ab. Damit war die Angelegenheit jedoch keineswegs erledigt. Der Ministerpräsident der demokratisch gewählten neuen Regierung, der liberale Regierungschef Knud Kristensen, war ein glühender Verfechter der Idee, auf die Schleswig-Frage zurückzukommen. Die Bewegung, die sich nach 1945 in Schleswig entwickelte, forderte vor allem eine neue Volksabstimmung in Südschleswig. Die linke Seite der politischen Szene – die Sozialdemokratie, die Radikalliberale Partei und die Dänische Kommunistische Partei – lehnte jede Annäherung an die Frage der Grenzrevision ab, zumal die deutschsprachige Bevölkerung in diesem Teil Schleswigs vorherrschend war. Neben ihrer Abneigung, diese Frage mit den Großmächten zu diskutieren, argumentierte die Linke, dass der Wunsch der Südschleswiger, sich Dänemark anzuschließen, einzig und allein auf den Wunsch zurückzuführen sei, ihre Lebensbedingungen zu verbessern: Obwohl Dänemark immer noch mit den wirtschaftlichen Problemen der Nachkriegszeit zu kämpfen habe, sei der Lebensstandard in Dänemark viel höher als im kriegszerstörten Deutschland. Diese Ansicht teilten wohl auch mehrere tausend Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands, d.h. aus der sowjetischen 19
Rasmussen, Troels: Den dansk-tyske traktat 1922. Den praktiske ordning af den nye grænse mellem Danmark og Tyskland, Aabenraa 1996.
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Besatzungszone, die gerade in Schleswig Zuflucht gefunden hatten. Die Forderung nach einer Volksabstimmung galt jedoch nicht für diese Gruppe – die Flüchtlinge sollten nach Deutschland zurückgeführt werden, und nur die ständigen Bewohner des Gebietes ihre Stimme abgeben dürfen. Der Ministerpräsident befand sich zwar gegenüber den Abgeordneten in der Minderheit, konnte aber auf große Unterstützung in der dänischen Öffentlichkeit setzen – rund 500.000 Dänen hatten einen Aufruf zum Anschluss des südlichen Teils von Schleswig an die Monarchie unterzeichnet, und Meinungsumfragen zeigten, dass die Idee einer neuen Volksabstimmung von bis zu 75 Prozent der dänischen Bevölkerung mitgetragen wurde. Am 9. Juli veröffentlichte das dänische Parlament Folketing (d.h. praktisch eine linke Parlamentsmehrheit zusammen mit weiteren Gegnern von Kristensens Politik) eine Erklärung, in der betont wurde, dass Dänemark nur die Abschiebung der Flüchtlinge und die Achtung der Rechte der dänischen Minderheit in Südschleswig verlangen könne. In der Zwischenzeit forderten die britischen Besatzungsbehörden (der südliche Teil Schleswigs lag in der entsprechenden Zone) die dänische Regierung überraschend dazu auf, drei mögliche Lösungen für das Schleswig-Problem in Betracht zu ziehen: den Grenzverlauf ohne Volksabstimmung von oben zu regeln, eine Volksabstimmung durchzuführen und den Grenzverlauf in deren Ergebnis zu regeln oder die beiden nationalen Minderheiten einfach nach dem von den Alliierten in Mittel- und Osteuropa erfolgreich praktizierten Modell umzusiedeln. Fünf Wochen später verkündete die dänische Regierung gegen den Willen des Ministerpräsidenten, dass Dänemark keine Änderung des rechtlichen Status des südlichen Teils von Schleswig wünschte, wenngleich die Einwohner die Möglichkeit erhalten sollten, ihre Staatsangehörigkeit zu wählen. Am 4. Oktober 1947 verlor Kristensen das Misstrauensvotum und rief Neuwahlen aus. Enttäuscht von der Niederlage und dem Verlust an politischer Bedeutung legte er 1949 sein Mandat nieder. Aus dem Polnischen von David Skrabania
Die Kärntner Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920. Vorbereitung – Ablauf – Ergebnisanalyse Wilhelm Wadl Im 19. Jahrhundert war Kärnten eines der kleineren Kronländer im Vielvölkerreich der Habsburgermonarchie, und seit dem frühen Mittelalter ein national gemischtes Land. Bei der letzten Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg (1910) gaben vier Fünftel der Bewohner Deutsch und ein Fünftel Slowenisch als Umgangssprache an. Eine klare Sprachgrenze existierte in weiten Bereichen nicht. Viele Menschen waren zwei- und mehrsprachig.1 Im November 1918 brach das Vielvölkerreich der Habsburgermonarchie zusammen. In allen national gemischten Kronländern begann der Kampf um die Landeseinheit. Der slowenische Nationalrat in Laibach forderte den Anschluss großer Teile Kärntens an den südslawischen Staat und ordnete deren militärische Besetzung an.2 In Kärnten wurde am 11. November 1918 der Anschluss des Landes an den Staat Deutschösterreich proklamiert. Das Kärntner Landesparlament berief sich dabei auf die vom amerikanischen Präsidenten Wilson öffentlich verkündete Idee des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Für die deutschsprachigen Landesteile reklamierte man dieses Recht, für die gemischtsprachigen forderte man es für die Bewohner, also eine Plebiszitlösung.3 Südslawische Verbände besetzten vielerlei Orte im Südosten Kärntens. Am 30. November 1918 überschritten sie die Drau und eroberten Völkermarkt. Nun war auch die Hauptstadt Klagenfurt unmittelbar bedroht. Am 5. Dezember 1918 fasste die Kärntner Landesversammlung ohne Rücksprache mit der Staatsregierung in Wien den Beschluss zum militärischen Widerstand.4
1 Spezialortsrepertorium der österreichischen Länder, bearbeitet auf Grundlage der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, hrsg. v. der Statistischen Zentralkommission, Wien 1918, S. 86. 2 Webernig, Evelyne: Kärntens Freiheitskampf 1918–1920. Die Ereignisse im Lichte von Daten und Fakten, in: Der 10. Oktober 1920. Kärntens Tag der Selbstbestimmung, hrsg. v. Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt 21990, S. 25ff. 3 Beschlusssammlung der vorläufigen Landesversammlung 1918–1921, Klagenfurt 1922, S. 3ff., Nr. 1. 4 Ebenda, S. 31, Nr. 74.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_031
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Kärntner Freiwilligenverbände und Volkswehreinheiten, also das reguläre Heer der Republik Deutschösterreich, befreiten daraufhin gemeinsam innerhalb weniger Tage große Teile Kärntens.5 An den militärischen Auseinandersetzungen in Kärnten waren 1918/19 mehr als 20.000 Soldaten beteiligt. Es handelte sich somit um einen regionalen Krieg von beachtlicher Größe.6 Durch die Kämpfe zur Jahreswende 1918/19 wurde die Aufmerksamkeit einer amerikanischen Studienkommission, die von Wien aus die Probleme der künftigen Grenzziehung in Europa studierte, auf die Kärntner Frage gelenkt. Die amerikanischen Experten versuchten, sich vor Ort ein objektives Bild von der Stimmung in der Bevölkerung zu machen. Ihr Abschlussbericht, der die Haltung der amerikanischen Friedensdelegation in Paris entscheidend beeinflussen sollte, fiel eindeutig zugunsten Österreichs aus: „Hinsichtlich der nationalen Wünsche überzeugte uns unsere Untersuchung, dass die Mehrheit der Bevölkerung zwischen der Drau und den Karawanken die österreichische Herrschaft bevorzugt.“7 Die Experten empfahlen den amerikanischen Diplomaten die Karawanken als künftige Grenze und sprachen sich mehrheitlich für den Verbleib ganz Kärntens bei Österreich aus. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson konnte dies jedoch in Paris gegen den französischen Widerstand nicht durchsetzen. So einigte man sich im Fall Kärntens auf eine Volksabstimmung als Kompromisslösung. Es sollte die einzige im Friedensvertrag mit Österreich bleiben. Mehr als 3 Millionen „Deutschösterreicher“ wurden ungefragt zu Minderheiten in der Tschechoslowakei, in Italien und Jugoslawien. Die Pariser Verhandlungen über die Kärntner Grenzfrage wurden begleitet von mehrfach aufflammenden Kämpfen in Kärnten. Im April 1919 gelang den österreichischen Verbänden die Befreiung des ganzen Landes. Eine jugoslawische Offensive Ende Mai, an der nun auch kriegserprobte serbische Einheiten beteiligt waren, führte zur Besetzung Klagenfurts und löste eine große Flüchtlingswelle aus.8 5 Wutte, Martin: Kärntens Freiheitskampf 1918–1920, verbesserter Neudruck der zweiten Auflage von 1943 (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 69), Klagenfurt 1985, S. 107ff. 6 Steinböck, Erwin: Die Kämpfe im Raum Völkermarkt 1918/19 (Militärhistorische Schriftenreihe, hrsg. v. Heeresgeschichtlichen Museum, Heft 13), Wien 1969, S. 14ff. 7 Fräss-Ehrfeld, Claudia: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Frage Kärnten 1918– 1920 (Aus Forschung und Kunst 30), Klagenfurt 21996; Gigler, Christine M.: Die Berichte der Coolidge-Mission im Jahr 1919. Die mitteleuropäischen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Ersten Weltkrieg (Das Kärntner Landesarchiv 26), Klagenfurt 2001, S. 103ff. 8 Webernig: Kärntens Freiheitskampf 1918–1920 (wie Anm. 2), S. 36ff.
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Am 31. Juli 1919 zog sich die jugoslawische Armee aus Klagenfurt in die Zone I des Abstimmungsgebietes zurück, das mittlerweile von der Friedenskonferenz in seinen groben Umrissen festgelegt worden war. Am 10. September 1919 unterzeichnete Karl Renner als Vertreter der Republik Österreich den Friedensvertrag von St. Germain. Trotz aller Kritik daran war Österreich bemüht, die Ratifikation rasch zum Abschluss zu bringen. Der Vertrag trat jedoch erst in Kraft, nachdem drei alliierte Hauptmächte ihn ratifiziert und die entsprechenden Unterlagen in Paris deponiert hatten. Dies zog sich (auch aufgrund innenpolitischer Krisen in den Signatarstaaten) über viele Monate hin. Die Laufzeit aller im Vertrag angeführten Fristen begann erst am Tag des formellen Inkrafttretens, so auch für die Durchführung des Plebiszits im „Gebiet von Klagenfurt“. In der Zone I musste dieses innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages durchgeführt werden, also spätestens bis zum 15. Oktober 1920, jenes in der Zone II (für den Fall einer jugoslawischen Mehrheit in der Zone I) innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntmachung des Ergebnisses der Zone I.9 Nur jene alliierten Hauptmächte, die den Vertrag bis zu seinem Inkrafttreten ratifiziert hatten (Großbritannien, Frankreich, Italien), entsandten Vertreter in die Plebiszitkommission. Diese waren längst nominiert und kamen daher schon am 16. und 17. Juli 1920 in Klagenfurt an. Schon am Tag der Konstituierung wandte sich die Kommission mit einer feierlichen „Proklamation an die Bevölkerung des Kärntner Abstimmungsgebietes“. Sie „verbürgt die Freiheit und Aufrichtigkeit der Ausübung des Stimmrechtes. Sie kann weder vorherigen Druck noch nachfolgende Vergeltungsmaßnahmen zulassen. Sie wird kein unredliches Manöver dulden, das zu einem falschen Wahlergebnisse führen könnte. Sie wird ihre Sendung unparteiisch erfüllen und volle Gerechtigkeit in diesem feierlichen Augenblicke walten lassen, wo die Ereignisse von Euch verlangen, durch Eure Stimmabgabe nach bestem Wissen und Gewissen jenen Staat zu bezeichnen, dem Ihr in Hinkunft angehören werdet.“10 Das von der jugoslawischen Delegation auf der Friedenskonferenz in Paris beanspruchte Gebiet in Kärnten reichte weit nach Westen. Seine Nordgrenze verlief über den Kamm der Gailtaler Alpen nördlich von Villach zur Gerlitzen, dann über den Kamm der Ossiacher Tauern, den Ulrichsberg und 9
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Wadl, Wilhelm: Die Kärntner Volksabstimmung. Vorbereitung – Ablauf – Ergebnisanalyse, in: Fräss-Ehrfeld, Claudia (Hg.): Volksabstimmungen und andere Grenzlösungen nach dem Ersten Weltkrieg (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 112), Klagenfurt 2020, S. 115f. Kärntner Landesarchiv (fortan: KLA), Interalliierte Plebiszitkommission, Österreichische Sektion, Sch. 2, H 16.
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Magdalensberg bis auf die Südhänge der Saualpe und der Koralpe.11 Durch Intervention Italiens wurde der Westteil des beanspruchten Gebietes mitsamt der Stadt Villach, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt, ohne Abstimmung Österreich zugesprochen. Doch auch im verbliebenen Abstimmungsgebiet gab es in Anbetracht der überzogenen jugoslawischen Forderungen noch eine deutliche Mehrheit an deutschsprachiger Bevölkerung.12 Bei einer Gesamtabstimmung im Klagenfurter Becken, wie sie die Friedenskonferenz im Mai 1919 beschlossen hatte, wäre eine Mehrheit für Österreich sicher gewesen. Jugoslawien versuchte daher, das Plebiszit mit allen militärischen und diplomatischen Mitteln zu verhindern. Der Großangriff von Ende Mai 1919, der zur südslawischen Besetzung von Klagenfurt und des größten Teiles des Abstimmungsgebietes führte, blieb wirkungslos; auf der Friedenskonferenz konnte Jugoslawien jedoch eine wesentliche Änderung durchsetzen: Das Abstimmungsgebiet wurde in zwei Zonen geteilt. Die südlich gelegene Zone I blieb bis zur Volksabstimmung unter jugoslawischer Verwaltung.13 Der Papierform nach war nun nach dem Plebiszit eine Grenzziehung entlang der Demarkationslinie zwischen den beiden Zonen zu erwarten, denn die Zone I wies eine fast 70-prozentige Mehrheit an Wählern slowenischer Umgangssprache auf, die Zone II hingegen eine mehr als 90-prozentige deutschsprachige Mehrheit. Die genaue Abgrenzung des Abstimmungsgebietes und der beiden Zonen musste von der Plebiszitkommission allerdings erst noch vorgenommen werden. Die Zone I wurde in vier, die Zone II in zwei Abstimmungsdistrikte unterteilt. Die jeweiligen Distriktsausschüsse bestanden jeweils aus alliierten Dreierteams; Vertreter Österreichs und Jugoslawiens saßen darin nur in beratender Funktion. Den Distriktsausschüssen oblag die Kontrolle der Gemeindeausschüsse und die Behandlung von Einsprüchen in Fragen der Stimmberechtigung. Darüber entschieden in erster Instanz die Gemeindeausschüsse, denen je drei Vertreter Österreichs bzw. Jugoslawiens angehörten. Die Abstimmungsgemeinden entsprachen weitgehend den damals beste henden politischen Ortsgemeinden. Einige Gemeindegebiete wurden allerdings von den Zonengrenzen zerschnitten. Auf den drei Instanzebenen wurden schließlich insgesamt 81 Wahlkom missionen konstituiert. Dabei ist durchaus bemerkenswert, dass es sowohl 11 12 13
Wutte: Kärntens Freiheitskampf 1918–1920 (wie Anm. 5), S. 68ff. Wadl: Die Kärntner Volksabstimmung (wie Anm. 9), S. 117f. Fräss-Ehrfeld, Claudia: Volksabstimmung für Kärnten oder doch Teilung? Diplomatie in Etappen vom Jänner bis September 1919, in: Dies. (Hg.): Volksabstimmungen und andere Grenzlösungen nach dem Ersten Weltkrieg (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 112), Klagenfurt 2020, S. 97–114, bes. S. 110ff.
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Österreich als auch Jugoslawien gelang, in allen Abstimmungsgemeinden genügend Vertrauensleute für die Wahlkommissionen zu gewinnen, wenn man bedenkt, dass dieses Engagement in einzelnen Gemeinden mit einem erheblichen persönlichen Risiko verbunden war.14 Die Stimmberechtigung war in Kärnten ähnlich geregelt wie in anderen Plebiszitgebieten (Schleswig, Ostpreußen). Wahlberechtigt war, wer vor dem 1. Januar 1919 sein 20. Lebensjahr vollendet hatte und an diesem Stichtag den ständigen Aufenthalt im Abstimmungsgebiet gehabt hatte, wer dort geboren war oder mindestens seit 1. Januar 1912 seinen ständigen Wohnsitz dort hatte. Dies bedeutete, dass niemand, der erst nach der jugoslawischen Okkupation in das Abstimmungsgebiet gekommen war, ein Stimmrecht geltend machen konnte, sehr wohl jedoch jeder, der nach dem 1. Januar 1919 aus dem Abstimmungsgebiet geflohen bzw. ausgewiesen worden war.15 Ohne eine Heimkehr der tausenden Flüchtlinge, die im Juni 1919 vor den jugoslawischen Truppen geflohen bzw. später aus der Zone I vertrieben worden waren,16 war an einen österreichischen Abstimmungserfolg nicht zu denken. Eine solche setzte wiederum die Öffnung der hermetisch abgeriegelten Zonengrenze voraus. Sie wurde von der Plebiszitkommission trotz jugoslawischen Widerstandes am 6. August 1920 durchgesetzt. Daraufhin kehrten 3.600 Flüchtlinge in die Zone I zurück, jene, die Repressalien vonseiten Jugoslawiens befürchteten, aber erst kurz vor bzw. am Abstimmungstag. Dabei handelte es sich vor allem um Beamte, Lehrer und Gendarmen, die vom SHS-Staat entlassen und ausgewiesen worden waren. Die Öffnung der Demarkationslinie und die Rückkehr der Flüchtlinge lösten einen starken Stimmungsumschwung zugunsten Österreichs aus. Damit verbesserten sich auch die Bedingungen für die österreichische Propaganda in der Zone I schlagartig. Bislang hatten Aktivisten des Kärntner Heimatdienstes das österreichische Propagandamaterial in nächtlichen Aktionen unter großem persönlichem Risiko in die Zone I schmuggeln müssen; nun waren sogar öffentliche Versammlungen möglich.17 Schon im Exil in Spittal an der Drau hatte die Landesregierung am 22. August 1919 eine zentrale Propagandaorganisation geschaffen, die im 14 15 16 17
Wadl: Die Kärntner Volksabstimmung (wie Anm. 9), S. 118–120. Wadl: Die Kärntner Volksabstimmung (wie Anm. 9), S. 121. Siehe dazu ausführlich Zeloth, Thomas: Kärntner Kriegsflüchtlinge 1918 bis 1920, in: Carinthia I 204 (2014), S. 343–368. Deuer, Wilhelm: Abwehrkampf und Volksabstimmung als geistige Herausforderung. Voraussetzungen, Wege und Ziele der Propaganda, in: Der 10. Oktober 1920. Kärntens Tag der Selbstbestimmung, hrsg. v. Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt 21990, S. 61–132, bes. S. 82ff.
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September 1919 nach St. Veit zog. Am 10. März 1920 wurde diese in „Kärntner Heimatdienst“ umbenannt und siedelte nach Klagenfurt über. Die Leitung übernahm ein Triumvirat aus Spitzenrepräsentanten aller politischen Parteien. Als Geschäftsführer wurde mit Hans Steinacher18 ein prominenter Abwehrkämpfer bestellt, der in der Folge an zahlreichen weiteren Schauplätzen nationaler Auseinandersetzungen aktiv wurde und schließlich 1933 zum Leiter des VDA, des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland, berufen wurde.19 Von Klagenfurt aus wurde das gesamte Abstimmungsgebiet betreut und in allen Gemeinden ein dichtes Netz an Vertrauensleuten aufgebaut. Zum 1. August 1920 verlegte der Heimatdienst seine Arbeitsstellen in die Zone I und errichtete in allen Abstimmungsgemeinden Heimaträte als lokale Träger der österreichischen Propaganda. In der Endphase des Wahlkampfes waren sie die direkten Kontrahenten der Ortsausschüsse des Narodni svet, der schon im Juni 1919 gegründeten projugoslawischen Propagandaorganisation.20 Das zentrale Periodikum des Heimatdienstes stellte die ab 24. September 1919 erscheinende Zeitschrift „Kärntner Landsmannschaft“ dar. Eine große Zahl unterschiedlicher Broschüren, Flugblätter, Aushänge und Plakate erreichte alle sozialen Schichten unter den Wählern. Die österreichische Propaganda wandte sich explizit auch an Frauen, stellten diese doch kriegsbedingt eine deutliche Mehrheit unter den Abstimmenden. Dabei appellierte man vor allem an deren Pazifismus. Die Sozialdemokraten verwiesen darauf, dass Österreich eine demokra tische Republik mit modernen Sozialgesetzen war, Jugoslawien jedoch eine reaktionäre Königsdiktatur, in der die Arbeiter keinerlei Rechte besaßen.21 Die österreichische Propaganda war konsequent zweisprachig und wandte sich mit positiven Argumenten auch an die slowenischsprachigen Wähler. Am 28. September erklärte die Kärntner Landesversammlung, dass „sie den slowenischen Landsleuten ihre sprachliche und nationale Eigenart jetzt und alle Zeit wahren will und dass sie deren geistigem und wirtschaftlichem Aufblühen 18
19 20 21
Hans Steinacher (geb. am 22.05.1892, verstorben am 10.01.1971) war ein österreichischer deutschnationaler Volkstumspolitiker und zu späterer Zeit als Vorsitzender des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA) ein NS-naher Ideologe und wichtiger Akteur der nationalsozialistischen Volkstumspolitik. Jacobsen, Hans-Adolf/Steinacher, Hans: Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente. (Schriften des Bundesarchivs 19), Boppard am Rhein 1970. Lausegger, Josef: Der slowenisch-jugoslawische Volksrat (Nationalrat) für Kärnten. Eine Dokumentation der jugoslawischen Verwaltung in der Zone A auf Basis des Aktenbestandes, in: Carinthia I 209 (2019), S. 561–601. Deuer, Abwehrkampf und Volksabstimmung als geistige Herausforderung (wie Anm. 17), S. 99 und 120 f. – Siehe dazu auch Lagger, Hans (Hg.): Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918–1920, Klagenfurt 1930, S. 106ff.
Die Kärntner Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920
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dieselbe Fürsorge angedeihen lassen wird, wie den deutschen Bewohnern des Landes“22. Die südslawische Propaganda hatte dem wenig entgegenzusetzen. Sie war einseitig slowenischnational und klerikal. Ihre Feindbilder waren neben den Sozialdemokraten vor allem die „Nemčurij“ („Deutschtümler“), also jene Slowenischsprachigen, die proösterreichisch eingestellt waren. Ihnen drohte man mit Repressalien und ganz unverblümt auch mit Vertreibung.23 Dieser Hass gegenüber den national Abtrünnigen wuchs mit jedem jugoslawischen Zweifel am Erfolg beim Plebiszit. Daher signalisierte Jugoslawien im Sommer 1920 die Bereitschaft zu einer distrikts- oder gemeindeweisen Auswertung des Plebiszits, um wenigstens einen Teil des Abstimmungsgebietes für sich zu gewinnen. Karl Renner konferierte darüber als Außenminister am 28. Juli 1920 in St. Veit mit der Kärntner Landesregierung. Diese trat – im Widerspruch zu ihrer Auffassung im vorangegangenen Jahr – entschieden gegen alle Teilungspläne ein und erklärte, nach Einschätzung von Vertrauensleuten sei mit einer deutlichen (mehr als 60-prozentigen) Mehrheit für Österreich zu rechnen. Damit lag der Kärntner Heimatdienst mit seiner Schätzung insgesamt sehr nah am Endergebnis der Abstimmung.24 In der Endphase konzentrierte sich die Wahlwerbung beider Seiten auf die Erläuterung des Abstimmungsvorganges, der berücksichtigte, dass es unter den Abstimmenden zahlreiche Analphabeten gab. Jeder Wähler erhielt zwei Stimmzettel: einen grünen mit der Aufschrift „Oesterreich / Austrija“ und einen weißen mit der Aufschrift „Jugoslavija / Jugoslawien“25. Der Stimmzettel, der abgelehnt wurde, musste zerrissen und gemeinsam mit dem anderen in das Wahlkuvert gegeben werden. Die Abstimmung selbst erfolgte geordnet und ohne größere Zwischenfälle. Der österreichischen Seite gelang es, fast alle auswärts lebenden Wähler zur Heimreise zu bewegen. Mit Sammeltransporten wurden sie in ihre Abstimmungsgemeinden gebracht. 22 23 24 25
Beschlusssammlung der vorläufigen Landesversammlung 1918–1921, Klagenfurt 1922, S. 273f., Nr. 672. Neumann, Wilhelm: Kärnten 1918–1920. Ereignisse – Dokumente – Bilder (Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten 29), Klagenfurt 21980, S. 100. Ders.: Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918–1920. Legenden und Tatsachen (Das Kärntner Landesarchiv 2), Klagenfurt 31997, S. 17ff, S. 64ff und S. 124ff. Sämtliche Drucksorten für die Kärntner Volksabstimmung (einschließlich der Stimmzettel) entstanden in London, weil die Briten den Vorsitz in der Plebiszitkommission führten. Bemerkenswert ist, dass die Aufschrift „Jugoslavija / Jugoslawien“ staatsrechtlich gesehen falsch war, denn diese Bezeichnung führte das südslawische Königreich offiziell erst seit 1929. Der korrekte Staatsname des Jahres 1920 lautete „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ / „Kraljevstvo Srba Hrvata i Slovenaca“.
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Die monatelange Mobilisierung von Stimmberechtigten auf beiden Seiten blieb nicht ohne Folgen. Die Wahlbeteiligung war extrem hoch und lag in der Zone I bei durchschnittlich 95,8 Prozent. Fast alle abgegebenen Stimmen wurden als gültig gewertet. Die 322 ungültigen Stimmen entsprachen nur einem Anteil von 0,85 Prozent. In der gesamten Zone I stimmten somit 94,8 Prozent der Wähler gültig ab. In den bürgerlichen Zentralorten fiel dieser Anteil noch höher aus (z.B. 99,7 Prozent in Ferlach, 98,9 Prozent in Bleiburg und 97,1 Prozent in Völkermarkt). In der Gemeinde Ebenthal stimmten sogar 100 Prozent der Wähler gültig ab. Deutlich unter diesem Schnitt lag der Wert hingegen in den entlegenen Gebirgsgemeinden Vellach (86,9 Prozent) und Diex (86,3 Prozent). Nach Wahlschluss wurden die hölzernen Wahlurnen versiegelt in die Distriktswahlorte gebracht, wo die Auszählung erfolgte. Drei Tage bangen Wartens folgten. Am 13. Oktober 1920 proklamierte die Plebiszitkommission das Ergebnis. Das Protokoll darüber wurde auch vom jugoslawischen Delegierten Jovan Jovanović widerspruchslos unterzeichnet. Das Ergebnis – eine Mehrheit von 59 Prozent für Österreich – war in seiner Eindeutigkeit überraschend. Martin Wutte hat dazu schon in der ersten Gesamtdarstellung der Kärntner Volksabstimmung im Jahr 1922 aufgrund eingehender Analysen eine grundlegende Feststellung getroffen: „Von den rund 22.000 für Österreich abgegebenen Stimmen stammten etwa 12.000 von Stimmberechtigten mit deutscher Umgangssprache und 10.000 von Stimmberechtigten mit slowenischer Umgangssprache.“26 Alle nachfolgenden Autoren haben diese Analyse Wuttes im Groben übernommen. Berücksichtigt man allerdings, dass in einigen Gemeinden offenkundig auch Personen deutscher Umgangssprache für Jugoslawien gestimmt haben, so muss der Anteil slowenischsprachiger Wähler, die für Österreich votiert haben, entsprechend höher angesetzt werden. Daher dürften die 22.000 österreichischen Stimmen fast zu gleichen Teilen von deutsch- bzw. slowenischsprachigen Wählern stammen.27 In den Gemeinden Mieger, Grafenstein und Tainach haben mehr als drei Viertel aller Slowenischsprachigen für Österreich gestimmt, in weiteren elf Gemeinden waren es mehr als 50 Prozent.28 Bei einer bezirksweisen Analyse überrascht vor allem das Völkermarkter Ergebnis. Der Bezirk mit der höchsten slowenischsprachigen Bevölkerungszahl 26 27 28
Wutte, Martin: Kärntens Freiheitskampf, Klagenfurt 1922, S. 180. – Auch in der Ausgabe von 1943 wiederholte Wutte diese Aussage wortwörtlich (S. 398). Wadl, Wilhelm: Die Kärntner Volksabstimmung. Vorbereitungen – Ablauf – Ergebnisanalyse – Nachwirkungen, in: Der 10. Oktober 1920. Kärntens Tag der Selbstbestimmung, hrsg. v. Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt 21990, S. 180ff. Wadl: Die Kärntner Volksabstimmung (wie Anm. 9), S. 128f.
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hat ein sogar über dem Landesschnitt liegendes Ergebnis zugunsten Österreichs erreicht, wohingegen es im Bezirk Villach-Land eine unerwartet deutliche Mehrheit für Jugoslawien gegeben hat.29 Vergleicht man das Ergebnis der Kärntner Volksabstimmung mit früheren politischen Wahlgängen, so bietet sich dafür die Reichsratswahl an, für die bereits seit 1907 ein allgemeines Männerwahlrecht bestand. Schon bei der Reichsratswahl von 1911 hatte der slowenischnationale Kandidat Franz Grafenauer in seinem Wahlkreis nur einen Teil der Slowenischsprachigen für sich gewinnen können. Am 10. Oktober 1920 jedoch stimmte in einigen Gemeinden nicht einmal die Hälfte der Wähler Grafenauers von 1911 für einen Anschluss an Jugoslawien. Nur in Gemeinden, in denen es schon Grafenauer gelungen war, die große Mehrzahl der Slowenischsprachigen auf seine Seite zu ziehen, erreichte auch Jugoslawien am 10. Oktober 1920 deutliche Mehrheiten. Dabei handelte es sich fast durchweg um rein agrarisch geprägte Gemeinden in extremer Randlage. In den meisten lag der Stimmenanteil Jugoslawiens 1920 deutlich unter jenem für Franz Grafenauer im Jahre 1911, d.h., dass selbst ein Teil der politisch national orientierten Slowenen gegen Jugoslawien gestimmt haben muss.30 Entscheidend für den österreichischen Erfolg waren wirtschaftliche und soziale Argumente. „Wenn Ihr hier nicht die Reichsgrenze haben wollt und weiterhin frei nach Villach und Klagenfurt mit Euren Waren gehen wollt, so stimmet grün“, verkündete ein Transparent an allen Übergängen in die Zone I. Das Argument, dass die Zone I ohne Klagenfurt und Villach wirtschaftlich nicht überlebensfähig sei, konnte von der jugoslawischen Seite nicht entkräftet werden. Daher gab es in allen Landgemeinden östlich und südlich von Klagenfurt hohe österreichische Mehrheiten. Die Vorstellung von einem weiteren friedlichen Zusammenleben in einer freien und ungeteilten Heimat war offenkundig wirkmächtiger als die rein nationale Propaganda der jugoslawischen Seite. Auch die militärische Besetzung und Verwaltung des Abstimmungsgebietes durch Jugoslawien erwies sich als wenig förderlich.31 Am 18. November 1920 erklärte die Plebiszitkommission ihre Arbeit für beendet und wandte sich ein letztes Mal mit einer Proklamation an die Bevölkerung des Abstimmungsgebietes. Im Augenblick der Übergabe des gesamten Abstimmungsgebietes an die österreichische Regierung verwies man mit Nachdruck auf die Bestimmungen des Friedensvertrages „betreffend 29 30 31
Ebenda, S. 129. Ebenda, S. 185ff. Jernej, Philipp J.: Die SHS-Verwaltung in Kärnten 1918–1920, in: Carinthia I 211 (2021), S. 499–516.
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den Schutz der Minderheiten, welchen der Völkerbund garantiert“ und verwies auch auf Artikel 92, „der verfügt, dass kein Bewohner der Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie wegen seiner politischen Haltung seit dem Ausbruche des Weltkrieges behelligt oder belästigt werden darf“. Die österreichische und die Kärntner Regierung hätten entsprechende Zusicherungen gegeben.32 Diese wurden am selben Tag in Form eines großformatigen Plakats auch öffentlich gemacht. Der Landesverweser Arthur Lemisch und seine beiden Stellvertreter August Neutzler und Gustav Frank wandten sich darauf „an die Bevölkerung des Kärntner Abstimmungsgebietes“: „[…] In dem herrlichen Geiste versöhnlicher Bruderliebe … geloben wir, dass wir auch in Hinkunft allen nationalen Hader und jegliche Feindseligkeit aus dem Lande bannen wollen. In ehrlicher Aufrichtigkeit wird der Deutsche Kärntens seinem slowenischen Bruder entgegenkommen, auch s e i n e und völkische Eigenart soll voll und ganz gewahrt bleiben.“33 Die Realität entsprach diesen poetischen Proklamationen nicht gänzlich, aber das ist eine andere Geschichte.
32 33
KLA, Interalliierte Plebiszitkommission, Österreichische Sektion, Sch. 2, H 19. KLA, Interalliierte Plebiszitkommission, Österreichische Sektion, Sch. 2, H 22.
Das Ödenburg-Referendum – ein Erfolg der ungarischen Diplomatie Áron Máthé Der am 10. September 1919 in Saint-Germain-en-Laye mit Österreich geschlossene Friedensvertrag sah die Überlassung eines „Deutsch-Westungarn“1 genannten Grenzgebiets an Österreich vor. Diese Region war hauptsächlich von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt, daneben gab es aber auch Magyaren, Kroaten und Venden (Gruppen von Roma). Die Einwohner waren mehrheitlich, mit einiger Vereinfachung gesagt, loyale Untertanen der ungarischen Krone, denen Sezession fernlag.2 Dass nun sogar Österreich ein Landstück auf Kosten Ungarns zugeschlagen werden sollte, bildete für die Magyaren den Tropfen, der das Fass der nationalen Beleidigung und Zurücksetzung zum Überlaufen brachte. Ungarn sah Österreich als Kernstück des Habsburgerreiches und damit als Verlierer des Weltkriegs. Dennoch war die Entscheidung der Ententemächte durchaus rational begründet. Die am 12. November 1918 gegründete Republik Deutschösterreich erhob Ansprüche auf bestimmte Teile vierer westlicher Komitate (Verwaltungsbezirke) Ungarns, nämlich Pressburg (Bratislava), Wieselburg (Moson), Ödenburg (Sopron) und Eisenburg (Vas); von diesen Gebieten leitete sich auch die Bezeichnung Burgenland ab. Einige Einwohner der Region, die mit Österreich sympathisierten, riefen überraschend die Republik Heinzenland aus (ung. Hiénc). Allerdings wurde dieser kurzlebige Zwergstaat rasch von dem verbliebenen ungarischen Militär aufgelöst. Wien brachte später vorwiegend ethnische Argumente vor, um seine Gebietsansprüche gegenüber der Entente zu begründen. Unter Verweis auf die 133 Tage währende Ungarische Räterepublik war die Warnung vor der 1 Im Verlauf seiner Geschichte wurde eine Anzahl unterschiedlicher historischer und geografischer Namen zur Bezeichnung von Westungarn verwendet. Zu den gängigen ungarischen Namen gehören Őrvidék, Várvidék und Felsö-Őrvidék. Heute ist aber auch in der ungarischen Historiographie der Name Burgenland geläufig. Zu den deutschen Regionsbezeichnungen gehören Deutsch-Westungarn und Vierburgenland, die aber in unserem Betrachtungszeitraum durch Burgenland ersetzt wurden, als die Lokalverwaltungen und die nationale Legislative diesen Namen übernommen haben. Im Kroatischen und Slowenischen lautet die heute noch gebräuchliche Bezeichnung Gradišće bzw. Gradiščansko. Dazu: Imre, Joseph: Burgenland and the Austria-Hungary Border Dispute in International Perspective, 1918–22, Region: Regional Studies of Russia, Eastern Europe and Central Asia 2 (2015), S. 220. 2 Gyémánt, Richárd: A burgenlandi magyarság demográfiai és társadalomstatisztikai sajátosságai, Területi statisztika, 1 (2005), S. 35–38.
© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657795352_032
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bolschewistischen Gefahr ein gleichfalls wirksames Argument. Österreich benutzte also die bereits abgewehrte Gefahr der Kommunisierung Ungarns als Propagandamittel, obwohl es selbst einige Zeit lang seine Grenzen für Kommunisten offengehalten hatte, die nach dem Fall der Räteherrschaft vor dem weißen Terror geflohen waren.3 Doch der ausschlaggebende Faktor für die Entscheidung der Entente war deren Befürchtung, Österreich könnte sich dem Deutschen Reich anschließen. Diese Möglichkeit erschien überaus realistisch, da sich Österreich, reduziert zu einem Kleinstaat, per Artikel 2 seiner vorläufigen Verfassung bereits zum Bestandteil des Deutschen Reiches erklärt hatte und davon überzeugt war, sich durch Integration in den deutschen Nationalstaat seiner schwerwiegenden Probleme entledigen zu können. Um diese Option praktisch unmöglich zu machen, entschieden Franzosen und Briten schließlich zugunsten von Wien, und der Vertrag von Saint-Germain erkannte das heutige Burgenland, das damals Ödenburg einschloss, Österreich als eine Art Kompensationsmaßnahme zu.4 Allerdings wurde die Annexion dieses Gebietsteils durch Österreich aufgeschoben, bis auch die Ungarn ihren Friedensvertrag ratifizierten. Aus ungarischer Sicht bestand die Hoffnung, dass es noch Verhandlungsspielraum gab, zumal beide betroffenen Länder sich auf der Verliererseite befanden. Im Vergleich zu den großen Territorien, die das Königreich Ungarn bereits eingebüßt hatte, war dieser schmale Landstreifen in Westungarn zudem das einzige Gebiet, das nicht bereits von einem der Nachfolgestaaten besetzt war.
Die Lage in Westungarn nach dem Zusammenbruch der Räterepublik
Als Österreich seinen Friedensvertrag abschloss, vollzogen sich bemerkenswerte Vorgänge im westlichen Zipfel von Ungarn, das sich insgesamt noch in einem unbeständigen Zustand befand. Dieses Chaos beeinflusste spätere Ereignisse. Oberst Antal Lehár befand sich Ende 1918 auf österreichischem Gebiet und rekrutierte ungarische Soldaten in Graz. Mit diesen Einheiten erreichte er am 6. August 1919 ungarisches Gebiet. Er sorgte für strikten Zusammenhalt innerhalb des Verbandes und richtete seinen Stab in Steinamanger 3 Hierzu: Hatos, Pál: Rosszfiúk világforradalma – Az 1919-es Magyarországi Tanácsköztársaság története, Budapest 2021), S. 461–486; Bodó, Béla: The White Terror: Antisemitic and Political Violence in Hungary, 1919–1921, London 2020, S. 68. 4 Fiziker, Róbert: Az osztrák Trianon – A saint-germaini békeszerződés, Világtörténet 4 (2013), S. 441–442.
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(Szombathely) im Komitat Eisenburg ein.5 Lehárs Einheit wuchs rasch an und erreichte innerhalb von wenigen Wochen Divisionsstärke. Sie sorgte für strenge Disziplin, verhinderte Plünderungen und Pogrome und unterdrückte Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Anhängern der bolschewistischen Herrschaft und des Roten Terrors. Lehár erkannte Miklós Horthy als Oberbefehlshaber an. Dieser stellte die nationalen Streitkräfte 1919 in Szegedin (Szeged), später in Fock (Siófok), auf und wurde im März 1920 Reichsverweser, also de facto Chef der ungarischen Exekutive. Horthy ernannte seinerseits Lehár zum Kommandanten des Militärbezirks Steinamanger und integrierte dessen Verband in die ungarische Armee. Allerdings verhinderte Lehárs royalistische, habsburgerfreundliche Gesinnung die praktische Unterstellung seines Verbandes unter das Armeeoberkommando, sodass er praktisch unabhängig blieb.6 Antal Graf Sigray, zu dieser Zeit zum Chef des Regierungskomitees für Westungarn mit Zuständigkeit für die Komitate Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg und Zala einschließlich der Stadt Ödenburg ernannt, kooperierte mit Lehár. Praktisch verfügte Sigray über die absolute Macht; sein vordringlichstes Ziel bestand darin, die Westgebiete bei Ungarn zu halten. Doch sollte sich dies als äußerst schwierige Aufgabe erweisen. Sigrays Gebiet war in unterschiedlichem Maß und aus verschiedenen Richtungen gefährdet, so von Truppen aus dem neugeschaffenen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (dem späteren Jugoslawien) im Gebiet des Komitats Zala sowie von tschechischen Truppen in Wieselburg, und selbst das Komitat Raab (Győr) wurde von vorrückenden rumänischen Einheiten bedroht, zumal beinahe ganz Ungarn nach der Niederlage der Ungarischen Roten Armee von Rumänien besetzt war. Sigrays Gebiet wurde zudem von verschiedenen österreichischen Formationen angegriffen. Mit großer Mühe gelang es ihm, diese Vorstöße abzuwehren und die ungarische Regierungsgewalt durchzusetzen.7 Ohne seine entschlossenen Maßnahmen wäre die Geschichte anders verlaufen und ein Ödenburg-Referendum ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Zur selben Zeit beschritt die ungarische Regierung den Weg der Diplomatie. Am 14. Februar 1920 schickte Budapest ein Schriftstück an die österreichische Regierung mit der Bitte, einem Referendum bezüglich der staatlichen Zugehörigkeit der westungarischen Gebiete zuzustimmen. Der österreichische Kanzler Karl Renner wies diese eher schwach vorgebrachte ungarische Initiative zurück und erklärte, mit dem Vertrag von Saint-Germain sei eine 5 Botlik, Jozsef: The Fate of Western Hungary, Buffalo 2012, S. 59–60. 6 Ebenda. 7 Békés, Márton: A becsületesség politikája. Gróf Sigray Antal élete és kora, Vasszilágy 2007, S. 67–75.
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endgültige Entscheidung getroffen worden und die westungarische Grenzfrage damit erledigt.8 Diese brüske Ablehnung sorgte natürlich für zusätzliche Spannungen im österreichisch-ungarischen Verhältnis. Um sich überhaupt ernsthaft für Verhandlungen zu öffnen, verlangten die Österreicher die Übergabe der westungarischen Gebiete als Vorleistung. Renner wiederholte diese Forderung wenige Monate später: Wir haben uns um gute Beziehungen auch mit Ungarn bemüht. […] Wir meinen damit nicht nur die Regierungen, sondern auch die Menschen selbst, und wir sind freundlich mit diesen Menschen umgegangen, selbst als wir fordern mussten, dass sie uns den nichtungarischen Teil von Westungarn geben. […] Aber in den Beziehungen zu Ungarn gibt es starke Schwankungen, denn in Ungarn ist mal ein linksextremes, mal ein rechtsextremes oder das Regime eines habsburgischen Offiziers an der Macht. Keines davon gefällt uns Republikanern, und ich glaube, es wird wieder ein freundliches und friedliches Verhältnis zu Ungarn geben, sobald es Westungarn abgetreten hat. Und diese Abtretung muss erfolgen.9
Die Interalliierte Militär-Kontrollkommission
Bei ihrem Londoner Treffen vom 2. Februar 1920 beschloss die Botschafterkonferenz, eine Interalliierte Militär-Kontrollkommission nach Ödenburg zu entsenden, was in Anbetracht der wachsenden Unruhen in der Umgebung der Stadt gerechtfertigt schien. Zusätzlich zu den von den Ententemächten beauftragten Offizieren, nämlich dem Italiener Vanta, dem Franzosen Michel und dem Engländer Atkins, gehörten österreichische und ungarische Fachleute der Kommission an. Es bot Anlass zur Hoffnung, als auch Mihály Thurner, der Bürgermeister von Ödenburg, einen Sitz in der Kommission erhielt.10 Andererseits waren die Magyaren von Ödenburg nicht gerade begeistert über die Ankunft von Gästen, deren Aufgabe in der Annexion des Gebietes bestand: Sie bereiteten dem österreichischen Gesandten einen derart wütenden Empfang, dass die Gendarmerie ihn vor dem aggressiven Mob retten musste. Nachrichten von harten Maßnahmen gegen Magyaren wie einem Schusswaffengebrauch, dem Einsatz von Peitschen, aber auch von schweren Geldstrafen, Konfiskationen und Entlassungen des ungarischen Verwaltungspersonals in 8 9 10
Gulyás, László: A Horthy-korszak külpolitikája 1. Az első évek 1919–1924, Máriabesnyő 2012, S. 111. Pesti Napló, 24. November 1920, S. 1. Tóth, Imre: Két: Anschluss között. Nyugat-Magyarország és Burgenland Wilsontól Hitlerig, Pécs 2020, S. 84.
Das Ödenburg-Referendum – Erfolg ungarischer Diplomatie
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anderen annektierten Gebieten ließen die Magyaren vor Ort an den Rand der Verzweiflung geraten. Die Einwohner demonstrierten mit schwarzen Fahnen zugunsten von Ungarn, was die Delegierten in der Kommission tief beeindruckte.11 Auf diese Vorgänge hin begann der italienische Gesandte, sich in Rom und Paris für die Belassung des Gebietes bei Ungarn auszusprechen.12 Hierzu sei noch angemerkt, dass Renner im Frühjahr 1920 in der Hoffnung nach Italien gereist war, Rom für die österreichische Sache gewinnen zu können. Interessanterweise wurde der Kanzler von Papst Benedikt XV. empfangen, der bei der Audienz eine Million Lire für notleidende Österreicher versprach. Gleichzeitig lehnte er jedoch die kirchenpolitischen Pläne Wiens kategorisch ab. Renner und seine Delegation versuchten, den Papst dazu zu bringen, einen apostolischen Gesandten nach Ödenburg zu schicken, um dort ein selbstständiges Bistum einzurichten und das Gebiet von der Kirchenverwaltung von Steinamanger und Raab abzutrennen.13
Freiwilligeneinheiten zur Territorialverteidigung
Am 4. Juni 1920 unterzeichnete Ungarn den Vertrag von Trianon, durch den das Land zwei Drittel seines Staatsgebietes und ein Drittel der ungarischsprachigen Bevölkerung verlor. Die Einzelvereinbarungen zwangen Ungarn, sein westliches Grenzgebiet unverzüglich an Österreich abzutreten.14 Selbstverständlich lief dies nicht so reibungslos ab wie vorgesehen. Wie vonseiten der Österreicher zuvor schon in Kärnten geschehen, genehmigte Budapest stillschweigend die Bildung sogenannter „Insurgentenformationen“ zum Einsatz in Westungarn.15 Für derartige Maßnahmen gab es historische Vorbilder in dem Gebiet. In demjenigen Teil Kärntens mit gemischter slowenischer und deutscher Bevölkerung stationierte die paramilitärische Heimwehr Freiwilligenverbände, und auch die aus regulären Soldaten bestehende 11 12 13 14
15
Ebenda. Vares, Mari: The Question of Western Hungary/Burgenland, 1918–1923. A Territorial Question in the Context of National and International Policy, Jyväskylä 2008, S. 84–85. Tóth: Két Anschluss között, S. 86. Die Übergabe sollte erfolgen, sobald der Vertrag rechtskräftig geworden war, doch der Supreme Council unternahm praktisch nichts, um die Umsetzung zu garantieren; siehe: Vagnini, Alessandro: A disputed land. Italy, the military inter-allied commission and the plebiscite of Sopron, Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity, 1 (2014), S. 133. Veszprémy, László Bernát: 1921. A Horthy-rendszer megszilárdulásának története, Budapest 2021, 120–121.
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Volkswehr erkannte die neuen Grenzen nicht ohne Weiteres an.16 Taktisch geschickt, erreichte Renner eine Volksabstimmung für den im Rahmen der Friedenskonferenz umstrittenen Teil Kärntens; sie wurde am 10. Oktober 1920 abgehalten und ging zugunsten Österreichs aus, zumal viele ethnische Slowenen für Österreich votierten. Die Interalliierte Abstimmungskommission gab also das Abstimmungsgebiet I an Österreich zurück. Es wurde umgehend von österreichischer Gendarmerie besetzt, während das Abstimmungsgebiet II ohne Referendum bei Österreich verblieb.17
Verhandlungen mit Wien und der Entente
Am 23. Dezember 1920 forderte die Entente die ungarische Regierung auf, das für eine Abtretung an Österreich vorgesehene Gebiet an das Internationale Kontrollkomitee in Ödenburg zu übergeben, das anschließend die Überführung an Österreich übernehmen sollte. Aus ungarischer Sicht erschien die Lage beinahe hoffnungslos, obwohl das Schreiben keine Sanktionen für den Fall vorsah, dass die Gebietsübergabe nicht stattfand. Was blieb Ungarn also anderes übrig? Budapest dachte keineswegs an eine Gebietsabtretung an Österreich, selbst wenn die Besetzung zunächst von der Entente vorgenommen wurde. Zudem versuchte die ungarische Regierung, die Gebietsfrage mit einem anderen heiklen Problem zu verbinden, nämlich der serbischen Besetzung der Stadt Fünfkirchen (Pécs) und eines Teils des Komitats Branau (Baranya) in Südungarn.18 Das serbische Militär war im November 1918 in Fünfkirchen und Branau eingedrungen und hielt die Region seither besetzt, um die dortigen Kohlenbergwerke unter seine Kontrolle zu bringen. Nun verzögerte Serbien einen Truppenabzug, obwohl der Vertrag von Trianon Ungarn das Gebiet zuerkannt hatte. Daraufhin verlautbarte Iván Praznovszky, der ungarische Botschafter in Paris, Ungarn wäre nicht in der Lage, die Österreich zuerkannten Gebiete zu räumen, solange Serbien noch südungarische Gebiete besetzt hielt. Auch wies er darauf hin, eine Gebietsübergabe könne ohne genaue Grenzdelimitation nicht stattfinden. Zudem seien entgegen den Bestimmungen von Trianon
16 17 18
Zöllner, Erich: Ausztria története, Budapest 1998, S. 373–374. Tiemann, Guido: ‚Kärnten‘ = Austria, ‚Koroška‘ = Yugoslavia? A Novel Perspective on the 1920 Carinthian Plebiscite, in: Historical Social Research 4 (2020), S. 309–346; Pándi, Lajos (Hg.): Köztes–Európa 1763–1993. Térképgyűjtemény, Budapest 1995, S. 293 (129/b Karte). Botlik, Jozsef: The Fate of Western Hungary, S. 91.
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die in Wien aufbewahrten ungarischen Kunstschätze noch nicht übergeben worden.19 Unterdessen begannen am 15. Februar 1921 in Wien direkte österreichischungarische Verhandlungen, um in der immer angespannteren Lage eine Lösung zu finden. Der ungarische Außenminister Gusztáv Gratz versprach, Ungarn würde selbst bei geringfügigen territorialen Zugeständnissen eine Zollunion mit Österreich abschließen und den von Deutschen bewohnten Gebieten Autonomie zugestehen.20 Die österreichische Delegation war mit diesen Vorschlägen keineswegs einverstanden, doch was zur Unterbrechung der Verhandlungen führte, war der unerwartete Umsturzversuch des vormaligen Kaisers Karls I. als König von Ungarn Karl IV. Das urplötzliche Auftreten des Habsburgers löste in Österreich verständlicherweise eine Alarmierung aus; das galt sowohl für die Befürworter eines „Großdeutschlands“ nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich als auch für die Sozialdemokraten, die die Republik bewahren wollten. Kanzler Mayer, der an der Spitze einer Koalitionsregierung aus Christsozialisten und Sozialdemokraten stand, sah die „Einladung“ an Karl, seinen ungarischen Thron wiederzubesetzen, als Gefahr für die Sicherheit Österreichs.21 Selbstverständlich gab es keine solche „Einladung“. Einige französische Diplomaten zeigten sich wenig erbaut über den Verlauf der österreichisch-ungarischen Gespräche, weil diese die Geltung der Friedensverträge grundsätzlich in Frage stellten und damit auch den Bestand der von Frankreich bestimmten neuen politischen Ordnung in Mitteleuropa. Doch sahen nicht alle die Entwicklungen in einem negativen Licht. Maurice Fouchet und andere, die den Quai d’Orsay in Budapest vertraten, meinten, die Verhandlungsparteien sollten so lange freie Hand haben, wie eine Vereinbarung die Interessen der Alliierten nicht beeinträchtigte.22 Dies war faktisch ein merklicher Erfolg für Ungarn, weil die Österreicher nicht behaupten konnten, dass die Siegermächte eine gesonderte Regelung für die umstrittenen Gebiete verboten. Die Verhandlungen wurden am 25. Mai 1921 wiederaufgenommen, doch trotz geringfügiger wechselseitiger Zugeständnisse konnten die Seiten bei immer konträreren Argumenten keine Einigung erzielen. In Wien war 19 20 21 22
Gerevich, Tibor: A bécsi magyar műkincsek, Uj Nemzedék, 1. January 1921, S. 4. „Außenminister Dr. Gustav Gratz über die westungarische Frage“, Pester Zeitung, 10. März 1921, 1. Quote: B. Bellér, Béla: Az ellenforradalmi rendszer első éveinek nemzetiségi politikája (1919–1922), in: Századok 6 (1963), S. 1315. Tóth: Két Anschluss között, S. 92. Fouchet budapesti francia főbiztos feljegyzése, 1920 December 11. in: Ádám, Magda/ Ormos, Mária (Hg.): Francia diplomáciai iratok a Kárpát-medence történetéről. II. Band, 1919–1920, Budapest 2004, S. 252.
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niemand bereit, die bei der Friedenskonferenz zuerkannten Gebiete aufzugeben, und auch die Ungarn weigerten sich, den noch unter ihrer Kontrolle befindlichen Gebietsstreifen abzutreten. Die vom österreichischen Verteidigungsministerium am 2. Juni 1921 angeordnete Mobilmachung hätte alles entscheiden können, war aber nicht viel mehr als ein auf Einschüchterung angelegter Bluff, weil Österreich nicht wirklich an einem bewaffneten Konflikt interessiert war; daher wurden die Verhandlungen fortgesetzt. Zudem befand sich die österreichische ebenso wie die ungarische Armee in schlechter Verfassung und stellte keineswegs eine wirkungsvolle Abschreckung dar. Unterdessen kamen später als falsch erwiesene Gerüchte auf, in Österreich würden illegal bewaffnete Formationen aufgestellt, um die westungarische Gebietsfrage mit Gewalt zu klären. Die neue von István Graf Bethlen geführte Regierung in Budapest vollzog in dieser Zeit einen Wandel hinsichtlich ihrer politischen Ausrichtung und Taktik. Das vorgegebene Ziel bestand fortan nicht mehr unbedingt darin, Westungarn insgesamt für das Land zu erhalten, sondern nur noch Ödenburg und Umgebung. Da Wien diesen ungarischen Richtungswechsel als ein auf Zeitgewinn ausgerichtetes taktisches Manöver sah, konnte auch weiterhin kein Übereinkommen erzielt werden.23 Eine andere militärische Option wurde von dem tschechoslowakischen Außenminister Edvard Beneš aufgeworfen, der den Österreichern wiederholt das Angebot machte, bewaffnet in den Konflikt zu intervenieren, doch wegen der greifbaren Annexionsgefahr bestand dazu keine wirkliche Bereitschaft.24 Auch wollte sich Wien verständlicherweise nicht zu einem Werkzeug der tschechoslowakischen Außenpolitik machen lassen.
Die Schwierigkeiten der Gebietsübergabe
Die Verhandlungen wurden nicht gerade erleichtert, als die Frage der westungarischen Gebiete mit derjenigen der von Serbien besetzten Gebiete, deren besonderer Wert in den Kohlengruben lag, in Verbindung gebracht wurde. Anfangs war es nicht Belgrads Absicht gewesen, die Region zu annektieren, doch änderten die Jugoslawen ihre Position. Franzosen und Briten wiesen den Anspruch zurück und forderten die Serben auf, sich aus Branau 23 24
Dies ist bekannt aus einem Bericht des deutschen Botschafters in Budapest, Egon Franz von Fürstenberg; Tóth: Két Anschluss között, S. 96. Kerekes, Lajos: A Habsburg-restaurációs kísérletek és az osztrák–magyar viszony 1921-ben, in: Századok 1 (1976), S. 16–17.
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zurückzuziehen. Doch der Rückzug geschah nicht vollständig. Die ungarische Regierung knüpfte ihrerseits den eigenen Abzug aus Westungarn verhandlungstaktisch an denjenigen der Serben.25 Die Begründung dafür konnte nicht unbedingt überzeugen, jedoch spielte Budapest auf Zeit und setzte darauf, dass die Entente keinen Druck durch die Entsendung von Militär ausüben würde. Jedenfalls begann die österreichische Gendarmerie am 28. August, das Burgenland zu besetzen. Die Invasion wurde von einer Lkw-Ladefläche aus von Mihály Kertész gefilmt, der später unter dem Namen Michael Curtiz „Casablanca“ drehen sollte.26 Doch die Invasoren stießen auf unerwarteten Widerstand, als sich ihnen einige tausend Angehörige ungarischer paramilitärischer Verbände entgegenstellten. Diese Einheiten waren insgeheim, aber mit dem Wissen der Regierung, von Gruppen „weißer“ Offiziere aufgestellt worden und wurden vor Ort von Einwohnern, Studenten der Bergbauschule Ödenburg sowie Waldarbeitern verstärkt.27 Der ungarische Ministerpräsident Bethlen behauptete blauäugig, er habe keine Mittel, gegen die Insurgenten vorzugehen, die einen Teil des Burgenlandes besetzt hielten, denn diese entzögen sich vollständig seiner Autorität. Für die ungarische Öffentlichkeit waren die ansonsten für ihre Grausamkeit bekannten, völlig unbekannten „weißen“ Offiziere dieses Mal Helden, denn sie schlugen den Gegner in diversen Scharmützeln und brachten nahezu das gesamte Gebiet wieder unter ihre Kontrolle.28 Veteranen dieser Kämpfe wurden später unter dem Namen Rongyos Gárda (etwa: „Lumpengarde“) bekannt.29 Einige der paramilitärischen Verbände marschierten auch in Ödenburg ein. In Wien war die Empörung verständlicherweise groß. Die Botschafterkonferenz suchte nach einer diplomatischen Lösung: Zum einen drängte sie die Österreicher zu weiteren Verhandlungen, zum anderen verlangte sie die Einhaltung der Bestimmungen des Friedensvertrages.30
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Botlik: The Fate, S. 91–92. Tóth: Két Anschluss között, S. 99. Boronkai, Szabolcs: Az 1921. évi soproni népszavazás a korabeli sajtó tükrében, 1. rész, in: Soproni Szemle 1 (2003), S. 5. Bodó, Béla: Iván Héjjas. The Life of a Counterrevolutionary, in: East Central Europe 2–3 (2010), S. 285. Während des antihabsburgischen Aufstands von 1703–1711 (Kuruzenkrieg) spielte eine zum Mythos gewordene Einheit mit dem Namen Rongyos Gárda eine untergeordnete Rolle. Ormos, Mária: Civitas Fidelissima. Népszavazás Sopronban 1921, Győr 1990, S. 121–122.
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Der Lajtabánság (Banat der Leitha-Region) und die Gespräche von Venedig
Bethlen spielte gewiss mit dem Gedanken, das Militär einzusetzen. Im Kabinett äußerte er die Befürchtung, Österreich könne nicht mit diplomatischen Mitteln allein dazu gebracht werden, einige seiner Gebietsforderungen aufzugeben, so dass sich Ungarn auf bewaffneten Widerstand vorbereiten müsse.31 Andererseits musste Ungarn aufgrund der vonseiten der Tschechoslowakei und der Südslawen zu erwartenden militärischen Intervention nach einer anderen Lösung suchen.32 Bethlen schwebte womöglich das Beispiel von Gabriele D’Annunzios Freistaat in Rijeka (Fiume) vor, zunächst die Autonomie des Gebietes durch Repräsentanten Westungarns erklären zu lassen, um dieses bei späterer Gelegenheit an Ungarn anzuschließen. In der ersten Septemberwoche hatten die „Insurgenten“ die österreichische Gendarmerie bereits wieder aus der Region vertrieben.33 Es war bezeichnend für die Komplexität der militärischen und politischen Lage, dass paramilitärische Gruppen meist unabhängig agierten, Befehle missachteten und sich gegenseitig Konkurrenz machten. Von Budapest aus war kaum zu entscheiden, hinter wen sich die Regierung eigentlich stellen sollte. Gleichzeitig versuchte Budapest, internationale Unterstützung zu gewinnen: Bánffy, der neue Außenminister, bat die italienische Regierung um Vermittlung. Tatsächlich kam der italienische Außenminister Toretta nach Wien und erreichte bei der Botschafterkonferenz, dass Italien eine Vermittlerrolle zugesprochen wurde.34 Zu diesem Zeitpunkt kam die Formel „Westungarn für Sopron“ auf: Die ungarische Regierung würde das an Österreich abzutretende westungarische Gebiet unter der Voraussetzung räumen, dass Sopron und Umgebung dauerhaft bei Ungarn verblieben. Dieses Arrangement fand keine Zustimmung bei den Chefs der paramilitärischen Verbände. Pál Prónay, der Befehlshaber einer der radikalsten dieser Einheiten, machte Anstalten in Richtung einer noch weitergehenden Unabhängigkeit. Am 3. Oktober ließ Budapest die Zonen B und C räumen, sah sich aber gezwungen, die Österreicher und die Entente darüber zu informieren, in Zone A keinerlei Autorität ausüben zu wollen, nämlich dort, wo 31 32
33 34
Romsics, Ignác: Bethlen István, Budapest 2013, S. 184–185. In diesem Beitrag werden die Bezeichnungen „südslawisch“ und „serbisch“ analog zueinander benutzt. Es handelte sich seinerzeit um das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, im Falle von Pécs sprechen die zeitgenössischen Quellen aber stets von „Serben“. Soós, Katalin G.: Burgenland az európai politikában 1918–1921, Budapest 1971, S. 152–153. Ebenda, S. 154.
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Prónay und seine Leute faktisch die Macht innehatten.35 Am folgenden Tag ließ Prónay in Oberwart (Felsőőr) eine sogenannte Konstituierende Versammlung zusammentreten, die folgendes erklärte: da sich Budapest „von Westungarn losgesagt“ hat, fällt das Recht auf Selbstbestimmung an dessen Bevölkerung zurück. In Ausübung dieses Rechts, so erklärte man weiter, wollten die Magyaren nicht nach Österreich zurückkehren. Daher proklamierte die Versammlung ein autonomes, unabhängiges Lajtabánság, das heißt ein Banat am Fluss Leitha. Dieses Gebiet umfasste 4.000 Quadratkilometer. Die Dekrete wurden dreisprachig ungarisch, deutsch und kroatisch veröffentlicht. Die nationale Versöhnung war eine der in den Gründungsdokumenten erklärten Absichten. Wie sah Budapest die Ausrufung dieses unabhängigen Banats? Sollte Bethlen die Absicht gehabt haben, nach dem Muster von Rijeka zu verfahren, hatte er auf die falsche Karte gesetzt. Bethlens erstes Telegramm an Prónay sagte ausdrücklich: „Ungarische Staatsangehörige können keine gesonderte Republik in Westungarn ausrufen, ungarische Staatsangehörige gehören dem Königreich Ungarn an, ich verwehre mich entschieden jeder Art von republikanischer Bewegung, Banat oder ähnlichem […]“.36 Ferner teilte er Prónay mit, nicht mit ihm verhandeln zu wollen, und untersagte Lebensmittellieferungen in das Leitha-Banat.37 Die Zolleinnahmen des „Insurgentenstaates“ wurden dadurch erhoben, dass man Waren aus dem Eisenbahnverkehr zwischen Österreich und Ungarn entnahm. Österreich und Ungarn begannen, enger zu kooperieren, während Prónay seinerseits jede Zusammenarbeit mit Budapest trotzig verweigerte: „Wir erklären, dass wir den Verhandlungen hinter unserem Rücken nicht beipflichten werden, und wir werden keinen Fuß Landes abtreten, und wir werden jede weitere Debatte verhindern.“38 Prónay und seine Leute waren höchstens bereit, sich einem altgedienten Soldaten zu unterstellen, nämlich Horthy. Deshalb sah sich der Reichsverweser gezwungen, an 35
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Folgendes notierte Prónay in seinem Tagebuch: „Ein Ministerpräsident, der seinem Land mit reinem Gewissen und Selbstlosigkeit dient und der nicht verantwortlich gemacht werden kann für bereits geräumte und übergebene Gebiete, kann mit einer solchen Aktion nur hochzufrieden sein, der er dann nach eigenem Ermessen diplomatisch einsetzen kann. Bethlen aber jammerte und denunzierte diese Aktion als Verrat, wobei er alle Arten von politischen und außenpolitischen Vorwänden verwandte, da die ihm gegebenen Versprechen sehr viel mehr wert wären als das Leitha-Banat etc.“ Siehe: Prónay, Pál: A határban a Halál kaszál … Fejezetek Prónay Pál feljegyzéseiből, Budapest 1963, S. 279. Fogarassy, Lászlo: Prónay Pál emlékezései az 1921, évi nyugatmagyarországi eseményekről Harmadik rész, in: Soproni Szemle 3 (1986), S. 215. Gulyás, Lászlo: A Horthy-korszak külpolitikája, S. 116. Zit. bei Fogarassy, Lászlo: A nyugat-magyarországi kérdés diplomáciai története II. rész, in: Soproni Szemle 2 (1982), S. 114.
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Prónay zu schreiben, um ihn darüber zu informieren, dass Ungarn ein Interesse an einem diplomatischen Erfolg hatte und er bereit sein musste, die Region zu räumen.39 Die österreichische Regierung konnte jetzt keinen Zweifel mehr daran haben, dass sie die Region nicht allein mit Gendarmerie würde in Besitz nehmen können, noch dass eine direkte Intervention der Großmächte zu erwarten war. Daher erschien ein Kompromiss unausweichlich. In Paris besaß die Auseinandersetzung um das Burgenland keine politische Priorität; zwar wurde über eine Wirtschaftsblockade oder eine anderweitige Intervention nachgedacht, jedoch wies General Jules Camille Hamelin, der französische Vertreter im Internationalen Generalskomitee in Ödenburg, vormals die Interalliierte Kontrollkommission, dies entschieden zurück.40 Schließlich führten die Italiener eine Entscheidung herbei. Im Oktober 1928 lud Außenminister Della Torretta Vertreter beider Länder zu Verhandlungen nach Venedig ein. Ministerpräsident Bethlen und Außenminister Bánffy beschlossen, endlich ihr „Minimalprogramm“ vorzulegen, nämlich ein Referendum für Ödenburg und Umgebung zu fordern, das die Gebietsgrenzen klar abstecken würde. Gegen die Einwände von Kanzler Schober unterstützte Della Torretta den ungarischen Vorschlag. Damit konnten die Verhandlungen im Palazzo Corner erfolgreich abgeschlossen werden.41 Am 13. Oktober unterzeichneten die Delegationen aus Österreich, Ungarn und Italien ein Protokoll, das Ungarn verpflichtete, die meisten der Österreich bei der Friedenskonferenz zugesagten Gebiete innerhalb von drei Wochen zu übergeben. Umgekehrt erklärte sich die österreichische Regierung einverstanden, unter Kontrolle der Entente-Mission ein Referendum in Ödenburg und acht umgebenden Dörfern abzuhalten. Am erwarteten Ergebnis des Referendums hegte keine der Delegationen wirkliche Zweifel. Ferner verpflichtete sich Ungarn, die „bewaffneten Banden“ aus dem Gebiet abzuziehen, indem sie alle nicht dort Ansässigen anwies, das Gebiet zu verlassen, und Studenten, sich bei ihren Fakultäten zu melden.42 Es ist keine Übertreibung, die Vereinbarung von Venedig als Ungarns ersten bedeutenden außenpolitischen Erfolg nach der Weltkriegsniederlage einzustufen. In Falle des Leitha-Banats war der Ausgang weiterhin offen, und 39 40 41 42
Prónay: A határban a halál kaszál, S. 284–285. Tóth: Két Anschluss között, S. 122. Ormos: Civitas Fidelissima, S. 153–164. Fiziker, Róbert: Magyarok maradtunk. Népszavazás Sopronban és környékén. URL: http:// mnl.gov.hu/mnl/ol/hirek/magyarok_maradtunk_nepszavazas_sopronban_es_kornyeken_1921 (aufgerufen am 28.11.2021).
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eine Lösung zu finden, sollte sich als alles andere als einfach erweisen. Trotz wiederholter Schreiben des Ministerpräsidenten blieb Prónay unnachgiebig. Vielversprechender war die Aktion Bethlens, einen Meldereiter des Stabschefs mit dem Versprechen nach Oberwart zu schicken, jeder die Seiten wechselnde Offizier würde in die reguläre Armee aufgenommen. Daraufhin begann die Insurgentenarmee tatsächlich, Auflösungserscheinungen zu zeigen. Die Desintegration des „Insurgentenstaates“ beschleunigte sich weiter, als Karl IV. am 20. Oktober seinen zweiten Versuch unternahm, die ungarische Krone zurückzugewinnen. Er reiste bei dieser Gelegenheit durch Ödenburg. Nachdem der abgesetzte König weitergefahren war, marschierte Prónay in Ödenburg ein und erklärte es zur Hauptstadt des Leitha-Banats. Doch entzogen sich die Soldaten zu dieser Zeit bereits seiner Kontrolle, zumal sie in der Frage des Monarchen gespalten waren. Karls Marsch auf Budapest wurde von Horthys Einheiten in den Vororten der Hauptstadt abgefangen und der König endgültig verbannt. Karl verließ Ungarn und sollte niemals wieder zurückkehren. Anschließend bestellte Horthy Prónay ein und wies ihn an, das noch unter seiner Kontrolle stehende Gebiet bis zum 5. November zu räumen.43 Dem kam Prónay nach, so dass das Leitha-Banat nach nur einem Monat seines Bestehens Geschichte war. Nachdem die internen Zwistigkeiten der Freiwilligeneinheiten hatten beseitigt werden können, pries István Bethlen deren Verdienste: „Es besteht kein Zweifel, dass das Land und die ungarische Regierung den Freien Streitkräften im Falle von Westungarn viel zu verdanken haben. Ihr Patriotismus, ihre Selbstaufopferung und ihr Durchhaltevermögen gestatteten es der ungarischen Regierung, die Lage zu nutzen, um eine diplomatische Lösung zugunsten Ungarns für die in Rede stehende Frage zu finden.“44 Nach diesem einigermaßen peinlichen Zwischenspiel konnte Budapest den Österreichern am 11. November 1921 bekanntgeben, dass das Gebiet vollständig geräumt war. Am 13. November begannen die Österreicher mit der Übernahme, die sie bis zum 2. Dezember abschlossen. In der Folge wurde das Ödenburg-Referendum abgehalten.
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Horthys auf den 12. Oktober datierter Brief an Prónay: „Die Verhandlungen in Venedig haben ein Stadium erreicht, das eine Lösung der Westungarn-Frage sehr wahrscheinlich erscheinen lässt […]. Aus diesen Gründen bitte ich Sie, die Insurgenten, deren Einsatz ich sehr zu schätzen weiß, auf den genannten Fall vorzubereiten, und ich bitte Sie außerdem, mir entweder persönlich Bericht zu erstatten oder Ihren Stellvertreter zu schicken oder einen anderen Repräsentanten, um mir bei erster Gelegenheit zu berichten, und über das Räumungsverfahren zu diskutieren.“ Prónay: A határban a halál kaszál, S. 284–285. Gulyás: A Horthy-korszak külpolitikája, S. 118.
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Das Referendum
Der 14. Dezember 1921 war kalt und frostig in Ödenburg. Vom Morgen an füllten Menschenmengen die Straßen und Kirchen. Der Tag war arbeitsfrei, Geschäfte und Büros blieben geschlossen. Dagegen waren Cafés, Restaurants und das Casino lebhaft besucht. Doch Alkohol durfte an diesem Tag nicht ausgeschenkt werden. Eine große Anzahl fremder Korrespondenten und Interessierter von auswärts hatte ihren Weg in die Stadt gefunden. Militär der Entente war auf österreichisches Ersuchen zur Wahrung der öffentlichen Ordnung im Einsatz. Der Volksabstimmung waren Wochen heftiger Wahlwerbung vorausgegangen. Beide Seiten versuchten, die Bevölkerung gegen den jeweiligen Rivalen einzunehmen. Die Ungarn betonten die kommunistische Gefahr, die von Österreich ausging; die Österreicher machten Deutschen und Kroaten Angst vor dem ungarischen Nationalismus. Beide Propagandakampagnen warnten vor einer wirtschaftlichen Misere und allgemeiner Verarmung. Die Strategien beider Seiten stimmten darin überein, mit Stereotypen und Dichotomien des Hässlichen und Schönen zu arbeiten, mit den zur Karikatur verzerrten Nationaleigenschaften der jeweiligen Gegenseite. Das Interalliierte Generalkomitee war für die Abstimmungsregeln zuständig. Ferner bestimmte es, wer abstimmungsberechtigt war, wie und wo die Stimmabgabe stattfand: 1. Alle Personen, die im Abstimmungsgebiet geboren oder dort mit festem Wohnsitz gemeldet waren, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten und zwischen dem 11. Januar 1919 und dem 1. Januar 1921 im Abstimmungsgebiet ansässig gewesen waren. Basis für die Wählerliste war diejenige für die Parlamentswahlen vom Februar 1920. 2. Die Stimmabgabe erfolgte in gesonderten Wahlkabinen; der Wähler konnte dort zwischen zwei Blättern wählen und zerriss das Exemplar, das nicht seiner Stimme entsprach. 3. Es wurden acht Wahlkomitees aufgestellt, jedes bestehend aus drei Offizieren der Entente sowie einem ungarischen und einem österreichischen Delegierten. Die Stimmabgabe erfolgte an drei Tagen in der Stadt Ödenburg und den Ortschaften der Umgebung: Agendorf (Ágfalva), Wolfs (Balf), Holling (Fertőboz), Kroisbach (Fertőrákos), Harkau (Harka), Kohlbenhof (Kópháza), Zinkendorf (Nagycenk), Wandorf (Sopronbánfalva). Von den 27.069 Wahlberechtigten gaben 24.063 bzw. 87,7 Prozent ihre Stimme ab. Auf Ungarn entfielen 65,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dieses Ergebnis wurde vor allem durch die Einwohnerschaft von Ödenburg bestimmt, die überwiegend für den Verbleib
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bei Ungarn stimmte. In fünf Dörfern der Umgebung entfiel eine Mehrheit auf Österreich, in drei auf Ungarn. Ein besonders extremes Ergebnis wies Zinkendorf auf, wo von 1.041 Wahlberechtigten 1.026 für Ungarn gestimmt hatten. Somit blieben Ödenburg und Umgebung in ungarischen Händen. Die Österreicher protestierten wegen angeblichen Abstimmungsbetrugs. Dies führte jedoch zu nichts, weil die Botschafterkonferenz das Ergebnis bei ihrer Zusammenkunft am 20. Dezember 1921 akzeptierte. Die Ententesoldaten verließen Ödenburg und Umgebung am 1. Januar 1922. Das Gebiet wurde daraufhin vom nachrückenden ungarischen Militär übernommen. Am selben Tag wurde das an Österreich abgetretene Gebiet mit fast 300.000 Einwohnern unter dem Namen Burgenland zum neunten österreichischen Bundesland. Trotzdem hielten beide Seiten immer noch einige ihrer Forderungen aufrecht. Auf der ungarischen Seite zeigten sich einige besonders uneinsichtige Politiker durch die Geschehnisse ermutigt und schreckten nicht einmal vor der Idee einer neuen „Insurrektion“ zurück. Österreich erklärte die Abstimmung dagegen immer noch für betrügerisch und machte Ödenburg zumindest auf dem Papier zur Hauptstadt des Burgenlandes, eine lange in offiziellen Dokumenten aufrechterhaltene Fiktion. Eisenstadt (Kismarton) war demnach nur einstweiliger Sitz der Landesregierung. Das Plebiszit wurde durch die stillschweigende Unterstützung Italiens ermöglicht, das ein faires Abkommen zwischen Österreich und Ungarn und keine Besetzung des Gebietes durch tschechoslowakisches Militär wünschte. Letzteres hätte einem Wunschtraum Edvard Beneš’ entsprochen, nämlich einen Korridor zwischen dem südslawischen Staat und der Tschechoslowakei zu schaffen. Das war das Letzte, was die Italiener in ihrer vermeintlichen Einflusssphäre wollten. Budapest setzte seine begrenzten Ressourcen gekonnt ein und erreichte eine Modifizierung des Vertrags von Trianon. Schließlich ratifizierte die Ungarische Nationalversammlung das Referendum mit dem Gesetz Nr. XXIX von 1922 und ergänzte das Stadtwappen von Ödenburg um das Motto Civitas fidelissima (Die treueste Stadt). Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann
Anhang
Autorenbiogramme Evelyne A. Adenauer Studium der Osteuropäischen und Mittleren/Neueren Geschichte sowie Philosophie an der Universität in Köln und ein Semester in Breslau dank GFPSStipendium. Diverse journalistische Tätigkeiten. Erste historische Publikation im Rahmen des Kardinal-Bertram-Stipendiums. Dissertation über die christlichen Kirchen in Schlesien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg („Das christliche Schlesien 1945/46“, erschienen 2014). Heute freie Historikerin im Bereich der Kirchen- und Kulturgeschichte mit Schwerpunkt Schlesien. Grzegorz Bębnik Promovierter und habilitierter Historiker, Soziologe und Politikwissenschaftler, Mitarbeiter des Historischen Forschungsbüros des Instituts für Nationales Gedenken in Kattowitz. Autor von Publikationen zur Geschichte Polens und Oberschlesiens im 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Zweiten Weltkrieges, darunter die Monographien „Proskription in einer neuen Fassung. Deutsche Fahndungslisten am Vorabend und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs“ (Warschau 2020), „Falken des Hauptmanns Ebbinghaus. Sonderformation Ebbinghaus in den Kampfhandlungen in Oberschlesien 1939“ (Krakau-Kattowitz 2015), „September 1939 in Kattowitz“ (Kattowitz 2012). Kürzlich veröffentlichte er zusammen mit Sebastian Rosenbaum eine zweisprachige polnisch-französische Sammlung von Dokumenten der französischen Besatzungstruppen in Oberschlesien aus der Zeit des Zweiten Polnischen Aufstands von 1920. James Bjork Promotion an der University of Chicago, seit 2005 als Dozent für Neuere Europäische Geschichte am King’s College in London tätig. Zuvor lehrte er als Gastprofessor in den USA an den Universitäten Notre Dame, Rice und Colgate und war Postdoktorand am Centre for German and European Studies (Georgetown University) und am Institute of European Studies (Cornell University). Er arbeitet zur Sozialgeschichte der Religion und zu Prozessen der Nationenbildung und Fragen der nationalen Identität in den Grenzgebieten Mitteleuropas, darunter auch Oberschlesien. Autor zahlreicher Aufsätze und Monografien, u.a. des Buches „Neither German nor Pole: Catholicism and National Indifference in an Central European Borderland 1890–1922“.
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Autorenbiogramme
Lutz Budrass Zwischen 1981–1987 Studium der Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Mathematik und Sozialwissenschaften an den Universitäten Bonn, Bochum und Warwick, UK. 1987 Master of Arts (University of Warwick). 1996 Promotion an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter ebenda. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Unternehmensgeschichte; Rüstungsgeschichte; Geschichte des Ruhrgebiets. Mitherausgeber der „Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa)“, Essen 2013. Benjamin Conrad Zwischen 2002–2008 Studium in Mannheim, Mainz und Riga. Dem Studium schloss sich eine Dissertations- und Postdoktoranden-Phase an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2008–2017 an. Seit 2017 ist er Lehr- und Studienkoordinator des Instituts für Geschichtswissenschaften an der HumboldtUniversität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Lettlands, Polens und Russlands vom Ausgang des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beniamin Czapla Studium der Geschichtswissenschaften an der Schlesischen Universität in Kattowitz; Doktorand an der Schlesischen Universität in Kattowitz und wissenschaftlicher Assistent am Institut für Regionalforschung der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz. Sein Forschungsinteresse gilt der Geschichte Oberschlesiens, der Großen Emigration sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er debütierte mit der Publikation „Antoni Patek. Uhrmacher der Könige. Auf den Spuren seines Lebens“. Karsten Eichner Studium der Geschichte, Publizistik und BWL in Mainz und Glasgow. Promotion 2002 mit der Arbeit „Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien, 1920–1922. Die interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten“. Buchveröffentlichungen und Buchbeiträge zu historischen und kulturgeschichtlichen Themen, zahlreiche Zeitschiften- und Zeitungsbeiträge. Hochschul-Lehraufträge für Journalismus und PR.
Autorenbiogramme
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Maciej Fic Professor an der Schlesischen Universität in Kattowitz, Leiter der Lehre am Institut für Geschichte der Schlesischen Universität. Autor und Mitautor von u.a. „Dobrze walczycie, trzymajcie się, bo już to długo trwać nie będzie, a nasze walki nie pójdą na marne“. Wspomnienia powstańców śląskich z 1921 roku, Opole 2021; „Pamięć o III powstaniu śląskim w symbolach i wspomnieniach“, Opole 2021 (zusammen mit Marek Masnyk, Joanna Ojdana und Katarzyna Szawan); Mitautor und Mitherausgeber von drei Bänden des „Słownik Powstań Śląskich“ (Katowice 2019–2021, zusammen mit Ryszard Kaczmarek). Bartholomäus Fujak Pädagogischer Mitarbeiter beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund im Bereich Museums- und Gedenkstättenpädagogik. Studium der Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität, freiberufliche Tätigkeit als Historiker und Pädagoge für die Mahn- und Gedenkstätte in Düsseldorf, für das Museum des Teschener Schlesiens in Teschen und das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind polnisch-deutsche Beziehungen, Geschichte des Holocausts, Migrationsgeschichte, Militär- und Industriegeschichte, sowie die Landesgeschichte des Teschener Schlesiens. Zbigniew Gołasz Historiker und Museologe, aktuell Leiter der Abteilung Gleiwitzer Sender des Museums in Gleiwitz. Kurator von Ausstellungen und Autor von Publikationen zur Geschichte Oberschlesiens im 20. Jahrhundert, darunter dem Buch „Śląska tragedia w Zabrzu w 1945 r. Internowania i deportacje oraz Obozy wysiedleńcze w Zabrzu (1945–1946)“. Zuletzt kuratierte er die Ausstellung „Od Milicji do Policji. Geneza i rozwój polskich formacji porządkowych na Górnym Śląsku 1918–1939“ (gemeinsam mit Krzysztof Gwoźdź) sowie „Polen oder Deutschland? Oberschlesien am Scheidweg. Zum 100. Jahrestag der Volksabstimmung in Oberschlesien“ im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen. Jakub Grudniewski Promovierter Historiker, wissenschaftlich-didaktischer Mitarbeiter am Historischen Institut der Schlesischen Universität in Kattowitz. Er beschäftigt sich vornehmlich mit der Geschichte Schlesiens und Europas im 18–20. Jahrhunderts. Autor von „Pruska elita władzy na Górnym Śląsku (1871–1918)“ (Katowice 2020) sowie zahlreicher Artikel und Kapitel in Monographien über oberschlesische Städte. Er war Gastdozent u.a. an den Universitäten in Wien und Eger.
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Autorenbiogramme
Juliane Haubold-Stolle Studium der Geschichtswissenschaft und der Politikwissenschaft in Göttingen, Toruń und Genf, Promotion 2008, wissenschaftliches Volontariat am Deutschen Historischen Museum; Ausstellungskuratorin, arbeitet zur öffentlichen Darstellung und Vermittlung von Geschichte, zuletzt 2020 „Ausgeschlossen. Archäologie der NS-Zwangslager“. 2020–2022 Kuratorin der dauerhaften Open-Air-Ausstellung an der East Side Gallery, Stiftung Berliner Mauer. Sascha Hinkel Studium der Geschichte, Romanistik und Buchwissenschaft in Mainz, Glasgow und Tours. 2008 promovierte er in Mainz mit einer Arbeit zu „Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“. Von 2008 bis 2019 war er Koordinator der „Kritischen Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917–1929)“ in Münster. In den Jahren 2020/21 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ sowie im Projekt „Pius XII. und die Juden (1939–1958)“ in Münster. Seit 2021 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Asking the Pope for Help. Jüdische Opfer des NS-Regimes in den Quellen des Vatikans. Eine Online-Edition“ in Münster. Guido Hitze Historiker und Politikwissenschaftler. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Wuppertal und Eichstätt. Promotion 1999 mit der Dissertation „Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen“. Seit 2020 ist er Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er Leiter der Planungsgruppe „Geschichte, Politik und Demokratie Nordrhein-Westfalens“ für ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ beim nordrhein-westfälischen Landtag und hat seit 2018 einen Lehrauftrag an der Universität Duisburg-Essen im Rahmen der NRW-School of Governance inne. Seine wissenschaftlichen Interessensschwerpunkte liegen in der Landes-, Parteien- und Parlamentsgeschichte Nordrhein-Westfalens, der Landesgeschichte Schlesiens, der Geschichte des Politischen Katholizismus in Kaiserreich und Weimarer Republik, der allgemeinen Parteien-, Wahl- und Demokratieforschung sowie in Fragen der historisch-politischen Bildung, insbesondere der Erinnerungskultur. Marek Jurkowski Abschluss in Geschichte und klassischer Philologie an der Schlesischen Universität in Kattowitz, Doktorand an der Schlesischen Universität in Kattowitz. Sein Hauptforschungsinteresse gilt der Onomastik als Instrument der
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historischen Forschung sowie dem Schicksal der oberschlesischen Gelehrten jüdischer Nationalität im Dritten Reich. Ryszard Kaczmarek Habilitierter Historiker, Professor am Historischen Institut der Schlesischen Universität in Kattowitz sowie am Institut für Regionalstudien der Schlesischen Bibliothek in Kattowitz. Hauptforschungsinteressen: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, Geschichte Deutschlands im 19./20. Jahrhundert, Geschichte Schlesiens. Autor zahlreicher Publikationen, u.a.: „Górny Śląsk podczas II wojny światowej“, Katowice 2006; „Polacy w Wehrmachcie“, Kraków 2010 („Polen in der Wehrmacht, Polen in der Wehrmacht“, Oldenburg 2017); „Historia Polski 1914–1989“, Warszawa 2010; Mitherausgeber der „Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Oldenburg 2015. Matthias Lempart Studium der Geschichte Ost- und Südosteuropas, Slavistik und Recht für Sozialwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Nach dem Studium Mitarbeit in Projekten der LMU-München, des Osteuropa-Instituts München und des Instituts für Zeitgeschichte MünchenBerlin. Seine wissenschaftlichen Interessen konzentrieren sich auf die Geschichte Schlesiens, Ost- und Westpreußens, Polens und Osteuropas, aber auch auf die Minderheitenfragen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Autor der Monographie „Der Breslauer Domvikar und Jugendseelsorger Gerhard Moschner als Organisator der vertriebenen katholischen Schlesier“ und zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge in Sammelbänden und Zeitschriften. Seit kurzem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung in Berlin. Jörn Leonhard Seit 2006 Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg. Nach seiner Promotion in Heidelberg (1998) lehrte und forschte er bis 2003 als Fellow and Tutor in Modern History an der Universität Oxford. Der Habilitation in Heidelberg 2004 folgte eine Hochschuldozentur in Jena. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die vergleichende europäische und transatlantische Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Geschichte von Liberalismus und Nationalismus, von Krieg und Frieden und die Geschichte multiethnischer Imperien in einer Globalgeschichte des langen 19. Jahrhunderts. Zu seinen wichtigsten jüngeren Publikationen zählen „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten
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Weltkriegs“, 5. Aufl., München 2014 (engl. Harvard University Press 2018), sowie „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“, 2. Aufl. München 2018. Bernard Linek Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schlesischen Institut in Oppeln. Er erforscht die politische, soziale und kulturelle Geschichte mit besonderem Schwerpunkt auf Oberschlesien im 19. und 20. Jahrhundert und den deutschpolnischen Beziehungen. Sekretär des Redaktionsausschusses der Studia Śląskie von 2002 bis 2013, Chefredakteur der Zeitschrift von 2013 bis 2019. Zusammen mit Adam Dziurok Herausgeber der Reihe „Górny Śląsk w Polsce Ludowej“ (vierter Band in Vorbereitung). Autor und Herausgeber mehrerer Buchveröffentlichungen. Jüngst erschien: „Die deutsche Frage in Oberschlesien in der Nachkriegszeit (1945–1960). Ausgewählte Beiträge“, Opole 2021. Áron Máthé Promovierter Historiker, seit 2014 stellvertretender Vorsitzender des Komitees des Nationalen Gedenkens in Ungarn. Von 2001 bis 2012 arbeitete er für das Museum Haus des Terrors, wo er als Kurator und Forscher und später als Leiter der Forschungsabteilung tätig war. Von 2012 bis 2014 war er Forscher und Analytiker bei der Stiftung Századvég. Er arbeitete an der Gestaltung zahlreicher Ausstellungen, der Dauer- und Wechselausstellungen des Museums „Haus des Terrors“, eines Holocaust-Museums in Südungarn, und des „Emlékpont“, einer Erinnerung an die sozialistische Ära. Zu seinen Veröffentlichungen gehören: „Magyar Tragédia 1944–1947“ (társszerző) (2011), „A nyilaskereszt árnyékában“ (2019), „Vörös karszalag – ideiglenes karhatalmi osztagok 1944– 1945-ben“ (2020). Andrzej Michalczyk Geschichtsstudium an der Universität Warschau, seit 2007 akademischer Rat für Neuere, Neueste und Ostmitteleuropäische Geschichte an der RuhrUniversität Bochum; Promotion an der Universität Erfurt 2006, die Dissertation wurde mit dem Förderpreis des polnischen Generalkonsuls in Köln ausgezeichnet. Als Mitherausgeber des „Leksykon mitów, symboli i bohaterów Górnego Śląska XIX–XX wieku“ bekam er den Arthur-Kronthal-Preis (2016). Im Rahmen seiner Arbeit beschäftigt er sich mit der Erforschung der Geschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Erinnerungskulturen sowie der Migration und Mobilität zwischen Ostmitteleuropa und Nord- und Südamerika.
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Jiří Neminář Historiker und Museumspädagoge, seit 2015 im Museum des Hultschiner Ländchens. Er studierte Geschichte an der Karls-Universität zu Prag. Zurzeit Doktorand im Bereich Kulturgeschichte an der Universität Ostrau. Er beschäftigt sich mit der Geschichte des Hultschiner Ländchens, Geschichtsdidaktik und mit der Problematik des Dienstes der tschechoslowakischen Bewohner in der deutschen Wehrmacht. Er ist Autor und Mitautor von fünf Publikationen über das Hultschiner Ländchen. Mit Zdenko Maršálek hat er den Sammelband „Zwangsrekrutierte in die Wehrmacht. Mobilisation – Widerspruch – Widerstand – Gedächtnis in der schlesischen, tschechischen und slowenischen Perspektive“ vorbereitet. Piotr Pałys Professor am Schlesischen Institut in Oppeln, seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schlesischen Institut in Oppeln. Universitätsprofessor an der Universität in Oppeln. Historiker, beschäftigt sich mit moderner Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des sorbischen Volkes unter besonderer Berücksichtigung der Kontakte zu Polen, die polnischtschechischen Beziehungen und die Geschichte Schlesiens. Autor von 10 Büchern und über 350 wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Artikeln, Rezensionen und Berichten. Herausgeber und Mitherausgeber von sechs Monographien mit mehreren Autoren. Herausgeber des wissenschaftlichen Jahrbuchs „Pro Lusatia. Opolskie Studia Łużycoznawcze“, Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft Serbska Maćica. Florian Paprotny Mitarbeiter des Dokumentations- und Informationszentrums für schlesische Landeskunde „Haus Schlesien“; studierte Geschichte und Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Bachelorarbeit schrieb er über die Plebiszite in Oberschlesien und Ostpreußen und die Masterarbeit über den biologisch-dynamischen Landbau nach 1945. Er interessiert sich vor allem für deutsch-polnische Grenzräume. Sebastian Rosenbaum Historiker, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Nationales Gedenken in Kattowitz. Zu seinen Forschungsfeldern gehört die soziale, kulturelle, politische und konfessionelle Geschichte Oberschlesiens im 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert. Er ist Autor zahlreicher Monografien und Quelleneditionen, verfasste Aufsätze in Sammelbänden und Beiträge
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in Fachzeitschriften und ist Herausgeber einer Vielzahl von Sammelbänden zur Geschichte Oberschlesiens. Er gehört der Redaktion der IPN-Zeitschrift „CzasyPismo“ an. Zuletzt erschien seine Dissertationsschrift „Między katolicyzmem i nacjonalizmem. Związek niemieckich katolików w Polsce w województwie śląskim 1923–1939“ (2020). David Skrabania Promovierter Historiker, arbeitete auch als Dolmetscher und Übersetzer. Zwischen 2019 und 2022 Kulturreferent für Oberschlesien am Oberschlesischen Landesmuseum, seit Februar 2023 Direktor des Oberschlesischen Landesmuseums und Geschäftsführer der Stiftung Haus Oberschlesien. Studium der Geschichte und Slawistik an der Ruhr-Universität Bochum 2006–2012, Promotion an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum mit der Arbeit „Bewusstseinsprozesse und Partizipationsstrategien unter Ruhrpolen zwischen Reichsgründung und den Anfängen der Weimarer Republik“ (erschienen 2019); Publikationen aus dem Bereich der mittel- und ostmitteleuropäischen Migrationsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert; Übersetzungen zahlreicher wissenschaftlicher Monografien, Sammelbände und Aufsätze aus dem Polnischen ins Deutsche. Dawid Smolorz Germanist und Regionalforscher, freier Journalist, Übersetzer, Autor bzw. Co-Autor populärwissenschaftlicher Publikationen zur oberschlesischen Problematik (u.a. „Grenzgänger. Erzählte Zeiten, Menschen, Orte“, „Schauplatz Oberschlesien“, „Oberschlesien aus der Luft“). Seine Beiträge sind u.a. in „Gazeta Wyborcza“, „Dziennik Zachodni“ und dem „Wochenblatt“, der Zeitung der Deutschen in Polen, erschienen. In Kooperation mit dem Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz/Oppeln initiiert er Projekte zur regionalen Thematik. Seit vielen Jahren ist Dawid Smolorz Autor beim Senfkorn-Verlag Görlitz und der in Görlitz erscheinenden Monatsschrift „Schlesien heute“. Grażyna Szelągowska Seit 2007 Professorin an der Fakultät für Geschichte der Universität Warschau. Studium der Geschichte an der Universität Kopenhagen (1971–1974); MA (1979), PhD (1988) und Habilitation (2003) an der Universität Warschau. Forschungsgebiete: Skandinavische Geschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts, Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Filmgeschichte und Geschichtsdidaktik. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Idea zjednoczonej Północy w skandynawskim ruchu studenckim I połowy XIX wieku (1992), „Dania. Historia
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państw świata w XX i XX wieku (2010)“; Mitautorin des polnisch-deutschen Geschichtslehrbuchs „Europa. Nasza historia“, Band 7 und 8 und „Europa. Unsere Geschichte“, Bd. 3 und 4 (Band 4 wurde vom Friedrich-Ebert-Institut zum Lehrbuch des Jahres 2021 gekürt). Wilhelm Wadl Studium der Geschichtswissenschaften und Germanistik an der Universität Wien, 1979 Promotion sub auspiciis Praesidentis; 1980 Staatsprüfung am Institut für österreichische Geschichtsforschung mit Auszeichnung (Master of Advanced Studies); seit 1980 im Kärntner Landesarchiv tätig, 1990 Stellvertreter des Direktors, 2001 Archivdirektor, 2019 Pensionierung. Lektor am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt; Vortragender in Institutionen der Erwachsenenbildung; Mitarbeit bei zahlreichen Landesausstellungen und kleineren historischen Ausstellungen; Vorstandsmitglied und Redakteur des Geschichtsvereins für Kärnten. Mirosław Węcki Promovierter Historiker, Mitarbeiter am Historischen Institut der Schlesischen Universität in Kattowitz und beim Institut für Nationales Gedenken, Abteilung in Kattowitz. Ausgewählte Forschungsinteressen: Geschichte Oberschlesiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; Geschichte der regionalen Machtstrukturen des Dritten Reiches in Oberschlesien; oberschlesische Archivalien des 20. Jahrhunderts. Vor Kurzem erschien seine Dissertationsschrift: „Fritz Bracht – Gauleiter von Oberschlesien. Biographie“, übersetzt von David Skrabania, Paderborn 2021.
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Ortsnamenverzeichnis Agendorf / Ágfalva (ung.) 534 Allenstein / Olsztyn (pl.) 42, 98, 139, 173, 176, 182, 183, 392, 395, 419, 488, 489, 490, 491, 494, 562, 570, 571 Alt Schalkowitz / Stare Siołkowice (pl.) 271 Arwa / Orawa (slow.) 221, 474, 481 Annaberg in Haltern 67, 72 Auschwitz / Oświęcim (pl.) 206, 228 Bad Godesberg 70 Bauerwitz / Baborów (pl.) 268, 453 Branau / Baranya (ung.) 526, 528 Belgrad 528 Beneschau / cz. Dolní Benešov 458 Berlin 5, 7, 8, 32, 35, 68, 70, 77, 90, 92, 95, 101, 102, 112, 114, 125, 127, 130, 131, 139, 140, 142, 144, 150, 170, 175, 180, 234, 243, 249, 253, 254, 255, 259, 261, 263, 267, 278, 292, 303, 305, 309, 311, 313, 314, 315, 316, 317, 319, 320, 321, 322, 323, 346, 347, 350, 353, 356, 357, 359, 368, 377, 394, 395, 407, 409, 419, 431, 432, 433, 435, 437, 438, 451, 488, 489, 493, 540, 542, 543, 549, 553, 554, 555, 556, 558, 562, 563, 565, 566, 567 Beuthen / Bytom (pl.) 22, 67, 68, 70, 116, 147, 157, 158, 162, 163, 164, 166, 172, 182, 184, 191, 192, 201, 210, 220, 221, 222, 224, 266, 286, 287, 288, 289, 290, 293, 294, 307, 308, 310, 325, 326, 327, 329, 330, 333, 334, 336, 339, 340, 354, 364, 368, 372, 372, 401, 405, 407, 408, 410, 411, 413, 414, 414, 418, 420, 421, 424, 425, 435, 437, 439, 440, 450, 452, 457, 469 Białystok (pl.) 206 Biedrusko 209, 222 Bielitz-Biala / Bielsko-Biała (pl.) / Bílsko-Bělá (cz.) 71, 469, 471, 472, 473, 477 Breslau / Wrocław (pl.) 4, 8, 14, 70, 98, 116, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 139, 140, 160, 175, 180 Bochum 67, 232, 246, 409, 540, 544, 545, 546 Bogutschütz, Bogutzitz / Bogucice (pl.) 195, 438
Borutin / Borucin (pl.) / Bořutín (cz.) 456, 457, 460 Bromberg / Bydgoszcz (pl.) 227, 419 Budapest / Budapeszt (pol.) / Budapest (ung.) 464, 465, 468, 522, 523, 525, 526, 527, 528, 529, 530, 531, 533, 535, 548, 555, 569, 572 Chicago 161 Chelad / Czeladź (pl.) 206 Collonowska / Kolonowskie (pl.) 429 Cosel / Koźle (pl.) 47, 114, 118, 120, 121, 160, 176, 184, 222, 265, 266, 329, 333, 334, 336, 340, 353, 354, 361, 411, 412, 417, 418, 419, 448, 450, 569 Coßziegle / Koziegłowy (pl.) 226 Czerwionka / Czerwionka (pl.) 111, 121, 122 Danzig / Gdańsk (pl.) 86, 90, 103, 109, 119, 151, 163, 204, 370, 392, 414, 419, 495, 553, 565, 567, 570 Deutsch Krawarn / Kravaře (cz.) 458 Deutsch Piekar/ Piekary Śląskie (pl.) 160, 439 Dortmund 9, 70, 174, 190, 232, 286, 307, 364, 405, 541, 554 Drachomischl / Drogomyśl (pl.) / Drahomyšl (cz.) 478 Duisburg 232, 235, 236, 257, 258, 262, 424, 542 Dzieditz / Dziedzice (pl.) 206, 230 Eiglau / Děhylov (cz.) 458 Eisenburg/Vas (ung.) 521, 523 Eisenstadt / Kismarton (ung.) 535 Essen 93, 232, 233, 234, 237, 238, 240, 254, 255, 256, 274, 277, 409, 540, 542, 549, 550, 562, 569 Falkenberg/Niemodlin (pl.) 76, 152, 327, 420 Fiume / Rijeka (kro.) 86, 87, 90, 113, 530, 531 Fock / Siófok (ung.) 523 Freiheitsau / Háj ve Slezsku (cz.) 458 Freistadt / Cáhlov (cz.) 473, 478, 479, 486 Freiwaldau / Jeseník (cz.) 452
574 Friedeck / Frydek (pl.) / Frýdek (cz.) 473 Friedenshütte / Nowy Bytom (pl.) 354 Fünfkirchen / Pécs (ung.) 524, 526, 530, 569 Fontainebleau / Fontainebleau (pl.) 100 Gelsenkirchen 232 Gieschewald / Giszowiec (pl.) 411, 440 Gladbeck 234, 238, 239, 241 Gleiwitz / Gliwice (pl.) 5, 67, 69, 120, 157, 163, 169, 184, 185, 257, 274, 333, 334, 336, 340, 351, 353, 354, 360, 364, 371, 373, 380, 393, 408, 409, 411, 415, 417, 418, 420, 421, 425, 428, 435, 452, 541, 546, 549, 558, 568 Gnesen / Gniezno (pl.) 160, 206, 213 Gogolin / Gogolin (pl.) 118, 357 Gorschütz / Gorzyce (pl.) 276, 278 Grafenstein / Grabštanj (slowen.) 518 Graz / Gradec (slowen.) 13, 522 Grodno / Grodno (pl.) 151 Gröditz / Grodziec (pl.) 147, 206, 339 Groß Peterwitz / Piotrowice (pl.) 206, 328 Groß Salze / Wieliczka (pl.) 215 Groß Strehlitz/ Wielkie Strzelce (pl.) 118, 120, 147, 163, 176, 177, 182, 184, 334, 336, 340, 411, 418, 421 Großzinkendorf /Nagycenk (ung.) 534 Grottkau / Grodków (pl.) 67, 152, 327 Haatsch / Hat (cz.) 456, 457, 460, 461, 463, 464, 465 Hamborn 232, 234, 238 Harkau / Harka (ung.) 534 Herne 176, 180, 232, 233, 252, 409, 489, 493, 563, 567, 568 Hohenlinde / Łagiewniki (pl.) 440 Holling / Fertőboz (ung.) 534 Hotzenplotz / Osoblaha (cz.) 448, 453, 455 Hindenburg / Zabrze (pl.) 5, 27, 75, 157, 163, 182, 184, 202, 217, 229, 266, 274, 305, 333, 334, 336, 340, 354, 359, 364, 418, 419, 420, 421, 491, 492, 554 Hultschin / Hluczyn (pl.) / Hlučín (cz.) 145, 150, 248, 249, 251, 391, 445, 446, 447, 448, 451, 454, 458, 459, 548, 554, 556, 563, 568, 569
Ortsnamenverzeichnis Jablunkau / Jabłonków (pl.) / Jablunkov (cz.) 478, 479, 486 Janow / Janów (pl.) 440 Jarotschin / Jarocin (pl.) 213 Jaworzno / Jaworzno (pl.) 206 Josephsdorf / Józefowiec (pl.) 204 Kalisch / Kalisz (pl.) 205, 286, 413 Karf / Karb (pl.) 439, 440 Karvin / Karwin (pl.) 452, 475, 476, 478, 479, 484, 485, 486 Katscher / Kietrz (pl.) 149, 455 Kattowitz /Katowice (pl.) 5, 12, 14, 16, 20, 21, 22, 24, 30, 31, 34, 35, 44, 45, 46, 48, 52, 53, 56, 57, 58, 59, 67, 69, 109, 112, 116, 139, 152, 157, 158, 159, 161, 163, 166, 178, 182, 184, 195, 200, 201, 202, 204, 205, 211, 212, 214, 222, 229, 230, 266, 269, 285, 286, 289, 295, 304, 305, 310, 312, 325, 329, 331, 332, 333, 334, 336, 340, 348, 351, 354, 360, 364, 366, 367, 370, 372, 376, 386, 394, 395, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 418, 421, 425, 427, 428, 431, 432, 434, 437, 438, 439, 440, 441, 452, 539, 540, 541, 542, 543, 545, 547, 548, 549, 551, 552, 553, 554, 555, 557, 558, 559, 560, 561, 564, 566, 567, 568, 570, 571, 572 Kempen / Kępno (pl.) 338 Kiew / Kijów (pl.) 55, 62 Kjelzy / Kielce (pl.) 205, 226 Kohlbenhof / Kópháza (ung.) 534 Königsberg / Królewiec (pl.) 69, 491 Königshütte / Królewska Huta (pl.) 53, 58, 59, 116, 157, 163, 184, 195, 266, 319, 340, 373, 406, 407, 418, 421, 426, 440 Kostellitz / Kościeliska (pl.) 429 Kostuchna / Kostuchna (pl.) 441 Kosten / Kościan (pl.) 205, 553 Kaunas / Kovno /Kowno (pl.) 151 Klagenfurt /Celowiec (pl.) / Celovec (slowen.) 373, 511, 512, 513, 514, 515, 516, 517, 518, 519, 547, 552, 553, 554, 560, 563, 569, 570, 571 Klein-Dombrowka / Dąbrówka Mała (pl.) 438 Klein Hoschütz / Goszczyce Małe (pl.) / Malé Hoštice (cz.) 458
Ortsnamenverzeichnis Klein Nimsdorf / Naczysławki (pl.) 160 Klein Peterwitz / Pietraszyn (pl.) 456, 457, 460 Krakau / Kraków (pl.) 54, 55, 71, 118, 119, 153, 159, 160, 163, 171, 201, 204, 205, 207, 209, 211, 214, 215, 216, 217, 219, 220, 222, 223, 224, 227, 228, 230, 368, 369, 275, 325, 347, 377, 386, 408, 413, 420 469, 470, 472, 475, 477, 481, 539, 543, 557, 559, 562, 564, 565, 567, 572 Kranowitz / Krzanowice (pl.) / Křenovice (cz.) 268, 361, 362, 456, 457, 460, 461 Kreuzburg / Kluczbork (pl.) 24, 25, 67, 176, 177, 184, 219, 222, 266, 268, 269, 270, 312, 327, 333, 334, 336, 337, 340, 351, 356, 357, 359, 373, 412, 417, 418, 419, 437 Kreuzenort / Krzyżanowice (pl.) 275, 457 Kroisbach / Fertőrákos (ung.) 534 Kuchelna / Chuchelná (cz.) 461 Lazy / Łazy (pl.) / Lazy (cz.) 475 Lemberg / Lwów (pl.) 53, 54, 59, 158, 159, 160, 161, 205, 207, 208, 217, 220, 227, 228, 476 Leobschütz / Głubczyce (pl.) 24, 25, 67, 118, 148, 149, 176, 177, 184, 266, 268, 270, 327, 333, 334, 393, 417, 418, 419, 448, 450, 452, 453, 454, 461, 465 Leitha / Lajta (ung.) 530, 531, 532, 533 Leschnitz / Leśnica (pl.) 39 Lodz / Łódź (pl.) 159, 160, 204, 208, 212, 217, 220, 385 London / Londyn (pl.) 26, 84, 86, 87, 88, 90, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 112, 113, 163, 165, 189, 191, 193, 196, 296, 396, 517, 522, 524, 539, 549, 550, 562, 563, 565 Loslau / Wodzisław Śląski (pl.) 239, 278, 279, 453 Lublinitz / Lubliniec(pl.) 27, 163, 184, 222, 333, 334, 336, 337, 340, 417, 418, 419, 420, 421 Mailand / Mediolan (pl.) 131 Marienwerder / Kwidzyn (pl.) 98, 173, 176, 182, 183, 392, 419, 488, 489, 490, 494 Mieger / Medgorje (slowen.) 518 Minsk / Mińsk (pl.) 151 Mistek / Místek (cz.) 479
575 Münster 35, 125, 239, 240, 248, 253, 305, 365, 542, 550, 556, 557, 558, 561, 566 Myslowitz / Mysłowice (pl.) 171, 348, 382, 418, 440 Namslau / Namysłów (pl.) 170, 176, 184, 222, 269, 394, 418, 419 Neisse / Nysa (pl.) 14, 39, 67, 68, 69, 80, 152, 175, 327, 351, 357, 392 Neustadt / Prudnik (pl.) 24, 152, 176, 184, 266, 268, 270, 333, 334, 336, 340, 360, 392, 412, 413, 418, 420, 438 Neutomischel / Nowy Tomyśl (pl.) 213 Neu-Woschütz / Nowe Woszczyce (pl.) 457 Nieder Suchau / Sucha Dolna (pl.) / Dolní Suchá (cz.) 474 Nikischschacht / Nikiszowiec (pl.) 438, 440 Niwka / Niwka (pl.) 206 Oberglogau / Głogówek (pl.) 118, 322, 417, 420 Oberhausen 232, 277 Oberwart / Felsőörs (ung.) 531, 533 Obornik / Oborniki (pl.) 228, 436 Ochab / Ochaby (pl.) / Ochaby (cz.) 478 Ödenburg / Sopron (ung.) 182, 183, 409, 521, 522, 523, 524, 525, 526, 527, 528, 529, 530, 531, 532, 533, 534, 535, 549, 553, 569 Oderberg / Bogumin (pl.) / Bohumín (cz.) 429, 448, 449, 450, 455, 470, 472, 473, 475, 479, 486, 487 Olmütz / Ołomuniec (pl.) / Olomouc (cz.) 466 Oppeln /Opole (pl.) 3, 7, 12, 15, 19, 25, 27, 41, 43, 45, 46, 61, 104, 105, 108, 134, 136, 142, 143, 145, 146, 147, 148, 150, 152, 155, 156, 162, 167, 172, 174, 176, 178, 180, 183, 184, 185, 195, 201, 220, 219, 222, 232, 258, 266, 270, 271, 273, 274, 275, 276, 277, 279, 285, 286, 288, 289, 292, 294, 297, 305, 315, 318, 324, 325, 328, 333, 334, 335, 336, 340, 347, 351, 362, 364, 365, 368, 370, 372, 373, 375, 392, 396, 397, 401, 405, 409, 411, 412, 417, 418, 419, 420, 428, 433, 434, 460, 541, 544, 545, 546, 548, 551, 554, 555, 557, 559, 560, 561, 562, 563, 564, 567, 568, 571 Orlau / Orłowa (pl.) / Orlová (cz.) 470
576 Orzesche / Orzesze (pl.) 452 Osterfeld 234 Ostrau / Ostrava (cz.) 250, 251, 452, 453, 466, 479, 484, 545, 568 Owschütz / Owsiszcze (pl.) 456, 457, 460, 461, 464 Paris / Parysz (pl.) 3, 12, 13, 15, 17, 20, 21, 29, 84, 85, 86, 87, 89, 90, 91, 93, 94, 99, 100, 102, 103, 105, 106, 107, 109, 113, 114, 143, 152, 156, 160, 170, 174, 176, 178, 181, 189, 324, 327, 328, 391, 392, 394, 398, 403, 413, 448, 451, 458, 459, 475, 477, 478, 481, 485, 486, 489, 493, 495, 506, 512, 513, 525, 526, 532, 550, 562, 563, 565, 568 Pawlowitz / Pawłowice (pl.) 331 Petrikau / Piotrków (pl.) 205 Petrowitz / Piotrowice (pl.) 206, 328, 329, 330, 331, 344 Pischtsch / Píšť (cz.) 456 Pless / Pszyczyna (pl.) 118, 157, 163, 171, 176, 184, 331, 333, 334, 336, 340, 347, 414, 418, 421, 427, 428, 432, 440 Poborschau / Poborszów (pl.) 361 Posen / Poznan (pl.) 3, 43, 78, 86, 89, 151, 152, 159, 169, 171, 176, 194, 205, 206, 207, 209, 210, 212, 213, 214, 216, 220, 223, 225, 226, 227, 233, 247, 272, 280, 285, 288, 289, 290, 293, 297, 324, 325, 326, 327, 329, 330, 338, 340, 343, 362, 366, 368, 381, 392, 419, 436, 437, 489, 491, 493, 551, 554, 555, 557, 567, 568 Prag / Praga (pl.) / Praha (cz.) 134, 140, 143, 145, 147, 148, 149, 150, 243, 447, 449, 250, 451, 459, 471, 472, 473, 474, 475, 476, 477, 480, 481, 483, 484, 485, 487, 504, 545, 551, 563, 565, 569 Praschkau / Praszka (pl.) 47, 206, 226 Pressburg / Bratislava (slowen.) 521 Pruchnau / Pruchna (pl.) / Pruchná (cz.) 478 Raab / Győr (ung.) 523, 525, 529 Radom / Radom (pl.) 205 Racławice (pl.) 48 Radzionkau / Radzionków (pl.) 61
Ortsnamenverzeichnis Rakowetz / Rakovec (cz.) 465 Ratibor / Racibórz (pl.) 67, 71, 118, 148, 176, 185, 233, 235, 239, 248, 249, 250, 251, 255, 256, 257, 265, 266, 268, 270, 274, 275, 279, 305, 307, 309, 333, 334, 336, 340, 351, 353, 357, 359, 361, 393, 409, 412, 418, 419, 420, 421, 447, 448, 449, 450, 453, 454, 455, 456, 458, 459, 461, 464, 465, 466 Ratsch / pl. Gródczanki 456, 457, 460, 463 Rausen / Rusín (cz.) 455 Recklinghausen 231, 233, 234, 238, 239, 256 Rohow / Rohov (cz.) 461 Rom / Rzym (pl.) 26, 127, 128, 131, 525 Rosdzin / Roździeń (pl.) 438 Rosenberg / Olesno (pl.) 27, 71, 96, 158, 185, 222, 266, 327, 328, 333, 334, 336, 337, 340, 359, 412, 418, 419, 429 Roßberg / Rozbark (pl.) 68, 172, 310 Ruderswald / Rudyszwałd (pl.) 412, 456, 457 Rybnik / Rybnik (pl.) 67, 118, 157, 163, 171, 172, 176, 180, 185, 233, 235, 239, 248, 249, 250, 251, 260, 266, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 305, 308, 331, 333, 334, 336, 340, 409, 414, 418, 421, 427, 428, 432, 437, 440, 452, 453 Saint-Germain-en-Laye 519 Samter / Szamotuły (pl.) 214 Sausenberg / Szumirad (pl.) 356 Schillersdorf / Szylerzowice (pl.) / Šilheřovice (cz.) 461, 465 Schomberg / Szombierki (pl.) 440 Schoppinitz / Szopienice (pl.) 438, 440 Schwarzwasser / Strumień (pl.) 206, 328, 329, 330, 331 Schwientochlowitz / Świętochłowice (pl.) 373 Sępólno (pl.) 228 Siemianowitz / Siemianowice (pl.) 50, 195, 204 Sohrau / Żory (pl.) 453 Soldau / Działdowo (pl.) 488, 497, 498, 550 Sosnowitz / Sosnowiec (pl.) 49, 200, 205, 206, 218, 219, 222, 289, 328, 329, 332, 339, 340, 385, 551
Ortsnamenverzeichnis Spa 155, 261, 486 Steinamanger / Szombathely (ung.) 522, 523, 525 Strandorf / Strahovice (cz.) 461 Strzyżowice (pl.) 206 Stuhm/ Sztum (pl.) 489 Segedin / Szeged (ung.) 523 Skarżysko (pl.) 205 Skotschau / Skoczów (pl.) / Skočov (cz.) 71, 472, 477, 486 St. Annaberg / Góra Św. Anny (pl.) 14, 61, 62, 78, 108, 120, 160 St. Veit / Sveti Vid (slowen.) 516, 517 Szegedin / Szeged (ung.) 523 Tainach / Tinje (slowen.) 518 Tannenberg / Stębark (pl.) 491, 492 Tarnowitz / Tarnowskie Góry (pl.) 67, 68, 157, 163, 185, 265, 333, 334, 336, 340, 366, 413, 414, 417, 418, 421, 425, 426, 427, 432, 434, 435, 438, 566 Teschen / Cieszyn (pl.) / Těšín (cz.) 55, 71, 77, 86, 91, 149, 150, 151, 328, 332, 413, 448, 449, 451, 452, 453, 455, 468, 469, 470, 471, 472, 473, 474, 475, 476, 477, 478, 479, 480, 481, 482, 483, 484, 485, 486, 487, 541 Thröm / Třebom (cz.) 457, 461 Tost-Gleiwitz / Toszek-Gliwice (pl.) 185, 333, 336, 340, 418, 421 Troppau / Opava (cz.) 445, 447, 448, 449, 452, 453, 454, 455, 458, 459, 470, 471, 558, 568 Trianon 522, 525, 526, 535, 553 Trzynietz / Trzyniec (pl.) / Třinec (cz.) 476, 479 Tschenstochau / Częstochowa (pl.) 55, 159, 160, 205, 222, 223, 342 Turza / Turza (pl.) 278 Twardwa / Twardawa (pl.) 357, 359 Twardowice / Twardowice (pl.) 206
577 Venedig 530, 532, 533 Versailles 4, 8, 15, 16, 21, 26, 27, 29, 31, 32, 33, 34, 76, 78, 83, 87, 114, 119, 178, 249, 263, 289, 324, 372, 413, 420, 507, 544, 549 Villach / Beljak (slowen.) 513, 514, 519 Wandorf / Sopronbánfalva (ung.) 534 Washington 85, 87, 93, 99, 103, 163, 164, 165, 179, 553, 570 Warschau / Warszawa (pl.) 31, 48, 49, 51, 52, 53, 99, 114, 125, 127, 128, 129, 130, 140, 142, 142, 155, 159, 160, 163, 165, 193, 206, 208, 209, 212, 214, 216, 217, 218, 219, 220, 225, 226, 246, 247, 290, 292, 307, 308, 312, 315, 321, 325, 326, 329, 330, 331, 336, 338, 339, 343, 368, 382, 383, 413, 419, 424, 438, 469, 471, 473, 474, 475, 476, 477, 479, 480, 481, 483, 485, 486, 539, 544, 546, 550, 570 Warthenau / Zawiercie (pl.) 206 Welun / Wieluń (pl.) 201, 226, 551, 559 Wolfs / Balf (ung.) 534 Wien / Wiedeń (pl.) 71, 83, 95, 96, 124, 131, 137, 171, 217, 308, 353, 448, 469, 470, 471, 503, 511, 512, 521, 522, 525, 526, 527, 529, 530, 541, 547, 557, 562, 563, 568 Wieselburg / Moson (ung.) 521 Wilna / Vilnius (lit.) / Wilno (pl.) 52, 151, 205 Zabelkau / Zabełków (pl.) 275, 457 Zabrze (pl.) / Hindenburg 5, 27, 75, 157, 163, 182, 184, 202, 217, 229, 266, 274, 305, 333, 334, 336, 340, 354, 359, 364, 418, 419, 420, 421, 491, 492, 554 Zalenze / Załęże (pl.) 195 Zauditz / Sudice (pl.) 457, 461 Zeiselwitz / Czyżowice (pl.) 278 Zembowitz / Zębowice (pl.) 365 Ziegenhals / Głuchołazy (pl.) 452 Zinkendorf / Nagycenk (ung.) 534, 535 Zips / Spisz (slow.) 221, 474, 481 Zuckmantel / Zlaté Hory (cz.) 452
Personenverzeichnis Adamski, Stanisław 54, 59, 61 Aleksandrowicz, Franciszek 473 Andrycz, Jerzy 494 Arnold, Karl 375 Augustowski, Kazimierz 376 Baczyński, Stanisław 334, 336, 339, 344 Bánffy, Miklós 530, 532 Banko, August 256 Bar, Adam 370 Baudouin de Courtenay, Romualda 219 Bauer, James 377 Baur, Erich 240, 241 Bełza, Stanisław 210, 217, 218, 219 Benedikt XV., d.i. Giacomo della Chiesa 128, 129, 130, 131, 525 Beneš, Edvard 249, 448, 449, 450, 451, 453, 454, 456, 457, 461, 478, 528, 535 Benisz, Adam 166, 167 Berezowska, Maja 375 Bergerhoff, Karl 351, 354, 357, 359 Bernays, Edward L. 367 Bertram, Adolf Kardinal 70, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 222, 408, 539, 542 Bethge, Rudolph 375 Bethlen, István 528, 529, 530, 531, 532, 533 Biel, Urszula 376, 377 Bieniek, Juliusz 61 Bijak, Juliusz 332 Bilczewski, Józef 160 Biniszkiewicz, Józef 161, 288 Bisztyga, Kazimierz 222 Bitta, Joseph 172 Bloch, Max 192 Błana, Jan 333, 334 Bobowski, Jaxa von 471 Bocheński, Feliks 480 Bockelmann, Lars 372 Bronnen, Arnolt 356, 357 Buła, Józef 334 Bursche, Juliusz 492 Bussemer, Thymian 367 Cambon, Jules 16, 17, 18, 391, 392, 489 Chmielewski, Mieczysław 336, 340
Chrobok, Paweł 338, 339, 340, 341, 342 Clemenceau, Georges 18, 87, 152, 189, 392, 393 Curzon, George Nathaniel 107, 108 Cyran, Emil 223 Czaja, Herbert 71 Czapla, Kazimierz 288, 325 Czermański, Zdzisław 375 Dalbor, Edmund 160 Dąbrowski, Włodzimierz 158, 285, 295, 296, 486 Dembiński, Teodor 204 Demm, Eberhard 366 Dmowski, Roman 151, 152, 153, 169, 347, 391, 392, 394, 413, 448, 477, 478, 489 Dobek-Ostrowska, Bogusława 367 Doerman, Antoni 155 Dreyza, Józef 326, 328, 329 Dropała, Jan 334 Dubiska, Irena 216 Duda-Koza, Agata 364 Dupont, Charles-Joseph 289, 331 Ebert, Friedrich 259, 381, 431, 434, 547 Elbau, Julius 433 Engelbert, Tomasz 475 Evert, Władysław 218, 405 Fałat, Julian 375 Feldhuß, Friedrich 371 Fic, Maciej 45, 46, 61, 152, 157, 161, 166, 286, 289, 325, 328, 365, 368, 395, 405, 409, 428 Filasiewicz, Hilary 474 Firich, Karol 13, 22, 23, 28, 153, 178, 179, 180 Firle, Otto 375 Fojkis, Walenty 333, 334 Fouchet, Maurice 527 Frank, Gustav 520 Fras, Janina 367 Fräss-Ehrfeld, Claudia 373, 512, 513, 514 Friedrich II., der Große 99 Friedrich, Jacek 370 Fulneczek, Aloys 254, 255, 256
579
Personenverzeichnis Gasparri, Pietro 126, 127, 128, 129, 130, 131 Gawlina, Józef 59 Gawrych, Józef 166, 285, 296 Gayl, Wilhelm von 491, 492 Gelbard, Jerzy 375 George, David Lloyd 17, 18, 20, 26, 87, 88, 99, 100, 101, 109, 110, 137, 170, 189, 197, 392, 393, 490 Glensk, Joachim 297, 370, 405, 406, 407 Glombowski, Friedrich 350, 351, 352, 353, 354, 355, 357 Golaś, Paweł 333, 334 Gomułka, Władysław 61 Gottschlich, Erich J. 375 Górny, Maciej 17, 366 Grabski, Władysław 152, 155, 486 Grafenauer, Franz 519 Gratz, Gusztáv 527 Grażyński, Michał 13, 20, 21, 27, 28, 45, 50, 51, 53, 55, 56, 57, 58, 59, 62, 285, 336, 339, 341 Grey, Jan 340 Grocholski, Remigiusz 339 Groener, Wilhelm 259 Grosch, Waldemar 9, 174, 180, 190, 280, 286, 295, 297, 307, 364, 365, 368, 370, 371, 374, 375, 378, 379, 380, 382, 384, 386, 405 Grus, Kazimierz 375 Grzegorzek, Józef 326, 327, 329, 330, 332, 348 Grzesik, Karol 58, 59, 333, 334, 339 Gumbel, Emil Julius 254, 255 Günther, Heinrich 425 Gwóźdź, Andrzej 376, 377 Halke, Paul 320, 375 Haller, Józef 160, 215, 219, 327, 330, 335, 339, 438 Hamelin, Jules Camille 215, 219, 327, 330, 335, 339 Harazim, Franciszek 532 Harbich, Johann 472 Hatzfeldt zu Trachenberg, Hermann von 292, 303 Hauenstein, Heinz Oskar 350, 351, 352, 353, 355, 357 Hawranek, Franciszek 19, 43, 158, 162, 220, 285, 286, 290, 292, 325, 328, 329, 332, 333, 336, 338, 368, 386, 417
Heines, Edmund 353 Henckel von Donnersmarck, Georg 69 Hensel, Paul 492, 493 Herald, Heinz 377 Hindenburg, Paul von 354, 491, 492 Hoefer, Karl 7, 323, 347, 348, 349, 350, 351, 355, 356, 361 Hollunder, Friedrich 70 Horak, Alojzy 339 Horne, John 366 Hörsing, Otto 78, 171, 172, 305, 371 Horthy, Miklós 523, 524, 525, 531, 533 Huber-Feldkirch, Josef 375 Hupka, Herbert 71, 310 Iksal, Maksymilian 331 Jaeckel, Willi 375 Jagoda, Bernhard 71 Jarosz, Mieczysław 481 Jaworski, Rudolf 375 Jebsen, Nina 365, 375, 376 Johnson, Arthur 320, 375 Kaczmarek, Ryszard 11, 12, 14, 16, 18, 20, 22, 24, 26, 29, 34, 45, 54, 118, 159, 160, 161, 171, 172, 173, 174, 178, 179, 210, 211, 228, 229, 286, 289, 325, 327, 328, 329, 330, 331, 335, 338, 341, 342, 343, 347, 348, 349, 351, 352, 355, 358, 360, 362, 368, 382, 386, 391, 393, 395, 397, 403, 409, 420, 425, 441, 541, 543 Kahlden, Hans-Heinrich von 259, 260 Kaisig, Karl 380, 385 Kakowski, Aleksander 160, 436 Kapica, Jan 198 Karl I. 470 Katsch, Hermann 5, 149, 356, 361, 362, 455, 456 Kertész, Mihály, i.e. Curtiz, Michael 529 Keynes, John Maynard 193 Kiedroń, Józef 299, 469, 486 Kiene, Claudius 303, 353, 368 Kiser, Teodor 223, 528 Kley, Heinrich 375 Kloske, Wilhelm 160 Kolczyński, Mariusz 367 Kominek, Bolesław 61
580 Konwerski, Krzysztof 340 Koraszewski, Bronislaw 219 Korfanty, Wojciech 9, 13, 21, 22, 24, 27, 28, 44, 45, 51, 53, 52, 55, 57, 58, 59, 62, 105, 106, 107, 115, 137, 142, 144, 147, 148, 151, 152, 158, 161, 162, 163, 164, 165, 169, 178, 183, 193, 195, 204, 210, 230, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 300, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 313, 315, 316, 319, 320, 326, 327, 329, 330, 334, 335, 338, 340, 341, 342, 343, 347, 349, 364, 365, 372, 373, 376, 380, 382, 383, 394, 395, 396, 412, 424, 427, 428, 429, 434, 436, 441, 505 Kornat, Marek 265, 282 Kornke, Rudolf 51, 334 Koselleck, Reinhart 387 Kosmowska, Irena 218 Kotas, Jan 481 Kowalewski, Jan 339 Kowalski, Jerzy Włodzimierz126 127, 128, 129, 130 Koždon, Josef 449, 479 Krain, Willibald 287, 304, 375 Kramář, Karel 447, 448, 449 Kramer, Alan 366 Kranikowski, Karol 375 Krzoska, Emanuel 161 Krzyk, Józef 286, 364, 427 Kuczera, Sabina 370 Kulisz, Karol 486 Kupka, Teofil 376 Kurczyński, Zygmunt 375 Kurpiun, Robert 365, 425 Kwiatkowski, Eugeniusz 59 Lasswell, H.D. 367 Latacz, Ewald 192 Latinik, Franciszek 473, 476, 477, 478 Laubert, Manfred 258, 259, 365, 368 Le Bon, Gustave 386, 387 Le Rond, Henri 99, 104, 105, 107, 117, 138, 143, 172, 183, 302, 307, 308, 315, 392, 393, 395, 440, 456, 457, 458, 460, 461, 466, 467 Ledebour, Georg 152 Lehár, Antal 522
Personenverzeichnis Leisser, Theodor 375 Lemisch, Arthur 520 Lewandowski, Jan F. 158, 286, 376, 377 Lewandowski, Zenon 377, 492, 494, 495 Ligoń, Stanisław 375 Lindel, Johann 458 Lindloff, Hans 320, 375 Lipiński, Wacław 375 Lis, Michał 19, 20, 156, 167, 201, 290, 294, 368 Londzin, Józef 469, 474, 486 Longhena, Romei 479 Ludendorff, Erich 259 Ludyga-Laskowski, Jan Józef 329, 331, 332, 333, 334, 335, 337, 341, 343 Lukaschek, Hans 172, 175, 305, 308, 309, 310, 313, 314, 316, 317, 318 Lutman, Roman 20, 21, 22, 23, 24, 27, 28, 167 Luxemburg, Rosa 43 Łakomy, Ludwik 16, 17, 18, 20, 366, 373, 380 Mackiewicz, Kamil 375 Manneville, Gustave Henri Benoît de 482, 485 Marinis, Alberto de 104, 105, 107, 115, 116, 117, 118, 138, 396 Markau, Franz 375 Marks, Paul 492 Masaryk, Tomáš 84, 447, 448, 481 Mastalerz, Stanisław 333, 334 Maśnicki, Jerzy 377 Matejko, Theo 375 Matejko, Jan 219 Matuszewski, Ignacy 332, 344 Mendoszewski, Wincenty 340 Merkatz, Hans Joachim von 68 Michálek, Alois 482 Michejda, Jan 474 Mickiewicz, Adam 215 Miedziński, Bogusław 332, 344 Mielęcki, Andrzej 212 Mielżyński, Maciej 26, 57, 59, 340, 342, 348 Migdalski, Albert 161 Miketta, Lucjan 213 Minaczkiewicz, Tadeusz 386 Morelli, Anne 366 Mościcki, Ignacy 53, 58
581
Personenverzeichnis Mühlen-Schulte, Georg 375 Münzer, Adolf 375 Musialik, Wanda 155, 286, 294, 368, 327 Musialik-Chmiel, Anna 372 Myszor, Jerzy 369 Napieralski, Adam 44, 372 Neutzler, August 520 Nieborowski, Paul 260, 380, 408, 409 Niessel, Henry 479 Nitsch, Kazimierz 215 Nowak, Alojzy 235, 236, 257, 262, 340 Nowakowski, Bogdan 375, 381 Ociepka, Beata 367 Orlowski, Zdzislaw 339 Ossowski, Stanisław 20, 26, 272 Osuský, Štefan 456, 457, 459, 460, 461, 465 Pachoński, Henryk 204, 207, 209, 215, 216, 227, 228, 230, 408, 413 Paderewski, Ignacy 18, 152, 153, 155, 206, 208, 393, 480, 481, 486, 493, 495, 497 Paluch, Mieczysław 298, 336, 423 Parczewska, Melania 219 Parczewski, Alfons 218 Parsons, Talcott 367 Pawelke, Max 427 Pawłowicz, Weronika 364 Pellegrinetti, Ermenegildo 127 Percival, Harold 104, 105, 107, 108, 116, 117, 137, 138, 396 Pethe Aleksandra 372 Piłsudski, Józef 13, 15, 20, 45, 49, 50, 52, 53, 55, 56, 57, 58, 59, 61, 62, 161, 203, 204, 230, 231, 290, 291, 293, 325, 326, 330, 332, 334, 335, 344, 474 Pius XI. siehe Ratti, Achille 127 Pius XII., d.i. Eugenio Pacelli 127, 542 Plackowski, Jan 340 Plaszczek, Klaus 75 Pleszka, Jan 334 Podczaski, Jakub 471, 472 Podeszwa, Antoni 278 Ponsonby, Arthur 366 Porwoł, Paweł 375 Pośpiech, Paweł 207
Praznovszky, Iván 526 Procek, Małgorzata 375 Prónay, Pál 530, 531, 532, 533 Przedpełski, Wiktor 165, 340 Przeździecki, Konstanty 218 Przybyła, Jan 207 Psikala, Alexander 271 Puszczyński, Tadeusz 332, 356, 339 Raszewski, Kazimierz 338 Ratajewski Jerzy 372 Reger, Tadeusz 469, 474 Renner, Karl 513, 517, 523, 525, 526 Richthofen, Bolko von 69, 70 Riemer, Walter 375 Roja, Bolesław 472 Rola-Żymierski, Michał 61 Romanowicz, Antoni 375 Roßbach, Gerhard 355, 356, 357, 359 Rostek, Józef 218, 219, 299, 458 Rostworowski, Stanisław 340, 344 Rudolf, Kaim 364, 375, 405, 445 Rumpfeld, Wiktor 207 Rybarz, Edward 215, 290, 297 Rydz-Śmigły, Edward 58, 59 Rymer, Józef 161, 288, 291, 300 Rzepka, Weronika 376 Rzymełka, Jan 204, 223 Sapieha, Adam Stefan 160 Sapieha, Eustach 130, 163 Scheidemann, Philipp 160, 170, 174 Schilling, Erich 375 Schober, Johann 532 Schoen (Schön) Fritz 375 Schramm, Tomasz 366, 382 Schulz, Wilhelm 375 Sczodrok Karl 372 Serra, Ogno 131, 396 Sforza, Carlo 108, 114, 115, 116, 117 Sienkiewicz, Henryk 203 Sigray, Antal 523 Sikorski, Bronisław 424 Siuciak, Mirosława 370 Skowronek, Piotr 372 Smołka, Leonard 364 Šnejdárek, Josef 476, 478, 482
582 Sosnkowski, Kazimierz 14, 332, 338, 339, 343, 344, 426 Špaček, Jaromír 458, 460, 462, 463 Spiecker, Carl 259, 260, 303, 311, 312, 315, 317, 319, 321, 322, 350, 351, 352, 353, 368, 371, 372, 373, 425, 441, 442 Šrámek, Josef 458 Stanke, Hugo 248, 249, 458 Staszic, Stanisław 15, 48 Steinacher, Hans 516 Steiner, Jo 375 Steinert, Willi 320, 375 Stęślicka, Halina 162 Stollreither, Paul 375 Struve, Kai 7, 15, 40, 44, 174, 181, 364 Stuart, Harold 108 Szafarczyk, Józef 333 Szafranski, Kurt 375 Szczurek, Jerzy 473 Szymczak, Damian 366, 382 Ściskała, Dominik 481 Śleziak, Marta 374 Śpiewak, Rafał 372 Thiel, Kurt 492, 504 Thienel, Hubert 70 Thurner, Mihály 524 Toretta, Pietro Tomasi Della 530 Trąmpczyński, Wojciech 13, 155, 158, 159, 166, 220, 292, 428 Trier, Walter 375 Ulitz, Otto 69, 73 Ulitzka, Carl 74 Urbanek, Kurt 68, 70, 73, 135, 172, 173, 175, 303, 304, 310, 311, 312, 317, 318, 431, 432, 433, 436 Vogel, Rudolf 7, 190, 191, 308, 311, 312, 313, 319, 320, 321, 322, 364, 370, 405 Voigt, Frederick August 196, 198 Vrbenský, Bohuslav 450
Personenverzeichnis Waldthausen, Ernst 233 Wasner, Arthur 375 Wenzel, Georg 433 Widmann, Adalbert von 470, 471 Wilke, Erich 375 Willisen, Friedrich Wilhelm Freiherr von 259, 260 Wilson, Woodrow 17, 18, 84, 85, 86, 87, 88, 92, 93, 96, 101, 106, 111, 112, 113, 151, 174, 189, 190, 191, 192, 197, 347, 391, 392, 293, 469, 471, 488, 490, 499, 505, 506, 511 Witczak, Józef 339, 340 Witczak, Mikołaj 339, 340 Witos, Wincenty 344, 427, 428 Wiza, Zygmunt 325, 326 Wolff, Fritz 375 Wolny, Konstanty 54, 161, 288, 290, 291, 296, 353 Worgitzki, Max 492 Wójcicki, Michał 158 Wrzesiński, Wojciech 42, 383, 490, 491, 493, 494, 495, 496, 497 Wyglenda, Jan 162, 331, 339 Wypler, Jan 430 Zawadzki, Aleksander 60, 61 Zborowski, Henryk 340 Zejer, Jan 333 Zenkteller, Kazimierz 348 Zgrzebniok, Alfons 329, 330, 331, 336, 423 Zieliński, Władysław 22, 23, 26, 28, 44, 56, 57, 162, 163, 165, 176, 190, 200, 201, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 212, 216, 217, 221, 222, 224, 227, 228, 285, 286, 291, 292, 293, 295, 264, 368, 370, 373, 374, 377, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 405, 414 Ziętek, Jerzy 61, 62 Zille, Heinrich 320, 375 Zwiener, Bruno 375 Żeligowski, Lucjan 51 Żurawski, Zygmunt 472, 482 Żymierski, Michał 61, 332
Die Publikation ist das Ergebnis der internationalen Tagung „Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 ein Jahrhundert danach. Nationale Selbstbestimmung oder geopolitische Machtspiele?“ am 11./12.06.2021 in Ratingen gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Für die Unterstützung danken wir außerdem der Sparkasse Hilden-Ratingen-Velbert.