Die Verzögerungsbeschwerde und der Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG [1 ed.] 9783428584444, 9783428184446

Nach mehreren Verurteilungen Deutschlands wegen Verletzungen des Anspruchs auf eine angemessene Ver fahrensdauer durch d

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German Pages 324 [325] Year 2022

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Die Verzögerungsbeschwerde und der Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG [1 ed.]
 9783428584444, 9783428184446

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1469

Die Verzögerungsbeschwerde und der Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG Von

Roni Deger

Duncker & Humblot · Berlin

RONI DEGER

Die Verzögerungsbeschwerde und der Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1469

Die Verzögerungsbeschwerde und der Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG

Von

Roni Deger

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18444-6 (Print) ISBN 978-3-428-58444-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2021 als Dissertation vom Promotions­ ausschuss der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum konnten bis Juli 2021 berücksichtigt werden. Zunächst gilt mein herzlicher Dank meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Volker Epping, für seine hervorragende Betreuung und sein persönliches Enga­ gement sowohl für diese Arbeit als auch für mich als Person. Ohne ihn wäre ich vermutlich nicht der Jurist, der ich heute bin, und wäre auch nicht auf diese For­ schungslücke gestoßen. Seine Diskussionsbereitschaft sowie seine hilfreichen An­ merkungen in fachlicher als auch praktischer Hinsicht haben zum Gelingen der Arbeit wesentlich beigetragen. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei meinem Zweitgutachter, Herrn Honorar-Professor Dr. Reinhard Gaier, BVR a. D., der mit seiner praktischen Er­ fahrung als Richter am Bundesverfassungsgericht und obendrein als Mitglied der Beschwerdekammer der ideale Zweitgutachter war. Darüber hinaus möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Jan Lüttringhaus bedanken, der den Vorsitz der Prüfungskommission innehatte. Ein großer Dank gebührt auch den Angehörigen des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht von Herrn Professor Dr. Epping. Die gemeinsame Zeit hat mich nachhaltig geprägt. Den ständigen Austausch, die Diskussionen so­ wie die vielfältige Hilfe weiß ich sehr zu schätzen. Des Weiteren möchte ich mich an dieser Stelle auch beim Bundesverfassungsge­ richt für die Bereitstellung des unveröffentlichten Plenarbeschlusses vom 10. 03. 2010 sowie der unveröffentlichten Entscheidungen der Beschwerdekammer bedanken. Mein weiterer Dank gilt Herrn Sandro Köpper, der mir während der gemein­ samen Doktorandenzeit stets mit Rat zur Seite stand. Ebenso danken möchte ich Herrn Leon Rien für die Durchsicht des Manuskriptes. Mit Beiden konnte ich stets anregende Gespräche führen und dadurch die Arbeit argumentativ nachschärfen. Mein persönlicher Dank gebührt Frau Henrike Badenhop als Mensch an meiner Seite, der immer für mich da war und die sich ebenso die Mühe gemacht hatte, das Manuskript zu sichten. Schlussendlich möchte ich meinen Eltern danken. Sie haben mir das Studium der Rechtswissenschaft erst ermöglicht und ohne ihre Hingabe und Fürsorge wäre ich sicherlich nicht so weit gekommen. Hannover, im Juli 2021

Roni Deger

Inhaltsübersicht Kapitel 1 Einleitung 21 A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 23

Kapitel 2



Historischer Überblick über das Problem der überlangen Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht 33

A. Die überlange Verfahrensdauer und der Rechtsschutz hiergegen in der Rechtspre­ chung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 C. Würdigung auf der Ebene des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Kapitel 3

Konventionsrechtlicher und grundgesetzlicher Hintergrund der §§ 97a ff. BVerfGG 96

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit, insbesondere vor dem Bundes­ verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer: Abwehr und Kompensation, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . 165 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Kapitel 4

Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde sowie Voraussetzungen und Inhalt des Entschädigungsanspruches nach §§ 97a ff. BVerfGG  180

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

8

Inhaltsübersicht

C. Verfahren und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 D. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

Kapitel 5

Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG sowie der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammer 265

A. Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Kapitel 6 Schlussbetrachtungen 291 A. Punktuelle Reformansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Bewertendes Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Anhang: Chronologischer Überblick über die Rechtsprechungspraxis der Beschwer­ de­­kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung 21 A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 23

Kapitel 2 Historischer Überblick über das Problem der überlangen Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht 33



A. Die überlange Verfahrensdauer und der Rechtsschutz hiergegen in der Rechtspre­ chung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I.

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . 33 1. Die erste Verurteilung wegen überlanger Verfahrensdauer im Jahr 1978: Kö­ nig v. Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Das Bundesverfassungsgericht als „Randnotiz“ in der EGMR-Rechtspre­ chung: Buchholz v. Germany und Eckle v. Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Der Beginn eines Richtungswechsels: Deumeland v. Germany; Bock v. Ger­ many; Ruiz-Mateos v. Spain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Die Entscheidung vom 29. 05. 1986: Deumeland v. Germany . . . . . . . . . 35 b) Die Entscheidung vom 29. 03. 1989: Bock v. Germany . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Die Entscheidung vom 23. 07. 1993: Ruiz-Mateos v. Spain . . . . . . . . . . 38 4. Die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht als isolierter Be­ schwerdegegenstand: Süßman v. Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5. Die Verfahrensdauer einer konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG als Gegenstand einer Individualbeschwerde: Pammel v. Germany; Probstmeier v. Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6. Strafprozesse als Ausgangspunkt: Gast and Popp v. Germany . . . . . . . . . . . 43 7. Der Wendepunkt: Kudła v. Poland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 8. Die Verurteilungen Deutschlands nach dem Kudła-Urteil . . . . . . . . . . . . . . 46 9. Das Urteil in der Sache Voggenreiter v. Germany vom 08. 01. 2004: Eine Ge­ setzesverfassungsbeschwerde als Ausgangverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 10. Sürmeli v. Germany: Die erste Verurteilung wegen der Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

10

Inhaltsverzeichnis 11. Die Verurteilungen nach der Sürmeli-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 12. Das Urteil vom 02. 12. 2010 im Pilotverfahren Rumpf v. Germany  – Der Kataly­sator für die Kreierung der §§ 97a ff. BVerfGG und §§ 198 ff. GVG 52 13. Die ersten Auswirkungen der §§ 97a ff. BVerfGG, §§ 198 ff. GVG sowie die erste vorläufige Bewertung der Effektivität durch den Europäischen Ge­ richtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 14. Kuppinger v. Germany: Die partielle Ineffektivität des Rechtsschutzes gegen überlange Verfahrensdauer in Kindschaftssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 15. Zusammenfassende Bewertung der Rechtsprechung des Europäischen Ge­ richtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Der Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG in der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Die Ausfüllung des Merkmals der „Angemessenheit der Verfahrensdauer“ durch die (Kammer-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . 66 4. Zusammenfassende Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 I.

Anfängliche Debatte nach der Kudła-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

II. Der Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Ein neuer legislativer Ansatz: Schwerpunktmäßige Kompensationslösung . . . . 72 1. Die Beteiligung des Bundesverfassungsgerichts an der Ausarbeitung der §§ 97a ff. BVerfGG-E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Weitere Entwicklungen bis zur Initiierung des Gesetzgebungsverfahrens . . 74 IV. Das Gesetzgebungsverfahren des ÜGRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Initiierung und Stellungnahme des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Beratungen im Bundestag, insbesondere im federführenden Rechtsauschuss 75 3. Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat . . 77 V. Der Evaluationsbericht der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Evaluierungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Evaluierungsergebnis zu den §§ 97a ff. BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Äußerungen von Verbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 VI. Die Gesetzesreform nach dem Urteil Kuppinger v. Germany . . . . . . . . . . . . . . . 80 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Inhaltsverzeichnis

11

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I.

Allgemeine Vorgaben auf der Ebene des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Die Arbeit des Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Die Arbeit der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (­CEPEJ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Der Bericht der Venedig-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

II. Durchsetzung der EGMR-Entscheidungen wegen Verletzungen von Art. 6 und 13 EMRK durch die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Resolution des Ministerkomitees bezüglich des Urteils Voggenreiter v. Ger­ many und vier weiterer Fälle von 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Resolution des Ministerkomitees bezüglich 71 Verurteilungen Deutschlands (u. a. Sürmeli und Rumpf) von 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Resolution des Ministerkomitees bezüglich des Urteils Kuppinger v. Ger­ many von 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Wertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Kapitel 3 Konventionsrechtlicher und grundgesetzlicher Hintergrund der §§ 97a ff. BVerfGG 96



A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit, insbesondere vor dem Bundes­ verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.

Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Vorbemerkungen: Innerstaatlicher Rang und Wirkungsweise der EMRK . . 96 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Strafrechtliche Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Verfassungsrechtliche Streitigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht: Subsumtion unter Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (1) Individualverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Kommunalverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Die konkrete Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

12

Inhaltsverzeichnis cc) Weitere Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 2, 3, 126 GG . . . . . . . 115 (1) Völkerrechtliches Verifikationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (2) Divergenzvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (3) Normqualifizierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 dd) Abstrakte Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (1) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (2) Kompetenzkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 ee) Kontradiktorische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (1) Organstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (2) Bund-Länder-Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 ff) Verfassungsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (1) Parteiverbotsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (2) Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung . . . . . . . . . 127 (3) Grundrechtsverwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (4) Präsidentenanklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 (5) Richteranklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 gg) Sonstige Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (1) Verfahren in Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen . 133 (2) Verfahren nach dem PUAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (3) Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . 135 hh) Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 d) Ergebnis zum Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Inhalt: Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Berechnung des zu berücksichtigenden Zeitraumes . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Komplexität des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 c) Verhalten des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Verhalten der zuständigen Behörden und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 e) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 f) Die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 143 g) Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Ergebnis zu Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 bb) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 cc) Die Geltung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer für juristische Personen des öffentlichen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Inhaltsverzeichnis

13

b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 aa) Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 bb) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Nationaler Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Völkerrechtsfreundlicher Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 dd) Subsumtion der einzelnen Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Die Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Vorlageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (3) Abstrakte Normenkontrolle und kontradiktorische Verfahren . . 159 (4) Verfassungsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (5) Sonstige Verfahren und Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . 160 (6) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Ergebnis zu Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . 164 B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer: Abwehr und Kompensation, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . 165 I.

Recht auf eine wirksame Beschwerde, Art. 13 EMRK i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK 166 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht – ein „infiniter Rechts­ schutz“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

II. Abwehr- und Kompensationsrechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . 170 1. Reaktionsmöglichkeiten nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG? . . . . 170 a) Grundsätzliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) In Bezug auf das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Inhaltliche Dimension der Abhilfemöglichkeit: Abwehr oder Kompensa­ tion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

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Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde sowie Voraussetzungen und Inhalt des Entschädigungsanspruches nach §§ 97a ff. BVerfGG  180



A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 I.

Einordnung der Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Dogmatische Verortung im Verfassungsprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

II. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 III. Statthaftes Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Alle Verfahrensarten als statthaftes Ausgangsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Die Verzögerungsbeschwerde: Nur ein Annex zum Ausgangsverfahren oder ein eigenständiges Verfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 IV. Beschwerdegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 V. Beschwerdeberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Äußerungsberechtigte i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG als Beschwerdeberech­ tigte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Planwidrige Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Vergleichbare Interessenslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Die Stellung von staatlichen Verfahrensbeteiligten (insb. Verfassungsorga­ nen) als Beschwerdeberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Analoge Anwendung von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG? . . . . . . . . . . . . . . . . 192 b) Teleologische Reduktion von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG? . . . . . . . . . . . 194 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Ergebnis zum Beschwerdeberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 VI. Beschwerdebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Das Erfordernis der individuellen Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Individuelle Betroffenheit in den einzelnen Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . 198 3. Erleichterte Darlegung der Beschwerdebefugnis nach § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG auch für staatliche Verfahrensbeteiligte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 VII. Ordnungsgemäße Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Einordnung der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Dogmatische Verortung im Verfassungsprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Statthaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Statthaft in allen Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inhaltsverzeichnis

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b) Präklusionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 c) Statthaftigkeit von „Kettenrügen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Adressat, Form und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Form und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Schwierigkeiten des Begründungserfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4. Wartefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Die zwölfmonatige Wartefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Einschränkung der Wartefrist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5. Keine Bescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6. Folgen einer fehlenden oder fehlerhaften Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . 214 a) Fehlen der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Fehlerhafte Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) „Verspätete“ Verzögerungsrüge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7. Zwischenergebnis zur Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 VIII. Frist der Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Die Wartefrist nach § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Die Ausschlussfrist nach § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . 218 3. Ausschluss der Verzögerungsbeschwerde bei Erledigung des Verfahrens in­ nerhalb der Wartefrist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 IX. Adressat, Form und Begründung der Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . 220 1. Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Form und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Gleichzeitigkeit von Begründung und Erheben der Verzögerungsbeschwerde? 222 X. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Ausschluss bei formellem Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Ausschluss von Bagatellen (de minimis non curat praetor) . . . . . . . . . . . . . 223 3. Verwirkung infolge einer „verspäteten“ Verzögerungsbeschwerde? . . . . . . 224 4. Ausschluss bei Litispendenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 I.

Dogmatische Verortung des Entschädigungsanspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

II. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Ausgangsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Anspruchsberechtigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Anspruchsgegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

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Inhaltsverzeichnis a) Berechnung des zu berücksichtigenden Zeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Die Kriterien der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 aa) Die Umstände des Einzelfalles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (1) Organisatorische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (2) Verfahrensmäßige Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (3) Atypische Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5. Kausaler Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Nachteilsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Der Begriff der angemessenen Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Inhalt und Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 a) Ersatz materieller Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 aa) Unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbußen . . . . . . . . . . . . . . 244 bb) Entgangener Gewinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Ersatz immaterieller Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Wiedergutmachung auf andere Weise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 bb) Entschädigungszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 c) Entschädigungsansprüche des Staates gegen sich selbst? . . . . . . . . . . . . 250 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

C. Verfahren und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 I.

Prozessuale Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

II. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 III. Wirkungen der verfahrensrechtlichen Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 D. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 I.

Präventive, konkurrierende Rechtsbehelfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Ungeschriebene Beschleunigungsrechtsbehelfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

II. Amtshaftungsanspruch, § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

Inhaltsverzeichnis

17

Kapitel 5 Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG sowie der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammer 265



A. Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 I.

Die Effektivität der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Einbeziehung der einstweiligen Anordnung als präventiver Rechtsbehelf? . . . . 269 IV. Ergebnis zur Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 I.

Prozedurale Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Warte- und Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Begründungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Präklusionswirkung und die Verknüpfung der Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Einleitung der Verzögerungsbeschwerde während eines noch laufenden Ver­ fahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Angemessene Dauer des Verzögerungsbeschwerdeverfahrens . . . . . . . . . . . 276 4. Prozesskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5. Die Beschwerdekammer als unparteiliche Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

II. Materiell-rechtliche Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1. Die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) In der Theorie: Der § 97a Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) In der Praxis: Die Rechtsprechung der Beschwerdekammer . . . . . . . . . 282 2. Die Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 a) Materielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Immaterielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Kapitel 6 Schlussbetrachtungen 291 A. Punktuelle Reformansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Bewertendes Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

18

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Anhang: Chronologischer Überblick über die Rechtsprechungspraxis der Beschwer­ dekammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Abkürzungsverzeichnis Bay. VfGHG BbgVerf BbgVerfG Berl. VerfGHG BOE BPräsRuhebezG Brem. StGHG BW VerfGHGG G Artikel 29 Abs. 6 Hess. StGHG Hmb. VerfGG NStGHG NW VGHG RlP VGHG S-A LVerfGG Saarl. VerfGHG SächsVerfGH SächsVerfGHG ThürVerfGHG

Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof Verfassung des Landes Brandenburg Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Boletín Oficial del Estado Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten Gesetz über den Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Würt­ temberg Gesetz über das Verfahren bei Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung nach Artikel 29 Abs. 6 des Grundgesetzes Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht Gesetz über den Niedersächsischen Staatsgerichtshof Gesetz über den Verfassungsgerichtshof für das Land NordrheinWestfalen Landesgesetz über den Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Gesetz über das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalts Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof

Im Übrigen wird verwiesen auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auf­ lage, Berlin 2018

Kapitel 1

Einleitung A. Problemaufriss „Justice delayed is justice denied“1

Diese Grundwahrheit bildet den Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersu­ chung. Denn lediglich dort, wo die ersehnte gerichtliche Entscheidung rechtzeitig ergeht, d. h. dem Fall nach angemessen schnell ist, genügt das Gericht den nationa­ len Anforderungen der Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und des allgemeinen Justizgewähr­ leistungsanspruches (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG)2 sowie den Konven­ tionsrechten auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK)3 und in unionsrecht­ lich determinierten Sachverhalten dem Recht aus Art. 47 Abs. 2 GRCh4. Diese Grundsätze gelten freilich nicht nur vor den Fachgerichten, sondern nach nationaler Dogmatik und der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)5 ebenso vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)6.7 1 Diese Aussage wird dem viermaligen britischen Premierminister William Ewart Glad­ stone (1809–1898) zugeschrieben (zitiert nach Terhechte, DVBl. 2007, 1134 [1135]). Bereits dem römischen Recht war die Maxime „iustitiae dilatio est quaedam negatio“ bekannt, wonach die Verzögerung der Rechtsgewährung ihrer Verweigerung gleichkommt. Im frankophonen Sprachraum spricht man von „justice rétive, justice fautive“. Hingegen ist in den deutschspra­ chigen Ländern ein vergleichbares Sprichwort unbekannt. S. zu den Aussprüchen Terhechte, DVBl. 2007, 1134 (1135) sowie Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 21 f. 2 Das Prozessgrundrecht auf einen effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit fußt nach h. M. für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Art. 19 Abs. 4 GG und für die Straf- und Zivilgerichtsbarkeit im allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG bzw. objektiv-rechtlich im Rechtsstaatsprinzip (s. Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  116; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 53, 64 mit umfassenden Nachweisen). S. dazu Kap. 3. 3 S. zu Art. 6 EMRK Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn. 113. 4 Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh gilt die Charta für die Mitgliedstaaten, d. h. auch in mit­ gliedstaatlichen Gerichtsverfahren, ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts, Jarass, GRCh, Art. 47, Rn. 4, s. auch EuGH, Urteil v. 07. 06. 2012, Rs. C-27/11  – Vinkov, Rn. 55–57. 5 Im Folgenden EGMR. 6 Im Folgenden BVerfG. 7 Für die grundgesetzlichen Gewährleistungen ergibt sich dies grundsätzlich aus der Bin­ dung an Recht und Gesetz gemäß Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG (vgl. zur Bindung an Art. 19

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Kap. 1: Einleitung

Im nationalen Raum sichert das BVerfG mit den ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln gegenüber den Fachgerichten die Einhaltung des Grund­ rechtes auf eine angemessene Verfahrensdauer.8 Demgegenüber wacht über das Karlsruher Gericht bekanntermaßen keine weitere deutsche Instanz, weshalb die Problematik der Verfahrensdauer vor dem BVerfG nach Straßburg zum EGMR getragen wurde. So verurteilte der EGMR bereits seit den 1980er Jahren die Bun­ desrepublik Deutschland regelmäßig wegen Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das Verfassungsgericht.9 Diese wiederholten Verurteilungen mündeten letztlich in einem sog. Pilot­ urteil10, in dem der hiesigen Gerichtsbarkeit in toto ein systemisches Problem mit überlangen Verfahrensdauern11 attestiert wurde.12 Der Gerichtshof forderte die Bundesrepublik nicht nur dazu auf, diese konventionswidrige Praxis zu beenden, sondern darüber hinaus binnen eines Jahres eine konventionskonforme wirksame Beschwerdemöglichkeit i. S. v. Art. 13 EMRK zu implementieren, die für die Be­ troffenen Abhilfe verschaffen soll.13 In Umsetzung dieser Vorgaben schuf der Gesetzgeber für die Fachgerichtsbar­ keit (§§ 198 ff. GVG) und für die Verfassungsgerichtsbarkeit (§§ 97a ff. BVerfGG) die Instrumente der Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage (§ 198 Abs. 3, 5 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG auch BVerfG [Beschwerdekammer] NJW 2015, 3361, Rn. 29). Nach Feststellungen des EGMR bindet Art. 6 EMRK nicht nur die Fach­ gerichtsbarkeit, sondern auch die Verfassungsgerichtsbarkeit (EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 34–46; Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 17820/91, Rn. 46–58 [alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des EGMR sind unter https://hudoc.echr.coe.int/frei aufrufbar]). Über das Zustimmungsgesetz zur EMRK und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 59 Abs. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie der Völkerrechtsfreund­ lichkeit des Grundgesetzes sind alle deutschen Hoheitsträger an die Regelungen der Konven­ tion sowie grundsätzlich an die Rechtsprechung des EGMR gebunden, vgl. BVerfGE 111, 307. Näheres dazu in Kap. 3. 8 Z. B. BVerfG NJW 2008, 503; Beschluss v. 09. 10. 2014, – 2 BvR 2874/10, BeckRS 2014, 59304. Zusammenfassend Schmaltz, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, III, 583 (586–595). 9 Im Zeitraum von 1959 bis 2017 wurde die Bundesrepublik durch den EGMR in mindes­ tens 102 Fällen wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund einer überlangen Ver­ fahrensdauer verurteilt (s. ECHR, Overview 1959–2017, 8). Unter diese Zahl fallen sowohl Verzögerungen durch die Fachgerichte (vgl. EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 64 f. m. w. N.) als auch durch das BVerfG (z. B. EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 17820/91, Rn. 73). Hinzukommen Verletzungen von Art. 13 EMRK, da das deutsche Recht keinen wirksamen Rechtsbehelf kannte, der geeignet war, Abhilfe bei überlanger Verfahrensdauer zu schaffen (s. EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 115 f.; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 63–68; Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 51). Näherer in Kap. 2 A. I. 10 S. zur Begrifflichkeit Kap. 2 A. 12. 11 In der folgenden Arbeit werden die Formulierungen „überlange“ und „unangemessene lange“ Verfahrensdauer synonymhaft verwendet. 12 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 64–70. 13 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 137; Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 53–55, 71–73.

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft 

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GVG) bzw. Verzögerungsbeschwerde (§ 97b Abs. 1 S. 1, 2 BVerfGG) zur Geltend­ machung eines neuartigen Entschädigungsanspruches zur Kompensation von über­ langen Verfahrensdauern (§ 97a BVerfGG; § 198 Abs. 1, 2, 4 GVG).14 Das Problem der unangemessenen Verfahrensdauer scheint somit erledigt zu sein. Aus den Rechtsbehelfen ergeben sich allerdings neue Fragen, die es zu klä­ ren gilt. Es stellen sich zunächst ganz grundsätzliche Fragen nach der rechtlichen Notwendigkeit eines solchen Rechtsbehelfs vor dem BVerfG. Zwar vermag die zahlenmäßig größte Verfahrensart, die Verfassungsbeschwerde,15 sicherlich in den Anwendungsbereich der eingangs genannten Justizgrundrechte fallen. Ob dies aber bei einem Großteil der übrigen Verfahrensarten – man denke an genuin staatsrechtliche Verfahren – der Fall ist, erscheint durchaus fraglich. Neben die­ sen Fragen zum Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer als solchen ist klärungsbedürftig, ob und wie auf eine Verletzung des Anspruches zu reagieren ist, insbesondere wenn sie vom Hüter der Verfassung ausgehen. Abseits dieses allgemeinen verfassungs- und konventionsrechtlichen Hinter­ grundes sind mit Blick auf die §§ 97a ff. BVerfGG weitere Detailfragen zu klären. Dies betrifft vor allem die Beteiligung von staatlichen Akteuren am Verfahren der Verzögerungsbeschwerde. Offene Probleme bestehen hierbei insbesondere bei der Eingrenzung der Beschwerde- und Anspruchsberechtigten sowie der Frage der Beschwerdebefugnis. Letztlich steht  – anknüpfend an das eingangs genannte Zitat  – die Frage im Raum, ob die Verzögerungsbeschwerde den Zweck erfüllt, für den sie geschaffen wurde: Wurde das Problem der unangemessenen Verfahrensdauer vor dem BVerfG gelöst? Konkret: Genügt der Rechtsbehelf in der Theorie und insbesondere in der Praxis den konventions- und verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen ef­ fektiven Rechtsschutz zur Wahrung der angemessenen Verfahrensdauer?

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft Die Untersuchung verfolgt mehrere Ziele: das Aufzeigen der europäischen und nationalen Dimension des Themas durch einen geschichtlichen Überblick (Kap. 2), eine dezidierte Darstellung des konventions- und verfassungsrechtlichen Hinter­ grundes und des Anwendungsbereiches des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer im Kontext der Verfassungsgerichtsbarkeit (Kap. 3), hierauf auf­ bauend eine problemorientierte Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG (Kap. 4) und 14

Eingeführt durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BGBl. 2011 I, 2302. Im Folgenden mit ÜGRG abgekürzt. 15 Vgl. BVerfG, Jahresstatistik 2018, 1, 6 ff. https://www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/statistik_2018.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zu­ letzt geöffnet am 05. 12. 2020.

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Kap. 1: Einleitung

im Abschluss eine Effektivitätsbewertung der neuen Rechtsschutzinstrumente vor dem BVerfG (Kap. 5). So kann im Ergebnis mit einem umfassenden Bild über die §§ 97a ff. BVerfGG aufgewartet werden. Um die gegenwärtige Gesetzeslage nach den §§ 97a ff. BVerfGG besser verste­ hen und einordnen zu können, ist ein Rückblick auf die bisherige Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf die unangemessen lange Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK) vor der deutschen Gerichtsbarkeit, inklusive der Verfassungsgerichtbar­ keit, sowie zur Notwendigkeit eines effektiven Rechtsbehelfs gegen solch über­ lange Verfahrensdauer (Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK) erforderlich. Hierbei richtet sich der Fokus auf Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Ver­ fahrensdauer vor dem BVerfG. Zugleich wird in dem historischen Überblick die Rechtsprechung des BVerfG zum grundgesetzlich verbürgten Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer nachgezeichnet. Zugegebenermaßen stellen bereits andere Abhandlungen16 die Historie dar. Gleichwohl werden die gemeinsamen Entwicklungslinien der EGMR- und BVerfG-Judikatur bisher kaum systematisch aufgezeigt und dementsprechend nur oberflächlich für die Auslegung des einfa­ chen Rechts – insbesondere der §§ 97a ff. BVerfGG – genutzt. Anstelle einer er­ schöpfenden Darstellung17 aller einschlägigen EGMR- und BVerfG-Judikate wer­ den lediglich einige prägende Entscheidungen pro Dekade vorgestellt, um diese Rechtsprechungslinien zu konturieren (Kap. 2 A. I., II.). Vereinzelt wird auch auf wegweisende EGMR-Entscheidungen eingegangen, die gegen andere Konventions­ staaten ergangen sind, um die gesamteuropäische Entwicklung der Rechtsprechung in Sachen unangemessen langer Verfahrensdauer – insbesondere vor den Verfas­ sungsgerichten – aufzuzeigen. Anschließend wird die historische Linie weiterge­ zogen: Es werden die Diskussionen während des deutschen Gesetzgebungsprozes­ ses – für die §§ 97a ff. BVerfGG unter exklusiver Auswertung der maßgebenden Stellungnahme des BVerfG18 – bis zum schlussendlichen Inkrafttreten des ÜGRG nachvollzogen19 (Kap. 2 B. I. bis IV., VI.) sowie die anschließende Bewertung der 16

S. etwa Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 35–160; Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 237 ff. Exemplarische Fallauswahl u. a. bei Hof­ marksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 13 ff.; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 57 ff.; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 36 ff. 17 Eine Darstellung von EGMR-Entscheidungen bis ins Jahr 2007 bietet Brett, Verfahrens­ dauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 35–160. 18 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010 (unveröffentlicht). An dieser Stelle wird herz­ lich dem BVerfG für die Bereitstellung des Plenarbeschlusses gedankt. 19 Eingehend Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren, Einführung, Rn. 62–375; ferner Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 29 ff.; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 75 ff.; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 61 ff.; J. Schmidt, Überlange Strafverfahren im Lichte der §§ 198 ff. GVG, 93 ff., die allesamt den Fokus auf die Bestimmungen des GVG und nicht des BVerfGG legen.

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft 

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Bundesregierung20 (Kap. 2 B. V.), des Europarats als Vollzugsorgan des Gerichts­ hofes (Kap. 2 C.) und des Gerichtshofes21 selbst (Kap. 2 A. I. 13., 14.) miteinbezo­ gen. Insofern kann ein vollständiges Bild zu den Hintergründen, der Entstehung und der Evaluation der §§ 97a ff. BVerfGG gezeichnet werden, welches in dieser Form – insbesondere mit Fokus auf die Verfahrensdauer vor dem BVerfG – bis­ her nicht bestand, da die bisherigen Publikationen lediglich die §§ 198 ff. GVG als Untersuchungsgegenstand haben. Neben der historischen Aufarbeitung des The­ menfeldes der angemessenen Verfahrensdauer vor dem BVerfG als solche, liegt die Bedeutung des zweiten Kapitels liegt darin, dass im späteren Verlauf der Arbeit mehrfach hierzu Bezug genommen wird. Etwa bei der Frage nach der Anwendbar­ keit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die einzelnen Verfahrensarten des BVerfG, bei der (historisch-genetischen) Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG oder den Effektivi­ tätsanforderungen an einen Rechtsbehelf. Ein weiteres Ziel der Arbeit ist es, zu erklären, ob und wie das Recht auf ein Ver­ fahren in angemessener Zeit im Allgemeinen vor dem BVerfG wirkt. Die Fragen zur Geltung und Wirkung des Anspruches lassen sich in mehrere Dimensionen ein­ teilen. Zunächst werden dessen konventions- und verfassungsrechtlichen Geltungs­ gründe lokalisiert und inhaltliche Vorgaben dargestellt (Kap. 3 A. I. und II.). Im nächsten Schritt werden die verschiedenen verfassungsgerichtlichen Verfahrensar­ ten unter diesen allgemeinen Erwägungen subsumiert, womit geklärt werden kann, in welchen Verfahren die grund- und konventionsrechtlichen Vorgaben überhaupt eine Geltung entfalten. Gleiches wird auf der Stufe der Reaktion auf eine Verlet­ zung des Anspruches durchgeführt. Hierbei werden konventions- und verfassungs­ rechtlich gebotene Abwehr- und Kompensationsmöglichkeiten vor dem BVerfG voneinander abgeschichtet (Kap. 3 B. I. und II.) und ebenfalls auf die einzelnen Verfahrensarten bezogen. Soweit die grundgesetzlichen Reaktionsmöglichkeiten behandelt werden, wird zwischen dem Primär- und dem Sekundärrechtsschutz entsprechend des Nassauskiesungsbeschlusses vom 15. 07. 199822 differenziert.23 Zwar liegen zu den grundsätzlichen Fragen der Geltung und des Inhalts des An­ spruches auf eine angemessene Verfahrensdauer bereits monografische Arbeiten 20

BT-Drucks. 18/2950. Vgl. dazu R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspru­ ches aus § 198 GVG, 297 ff. 21 Vgl. Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vor­ gaben des EGMR, 175 ff.; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 135 f., die sich mit den EGMR-Entscheidungen zu §§ 198 ff. GVG auseinandersetzen. 22 BVerfGE 58, 300. Dazu Grzeszick, in: Ehlers / P ünder (Hrsg.), VerwaltungsR AT, § 45, Rn. 13 f. 23 Einteilung so wie hier auch Axer, DVBl. 2001, 1322; Erbguth, in: VVDStRL 61 (2002), 222 (223–227); Papier, in: HStR VIII, § 180, Rn. 69. Eine dreigliedrige Einteilung, wie sie bei Grzeszick, in: HGR III, § 75, Rn. 97 f. oder bei Maurer / Waldhoff, VerwaltungsR AT, § 25, Rn. 6 dargestellt wird, vermag bei Verletzungen des Anspruches auf ein Verfahren in angemessener Zeit nicht verfangen, da lediglich Abwehr- und Ausgleichsansprüchen dem Einzelnen nützen können, hingegen eine dazwischenliegende Anspruchsebene zur Folgenbeseitigung, die ver­ lorene Zeit nicht wiederherstellen kann.

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Kap. 1: Einleitung

vor,24 sie betreffen allerdings vornehmlich die Fachgerichtsbarkeit, so dass in die­ sem Kontext das BVerfG und die dort verhandelten verschiedenen Verfahrensarten entweder gar nicht oder nur kursorisch angesprochen werden.25 Insoweit besteht eine Forschungslücke, als dass gerade für das BVerfG anderweitige Ausführungen zu machen sind, um dessen besonderer Rolle als Verfassungsorgan, Gericht und letztlich als Hüter der Verfassung gerecht zu werden.26 Es wird daher untersucht, wie aufgrund der Bestimmungen des BVerfGG sowie der Entscheidungspraxis des BVerfG ein enger Zusammenhang zwischen der Ausübung der Aufgabe der Ver­ fassungsgerichtsbarkeit und der straf- und zivilrechtlichen Position des Einzelnen i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK besteht. Ausgehend von dem häufigsten Verfahren vor dem Karlsruher Gericht, der Verfassungsbeschwerde, wird zunächst gezeigt, in­ wiefern das verfassungsgerichtliche Verfahren den fachgerichtlichen Prozess be­ einflussen kann und sich – teils erheblich – auf die Rechte des Individuums i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK auswirken kann. Im Anschluss werden die weiteren Verfah­ rensarten untersucht, die möglicherweise unter die Bestimmung der Konvention fallen könnten. Gleiches erfolgt unter dem Blickwinkel der grundgesetzlichen Garantien (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG), so dass zugleich die Konvergenzen der verschiedenen Normen aufgezeigt werden können. Nach der Klärung der Frage, ob vor dem BVerfG grundsätzlich, und wenn ja, in welchen Verfahren ein Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer besteht, werden auf der nächsten Ebene die konventions- und verfassungsrechtlich gebo­ tenen Reaktionsmöglichkeiten in Formen von präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen eruiert. Die Beleuchtung dieser basalen Hintergründe findet ihre Relevanz in der Maßgeblichkeit der konventions- und grundgesetzlichen Normen für die Auslegung der einzelnen Vorschriften der §§ 97a ff. BVerfGG und zur Lö­ sung auftretender Probleme. Zudem können relevante Unterschiede und Gemein­ 24 S. Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vor­ gaben des EGMR, 117 ff., 149 ff.; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 9 ff., 19 ff.; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 15 ff., 23 ff.; Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskon­ vention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 19 ff., 36 ff., 64 ff., 88 ff.; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 21 ff. 25 Vgl. Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 137 f.; Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 79 f.; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 46 ff. 26 Lediglich Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 277 ff., 340 ff. und Borm, Angemessene Verfahrensdauer im Verfassungsbeschwerde­ verfahren, 133–135 befassen sich näher mit der Geltung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer vor dem BVerfGG, allerdings beschränkt auf die Verfassungsbeschwerde. Ferner sind die beiden Arbeiten vor dem Inkrafttreten des ÜGRG entstanden, so dass es an einer Anwendung der konventions- bzw. verfassungsrechtlichen Maßstäben im Rahmen einer Effektivitätsüberprüfung der §§ 97a ff. BVerfGG bisher mangelt.

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft 

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samkeiten zwischen den Vorgaben des Grundgesetzes und der EMRK sowie den §§ 97a ff. BVerfGG aufgezeigt werden. Im Anschluss werden aufbauend auf diesem einerseits historischen, anderer­ seits menschen- und grundrechtlichen Fundament die Bestimmungen der §§ 97a ff. BVerfGG genauer untersucht, ausgelegt und dogmatisch eingeordnet. So kön­ nen die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verzögerungsbeschwerde und -rüge (Kap. 4 A.) sowie deren Tatbestand und Rechtsfolgen in der notwendigen Breite und Tiefe interpretiert werden. Zudem können etwaige Konkurrenzen zum Rechts­ behelfssystem der §§ 97a ff. BVerfGG gesucht und bewertet werden (Kap. 4 D.). In monografischer Form wurde der Themenkomplex um die §§ 97a ff. BVerfGG bisher gar nicht27 bzw. nur peripher und knapp im Kontext der §§ 198 ff. GVG28 behandelt. Hier fehlt es oftmals an der gebührenden Auseinandersetzung mit der Sonderlösung für das BVerfG. Denn die Regelungen des §§ 198 ff. GVG gelten nicht einfach entsprechend oder sinngemäß vor dem BVerfG. Stattdessen bilden die §§ 97a ff. BVerfGG ein spezielles Rechtsbehelfssystem,29 das es gerade wegen der Sonderstellung des Verfassungsgerichts zu analysieren gilt. Indes existiert die obligatorische Kommentarliteratur30, die allerdings eine Aufarbeitung jeglicher Probleme – insbesondere bzgl. der Anspruchsberechtigung von staatlichen Verfah­ rensbeteiligten – und die Anwendbarkeit auf die einzelnen Verfahrensarten nicht in der gebotenen Breite und Tiefe leisten kann. Ähnliches gilt für eine Fehlerfolgen­ lehre: Es ist zu bewerten, welche Auswirkung eine fehlende oder eine fehlerhafte Verzögerungsrüge bzw. -beschwerde im weiteren Verfahren hat. Insbesondere die Folgen einer nicht frist- und formgerechten Erhebung der Rüge, die das BVerfG von Amts wegen prüft,31 werden untersucht. Mit Blick auf all diese Punkte be­ steht hinsichtlich der Verzögerungsbeschwerde (inkl. der Verzögerungsrüge) und dem Entschädigungsanspruch nach §§ 97a ff. BVerfGG ein Forschungsdesiderat, welches einer ganzheitlichen Betrachtung bedarf.

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Die §§ 97a ff. BVerfGG wurden bisher lediglich in Abhandlungen (z. B. Barczak, AöR 138 [2013], 536–583; Schmidt, in: FS Klein, 485–506; Zuck, NVwZ 2013, 779–781) und Kom­ mentierungen (s. Fn. 30) behandelt. 28 S. etwa Eleftheriadis, Der Entschädigungsanspruch gemäß § 198 GVG bei überlangen Gerichtsverfahren, 97; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 90 f.; Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 189–191. 29 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 17, 26. 30 MSKB / Haratsch, BVerfGG, §§ 97a ff.; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 1351 ff.; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a ff.; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, §§ 97a ff.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, §§ 97a ff.; Marx / Roderfeld, ÜGRG, §§ 97a ff. BVerfGG; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, §§ 97a ff. BVerfGG; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, §§ 97a ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 974a ff. 31 Lechner / Zuck, BVerfGG, § 97b, Rn. 5; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 6.

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Kap. 1: Einleitung

So wird in der Kommentarliteratur z. B. das Problem einer für den Betroffenen unerwarteten Präklusionswirkung32 aufgeworfen33, indes nicht näher beleuchtet. Hinsichtlich dieser Problematik gilt es etwa zu untersuchen, wie sich solch eine Präklusion mit dem Konzept des Gesetzgebers34 verträgt und, ob die schwebende Präklusionsgefahr die Verzögerungsrüge nicht zu einem bloßen Formalismus marginalisiert. Hieraus leiten sich wiederum Folgen für die Effektivität der Ver­ zögerungsrüge als präventives Instrument zur Verfahrensbeschleunigung ab.35 So wird in Bezug auf die Parallelregelung des § 198 Abs. 3 GVG die Effektivität der Verzögerungsrüge teilweise ernsthaft in Frage gestellt oder gar verneint36, womit sich die Frage aufdrängt, ob dies für die Rüge nach § 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG nicht genauso gilt. Insoweit wird die Verzögerungsrüge auch zum Gradmesser der gewählten Lösung, mit der die Bundesrepublik Deutschland die vom EGMR festgestellten Konventionsverstöße abstellen will. Zwar spricht der Gesetzgeber von einer Kom­ binationslösung aus präventiven und repressiven  – sprich kompensatorischen  – Instrumenten.37 Gleichwohl wird eingestanden, dass der Schwerpunkt auf der Kompensation liegt.38 Jedenfalls im Falle der Verneinung der Effektivität des Prä­ ventivmittels stellen sich die §§ 97a ff. BVerfGG als reine Kompensationslösung dar. Solch eine Ausgestaltung ist nach Ansicht des EGMR zwar ein möglicher Lösungs­ weg, allerdings nicht der absolut beste. Stattdessen sei die präventive Lösung das beste Mittel, um ein überlanges Verfahren von vornherein zu verhindern und damit eine Rechtsverletzung zu vermeiden.39 Zudem ist in gewissen besonders eilbedürf­ 32 Diese kann eintreten, wenn das BVerfG den Beteiligten wegen seiner undurchsichtigen Arbeitsabläufe mit einer beendigenden Entscheidung „überrascht“ und der Verfahrensbetei­ ligte noch keine Verzögerungsrüge erhoben hat, so dass ihm die Verzögerungsbeschwerde versperrt wird, vgl. HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 7 f. 33 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 7 f. 34 Mit der Verzögerungsrüge soll zwar einerseits ein „Dulde und Liquidiere“ verhindert werden, andererseits führen die Verfahrensabläufe vor dem BVerfG dazu, dass einem Verfahrensbetei­ ligten zu raten ist, bereits mit Ablauf der Frist des § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG eine Verzögerungs­ rüge einzulegen, um nicht Gefahr einer Präklusion zu laufen. Insofern gilt es zu untersuchen, ob die Rüge nicht zu einer bloßen Förmelei wird. In diese auch Richtung Ott, in: Steinbeiß-Win­ kelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 3. 35 Zweifelnd Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 3. 36 S. etwa Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 89 f., 180; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 126–133, 302 f.; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 464–466; Mü­ KoZPO / Zimmermann, GVG, § 198, Rn. 51; Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichts­ verfahren, 223 f. 37 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 16; 17/7217, 27; BR-Drucks. 540/1/10, 17. 38 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, Anlage 4, 40: „Er enthält insbesondere keine Kombination eines Entschädigungsanspruches mit einem ‚echten‘ präventiven Rechtsbehelf.“ 39 EGMR, Cocchiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 74; Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 183; Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 100.

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft 

29

tigen Konstellationen – etwa in Kindschaftssachen40 – nach der EGMR-Judikatur ein effektiver Präventivrechtsbehelf geboten.41 Inwiefern sich letztere Szenarien auch vor dem BVerfG verwirklichen können und damit – unter Achtung der be­ sonderen Stellung des BVerfG – eine möglicherweise andere konventionskonforme Präventivlösung erfordern, ist einerseits bei der Frage der Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG und andererseits bei der Bewertung der Effektivität zu untersuchen. Eine ebenso virulente Frage ist, ob Träger von Hoheitsgewalt die Verzögerungs­ beschwerde erheben können und, falls ja, ihnen ein monetärer Entschädigungsan­ spruch nach § 97a BVerfGG zu stehen kann. Dieses Problem stellt sich, da – anders als bei der Schaffung der Normen für die Fachgerichtsbarkeit – im BVerfGG keine Regelung über den Ausschluss von Hoheitsträgern (vgl. § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG) als Berechtigte einer Verzögerungsbeschwerde geschaffen wurde. Während Teile des Schrifttums für eine teleologische Reduktion der §§ 97a ff. BVerfGG plädieren,42 nimmt die gemäß § 97d  BVerfGG zuständige Beschwerdekammer des BVerfG staatliche Verfahrensbeteiligte nicht per se von der Verzögerungsbeschwerde aus.43 Auf Grundlage dieser Umstände erscheint die Untersuchung der Zulässig­ keitsvoraussetzungen sowie des Inhalts eines etwaigen Entschädigungsanspruches des Staates (gegen sich selbst) für geboten. Insbesondere die Feststellung, dass der Entschädigungsanspruch des § 97a BVerfGG  – unabhängig von dessen exakter dogmatischer Verortung – zum Staatshaftungsrechts zählt,44 lässt einen etwaigen (Zahlungs-)Anspruch des Staates gegen sich selbst bizarr erscheinen; erst recht, wenn man das Staatshaftungsrecht als Materie versteht, die dem Bürger einen Anspruch auf Wiederherstellung bzw. Ausgleich für (unrechtmäßiges) staatliches Handeln gibt.45 Diese Thematik steht in Wechselwirkung zum konventions- und verfassungsrechtlichen Hintergrund (Kap. 3) der Regelung und bedarf einer – bis­ her nicht erfolgten – Darstellung und Analyse. Dabei kann zur Auflösung insbeson­ dere von der konventionsrechtlichen Einordnung der verschiedenen verfassungs­ gerichtlichen Verfahrensarten (Kap. 3 A. I. 2. c)) profitiert werden. In Bezug auf den Entschädigungsanspruch nach § 97a BVerfG ist bisher un­ klar, wie man diesen dogmatisch im deutschen Staatshaftungsrecht zu verorten 40

EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11. Dazu Kap. 3 A. I. 3. e). 42 Für eine teleologische Reduktion auf Rechtsfolgenseite Maciejewski, in: Burkiczak / Dol­ linger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 74; für einen Ausschluss von Hoheitsträgern auf Tatbestandsseite Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563 f.); für eine analoge Anwendung des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG spricht sich Schmidt, in: FS Klein, 485 (492 f.) aus, was i. E. einer teleo­ logischen Reduktion des § 97a BVerfGG gleich käme. 43 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479. Die Beschwerdekammer geht davon aus, dass eine Verzögerungsbeschwerde bei einer „individuellen Betroffenheit“ des Hoheits­ trägers zulässig sei (s. dazu Kap. 4 A. VI.). Offen bleibt, wann eine individuelle Betroffenheit vorliegt und, ob sich hieraus ein Entschädigungsanspruch nach § 97a BVerfGG zugunsten eines staatlichen Verfahrensbeteiligten ergeben kann. 44 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 17, 19; ebenda, Anlage 4, 40. 45 S. zur Begrifflichkeit des Staatshaftungsrecht Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 1 f. 41

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Kap. 1: Einleitung

hat. Die bisherigen Einordnungsversuche – insbesondere zu den Parallelnormen der §§ 198 ff. GVG – gehen von einem staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui ge­ neris46 über eine Verwandtschaft mit dem allgemeinen Aufopferungsanspruch47, einer Risikohaftung des Staates48 bis hin zu einer einfachgesetzlichen Ausprägung eines verfassungsunmittelbaren Entschädigungsanspruches49 bei überlangen Ge­ richtsverfahren aus. Auch wenn das deutsche Staatshaftungsrecht teils als „ge­ wachsene[s] Chaos“50 bezeichnet wird – was mit Blick auf die weitestgehend rich­ terrechtlichen Haftungsinstitute nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist –, so ergeben sich doch innerhalb der einzelnen Teilsysteme durch eine fortschreitende Untersuchungsdichte Linien,51 anhand derer man den Entschädigungsanspruch des § 97a BVerfGG näher positionieren kann. Praktische Relevanz erfährt die Einordnung bei der Frage nach den erstat­ tungsfähigen materiellen und nicht-materiellen Nachteilen. Konkret gilt es für den § 97a BVerfGG zu untersuchen, ob die „Entschädigung“ – in Anlehnung an den allgemeinen Aufopferungsanspruch und an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB – bloß eine angemessene Entschädigung in Geld ohne Ersatz von entgangenem Gewinn bie­ tet52 oder, ob der Anspruch nicht vielmehr in die Nähe eines Schadensersatzan­ spruches (§§ 249 ff. BGB),53 ggf. aufgrund einer verfassungskonformen und / oder konventionskonformen54 Auslegung, zu rücken ist.55 Die Ungewissheit um den Schadensumfang schlägt sich bereits in einer divergierenden Rechtsprechung der Beschwerdekammer des BVerfG und des BVerwG nieder.56 Selbstredend kann da­ ran anknüpfend die Frage der Effektivität des gesetzlichen Kompensationsumfan­ 46

BT-Drucks. 17/3802, 19, ebenda, Anlage 4, 40. So für die §§ 198 ff. GVG Schenke, NVwZ 2012, 257 (260 f.). 48 Ebenfalls für die §§ 198 ff. GVG Reiter, NJW 2015, 2554 (2556–2558). 49 Für einen „Verzögerungsfolgenanspruch“ unmittelbar aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575–579, 581). 50 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 2. 51 Vgl. zur Systembildung Höfling, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, III, § 51. 52 Vgl. BR-Drucks. 5410/1/10, 4; BT-Drucks. 17/7217, 3, 27 f., Maciejewski, in: Burki­czak  / ​ Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 68; Zuck, NVwZ 2012, 265 (268). Diffe­ renzierend Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 50, 52. 53 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 19; offenlassend bei ebenda, Anlage 4, 40. Hierfür (scheinbar) auch BVerfG (Beschwerdekammer), NJW 2015, 3361 (3363). 54 In diese Richtung MSKB / Haratsch, BVerfGG § 97a, Rn. 39. 55 In diese Richtung gehend, ohne hierbei auf das Grundgesetz oder die EMRK zu rekur­ rieren, Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 462. 56 Für einen vollen Schadensersatz scheint sich die Beschwerdekammer auszusprechen, indem sie auf die §§ 249 ff. BGB verweist (BVerfG [Beschwerdekammer], NJW 2015, 3361 [3363]). Diametral dazu die Rechtsprechung des BVerwG, welches anhand der Parallelnorm § 198 Abs. 1 S. 1 GVG lediglich eine Entschädigung nach Maßgabe des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB gewährt (BVerwG, Urteil v. 11. 7. 2013 – 5 C 27.12, BeckRS 2013, 56027, Rn. 54; NVwZ 2014, 1523 [Rn. 41]). Weshalb der ersatzfähige Entschädigungsumfang vor einem Fachgericht an­ ders – sogar geringer – sein soll als vor dem BVerfG, leuchtet prima vista nicht ein und wird daher untersucht. 47

B. Ziele und Gang der Untersuchung sowie Stand der Wissenschaft 

31

ges sowie deren Handhabung in der Rechtsprechungspraxis anhand der Vorgaben der Verfassung und der EMRK geprüft werden. Schließlich sind konkurrierende Präventiv- und Kompensationsrechtsbehelfe zu den §§ 97a ff. BVerfGG in den Blick zu nehmen, um ein ganzheitliches Bild des Rechtsschutzes vor dem und gegen das BVerfG zu zeichnen (Kap. 4 D.). Bedeut­ sam können die konkurrierenden Rechtsschutzmöglichkeiten werden, wenn bei der Beurteilung der Effektivität (Kap. 5) die Unzulänglichkeit der §§ 97a ff. BVerfGG festgestellt werden würden und diese durch andere Rechtsbehelfe im Wege einer kumulativen Betrachtung ausgeglichen werden müssten. Wie bereits erwähnt, wird als Schlussstein der Arbeit eine kritische Würdi­ gung der §§ 97a ff. BVerfGG (Kap. 5) sowie der dazugehörigen Judikatur der Beschwerdekammer des BVerfG stehen. Der gewählte Maßstab für die Beurtei­ lung der Effektivität der Normen und der Entscheidungspraxis sind die Garan­ tien der Europäische Menschenrechtskonvention in Ausformung der EGMRRechtsprechung sowie die Vorgaben des Grundgesetzes, wie sie in Kap. 2 und 3 dargestellt werden. Vergleichbare Effektivitätsuntersuchungen haben bis dato fast ausschließlich die Vorschriften der §§ 198 ff. GVG behandelt, während die §§ 97a ff. BVerfGG gar nicht und nur apodiktisch miteinbezogen wurden.57 Fer­ ner haben weder der EGMR noch das für die Überwachung der Urteilsbefolgung zuständige Ministerkomitee eine umfassende und abschließende Beurteilung zu den §§ 97a ff. BVerfGG oder zur Rechtsprechung der Beschwerdekammer abgege­ ben.58 Insbesondere der Gerichtshof leistet bisher dem deutschen Recht einen Ver­ trauensvorschuss und betont zugleich, dass die Effektivität von der Judikatur der nationalen Gerichte abhängt.59 So kann anhand der ständigen Rechtsprechung des 57

So z. B. Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 261, 178 ff.; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 301 ff.; Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 128 ff. Bisherige Aufsätze – wie der von Zuck, NVwZ 2013, 779, der i. Ü. der Ansicht ist, dass die §§ 97a ff. BVerfGG „überflüssig“ seien (ebenda [781]), – befassen sich lediglich mit Einzel­ entscheidungen der Beschwerdekammer. Im Übrigen geht auch der Evaluationsbericht der Bundesregierung nur knapp auf die §§ 97a ff. BVerfGG ein (BT-Drucks. 18/2950, 9). 58 Im Fall Peter v. Germany entschied der EGMR für den Fall einer als unbegründet abge­ lehnten Verzögerungsbeschwerde (BVerfG [Beschwerdekammer], NVwZ 2013, 789), dass die Entscheidung der Beschwerdekammer, wonach die Verfassungsbeschwerde zwar lang, aber nicht unangemessen überlang war, mit Art. 6, 13 EMRK vereinbar ist (EGMR, Peter v. Ger­ many, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 47 f., 57 f.). Der EGMR befasste sich hinsichtlich der Verfahrensdauer (Art. 6 EMRK) nur mit dem konkreten Fall (vgl. ebenda, Rn. 37–48) und stellte summarisch fest, dass die Verzögerungsbeschwerde nicht per se ineffektiv sei (ebenda, Rn. 52–59). Eine tiefergehende Beurteilung des EGMR steht daher noch aus. Die Ansicht der Bundesregierung, dass der EGMR die §§ 97a ff. BVerfG mit der Peter v. Germany-Entschei­ dung als konventionskonform bestätigt habe, ist daher mit Vorsicht zu genießen (vgl. BTDrucks. 18/2950, 9). 59 EGMR, Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 39 f; Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 47 f.; in diesem Sinne auch EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 56–58.

32

Kap. 1: Einleitung

EGMR60 – auch zu ausländischen Rechtsbehelfen61 – die Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG in Theorie und Praxis erstmalig in dieser Form näher überprüft werden. Hierbei wird anknüpfend an Kapitel 4 zunächst die Wirksamkeit auf prozessuale Ebene der Verzögerungsrüge und -beschwerde geprüft (Kap. 5 A., B. I.). Im An­ schluss wird die Effektivitätsuntersuchung auf die materiell-rechtliche Seite in Form des Entschädigungsanspruches mit besonderem Blick auf die Gesetzeslage und die praktische Handhabung der Angemessenheitskriterien sowie der Gewäh­ rung von Entschädigungszahlungen (Kap. 5 B. II.) ausgedehnt. Die Untersuchung endet mit einem Ausblick auf punktuelle Reformansätze der §§ 97a ff. BVerfGG (Kap. 6 A.) und auf die vergleichbaren Regelungen sowie den Anpassungsbedarf in den Landesverfassungsgerichtsgesetzen (Kap. 6 B.). Aus den herausgearbeiteten Befunden wird zum Schluss ein bewertendes Fazit gezogen (Kap. 6 B.).

60 61

Zusammengefasst in Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 63 ff. Vgl. etwa EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97.

Kapitel 2

Historischer Überblick über das Problem der überlangen Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht A. Die überlange Verfahrensdauer und der Rechtsschutz hiergegen in der Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts I. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1. Die erste Verurteilung wegen überlanger Verfahrensdauer im Jahr 1978: König v. Germany Während der EGMR im allerersten Verfahren unter deutscher Beteiligung (Wemhoff v. Germany) eine mögliche Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK noch zu Gunsten der Bundesrepublik entschied und eine unangemessene Verfahrensdauer verneinte,1 wurde Deutschland zehn Jahre später im Verfahren König v. Germany2 erstmalig wegen einer überlangen Verfahrensdauer verurteilt. Wegweisend war hierbei die Einordnung einer nach deutschem Recht als öffentlich-rechtlich qualifizierten Streitigkeit als zivilrechtlicher Anspruch und Verpflichtung3 i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Hintergrund dieses Auslegungsergeb­ nisses ist, dass die Begrifflichkeiten autonom anhand der Konvention auszulegen seien und sich nicht prima vista nach der Qualifikation des inländischen Rechts des beklagten Staates richteten; gleichwohl Inhalt und Rechtsfolgen nach inländi­ schen Recht für die Einordnung nicht unbeachtlich seien.4 Unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung5 formulierte der EGMR erst­ malig6 seine  – auch heute noch verwendeten  – Kriterien zur Feststellung einer 1

EGMR, Wemhoff v. Germany, Urteil v. 27. 06. 1968, No. 2122/64, 22, Rn. 18–20. EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73. 3 In den authentischen Vertragssprachen englisch und französisch: „civil rights and obli­ gations“ bzw. „droits et obligations de caractère civil“. 4 EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73, Rn. 88 f., 91–95. 5 EGMR, Neumeister v. Austria, Urteil v. 27. 06. 1968, No. 1936/63, As To The Law, Rn. 20 f.; Ringeisen v. Austria, Urteil v. 16. 07. 1971, No. 2614/65, Rn. 110. 6 In den in Fn. 5 genannten Entscheidungen klingen die Kriterien bereits an, sind aber noch nicht klar konturiert. Erst im König-Urteil synthetisierte der EGMR die Kriterien. 2

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Kap. 2: Historischer Überblick 

überlangen Verfahrensdauer aus: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers sowie die Art und Weise, wie die Verwaltungs- und Justiz­ organe die Sache behandelt haben.7 Unter Heranziehung dieser Faktoren kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Verfahrensdauer8 die von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbriefte Angemessenheit überschreite.9 Damit wurde erstmals eine Verletzung des Rechts auf eine angemessene Ver­ fahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Bundesrepublik festgestellt. Während die Fachgerichte – und auch das BVerfG10 – keinerlei Abhilfe zur Be­ schleunigung des Verfahrens geschaffen hatten, war die Beschwerde vor der europäischen Instanz erfolgreich und führte zumindest zu einer monetären Wie­ dergutmachung. Dementsprechend groß war die Beachtung, die der Verurteilung geschenkt wurde.11 Zudem war das Urteil gesamteuropäisch für die Auslegung der Konvention von Relevanz. Zwar entschied der Gerichtshof bereits in der Ringeisen-Entscheidung, dass weder der Gesetzescharakter noch die zuständige Gerichtsbarkeit maßgeblich für die Interpretation des Anwendungsbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK seien, sondern alle Rechtsstreitigkeiten, die einen durchgreifenden Einfluss auf privat­ rechtliche Rechte und Pflichten haben können, hierunter fallen können.12 Im Kö­ nig-Urteil wurde diese Entscheidung durch die Einbeziehung einer gewerbe- und berufsrechtlichen Streitigkeit ausdrücklich bestätigt und weiterentwickelt. Mit Blick auf die heutigen §§ 97a ff. BVerfGG mag das BVerfG in der Entschei­ dung zwar keine große Rolle gespielt haben. Allerdings ist die Entscheidung als Stein des Anstoßes einer langjährigen Rechtsprechung des Straßburger Gerichts­ hofs gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (und später i. V. m. Art. 13 EMRK) zu sehen, welche auch vor dem Karlsruher Gericht nicht haltmachte.

7

EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73, Rn. 99. Diese betrug 10 Jahre und 10 Monate, EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73, Rn. 102. Der EGMR beginnt bei der Berechnung der Verfahrensdauer mit dem behördlichen Widerspruchsverfahren und nicht dem Zeitpunkt der Klageerhebung (ebenda, Rn. 98). 9 EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/72, Rn. 91–111. 10 Vor seiner Individualbeschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission nach Art. 25 EMRK a. F. legte der Bf. mehrfach Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ein, wel­ che jedoch allesamt abgewiesen wurden, vgl. EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73, Rn. 58, 60, 64. 11 S. etwa Meyer-Ladewig, DVBl. 1979, 539; Peukert, EuGRZ 1979, 261–274; Sachs, ZRP 1982, 227 (231); vgl. retrospektiv Heyde, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), HdVR, § 30, Rn. 50; Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 10; Schlette, 25, Fn. 36, 58, insb. Fn. 88; Ziekow, DÖV 1998, 940 (944). Vgl. zum (mutmaßlichen) Einfluss der Entscheidung auf die Rechtsprechung des BVerfG s. Kap. 3 A. II. 12 EGMR, Ringeisen v. Austria, 16. 07. 1971, No. 2614/65, Rn. 94. 8

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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2. Das Bundesverfassungsgericht als „Randnotiz“ in der EGMR-Rechtsprechung: Buchholz v. Germany und Eckle v. Germany Die Rechtsprechung, in der das BVerfG nicht als verzögerungsrelevanter Faktor auftrat, setzte sich in den Folgejahren zunächst fort. So betraf die Buchholz-Entscheidung vom 06. 05. 198113 ein Kündigungsschutz­ verfahren, welches über vier Jahre dauerte.14 Endpunkt der vom EGMR berech­ neten Verfahrensdauer war allerdings nicht die Nichtannahmeentscheidung des BVerfG vom 19. 07. 1979, sondern die Zurückweisung der Revision durch das Bun­ desarbeitsgericht vom 26. 04. 1979.15 Im Ergebnis verneinte der EGMR – wie die Menschenrechtskommission16 – die Einbeziehung der Verfahrensdauer vor dem Verfassungsgericht, da das BVerfG nicht über den arbeitsrechtlichen Rechtsstreit in der Sache beschließe und somit nicht über die Rechte des Klägers gegenüber der Beklagten entschieden habe.17 Die Verfahrensdauer vor dem BVerfG falle daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Diese Linie der Nichteinbeziehung findet sich in der Eckle-Entscheidung vom 15. 07. 198218 wieder, bei der die verfassungsgerichtliche Verfahrensdauer aller­ dings keine signifikanten Auswirkungen auf die Gesamtdauer hatte.19 3. Der Beginn eines Richtungswechsels: Deumeland v. Germany; Bock v. Germany; Ruiz-Mateos v. Spain a) Die Entscheidung vom 29. 05. 1986: Deumeland v. Germany Mit der Deumeland-Entscheidung vollzog sich ein Richtungswechsel hin­ sichtlich der Einbeziehung der verfassungsgerichtlichen Verfahrensdauer. Im Ausgangsverfahren vor der Sozialgerichtsbarkeit ging es um die Zahlung einer Hinterbliebenenrente.20

13

EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77. EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77, Rn. 48. 15 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77, Rn. 34–36, 48. 16 Die Menschenrechtskommission verneinte ebenso wie der Gerichtshof die Anwendbar­ keit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfahren vor dem BVerfG. Die Kommission nahm an, dass die aus drei Richtern bestehenden Ausschüsse („Dreier-Ausschuß“, s. MSKB / Ulsamer, BVerfGG, § 15a, Rn. 1), welche die Frage der Annahme einer Verfassungsbeschwerde behan­ delten, grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, Rapport de la Commission v. 14. 05. 1980, Buchholz c. Allemagne, No. 7759/77, Rn. 93. 17 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77, Rn. 48. 18 EGMR, Eckle v. Germany, Urteil v. 15. 07. 1982, No. 8130/78. 19 EGMR, Eckle v. Germany, Urteil v. 15. 07. 1982, No. 8130/78, Rn. 34; Rn. 72–79. 20 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 10. 14

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Nach der positiven Beantwortung der Frage, ob der Streit um die Hinterblie­ benenrente überhaupt zivilrechtlicher Natur war,21 widmete sich der Gerichtshof erstmalig der Rolle des Verfassungsgerichts. Denn anders als in den vorherigen Entscheidungen nahm der Gerichtshof das BVerfG bei der Berechnung der Ver­ fahrensdauer nicht aus. Stattdessen führte der EGMR aus: Zwar könne das BVerfG den Rechtsstreit in der Sache nicht entscheiden, jedoch kann die verfassungs­ gerichtliche Entscheidung imstande sein, sich auf den Verfahrensausgang vor den Fachgerichten auszuwirken.22 Mit der Einbeziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit23 in den Anwendungs­ bereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK betrat der EGMR Neuland. Durch die Entwick­ lung der Formel über den potentiellen Einfluss des verfassungsgerichtlichen Ver­ fahrens auf das zivilrechtliche oder strafrechtliche Verfahren vor dem Fachgericht erstreckte der Gerichtshof seine Jurisdiktion in Sachen überlanger Verfahrensdauer auf die Verfassungsgerichte.24 In dieser Hinsicht lässt sich im Deumeland-Urteil der historische Ausgangspunkt der §§ 97a ff. BVerfGG verorten.

b) Die Entscheidung vom 29. 03. 1989: Bock v. Germany Einen Schritt in Richtung einer sich festigenden Rechtsprechung ging der Ge­ richtshof mit der Entscheidung Bock v. Germany25. Hierbei ging es um ein 1974 initiiertes Scheidungsverfahren, welches sich insbesondere wegen Streitigkeiten

21 S. die einzelnen Argumente für eine öffentlich-rechtliche bzw. privatrechtliche Natur unter EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 60–74. Insbe­ sondere diese Frage schien die Straßburger Richterschaft zu spalten, wenn man sich das neun zu acht Votum für eine Anwendung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor Augen führt. Die Sonder­voten kritisieren gerade die Einordnung zum Privatrecht (Deumeland v. Germany, Gemeinsames Sondervotum der Richter Ryssdal, Bindschedler-Robert, Lagergren, Matscher, Evansm Bern­ hardt und Gersin, No. 9384/81; Sondervotum des Richters Pinheiro Farina, No. 9384/81). 22 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77. 23 Der EGMR berechnete eine Verfahrensdauer von über zehneinhalb Jahren, wobei ledig­ lich knapp sieben Wochen auf das BVerfG entfielen, EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77. 24 Bereits kurze Zeit später bestätigte der EGMR seine Judikatur bzgl. der Einbeziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Rechtssache Poiss v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9816/82. Vorangegangen waren Rechtsstreitigkeiten um die Zusammenführung von Grundstücken von Landwirten vor den nationalen Instanzen (der Landesagrarsenat sowie der Oberste Agrarsenat) bis hin zum österreichischen Verfassungsgerichtshof. Unter Verweis auf das Deumeland-Urteil bezog der Gerichtshof auch das verfassungsgerichtliche Verfahren mit ein. Obwohl der Verfassungsgerichtshof nicht in der Sache entschied, erachte der EGMR den Ausgang des verfassungsgerichtlichen Verfahrens als beeinflussend für das fachgerichtliche Verfahren mit der Folge, dass Art. 6 Abs. 1 EGMR anwendbar war (ebenda, Rn. 52). Insgesamt kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass sowohl Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch Art. 1 EMRK ZP-1 verletzt wurden (ebenda, Rn. 60, 70). 25 EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84.

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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um die Mündigkeit und Prozessfähigkeit26 des Beschwerdeführers, aber auch durch eine träge Verfahrensführung verzögerte.27 Zur Bemessung der maßgeblichen Verfahrensdauer führte der EGMR aus, dass der Endpunkt einerseits am 07. 06. 1983, der Tag des Eintritts der Rechts­ kraft des Scheidungsurteils, andererseits an den Tagen liegen könne, an denen die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden28 beschlossen wurden.29 Während die Bundesregierung unter Verweis auf das Buchholz-Urteil30 für eine Nichtanwend­ barkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das verfassungsgerichtliche Verfahren plä­ dierte,31 verwies der EGMR auf sein case law32 zum Anwendungsbereich sowie zur Berechnungsweise der Verfahrensdauer und stellte fest, dass unter gewissen Umständen das Verfahren vor dem Verfassungsgericht unter die Konvention falle. Dies sei der Fall, wenn der Ausgang des verfassungsgerichtlichen Verfahrens einen Einfluss auf die Entscheidung der Fachgerichte nehmen könne.33 Indes regte der Beschwerdeführer selbst an die Verfahrensdauer vor dem BVerfG außen vor zu lassen, da sie seiner Ansicht nach, die Gesamtverfahrensdauer nicht maßgeblich verlängert habe. Entsprechend des Rechtssatzes ne ultra petita34 beschränkte sich der EGMR auf den Zeitraum vor den Fachgerichten und gelangt zu einer beinahe zehnjährigen Verfahrensdauer.35

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Vgl. § 52 ZPO i. V. m. § 104 BGB. Vgl. EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 40, 46 f. 28 Das BVerfG führte hierzu aus, dass die Verzögerungen durch die objektive Prozessfüh­ rung des Gerichts grundsätzlich gerechtfertigt waren. Lediglich Verzögerungen durch das Familiengericht wären vermeidbar, allerdings aus der Sicht des Gerichts noch im Rahmen des vertretbaren gewesen. S. EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 29 f. 29 EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 36. 30 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77. 31 EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 36. 32 EGMR, Eckle v. Germany, Urteil v. 15. 07. 1982, No. 8130/78, Rn. 76–79; Erkner and Hofauer v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9616/81, Rn. 33, 61 f., 65; Poiss v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9816/82, Rn. 50–52, in welchem der EGMR auf die aus der DeumelandEntscheidung bekannte Formel der potentiellen Beeinflussbarkeit zurückgreift; sowie mutatis mutandis Ringeisen v. Austria, Urteil v. 16. 07. 1971, No. 2614/65, Rn. 23, 79 f., 94–99; Sramek v. Austria, Urteil v. 22. 10. 1984, No. 8790/79; Ettl and Others v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9273/81, Rn. 33–35. Die drei letztgenannten Urteile haben gemein, dass es ebenfalls um Beschwerden wegen der Verletzung des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Zeit bzw. einem fairen Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ging. 33 EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37. Obwohl sich diese Aussage inhaltsgleich in der Deumeland-Entscheidung (vgl. EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77) wiederfindet, verweist der EGMR interessanter­ weise nicht auf diese. 34 S, zur Geltung des Rechtsgrundsatzes ne eat judex ultra petita et extra petita partium im EGMR-Prozessrecht, EGMR, Radomilja and Others v. Croatia, Urteil v. 20. 03. 2018, No. 37685/10, 22768/12, Rn. 109–127. 35 EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37. 27

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Der Gerichtshof festigte seine in der Sache Deumeland ergangene Rechtspre­ chung zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf verfassungsgerichtliche Verfahren, sofern diese den Verfahrensausgang in einem zivil- oder strafrecht­ lichen Verfahren vor den Fachgerichten beeinflussen können. Dies fällt insoweit auf, als dass mit Blick auf das Begehren des Beschwerdeführers eine Äußerung diesbezüglich nicht notwendig gewesen wäre. Auch ohne eine explizite Erwähnung des Urteils blieb der EGMR mit der Fruchtbarmachung der „Deumeland-Formel“36 seiner zuvor eingeschlagenen Rechtsprechungslinie treu und trat damit der Auf­ fassung der Bundesregierung37 entgegen. c) Die Entscheidung vom 23. 07. 1993: Ruiz-Mateos v. Spain Eine entscheidende Ausweitung des Anwendungsbereiches des Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit erfolgte mit der Entscheidung im Fall Ruiz-Mateos gegen Spanien vom 23. 07. 199338. Der EGMR erstreckte seine Jurisdiktion nicht nur auf individuelle Beschwerdefahren, sondern auch auf Normenkontrollverfahren. Hintergrund der Entscheidung war die Enteignung eines Unternehmenskonglo­ merats durch den spanischen Staat.39 Die Inhaberfamilie Ruiz-Mateos wehrte sich vor den spanischen Zivilgerichten gegen diese Maßnahme, woraufhin das fachge­ richtliche Verfahren ausgesetzt wurde, um das enteignende Gesetz dem spanischen Verfassungsgericht – dem Tribunal Constitucional – vorzulegen. In beiden Normen­ kontrollverfahren40 bestätigte das Verfassungsgericht die Vereinbarkeit des Enteig­ nungsgesetzes mit den Bestimmungen der spanischen Verfassung über den Gleich­ heitssatz, das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz und das Recht auf Eigentum.41 36

Auch als „Auswirkungsformel“ bekannt. EGMR, Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 36. 38 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87. 39 Die Enteignung erfolgte im Februar 1983 aufgrund eines Gesetzesdekrets durch die spa­ nische Regierung. Im Juni 1983 wurde das Dekret durch ein besonderes Enteignungsgesetz („Rumasa, S. A.“ Expropiaciones, Ley 7/1983, BOE 30. 09. 1983, 18325) abgelöst. 40 Gemäß Artikel 163 der spanischen Verfassung kann ein rechtsprechendes Organ, wel­ ches der Ansicht ist, dass eine anzuwendende Norm mit Gesetzesrang verfassungswidrig sein könnte und deren Gültigkeit die Sache entscheidet, die Norm dem Verfassungsgericht zur Klärung dieser Frage vorlegen (sog. „cuestión de inconstitucionalidad“). Das Verfahren ähnelt insofern der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (so auch Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / ders. [Hrsg.], BVerfGG, §§ 80, Rn. 11). Die „cuestión de inconstitu­ cionalidad“ bietet gegenüber einer Verfassungsbeschwerde (sog. „recurso de amparo“) nach Art. 161 Abs. 1 der spanischen Verfassung den Vorteil, dass es nicht auf bestimmte Grund­ rechte limitiert ist; anders die Verfassungsbeschwerde, welche nicht auf die Verletzung der Eigentumsgarantie gestützt werden kann (vgl. Art. 161 Abs. 1 i. V. m. Art. 53 Abs. 2 der spani­ schen Verfassung). Dazu EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 25 f. 41 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 14, 19, 23. 37

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Auf Grundlage dieser Entscheidungen wiesen die Fachgerichte die Klage der In­ haberfamilie ab.42 Vor dem EGMR rügten die Beschwerdeführer u. a. eine Verletzung ihres An­ spruches auf ein Verfahren in angemessener Zeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob die Verfahrensdauer vor dem Tribunal Constitucional mit in die relevante Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK einzubeziehen war. Während die spanische Regierung – u. a. mit Hilfe der deutschen Regierung43 – für eine Nichteinbeziehung, insbesondere we­ gen des objektiven Charakters des Normenkontrollverfahrens, plädierte, verwies der Gerichtshof auf seine vorherige Rechtsprechung44, wonach das Verfassungs­ gericht miteinzubeziehen sei, wenn dessen Entscheidung den Ausgang des fach­ gerichtlichen Verfahrens beeinflussen könne.45 Zwar sei einzugestehen, dass das Verfahren nicht am Ende des Rechtswegs stünde, sondern als Zwischenverfahren stattfinde. Dennoch zeigte sich der EGMR wenig von der Argumentation der spa­ nischen Regierung überzeugt. Im Gegenteil: das Normenkontrollverfahren bereite die Entscheidung des Fachgerichtes gerade vor und habe somit einen erheblichen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens (Präjudizwirkung).46 Dementsprechend fielen auch die Phasen vor dem Tribunal Constitucional unter Art. 6 Abs. 1 EMRK. Nach Heranziehung der etablierten Kriterien – unter Beachtung der besonderen Stellung des Verfassungsgerichts47 – kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass die Verfahrensdauer überlang war.48 Der Fall Ruiz-Mateos lichtete den Nimbus der europäischen Verfassungsgerichte weiter. Der EGMR erstreckte nunmehr seine Jurisdiktion auch auf konkrete Nor­ menkontrollverfahren. Der Wichtigkeit dieser Weichenstellung war sich bereits die deutsche Regierung bewusst, indem sie gemäß der EGMR-Verfahrensordnung49 dem Gerichtshof gegenüber die Erklärung abgab, dass i. S. d. Buchholz-Recht­

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EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 20, 24. Vgl. EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 5, 35, 56. 44 Vgl. EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, 77; Poiss v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9816/82, Rn. 52; Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37. 45 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35. 46 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 36 f. 47 Vgl. EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, 51. 48 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 53. Ferner stellt der EGMR eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit wegen der fehlenden Mög­ lichkeit zur Stellungnahme der Kläger – während die Regierung vor dem Verfassungsgericht äußerungsbefugt war – fest (ebenda, 68). 49 S. Verfahrensordnung des EGMR (Rules of Court), in Kraft getreten am 20. 04. 1992, Rule 37 para. 2: „The President may, in the interest of the proper administration of justice, invite or grant leave to any Contracting State which is not a Party to the proceedings to submit written comments within a time­limit and on issues which he shall specify. He may extend such an in­ vitation or grant such leave to any person concerned other than the applicant.“ 43

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Kap. 2: Historischer Überblick 

sprechung50 die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK falle und man ferner von dieser Interpretation bei der Rati­ fikation der Konvention ausgegangen sei. So unterstützte man die spanische Seite, da das spanische Normenkontrollverfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG ähnele.51 4. Die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht als isolierter Beschwerdegegenstand: Süßman v. Germany In der Sache Süßman v. Germany vom 16. 09. 199652 war erstmalig die Verfah­ rensdauer vor dem BVerfG allein und nicht wie zuvor kumulativ mit der Verfah­ rensdauer vor den Fachgerichten Gegenstand einer Beschwerde. Hintergrund des Prozesses war eine Reduzierung der Versorgungsrente durch die Versorgungsan­ stalt des Bundes und der Länder (VBL), wogegen sich der Beschwerdeführer von 1985 bis 1989 erfolglos zur Wehr setzte.53 1988 und 1989 erhob der Beschwer­ deführer Verfassungsbeschwerde, welche der Dreier-Ausschuss des BVerfG am 06. 11. 1991 nicht zur Entscheidung annahm.54 Der Beschwerdeführer rügte, dass er ausschließlich durch die Verfahrensdauer vor dem BVerfG unter anderem in seinem Recht auf ein Verfahren in angemessener Zeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei.55 Unter Betonung der besonderen Stellung des BVerfG56 sowie seines case law57 zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Verfassungsgerichtsbarkeit rekurriert der EGMR auf die aus der Deumeland-Entscheidung bekannte Formel.58 Der EGMR bejahte zunächst, dass das umstrittene Recht – ein Versorgungsrentenanspruch – als geldwerter Anspruch zivilrechtlicher Natur i. S. d. des Art. 6 Abs. 1 EMRK sei.59 Ferner habe die Ent­ scheidung des BVerfG einen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens hinsicht­ lich des Versorgungsanspruches haben können, da das BVerfG die gerügte Ent­ scheidung habe aufheben (vgl. § 95 BVerfGG) und somit dem Beschwerdeführer zu seinen Rechten hätte verhelfen können.60 Daher sei das verfassungsgerichtliche

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S. dazu oben Kap. 2 A. I. 2. EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 5, 56. 52 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92. 53 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 10–15. 54 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 16 f. 55 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 27. 56 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 37. 57 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77; Bock v. Ger­ many, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37; Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35. 58 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 39. 59 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 42. 60 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 43. 51

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Verfahren unmittelbar entscheidungserheblich für den zivilrechtlichen Anspruch des Beschwerdeführers.61 In der Sache zog der Gerichtshof die bekannten Kriterien62 heran: Komplexi­ tät, Verhalten des Beschwerdeführers, Bedeutung des Rechtsstreites, Verhalten des Gerichts (hier: des BVerfG). Insbesondere zum letzten Punkt traf der EGMR einige besondere Feststellungen. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung verpflichte Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht nur die Gerichtsbarkeit, ein Verfahren in angemessener Zeit durchzuführen, sondern auch die übrigen staatlichen Stellen dahingehend, den Justizapparat so auszugestalten, dass die Verfahren in einer an­ gemessenen Zeitspanne abgeschlossen werden können. Diesen Maßstab übertrug der EGMR erstmalig auf das BVerfG als „Hüter der Verfassung“; wenn auch nicht eins zu eins. Den Verfassungsgerichten stehe die Befugnis zu, zu entscheiden, ob ein Verfahren in Anbetracht der Natur der Sache oder deren politischer und so­ zialer Bedeutung anders als chronologisch oder nach dessen Registereintragung zu bearbeiten sei.63 Hieran anknüpfend führte der Gerichtshof zu Gunsten des BVerfG aus, dass es aufgrund der historisch einzigartigen Situation der Wiederver­ einigung Deutschlands und der damit in Zusammenhang sozialpolitischen Folgen berechtigt gewesen sei, Verfahren über die Beendigung von Arbeitsverträgen von Angestellten des öffentlichen Dienstes der DDR vorrangig zu behandeln.64 Mit Blick auf diesen sowie weitere Umstände erschien dem Gerichtshof das Verfahren als nicht übermäßig lang.65 Das Süßmann-Urteil hebt sich in zwei Aspekten von den anderen Urteilen ab: Dies ist einerseits die Tatsache, dass nur die Verfahrensdauer vor dem BVerfG gerügt wurde, andererseits die rechtfertigende Wirkung des Unikums der Wie­ dervereinigung.66 Der EGMR hat damit seine Jurisdiktion bei Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK vollends auf das BVerfG erstreckt, indem er die Deumeland-­ Formel anwendet. Interessant ist vor allem, dass die Beeinflussung des Ausgangs­ verfahrens recht abstrakt bleiben konnte. Insofern war bereits die Befugnis zur Aufhebung der Ausgangsentscheidung ausreichend zur Bejahung der Formel. Über die Anforderungen an das BVerfG hinaus erinnerte der Gerichtshof den Gesamt­ staat – insbesondere den Haushaltsgesetzgeber – daran, die Voraussetzungen für eine Verfassungsgerichtsbarkeit zu schaffen, die Art. 6 Abs. 1 EMRK genügt.

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EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 44–46. S. dazu oben Kap. 2 A. I. 3. a). 63 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 56. 64 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 60. 65 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 62. 66 Vgl. zur Wiedervereinigung als (teilweise vom EGMR akzeptierten) rechtfertigenden Um­ stand O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1358, Fn. 38; Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 24, Rn. 81; dies., in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  115; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 56 sowie Kap. 3 A. I. 3. 62

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Kap. 2: Historischer Überblick 

5. Die Verfahrensdauer einer konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG als Gegenstand einer Individualbeschwerde: Pammel v. Germany; Probstmeier v. Germany In den Parallelverfahren Pammel67 und Probstmeier68 richteten sich die Be­ schwerdeführer gegen die Verfahrensdauer eines konkreten Normenkontrollver­ fahrens vor dem BVerfG. Der EGMR entschied am 01. 07. 1997 für die Verfahren in zwei weitgehend wortgleichen Urteilen69, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das konkrete Normenkon­ trollverfahren anwendbar sei, sofern dessen Ausgang einen Einfluss auf die fach­ gerichtliche Entscheidung nehmen könne.70 Bei der Untersuchung der verzögerungsrelevanten Faktoren versuchte die Bun­ desregierung unter dem Aspekt „Verhalten des Bundesverfassungsgerichts“ die Verfahrensdauer mit den seit dem Ende der 70er Jahren erheblich gestiegenen Fall­ zahlen sowie mit dringenderen Fällen, die in Zusammenhang mit der Wiederver­ einigung Deutschlands standen, zu rechtfertigten.71 Diesen Argumenten hielt der EGMR entgegen, dass nach seiner Rechtsprechung72 ein kurzzeitiger Rückstand in einer Gerichtsbarkeit zwar nicht bereits eine Haftung des Konventionsstaates aus­ löse, sofern er notwendige Gegenmaßnahmen ergreift, andererseits eine chronische Überlastung – wie im vorliegenden Fall – nicht zu rechtfertigen sei.73 Den Einwand der besonderen Situation infolge der deutschen Wiedervereinigung ließ der EGMR ebenfalls nicht gelten, da die Verfahren bereits zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Einigungsvertrags im Jahr 1990 fünf74 bzw. drei Jahre75 anhängig waren. Im Ergebnis stellte der EGMR eine Verletzung der Konvention fest und sprach den Beschwerdeführern eine billige Entschädigung für erlittene materielle Schä­ den zu.76 67

EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91. EGMR, Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92. 69 Vgl. dazu den Text der Urteile ab EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 43 ff. und Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 38 ff. 70 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51, 57 f.; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46, 51 f., jeweils unter Verweis auf seine Recht­ sprechung in den Sachen Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35 sowie Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 39. 71 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 66; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 61. 72 EGMR, Unión Alimentaria Sanders S. A. v. Spain, Urteil v. 07. 07. 1989, No. 11681/85, Rn. 40 m. w. N. Die zitierte Entscheidung erging zur Verfahrensdauer vor einem spanischen ordentlichen Gericht. 73 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 69; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 64. 74 EGMR, Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 66. 75 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 71. 76 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 73, 78; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 68, 73. 68

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Die Besonderheiten der beiden Urteile lagen darin, dass wie im Süßmann-Fall ausschließlich die Verfahrensdauer vor dem BVerfG als unangemessen lang ge­ rügt wurde sowie dass wie in der Rechtssache Ruiz-Mateos v. Spain eine prinzi­ pale Normenkontrolle Gegenstand der Beschwerde vor dem EGMR war.77 Der Gerichtshof blieb mit der Anwendbarkeit auf das Verfassungsgericht seiner ein­ geschlagenen Rechtsprechungslinie treu. Ferner unterband er den formelhaften Einwand der historischen Ausnahmesituation der Wiedervereinigung als recht­ fertigenden Umstand. 6. Strafprozesse als Ausgangspunkt: Gast and Popp v. Germany Anders als die zuvor gezeigten „zivilrechtlichen“ Verfahren i. S. d. Konven­ tion war der Ausgangspunkt der Entscheidung Gast and Popp v. Germany vom 25. 02. 200078 ein Strafverfahren.79 Nach Verurteilung und Ausschöpfung des Rechtsweges legten die Beschwer­ deführer im Jahr 1992 Verfassungsbeschwerde ein.80 In anderen Verfahren81 beschäftigte sich das Karlsruher Gericht bereits mit vergleichbaren Fragestellun­ gen82, so dass es die beiden Verfassungsbeschwerden bis zu einer Entscheidung im Parallelverfahren zurückstellte.83 Daraufhin rügten die Beschwerdeführer vor dem EGMR eine Verletzung ihres Rechts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das BVerfG.84 Hinsichtlich des Anwendungsbereiches übertrug der EGMR seine Rechtsprechung85 zu den zi­ vilrechtlichen Streitigkeiten auf das strafrechtliche Verfahren und erkannte im Verfassungsprozessrecht verschiedene Instrumente86, die eine Beeinflussung 77

EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 52; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 47. 78 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95. 79 S. zum Verlauf der Strafverfahren EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 9–24. 80 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 25. 81 Das Verfahren wurde 1991 durch das KG Berlin gem. Art. 100 Abs. 1, 2 GG initiiert und mit mehreren anderen Verfassungsbeschwerden verbunden. 82 BVerfGE 92, 277: In der Sache ging es um die Frage der (Völker-)Rechtmäßigkeit von Straf­ verfolgungsmaßnahmen gegen und die Verurteilungen von mutmaßlichen Spionen der ehema­ ligen DDR, welche von dessen ehemaligen (und nunmehr gesamtdeutschen) Gebiet aus agierten und ebenda ihren Lebensmittelpunkt hatten, s. hierzu C. Arndt, NJW 1995, 1803–1804. 83 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 28. 84 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 60. 85 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77; Bock v. Ger­ many, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37; Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35. 86 So kann das BVerfG im Falle der Unvereinbarkeit eines Strafurteils mit den Bestimmun­ gen des GG die Sache an das zuständige Gericht zurückverweisen. Ferner besteht bei einer Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes eine Wiederaufnahmemöglichkeit zu Gunsten des Ver­ urteilten (vgl. § 95 [i. V. m. § 79] BVerfGG).

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Kap. 2: Historischer Überblick 

des fachgerichtlichen Verfahrensausgangs durch eine Entscheidung des BVerfG ermöglichten.87 Zur Frage, ob das verfassungsgerichtliche Verfahren unangemessen lang gewe­ sen sei, griff der Gerichtshof auf seine Judikatur88 zur besonderen Stellung der Verfassungsgerichte der Konventionsstaaten zurück und akzeptierte die abwei­ chende Bearbeitung von anhängigen Verfahren.89 Ebenso billigte der EGMR die Ausführungen der Bundesregierung, dass der Zweite Senat andere dringendere und politisch brisante Entscheidungen vorrangig entscheiden musste.90 In Anbetracht dieser Umstände gelangte er zu dem Ergebnis, dass die ergangenen Verzögerungen nicht unangemessen i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK seien.91 Das Urteil in der Sache Gast and Popp zeigt nicht nur, dass die aus der Deu­ meland-Entscheidung bekannte Formel auch im Bereich der strafrechtlichen Aus­ gangsverfahren vom EGMR herangezogen werden kann, sondern zudem, dass der Gerichtshof es mit seinen Aussagen zur exponierten Stellung des Verfassungsge­ richts als „Hüter der Verfassung“92 ernst meint93 und ihn bei der Reihenfolge der Bearbeitung von bestimmten Sachverhalten größere zeitliche Freiräume lässt als den Fachgerichten. Ferner wurde die Wiedervereinigung als historisch einmalige Aufgabe  – bei substantiierter Geltendmachung  – als rechtfertigendes Element berücksichtigt.94

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EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 65, 68. EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 55–57. 89 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 75 f. 90 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 77 i. V. m. 72. Die Bundesregierung führte dabei exemplarisch die Entscheidungen zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches, zum Vertrag von Maastricht und zu Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr an (vgl. BVerfGE 88, 203; 89, 155; 90, 286). 91 EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 81 f. unter Verweis auf die Entscheidungen Cesarini v. Italy, Urteil v. 12. 10. 1992, No. 11892/85, Rn. 20 und Salerno v. Italy, Urteil v. 12. 10. 1992, No. 11955/86, Rn. 21. In den beiden letztgenannten Urteilen wurde eine Untätigkeit von siebzehn und zwanzig Monaten respektive von sechzehn, vierzehn und zehn Monaten unter Beachtung der Besonderheiten der Fälle (u. a. Verhalten des Beschwerdeführers, Befassung von drei Instanzen) für nicht hinreichend erachtet, um eine un­ angemessen lange Verzögerung i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK zu begründen. 92 So bereits bezeichnet im Urteil EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 56 und in Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 75. In späteren Entscheidungen wiederholte der EGMR diese Charakterisierung EGMR, Trippel v. Germany, Urteil v. 04. 12. 2003, No. 68103/01, Rn. 28; Wimmer v. Germany, Urteil v. 24. 02. 2005, No. 60534/00, Rn. 30; Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 45; Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63; Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06, Rn. 64; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 40. 93 Kritisch O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1358, Fn. 38; ders., NVwZ 2010, 221 (222). 94 Vgl. auch EGMR, Klein v. Germany, Urteil v. 27. 07. 2000, No. 33379/96, Rn. 45. 88

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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7. Der Wendepunkt: Kudła v. Poland Obwohl der polnische Verfassungsgerichtshof an dem gerügten nationalen Ver­ fahren nicht beteiligt war, darf in diesem Überblick die Entscheidung Kudła v. Poland95 nicht fehlen, da sie zum entscheidenden Umbruch in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK führte. Die hervorstechende Bedeutung der Entscheidung ergibt sich daraus, dass der EGMR seine bisherige Rechtsprechung96 zum Konkurrenzverhältnis von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu Art. 13 EMRK explizit aufgab.97 Zu dieser Neubewertung der Rechtslage fühlte sich der EGMR gedrängt, da sich Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK in rechtsstaatsgefährdender Weise häuften.98 Zudem würde eine Nicht­ anwendung des Art. 13 EMRK auf die Fälle der Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu dem Ergebnis führen, dass – gerade bei Abwesenheit eines nationalen Rechtsbehelfes – unmittelbar der Weg zum EGMR beschritten werden müsste, um die Konventionsverletzung gel­ tend machen zu können.99 Solch ein Ergebnis widerspräche allerdings dem Art. 1 EMRK, welcher die Hohen Vertragsparteien verpflichtet, die Rechte und Freihei­ ten der Konvention selbst zu sichern, sowie den in den Art. 13 EMRK und Art. 35 Abs. 1 EMRK (Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs) verankerten Ge­ danken der Subsidiarität des Rechtsschutzsystems der EMRK.100 Daher seien die Konventionsstaaten verpflichtet, eine wirksame Beschwerdemöglichkeit einzu­ führen.101 Dies könne entweder ein Rechtsbehelf sein oder auch die Kumulation von mehreren Rechtsbehelfen, die erst zusammen ihre Effektivität entfalten.102 Im Anschluss stellte der Gerichtshof fest, dass das polnische Recht weder einen effektiven präventiven noch kompensatorischen Rechtsbehelf besaß, um das Recht auf Verfahren in angemessener Zeit zu sichern.103 Damit wurde u. a. eine Verlet­ zung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie von Art. 13 EMRK festgestellt und der Be­ schwerdeführer für immaterielle Nachteile entschädigt.104

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EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96. Bis zur Kudła-Entscheidung judizierte der EGMR, dass Art. 13 EMRK gegenüber Art. 6 Abs. 1 zurücktrete. Die Begründungsansätze hierfür waren vielfältig und umstritten, Nach­ weise bei EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 146; zusammen­ fassend Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  110–113. 97 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 146–149. 98 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 148. 99 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 155. 100 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 152. 101 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 156 f. 102 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 157 unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK. Kritisch zur Kumulation von Rechts­ behelfen Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 13, Rn. 8 f. 103 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 159. 104 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 165. 96

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Mit der Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zum Konkurrenzverhältnis ergaben sich für das EGMR-System und die Konventionsstaaten weitreichende Konsequenzen. Mit der Verbindung von Art. 13 mit Art. 6 Abs. 1 EMRK konnte der EGMR erstmals überprüfen, ob das nationale (Verfahrens-)Recht einen Rechts­ behelf zur Beschleunigung oder zumindest zur Kompensation105 der erlittenen Schäden des Beschwerdeführers bereithält. Der EGMR konnte insofern Einfluss auf die Rechtsordnungen der Konventionsstaaten nehmen, als dass sie nunmehr gezwungen waren ihre bisherigen Instrumente zur Vermeidung bzw. Entschädi­ gung von überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der geänderten Rechtsprechung zu evaluieren und ggf. neu zu kalibrieren bzw. erstmalig solche einzuführen.106 Im Übrigen versucht das Straßburger Gericht mit der Kehrtwende den Konventions­ rechtsschutz als eigentliche Aufgabe der Konventionsstaaten (vgl. Art. 1 EMRK) an diese im Bereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK zurückzuverweisen; auch um der eigenen „Verfahrensflut“107 Herr zu werden. 8. Die Verurteilungen Deutschlands nach dem Kudła-Urteil Die Kudła-Entscheidung fand zunächst keinerlei Niederschlag in den darauf­ folgenden Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Verfahrensdauer. Statt­ dessen ergingen entsprechend der bisherigen Spruchpraxis eine Vielzahl weiterer Entscheidungen wegen Verstößen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Exemplarisch hier­ für stehen Verurteilungen aufgrund bis zu acht-108 oder zehnjähriger109 Verfahrens­ 105 Das staatshaftungsrechtliche Verfahren wurde bei Verfahrensverzögerung erstmalig als Teil des zu erschöpfenden Rechtsweges anerkannt in EGMR, Entscheidung v. 05. 10. 1998, Gonzalez Marin c. Espagne, No. 39521/98. 106 Bereits kurz nach dem Kudła-Urteil prüfte das Bundesministerium für Justiz, ob das damals ehemals geltende Recht den Kriterien des EGMR entsprach (Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott [Hrsg.], Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 66–68). Bewertungen aus dem Schrifttum folgten ebenfalls alsbald Bien / Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (451–459, 464 f.); Britz, NVwZ 2004, 173 (174); Gimbel, ZRP 2004, 35; Gundel, DVBl. 2004, 17 (21–26); Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679 (2679 f.); Redeker, NJW 2003, 488–489; ders., NJW 2003, 2956 (2957 f.); ferner Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1972–1974), allerdings ohne Bezug zur Kudła-Rechtsprechung. 107 Im Jahr 2000 erschien die Lage besonders prekär, wenn man sich veranschaulicht, dass von 695 Entscheidungen sich 521 (also 74,9 %) mit der Frage der angemessenen Verfahrens­ dauer beschäftigten (Mayer-Ladewig, NJW 2001, 2679, s. hierzu auch Gundel, DVBl. 2004, 17 [20 f.]). Zwischen 1959 und 2009 beschäftigte sich der EGMR in 4.008 Fällen wegen einer vorgetragenen Verletzung des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Dauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Dies entspricht etwa ein Drittel (ca. 32,8 %) aller Verfahren, die in diesem Zeitraum stattfanden (vgl. 50 Years of Acitivity, The European Court of Human Rights, Some Facts and Figures, 15, zu finden unter https://www.echr.coe.int/Documents/Facts_Figures_1959_2009_ ENG.pdf, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020). 108 Vgl. EGMR, Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98, Rn. 31–34. 109 EGMR, Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99, Rn. 17. Die Bundes­ regierung sah sich außer Stande die zehnjährige Dauer des Verfahrens zu erklären. Sie wies

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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dauer vor dem BVerfG. Die Ausnahmesituation der deutschen Wiedervereinigung wurde vom Gerichtshof – wie teilweise bereits in Judikaten vor dem Jahr 2000110 – nicht als Rechtfertigungsgrund akzeptiert, da die Wiedervereinigung die Gesamt­ dauer nicht vordergründig erklären könne.111 9. Das Urteil in der Sache Voggenreiter v. Germany vom 08. 01. 2004: Eine Gesetzesverfassungsbeschwerde als Ausgangverfahren Obwohl die bereits 2003 entschiedene Rechtssache Hesse-Anger c. Allemagne112 in ihrem Ausgang eine Gesetzesverfassungsbeschwerde hatte und der Gerichtshof bei dieser Gelegenheit keinerlei Aussagen zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf diese Variante der Verfassungsbeschwerde tätigte113, thematisierte der EGMR in Voggenreiter v. Germany114 die Anwendbarkeit ausdrücklich. Während die Bundesregierung vorbrachte, dass wegen der im Vordergrund ste­ henden Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Haftungsausschlus­ ses für legislatives Unrecht kein zivilrechtlicher Anspruch des Beschwerdeführers vorliegen könne und daher Art. 6 Abs. 1 EMRK unanwendbar sei115, widersprach der Gerichtshof diesen Einwänden. Unter Verweis auf sein case law116 zur Anwend­ barkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf verfassungsgerichtliche Verfahren – insb. zu Vorlageverfahren oder Urteilsverfassungsbeschwerden – erstreckte der EGMR den Anwendungsbereich grundsätzlich auch auf unmittelbar gegen ein Gesetz gerich­ lediglich darauf hin, dass der zuständige Berichterstatter mittlerweile nicht mehr dem BVerfG angehöre und dass die zugehörige Akte nur ein paar Unterlagen umfasse. Die Bundesregie­ rung ging daher davon aus, dass ein Teil der Akte verloren gegangen sei (EGMR, Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99, Rn. 18). 110 So in den Fällen Probstmeier und Pammel, s. oben Kap. 2 A. I. 5. Noch anders in der Ent­ scheidung EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 60. 111 EGMR, Klein v. Germany, Urteil v. 27. 07. 2000, No. 33379/96, Rn. 45, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99, Rn. 32; in der Sache Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98 ging der Gerichtshof gar nicht erst auf diesen Einwand der Regierung (vgl. ebenda, Rn. 45) ein. 112 EGMR, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003. 113 Vgl. EGMR, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99, Rn. 10–12. Die Beschwerdeführerin erhob 1986 ihre Verfassungsbeschwerde gegen das Hinterbliebenen­ renten- und Erziehungszeiten-Gesetz (BGBl. 1985 I, 1450). Im Jahr 1998 wies das BVerfG zwei ähnliche Verfassungsbeschwerde zurück (BVerfGE 97, 271), so dass die Kammer unter Verweis auf diese Entscheidung die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annahm. Das Verfahren vor dem BVerfG dauert insgesamt elf Jahre und sechs Monate. Bei der Prüfung der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK prüfte der EGMR unmittelbar die Angemessenheit der Verfahrensdauer, ohne auf die Frage der Anwendbarkeit einzugehen (vgl. EGMR, HesseAnger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99, Rn. 26–33). 114 EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99. 115 EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 28. 116 Vgl. EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 31 f. m. w. N.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

tete Verfassungsbeschwerden.117 Hierfür müsse jedoch im hypothetischen Fall der Kassation des Gesetzes eine entscheidende Wirkung auf den geltend gemachten zivilrechtlichen und nicht offensichtlich unbegründeten Anspruch von vornherein nicht ausgeschlossen sein.118 Nach Maßgabe dieser Kriterien gelangte der EGMR zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei und eine entsprechende Verletzung vorliege.119 Das Urteil reiht sich in die extensive Rechtsprechungslinie zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Verfassungsgerichtsbarkeit ein. Die Rechtssachen Voggenreiter v. Germany – sowie zuvor Hesse-Anger c. Allemagne – machen deut­ lich, dass sobald bei einer Verfassungsbeschwerde eine potentielle Verbindung zu einem straf- oder zivilrechtlichen Recht oder Anspruch i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK besteht, der konventionsrechtliche Anspruch auf eine angemessene Verfahrens­ dauer Geltung entfaltet. 10. Sürmeli v. Germany: Die erste Verurteilung wegen der Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 6 EMRK Ein Wendepunkt in der Verurteilungspraxis des EGMR gegenüber der Bun­ desrepublik Deutschland war der Fall Sürmeli v. Germany vom 08. 06. 2006120, in dem zum ersten Mal anhand der Grundsätze des Kudła-Urteils das deutsche Rechtssystem auf einen effektiven Rechtsbehelf gegen unangemessen lange Ver­ fahrensdauer durch den Gerichtshof  – in Zusammensetzung als Große Kam­ mer121 – untersucht wurde. Vor dem EGMR beanstandete der Beschwerdeführer einerseits die Dauer des Verfahrens vor dem LG Hannover, welches zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht abgeschlossen war und bis dato 16 Jahre betrug122 sowie das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs, welcher bei unangemessen langer Verfahrensdauer Ab­ hilfe schaffen könnte.123 Den letzteren Vorwurf versuchte die Bundesregierung unter Darlegung von vier Rechtsbehelfen  – der Verfassungsbeschwerde, der Beschwerde gemäß § 26 Abs. 2 DRiG bei der Dienstaufsichtsbehörde, der außenordentlichen Beschwerde beim iudex ad quem und dem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m.

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EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 33 unter direkten Verweis auf Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99. 118 Vgl. EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 34–43. 119 EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 45, 53. 120 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01. 121 Der Fall wurde gem. Art. 30 EMRK, § 72 EGMR-Verfahrensordnung an die Große Kam­ mer abgegeben. 122 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 119. 123 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 3.

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Art. 34 GG – sowie eines sich in Arbeit befindlichen neuen Rechtsbehelfs bei Un­ tätigkeit des Gerichts124 zu entkräften.125 Der EGMR stellte zunächst allgemein fest, dass die primäre Verantwortung zur Achtung der Konventionsrechte bei den Konventionsstaaten liege (vgl. Art. 1, 13, 35 Abs. 1 EMRK)126 und dass ein Rechtsbehelf im Falle der Geltendmachung einer Verzögerung effektiv i. S. d. Art. 13 EMRK sei, wenn er entweder präventiv die überlange Verfahrensdauer verhindert oder zumindest repressiv eine Entschä­ digung bei bereits eingetretenen Konventionsverletzung verschafft.127 Die Lösung der Verfahrensbeschleunigung sei gegenüber einer reinen Kompensationslösung vorzuziehen.128 Im Anschluss an diese Linien sezierte der Gerichtshof die von der Regierung vorgetragenen Rechtsbehelfe: In der Verfassungsbeschwerde sieht der EGMR kei­ nen effektiven Rechtsbehelf, da sich die Entscheidung des BVerfG auf das Ver­ dikt der Verfassungswidrigkeit begrenzt und weder konkrete Maßnahmen zur Beschleunigung angeordnet werden können129 noch eine Kompensation gewährt werden kann.130 Ebenfalls sei weder die Beschwerde nach § 26 Abs. 2 DRiG noch eine außerordentliche Beschwerde beim iudex ad quem effektiv i. S. d. Art. 13 EMRK.131 Letztlich bewertet der EGMR den Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG zumindest als kompensatorischen Rechtsbehelf. Da die 124 Die Regierung bezog sich hierbei auf den Referentenentwurf über ein Untätigkeitsbe­ schwerdengesetz (abgedruckt in: Steinbeiß-Winkelmann / Ott [Hrsg.], Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, Anhang 3). Anders als das spätere Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sah dieser Entwurf noch keinen Rechtsbehelf vor dem BVerfG vor. Näheres zum Gesetzgebungsverfahren unten Kap. 2 B. 125 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 80–91. In diese Richtung auch BVerfG (Kammer) NJW 2005, 3488 (3489). 126 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 97 f. 127 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 99 f. 128 Der EGMR spricht von der „most effective solution“, EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 100. 129 Auffällig ist, dass die Möglichkeit einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG als Grundlage für Direktiven nicht in Betracht gezogen wurde (hierfür Huerkamp / Wielpütz, JZ 2011, 139 [143]). Dies dürfte allenfalls ausnahmsweise der Fall sein, wenn man funktio­ nell-rechtlichen Grenzen zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit nicht verwischen möchte (vgl. MSKB / Bethge, § 35 BVerfGG, Rn. 62–67). Insbesondere ist zu bedenken, dass das jeweilige Fachgericht einen besseren Überblick über die eigenen Ressourcen sowie über den Ausgangsfall haben dürfte als das BVerfG, so dass verbindliche Weisungen gem. § 35 BVerfGG auf krasse Einzelfälle (evidente Untätigkeit) begrenzt sind und übrige Anordnungen eher einen Appellcharakter haben dürften, der mit Blick auf die Autorität des BVerfG ausrei­ chend sein sollte. 130 Ein von der Bundesregierung angeführtes BVerfG-Urteil, in dem einem Fachgericht detailliertere Vorgaben als üblich gemacht wurden (BVerfG NJW 2001, 214 [215]), sah der EGMR als Einzelfall an, welcher nicht die ständige Praxis des BVerfG widerspiegele (EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 105 f.). 131 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 109–112.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Regierung allerdings nur ein einziges erfolgreiches Urteil132 (erster Instanz) nach­ weisen konnte, sah der Gerichtshof den Nachweis über die theoretische und prak­ tische Wirksamkeit des Amtshaftungsanspruches als nicht erbracht an.133 Ferner sei nach deutschem Recht ein immaterieller Schaden für seelisches Unbehagen infolge von Verfahrensverzögerungen nicht ersatzfähig, obwohl der EGMR für das Vorliegen eines solchen Schadens eine widerlegbare Vermutung aufstellt und nach seiner ständigen Rechtsprechung hierfür eine gerechte Entschädigung (Art. 41 EMRK) zuspricht.134 Im Ergebnis stellte der EGMR fest, dass dem Beschwerdeführer kein effektiver Rechtsbehelf zur Prävention oder zur Kompensation einer überlangen Verfahrens­ dauer (Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK) zur Verfügung stünde.135 Daneben be­ fand der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführer durch die über sechzehnjährige Verfahrensdauer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde.136 Zur Wiedergutmachung der erlittenen immateriellen Schäden sprach der EGMR gem. Art. 41 EMRK dem Beschwerdeführer die Summe von 10.000 € zu.137 Hinsichtlich der Wirkung des Urteils (Art. 46 EMRK) mahnte das Straßburger Gericht an, dass nicht nur eine gerechte Entschädigung zu zahlen sei, sondern der Konventionsstaat sein nationales Recht derart zu gestalten habe, dass der festgestellte Verstoß abgestellt wird. Mit Blick auf den Entwurf des Untätigkeits­ beschwerdengesetz begrüßt der EGMR die avisierte Präventivlösung.138

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LG München I, Urteil v. 12. 01. 2005, 9 O 17286/03 = EuGRZ 2006, 308. In dem Verfahren gelang es dem Kläger im Wege des Amtshaftungsanspruches einen Teil seiner Anwaltskosten für eine außerordentliche Beschwerde zum BVerwG wegen der Untätigkeit des Bayerischen VGH erstattet zu bekommen. 133 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 113 f. 134 Vgl. EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 113. Auch im Urteil des LG München I (Fn. 132) werden dem Kläger keine immateriellen Schäden ersetzt. Immaterielle Schäden sind gem. § 253 Abs. 1 BGB nur ersatzfähig, wenn dies das Gesetz be­ stimmt. Der § 253 Abs. 2 BGB bestimmt dies u. a. für die Verletzung von Körper, Gesundheit oder Freiheit. Denkbar wäre daher nur ein Ersatz des immateriellen Schadens im Wege des Amtshaftungsanspruches, wenn infolge einer Verfahrensverzögerung ein krankhafter Zustand hervorgerufen oder die Person ihrer Freiheit entzogen wird. Dasselbe gilt für Verletzungen der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) oder des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), s. dazu Remus, NJW 2012, 1403 (1406 ff.). Ein Ersatz des er­ littenen seelischen Unbills, wie es die aktuelle Gesetzesfassung (§ 97a BVerfG; § 198 Abs. 2 GVG) vorsieht, war vor Inkrafttreten der Gesetzesnovelle nicht möglich bzw. ist im Wege des Amtshaftungsanspruches auch weiterhin nicht möglich, andererseits im Rahmen dieses An­ spruches auch nicht (mehr) erforderlich. 135 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 115 f. 136 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 134. 137 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 145. Von der ge­ forderten Summe i. H. v. 400.000€ blieb der EGMR mit seiner Entscheidung (weit) entfernt. Im Übrigen wies der Gerichtshof auch den vom Bf. behaupteten Anspruch für materielle Schäden i. H. v. 826.328,00€ und 17,5 Mio. € nebst 7 % Zinsen zurück. 138 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 137 f.

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Der EGMR zeigte in der Rechtssache Sürmeli v. Germany den lückenhaften Grundrechtsschutz nach Maßgabe der Kudła-Rechtsprechung mehr als deutlich auf und forderte Deutschland unmissverständlich auf, einen effektiven Rechtsbehelf zu implementieren. Dass es dem Gesetzgeber in den folgenden Jahren nicht ge­ lang, eine Abhilfemöglichkeit zu schaffen, dürfte einer der Gründe für die scharfe Wortwahl im späteren Pilotverfahren gegen die Bundesrepublik139 gewesen sein. 11. Die Verurteilungen nach der Sürmeli-Entscheidung Während die Entscheidung auf erhebliche Resonanz140 traf und die Debatte um ein deutsches Gesetz gegen richterliche Untätigkeit forcierte, setzte der Gerichts­ hof seine Praxis fort, die Bundesrepublik wegen Verstößen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK – und nunmehr gegen Art. 13 EMRK – zu verurteilen. So wurde eine Ver­ fahrensdauer von 28 Jahren und elf Monaten sowohl vom BVerfG141 als auch vom EGMR in der Entscheidung Grässer v. Germany vom 05. 10. 2006142 als nicht mehr hinnehmbar und unangemessen lang gerügt. Die Entscheidung im Fall Kirsten v. Germany vom 15. 02. 2007143 bekräftigte die Leitsätze des Sürmeli-Urteils.144 Die Beschwerdeführerin rügte hierbei insbeson­ dere die Verfahrensdauer vor dem BVerfG sowie die fehlende effektive Abhilfe­ möglichkeit nach deutschem Recht.145 Während die Bundesregierung die Ver­ fahrensdauer von über dreieinhalb vor dem BVerfG mit dessen Belastung infolge der Wiedervereinigung zu rechtfertigen versuchte146, lehnte der EGMR diese Be­ gründung mit Blick auf die vergleichsweise geringen Auswirkungen der Wieder­ vereinigung auf den in der Sache zuständigen Ersten Senats ab.147 139

EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06. S. zur Diskussion Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (222 f.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (553); Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 16–19, 34, 188 f.; Kotz, ZRP 2011, 85–86; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschä­ digungsanspruches aus § 198 GVG, 70–72, 74; Ohrloff, 57; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  121; Roller, DRiZ 2007, 82 (82); ders., ZRP 2008, 122–123; Römer, MRM 2011, 74 (78); Schmalz, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, III, 583 (602); Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitig­ keiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 281–285; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177–180; dies., NJW 2008, 1783–1785; Terhechte, DVBl 2007, 1134–1143; Tiwisina, Rechts­ fragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 51. 141 BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214. 142 EGMR, Grässer v. Germany, Urteil v. 05. 10. 2006, No. 66491/01, Rn. 58. Die zweimona­ tige Verfahrensdauer vor dem BVerfG fiel in diesem Verfahren allerdings nicht ins Gewicht, vgl. ebenda, Rn. 33 f., 52. 143 EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02. 144 So auch in EGMR, Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02. 145 EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 24, 50. 146 EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 38. 147 EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 47. 140

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Kap. 2: Historischer Überblick 

In den Rechtssachen Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany148 und Kaemena and Thöneböhn v. Germany149 widmete sich der EGMR vor allem den Verzögerungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie eines effektiven Rechts­ behelfes hiergegen. So endete das verfassungsgerichtliche Ausgangsverfahren150 im Fall Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany erst nach über elf Jahre, was vom EGMR als ungerechtfertigte Verzögerung eingestuft wurde.151 In der Sache Kaemena and Thöneböhn v. Germany152 stellte der Gerichtshof fest, dass eine sechsjährige Verfahrensdauer vor dem BVerfG ohne Abhilfemöglichkeit kon­ ventionsrechtlich nicht mehr hinnehmbar sei.153 12. Das Urteil vom 02. 12. 2010 im Pilotverfahren Rumpf v. Germany – Der Katalysator für die Kreierung der §§ 97a ff. BVerfGG und §§ 198 ff. GVG Was sich bereits in den Urteilen Sürmeli und Herbst sowie in der Entscheidung Bock v. Germany vom 19. 01. 2010154 ankündigte, schlug sich im Piloturteil155 Rumpf 148

EGMR, Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00. EGMR, Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06. 150 BVerfGE 105, 279. 151 Weder die besondere Stellung als „Hüter der Verfassung“ noch die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Arbeitsbelastung des Gerichtes vermochten diese Dauer zu rechtfertigen, EGMR, Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63–66. 152 EGMR, Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06. 153 EGMR, Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06, Rn. 64 f. 154 EGMR, Bock v. Germany, Entscheidung v. 19. 01. 2010, No. 22051/07. Die Individualbe­ schwerde des Bf. wurde zwar als missbräuchlich gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a, Abs. 4 S. 1 EMRK zurückgewiesen. Dennoch betonte der EGMR bereits in dieser Entscheidung die vielzähligen Verurteilungen der Bundesrepublik wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf ein gericht­ liches Verfahren in angemessener Zeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie unter Verweis auf die Urteile in den Rechtssachen Sürmeli und Herbst, dass wegen den unzureichenden Rechtsbe­ helfe de lege lata dem Vertragsstaat die Pflicht zur Schaffung eines effektiven Rechtsbehelfs bekannt sei. Ferner habe nach Aussage des Gerichtshofs die Bundesregierung eingestanden, dass es ein „strukturelles Defizit“ im Rechtsschutz gegen überlange Verfahren vor den deut­ schen Gerichten gebe. 155 Die Piloturteilstechnik des EGMR geht u. a. auf die Resolution des Ministerkomitees des Europarats vom 12. 05. 2004 (CoE, CM / Res(2004)3) zurück, mit welcher die Minister den Gerichtshof ersuchten, in seinen Urteilen auch Konventionsverstöße zu identifizieren, die auf systemischen Problemen beruhen, und deren Wurzeln zu benennen sowie den Mit­ gliedstaaten Handlungsoptionen zur Abhilfe aufzuzeigen (ebenda, Präambel, Zif. I). Ergänzt wird die Resolution durch die Empfehlung des Ministerkomitees vom selbigen Tag (CoE, CM / Rec(2004)6), die den Konventionsstaaten nahelegt, ihre nationalen Rechtsmittel – ins­ besondere nach der Feststellung eines strukturellen menschenrechtlichen Defizits durch den Gerichtshof  – zu überprüfen und ggf. dahingehend anzupassen, dass Konventionsverstöße 149

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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v. Germany vom 02. 09. 2010156 nieder. Der EGMR verurteilte die Bundesrepub­ lik nicht nur wegen der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK, sondern attestierte der deutschen Gerichtsbarkeit ein systemisches Problem mit unange­ messen langen Verfahrensdauern.157 Um diesen konventionswidrigen Zustand zu beseitigen, legte der Gerichtshof der Bundesrepublik gestützt auf Art. 46 Abs. 1 EMRK die Pflicht auf, binnen einen Jahres nach Endgültigkeit des Urteils einen effektiven nationalen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer zu schaffen, welcher der Konvention unter Auslegung der ständigen Rechtsprechung des EGMR genüge.158 Dem Straßburger Urteil war ein Verfahren um eine waffenrechtliche Er­ laubnis des Beschwerdeführer vorausgegangen, welches sich in zeitlicher Hinsicht vornehmlich vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit abspielte (ca. 11 Jahre) – im An­ schluss hieran vor dem BVerfG (ca. 2 Jahre) stattfand.159 Nachdem der Gerichtshof inhaltlich knapp eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK feststellte160, abgestellt werden (ebenda, Zif. I und II). Dies gilt vor allem bei der Überprüfung der Effek­ tivität von Rechtsmitteln gegen eine überlange Verfahrensdauer (ebenda, Zif. III). Ziel der Piloturteilstechnik ist es, den Konventionsstaaten bei der Lösung von systemischen Defiziten in ihren nationalen Rechtsordnung Hilfe zu leisten, den Betroffenen zügigere Wiedergutma­ chung Abhilfe zu verschaffen und den Gerichtshof in seiner Arbeit in repetitiven Fällen zu entlasten (s. https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Pilot_judgments_ENG.pdf, zuletzt ge­ öffnet am 05. 12. 2020). Bereits im Jahr der Verabschiedung der Resolution kam es zum ersten Piloturteil gegen Polen (EGMR, Broniowski v. Poland, Urteil v. 22. 06. 2004, No. 31443/96, dazu Garlicki, in: FS Wildhaber, 177–192). Ein Großteil der bisherigen Piloturteile erging dabei gegen südost- und osteuropäische Staaten (vornehmlich „neue Mitgliedstaaten“, vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358 [3359]). Die Verurteilung in diesem Musterverfahren war in der Sache Rumpf die erste und bisher einzige Deutschlands sowie das erste Piloturteil gegen einen westeuropäischen Konventionsstaat überhaupt. Die besondere Urteilstechnik ist bis dato weder in der Konvention selbst noch in einem ihrer Zusatzprotokolle explizit geregelt; lediglich seit 2011 finden sich in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs Bestimmungen hierzu (Rule 61, Rules of Court, abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/Rules_ Court_ENG.pdf, zuletzt aufgerufen am 05. 12. 2020). Mittlerweile gilt das Pilotverfahren als anerkannte Praxis des Gerichtshofs (so etwa HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Brunozzi, Art. 46, Rn. 11; Fyrnys, GLJ [2011], 1231 [1251–1259] sowie Keller / Kühne, ZaöRV 76 [2016], 245 [283], wobei deren Verweis in Fn. 167 auf CoE, CDDH(2009)007Addendum I, S. 13, Rn. 16 eine [noch] ungefestigte Praxis beschreibt; mit Zweifeln Cremer, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 32, Rn. 122; s. zum Kodifikationsversuch im Zuge des 14. ZP zur EMRK Haider, The Pilot-Judgment Procedure of the European Court of Human Rights, 24–28). S. vertiefend zur Piloturteilstechnik Breuer, EuGRZ 2004, 445–451; ders., 2012, 1–10; Cre­ mer, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  32, Rn.  119–131; Haider, The Pilot-Judgment Procedure of the European Court of Human Rights; Keller / Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245 (280–284); HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Brunozzi, Art. 46, Rn. 7–11; Schmahl, EuGRZ 2008, 369–380. 156 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06. 157 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 69. 158 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 46, 52, 68–70, 73. 159 Vgl. EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 9, 25 f., 29, 37. 160 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 41–52, Tenor zu 2., 3. Bzgl. Art. 13 EMRK unter Verweis auf das grundlegende Kudła-Urteil sowie hinsichtlich des Fehlens eines effektiven Rechtbehelfs gegen unangemessen lange Verfahrensdauer in Deutschland auf die Urteile in den Sachen Sürmeli und Herbst.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

finden sich unter dem Punkt „Anwendung des Artikels 46 der Konvention“161 seine Ausführungen in der Piloturteilstechnik. Hierbei stellt der EGMR fest, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht nur in der näheren Vergangenheit wegen einer Vielzahl von Verletzungen des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Zeit (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verurteilt wurde, sondern auch zum Zeitpunkt des Urteils eine Fülle an Verfahren mit gleicher Stoßrichtung anhängig seien, weshalb eine mit der Konvention unvereinbare Praxis des Vertragsstaats Deutschland vorlie­ ge.162 Sodann erinnerte der EGMR daran, dass bereits 2006 im Sürmeli-Urteil die Schaffung eines effektiven Rechtsbehelfs angemahnt wurde und die deutsche Seite seitdem lediglich ihren „weitestgehend Widerwillen“ gezeigt habe.163 Daher wurde der Bundesrepublik nunmehr unter Setzung einer Jahresfrist aufgegeben einen oder mehrere kumulativ wirkende effektive Rechtsbehelfe zu schaffen, wel­ che den Hauptkriterien164 der Sürmeli-Rechtsprechung genügen.165 Nicht nur das Schrifttum166 rezipierte die Entscheidung, sondern auch Re­ gierung und Parlament erkannten den akuten Handlungsbedarf zur Lösung des Problemfelds.167 Unmittelbare Folge des Urteils war das Gesetz über den Rechts­ schutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah­ ren (ÜGRG)168, welches Ende 2011 mit seinem Artikel 2 die §§ 97a ff. in das Bun­ desverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) implementierte.

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EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 53–74. EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 64–70, Tenor zu 4. Der EGMR zählt hierbei über vierzig Verurteilungen wegen Verstößen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zwischen 1959–2009; allein im Jahr 2009 waren es dreizehn. Ferner habe man sich mit der Bundesrepublik seit dem Urteil in der Rechtssache Sürmeli, d. h. nach 2006, in 28 Fällen gütlich geeinigt (vgl. Rule 62, Rules of Court) und in acht Fällen eine unilaterale Erklärung abgegeben (vgl. Rule 62A, Rules of Court). 163 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 72: „[…] it [Anm. d. Verf.: der deutsche Staat] thus demonstrated an almost complete reluctance to resolve the problems at hand in a timely fashion.“ 164 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 97–101. 165 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 73. 166 Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (222 f.); Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 37, 188 f., Kraft, EuGRZ 2014, 666 (671); Keller / Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245 (282); Kotz, ZRP 2011, 85 (86); Magnus, ZZP 2012, 75 (77); Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 86; Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358 f.; Ohrloff, 58 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857; Römer, MRM 2011, 74 (78 f.); Schlick, NJW 2017, 3055–3056; Schmaltz, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts, III, 583 (602 f.). 167 Zu der Reaktion der deutschen Entscheidungsträger Kap. 2 B. 168 BGBl. 2011 I, 2302. In Kraft getreten am 03. 12. 2011 und damit einen Tag nach Ablauf der vom EGMR gesetzten Jahresfrist beginnend ab Endgültigkeit des Urteils (eingetreten gem. Art. 44 Abs. 2 lit. b EMRK am 02. 12. 2010). 162

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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13. Die ersten Auswirkungen der §§ 97a ff. BVerfGG, §§ 198 ff. GVG sowie die erste vorläufige Bewertung der Effektivität durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Während die Straßburger Richter169 in ihrer Entscheidung vom 22. 05. 2012 zur Rechtssache Batuzov v. Germany170 aufgrund der fehlenden Opfereigenschaft (Art. 34 S. 1 EMRK) des Beschwerdeführers die Frage nach der Effektivität des neuen Rechtsbehelfsregimes ausdrücklich offenlassen konnten,171 äußerten sie sich einige Tage später in den parallel entschiedenen Verfahren Garcia Cancio v. Germany172 und Taron v. Germany173 hierzu: Die Beschwerdeführer hätten gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpfen müs­ sen. In concreto hätten die Beschwerdeführer eine Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 5 GVG erheben müssen, bevor sie den Gerichtshof anriefen.174 Die Tatsache, dass Ihre Fälle bereits vor dem Inkrafttreten des ÜGRG innerstaatlich rechtskräf­ tig und vor dem EGMR anhängig waren, schade dabei nicht, da gemäß der Über­ gangsvorschriften des Art. 23 S. 1, 5 ÜGRG die Entschädigungsklage auch bei in­ nerstaatlich abgeschlossenen Verfahren zulässigerweise erhoben werden könne.175 Zudem wies der EGMR den Vortrag der Beschwerdeführer zurück, dass die Ent­ schädigungsklage nicht effektiv sei und damit gegen Art. 13 EMRK verstoße. Statt­ dessen leistete der EGMR dem neuen Instrument einen Vertrauens­vorschuss, in­ dem er der nationalen Gerichtsbarkeit einen Zeitraum zur Bildung einer ständigen Rechtsprechung im Lichte der EMRK und der Judikatur des Gerichtshofs zubil­ ligt.176 Dabei behält es sich der Gerichtshof ausdrücklich vor, zukünftig die Effekti­ vität des Rechtsbehelfs und der hierzu ergangenen Entscheidungen zu bewerten.177 Bei Zweifeln diesbezüglich liege die Beweislast bei der Bundesregierung.178 169 Zur besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. Nichtdestotrotz sind selbstverständlich alle Geschlechter gleichermaßen gemeint, insbesondere vor dem his­ torischen Hintergrund, dass erstmalig mehr Richterinnen als Richter am BVerfG sind. 170 EGMR, Batuzov v. Germany, Entscheidung v. 22. 05. 2012, No. 17603/07. 171 S. EGMR, Batuzov v. Germany, Entscheidung v. 22. 05. 2012, No. 17603/07 unter „The Law“, Gliederungspunkt „A. The exhaustion of domestic remedies“. 172 EGMR, Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 50. 173 EGMR, Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 47. 174 EGMR, Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 46– 49; Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 38, 43, 46. Bestätigt durch Bandelin v. Germany, Entscheidung v. 22. 01. 2013, No. 41394/11, Rn. 13 f.; Havermann v. Germany, Entscheidung v. 22. 01. 2013, No. 51314/10, Rn. 16–18; Fuchs v. Germany, Ent­ scheidung v. 27. 01. 2015, Nos. 29222/11 u. 64345/11 Rn. 51. 175 EGMR, Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 46; Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 38. 176 EGMR, Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 39 f.; vgl. auch Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 47 f. Dazu auch Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 43. 177 EGMR, Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09, Rn. 48; Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 45. 178 EGMR, Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07, Rn. 45. Zur allgemei­ nen Verteilung der Beweislast Schäfer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 35 EMRK, Rn. 13.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Einen ähnlichen Tenor enthielt die Entscheidung Peter v. Germany vom 04. 09. 2014179. Der Beschwerdeführer rügte dabei einerseits die Verfahrensdauer von viereinhalb Jahren vor dem Verfassungsgericht, andererseits die mangelnde Ef­ fektivität des neuen Rechtsbehelfs nach §§ 97a ff. BVerfGG.180 Bezüglich der Rüge von Art. 6 Abs. 1 EMRK betonte der Gerichtshof wiederholt die besondere Funk­ tion des Verfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“, was eine vom Eingang abweichende Bearbeitung erforderlich machen kann.181 Auch habe das BVerfG bei seiner Entscheidungsfindung und der Priorisierung von Fällen wegen seiner autoritativen Auslegung des Grundgesetzes eine größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen.182 Im Einzelnen erkennt der Gerichtshof an, dass weder die Entscheidung einen aus ex ante-Sicht vergleichbaren Fall als Pilotverfahren vorzuziehen noch die Entscheidung des kurz vor dem Ausscheiden stehenden berichterstattenden Richters bereits zuvor begonnene Fälle fertigzustellen die Verfahrensdauer zwar als ungewöhnlich, aber nicht als ungerechtfertigt lange erscheinen lassen.183 Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wurde daher abgelehnt. Obendrein verneinte der EGMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK wegen vermeintlicher Ineffektivität der Rechtsbehelfe nach §§ 97a ff. BVerfGG. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass die Effektivität nicht anhand einem für den Beschwerdeführer günstigen Verfah­ rensausgang zu messen sei, sondern an der Zugänglichkeit und Angemessenheit des Rechtsbehelfs.184 Allein der abschlägige Beschluss der Beschwerdekammer des BVerfG185 sei daher zum Nachweis einer fehlenden Effektivität ungeeignet. In Ermangelung weiterer Hinweise, sei jedenfalls von keiner Ineffektivität aus­ zugehen, weshalb eine Verletzung von Art. 13 EMRK nicht festgestellt werden konnte.186 Entsprechend dieser Linie wurde eine Individualbeschwerde gegen die bisher einzig erfolgreiche Verzögerungsbeschwerde187 durch einen Einzelrichter am EGMR (vgl. Art. 27 EMRK) als unzulässig verworfen.188

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EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10. EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 31 f., 49. 181 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 40 f. So bereits auch in EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 56; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 75. 182 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 41. 183 “[U]nusually but not unreasonably long“, EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 46. 184 „The term ‚effective‘ is also considered to mean that the remedy must be adequate and accessible“, EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 55. 185 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 01. 10. 2012, 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 = NVwZ 2013, 789. 186 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 57–59. 187 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361. 188 EGMR, K. v. Germany, Entscheidung v. 23. 06. 2016, No. 13936/16 (unveröffentlicht). Die unanfechtbare Entscheidung durch den Einzelrichter André Potocki erging ggü. dem Be­ schwerdeführer ohne weitere Begründung. 180

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Die vorgestellten Entscheidungen wurden von Teilen des Schrifttums189 sowie der Bundesregierung190 als Beleg für die Wirksamkeit der mit dem ÜGRG einge­ führten kompensatorischen191 Rechtsbehelfe interpretiert. Dem ist insoweit zuzu­ stimmen, als dass der EGMR der deutschen Regelung einen Vertrauensvorschuss gab, insbesondere um den nationalen Gerichten die notwendige Zeit zur Entwick­ lung einer kohärenten und konventionskonformen Praxis zu geben.192 Im Lichte der Subsidiarität des europäischen Rechtsschutzsystems sind es gerade die nationalen Instanzen, die Abhilfe bei einer Verletzung der in der Konvention garantierten Menschenrechte schaffen sollen. Der EGMR soll diesen Rechtsschutz grundsätz­ lich nur komplementieren, so dass es – insbesondere wegen der Vielzahl an Be­ schwerden über eine überlange Verfahrensdauer – angezeigt war, dem deutschen Rechtsbehelf diesen Vorschub zu gewähren. Die Entscheidungen ruhen ferner da­ rauf, dass dem EGMR prima facie kein Beweis für eine Ineffektivität der §§ 97a ff. BVerfGG – bzw. der §§ 198 ff. GVG – vorgelegt wurden. Eine abschließende Be­ urteilung der Wirksamkeit liegt mit dieser kursorischen Wertung jedenfalls nicht vor. Im Gegenteil behält sich der Gerichtshof auch in Zukunft die Überprüfung der Effektivität des Rechtsbehelfs in Theorie und gerade in der Praxis vor und sieht dabei die Bundesregierung im Zweifelsfall als beweisbelastet an. Dass der Gerichtshof nicht davor zurückschreckt, eine zunächst positiv festgestellte Effekti­ vität193 eines Rechtsbehelfs gegen unangemessen lange Verfahrensdauer zu kassie­ ren, verdeutlicht eine entsprechende Vorgehensweise gegen die Republik Polen.194 14. Kuppinger v. Germany: Die partielle Ineffektivität des Rechtsschutzes gegen überlange Verfahrensdauer in Kindschaftssachen Eine Neubewertung übte der Gerichtshof für die §§ 198 ff. GVG aus, indem er mit dem Urteil vom 15. 01. 2015195 den eingeführten Rechtsbehelf als partiell unzu­ 189 Hierfür wohl Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 6; auf den Überprü­ fungsvorbehalt des EGMR hinweisend: HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 23; Schmaltz, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts, III, 583 (612); Steinbeiß-Winkelmann / Sporrer, NJW 2014, 177 (178); Zuck, NVwZ 2013, 779 (780); neutral: Barczak, AöR 138 (2013), 536 (557). 190 So die Bundesregierung in ihrem „Erfahrungsbericht über die Anwendung des Geset­ zes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermitt­ lungsverfahren“ vom 17. 10. 2014 hinsichtlich der Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG, BTDrucks. 18/2950, 9 sowie deren Stellungnahme in EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 131. 191 Zu den präventiven Rechtsbehelfen sogleich bei Kuppinger v. Germany. 192 So auch Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 43. 193 EGMR, Charzyński v. Poland, Entscheidung v. 01. 03. 2005, No. 15212/03; Ratajczyk v. Poland, Entscheidung v. 31. 05. 2005, No. 11215/02; Krasuski v. Poland, Urteil v. 14. 06. 2005, No. 61444/00. 194 S. dazu das Piloturteil EGMR, Rutkowski and others v. Poland, Urteil v. 07. 07. 2015, No. 72287/10, 13927/11, 46187/11. 195 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

reichend einstufte. Mit Blick auf die besondere Eilbedürftigkeit von Kindschafts­ sachen – insbesondere bei Fragen des Umgangsrechts eines Elternteils – beurteilte der Straßburger Gerichtshof die in der deutschen Rechtsordnung bekannten Inst­ rumente zur Verfahrensbeschleunigung als ineffektiv.196 Weder die Verzögerungs­ rüge nach § 198 Abs. 3 GVG mit ihrer vermeintlichen Warnfunktion gegenüber dem Richter noch die Entschädigungsklage i. S. d. § 198 Abs. 5 GVG könnten eine hinreichend beschleunigende Wirkung entfalten, um eine Verletzung des Fami­ lienlebens abzuwenden (Art. 13 i. V. m. Art. 8 EMRK).197 Das Urteil bestärkt damit die von Teilen der Literatur198 vertretene Ansicht, dass die mit dem ÜGRG geschaffenen Rechtsbehelfe keine effektive Beschleunigung mit sich bringen und daher als verkappte Entschädigungslösung und nicht – wie vom Gesetzgeber behauptet199 – als Kombinationsmodell anzusehen sind. Die Frage, ob man das Verdikt auf andere besonders eilbedürftige Fälle200 übertragen kann, ist zwar nicht entschieden worden. Für eine Übertragbarkeit spricht aber eine starke Vermutung, da in diesen Fällen grundsätzlich ein vergleichbares Interesse an einer zügigen Verfahrensführung besteht.201 Über diese besonderen Fallgruppen hinaus lässt sich aus der Rechtsprechung keine allgemeingültige Aussage über die Ineffek­ tivität der Rechtsbehelfe nach dem ÜGRG ableiten, so dass es vorerst beim geäußer­ ten Vertrauensvorschuss bleibt.202 So verlangt der EGMR auch zukünftig, dass der Beschwerdeführer zunächst den nationalen Rechtsweg erschöpfen muss.203 Inso­ fern fällt die vorläufige Würdigung des ÜGRG inzident positiv aus, da lediglich ein effektiver Rechtsbehelf Teil des zu erschöpfenden Rechtswegs sein kann.204 196

EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 144. Gleiches gelte für die ungeregelte außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde sowie den besonderen Beschleunigungsgrundsatz des § 155 FamFG, EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 140 ff. 198 S. etwa Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 180; Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 130, 301 f., 315–317; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857 (860 f.); Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 146 ff., 154 ff.; Zuck, NVwZ 2012, 265 (270); ders., NVwZ 2013, 779 (781). 199 So der federführende Rechtssauschuss, BT-Drucks. 17/7217, 27. Verhaltener die Bundes­ regierung, BT-Drucks. 17/3802, Anlage 4, 43. 200 Dies sind etwa Haftsachen, arbeitsrechtliche oder prüfungsrechtliche Klagen, Klagen bzgl. Versorgungssprüchen sowie Streitigkeiten über den Personenstand und der Geschäftsfähig­ keit, Aufzählung nach HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 205 sowie EGMR, Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 80. S. dazu Kap. 3 A. I. 3. 201 So auch Kirchberg, DVBl. 2015, 675 (679 f.). A. A. der deutsche Gesetzgeber BTDrucks. 18/9092, 15, dazu Kap. 2 B. VI. 202 Ähnlich Kirchberg, DVBl. 2015, 675 (679 f.). 203 In dem Fall wäre dem Beschwerdeführer noch die Erhebung einer Entschädigungsklage (§ 198 Abs. 5 GVG) möglich gewesen, EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 126 f. 204 Zur Effektivität eines zu nutzenden Rechtsbehelfs im Rahmen der Rechtswegerschöp­ fung im Allgemeinen und bei einer Beschwerde wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 13, Rn. 23, 26 f., 32. 197

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Der Gerichtshof bleibt insofern bei den Grundsätzen, die er im Taron-Beschluss aufgestellt hatte.205 Im Ergebnis bleibt es bei der oberflächlichen Effektivitätsvermutung zugunsten der kompensatorischen Entschädigungsklage des ÜGRG,206 während das Verdikt der Ineffektivität die präventive Komponente – sprich die Verzögerungsrüge – zu­ mindest in Kindschaftssachen betrifft.207 15. Zusammenfassende Bewertung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Mit der ersten Verurteilung wegen überlanger Verfahrensdauer vor einem deut­ schen Gericht im Jahr 1978208 legte der EGMR den Grundstein für eine langjäh­ rige Rechtsprechung, deren Relevanz im Laufe der Zeit – insbesondere für das BVerfG – zunahm. Wurde das Verfassungsgericht anfangs vom Anwendungsbe­ reich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeklammert,209 so änderte sich dies explizit mit der Deumeland-Entscheidung vom 29. 05. 1986210. Der Gerichtshof synthetisierte erstmals seine Formel, die er auch heute noch nutzt, um den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK für die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zu öffnen: „Das Bundesverfassungsgericht muss in diesem Zusammenhang [Anm. d. Verf.: Bestim­ mung der maßgeblichen Verfahrensdauer] mitberücksichtigt werden, denn obwohl es keine Jurisdiktion in der Sache hat, kann seine Entscheidung den Ausgang des verfahrensgegen­ ständlichen Anspruches beeinflussen.“211

Auf Grundlage dieser Doktrin erstreckte der EGMR seine Rechtsprechung auf weitere Beschwerdegegenstände und verschiedene Ausgangsverfahren. So war 1996 erstmalig eine Individualbeschwerde erfolgreich, deren Gegenstand aus­ schließlich Verzögerungen vor dem BVerfG waren212. Sukzessiv führte der EGMR 205

EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 126. SteineißWinkelmann zieht daher den Schluss, dass der EGMR die Rechtsbehelfe des UGRG grundsätz­ lich als wirksam akzeptiert und nur punktueller Reformbedarf besteht, Steineiß-Winkelmann, NJW 2015, 1437 (1438). 206 So bezieht sich der EGMR auf den „claim for just satisfaction“ sowie den „adequate re­ dress for the violation of the right to a trial within a reasonable time“, EGMR, Kuppinger v. Ger­ many, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 126. Inwiefern diese vorläufige Beurteilung auch für das verfassungsprozessrechtliche Pendant der Verzögerungsbeschwerde (§ 97b Abs. 1 S. 1) gilt, s. Kap. 5. 207 S. EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 140. 208 EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73. 209 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77. 210 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81. 211 In der authentischen Fassung: „The Federal Constitutional Court is to be taken into ac­ count in this respect […], in that, although it had no jurisdiction to rule on the merits, its de­ cision was capable of affecting the outcome of the claim.“, EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77. 212 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92.

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seine Rechtsprechungslinie fort und ließ die konkrete Normenkontrolle213, die Ge­ setzesverfassungsbeschwerden214 sowie bei Verfassungsbeschwerden, die einen strafrechtlichen Bezug i. S. d. Konvention hatten215, in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen. Eine kopernikanische Wende für das EGMR-System sollte das Urteil Kudła v. Poland vom 26. 10. 2000216 bringen. Seither sind Staaten verpflichtet einen effek­ tiven Rechtsbehelf gegen eine unangemessene Verfahrensdauer bereitzuhalten. In der sich anschließenden rechtspolitischen Diskussion217 sowie im deutschen Justiz­m inisterium218 bestand daher eine grundsätzliche Einigkeit darüber, dass die deutsche Rechtsordnung entsprechend reformiert werden müsse.219 Nach weiteren Verurteilungen der Bundesrepublik übertrug der EGMR diese neue Linie erstmals auf die Bundesrepublik. Mit dem Sürmeli-Urteil von 2006220 wurde festgestellt, dass die deutsche Rechtsordnung weder ein effektives Instru­ ment zur Beschleunigung eines Verfahrens noch zur Kompensation kenne und eine Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 6 EMRK vorliege. Mit der Verurteilung im Pilotverfahren Rumpf v. Germany vom 02. 12. 2010221 verschärfte sich der Ton des Gerichtshofs hinsichtlich dieses Rechtsschutzdefizits erheblich. Die Große Kammer attestierte der deutschen Gerichtsbarkeit ein „systemisches Problem“ mit überlangen Verfahren und stellte einen „Widerwillen“ zur Schaffung eines Rechts­ behelfs fest. Schlussendlich setzten die Straßburger Richter dem deutschen Staat zur Schaffung eines effektiven Rechtsbehelfs eine Jahresfrist. Mit dem Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren222 im Dezember 2011 ging 213

Erstmalig in EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 17820/91; Probst­ meier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 20950/92. Im europäischen Kontext erstmalig in der Entscheidung EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, welche die „cuestión de inconstitucionalidad“ als vergleichbare Verfahrensart zum Gegenstand hatte. 214 EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99. Siehe allerdings bereits EGMR, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003. 215 S. etwa EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95. 216 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96. 217 S. chronologisch etwa: Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969–1974; Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679–2680; Redeker, NJW 2003, 2956 (2957 f.); ders., NJW 2004, 488–489; Bien / Guillaumont, EuGRZ 2004, 451–466; Britz / Pfeifer, DÖV 2004, 245–250; Gundel, DVBl. 2004, 17–27; Vorwerk, JZ 2004, 553–559; Roller, DRiZ 2007, 82–87; Steinbeiß-Winkel­ mann, ZRP 2007, 177–180; Terhechte, DVBl. 2007, 1134 (1141 f.); Roller, ZRP 2008, 122–123; Steinbeiß-­Winkelmann, NJW 2008, 1783–1785; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205–209; Kotz, ZRP 2011, 85–86. 218 S. Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren, Einführung, Rn. 62 ff. 219 Grundsätzlich für einen Rechtsbehelf Lansnicker / Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1974); Redeker, NJW 2003, 488 (489); ders., NJW 2003, 2956 (2957 f.); Britz / Pfeifer, DÖV 2004, 245 (250); Gundel, DVBl. 2004, 17 (27); differenzierend Vorwerk, JZ 2004, 553 (559). 220 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01. 221 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, 46344/06. 222 BGBl. 2011 I, 2302.

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der deutsche Gesetzgeber den letztlich erforderlichen Schritt und schuf ein – nach eigener Aussage – kombiniertes Rechtsschutzsystem, bestehend aus einer beschleu­ nigenden Rüge pro futuro und einer kompensatorischen Beschwerde pro praete­ rito. In den ersten das ÜGRG betreffenden Entscheidungen223 kam der EGMR bei einer vorläufigen Bewertung bezüglich der Schließung der Rechtsschutzlücke zu einem positiven Ergebnis und erteilte den neuen Rechtsbehelfen einem Vertrau­ ensvorschuss, damit die Gerichte die notwendige Zeit haben, um eine ständige – insbesondere konventionskonforme – Rechtsprechung zu entwickeln. Hierbei be­ hielt sich der EGMR jedoch ausdrücklich die Überprüfung von Gesetz und Praxis für Zukunft vor. So entschied der EGMR Anfang 2015, dass die beschleunigende Komponente des ÜGRG in Kindschaftssachen nicht der Konvention genüge.224

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Im Gegensatz zu den menschenrechtlichen Verträgen und Deklarationen225 enthält das Grundgesetz keinen Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Dauer expres­ sis verbis.226 Normativen Anknüpfungspunkt für solch ein Recht sehen das BVerfG227 223 EGMR, Garcia Cancio v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 19488/09; Taron v. Germany, Entscheidung v. 29. 05. 2012, No. 53126/07; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10. 224 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11. Der Gesetzgeber reagierte hierauf mit den neuen §§ 155b, 155c FamFG (s. BGBl. 2016 I, 2222). 225 S. universell Art. 9 Abs. 3 S. 1, Art. 14 Abs. 3 lit. c IPbpR (Internationaler Pakt über bür­ gerliche und politische Rechte); Art. 13 S. 1 UN-Antifolterkonvention (Übereinkommen der Vereinigten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe) sowie regional Art. 7 Abs. 6, Art. 8 Abs. 1 AMRK (Amerikanische Menschenrechtskonvention); Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh (Charta der Grundrechte der Europä­ ischen Union); Art. 7 Abs. 1 lit. d Banjul-Charta (Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker); Art. 5 Abs. 3, 4; Art 6 Abs. 1 EMRK. Zu historischen Rechtsquellen eingehend Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 164–179. 226 Lediglich Art. 104 Abs. 2 S. 2, 3 GG erhält zeitliche Vorgaben bei der Freiheitsentziehung; allerdings adressiert diese Norm die Exekutive und nicht die Verfahrensgestaltung durch die Judikative (vgl. Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 230). Im Gegensatz zum GG formulieren die Landes­ verfassungen von Brandenburg (Art. 52 Abs. 4 S. 1 BbgVerf) und Sachsen (Art. 78 Abs. 3 S. 1 SächsVerf)einen ausdrücklichen Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer. Kritisch zur dazugehörigen Rechtsprechung des BbgVerfG und des SächsVerfGH Scheffer, NJ 2010, 265–271. 227 BVerfGE 53, 115 (127); 54, 39 (41); 55, 349 (369); 57, 250 (274); 60, 253 (269); 63, 45 (69); 78, 123 (126); 80, 103 (107); 82, 126 (155); 88, 118 (123 f.); 93, 1 (13); 93, 99 (107); 107, 395 (401); 122, 248 (279 f.); BVerfG (Kammer) NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2000, 797; NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 334 (335); NJW 2004, 835 (836); NJW 2008, 503; NZS 2010, 381 (381 f.); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; Beschluss v. 02. 12. 2011 – 1 BvR 314/11, BeckRS 2012, 45683, Rn. 5 f.; NVwZ-RR 2011, 625 (626); Be­ schluss v. 23. 05. 2012 – 1 BvR 359/09, BeckRS 2012, 51735; NJW 2013, 3630 (3631); BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790); NVwZ 2013, 1479 (1480); NJW 2015, 3361; NJW 2016, 2021; Beschluss v. 30. 08. 2016  – 2 BvC 26/14  – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 17; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 9.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

und die Literatur228 unisono für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit im allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) und für Verfahren in Zusammenhang mit der öffentlichen Gewalt229 – vornehmlich der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit – im Anspruch auf einen effek­ tiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). 1. Der Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG in der Rechtsprechung des BVerfG Frühe Ausführungen zu einer rechtsstaatlich gebotenen zügigen Verfahrens­ durchführung finden sich in einem Beschluss des Erstens Senats vom 18. 07. 1973230. Im Fall ging es um sofort vollziehbare Ausweisungsverfügungen, die von den Wi­ derspruchsbehörden und Verwaltungsgerichten nur schleppend behandelt wurden, so dass sich die Fait accompli zu verfestigen drohten. Zurückgreifend auf das Rechtsstaatsprinzip erklärten die Verfassungsrichter, dass es in solchen Fällen „zu der rechtsstaatlich gebotenen Effektivität des Rechtsschutzes [gehört], daß er alsbald verwirklicht wird“.231 Trotz fehlender ausdrücklich textlicher Bezüge im Grundgesetz erkannte das BVerfG hiermit einen – wenn auch hinsichtlich der Be­ gründung nur vagen – im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Rechtssatz über einen alsbaldig zu verwirklichenden Rechtsschutz an. Substanzieller wird das BVerfG in der Entscheidung vom 12. 12. 1973232, welches eine längere Untersuchungshaft wegen kurzfristiger Überlastung des Gerichts be­ traf. Das Karlsruher Gericht leitete aus „der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 [GG] verankerten Rechtsstaatsprinzips ist“233, die Verantwortung des Staates gegenüber einem inhaftierten Beschuldigten ab, zu­ mutbare Maßnahmen zu treffen, um einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und bei Eintritt abzuhelfen.234 Der Staat könne sich gegenüber dem Inhaftierten nicht auf eine Überlastung stützen, wenn sie aus der staatlichen Sphäre stammt.235 228

Bien / Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (455); Brüning, in: Stern / Becker, GrundrechteKommentar, Art.19, Rn. 17; BeckOK, GG / Enders, Art. 19, Rn. 79; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  116–118; Heyde, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), HdVR, § 30, Rn. 50; Jarass, in: ders / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 66 f.; ebenda, Art. 20, Rn. 135, 144; P. Kirchhof, in: FS Doehring, 439 (448–452); Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 21; ebenda, § 177, Rn. 93; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19, Rn. 144; ebenda, Art. 20, Rn. 164; Schenke, in: BK, Art. 19 Abs. 4, Rn. 395, 691–694; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 262; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 64. 229 Dies umfasst allerdings auch den Rechtsschutz gegen strafrechtliche Ermittlungsmaß­ nahmen, in denen der Richter funktional wie eine Behörde agiert, s. Kap. 3 A. II. 230 BVerfGE 35, 382. 231 BVerfGE 35, 382 (405). 232 BVerfGE 36, 264. 233 BVerfGE 36, 264 (275). 234 BVerfGE 36, 264 (275). 235 BVerfGE 36, 264 (275).

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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Eine unangemessene lange Untersuchungshaft wegen staatlicher Versäumnisse könne den fortdauernde Freiheitsentzug nicht rechtfertigen.236 Nachdem das zeitliche Element eines Verfahrens zunächst primär an die Rechts­ staatlichkeit geknüpfte wurde, änderte sich dies mit einem Beschluss des BVerfG zum Rechtsschutz im Strafvollzug vom 28. 10. 1975237. Die angemessene Verfah­ rensdauer wurde – soweit ersichtlich – erstmalig als Konkretisierung des effek­ tiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG wahrgenommen. Soweit es um das verwaltungsrechtliche Vorverfahren ging, dürfe dieses nicht unangemessen lang sein und die Anrufung des Verwaltungsgerichts nicht „unzumutbar lange hinaus­ zögern“.238 Das Verfassungsgericht folgerte, dass „eine Entscheidung durch die Gerichte noch ‚zur rechten Zeit erlangt‘ werden kann, […] eine wesentliche Be­ dingung für die Wirksamkeit des durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechts­ schutzes [ist]“.239 Im Anschluss an die Verurteilung der Bundesrepublik durch den EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer im Fall König240 formulierte erst der Dreierausschuss des Zweiten Senats241 und kurze Zeit später der Zweite Senat selbst im Fall Heß 1980242 die auch heute noch geltende Diktion der subjektiv-rechtlichen Konkreti­ sierung von Art. 19 Abs. 4 GG: „Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen.“243

Wie Steger244 zu Recht feststellt, hat das BVerfG mit den beiden Entscheidungen die bereits zuvor anklingende Kontrolle der fachgerichtlichen Verfahrensdauer un­ missverständlich bestimmt und erweitert.245 Die vorher kaum feststellbare Rezep­ tion des Komplexes der angemessenen Verfahrensdauer änderte sich spätestens mit

236

BVerfGE 36, 264 (274 f.). BVerfGE 40, 237. 238 BVerfGE 40, 237 (257). 239 BVerfGE 40, 237 (257); vgl. auch BVerfGE 46, 17 (28 f.). 240 EGMR, König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73. Ein Zusammenhang der Entscheidungen liegt nahe (Heyde, in: Benda / Maihofer / Vogel [Hrsg.], HdVR, § 30, Rn. 50; Sachs, ZRP 1982, 227 [231]; Schlette, 25, Fn. 36), allerdings hat sich das BVerfG bereits zuvor der Formel der „angemessenen Verfahrensdauer“ bedient, hierbei aber einen anderen Kon­ trollmaßstab angelegt (s. Kap. 2 A. II. 2.). 241 BVerfGE 54, 39 (41); vgl. auch Peukert, EuGRZ 1979, 261 (265 f.). 242 BVerfGE 55, 349. 243 BVerfGE 55, 349 (369). 244 Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 237 f. So bereits Ziekow, DÖV 1998, 940 (944). 245 So wird vor der Heß-Entscheidung von einer Beschränkung der Kontrolle auf extreme oder offenkundige Verschleppung ausgegangen (Jaeger, VBlBW 2004 128 [129]; Sachs, ZRP 1982, 227 [231]; Schlette, 25; jeweils unter Verweis auf BVerfGE 40, 237 [257], 17 [18 f.]). Dazu unten Kap. 2 A. II. 2. 237

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Kap. 2: Historischer Überblick 

dieser Entscheidung.246 In der nachfolgenden Rechtsprechung waren die Leitlinien der Heß-Entscheidung fortlaufend erkennbar.247 Resümierend war der Anspruch des Bürgers auf einen Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit in BVerfG-Entscheidungen aus den frühen 70er Jahren zunächst als objektiv-rechtliches rechtstaatlich gebotenes Prinzip ausgestaltet, welches je­ doch rasch eine subjektive Dimension – vermittelt durch Art. 19 Abs. 4 GG – an­ nahm. Der auch für den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch typische Satz, dass nur ein zeitlich angemessener Rechtsschutz auch tatsächlich effektiv ist und dass die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind, wurde maßgeblich durch die Heß-Entscheidung des BVerfG geprägt. 2. Der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Linie des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches in der BVerfGRechtsprechung lassen sich bis in die 1970er Jahre verfolgen.248 So entschied etwa das BVerfG am 21. 01. 1976, dass es ein Gebot des Rechtsstaatsprinzips sei, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege aufrechtzuerhalten.249 Gefolgt von der zent­ ralen Aussage: „Um diesem Gebot zu genügen, muß sichergestellt sein, daß ein Strafverfahren auch […] innerhalb angemessener Zeit zum Abschluss gebracht werden kann […].“250 Die Karlsruher Richter brachten damit zwar noch keinen subjektiven Anspruch auf Justizgewähr oder gar eines Anspruches auf ein Ver­ fahren innerhalb angemessener Zeit in Stellung, ordneten ein zeitliches Element zumindest der objektiven Dimension des Rechtstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) zu, aus welchem sich der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch speist. Die zü­ gige Durchführung des Verfahrens als Teil einer funktionstüchtigen – und damit effektiven – Strafrechtspflege wurde hiermit frühzeitig ins Auge gefasst.251 Aller­ dings noch nicht als Teilaspekt eines individuellen Anspruches des Bürgers gegen den Staat, der einer möglichen Kontrolle durch das Verfassungsgericht unterlag. Diese Subjektvierung des objektiv-rechtlichen Gebots vollzog das BVerfG durch die Verknüpfung des Rechtstaatsprinzips mit Art. 2 Abs. 1 GG.252 Karls­ 246

Vgl. Schlette, 25, Fn. 36. Ziekow, DÖV 1998, 940 (944) sprach von einer „Trendwende“. S. etwa BVerfGE 60, 253 (269); 93, 1 (13); 122, 248 (279); ferner BVerfGE 88, 118 (124). Vgl. im Übrigen die Entscheidungen der Kammern in Fn. 279. 248 S. auch den angesprochenen Beschluss (BVerfGE 36, 264). 249 BVerfGE 41, 246 (250). 250 BVerfGE 41, 246 (250), Herv. d. Verf. 251 S. zum Beschleunigungsgebot im Strafverfahren auch BVerfGE 130, 1 (26). 252 BVerfGE 38, 105 (111); 53, 115 (127); 57, 250 (274); 78, 123 (126); 80, 103 (107); 88, 118 (123); 93, 99 (107); 107, 395 (401); 122, 248 (279); Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 25; Peukert, EuGRZ 1979, 261 (265); Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 27. Sofern es um freiheitsentziehende Maß­ nahmen (in Zusammenhang mit Strafprozessen) geht, wird Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG herangezogen (vgl. etwa BVerfGE 57, 250 [275]; BVerfG [Kammer], Beschluss v. 13. 09. 2010 – 2 BvR 449/10, BeckRS 2010, 53175; Beschluss v. 09. 10. 2014 – 2 BvR 2874/10, BeckRS 2014, 59304, Rn. 14). 247

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

65

ruhe sieht die Ausstrahlungskraft der rechtsstaatlichen Ordnung nicht nur in den Verfahrensgrundrechten der Art. 19 Abs. 4, 103 GG ausgeformt, sondern auch in anderen materiellen Grundrechten.253 Dem Bürger stünde daher ein „substan­ tieller Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“254 zu. Die Grundlagen der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten spricht des Weiteren der Beschluss des Plenums vom 11. 06. 1980255 an: Dem Rechtsstaatsprinzip entspringt gerade die Pflicht des Staates auch für Streitigkeiten der Bürger untereinander einen wirkungsvollen Rechtsschutz durch einen Richter zu ermöglichen.256 Für die Bürger gilt ein grundsätzliches Selbsthilfe­ verbot und innerstaatliches Gewaltverbot, welche zum staatlichen Gewaltmonopol korrespondieren.257 Auf diesen Grundlagen wird die Gerichtsbarkeit – wie es das BVerfG formuliert258 – ausgeprägt. Mit anderen Worten wird die Legitimität von Gerichten als verbindliche Streitschlichtungsinstitutionen, die mit entsprechenden Durchsetzungsmechanismen ausgestattet sind, manifestiert. Die Pflicht zur Jus­ tizgewähr durch die Gerichtsbarkeit ist daher als Kehrseite des innerstaatlichen Gewaltverbots und vom staatlichen Gewaltmonopol zu sehen.259 Zurückkommend auf die angemessene Verfahrensdauer als Bestandteil des allgemeinen Justizgewähranspruches finden sich in weiteren Judikaten zentrale Aussagen.260 So ordnet das BVerfG die Pflicht des Gerichts, innerhalb eines be­ stimmten, nicht überlangen Zeitraumes zu entscheiden, dem Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG)261 sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit262 zu. Entscheiden die Gerichte ent­ gegen dieser rechtsstaatlichen Vorgaben nicht in angemessener Zeit, so handeln sie verfassungswidrig.263

253

BVerfGE 53, 115 (127); 57, 250 (274 f); 107, 395 (406 f.). S. zum Rechtsstaatsprinzip als „Leitidee“ des Grundgesetzes BVerfGE 45, 187 (246) m. w. N. 254 BVerfGE 53, 115 (127 f.). 255 BVerfGE 54, 277. 256 BVerfGE 54, 277 (291 f.). Vgl. auch BVerfGE 74, 228 (234); 85, 337 (345); 88, 118 (123); 97, 169 (185); 107, 395 (406 f.). 257 Vgl. auch BVerfGE 54, 277 (292); 144, 20 (Rn. 547). 258 BVerfGE 54, 277 (292): „So ist es ein zentraler Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigen­ mächtige gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zwischen Privaten grundsätzlich zu verwehren. Die Parteien werden auf den Weg vor die Gerichte verwiesen. Dort sollen sie ihren Streit in einem geordneten Rechtsgang gewaltlos austragen und eine verbindliche Ent­ scheidung erwirken. In der Gerichtsbarkeit prägen sich innerstaatliches Gewaltverbot und staatliches Gewaltmonopol aus.“ 259 BVerfGE 54, 277 (292); 141, 121 (Rn. 44); Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 1; 7 f.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 162; Schlette, 23; Schmidt-Aßmann, in: HStR II, § 26, Rn. 71; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 16; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 1, 27. S. zum Bürgerfrieden und Gewaltmonopol des Staates auch Isensee, in: HStR II, § 15, Rn. 82–97. 260 Vgl. BVerfGE 63, 45 (69); 82, 126 (155); 88, 118 (123 f.); 122, 248 (279 f.). 261 BVerfGE 82, 126 (155). 262 BVerfGE 88, 118 (124). Auch in diese Richtung gehend BVerfGE 122, 248 (279). 263 BVerfGE 82, 126 (155).

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass – wie bei Art. 19 Abs. 4 GG – sich der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer aus der objektiven Kom­ ponente des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelte und durch die Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG subjektiviert und für den Einzelnen rügefähig wurde. Der Anspruch des Bürgers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG auf eine Justizgewähr inkludiert somit einen effektiven Rechtsschutz, der sich durch das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer auszeichnet. Die Deduktion des Anspruches verlief somit ähnlich wie bei Art. 19 Abs. 4 GG. 3. Die Ausfüllung des Merkmals der „Angemessenheit der Verfahrensdauer“ durch die (Kammer-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Dementsprechend überrascht es nicht, dass die beiden Garantien des effektiven Rechtsschutzes in ihrem „Kerngehalt“ gleich gestaltet sind.264 Beide Grundrechte statuieren  – wie gezeigt  – einen Anspruch auf eine angemessene Verfahrens­ dauer im gerichtlichen Verfahren, so dass jedenfalls diese Teilgarantie als weit­ gehend identischer Kern beider Bestimmungen anzusehen ist.265 Hauptsächlich in ihrer Einschränkbarkeit unterscheiden sich die Grundrechte, da Art. 2 Abs. 1 GG im Gegensatz zu Art. 19 Abs. 4 GG mit einen Schrankenvorbehalt  – die sog. Schranken­trias266 – belastet ist. Aufgrund ihrer beträchtlichen Kongruenz erscheint es sinnvoll, fortlaufend die verfassungsgerichtlichen Kriterien zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht gesondert zum jeweiligen Grundrecht, sondern für beide zusammen darzustellen. Zumal das BVerfG die Kriterien nicht nach der grundrechtlichen Anspruchsgrundlage differenziert. Während die Postulierung des Anspruches auf ein Verfahren in angemessener Dauer sich auf der Ebene der Senate des BVerfG vollzog, erfolgte deren Konkre­ tisierung und Entwicklung in den Kammern. Insbesondere der ausfüllungsbedürf­ tige Rechtsbegriff der „Angemessenheit der Verfahrensdauer“ wurde präzisiert. Anstatt starre zeitliche Grenzen zu ziehen, erkannte man, dass es auf die Beson­ derheiten des einzelnen Falles ankommt, um die Angemessenheit bestimmen zu können.267

264

Ausdrücklich in der Plenarentscheidung v. 30. 04. 2003, BVerfGE 107, 395 (403); ähnlich bereits BVerfGE 74, 228 (234); 88, 118 (123); vgl. auch Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 16; Schmidt-Aßmann, in: HStR III, § 26, Rn. 74; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 27 f., 53 f. 265 So auch Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 54. Vgl. auch die Entscheidungen der Beschwerde­ kammer, welche den effektiven Rechtsschutz kongruent in Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verortet, BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021; Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 17. 266 Epping, Grundrechte, Rn. 570. 267 Grundlegend BVerfGE 55, 349 (369). S. auch BVerfG (Kammer) NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 334 (335).

A. Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverfassungsgerichts

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In diesem Zusammenhang wird vorgebracht, dass das BVerfG zunächst prüfe, ob sich der Prozess im Rahmen der durchschnittlichen Dauer vor dem jeweiligen Gerichtszweig bewegt.268 In der Tat hat das Verfassungsgericht in wenigen Fällen dies als Indiz für eine überlange Verfahrensdauer herangezogen.269 Allerdings muss man – aufbauend auf der Erkenntnis von Ziekow270 – dieses Kriterium als zirkel­ schlüssig bezeichnen. Denn wenn man auf die durchschnittliche Verfahrensdauer abstellt, diese allerdings – mangels ausreichender Ressourcen – durch Überlänge geprägt ist, so akzeptiert man letztlich verzögerte Verfahren als nicht verzögert.271 Selbst wenn noch keine überlange Durchschnittsdauer herrscht, so kann eine Orientierung hieran, im Falle zukünftiger sukzessiver Verzögerungstendenzen dazu führen, dass der Bereich der vermeintlich angemessenen Verfahrensdauer immer weiter ausgedehnt werden würde. Der Aussagegehalt der Methode ist daher arg begrenzt. So ist es begrüßenswert, dass das BVerfG die durchschnittliche Ver­ fahrensdauer gegenwärtig nicht als Indikator heranzieht, sondern auf eine außer­ gewöhnlich lange Verfahrensdauer als Indiz abstellt.272 Neben diesem Indiz stützt sich das Verfassungsgericht zur näheren Bestim­ mung der Angemessenheit vornehmlich auf folgende – denen des EGMR273 wei­ testgehend entsprechenden – Kriterien274: die Bedeutung des Rechtsstreits für die Beteiligten und die Auswirkung der Verfahrensdauer auf die Beteiligten275, die Natur des Verfahrens,276 die Komplexität des Falls277, das den Beteiligten zuzu­ ordnende Verhalten (insb. des Beschwerdeführers) sowie das dem Gericht nicht 268

So Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  116; Schu­ bert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 83 f.; Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 241; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 66, Ziekow, DÖV 1998, 941 (942). 269 Explizit in BVerfG (Kammer) NJW 1992, 1498; ähnlich BVerfGE 55, 349 (369). 270 Ziekow beschreibt das Problem der Methode darin, dass „daß die Heranziehung der durchschnittlichen (sic) Verfahrensdauer für die Ermittlung der zeitlichen Angemessenheit die Gewährung effektiven Rechtsschutzes in großem Maße ressourcenabhängig macht“ (Ziekow, DÖV 1998, 941 [942]). 271 Ähnlich Schubert, Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechts­ konvention für einen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren, 83 f., der ferner darauf hinweist, dass einer pauschalierten Betrachtung der Durchschnittsdauer der Bezug zur Ange­ messenheit des Einzelfalls fehlt. 272 Vgl. BVerfG (Kammer) NJW 2000, 797; NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 334 (335); NJW 2004, 835 (836); NJW 2008, 503 (504); NJW 2015 (2563); ferner NJW 2001, 216 (217). Vgl. auch Fn. 279. Das BVerfG geht damit in Richtung einer Evidenzkontrolle. 273 S. dazu oben Kap. 2 A. I. 1. und 3. 274 S. hierzu Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  116– 118. 275 BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967; BVerfG (Kammer) NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2000, 797; NVwZ 2004, 334 (335); NJW 2004, 835 (836); ferner BVerfGE 46, 17 (29). 276 BVerfG (Kammer), Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160. 277 BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967; BVerfG (Kammer) NJW 2000, 797; NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 271.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

zurechenbare Verhalten Dritter (insb. von Sachverständigen)278.279 Umstände, die der Staat selbst verursacht hat, kann er nicht zur Exkulpation der Unangemessen­ heit nutzen.280 Auch hat das erkennende Gericht die Gesamtverfahrensdauer, d. h. auch die in den Vorinstanzen zurückliegende Dauer, zu berücksichtigen und bei anhaltenden Verzögerungen Maßnahmen zur Beschleunigung zu treffen.281 Zur schlussendlichen Beantwortung der Frage, ob tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer vorlag, ist eine Gesamtabwägung der Kriterien im Einzelfall er­ forderlich.282 4. Zusammenfassende Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes lässt sich als Kern des Rechtstaats­ prinzips bezeichnen.283 Dessen Teilkonkretisierung, die angemessene Verfahrens­ dauer, wird dem Bürger im Rahmen seines Anspruches auf Justizgewähr im All­ gemeinen (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie im Besonderen (Art. 19 Abs. 4 GG) zuteil. Die Responsivität Karlsruhes für Entscheidungen des EGMR dürfte dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben.284 Es hat sich gezeigt, dass beide Rechte in ihrem Wesenskern identisch sind und so für die weitere Arbeit weitgehend einheitlich behandelt werden können, jedenfalls die entwickelten Krite­ rien zur Bemessung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer gelangen in beiden Konstellationen zur Anwendung.285 Solch eine Konkordanz zeigt sich nicht nur innerhalb der Grundrechte des Grundgesetzes. Vielmehr entsprechen die Kriterien, die das BVerfG nutzt, weitest­ 278

BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 471. Insgesamt BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NZS 2010, 381 (382); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 1984, 967; NVwZ 2013, 789 (780); NJW 2013, 2341 (2341 f.); NJW 2015, 3361 (3362); NJW 2016, 2021; Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 18; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 9; dazu bereits BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967. 280 BVerfGE 36, 264 (275); BVerfG (Kammer) NVwZ 2004, 334 (335); NZS 2010, 381 (382); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; BVerfG (Beschwerde­ kammer), Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 18. 281 BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NZS 2010, 381 (382); NVwZ-RR 2011, 625 (626); BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2022). 282 Vgl. grundlegend BVerfGE 55, 349 (369) sowie BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NJW 2008, 503; NVwZ-RR 2011, 625 (626); NZG 2012 345 (346); BVerfG (Beschwerdekam­ mer) NJW 2016, 2021 (2022). 283 Das BVerfG sieht die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4) gar als integrationsfesten Kern des Grundgesetzes an, BVerfGE 149, 346 (363), dazu Gärditz, EuGRZ 2018, 530, (531–535). 284 Jedenfalls zeugen die entsprechenden BVerfG-Entscheidungen von einer Einbindung der EGMR-Judikatur. 285 S. Näheres zum Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG in Kap. 3 A. II. und B. II. 279

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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gehend denen des EGMR.286 Das Schutzniveau von Grundgesetz und Menschen­ rechtskonvention ist damit – jedenfalls in der Theorie – gleichwertig.

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  Der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer ergibt sich zwar originär aus dem deutschen Verfassungsrecht sowie der Europäischen Menschenrechtskon­ vention, bedarf allerding zur Entfaltung seiner tatsächlichen Durchschlagskraft einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber. Zwar sind die Gerichte unmittelbar an das geltende Verfassungsrecht und damit an das Gebot des effekti­ ven Rechtsschutzes gebunden. Dennoch zeigt sich, auch anhand der Fallzahlen in Karlsruhe und Straßburg,287 dass es oftmals nicht gelang bzw. gelingt, ein Verfah­ ren in angemessener Zeit zu beenden. Vielmehr bedurfte es einer Gestaltung der Prozessordnungen, um Sanktionsmechanismen, d. h. abwehrdimensionale Maß­ nahmen und / oder auf Kompensation gerichtete Anspruchsgrundlagen, zu schaf­ fen, welche die vom EGMR erstmals in der Rechtssache Sürmeli288 identifizierte Rechtsschutzlücke der deutschen Rechtsordnung schließen.

I. Anfängliche Debatte nach der Kudła-Entscheidung Mit der Verurteilung Polens im Jahr 2000 vollzog der EGMR eine Wende in sei­ ner Rechtsprechung.289 Die Kudła-Entscheidung290 wirkte zwar nur inter partes für die am Verfahren beteiligte Republik Polen (vgl. Art. 46 Abs. 1 EMRK).291 Freilich hatte die ausdrückliche Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung und Neujustierung des Verhältnisses von Art. 6 und Art. 13 EMRK eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus. Denn das Problem der überlangen Verfahrensdauer beschränkte (und be­ schränkt) sich nicht nur auf Polen, sondern auf eine Vielzahl von Konventionsstaa­ ten, so dass diese – auch um einer möglichen Verurteilung durch den Gerichtshof zu entgehen – sich auch ohne unmittelbare de jure Bindung an der Linie des KudłaUrteils orientierten (Orientierungswirkung oder „quasi erga omnes-Effekt“292).293 286 Umso mehr erstaunt es, dass beide – wie etwa im Fall Kuppinger – zu verschiedenen Er­ gebnissen gelangen. 287 S. zu den Fällen des BVerfG Kap. 2 II.; s. für den EGMR die Entscheidung Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 64–70. 288 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, s. dazu Kap. 2 A. I. 10. 289 Dazu bereits Kap. 2 A. I. 7. 290 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96. 291 Vgl. Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 31, 43; HK-EMRK / MeyerLadewig / Brunozzi, Art. 46, Rn. 13 f. 292 Keller / Kühne, ZaöRV 76 (2016), 245 (284 f.); Ress, ZaöRV 64 (2004), 621 (630 f.). 293 Vgl. Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 45; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 16, Rn. 8 f.; Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  2, Rn.  73; HKEMRK / Meyer-Ladewig / Brunozzi, Art. 46, Rn. 15 f.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

So blieb das Bundesministerium der Justiz nicht untätig und untersuchte, ob die deutsche Rechtsordnung den aktualisierten Straßburger Maßstäben genügte.294 An der Debatte zu einem neuen Rechtsbehelf nahm das BVerfG mittelbar mit der wegweisenden Plenarentscheidung vom 30. 04. 2003295 teil, als dass es das Axiom des Art. 19 Abs. 4 GG, wonach dieser „Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter gewährt“296, unangetastet ließ, allerdings mittels dem allgemei­ nen Justizgewährleistungsanspruch Rechtsschutz gegen den Richter eröffnet, so­ weit dies aus rechtsstaatlicher Sicht geboten erscheint.297 So müssen Verletzungen von Verfahrensgrundrechten durch die Judikative – wie im Streitfall die gerügte Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG – durch entsprechende Rechtsbehelfe korrigiert werden können.298 Zur Geltendmachung eines Verstoßes hat der Gesetzgeber die Verfahrensordnungen anzupassen und unter Abwägung von effektiven Rechts­ schutz einerseits und dem Prinzip der Rechtssicherheit andererseits die erforder­ lichen Rechtsschutzinstrumente zu kreieren.299 Die im Anschluss an den Beschluss aufgekommene Debatte in der Literatur und der Gesetzgebung beschränkte sich nicht nur auf das Grundrecht des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), sondern hatte Ausstrahlungskraft auf die Effektivierung aller Verfahrensgrundrechte.300 Dementsprechend erwog das BMJ ein Gesetz zur allgemeinen Stärkung der Ver­ fahrensrechte samt Untätigkeitsbeschwerde zu erlassen.301 Aufgrund des nahenden Ablaufs der vom BVerfG gesetzten Frist302 nahm man von solch einer Ausweitung des Rechtsbehelfssystems Abstand und schuf stattdessen die Anhörungsrüge303, die lediglich eine Lösung für die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG bietet.304

294

Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 66–68. S. zum Austausch des BMJ mit verschiedenen Interessens­ verbänden und Institutionen, ebenda, Rn. 69–100. 295 BVerfGE 107, 395. 296 BVerfGE 107, 395 (403) m. w. N. 297 BVerfGE 107, 395 (407). 298 Vgl. BVerfGE 107, 395 (407). 299 BVerfGE 107, 395 (408). 300 Vgl. Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren, Einführung, Rn. 105 m. w. N. Hervorzuheben ist Redeker, NJW 2003, 2956 (2957 f.), der mit Blick auf die Kudła-Entscheidung den Schluss zieht, dass eine reaktionslose Hinnahme von gerügten Verletzungen des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer zu einer vergleichbaren BVerfG-Entscheidung führen werde, d. h. die Installation eines Rechts­ behelf geboten ist. 301 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 107. 302 BVerfGE 107, 395 (418); ferner 108, 341 (350). 303 Etwa die § 321a ZPO, § 33a StPO, § 78a ArbGG, § 152a VwGO, § 178a SGG, § 133a FGO eingeführt durch das G. über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) v. 09. 12. 2004, BGBl. 2004 I, 3220. 304 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 108–113. S. zum Verzicht auf weitere Regelung die Begründung des Regierungsentwurfs, BR-Drucks. 663/04, 33.

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

71

II. Der Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes Im Jahr 2005 erarbeitete das BMJ einen Referentenentwurf für ein Untätig­ keitsbeschwerdengesetz305. Ein Anliegen des federführenden Bundesministeriums war die Schaffung eines rein präventiven Rechtsbehelfs, welcher im Falle unzurei­ chender Prozessförderung innerhalb einer angemessenen Frist beim iudex a quo erhoben werde sollte (§ 198 Abs. 1, 2 GVG-E).306 Über die Verweisungsnormen der jeweiligen Verfahrensordnungen wäre die Anwendbarkeit des Rechtsbehelfs neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch in der Finanz-, Verwaltungs- und ­Sozialgerichtsbarkeit gewährleistet gewesen.307 Von einer Erstreckung auf Verfah­ ren vor dem BVerfG sah das Gesetz ab, obwohl Art. 6 Abs. 1 EMRK nach ständiger Rechtsprechung308 auch die Verfassungsgerichte der Konventionsstaaten adres­ siert.309 Über die Verweisungsnorm des § 17 BVerfGG wäre keine entsprechende Anwendung der Untätigkeitsbeschwerde möglich gewesen, da sie ausdrücklich nur auf die Vorschriften der Titel 14 bis 16 des GVG verweist; indes gerade nicht auf den geplanten Titel 17 über die Untätigkeitsbeschwerde. In die Finalisierungsphase des Entwurfs über ein Untätigkeitsbeschwerde fiel das Urteil der Großen Kammer des EGMR in der Sache Sürmeli v. Germany vom 08. 06. 2006310.311 Der EGMR bezeichnete einerseits das deutsche Rechtsschutzsys­ tem de lege lata bezüglich der Beschwerdemöglichkeit von Verletzung des Art. 6 EMRK als ineffektiv, begrüßte andererseits den dem Gerichtshof vorgelegten Gesetzesentwurf zur Untätigkeitsbeschwerde.312 Dabei wurde insbesondere die Entscheidung für eine präventive Lösung gelobt.313 Im Vertrauen auf den viel ver­ sprechenden Gesetzesentwurf sah der EGMR von weiteren allgemeinen Vorgaben zur Gestaltung der deutschen Rechtsordnung ab.314 305

Gesetzesentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbe­ helfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren (Untätigkeitsbe­ schwerdengesetz), Stand 22. 08. 2005, abrufbar unter http://www.gesmat.bundesgerichtshof. de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwerde/gesetzentwurf_22_08_05.pdf, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020, zudem abgedruckt in Steinbeiß-Winkelmann / Ott (Hrsg.), Rechts­ schutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Anhang 3. 306 Eingehend zur beabsichtigten Funktionsweise Roller, DRiZ 2007, 82–87. 307 Generalverweisungsnormen: § 155 FGO, § 202 SGG, § 173 VwGO. Inwiefern die Untätig­ keitsbeschwerde in der Arbeitsgerichtsbarkeit zu tragen gekommen wäre, bleibt in Ermange­ lung einer Generalverweisung fraglich. Regelungen wie § 9 Abs. 2 ArbGG verweisen lediglich partiell auf bestimmte Vorschriften des GVG. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit (inkl. der FamG) hätte sich die Anwendung aus § 2 EGGVG a. F. sowie § 8 FamFG-E ergeben. 308 S. dazu oben Kap. 2 A. I. 3. die Rechtsprechungslinien des EGMR seit der DeumelandEntscheidung. 309 Dazu auch Roller, DRiZ 2007, 82 (83); Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechts­ schutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 277; Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 310 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01. 311 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 179. 312 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 138. 313 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 138. 314 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 139.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

Trotz dieses Urteils wurde nicht nur seitens der Verbände, sondern auch im parlamentarischen Raum die Notwendigkeit eines Rechtsbehelfs weiterhin in Frage gestellt.315 Die Ablehnung im Bundestag hemmte die Einleitung des Gesetz­ gebungsverfahrens durch die Bundesregierung, welche nach weiterer Debatte den Entwurf über ein Untätigkeitsbeschwerdengesetz letztlich verwarf.316

III. Ein neuer legislativer Ansatz: Schwerpunktmäßige Kompensationslösung Da der konventionswidrige Zustand weiterbestand, einigte man sich im Zuge einer Neuausrichtung zunächst auf ein Eckpunktepapier, aus dem ein Referenten­ entwurf entstand, welcher der heutigen Lösung bereits stark ähnelte.317 Man ver­ schob dabei den Schwerpunkt von einer reinen Präventivlösung zu einem kompen­ satorischen Rechtsbehelf, dem eine Verzögerungsrüge als präventives Instrument vorgeschaltet sein soll. Anders als beim Untätigkeitsbeschwerdengesetz beab­ sichtigte die Regierung, den Rechtsbehelf – aus konventionsrechtlicher Geboten­ heit318 – auch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zu erstrecken. 1. Die Beteiligung des Bundesverfassungsgerichts an der Ausarbeitung der §§ 97a ff. BVerfGG-E Angesichts des Prinzips der Verfassungsorgantreue319 stimmte sich die Bun­ desregierung vor Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs mit dem BVerfG ab. Mit der – bisher unveröffentlichten – Plenarentscheidung vom 10. 03. 2010320 nahm das BVerfG zum Gesetzgebungsverfahren Stellung. Das Verfassungsgericht nahm hin­ sichtlich der Einbeziehung in das Rechtsbehelfssystem eine zurückhaltende Posi­ tion ein. Begründet wurde dies vornehmlich mit den Aufgaben und der Funktion des BVerfG als Verfassungsinterpret, dessen Entscheidungen über den Einzelfall hinaus Geltung entfalten.321 Im Bewusstsein der völkerrechtlichen Pflichten der 315

Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 188 m. w. N. 316 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfah­ ren, Einführung, Rn. 188, 200–212, unter Verweis auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP, BT-Drucks. 16/7655, 4, Antwort zu Frage 12. 317 Eingehend zur Entwicklung und zu den Eckpunkten Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 190–296. 318 S. dazu die Rechtsprechung des EGMR Kap. 2 A. I. 319 Zur Verfassungsorgantreue im Allgemeinen: Klein, in: HStR XII, § 279, Rn. 18–20. Zum Verfassungsorgantreueverhältnis zwischen dem BVerfG einerseits und der Bundesregierung sowie dem Bundesgesetzgeber andererseits: Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2217 f.). 320 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010 (unveröffentlicht). 321 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht).

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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Bundesrepublik und seiner Verantwortung als Verfassungsorgan gegenüber dem Gesamtstaat verschloss sich das Verfassungsgericht indes nicht einer gesetzlichen Regelung,322 sondern gestaltete diese stattdessen aktiv mit, indem es „Eckpunkte“ vorschlug. Die von den Verfassungsrichtern erarbeiteten Vorschläge finden sich nahezu alle in den heutigen §§ 97a ff. BVerfGG wieder. Ein wesentlicher Punkt war dabei die Schaffung eines autonom geregelten, verfassungsgerichtsinternen Verfahrens, welches von einer senatsparitätisch besetzten Beschwerdekammer unanfechtbar durchgeführt wird, so dass die Verfahrensdauer vor dem BVerfG nicht durch ein anderes Gericht – etwa durch ein OLG oder den BGH – überprüft wird.323 In materieller Hinsicht begrüßten die Verfassungsrichter, dass keine Beschleu­ nigungslösung, sondern eine „Entschädigungs- und Feststellungslösung“ gewählt wurde.324 Hinsichtlich der Bemessung der „unangemessenen Verfahrensdauer“ betonte das BVerfG – unter Verweis auf die Straßburger Judikatur –, dass seiner besonderen Stellung als Hüter der Verfassung Rechnung getragen werden müsse, so dass der Rechtsbehelf dahingehend auszugestalten ist, als dass er „justizorga­ nisatorische Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung nur begrenzt zulässt und dem Gericht einen weiten Spielraum bei der Entscheidung über die Reihenfolge in der Bearbeitung der Fälle einräumt“325. Weiter führte das Plenum zur Statthaftigkeit des geplanten Rechtsbehelfs aus, dass dieser ausdrücklich nicht nur in den von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfassten Ver­ fahren statthaft sein sollte, sondern alle verfassungsgerichtlichen Verfahren ad­ ressieren solle.326 Die dahinterstehende Intention war, dass potentielle Konflikte zwischen Karlsruhe und Straßburg um die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vermieden werden könne. Im Übrigen sei die Eröffnung des Anwendungsberei­ ches von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht immer klar und unterliege aufgrund der dy­ namischen Auslegung durch den EGMR einem stetigen Wandel. Auch sollte eine prozessrechtliche Ungleichbehandlung vermieden werden.327 Insgesamt zeigt sich das BVerfG mit der vorgeschlagenen Lösung in Grundzü­ gen zufrieden. Allerdings unterstrich das Gericht in der Plenarentscheidung seine Autonomie sowie seine Stellung als Verfassungsorgan und zugleich als autorita­ tiven Interpreten des Grundgesetzes, weshalb aus seiner Sicht gewisse Modifi­ kationen in organisatorischer, prozessualer und materieller Hinsicht notwendig 322

BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2 (unveröffentlicht). BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2–4, 9 (unveröffentlicht). 324 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 4 f. (unveröffentlicht), in dem sich die Verfassungsrichter gegenüber einem im Sürmeli-Urteil als „beste Lösung“ bezeichneten Be­ schleunigungsrechtsbehelf äußerst skeptisch zeigen. 325 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 5 (unveröffentlicht). 326 S. zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Verfahren vor dem BVerfG Kap. 3 A. I. 2. c). 327 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 6 f. (unveröffentlicht). 323

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Kap. 2: Historischer Überblick 

waren. Diese „Eckpunkte“ gestalteten maßgeblich die §§ 97a ff. BVerfGG in ihrer heutigen Fassung mit, weshalb der Beschluss für die Interpretation der Vorschrif­ ten von zentraler Bedeutung ist. 2. Weitere Entwicklungen bis zur Initiierung des Gesetzgebungsverfahrens Neben der Beteiligung des Verfassungsgerichts wurde der erarbeitete Referen­ tenentwurf im Frühjahr 2010 an die Obersten Gerichtshöfe des Bundes und die Generalbundesanwaltschaft, die Landesjustizverwaltungen sowie den Interessen­ verbänden von Richter- und Anwaltschaft zugeleitet. Anders als beim Anlauf zum Untätigkeitsbeschwerdengesetz zeigten sich die Akteure mit dem vornehmlich kompensatorischen Rechtsbehelf im Grundsatz zufrieden.328 Die partiell geäußerte Kritik wurde aufgegriffen und schlug sich nicht nur in den §§ 198 ff. GVG, sondern auch in den ähnlich ausgestalteten §§ 97a ff. BVerfGG wieder.329 Das Beteiligungs­ verfahren endete mit der Annahme des Gesetzesentwurfs am 28. 08. 2010 durch einen Kabinettsbeschluss der Bundesregierung.330 Währenddessen hatte sich auf der europäischen Ebene die Lage bereits zuge­ spitzt: Die ständigen Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 13 EMRK kulminierten in der dargestellten Sache Rumpf v. Germany331 zu einer Pilot­ entscheidung des Gerichtshofs. Da eine fortdauernde legislative Zurückhaltung aus menschenrechtlicher Perspektive nicht weiter hinzunehmen war, setzte der Gerichtshof der Bundesrepublik eine Jahresfrist zur Schaffung eines effektiven Rechtsbehelfs.332

328

Eingehend zu den Stellungnahmen Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechts­ schutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 297–312; vgl. auch Römer, MRM 2011, 74 (81 f.); Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207 f.). S. die Stellungnahmen des DRB https://www.drb.de/positionen/stellungnahmen/stellungnahme/news/2310/, zuletzt ge­ öffnet am 05. 12. 2020. Grundsätzlich befürwortend, aber auch kritisch, die Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) https://anwaltverein.de/de/newsroom/id-2010-26?file=files/ anwaltverein.de/downloads/newsroom/stellungnahmen/2010/Stellungnahme26-10.pdf, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 329 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 313–327. Dies betraf etwa Änderungen auf Rechtsfolgenseite, wie die pauschalierte Berechnung des immateriellen Schadensersatzes von 1200 € pro Jahr anstelle des (vermeintlich exakten) Satzes von 100€ pro (Verzögerungs-)Monat. 330 Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, Einführung, Rn. 335. 331 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, dazu Kap. 2 A. I. 12. 332 Vgl. EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, Rn. 73.

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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IV. Das Gesetzgebungsverfahren des ÜGRG 1. Initiierung und Stellungnahme des Bundesrates Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung wurde zunächst dem Bundesrat zugeleitet.333 Dieser stimmte der Idee eines Kombinationsrechtbehelfs, dessen Schwerpunkt in der Kompensation liegt, grundsätzlich zu. Die Vertreter der Län­ der kritisierten allerdings die finanzwirksame Komponente des Entwurfs, die sich vornehmlich auf ihre Haushalte auswirke. So regte der Bundesrat etwa die Be­ grenzung der Entschädigung auf eine lediglich „angemessene Entschädigung“334 oder die Streichung der Vermutungsregelung für immaterielle Nachteile335 an.336 Auffälligerweise beschränkte sich der Bundesrat in seiner Kritik auf die Regelun­ gen der §§ 198 ff. GVG-E;337 außenvorgelassen wurden die parallel ausgestalteten Regelungen des §§ 97a ff. BVerfGG-E.338 Dementsprechend wird auf die korres­ pondierende Gegenäußerung der Bundesregierung339 zur Kritik an den §§ 198 ff. GVG-E an dieser Stelle lediglich hingewiesen.340 2. Beratungen im Bundestag, insbesondere im federführenden Rechtsauschuss Der Bundestag überwies in seiner Ersten Lesung den Gesetzesentwurf am 20. 01. 2011341 an den Innenausschuss sowie den federführenden Rechtsausschuss. Letzterer nahm zur weiteren Vorgehensweise Stellungnahmen von Sachverständi­ gen entgegen und führte am 23. 03. 2011 eine öffentliche Anhörung hierzu durch.342 Die meisten Experten betonten die konventionsrechtliche Notwendigkeit und 333

S. BR-Drucks. 540/10. BR-Drucks 540/1/10, 3 f. 335 BR-Drucks 540/1/10, 6. 336 Zusammenfassend Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 342–345. 337 S. BR-Drucks 540/1/10, 1–12 sowie BRat-Prot. 875, 377B–378D. 338 Der Bundesrat schien vor allem in Sorge um Maßnahmen zu sein, die die Haushalte der Länder belasten könnten (s. die Stellungahme des Bundesrates [BT-Drucks. 17/3802, Anlage 3, 39]; hierzu Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott [Hrsg.], Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren, Einführung, Rn. 341 f., 345). Dementsprechend wurden ausschließlich die §§ 198 ff. GVG-E kritisiert, welche vornehmlich die von den Ländern eingerichteten Gerichte betrafen. Hingegen treffen finanzwirksame Regelungen im BVerfGG den Haushalt des BVerfG als Teil des Bundeshaushaltes (vgl. zum BVerfG-Haushalt E. Klein, in: Benda / K lein, Verfas­ sungsprozessrecht, Rn. 123). 339 BT-Drucks. 17/3802, Anlage 4, 40 ff. 340 Dazu Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren, Einführung, Rn. 343 f. 341 BT-Prot. 17/84, 949C. 342 Alle im Folgenden genannten Stellungnahmen und das Wortprotokoll der Anhörung sind abrufbar unter http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=5071&id=1223, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 334

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Kap. 2: Historischer Überblick 

befürworteten im Grundsatz den erarbeiteten Lösungsvorschlag. Lediglich hin­ sichtlich einzelner Punkte (z. B. bzgl. des Umfangs und des Inhalts des Entschädi­ gungsanspruches oder der Zuständigkeitsverteilung) gab es Kritik.343 Vornehmlich drehte sich die Debatte um die §§ 198 ff. GVG-E, so dass nur gelegentlich auf die §§ 97a ff. BVerfGG-E Bezug genommen wurde.344 So begrüßte die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) die Anwendbarkeit des neuen Rechtsbehelfs auf verfassungsgerichtliche Verfahren. Das positive Bild des BVerfG werde in Fällen von überlanger Verfahrensdauer – insbesondere bei begrün­ dungsarmer oder begründungsloser Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde – getrübt. So seien auch unter dem Eindruck seiner besonderen Stellung und sei­ ner Arbeitslast Verfahren mit einer jahrelangen „Liegezeit“ nicht hinnehmbar.345 Die besondere Zuständigkeit einer einzurichtenden Beschwerdekammer am BVerfG nach § 97b  BVerfGG-E wurde teils befürwortet346; teils als unnötig347 abgelehnt. Stattdessen wurde angeregt, an der einheitlichen erstinstanzlichen Zu­ ständigkeit der Landgerichte348 festzuhalten.349 Bei Rechtsbehelfen gegen die dritte Gewalt sollten keine anderen Maßstäbe gelten als bei Verfahren, die gegen die Exekutive gerichtet sind. Hieraus resultierend seien keine Sonderlösungen für das BVerfG oder die obersten Bundesgerichte nötig.350 Die Beschlussempfehlung und der Bericht des Rechtsausschusses befürworteten auf Grundlage der Sachverständigenanhörung, der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung die Änderung einiger Passagen des Gesetzesentwurfs.351 Ein deutlicher Unterschied ergab sich durch die Einfügung von „angemessen“ vor dem Wort „entschädigt“ in § 198 Abs. 1 GVG-E sowie § 97a Abs. 1 BVerfGG-E.352 Hiermit beabsichtigte der Rechtsausschuss den Haftungsum­ fang für materielle Schäden zu begrenzen. Nach seiner Ansicht harmonisiere ledig­ lich eine angemessene Entschädigung mit dem überkommenen System der staat­ lichen Haftung: Während die Amtshaftung (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG), die tatbestandlich an ein Verschulden des Amtsträgers anknüpft, einen Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB gewährte, sei bei verschuldensunabhängigen Haftungstatbeständen eine Begrenzung auf eine angemessene Entschädigung – in 343

Zusammenfassend Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 348–354. 344 Auf beide allgemein eingehend die Stellungnahme von Univ.-Prof. Dr. Michael Brenner vom 22. 03. 2011, insb. 3. 345 Stellungname der Bundesrechtsanwaltskammer vom März 2011, BRAK-StellungnahmeNr. 18/2011, 13. 346 Stellungnahme von RiAG Dr. Ulf Kämpfer vom 21. 03. 2011, 7. 347 Stellungnahme des Vizepräsidenten des AG Lübeck Carsten Löbbert vom 16. 03. 2011, 4. 348 In Anlehnung an § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG. 349 Stellungnahme des Vizepräsidenten des AG Lübeck Carsten Löbbert vom 16. 03. 2011, 4. 350 Stellungnahme des Vizepräsidenten des AG Lübeck Carsten Löbbert vom 16. 03. 2011, 4. 351 Zu den Ergebnissen und dem Diskussionsverlauf im Ausschuss Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 355–362. 352 BT-Drucks. 17/7217, 6, 8.

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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Anlehnung an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB – systemkonform.353 Die reduzierte Ersatz­ fähigkeit sei obendrein mit den Vorgaben des EGMR entsprechen des Grundsatzes des restitutio in integrum vereinbar.354 Darüber hinaus wurde empfohlen, die Bundesregierung aufzufordern, dass zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes der neue Rechtsbehelf, u. a. bezüglich des Umfangs des Entschädigungsanspruches, zu evaluieren sei.355 3. Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat Im Zuge der Zweiten und Dritten Lesung gingen im Plenum des Bundestages am 29. 09. 2011 die Abgeordneten der Fraktionen der CDU / CSU, SPD, FDP, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen auf die vom Rechtsausschuss behandel­ ten Punkte ein.356 Der Gesetzesentwurf wurde mit den Stimmen der damaligen schwarz-gelben Regierungsfraktionen und der SPD-Fraktion angenommen; bei Gegenstimmen der Linken sowie Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü­ nen.357 Die gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 25, Abs. 2 GG erforderliche Zustimmung des Bundesrats erfolgte am 14. 10. 2011.358 Das ÜGRG wurde am 02. 12. 2011 verkün­ det359 und trat am darauffolgenden Tag in Kraft.360

V. Der Evaluationsbericht der Bundesregierung 1. Evaluierungsauftrag Zusammen mit dem Gesetzesbeschluss forderte der Bundestag die Bundesre­ gierung auf:361 „Die Erfahrungen mit der Anwendung des Gesetzes sind nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten zu evaluieren und dem Deutschen Bundestag ist auf dieser Grund­ 353

BT-Drucks. 17/7217, 3, 23, 27 f. Vgl. dazu auch die Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 17/3802, Anlage 3, 34. 354 BT-Drucks. 17/7217, 28. 355 BT-Drucks. 17/7217, 3 f. 356 BT-Prot. 17/130, Anlage 11 zu TOP 13, 15469C–15474B. 357 BTag-Prot. 17/130, 15348D. 358 BRat-Prot. 888, 485B. Anders als vom BR-Rechtsausschuss empfohlen (s. BRat-Drucks.  587/1/11) rief der Bundesrat – aufgrund vorgegangener politischer Absprachen – nicht den Vermittlungsausschuss an, hierzu eingehend Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 367–375. 359 BGBl. 2011 I, 2302. 360 Vgl. Art. 24 des ÜGRG. Das Gesetz trat damit einen Tag nach Ablauf der vom EGMR gesetzten Jahresfrist in Kraft. 361 BTag-Prot. 17/130, 15348D.

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Kap. 2: Historischer Überblick  lage unverzüglich Bericht zu erstatten. Im Rahmen der Evaluierung und des Berichts ist zu prüfen und zu erläutern, ob der Umfang des Entschädigungsanspruchs für materielle Nachteile sowie die Anforderungen an den Nachweis der Kausalität bei materiellen Schäden dem Haftungsgrund sowie den Belangen der Betroffenen angemessen Rechnung tragen.“362

Zusätzlich zu diesem Evaluationsauftrag verpflichtete sich die Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat, zu überprüfen, wie der Kreis der Entschädigungsbe­ rechtigten bei übermäßig langen Strafverfahren zu ziehen ist.363 2. Evaluierungsergebnis zu den §§ 97a ff. BVerfGG Auf diesen beiden Erklärungen fußend kam der „Erfahrungsbericht über die Anwendung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfah­ ren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Berichtszeitraum: 3. Dezember 2011 bis 31. Dezember 2013)“ vom 17. 10. 2014364 zustande. Der Bericht stellt die Praxis des ÜGRG in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten dar. Der Fokus liegt hierbei den Evaluierungsvorgaben entsprechend auf der Rechtsfolgenseite des Entschädigungsanspruches. Hinsichtlich der §§ 97a ff. BVerfGG führt der Bericht auf, dass 74 Verzögerungs­ rügen (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG) eingelegt sowie 42 Verzögerungsbeschwerden (§ 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG) erhoben wurden.365 Ein Großteil der Verzögerungs­ beschwerden wurde im Jahr 2012 erhoben, was auf die Übergangsvorschrift des § 97e BVerfGG zurückgeführt wurde.366 Alle erhobenen Verzögerungsbeschwer­ den blieben erfolglos. Ein Großteil erwies sich als unzulässig. Lediglich eine Verzögerungsbeschwerde wurde als unbegründet verworfen, da das BVerfG die Verfahrensdauer nicht als unangemessen lang ansah.367 Der Verzögerungsbe­ schwerdeführer rügte dieses Ergebnis vor dem EGMR, welcher ebenfalls keine Verletzung von Art. 6 oder 13 EMRK erkennen konnte.368 Die Bundesregierung zog hieraus den Schluss, dass der EGMR damit zugleich über die Effektivität des Rechtsbehelfs endgültig beschieden habe.369

362

BT-Drucks. 17/7217, 3 f. BRat-Prot. 888, 498A. Diese Protokollerklärung war notwendig, um die Zustimmung der Länder zu erhalten, vgl. Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 369, 372. 364 BT-Drucks. 18/2950. 365 BT-Drucks. 18/2950, 9. 366 BT-Drucks. 18/2950, 9. Der Bericht nennt allerdings fälschlicherweise Art. 23 ÜGRG, der gegenüber der speziellen Regelung des § 97e BVerfGG zurücktritt (vgl. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97e, Rn. 1; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, § 97e BVerfGG, Rn. 1). 367 BVerfG (Beschwerdekammer), NVwZ 2013, 789. 368 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 47 f., 57 f. 369 BT-Drucks. 18/2950, 9. 363

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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Weitere Fragen – wie zum Kausalitätsnachweis oder zum Umfang des Entschä­ digungsanspruches – konnte der Bericht bzgl. der §§ 97a ff. BVerfGG nicht klären, da das BVerfG von einer Stellungnahme absah, um zukünftige Festlegungen der Beschwerdekammer zu überlassen.370 3. Äußerungen von Verbänden Die Äußerungen der Verbände erstreckten sich vornehmlich auf die Praxis und die Normen außerhalb des BVerfGG. Lediglich die BRAK sprach sich für Änderungen aus, die sich „weit überpro­ portional“371 auf das Verfahren vor dem BVerfG bezogen. Grundsätzlich verlangte die BRAK, dass das Verfassungsgericht die Voraussetzungen der Zulässigkeit und Begründetheit großzügiger ziehe, dagegen die Frage der angemessen Verfahrens­ dauer strenger handhabe.372 Adressiert an den Gesetzgeber wünschte man sich einen Rechtsbehelf, der un­ mittelbar zu einer Beschleunigung des Verfahrens führe. Es wurden mehrere Anpassungsvorschläge gemacht, wie etwa eine Fiktion der Erhebung der Verzö­ gerungsrüge eo ipso nach Ablauf von zwölf Monaten. Der Berichterstatter des Ver­ fahrens sollte auf die Rüge hin veröffentlichen müssen, weshalb es zu einer Ver­ zögerung gekommen sei und wann eine Entscheidung erwartet werden könne. Alle sechs Monate sollte eine erneute Stellungnahme des Berichterstatters erfolgen.373 Hinsichtlich der Verzögerungsbeschwerde empfahl die BRAK eine Umkehr von Darlegungs- und Beweislast ab einer Verfahrensdauer von „deutlich“ über einem Jahr. Auf Rechtsfolgenseite sollte die Entschädigung in Geld gegenüber der blo­ ßen Feststellung zum Regelfall werden. Grundsätzlich sollte, abweichend von der Regelung des § 97d Abs. 2 S. 2 BVerfGG374, einer Verzögerungsbeschwerde bereits bei Stimmengleichheit in der Beschwerdekammer stattgegeben werden.375 4. Stellungnahme Der Evaluationsbericht der Bundesregierung zeichnet die Praxis des BVerfG im Umgang mit den neuen Vorschriften des §§ 97a ff. BVerfGG in sorgfältiger Weise nach. Allerdings scheint ihre Ansicht, wonach die neuen Rechtsvorschriften durch die EGMR-Entscheidung Peter v. Germany als effektiv i. S. d. Konvention bestätigt 370

BT-Drucks. 18/2950, 9. BT-Drucks. 18/2950, 29. 372 BT-Drucks. 18/2950, 29. 373 BT-Drucks. 18/2950, 29. 374 Entgegen der Grundregel des § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG, vgl. BT-Drucks. 17/3802, 28. 375 BT-Drucks. 18/2950, 29. 371

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Kap. 2: Historischer Überblick 

worden seien, zu hoch gegriffen. Der EGMR hatte sich lediglich mit der Verfah­ rensdauer im konkreten Fall befasst und die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs nur dahingehend erörtert, dass eine Entscheidung, die nicht im Sinne des Beschwerde­ führers ergeht, keinen Schluss auf eine Ineffektivität im Allgemeinen zuließe und ferner der Beschwerdeführer keine weiteren Anhaltspunkte für die Unwirksamkeit vorgetragen habe.376 Wie bereits erläutert377 hat der EGMR mit der Entscheidung lediglich eine vorläufige Bewertung abgegeben und der deutschen Gerichtsbarkeit einen Vertrauensvorschuss erteilt. Hinsichtlich der vom BVerfG offen gelassenen Fragen zeugt dies von Weitsicht, da man der Beschwerdekammer keine Linie zur Entscheidungsfindung vorzeich­ nen wollte. Stattdessen hat diese die Chance, ihre eigene Spruchpraxis unter Be­ rücksichtigung des Grundgesetzes und der EMRK zu entwickeln. Zum Vorschlag der Änderung des Erfolgs einer Verzögerungsbeschwerde bei Stimmengleichheit in der Beschwerdekammer ist anzumerken, dass die Besetzung und die erforderliche Mehrheit Ausdruck der Konzeption des BVerfG als Zwil­ lingsgericht378 sind. Die Beschwerdekammer ist gemäß § 97c Abs. 1 S. 1 BVerfGG mit zwei Richtern aus jedem Senat paritätisch besetzt.379 Zusammen mit der nach § 97d Abs. 2 S. 1 BVerfG erforderlichen einfachen Mehrheit besteht die Hürde einer faktischen Drei-Viertel-Mehrheit, um einer Verzögerungsbeschwerde statt­ zugeben.380 Dieses Mehrheitserfordernis stellt sicher, dass kein Senat über den je­ weils anderen richtet. Es wird ausgeschlossen, dass die Richter des einen Senats gegen den Willen der entsandten Richter des anderen Senats ein Verfahren als unangemessen lang bezeichnen. Die Gleichordnung der Senate381 wird im Zwil­ lingsgericht gesichert.382

VI. Die Gesetzesreform nach dem Urteil Kuppinger v. Germany Das Urteil im Fall Kuppinger v. Germany vom 15. 01. 2015383 machte eine Geset­ zesänderung zur Verbesserung der abwehrenden Komponente bei (drohend) über­ langen Gerichtsverfahren in besonders beschleunigungsbedürftigen Kindschafts­ sachen notwendig.384 376

EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 52–59. S. Kap. 2 A. I. 13. 378 Dazu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 160 f. 379 Dazu Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 7; BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97d, Rn. 4. 380 Kritisch hierzu HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97d, Rn. 6. 381 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 160. 382 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 3 f. (unveröffentlicht); BT-Drucks. 17/ 3802, 27. 383 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11. 384 Zum Urteil Kap. 2 A. I. 14. 377

B. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers  

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Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Änderung des FamFG ging trotz thematischer Einschlägigkeit weder auf das bereits endgültige Kuppinger-Urteil ein noch sah er neue Beschleunigungslösungen vor. Erst im Laufe des Gesetz­ gebungsverfahrens wurden speziell die für Kindschaftssachen zugeschnittenen Instrumente der Beschleunigungsrüge und Beschleunigungsbeschwerde (§§ 115b, 115c FamFG) durch den Rechtsausschuss des Bundestages in den Gesetzesent­ wurf aufgenommen.385 Weitere Änderungen an den §§ 97a ff. BVerfGG oder den §§ 198 ff. GVG wurden bewusst nicht vorgenommen.386 Nach Annahme durch das Plenum387 traten die neuen Rechtsbehelfe am 15. 10. 2016 in Kraft.388

VII. Zusammenfassung Die deutschen Organe erkannten bereits kurz nach dem Kudła-Urteil, dass es einer Anpassung der Gerichtsgesetze bedürfe, um den neuen Anforderungen des EGMR zu genügen. Mit dem erarbeiteten Entwurf über ein Untätigkeitsbeschwer­ dengesetz war man insofern auf einem guten Weg. Dies honorierte auch der EGMR ausdrücklich in seiner Sürmeli-Entscheidung. Der im Parlament vorhandene Wi­ derstand hemmte jedoch die Initiierung des Gesetzgebungsprozesses, so dass man letztlich diese Lösung verwarf. Stattdessen erarbeitete die Bundesregierung einen neuen Entwurf, der vornehmlich auf Kompensation setzt, allerdings auch beschleu­ nigende Wirkung habe sollte. Aufgrund der nunmehr erfolgten Einbeziehung des BVerfG in das geplante Rechtsbehelfsregime entschied eben dieses pro domo über die Ausgestaltung der neuen Bestimmungen des BVerfGG. Nach dem Urteil im Pilotverfahren gegen Deutschland schuf man letztlich binnen eines Jahres das ÜGRG, welches u. a. die §§ 97a ff. BVerfGG implementierte. Der zum ÜGRG ergangene Evaluationsbericht der Bundesregierung beschreibt den Umgang des BVerfG mit der Beschwerde treffend, geht jedoch einen Schritt zu weit, indem man mit dem Urteil Peter v. Germany ohne weiteres die Effektivi­ tät der §§ 97a ff. BVerfGG als bestätigt ansieht. Insbesondere ist auch nach dieser Entscheidung ein Abrücken des EGMR von der vorläufigen Effektivitätsbewer­ tung denkbar. Dass grundsätzlich noch Anpassungsbedarf besteht, zeigte das Kuppinger-­ Urteil. Die in diesem Zuge notwendig gewordenen Anpassungen beschränkten 385

BT-Drucks. 18/9092, 2, 15–20. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass „keine weiteren Verfahren erkennbar [seien], die anderen (deutschen) Verfahrensordnungen unterfallen und auf welche die Argumentation des EGMR ebenfalls zutreffen würde.“, vgl. BT-Drucks. 18/9092, 2, 15. 387 BT-Prot. 18/183, 18130C. 388 Vgl. Art. 10 des G. zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge­ richtsbarkeit sowie zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Gerichtskostengesetzes v. 11. 10. 2016, BGBl. 2016 I, 2222. 386

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Kap. 2: Historischer Überblick 

sich jedoch auf Kindschaftssachen vor der Fachgerichtsbarkeit. Immerhin führte der Gesetzgeber auf diesem Gebiet die §§ 115b, 115c FamFG ein, welche die bis­ herige vorrangige Kompensationslösung durch stärker beschleunigende Rechts­ behelfe flankieren.

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats Die spätestens seit der Sürmeli-Entscheidung fällige Reaktion des Gesetzge­ bers erfolgte letztlich auf Druck der Straßburger Institutionen, vornehmlich des Gerichtshofs. Zum historischen Rückblick gehören daher – neben Verfahren vor dem EGMR und dem nationalen Gesetzgebungsverfahren  – auch die Handlun­ gen des Europarats389, insbesondere die zur Überwachung der Durchführung der EGMR-Entscheidungen durch das Ministerkomitee des Europarats gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK.

I. Allgemeine Vorgaben auf der Ebene des Europarats Auf die wachsende Anzahl von Vertragsstaaten, hauptsächlich aus Mittel- und Osteuropa, sowie auf das 11. Protokoll zur EMRK390 ist ein Anstieg an Individual­ beschwerden zurückzuführen, der das System des europäischen Menschenrechts­ schutzes der ernsthaften Gefahr aussetzte, durch eine schier nicht zu bewältigende Anzahl an Eingaben an Effektivität einzubüßen391.392 Insbesondere repetitive Fälle zur unangemessenen Verfahrensdauer machten dem EGMR zu schaffen.393 Das sich hierin widerspiegelnde Problem des Anstiegs an Beschwerden zwang den EGMR mit der Kudła-Entscheidung bereits im Jahr 2000394 zu einer Neuord­ nung seiner Rechtsprechung, um den Staaten die Pflicht auferlegen zu können, ihre Rechtsordnungen dahingehend anzupassen, dass sie einen effektiven Rechtsbehelf gegen unangemessen lange Gerichtsverfahren bereitzuhalten haben.395 Anstelle 389

Council of Europe (CoE)/Conseil de l’Europe (CdE). Die in den nachfolgenden Abschnit­ ten zitierten Dokumente des Europarats sind unter https://search.coe.int/cm (zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020) auffindbar. 390 BGBl. 1995 II, 578. 391 Hieraus folgt die beschworene Devise, wonach der EGMR ein Opfer seines eigenen Er­ folges sei. 392 Vgl. Abdelgawad, in: Breuer / Schmahl (Hrsg.), Council of Europe, Kap. 9, Rn. 9.03; Egli, ZaöRV 64 (2004), 759 (768–770); Haider, The Pilot-Judgment Procedure of the European Court of Human Rights, 24. 393 So waren 65 % der im Geschäftsjahr 2002 entschiedenen Fälle solche, die sich auf bereits vorangegangene oder parallele Entscheidungen bezogen und größtenteils Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Gegenstand hatten, S. CoE, CM(2003)55, Introduction, para. 8; Egli, ZaöRV 64 (2004), 759 (768 f.) m. w. Bsp. 394 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96. 395 Breuer, EuGRZ 2004, 445 (447).

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats 

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eines „Ganges nach Straßburg“ soll das Problem – ganz im Sinne der Subsidiari­ tät – bereits auf der nationalen Ebene gelöst werden.396 1. Die Arbeit des Ministerkomitees Als eines der Hauptorgane des Europarats nahm sich das Ministerkomitee den (drohenden) Erlahmungserscheinungen des EGMR an. Unterstützende Ak­ teure waren dabei das Komitee der Ministerbeauftragten, welches vornehmlich das Tagesgeschäft erledigt, sowie der Lenkungssauschuss für Menschenrechte (CDDH)397, der mit seinen Berichten zur Effektivität der nationalen Rechtsbehelfe eine wesentliche Rolle spielte.398 Das Komitee der Ministerbeauftragten beauftragte den Lenkungssauschuss für Menschenrechte, zur Optimierung des EGMR-Systems heraufzufinden, wie man den Staaten bei einer besseren Implementierung der EMRK in ihr natio­ nales Rechtssystem helfen könnte, insbesondere wie man die Effektivität von nationalen Rechtsbehelfen sicherstellt.399 Der Lenkungsausschuss betraute mit dieser Aufgabe einen Unterausschuss, den Expertenausschuss zur Verbesserung der Verfahren zum Schutz der Menschenrechte400, der sich unter Beachtung der Kudła-Rechtsprechung insbesondere dem Problem der unangemessen langen Verfahrensdauer annahm.401 Dieser stellte 2002402 fest, dass einige Staaten erst kürzlich neue Gesetze zur Verbesserung der Verfahrensdauer und Rechtsbehelfe eingeführt hätten bzw. sich solche im Gesetzgebungsverfahren befinden (z. B. in Italien403 oder in der Slowakei404).405 Andere Staaten, darunter Deutschland, würden aktuell die Notwendigkeit von legislativen Schritten prüfen.406 Zur Senkung der Arbeitslast des Gerichtshofs empfahl der Lenkungssauschuss ein Jahr später407, einerseits auf europäischer Ebene die Verfahren vor dem EGMR – 396

Breuer, EuGRZ 2004, 445 (447). Steering Committee for Human Rights / Comité directeur pour les droits de l’homme (CDDH). 398 S. zum Aufbau des Ministerkomitees Brummer, Europarat, 33–43. 399 CoE, DH-PR(2002)001rev, Introduction, para. 1. 400 Committee of Experts for the improvement of procedures for the protection of human rights / Comité d’experts pour l’amélioration des procédures de protection des droits de l’homme (DH-PR). 401 CoE, DH-PR(2002)001rev, Introduction, para. 1. 402 Implementation of the European Convention on Human Rights – Effective remedies at national level –, Memorandum v. 10. 09. 2002, CoE, DH-PR(2002)001rev. 403 CoE, DH-PR(2002)001rev, Appendix, para. 25–44. 404 CoE, DH-PR(2002)001rev, Appendix, para. 74–77. 405 CoE, DH-PR(2002)001rev, Introduction, para. 6. 406 CoE, DH-PR(2002)001rev, Introduction, para. 8. Sie dazu Kap. 2 B. sowie eingehend Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 66 ff. 407 Guaranteeing the long-term effectiveness of the European Court of Human Rights, Be­ richt v. 08. 04. 2003, CoE, CM(2003)55. 397

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Kap. 2: Historischer Überblick 

u. a. durch Pilotverfahren  – und den Überwachungsmechanismus des Minister­ komitees zu optimieren, andererseits den Konventionsstaaten – entsprechend des Gedankens der Subsidiarität – nationale Rechtsbehelfe einzuführen, die vorrangig Abhilfe verschaffen sollten.408 Letzteres galt insbesondere für repetitive Verletzun­ gen, namentlich den Fällen von unangemessen langer Verfahrensdauer, welche als Hauptursache für die hohe Belastung des Gerichtshof angesehen wurde.409 In Ver­ knüpfung der beiden Vorschläge sollten die Staaten, in denen der Gerichtshof in einem Pilotverfahren ein strukturelles Defizit aufgezeigt hat, sicherstellen, dass für alle tatsächlichen und potentiellen Beschwerdeführer ein neuer nationaler und effektiver Rechtsbehelf geschaffen wird.410 Unter denselben Vorzeichen entschied die 114. Sitzung des Ministerkomitees im Mai 2004, dass die Effektivität des europäischen Grundrechtsschutzsystems nicht weiter gefährdet werden solle. Hierzu verabschiedete das Ministerkomitee das 14. Protokoll zur EMRK411, welches erhebliche verfahrensrechtliche Änderungen und Vereinfachungen mit sich brachte.412 Im selben Zug sprach das Ministerko­ mitee eine Empfehlung413 an die Regierungen der Konventionsstaaten aus, in der sie aufgefordert wurden, ihre nationalen Rechtsbehelfe zu verbessern414. Es wurde explizit das Problem der Belastung des EMRK-Systems durch fehlende nationale Rechtsbehelfe gegen unangemessen lange Gerichtsverfahren hervorgehoben:415 Das Komitee sprach sich dafür aus, dass die Staaten ihre nationale Rechtsordnung auf ihre Konventionskonformität überprüfen sollen und bei einem vom EGMR festgestellten strukturellen Mängel  – insbesondere bzgl. der Verfahrensdauer  – wirksame Abhilfemaßnahmen einrichten sollen.416 Diese Maßnahmen sollten verhindern, dass sich der Gerichtshof wiederholt mit vergleichbaren Fällen zu be­ fassen hat. Hinsichtlich der Art des Rechtsbefehls wurden beschleunigende sowie entschädigende Rechtsbehelfe als Optionen für die Staaten genannt.417 Nahtlos in diese Reihe knüpfen weitere Maßnahmen der Organe des Europarats an: Etwa der Aktivitätsbericht des Lenkungssauschusses von 2009, der für eine Verbesserung der nationalen Rechtsmitteln eintrat.418 Oder die Empfehlung des 408

Vgl. CoE, CM(2003)55, Introduction, para. 5–20. CoE, CM(2003)55, Proposal A. 1. b.; CM(2003)55 I, Appendix I; CM(2003)55-Add 2, Introduction, para. 8, proposal A. a. Vgl. dazu auch die Entscheidungen des Ministerkomitees CoE, CM(2003)62; CM / Del / Dec(2004)867/4.1b. 410 CoE, CM(2003)55, Proposal A. 1. b. 411 BGBl. 2006 II, 138. 412 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 1, Rn. 4, § 6, Rn. 2. 413 Recommendation Rec(2004)6 of the Committee of Ministers to member states on the improvement of domestic remedies, Empfehlung v. 12. 05. 2004, CoE, CM / Rec(2004)6. 414 CoE, CM / Rec(2004)6. 415 CoE, CM / Rec(2004)6. 416 CoE, CM / Rec(2004)6; vgl. auch ebenda, Appendix, para. 13. 417 CoE, CM / Rec(2004)6, Appendix, para. 22 f. 418 CoE, CDDH(2009)007 Addendum I, Activity Report, Guarenteeing the long-term effec­ tiveness of the control system of the European Convention on Human Rights, 11 f. 409

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats 

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Ministerkomitees vom Februar 2010419, in der das Komitee unter Hinweis auf die Empfehlungen von 2004 und die Abschlusserklärung von 2006 sowie die Arbeit der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) und der Ve­ nedig-Kommission420 die Mitgliedstaaten aufforderte, in ihren Gerichtsbarkeiten die in Art. 6 und 13 EMRK verbürgten Rechte zu gewährleisten.421 2. Die Arbeit der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) Nicht nur die Arbeit des Ministerkomitees sowie dessen Lenkungsausschusses für Menschenrechte kennzeichnen die menschenrechtliche Politik des Europarats auf diesem Feld. Spezialisiert auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit und des Funktionierens der Justizsysteme in den Konventionsstaaten analysiert die 2002 gegründete422 Europäische Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ)423 Pro­ bleme in den einzelnen Rechtssystemen und zeigt entsprechende Verbesserungs­ möglichkeiten auf.424 Ein wesentliches Anliegen der CEPEJ ist die Reduzierung der Verfahrensdauer vor Gericht, um die Effektivität der nationalen Rechtssysteme zu stärken.425 Zu betonen ist, dass der CEPEJ keinerlei obligatorisches Aufsichts- oder Überwachungsmandat zukommt. Stattdessen kann mit den Konventionsstaaten auf freiwilliger Basis eine kooperative Zusammenarbeit erfolgen.426 Unter dem Dach der CEPEJ untersucht die Arbeitsgruppe SATURN Centre for judicial time management427 ausschließlich den Faktor Zeit in Gerichtsverfah­ ren und damit insbesondere Verzögerungen in der Justiz der Konventionsstaaten. SATURN fungiert in dieser Funktion insoweit als die CEPEJ.428 Die Arbeitsgruppe hat bisher einige Handreichungen veröffentlicht, welche sich an die Richterschaft, die Justizverwaltungen sowie an den Gesetzgeber richten und verschiedene Ansätze 419 Recommendation CM / Rec(2010)3 of the Committee of Ministers to member states on effective remedies for excessive length of proceedings, Empfehlung v. 24. 02. 2010, CoE, CM / Rec(2010)3. 420 Zu diesen beiden Gliedern des Europarats sogleich. 421 CoE, CM / Rec(2010)3. 422 Eingesetzt durch die Resolution CoE, CM / Res(2002)12 des Ministerkomitees vom 19. 09. 2002. 423 European Commission for the efficiency of justice / Commission européenne pour l’effi­ cacité de la justice (CEPEJ). 424 S. zu den Zielen und Aufgaben Art. 1 f. des CEPEJ-Statuts, zu finden in: CoE, CM /  Res(2002)12, Appendix 1. 425 So bereits in der Gründungsresolution: CoE, CM / Rec(2004)6, I.2. Vgl. auch Johnsen, IJCA 4 (2012), 1 (6–15). 426 Johnsen, IJCA 4 (2012), 1 (3). 427 Akronym für „Study and Analysis of judicial Time Use Research Network“. Außerdem sei in der römischen Mythologie Saturn der Gott der Zeit (Johnsen, IJCA 4 (2012), 1 [10]). 428 Vgl. https://rm.coe.int/european-commission-for-the-efficiency-of-justice-cepej-termsof-refer/168077c983, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

zur Verbesserung der Zeitrahmen von gerichtlichen Verfahren vorstellen.429 Hin­ sichtlich Rechtsbehelfe, die einer Verzögerung abhelfen könnten, haben SATURN resp. CEPEJ erst wenige Umsetzungsvorschläge unterbreitet.430 Dennoch zeigen die Richtlinien für das gerichtliche Zeitmanagement431 und die zugehörigen Im­ plementierungshilfen432, dass das Problem der unangemessenen Verfahrensdauer vom Europarat genau beobachtet und analysiert wird sowie darüber hinaus ver­ sucht wird, den Staaten Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. 3. Der Bericht der Venedig-Kommission Die 1990 gegründete Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission)433 setzt sich in ihrer Arbeit als beratendes Organ des Europa­ rats für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein.434 Insbesondere unter den letzteren beiden Gesichtspunkten hat sich auch die Venedig-Kommis­ sion mit dem Feld der unangemessen langen Verfahrensdauer auseinandergesetzt. Mit ihrer Stellungnahme vom 18. 12. 2002 äußerte die Venedig-Kommission, dass das Ministerkomitee in seiner Funktion der Überwachung der Durchsetzung der EGMR-Entscheidungen Leitlinien entwickeln solle, damit für die Konventions­ staaten besser absehbar ist, was sich für Folgen für die nationalen Rechtsordnung ergeben und ggf. welche Veränderungen notwendig sind.435 Auf dieser Empfehlung fußend entschied die Venedig-Kommission sich dem Problem der unangemessen langen Verfahrensdauer und der diesbezüglich bestehenden Abhilfemöglichkeiten in den Staaten anzunehmen.436 Hieraus entstand ein ausführlicher Bericht437 zu der Frage, ob und wie übermäßige Verfahrensdauer behoben werden kann. 429

Johnsen, IJCA 4 (2012), 1 (10–15) bietet zur Arbeit von SATURN einen Überblick. Ansätze finden sich u. a. im Rahmenforschungsprogramm CoE, CEPEJ(2004)19rev2, Introduction sowie 2nd Part, 3. a., Line of Action 3. Vgl. auch Johnsen, IJCA 4 (2012), 1 (17 f.). 431 CoE, CEPEJ(2018)20R. 432 CoE, CEPEJ(2015)18. S. ferner CoE, CEPEJ(2005)12rev; CEPEJ(2006)13; CEPEJ(2016)5. Jeweils auffindbar unter https://www.coe.int/en/web/cepej/cepej-work/saturn-centre-for-judi cial-­time-management, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 433 Die European Commission for Democracy through Law (Venice Commssion)/Commis­ sion européenne pour la démocratie par le droit (Commssion de Venise) wurde im Mai 1990 vom Ministerkomitee des Europarats begründet, CoE, CM / Res(90)6. Mitglieder sind die 47 Staaten des Europarats sowie weitere teils nicht-europäische Staaten, https://www.venice. coe.int/WebForms/members/countries.aspx, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 434 S. https://www.venice.coe.int/WebForms/pages/?p=01_activities&lang=EN, zuletzt ge­ öffnet am 05. 12. 2020. 435 CoE, CDL-AD(2002) 34, para 102, ferner para. 107. 436 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 1–6. 437 Report on the effectiveness of national remedies in respect of excessive length of proceed­ ings, Bericht v. 15./16. 12. 2006, CoE, CDL-AD(2006)036rev. Bestandteil der Publikation der Venedig-Komission „Can excessive length of proceedings be remedied?“, CoE, CDLSTD(2007)044, Section I. 430

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats 

87

Der Bericht befasst sich zunächst mit den Schutzbereichen von Art. 6 und 13 EMRK sowie deren Verhältnis zueinander.438 Hierbei wird auch die Sonderstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den jeweiligen Mitgliedstaaten dargestellt und die Möglichkeit zur veränderten Bearbeitungsreihenfolge vorgestellt.439 Daneben wird die Überwachungspraxis des Ministerkomitees hinsichtlich der Umsetzung von Judikaten des EGMR, die eine problematische Verfahrensdauer zum Gegen­ stand hatten, wiedergegeben.440 Kernstück des Berichts ist jedoch der Vergleich der nationalen Rechtsbehelfe, die gegen Verfahrensverzögerungen gerichtet sind sowie deren bisherige Bewer­ tung durch den Gerichtshof.441 Anschließend wird aus der Rechtsprechung her­ ausgearbeitet, welche Anforderungen Art. 13 EMRK an einen Rechtsbehelf stellt, damit dieser sowohl in der Theorie als auch in der Praxis als wirksam gelten kann.442 Darauf aufbauend werden den Staaten Vorschläge zur Ausgestaltung ihrer Rechtsbehelfssysteme gemacht.443 Zusammengefasst ergeben sich dabei folgende Aussagen zu den Anforderungen von Art. 13 EMRK in Fällen einer unangemes­ sen langen Verfahrensdauer: – Die Staaten haben ihre Rechtsordnungen so zu gestalten, dass unangemessene Verzögerungen verhindert werden.444 – Sollte es dennoch zu Verzögerungen kommen, so haben sie entsprechend Art. 6 EMRK Abhilfe zu leisten.445 – Bei Mängeln in der Rechtsordnung verdichtet sich als Abhilfemaßnahme ein be­ schleunigender Rechtsbehelf als beste präventive Lösung.446 – Andernfalls sowie bei abgeschlossenen Verfahren von unangemessen langer Dauer haben sie einen kompensatorischen Rechtsbehelf bereitzustellen.447 – Eine Kombination beider Typen von Maßnahmen stellt dabei die beste Lösung dar.448

438

CoE, CDL-STD(2007)044, para. 15–47. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 33, unter Verweis auf das Urteil Gast and Popp v. Germany. 440 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 48–56. Die Venedig-Kommission nimmt hierbei Bezug zur der Arbeit des Lenkungsausschusses für Menschenrechte (CDDH) sowie der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ), inkl. derer Arbeitsgruppe SATURN. 441 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 57–130. Bezüglich Deutschland werden die Feststel­ lungen des EGMR im Sürmeli-Fall wiedergebeben (ebenda, para. 109–112). 442 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 131–168. 443 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 169–235. 444 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 150, ferner para. 139. 445 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 150. 446 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 136–139, 150. 447 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 141, 143, 150. 448 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 142. 439

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Kap. 2: Historischer Überblick 

– Artikel 13 erfordert nicht unbedingt einen speziellen Rechtsbehelf, auch ein all­ gemeiner Rechtsbehelf kann ausreichend sein.449 – Der Rechtsbehelf muss jedenfalls hinreichend bestimmt sein, insbesondere auf Rechtsfolgenseite.450 – Insgesamt muss der Rechtsbehelf effektiv, angemessen und zugänglich ausge­ staltet sein.451 Dementsprechend schlägt die Venedig-Kommission u. a. vor: – Eine konkrete Reparation in Form des restitutio in integrum ist einem Kompen­ sationsrechtsbehelf grundsätzlich vorzuziehen.452 – Hat das Verfahren bereits die Grenze zur unangemessenen Dauer überschritten oder ist ein eben solches beendet, so ist eine Kompensation das Mittel zur Ab­ hilfe.453 – Die Wahl der Mittel durch die Konventionsstaaten beschränkt sich daher auf einen beschleunigenden Rechtsbehelf auf erster Stufe und kumulativ  – nicht alternativ – auf zweiter Stufe auf einen kompensatorischen Rechtsbehelf.454 – Allgemeine Rechtsbehelfe müssen hinsichtlich überlanger Verfahrensdauer ein­ deutig sein, andernfalls kann dies ihre Effektivität in Frage stellen. – Die Höhe der gezahlten Kompensation hat den Rechtsprechungslinien des EGMR zu genügen und hat dem Lebensstandard des jeweiligen Staates zu ent­ sprechen.455 Der Bericht endet mit einem Angebot der Venedig-Kommission die Staaten bei der Erarbeitung oder Verbesserung von nationalen Rechtsbehelfen gegen unange­ messen lange Verfahrensdauer zu unterstützen.456 4. Zusammenfassung Das Problem der übermäßigen Verfahrensdauer in den Konventionsstaaten und die fehlenden nationalen Abhilfemöglichkeiten hiergegen wurden auf der Ebene 449

CoE, CDL-STD(2007)044, para. 151. Ein allgemeiner Rechtsbehelf kann etwa eine Ver­ fassungsbeschwerde oder ein Staatshaftungsanspruch sein, während ein spezieller Rechtsbe­ helf in seinem Anwendungsbereich auf übermäßige Verfahrensdauer beschränkt ist. 450 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 152–156. 451 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 157–168. 452 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 169, 238. 453 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 170, 239. 454 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 173, 179–184. 455 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 206, 245. 456 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 248.

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats 

89

des Europarats streng beobachtet und gerügt. Tragen doch diese beiden Probleme zur erheblichen Belastung des menschenrechtlichen Systems der EMRK bei, wes­ halb das Ministerkomitee samt seiner Unterorgane gegenüber den Staaten eine Vielzahl an Untersuchungen durchführt sowie Empfehlungen abgibt. Die Arbeit erstreckte sich dabei nicht nur auf die bloße Beobachtung der innerstaatlichen Prozesse, sondern umfasste vielmehr auch teils vage, teils konkrete Vorgaben für nationale Rechtsbehelfe gegen unangemessen lange Verfahrensdauer. Ebenso wurde auf der Ebene des Europarats versucht, die „Wurzel“ des Problems zu iden­ tifizieren und entsprechende Optionen zur Behebung aufzuzeigen, so dass es in Zukunft erst gar nicht zu einer Beeinträchtigung von Art. 6 und 13 EMRK kom­ men soll. Auf der Basis der Arbeit des Europarats wäre eine Implementierung eines na­ tionalen Rechtsbehelfs in Deutschland sicherlich leichter gefallen. Allerdings wurden die Ergebnisse nur in Form eines vergleichenden Gutachtens457 2006 in die Debatte miteingebracht458, ohne dass im späteren Gesetzgebungsverfahren auf die Berichte und Empfehlungen der Organe des Europarats eingegangen wurde. Ferner scheint es, als hätten die deutschen Entscheidungsträger die in der Arbeit des Europarats zum Ausdruck kommende Dringlichkeit des Problems und die Implikationen einer fehlenden nationalen Abhilfemöglichkeit für den EGMR ver­ kannt. Erst der Wechsel im Ton seitens des EGMR in der Sache Rumpf schien das Gesetzgebungsverfahren zu katalysieren.

II. Durchsetzung der EGMR-Entscheidungen wegen Verletzungen von Art. 6 und 13 EMRK durch die Bundesrepublik Deutschland Schließlich werden exemplarisch die nach Art. 46 Abs. 2 EMRK angefertigten Resolutionen des Ministerkomitees zu den bedeutsamen Entscheidungen Sürmeli459 und Rumpf460 sowie Kuppinger461 dargestellt und der früheren Resolution (u. a. zum Fall Voggenreiter462) gegenübergestellt.

457 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten im Sinne der Art. 6 I, 13 EMRK, Anlage zu BT-Drucks. 16/7655. 458 S. Roller, ZRP 2008, 122; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (180); dies., NJW 2008, 1783 (1785). 459 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01. 460 EGMR, Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06. 461 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11. 462 EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99.

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Kap. 2: Historischer Überblick 

1. Resolution des Ministerkomitees bezüglich des Urteils Voggenreiter v. Germany und vier weiterer Fälle von 2007 Die vom Ministerkomitee am 19. 12. 2007 angenommene Resolution zur Über­ wachung der EGMR-Entscheidungen463 umfasste u. a. das oben dargestellte Voggen­ reiter-Urteil. In der deutschen Stellungnahme zum Überwachungsverfahren wird für den Fall Voggenreiter als individuelle Maßnahme, die Zahlung der angemessenen Entschädigung für immaterielle Schäden sowie für Kosten und Auslagen des Be­ schwerdeführers angeführt. Da das Verfahren vor dem BVerfG zum Zeitpunkt des EGMR-Urteils bereits abgeschlossen war, kam keine weitere individuelle Abhilfe­ maßnahme in Betracht.464 Hinsichtlich genereller Maßnahmen verwies die Bundesregierung vornehmlich auf die als Reaktion zu den Verurteilungen Pammel und Probstmeier465 getroffenen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit des BVerfG:466 Dort führte die Bundes­ regierung als Grund für die Verzögerung die infolge der Wiedervereinigung ge­ steigerte Arbeitsbelastung des BVerfG an, welche allerdings seit Ende der 1990er Jahre wieder abflache.467 Zur Bewältigung habe man die Anzahl der wissenschaft­ lichen Mitarbeiter am BVerfG erhöht.468 Insbesondere auf den letzteren Aspekt bezog man sich wiederum in der späteren Stellungnahme zum Fall Voggenreiter: Durch die Erhöhung der (personellen) Ressourcen am BVerfG sei der Rückstand zwischen 1997 und 2002 zurückgegangen.469 Damit bestand die Reaktion der Bundesregierung auf die Verurteilung wegen der übermäßigen Verfahrensdauer vor dem BVerfG darin, einerseits die vom EGMR ausgesprochene Entschädigung und Kosten zu zahlen, andererseits dem BVerfG mehr Personal zur Verfügung zu stellen. Letztere Maßnahme kann bis zu einem gewissen Grad dazu beitragen, dass die Ursachen für Verzögerungen mi­ nimiert werden. Das Ministerkomitee akzeptierte diese Maßnahmen als Vollzug des EGMR-Urteils und schloss seine Überwachungsfunktion nach Art. 46 Abs. 2 EMRK bezüglich der Fälle ab.470

463

CoE, CM / ResDH(2007)163. Vgl. CoE, CM / ResDH(2007)163, Appendix, I. 465 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 17820/91; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, No. 20950/92. 466 CoE, CM / ResDH(2007)163, Appendix, II. 467 CoE, CM / ResDH(2001)6, Appendix; CM / ResDH(2001)7, Appendix. 468 CoE, CM / ResDH(2001)6, Appendix; CM / ResDH(2001)7, Appendix. 469 CoE, CM / ResDH(2007)163, Appendix, II. 470 CoE, CM / ResDH(2007)163. 464

C. Würdigung auf der Ebene des Europarats 

91

2. Resolution des Ministerkomitees bezüglich 71 Verurteilungen Deutschlands (u. a. Sürmeli und Rumpf) von 2013 Die Resolution vom 05. 12. 2012 zu 71 Fällen gegen Deutschland471 – u. a. zum Urteil Sürmeli und dem Pilotverfahren Rumpf – unterscheidet sich bei der Frage nach generellen Maßnahmen von der zuvor dargestellten, da nach Maßgabe der Rumpf-Entscheidung binnen eines Jahres ein neuer nationaler Rechtsbehelf zu installieren war, der den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 13 EMRK genügt. Dementsprechend richtet der Tätigkeitsbericht (action report) der Bundes­ regierung472 den Fokus auf die neuen Rechtsbehelfe nach dem ÜGRG. Die Bundes­ regierung beschreibt darin das Rechtsbehelfssystem des ÜGRG als kombinierten Rechtsbehelf, welcher auf erster Stufe aus der beschleunigenden Verzögerungs­ rüge besteht und auf zweiter Stufe durch die kompensatorische Verzögerungsbe­ schwerde resp. Entschädigungsklage flankiert wird.473 Die Effektivität des neuen Rechtsbehelfs wird im Bericht hinsichtlich der Fachgerichtsbarkeit erläutert; bleibt für das BVerfG jedoch offen.474 So wird die Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG nicht thematisiert, obwohl erste Beschlüsse der Beschwerdekammer475 bereits vorlagen.476 Mit der Einführung der neuen Rechtsbehelfe als generelle Maßnahme zur Ver­ meidung von Verletzungen der Art. 6 und 13 EMRK gab sich das Ministerkomitee zufrieden. Mit der apodiktischen Feststellung der Konventionskonformität schloss das Komitee die Überwachung ab.477

471

CoE, CM / ResDH(2013)244. Report on the execution of the pilot judgment of the European Court of Human Rights delivered on 2 September 2010 in the case of R. v. Germany (No. 46344/06) and 70 other cases concerning excessive length of proceedings and the lack of an effective remedy in that respect, DH-DD(2013)1234 v. 14. 11. 2013. 473 DH-DD(2013)1234, 5 f. 474 Vgl. DH-DD(2013)1234, 6–9. 475 Die ersten Beschlüsse der Beschwerdekammer vom 01. 10. 2012, 03. 04. 2013 und 30. 7. 2013 (BVerfG [Beschwerdekammer] NVwZ 2013, 789; NJW 2013, 2341; NVwZ 2013, 1479) wären für den Report verfügbar gewesen. 476 Die auf S. 8 f. des action reports (Fn. 472) angesprochenen Entscheidungen des BVerfG betreffen die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden wegen des Fehlens eines Rechts­ schutzbedürfnisses (BVerfGK 20, 33 [36 f.]) bzw. wegen mangelnder Rechtswegerschöpfung oder Missachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes (BVerfGK 19, 424 [426 f.]; BVerfG [Kammer] NVwZ 2013, 788 [789]; Entscheidung v. 20. 6. 2012, 2 BvR 1565/11, Rn. 11–16). Sie können daher nicht zur Beantwortung der Frage herangezogen werden, ob die §§ 97a ff. BVerfGG kon­ ventionskonform sind bzw. angewendet werden. 477 CoE, CM / ResDH(2013)244. 472

92

Kap. 2: Historischer Überblick 

3. Resolution des Ministerkomitees bezüglich des Urteils Kuppinger v. Germany von 2018 Auf die vom EGMR festgestellte partielle Ineffektivität des Rechtsbehelfssys­ tems des ÜGRG in Kindschaftssachen478 antwortete der Gesetzgeber mit einer punktuellen Reform für die Familiengerichtsbarkeit.479 Der zur Kuppinger-Verur­ teilung angefertigte action report der Bundesregierung von August 2018480 wid­ mete sich daher, neben der individuellen Entschädigung für den Beschwerdefüh­ rer, der Reform des FamFG als allgemeine Maßnahme, die vergleichbare Fälle zukünftig verhindern soll.481 Wie bereits zuvor akzeptierte das Ministerkomitee den Bericht ohne weiteres und beendete das Überwachungsverfahren nach Art. 46 Abs. 2 EMRK im Fall Kuppinger v. Germany.482 4. Wertende Zusammenfassung Die Praxis des Ministerkomitees hinsichtlich der Überwachung der Ausführung der Urteile des EGMR unter dem Gesichtspunkt der generellen Maßnahmen lässt sich als tendenziell unkritisch bezeichnen. So stand bei der Annahme der Resolution von 2007 bereits fest, dass die Mit­ gliedstaaten effektive Rechtsbehelfe zur Abhilfe von unangemessen langer Ver­ fahrensdauer schaffen müssen (Kudła-Urteil) sowie, dass die deutsche Rechtsord­ nung einen solchen Rechtsbehelf nicht kennt (Sürmeli-Urteil). Dass das Komitee als generelle Maßnahme zur Vermeidung vergleichbarer Fälle die Erhöhung von Ressourcen beim BVerfG akzeptierte, mag wohl daran liegen, dass der deutsche Staat immerhin versuchte, die Ursache der Verzögerung zu beseitigen. Anderer­ seits änderte dies nichts an dem Fehlen einer wirksamen Abhilfemöglichkeit in Form eines Rechtsbehelfs. Auch die Resolution von 2013 sieht sehr wohlwollend auf den vorgelegten Tätig­ keitsbericht. Eine tiefergehende Prüfung, z. B. anhand der Kriterien der VenedigKommission, findet nicht statt, sondern sieht bereits die Schaffung des Rechtsbe­ helfs als ausreichende Erfüllung der Pflichten aus der Konvention an. Zu einem anderen Ergebnis gelangte der EGMR in seiner zwei Jahre später aus­ gesprochenen Entscheidung, in welcher die Lösung für insoweit konventionswidrig gehalten wurde, als dass die Verzögerungsrüge in besonders eilbedürf­tigen Kind­ 478

S. zum Kuppinger-Urteil Kap. 2 A. I. 14. S. Kap. 2 B. VI. 480 Application K. v. Germany (No. 62198/11), Report on the execution of the judgment of the European Court of Human Rights delivered on 15 January 2015, final 15 April 2015, Final Action Report v. 13. 08. 2018, DH-DD(2018)987. 481 DH-DD(2018)987, 2–4. 482 CoE, CM / ResDH(2018)447. 479

D. Zusammenfassung  

93

schaftssachen nicht hinreichend beschleunigen kann.483 Ein Ergebnis zu welchem auch das Ministerkomitee hätte kommen können, sofern man sich mit den haus­ eigenen Studien der CEPEJ484 hinsichtlich der neuralgischen Fallgruppen vertraut gemacht hätte. Dass man in der zur Kuppinger-Sache gehörenden Resolution die weiteren Fall­ gruppen nicht ansprach, mag an der Begrenzung des Falls auf Kindschaftssachen liegen, so dass das Ministerkomitee nicht ohne Dehnung ihres Mandates zur Voll­ streckung des konkreten Urteils darüberhinausgehende generelle Maßnahmen fordern konnte bzw. wollte. Insgesamt zeigt sich eine harmlose Überwachungstätigkeit des Ministerkomi­ tees hinsichtlich der ausgewählten Verurteilungen Deutschlands. Bereits aus der Einführung eines Rechtsbehelfs wurde der grundsätzliche Schluss gezogen, dass die Pflicht aus dem Urteil erfüllt und ein konventionskonformer Zustand – sprich ein effektiver Rechtsbehelf i. S. d. Art. 13 EMRK – herbeigeführt worden sei. Die­ ser Schluss von der Existenz auf die Effektivität eines Rechtsbehelfs kann aller­ dings nicht überzeugen.485

III. Zusammenfassung Auf der Ebene des Europarats wurden im Nachgang zur Kudła-Entscheidung diverse allgemeine Empfehlungen, Stellungnahmen und Berichte zum Problem der fehlenden nationalen Rechtsbehelfe, insbesondere bei überlanger Verfahrens­ dauer veröffentlicht. Die Organe und Unterausschüsse des Europarats waren sich des Problems also seit Anfang des Millenniums bewusst und wussten ebenso um die Gefahren für das europäische Menschenrechtssystem als solches. Umso mehr überrascht es, dass bei der Überwachung der Durchführung der Urteile gegenüber Deutschland eine „sanfte“ Praxis anhält. Eine tiefergehende Betrachtung des ge­ schaffenen Rechtsmittels durch das Ministerkomitee blieb jedenfalls aus. Statt­ dessen ist diese Aufgabe weiterhin dem EGMR vorbehalten.

D. Zusammenfassung Die Geschichte von Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR wegen der Verletzungen des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Zeit (Art. 6 Abs. 1 EMRK) lässt sich bis in das Jahr 1978 zurückverfolgen. Während in diesen Anfangsjahren die Verfahrensdauer vor dem BVerfG noch ausgeklammert 483

Dazu Kap. 2 A. I. 14. CEPEJ(2012)16, 25–27, Appendix 2. 485 In diesem Sinne auch der Lenkungsausschuss für Menschenrechte in CM(2006)39-Add, Recommendation Rec(2004)6, Suggestions, para. 5. 484

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Kap. 2: Historischer Überblick 

wurde, änderte sich die Spruchpraxis mit dem Urteil in der Sache Deumeland v. Germany ab Mitte der 1980er Jahre. Der Gerichtshof entwickelte die heute noch gültige Formel für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf verfassungsgericht­ liche Verfahren: Auch wenn das Verfassungsgericht keine Entscheidung in der Sache trifft, so reicht es aus, wenn seine Entscheidung den Ausgang des verfah­ rensgegenständlichen Anspruches beeinflussen kann.486 Fußend auf dieser Deumeland-Formel erstreckte der EGMR seine Jurisdik­ tion nicht nur auf Individualverfassungsbeschwerden, sondern auch auf konkrete Normenkontrollverfahren (wie etwa nach Art. 100 GG) oder auf Gesetzesverfas­ sungsbeschwerden. Ebenfalls prüfte der EGMR Fälle, in denen keine Verzögerung durch die Fachgerichte, sondern alleinig ausgehend vom BVerfG gerügt wurden. Möglicherweise auch unter dem Eindruck dieser EGMR-Judikatur konkreti­ sierte das BVerfG zu Beginn der 1980er Jahre seine Rechtsprechung zum effek­ tiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. dem allgemeinen Justizgewähr­ leistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG zu einem Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Zeit. Zur Bemessung der Angemessenheit greift das BVerfG im Laufe seiner Entscheidungen verstärkt auf Kriterien zurück, die denen des EGMR entsprechen, und zitiert dabei häufig des­ sen Rechtsprechung. Einen wahrhaften Umbruch vollzog der Gerichtshof mit der Entscheidung Kudła v. Poland. Angesichts steigender Fallzahlen sah sich der EGMR gezwungen das Verhältnis von Art. 6 und 13 EMRK neu zu tarieren. Die Mitgliedstaaten der Konvention hatten nunmehr effektive Rechtsbehelfe gegen unangemessen lange Verfahrensdauer bereitzustellen. Nicht die Straßburger, sondern die nationalen Richter sind – entsprechend des Subsidiaritätsgedankens – die erste Stelle zur Gel­ tendmachung von Konventionsverletzungen (vgl. Art. 1 EMRK). Aufgrund dieser Entscheidung setzten sowohl die Konventionsstaaten als auch die Institutionen des Europarats das Problem der übermäßig langen Verfahrensdauer und des Rechts­ schutzes hiergegen auf ihre Agenda. Die in Deutschland losgetretene Debatte um einen neuen Rechtsbehelf der Un­ tätigkeitsbeschwerde stieß zunächst auf Widerstand. Hieran änderte auch die zwi­ schenzeitliche Verurteilung in der Sache Sürmeli v. Germany nichts, obwohl der EGMR dem deutschen Recht eine Rechtsschutzlücke attestierte. Nachdem man den Entwurf über eine Untätigkeitsbeschwerde fallen ließ und die Vorarbeiten zum ÜGRG begannen, verurteilte der Gerichtshof erstmalig einen westeuropäischen Mitgliedstaat in einem Pilotverfahren (Rumpf v. Germany). Es wurden scharfe Töne angeschlagen, indem von „systemischen Problemen“ in der deutschen Rechts­ 486

In der authentischen Fassung: „The Federal Constitutional Court is to be taken into ac­ count in this respect […], in that, although it had no jurisdiction to rule on the merits, its de­ cision was capable of affecting the outcome of the claim.“, EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77.

D. Zusammenfassung  

95

ordnung hinsichtlich der Verletzungen von Art. 6 und Art. 13 EMRK sowie eines weitgehenden „Widerwillens“ zur Abhilfe dieses Problem gesprochen wurde. Zur Lösung dieser Probleme setzte der Gerichtshof der Bundesrepublik eine Jahres­ frist, binnen der ein effektiver Rechtsbehelf zu implementieren sei. Innerhalb dieser Frist durchlief der Entwurf zum ÜGRG das Gesetzgebungs­ verfahren und wurde mehreren Änderungen unterzogen. Eine Einbeziehung des BVerfG in den Anwendungsbereich des ÜGRG war  – entgegen zum vorheri­ gen  – von vornherein beabsichtigt. Die Beteiligung des Verfassungsgerichtes im Verfahren zur Kreierung der §§ 97a ff. BVerfGG erscheint bei der letztlichen Ausgestaltung der Vorschriften von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Schlussendlich konnten am 03. 12. 2011 die Vorschriften des ÜGRG und damit die §§ 97a ff. BVerfGG in Kraft treten. Das Ministerkomitee des Europarats kam im Rahmen seiner Überwachungs­ funktion zur Umsetzung der Urteile Sürmeli und Rumpf zu dem kursorisch be­ gründeten Ergebnis, dass die Bundesrepublik mit dem ÜGRG ihren Pflichten hin­ reichend nachgekommen sei. Dennoch zeigte der EGMR Verbesserungsbedarf an der Lösung nach dem ÜGRG durch das Urteil Kuppinger v. Germany auf. In den besonders eilbedürfti­ gen Kindschaftssachen reichten die im Schwerpunkt kompensatorischen Rechtsbe­ helfe nicht aus, um eine hinreichende Beschleunigung des Verfahrens zu bewirken. Daraufhin reagierte der Gesetzgeber mit speziellen präventiven Instrumenten für die Familiengerichtsbarkeit; während er die §§ 97a ff. BVerfGG sowie die §§ 198 ff. GVG unangetastet lies. Das Problem, dass der EGMR ähnliche besonders eilbe­ dürftige Fälle kennt, wurde hierbei nicht weiter berücksichtigt. Wie bereits die ur­ sprüngliche Lösung nach dem ÜGRG akzeptierte das Ministerkomitee die neuen Rechtsbehelfe im Familienrecht ohne weitere Nachfragen und erklärte das Über­ wachungsverfahren für beendet. Insgesamt zeigt sich, dass das Problem der unangemessen langen Verfahrens­ dauer sowie etwaiger Rechtsbehelfe über einen langen Zeitraum von der Legislative unbehandelt blieb. Auch die Phase bis zur Schaffung des ÜGRG war durch einen langen Diskussionsprozess geprägt und letztlich erst durch die scharfen Worte des EGMR sowie einer von ihm gesetzten Jahresfrist forciert worden. Ob die gefun­ dene Lösung – trotz anderslautenden offiziellen Einschätzungen – in der Theorie und Praxis effektiv und damit konventions- sowie verfassungskonform ist, bleibt auch angesichts der jüngsten EGMR-Judikatur zweifelhaft.487

487

S. zu dieser Frage Kap. 5.

Kapitel 3

Konventionsrechtlicher und grundgesetzlicher Hintergrund der §§ 97a ff. BVerfGG A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht I. Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK „Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fai­ ren Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“ Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten vom 04. 11. 1950

1. Vorbemerkungen: Innerstaatlicher Rang und Wirkungsweise der EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde als völkerrechtlicher Ver­ trag gemäß Art. 59 Abs. 2 GG durch das Zustimmungsgesetz des Bundestages1 in die nationale Rechtsordnung überführt2 und hat den Rang eines einfachen Bun­ desgesetzes inne.3 Aufgrund ihres Bestimmtheitsgrades bedarf es grundsätzlich 1

G. über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 07. 08. 1952, BGBl. 1952 II, 685; Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 15. 12. 1953, BGBl. 1994 II, 14; Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 04.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreihei­ ten v. 17. 05. 2002, BGBl. 2002 II, 1054. 2 BVerfGE 111, 307 (316 f.); 128, 326 (367); 148, 296 (350 f.); 151, 1 (26 f.); Grabenwar­ ter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 8; Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 78; HKEMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 18; Sauer, ZaöRV 65 (2005), 36 (38 f.). Allgemein BVerfGE 141, 1 (18). Zur damaligen abweichenden Ansicht des Bundestags Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 72–76. 3 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (316–317.); 120, 180 (200); 128, 326 (367); 148, 296 (350 f.), 151, 1 (26 f.); allgemein BVerfGE 141, 1 (19); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), EuGR, § 2, Rn. 13; Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Einleitung, Rn. 7; ders., in: European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (1950), in: MPEPIL-Online, Rn. 6; Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  2, Rn.  47; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 8; Haug, NJW 2018, 2674 (2676); Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Ein­

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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keiner weiteren Ausgestaltung, so dass die Rechte und Pflichten, die sich aus der EMRK ergeben, unmittelbare Anwendung finden.4 Der Rang und die Wirkung der EMRK führen dazu, dass die deutsche Staats­ gewalt5 entsprechend des Gesetzesvorrangs die Verpflichtungen der Konvention zu achten hat.6 Zwar kommt der EMRK laut BVerfG-Rechtsprechung kein Verfas­ sungsrang zu,7 gleichwohl kann sie auf der Ebene des Verfassungsrechts als Aus­ legungshilfe für korrespondierende Grundrechte und rechtstaatliche Grundsätze herangezogen werden.8 Hintergrund dieser Interpretationsweise ist die Völker­ rechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, welche es ermöglicht die gesamte deut­ sche Rechtsordnung, d. h. sowohl die einfachen Gesetze als auch die Verfassung, in der Gestalt auszulegen, dass sie in keinem Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik steht.9 Dies bedeutet einerseits für Verfahren an denen Deutschland selbst beteiligt ist, dass sie ihrer Pflicht zur Befolgung der Entscheidung nach Art. 46 Abs. 1 EMRK nachzukommen haben. Anderseits haben die Organe der Bundesrepublik Deutschland ebenso Entscheidungen des EGMR zu rezipieren, selbst wenn sie nicht auf denselben streitgegenständlichen Verfahren beruhen und gegenüber einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind (Orientierungsund Leitfunktion).10 Im letzteren Fall ist eine Kontextualisierung des case law des EGMR von Nöten, d. h. anstelle einer abstrakten Berücksichtigung des Ergebnis­ ses der Entscheidung hat sich der Rechtsanwender mit dem konkreten Sachverhalt und dem rechtskulturellen Hintergrund auseinanderzusetzen und spezifische Be­ sonderheiten der deutschen Rechtsordnung zu beachten.11 Eine schematische Parallelisierung von nationalem (Verfassungs-)Recht und EMRK soll damit verhindert werden.12 Stattdessen soll mit einer ergebnisorien­ tierten Auslegung eine Völkerrechtsverletzung durch die Bundesrepublik abge­ leitung, Rn. 78; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 18; Schweitzer / De­ derer, StaatsR III, Rn. 1193. 4 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 18; Sauer, ZaöRV 65 (2005), 36 (39). 5 Dies gilt insbesondere für die Exekutive und Judikative (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). 6 BVerfGE 111, 307 (316 f., 326); 148, 296 (389 f.); Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 78; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 18. 7 BVerfGE 111, 307 (317); 151, 1 (26 f.); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10. 8 BVerfGE 111, 307 (317); 120, 180 (200); 128, 326 (367 f.); 141, 1 (29); 148, 296 (351); 151, 1 (27); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), EuGR, § 2, Rn. 15; Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  2, Rn.  49; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Haug, NJW 2018, 2674 (2676); Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 84, 89; HK-EMRK / Meyer-La­ dewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 19; Schweitzer / Dederer, StaatsR III, Rn. 1194. 9 BVerfGE 111, 307 (317); 128, 326 (368 f.); 141, 1 (27); 148, 296 (351 f.); 151, 1 (27); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), EuGR, § 2, Rn. 13; Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 87. 10 BVerfGE 111, 307 (320); 128, 326 (368); 148, 296 (354); 151, 1 (28); Haug, NJW 2018, 2674 (2676). 11 BVerfGE 148, 296 (354 f.); Kaiser, AöR 142 (2017), 417 (432 f.); Haug, NJW 2018, 2674 (2676). Vgl. auch BVerfGE 111, 307 (327). 12 BVerfGE 111, 307 (323); 128, 326 (370); 137, 273 (320 f.); 141, 1 (30); 148, 296 (353 f.); 151, 1 (26 f.); Haug, NJW 2018, 2674 (2676); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 81.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

wendet werden.13 Das innerstaatliche Recht ist daher im Rahmen eines „aktiven Rezeptionsvorgangs“14 so auszulegen, dass sich die Konvention „möglichst scho­ nend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem“15 einpasst.16 Die hierfür erforderliche Feinjustierung zwischen Grundgesetz und EMRK kann insbesondere über das Verhältnismäßigkeitsprinzip gefunden wer­ den.17 Besteht für den Rechtsanwender ein Auslegungs- und Abwägungsspielraum, so kommt der Auslegung im Sinne der Konvention ein Vorrang zu.18 Die Grenzen dieser Auslegungsmethode werden erreicht, wenn „diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar“19 erscheinen.20 Dies ist etwa der Fall, wenn die Beachtung der EGMR-Entscheidung wegen einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzes- oder Verfassungsrecht, insbesondere in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, verstößt.21 Insofern steht es dem Gesetzgeber zu, „im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes“22 die Entscheidung zu treffen, Völkervertragsrecht nicht zu beachten, um Verstöße gegen tragende Grundsätze des Grundgesetzes abzuwenden.23 Das BVerfG konkretisiert diese Grenze in seinem Treaty Override-Beschluss24 dahingehend, dass der Gesetzgeber nur insoweit an die Konvention gebunden ist, als dass sie im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden mit den Grundent­ scheidungen des Grundgesetzes in Einklang steht.25 Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass lediglich die im Wege des Art. 1 Abs. 2 GG in das Grundgesetz ein­ fließenden unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte den Gesetzge­ 13

BVerfGE 148, 296 (353 f.); Haug, NJW 2018, 2674 (2676). BVerfGE 128, 326 (370). 15 BVerfGE 128, 326 (371). 16 BVerfGE 111, 307 (327); 128, 326 (371); 137, 273 (320 f.); 148, 296 (355 f.); 151, 1 (26 f.); Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / G G, Kap.  2, Rn.  76; Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Haug, NJW 2018, 2674 (2676); Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 90. 17 BVerfGE 111, 307 (323); 128, 326 (371 f.); Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK /  GG, Kap. 2, Rn. 76; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 85. 18 BVerfGE 111, 307 (329); 148, 296 (355); 151, 1 (26 f.). 19 BVerfGE 148, 296 (132 f.). 20 BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (371); 137, 273 (321); 141, 1 (29 f.); 148, 296 (355); 151, 1 (26 f.); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Haug, NJW 2018, 2674 (2676); Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 88; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Ein­ leitung, Rn. 19. 21 BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (371); 137, 273 (321); 148, 296 (355 f.); Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 3, Rn. 10; Mayer, in: Karpenstein / ders. (Hrsg.), Einleitung, Rn. 88; HKEMRK / Meyer-Ladewig / Nettesheim, Einleitung, Rn. 19; Schweitzer / Dederer, StaatsR III, Rn. 1196. Vgl. zu den „Rezeptionshemmnissen“ auch Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  2, Rn.  74. 22 BVerfGE 141, 1 (30). 23 BVerfGE 111, 307 (319); 141, 1 (30); 148, 296 (355); 151, 1 (26 f.). 24 BVerfGE 141, 1. 25 BVerfGE 141, 1 (24). Vgl. Hwang, EuR 2017, 512 (521 f.). 14

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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ber binden.26 Dementsprechend könnte der Gesetzgeber unter Berücksichtigung, d. h. unter Kenntnisnahme und Einfließenlassen der Konvention und der Judikatur des Gerichtshofs in den Willensbildungsprozess,27 ein Gesetz erlassen, welches im Widerspruch zur EMRK steht, sofern es nicht gegen den Kernbestand des Art. 1 Abs. 2 GG verstößt, wie er sich auch in den nationalen Grundrechten wiederfindet. Eine Unvereinbarkeit des Gesetzes mit einem menschenrechtlichen Völkerver­ tragsrecht wie der EMRK führt somit nicht ohne weiteres zu dessen Verfassungs­ widrigkeit.28 Im Ergebnis bestünde ein „hinkendes Gesetz“, welches einerseits ver­ fassungsgemäß, andererseits völkerrechtswidrig wäre. Mit dem Urteil unterstreicht das BVerfG letztlich die unmittelbare Bindung des Gesetzgebers an die verfas­ sungsmäßige Ordnung nach Art. 20 Abs. 3 GG und nicht an die Völkerrechtsord­ nung.29 Die Tatsache, dass die nachfolgenden Entscheidungen zum Grund- und Menschenrechtsschutz30 diese Linie nicht weiter akzentuiert haben, mag an der fehlenden thematischen Einschlägigkeit gegenüber der Treaty Override-Entschei­ dung liegen, welche vornehmlich das Demokratieprinzip und die Gestaltungsfrei­ heit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zum Gegenstand hatte. 2. Anwendungsbereich Während die Konvention weder zeitliche Vorgaben hinsichtlich der Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer noch nähere Kriterien hierfür vorgibt,31 so ergibt sich anhand des Wortlautes des Art. 6 Abs. 1 EMRK zumindest der Anwen­ dungsbereich der Garantie. Konkretisiert werden diese unbestimmten Rechtsbe­ griffe durch die Kasuistik des EGMR.32 a) Persönlicher Anwendungsbereich Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer kommt als Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechend dem eindeutigen Wortlaut33 Jedermann zu, d. h. al­ len natürlichen und juristischen Personen des Privatrechts, unabhängig von ihrer 26 BVerfGE 141, 1 (15, 32), wonach der Verfassungsgeber an diese gebunden sei. Dies muss erst recht für den parlamentarischen Gesetzgeber gelten, Hwang, EuR 2017, 512 (521 f.). Ähn­ lich auch Kees, Der Staat 54 (2015), 63 (91–94), der sich allerdings anstelle des Art. 1 Abs. 2 GG dem Prinzip der völkerrechtsfreundlichen Auslegung als „Integrationshebel“ zur Einbindung von Völkervertragsrecht, explizit auch menschenrechtlicher Verträge wie der EMRK (ebenda, 63 [92]), bedient. 27 Vgl. dazu BVerfGE 111, 307 (324); 148, 296 (389 f.). 28 BVerfGE 141, 1 (24). 29 Funke, DÖV 2016, 833 (835); Hwang, EuR 2017, 512 (521 f.). So auch Kees, Der Staat 54 (2015), 63 (88 f.). 30 Vgl. BVerfGE 148, 296 (355); 151, 1 (26 f.). 31 Dazu sogleich unter Kap. 3 A. I. 3. 32 S. dazu Kap. 2 A. I. 33 Im authentischen Wortlaut „everyone“ sowie „[t]oute personne“.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Staatsangehörigkeit, Staatenlosigkeit oder ihrer Sonderbeziehung zum Staat.34 Zu beachten ist, dass die zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen der Person betroffen sein müssen oder sie sich mit einer strafrechtlichen Anklage konfrontiert sieht und dabei unter der Entscheidungsgewalt eines Gerichts stehen muss. Anderen Verfahrensbeteiligten ist es grundsätzlich verwehrt sich auf Art. 6 EMRK zu be­ rufen.35 Ausnahmen gelten für Personen (etwa Nebenkläger), die etwa im Rahmen eines Strafverfahrens Schadensersatzansprüche geltend machen.36 Demgegenüber treten der Staat, seine Untergliederungen und juristische Per­ sonen des öffentlichen Rechts grundsätzlich als Grundrechtsadressaten auf und können sich nicht auf die Konventionsrechte wie Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen.37 Dieser Befund lässt sich anhand des Art. 34 S. 1 EMRK bestätigen, welcher aus­ drücklich nur „nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen“38 die Mög­ lichkeit der Individualbeschwerde zuweist und somit staatliche Akteure grund­ sätzlich als Träger von Konventionsrechten ausschließt.39 Ausnahmen kann es für juristische Personen des öffentlichen Rechts geben, die keine oder kaum hoheit­ liche Befugnisse ausüben. Insbesondere grundrechtstypisch gefährdete, öffent­ lich-rechtlich organsierte Einheiten wie Glaubensgemeinschaften, Hochschulen oder öffentliche Rundfunkanstalten können sich auf die Rechte der EMRK be­ rufen.40 Insofern ergeben sich bereits aus dem persönlichen Anwendungsbereich Einschränkungen hinsichtlich der Anwendbarkeit in den vornehmlich staatsrecht­ lichen Verfahrensarten des BVerfGG. b) Sachlicher Anwendungsbereich Von tragender Rolle ist die Auslegung der Begrifflichkeiten „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ sowie „strafrechtliche Anklage“. Lediglich in­ nerhalb dieser umrissenen Anwendungsbereiche gilt der Anspruch auf eine ange­ messene Verfahrensdauer. Der Europäische Gerichtshof interpretiert die Begriffe grundsätzlich autonom, greift allerdings als Hilfsmittel auf das mitgliedstaatliche Recht zurück.41 Insofern erstreckt sich der Anwendungsbereich auf deutlich mehr 34

Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 4 m. w. N. S. auch Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 6 sowie zu Strafgefangenen Schabas, ECHR, 275. 35 Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 4. 36 Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 4. 37 Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 4 unter (aktualisierten) Verweis auf Grabenwar­ ter / Pabel, EMRK, § 13, Rn. 13 ff. 38 „Non-governmental organisation or group“/„toute organisation non gouvernementale ou tout groupe“. 39 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 34, Rn. 14; Peukert, in: Frowein /  ders., Art. 34, Rn. 18; Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  5, Rn.  48 sowie Schabas, ECHR, 737 jeweils m. w. N. aus der EGMR-Rspr. 40 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 13, Rn. 13; Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK /  GG, Kap. 5, Rn. 49. 41 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 5.

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Gebiete, als ein (deutscher) Rechtsanwender anhand einer inländischen Qualifi­ kation prima vista vermuten würde. aa) Zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen Die Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen42 lassen sich in drei wesentliche Voraussetzungen einteilen: Der Streit um ein Recht, wel­ ches zivilrechtlichen Charakters ist.43 Das Recht zeichnet sich in Abgrenzung zu einer bloßen prozessrechtlichen Stel­ lung dadurch aus, dass es einen materiellen Gehalt auf Grundlage der nationalen Rechtsordnung zumindest vertretbar begründbar vermittelt.44 Die Frage nach der zivilrechtlichen Natur eines Rechts bemisst der EGMR auto­ nom und reicht damit deutlich weiter als eine inländische Qualifikation, was bei oberflächlicher Betrachtung zu Missverständissen einladen kann. Jedenfalls un­ streitig liegt zivilrechtlicher Streit bei typischen Privatrechtsstreitigkeiten zwischen zwei privaten Rechtssubjekten vor. Schwieriger ist hingegen die Einordnung von Streitigkeiten des öffentlichen Rechts. Zur Abgrenzung bedient sich der EGMR vornehmlich einer „Auswirkungs- und Abwägungsjudikatur“.45 Zusammengefasst ist der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet, wenn der durch öf­ fentlich-rechtliche Vorschriften determinierte Streit unmittelbare Auswirkungen auf die Ausübung der von Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Rechten hat, etwa auf das Eigentumsrecht oder auf vertragliche Beziehungen.46 Alternativ kann sich unter Abwägung der privat- und der öffentlich-rechtlichen Elemente eines Anspruches ergeben, dass erstere dominieren und deshalb der Anwendungsbe­ reich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet ist.47 Jedenfalls nicht dem Zivilrecht zu­ geordnet werden die Kernbereiche des öffentlichen Rechts (z. B. das Steuerrecht oder das Wahlrecht).48 Insgesamt sind die Rechtsprechungslinien des EGMR 42

Im authentischen Wortlaut „civil rights and obligations“ sowie „droits et obligations de caracère civil“. 43 Einteilung nach Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 5–17. 44 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 5 ff.; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 13 ff.; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 14; Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 7 ff. mit Beispielen. 45 Begriff nach Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 10 f. 46 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 10; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 14 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 9; Peukert, in: Frowein / ders., Art.  6, Rn.  16; Schabas, ECHR, 274. 47 Insb. im Sozialrecht der Fall. Dazu Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 11; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 18; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, Art. 6, Rn. 10; Schabas, ECHR, 274. 48 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 14; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 18; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 13; Peukert, in: Frowein / ders., Art.  6, Rn. 17; Schabas, ECHR, 274 f.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

nicht gänzlich konsequent. Eine extensive Auslegung des Terminus zivilrechtlich hat zu einer weitgefächerten Kasuistik geführt.49 Das letzte Kriterium, die Entscheidung über eine Streitigkeit, erfordert, dass das Verfahren in einer unmittelbaren Entscheidung über das Recht mündet.50 Der von den Parteien geführte Streit muss hierbei real und ernsthaft sein.51 Hinsichtlich Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz geht der EGMR mittlerweile52 auch von einer Entscheidung über eine Streitigkeit aus, wenn im Rahmen einer einstwei­ ligen Maßnahme eine wirksame Festlegung des zivilen Rechts, unabhängig von ihrer Dauer, getroffen wird.53 bb) Strafrechtliche Anklage Die Auslegung des Merkmals der strafrechtlichen Anklage54 erfolgt ebenfalls autonom unter Zuhilfenahme der nationalen Rechtsordnung.55 Der EGMR geht bei der Zuordnung zum strafrechtlichen Bereich nach den Engel-Kriterien56 vor: Indiziell ist zunächst die Einordnung nach nationalem Recht und damit die Frage, ob sich der Fall im jeweiligen nationalen (Kern-)Strafrecht bewegt.57 Ergänzend zieht der EGMR die Kriterien der Natur des Vergehens oder die Art und Schwere der Sanktion heran, so dass andere Rechtsbereiche als das (Kern-) Strafrechts erfasst sein können, so z. B. das Disziplinarrecht58.59 49

Dargestellt bei Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 383–389; HK-EMRK /  Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 21 f.; Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 17 f. 50 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 15; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, Art. 6, Rn. 18. 51 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 17; Peukert, in: Frowein /  ders., Art. 6, Rn. 11. 52 Rechtsprechungswandel in EGMR, Micallef v. Malta, Urteil v. 15. 10. 2009, No. 17056/06, Rn. 78–86. 53 EGMR, Micallef v. Malta, Urteil v. 15. 10. 2009, No. 17056/06, Rn. 85; Grabenwarter / Pa­ bel, EMRK, § 24, Rn. 15; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 6 EMRK, Rn. 22; HKEMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 20; Schabas, ECHR, 275 f. 54 Im authentischen Wortlaut „criminal charge“ und „accusation en matière pénale“. S. zur weiten Auslegung des Begriffes der „Anklage“ Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 27; Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 41; Schabas, ECHR, 280 f. 55 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 23. 56 Benannt nach der Rechtssache EGMR, Engel et al. v. the Netherlands, Urteil v. 08. 06. 1976, No. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72, 5370/72, Rn. 81 f. S. dazu Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 27. 57 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 20; Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 377; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 25; Peukert, in: Frowein /  ders., Art. 6, Rn. 26. 58 Vgl. EGMR, Engel et al. v. the Netherlands, Urteil v. 08. 06. 1976, No. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72, 5370/72; weitere Beispiele bei Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 27–40. 59 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 19; 21 f.; Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 377; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 24; Peukert, in: Fro­ wein / ders., Art.  6, Rn.  26.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Um die strafrechtliche Natur eines Vergehens herauszuarbeiten, untersucht der Gerichtshof weitere Eigenschaften der in Frage kommenden Norm: Richtet sie sich an die Allgemeinheit oder an einen nur beschränkten Personenkreis? Steht der Verbotstatbestand in Zusammenhang mit einem präventiven und repressiven Zweck? Hängt die Verhängung der Sanktion mit der Feststellung einer Schuld zu­ sammen? Wie qualifizieren die übrigen Mitgliedstaaten des Europarats vergleich­ bare Normen?60 Das dritte Engel-Kriterium, die Art und Schwere der Sanktion, nimmt die Rechtsfolgenseite in den Blick. Maßgeblich ist grundsätzlich die abstrakte Straf­ androhung, der sich der Einzelne ausgesetzt sieht.61 Hinsichtlich der Art kann zwischen Freiheits-, Geld- und sonstigen Strafen differenziert werden.62 Bezüglich der Schwere kommt es auf die potentielle Höchststrafe sowie deren Vollstreckung an.63 Je intensiver und freiheitseinschränkender die Reaktion erscheint, desto eher ist der strafrechtliche Anwendungsbereich eröffnet.64 cc) Verfassungsrechtliche Streitigkeiten? Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art („constitutional disputes“) werden von Art. 6 Abs. 1 EMRK jedenfalls dem Wortlaut nach nicht erfasst, womit für der­ artige Streitigkeiten das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht gelten würde. Wie sich u. a. in den Rechtssachen Ruiz-Mateos v Spain65 sowie Pammel v. Germany bzw. Probstmeier v. Germany66 gezeigt hat, macht der EGMR hier­ von (scheinbar) eine Ausnahme und unterwirft Verfahren, die nach nationalem Verständnis dem objektiven Verfassungsrecht dienen, den verfahrensrechtlichen Garantien der Konvention. Allerdings ist in diesen Fällen der konkreten Normen­ kontrolle67 zu beachten, dass der EGMR seine Jurisdiktion auf solche Verfahren nur erstreckt, sofern sie für das Ausgangsgerichtsverfahren, in dem die straf- oder zivilrechtlichen Interessen eines Verfahrensbeteiligten auf dem Spiel stehen, aus­ schlaggebend sein können.68 60

Eingehend Schabas, ECHR, 277 f. Vgl. auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 21; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 26. 61 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 22; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / Kö­ nig, Art. 6, Rn. 27; Schabas, ECHR, 278. 62 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 23. 63 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 22. 64 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 22. 65 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35 f. 66 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51, 57 f.; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46 f., 51 f. 67 Bzw. des vergleichbaren Verfahrens, der „cuestión de inconstitucionalidad“, nach spani­ schem Recht. 68 EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35–37; Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51–53; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46–48; Pierre-Bloch v. France; Urteil v. 21. 10. 1997, No. 24194/94, Rn. 48; Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 65.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Genuin verfassungsrechtliche Streitigkeiten, wie z. B. ein einjähriger Aus­ schluss von der Wählbarkeit69, fallen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR stuft generell das aktive und passive Wahlrecht sowie dazugehörige Rechte nicht als „civil rights“, sondern als politische Rechte ein.70 Vergleichbar urteilte der Gerichtshof bei der Überprüfung eines Amtsenthebungs­ verfahrens eines Präsidenten.71 Auch in Fällen von Parteiverboten sahen die Straß­ burger Richter von einer Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK ab.72 Derartige Verfahren sind daher vom sachlichen Anwendungsbereich (ratione materiae) des Art. 6 Abs. 1 EMRK herauszunehmen.73 Sofern nicht andere Bestim­ mungen der Konvention oder ihrer Zusatzprotokolle einschlägig sind – denkbar wäre Art. 3 des 1. ZP74 – lassen sich diese Linien dahingehend verallgemeinern, dass Art. 6 EMRK in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, insbesondere solchen von staatsorganisationsrechtlicher Natur, entsprechend des sachlichen Anwen­ dungsbereiches der EMRK als menschenrechtlicher Vertrag nicht einschlägig ist.75 Ein anderes Ergebnis kann sich ergeben, wenn tatsächlich zivilrechtliche Ansprü­ che und Verpflichtungen betroffen sind oder eine strafrechtliche Anklage vorliegt. Dieses Verhältnis von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten und inzident ge­ führten Streitigkeiten im zivil- oder strafrechtlichen Bereich vor einem Verfas­ sungsgericht ist dabei weniger als Regel-Ausnahme-Verhältnis zu verstehen, son­ dern vielmehr den Besonderheiten der Konvention zuzuschreiben. Es wird nicht ausnahmsweise der Anwendungsbereich für ein verfassungsrechtliches Verfahren eröffnet, sondern das Verfahren von vornherein nicht als verfassungsrechtlich, sondern zugunsten des Betroffenen, in autonomer Auslegung als zivil- oder straf­ 69

EGMR, Pierre-Bloch v. France; Urteil v. 21. 10. 1997, No. 24194/94, Rn. 48–53. EGMR, Communist Party of Russia et. al. v. Russia, Urteil v. 19. 06. 2012, No. 29400/05, Rn. 143. 71 EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 65–69. 72 EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70. Als offensichtlich unbegründet zurückgewie­ sen in EGMR, Republican Party of Russia v. Russia, Urteil v. 12. 04. 2011, No. 12976/07, Rn. 132. Noch offengelassen in EGMR, Socialist Party et. al. v. Turkey, Urteil v. 25. 05. 1998, No. 21237/93, Rn. 58–60. Gegen eine Subsumtion unter eine strafrechtliche Anklage Kom­ mission, TBKP, Sargin et Yagci c. Turquie, Entscheidung v. 06. 12. 1994, No. 19392/92, En Droit, Rn. 2. 73 Vgl. EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite)  et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70; Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 69; Communist Party of Russia et. al. v. Russia, Urteil v. 19. 06. 2012, No. 29400/05, Rn. 143. 74 Art. 3 des 1. ZP verbürgt das Recht auf freie Wahlen, so entschieden in EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 97–112. Dieses und andere Konventions­ rechte können durch Art. 13 EMRK effektuiert werden, was allerdings nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist. 75 Zur ratione materiae der Konvention Schabas, ECHR, 94 f. 70

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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rechtlich qualifiziert und damit Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie der Garantie auf eine angemessene Verfahrensdauer unterstellt. c) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht: Subsumtion unter Art. 6 Abs. 1 EMRK Inwiefern der Art. 6 Abs. 1 EMRK und damit das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer grundsätzlich Anwendung in Verfahren vor dem BVerfG findet, wird durch die Subsumtion der verschieden verfassungsgerichtlichen Verfahrens­ arten unter den dargestellten Anwendungsbereich ermittelt. Dass die aufgezeigten Grundsätze über die Reichweite von Art. 6 Abs. 1 EMRK für Verfahren vor dem BVerfG gelten, hat der EGMR bereits in dem Deumeland-Urteil76 festgelegt und seither in seinem well-established case law77 wiederholt: Ausreichend ist, dass das verfassungsgerichtliche Verfahren das fachgerichtliche Ausgangsverfahren be­ einflussen kann. Welche Verfahren dies bei generell-abstrakter Betrachtung sein können, wird im Folgenden methodengeleitet78 analysiert. Die Frage, ob Verfahren vor dem BVerfG entsprechend der Formel des EGMR in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, ist ausgehend vom authentischen Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu beantworten: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law.“79

76

EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81. EGMR, Poiss v. Austria, Urteil v. 23. 04. 1987, No. 9816/82, Rn. 52; Bock v. Germany, Urteil v. 29. 03. 1989, No. 11118/84, Rn. 37; Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35; Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 42; Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51–53, 57 f.; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46–48, 51 f.; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 64; Klein v. Germany, Urteil v. 27. 07. 2000, No. 33379/96, Rn. 29; Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98, Rn. 64; Voggenreiter c. All­ emagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99, Rn. 31–33; vgl. auch Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 38. 78 Maßgeblich hierfür sind insbesondere die Auslegungsmethodik nach der Wiener Ver­ tragsrechtskonvention (WVK) sowie die ständige EGMR-Rechtsprechung, wonach die EMRK als „living instrument“ dynamisch und evolutiv zu interpretieren ist. S. Cremer, in: Dörr /  Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  4, Rn.  18; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 5, Rn. 14–16; Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 8 f.; Schabas, ECHR, 47 ff.; Villiger, in: FS Ress, 317, jeweils m. w. N. 79 Bzw. in französisch: „Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue équitablement, publiquement et dans un délai raisonnable, par un tribunal indépendant et impartial, établi par la loi, qui décidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, soit du bien-fondé́ de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle.“ Zur verbesserten Lesbarkeit des Textes wird die französische Fassung im Fußnotenapparat dargestellt. 77

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Fraglich ist zunächst, ob das BVerfG unter die Begrifflichkeit des „tribunal“, vulgo Gericht oder Gerichtshof, subsumiert werden kann. Den Begriff charakteri­ siert der EGMR anhand des materiellen Gesichtspunktes der Ausübung von richter­ licher Gewalt, d. h. die in seinen Zuständigkeitsbereich gehörenden Angelegenhei­ ten auf der Grundlage von Rechtsnormen nach einem vorgeschriebenen Verfahren zu entscheiden.80 Nach ganz h. M. ist das BVerfG als Gericht ein Teil der dritten Ge­ walt, da gemäß Art. 92 GG den Richtern des BVerfG die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist81 Seine Zuständigkeit wird auf Grundlage von verfassungsrechtlichen Normen (etwa Art. 21 Abs. 2; 93 Abs. 1, 2; Art. 100 GG) und einfachen Gesetzen (etwa §§ 97b Abs. 1 S. 1; § 105 Abs. 2 BVerfGG; § 26 Abs. 3 EuWG; vgl. Art. 93 Abs. 3 GG) bestimmt. Das Verfassungsgericht entscheidet grundsätzlich unter Aus­ legung und Anwendung des Grundgesetzes in einem rechtsförmigen Verfahren (vgl. §§ 17 ff. BVerfGG) über die ihm zugewiesenen Verfahrensarten. Die kon­ ventionsrechtlichen Kriterien an ein „tribunal“ werden daher zweifelsohne erfüllt. Zwar ließe sich eine Beschränkung auf die Ebene der Fachgerichte aus dem sys­ tematischen Zusammenhang mit den „civil rights and obligations or of any crimi­ nal charge“82 begründen. Denn typischerweise obliegt es nicht den Verfassungs­ gerichten unmittelbar über die Begründetheit eines zivilrechtlichen Anspruches oder einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden. Stattdessen sind sie mit der Aufgabe betraut, „in einem gerichtlichen Verfahren am Maßstab des Verfassungs­ rechts letztverbindlich zu entscheiden, was Rechtens ist“.83 Solch einer verengten Lesart kann allerdings entgegengehalten werden, dass der maßgebende Begriff „tribunal“ keine nähere Einengung vornimmt.84 Auch das Telos der Konvention im Allgemeinen sowie der des Art. 6 Abs. 1 EMRK las­ sen sich für eine Einbeziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit fruchtbar machen. Denn im Lichte des Ziels der „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“85 sowie der tatsächlichen Effektivierung der Konventions­ rechte erscheint eine Erstreckung auf das Verfassungsgericht einleuchtend, auch wenn es nicht unmittelbar und selbst über das Zivil- und Strafrecht richtet, ande­ rerseits einen erheblichen tatsächlichen Einfluss auf die Geltung, den Inhalt und die Grenzen des einfachen Rechts haben kann. Hinsichtlich der in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerten Verfahrensgrundsätze, die als Conditio sine qua non jeglicher Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) anzusehen sind,86 würde es seltsam anmuten, 80

EGMR, Sramek v. Austria, Urteil v. 22. 10. 1984, No. 8790/79, Rn. 36; Cyprus v. Turkey, Urteil v. 10. 05. 2001, No. 2578/94, Rn. 233. 81 Voßkuhle, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 93, Rn. 19 m. w. N. 82 Franz.: „[…] soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, soit du bien-fondé de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle.“ 83 Stern, Staatsrecht II, 943. 84 Denkbar wäre eine Bezeichnung wie „ordinary courts“. 85 „[…] maintenance and further realiation of human rights and fundamental freedoms“; „[…] la sauvegarde et le développement des droits de l’homme et des libertés fondamentales“. 86 Vgl. Schabas, ECHR, 265.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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wenn man gerade die höchste nationale Instanz, den Hüter der Verfassung und im Zweifel die letzte nationale Bastion der Rechtsstaatlichkeit, von diesem Erforder­ nis freizeichnen würde. Im Ergebnis ist der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK grundsätzlich für das BVerfG als „tribunal“ eröffnet.87 Dies allerdings nur soweit, als dass ein verfassungsgerichtliches Verfahren den gezeigten persönlichen und sachlichen Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK tan­ giert. Diese Begrenzung verhindert eine übermäßige Auslegung der Konvention, die nicht mehr vom Wortlaut und dem ursprünglichen Willen der vertragsschlie­ ßenden Staaten gedeckt wäre. Das Tangieren lässt sich anhand der vom EGMR ge­ wählten Deumeland-Formel, wonach eine Beeinflussung dieser Rechte ausreicht, plausibel überprüfen. Darüber hinaus lässt sich negativ abgrenzen, ob ein genuin staatsrechtlicher Fall vorliegt und daher ratione materiae außerhalb des Anwen­ dungsbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. der Konvention liegt. aa) Verfassungsbeschwerdeverfahren (1) Individualverfassungsbeschwerde Als Bürgergericht kann vor dem BVerfG Jedermann nach Erschöpfung des Rechtsweges sowie unter Beachtung weiterer Voraussetzungen88 eine Individual­ verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) erheben. Ihre originäre Aufgabe liegt daher im Schutze der Grundrechte als sub­ jektiv öffentliche Rechte des einzelnen Bürgers; die subjektive Schutzfunktion ist evident.89 Entsprechend dieser Funktion bildet nicht das einfache Recht – etwa das Straf- oder Zivilrecht – den unmittelbaren Prüfungsmaßstab der Verfassungsbe­ schwerde, sondern grundsätzlich90 das Grundgesetz.91 Im Verfahren vor dem BVerfG wird daher grundsätzlich die Vereinbarkeit des Akts mit der deutschen Verfassung überprüft. Das Ergebnis dieser Prüfung ist je­ 87

Vgl. auch BeckOK, BVerfGG / Walter, § 1, Rn. 8; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 125. 88 S. zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen und dem Annahmeverfahren (§§ 93a ff. BVerfGG) Epping, Grundrechte, Rn. 149 ff., 201 ff.; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 206 ff., 258 ff. 89 S. BVerfGE 4, 27 (30); 6, 45 (49); 6, 445 (448). Ferner BVerfGE 21, 362 (371); 31, 87 (91); 43, 142 (147); 64, 301 (312); 96, 231 (239). Vgl. auch Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 194 f., 203 ff. MSKB / Bethge, BVerfGG, § 90, Rn. 8; BeckOK, BVerfGG / C . Grünewald, § 90 Abs. 1, Rn. 2; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 83. Daneben kommt der Verfassungs­ beschwerde auch eine objektive Funktion zu, dazu BeckOK, BVerfGG / C . Grünewald, § 90 Abs. 1, Rn. 2 f.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 84–95; kritisch MSKB / Bethge, BVerfGG, § 90, Rn. 8–11. 90 Neuerdings je nach Dichte des harmonisierten Unionsrecht auch die Europäische Grund­ rechtecharta, BVerfG NJW 2020, 300; NJW 2020, 314. 91 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 487 ff.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

doch nicht irrelevant für das einfache Recht und die Fachgerichte. Im Gegenteil: das einfache Recht wird gerade im Lichte des höherrangigen Verfassungsrechts ausgelegt. Insbesondere auf das Zivilrecht strahlen die Grundrechte als objektive Wertordnung aus (mittelbare Drittwirkung), so dass die Fachgerichte sie, vor­ nehmlich bei der Anwendung und Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder General­k lauseln, heranzuziehen und abzuwägen haben.92 Dementsprechend über­ prüft das BVerfG bei Urteilsverfassungsbeschwerden mittelbar die Auslegung und Anwendung der Normen des einfachen Rechts.93 Bereits anhand dieses Aspekts lässt sich erahnen, dass eine Karlsruher Entscheidung für die straf- oder zivil­ rechtliche Position des Einzelnen nicht ohne Auswirkungen bleibt und den An­ wendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet. Konkret bleiben bei einer Unvereinbarkeits- oder Nichtigkeitserklärung von Vor­ schriften (§ 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) hierauf beruhende, nicht mehr anfechtbare Akte94 zwar unberührt (Bestandsschutz und Rückabwicklungsverbot, § 95 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 79 Abs. 2 S. 1  BVerfGG) und somit in ihrer Wirkung bestehen.95 Gleichwohl sind diese zumindest nicht mehr vollstreckbar bzw. ihnen kann, so­ weit nach den Regeln der ZPO vollstreckt wird, mit der Vollstreckungsabwehr­ klage (§ 767 ZPO) begegnet werden (Vollstreckungsschutz, § 95 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 79 Abs. 2 S. 2, 3 BVerfGG).96 Fußt ein rechtskräftiges Strafurteil gegen den Beschwerdeführer auf einer Norm, die für mit dem Grundgesetz unvereinbar oder für nichtig erklärt wurde bzw. die Verurteilung aus einer verfassungswidrigen Aus­ legung der Strafnorm herrührt (§ 95 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 79 Abs. 1 BVerfGG), so ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig.97 Die verfassungsgerichtliche Unvereinbarkeits- oder Nichtigkeitserklärung eines Rechtssatzes kann somit in Fällen von noch anfechtbaren oder zu vollstreckenden Entscheidungen und insbesondere bei einer strafrechtlichen Verurteilung einen maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers haben. Die Verfassungsbeschwerde verhilft damit nicht (nur) zur Durchsetzung von ideellen Interessen, sondern dient wegen seiner potentiellen Auswirkung der Weiterverfol­ gung von ursprünglichen klägerischen Interessen in einem Zivilprozess oder der 92

Dazu Epping, Grundrechte, Rn. 347–348. Zur mittelbaren Kontrolle der Zivilgerichtsbar­ keit durch die Verfassungsbeschwerde MSKB / Bethge, BVerfGG, § 90, Rn. 21; allgemein zur Kontrolle von Urteilen Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 288–309. 93 Eingehend O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 499–509; Schlaich /  Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 288–308a. 94 D. h. rechtskräftige Entscheidungen und bestandskräftige Verwaltungsakte. 95 Dieser Grundsatz wird durch das Konterkarierungsverbot des § 79 Abs. 2 S. 4 BVerfGG bekräftigt, vgl. BeckOK, BVerfGG / Kaprenstein, § 79, Rn. 57; Kees, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 79, Rn. 2, 18. 96 Eingehend MSKB / Bethge, BVerfGG, § 79, Rn. 44–75; BeckOK, BVerfGG / Kaprenstein, § 79, Rn. 25–59; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1444–1453, Schlaich /  Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 391. 97 MSKB / Bethge, BVerfGG, § 79, Rn. 24; BeckOK, BVerfGG / Kaprenstein, § 79, Rn. 10; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1448. S. dazu BVerfGE 115, 51 (63).

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Wiederaufnahme eines strafrechtlichen Verfahrens zugunsten des Angeklagten, was eindeutig für eine Anwendbarkeit des Rechts auf eine angemessene Verfah­ rensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK spricht. Vergleichbares gilt bei Urteilsverfassungsbeschwerden, da das Verfahrenser­ gebnis des BVerfG für den Beschwerdeführer dahingehend Auswirkungen haben kann, als dass das BVerfG eine verfassungswidrige Gerichtsentscheidung aufhebt und die Sache gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an das zuständige Gericht zurückver­ weist.98 So erhält der Beschwerdeführer im Fall eines Obsiegens vor dem BVerfG die Möglichkeit, eine verfassungskonforme Entscheidung vor dem Fachgericht zu erhalten.99 Noch deutlicher wird der Einfluss des Verfassungsgerichts, wenn es ausnahmsweise selbst und abschließend entscheidet (sog. Durchentscheiden)100 und damit unmittelbaren Einfluss auf die einfachgesetzliche Rechtsposition des Beschwerdeführers nimmt.101 Der tatsächliche Einfluss der verfassungsgerichtlichen Entscheidung auf die straf- oder zivilrechtliche Rechtsposition des obsiegenden Beschwerdeführers lässt sich des Weiteren dadurch verdeutlichen, dass lediglich er als Verfahrensbeteiligter in den Genuss des § 95 Abs. 2 BVerfGG gelangt, während Verfahrensunbeteiligte in bestands- und rechtskräftigen Parallelfällen102 auf den Bestandsschutz und das Rückabwicklungsverbot pro praeterito (§ 95 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) verwiesen werden und ggf. nur noch Vollstreckungsschutz pro futuro in Anspruch nehmen können (§ 95 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 79 Abs. 2 S. 2, 3 BVerfGG).103 98 Sofern das BVerfG eine überlange Verfahrensdauer und damit eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG feststellt, kommt es nicht zu einer Zurückweisung, sondern regelmäßig zu einer bloßen Feststellung der Verzögerung (HKBVerfGG / L enz / Hansel, § 95, Rn 36). 99 Dies entspricht der Funktionsteilung von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit, vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 645; BeckOK, BVerfGG / v. UngernSternberg, § 95, Rn. 24. 100 Zum Durchentscheiden: BVerfGE 35, 202 (244 f.); 79, 69 (79); BVerfG (Kammer), Be­ schluss v. 16. 01. 1995 – 1 BvR 1505/94, Rn. 21, juris; Beschluss v. 15. 07. 1996 – 1 BvR 640/96, Rn. 23, juris; BVerfGK 5, 316 (327); 7, 21 (48 f.); MSKB / Hömig, BVerfGG, § 95, Rn. 32; Netters­ heim, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 95, Rn. 44;§ 95, Rn. 34; Stark, in: Burkiczak / Dollinger /  Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 95, Rn. 73, 99 ff. Kritisch O.  Klein, in: Benda / K lein, Ver­ fassungsprozessrecht, Rn. 646; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 95, Rn. 33; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 376. 101 Hierfür führt das BVerfG das Interesse des Beschwerdeführers an einer raschen und endgültigen Klärung der Sache an, was letztlich als aktive Anwendung des Beschleunigungs­ gebots – ob prozess-, verfassungs- oder menschenrechtlich radiziert sei dahingestellt – zu ver­ stehen ist. Vgl. BVerfGE 35, 202 (244 f.); 79, 69 (79); BVerfGK 7, 21 (48 f.); MSKB / Hömig, BVerfGG, § 95, Rn. 32, Stark, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 95, Rn. 73, 75. 102 Auf noch nicht abgeschlossene Verfahren wirkt sich eine Nichtigkeits- oder Unverein­ barkeitserklärung selbstverständlich aus, vgl. Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 413 ff. 103 Vgl. BVerfGE 115, 51 (63) m. w. N.; MSKB / Bethge, BVerfGG, § 79, Rn. 4, 51, 55. BeckOK, BVerfGG / Karpenstein, § 79, Rn. 45.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Hieran zeigt sich, dass gerade „seine“ erfolgreiche Verfassungsbeschwerde seine persönlichen zivil- oder strafrechtlichen Rechte und Pflichten beeinflusst. Im Übrigen kann das BVerfG bei allen Verfahren bestimmen, in welcher Art und Weise seine Entscheidung vollstreckt wird (§ 35 BVerfGG). Auf dieser Grund­ lage kann das BVerfG jedwede Maßnahmen treffen, „die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom BVerfG ge­ fundenen Rechts notwendig sind“104. In der Praxis des Verfassungsgerichts haben sich im Wesentlichen vier Fallgruppen herausgebildet: ausreichender Rechtsschutz des Beschwerdeführers zwischen der Entscheidung des BVerfG und der erneuten Entscheidung des Fachgerichts; Schließung bestehender Rechtslücken; Formulie­ rung ersatzweiser (Straf-)Normen im Falle einer Nichtigkeitserklärung; befristete und / oder modifizierte Fortgeltung von mit dem GG unvereinbar erklärten Nor­ men.105 Insbesondere die beiden letztgenannten Fälle können Belastungen oder Begünstigungen für den Beschwerdeführer mit sich bringen. Man denke etwa an ersatzweise geschaffene Strafnormen,106 die offenkundige die Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung sein können. Insgesamt zeigt sich anhand des Verfassungsprozessrechts, dass das BVerfG bei der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde zwar in erster Linie das Verfassungs­ recht auslegt und das einfache Recht hieran misst, die Folgen seiner Entscheidung jedoch eine erhebliche Wirkung auf die zivilrechtlichen Rechte und Pflichte oder auf eine strafrechtliche Anklage bzw. Verurteilung des Beschwerdeführers haben können. Daher fällt das Verfassungsbeschwerdeverfahren in den Anwendungs­ bereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. (2) Kommunalverfassungsbeschwerde Hingegen fällt die Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfGG) trotz ihrer systematischen Stellung107 und ihrer ähnlichen Stoßrichtung108 nicht unter den Art. 6 Abs. 1 EMRK. Entsprechend der amtlichen Überschrift des 15. Abschnitts des dritten Teils gelten die zur Verfas­ sungsbeschwerde genannten prozessualen Normen zwar ebenso für die Kommunal­ verfassungsbeschwerde, allerdings scheitert die Eröffnung des Anwendungsberei­ 104

BVerfGE 6, 300 (304) unter Verweis auf A. Arndt, DVBl. 1952, 3. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1553–1558. 106 So zum Schutz des ungeborenen Lebens in BVerfGE 39, 1 (68); 88, 203 (209–213, 336 f.), vgl. zur Kritik an dieser Praxis Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 474. 107 Die §§ 90 ff. BVerfGG gelten entsprechend der amtlichen Abschnittsüberschrift gleichsam für die Verfahren nach § 13 Nr. 8a BVerfGG und damit für die Individual- sowie die Kommu­ nalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, 4b GG). 108 In Abgrenzung zum Bund-Länder-Streit oder zur abstrakten Normenkontrolle, dazu O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 664–669; Diehm, in: Burkiczak /  Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 91, Rn. 5. Offenlassend Barczak, in: ders. (Hrsg.), BVerfGG, § 91, 8 f. 105

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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ches von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Ermangelung einer strafrechtlichen Anklage bzw. zivilrechtlicher Rechte und Pflichten, die durch das Verfahren beeinflusst werden könnten. Die Kommunalverfassungsbeschwerde begrenzt sich von vornherein auf die Überprüfung der Verletzung der Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 GG durch ein Gesetz. Zwar macht der jeweilige Hoheitsträger nach natio­ naler Dogmatik eigene (subjektive) Rechte geltend109. Indes tritt der Beschwerde­ führer nicht als Inhaber eines Grundrechts, sondern als Verteidiger der grund­ gesetzlichen Zuständigkeitsordnung und staatsabgeleiteter Kompetenzen auf.110 Der Streitgegenstand des Verfahrens ist daher nach keiner Betrachtungsweise strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Art. Über den sachlichen Anwendungsbereich hinaus, ist ebenfalls der persönliche Schutzbereich für die Gemeinde bzw. den Ge­ meindeverband als Teil des Staates nicht eröffnet.111 bb) Die konkrete Normenkontrolle Neben der Verfassungsbeschwerde erstreckt der EGMR die Anwendung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das zahlenmäßig zweitwichtigste112 Verfahren, die kon­ krete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, § 80 ff. BVerfGG.113 Zunächst einmal mag es aus der herrschenden Sicht der nationalen Dogmatik verwundern, dass der EGMR die konkrete Normenkontrolle den Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterwirft. So wird dem Verfahren nach herrschendem Verständnis keine individualschützende Funktion zugeschrieben,114 stattdessen geht man davon aus, dass es den parlamentarischen Gesetzgeber vor einer über­ griffigen Judikative schützen soll.115 Die konkrete Normenkontrolle begründet hierfür ein Monopol des BVerfG zur Verwerfung von formellen Gesetzen.116 Inso­ fern erfüllt die konkrete Normenkontrolle eine objektive Funktion, indem mittels 109

Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 668 f. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 665. Vgl. auch Diehm, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 91, Rn.  4. 111 Vgl. Schabas, ECHR, 737 m. w. N. 112 Vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2018/gb 2018/A-I-4.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 113 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92; für die vergleichbare „cuestión de inconstitucionalidad“ RuizMateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87. Kritisch EGMR, Ruiz-Mateos v. Spain, Sondervotum des Richters Matscher, No. 12952/87, 28; ders., EuGRZ 449 (451 f.). 114 BVerfGE 2, 213 (217); 42, 90 (91); 52, 63 (80); 72, 51 (59); BVerfG (Kammer) NJW 2004, 501. Vgl. auch BVerfGE 1, 396 (407); 46, 34 (36); 83, 37 (49). 115 BVerfGE 1, 184 (197 f.); 2, 124 (129); 97, 117 (122); Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 80, Rn. 18; E.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn.  785; MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 80, Rn. 35 f.; Schlaich / Korioth, Bundesverfas­ sungsgericht, Rn. 136. 116 BVerfGE 22, 373 (378); 97, 117 (122); vgl. auch 1, 184 (197 f., 201); 2, 124 (129); E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 783; MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 80, Rn. 35 f.; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 135. 110

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

der Vorlage geklärt wird, ob ein Gesetz gegen die Verfassung oder das Bundesrecht verstößt und zugleich gewährleistet wird, dass die Entscheidung im Ausgangsver­ fahren einem rechtmäßigen Gesetze zugrunde liegt.117 Allerdings betont das BVerfG, dass die konkrete Normenkontrolle als Zwischen­ verfahren einen „Teil eines einheitlichen Prozesses“118 darstellt, in dem auch der konkrete Rechtsstreit befriedet werden soll (Befriedigungsfunktion).119 Die Interes­ sen der Verfahrensbeteiligten vor dem Ausgangsgericht können vom BVerfG mit­ berücksichtigt werden.120 Die konkrete Normenkontrolle ist daher nicht unbedingt blind für den Ausgangsfall und das Begehren des Rechtsschutzsuchenden. Ihm wird etwa durch § 82 Abs. 3 BVerfGG das Recht eingeräumt sich im Verfahren zu äußern. Sofern eine mündliche Verhandlung anberaumt wird, sind die Ausgangs­ verfahrensbeteiligten zu laden und können mittels ihrer Prozessbevollmächtigten an der Verhandlung teilnehmen. Der Hintergrund dieses Äußerungsrechts kann darin gesehen werden, dass man einen Wertungswiderspruch hinsichtlich der Ver­ fahrensrechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegenüber der konkreten Nor­ menkontrolle verhindert: Sofern man gegen eine richterliche Entscheidung, welche nach Ansicht des Beschwerdeführers auf einem verfassungswidrigen Gesetz be­ ruht, eine Verfassungsbeschwerde erhebt und in diesem Verfahren als Beteilig­ ter121 auftritt, so sollte dieser Person zumindest ein Äußerungsrecht zukommen, wenn sie bereits im Ausgangsverfahren das Gericht von einer Verfassungswid­ rigkeit der Norm überzeugen konnte, somit die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG angestoßen und zugleich eine spätere Verfassungsbeschwerde verhindert hat.122 In den Fällen, in denen die Beteiligten des Ausgangsverfahrens die wahren Urheber der Idee der Rechtswidrigkeit der Norm sind, unterstützen sie letztlich die Einhaltung des objektiven Verfassungsrechts, indem sie ihre Rechts­ ansicht vor dem Verfassungsgericht darlegen können. Dass sie dies vorrangig tun, um eine bessere Ausgangsposition in der Sachentscheidungen zu erhalten, er­ scheint unerheblich. Diese tatsächliche Subjektbezogenheit des § 82 Abs. 3 BVerfGG kann in der Beurteilung des Verfahrens aus der Warte des europäischen Rechtsanwenders Eingang finden. Denn die nationale Dogmatik kann keine Subsumtion unter die autonom auszulegenden Begrifflichkeiten des Art. 6 Abs. 1 EMRK verhindern. Betrachtet man die tatsächlichen Auswirkungen des Zwischenverfahrens vor dem BVerfG, so dürfte das Äußerungsrecht aus § 82 Abs. 3 BVerfGG dazu führen, dass 117

BVerfGE 45, 63 (74). BVerfGE 42, 42 (49). 119 Vgl. BVerfGE 44, 322 (338); 62, 354 (364); Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 80, Rn. 18; Karkaj, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 80, Rn. 12; Steiner, in: FS Bethge, 653 (656 f.) spricht von „einer Art forensischen Boxenstop“. 120 BVerfGE 63, 1 (22). 121 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1030; vgl. zur Unterscheidung Verfahrensbeteiligte und Äußerungsberechtigte, O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 231–237. 122 MSKB / Ulsamer / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 82, Rn. 17. 118

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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die Aspekte des Ausgangsrechtsstreits vor das Verfassungsgericht getragen wer­ den und die Rechtposition i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK beeinflussen können, was wiederum die Folge hat, dass den Beteiligten des Ausgangsverfahrens ein An­ spruch auf eine angemessene Verfahrensdauer auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren zukommt. Die Präponderanz der Normenkontrollentscheidung als „Teil eines einheitlichen Prozesses“123 spiegelt sich bereits im Zulässigkeitskriterium der „Entscheidungs­ erheblichkeit“ wider. Die konkrete Normenkontrolle ist nur zulässig, wenn das vorlegende Gericht bei einer Ungültigkeit der Norm zu einem anderen Ergebnis gelangt als bei deren Gültigkeit.124 Die „Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage [muss] zur abschließenden Beurteilung des konkreten gerichtlichen Ver­ fahrens unerlässlich [sein].“125 Insoweit beschränkt sich die konkrete Normenkon­ trolle auf Rechtsfragen (vgl. § 81 BVerfGG), denen im Ausgangsverfahren eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt.126 Die Voraussetzung offenbart damit den Wesensgehalt der konkreten Normenkontrolle, die nicht wie die abstrakte Normen­ kontrolle losgelöst vom Einzelfall entschieden wird, sondern stets in Zusammen­ hang mit einer echten Rechtsstreitigkeit steht, in dem Individuen für ihre Rechte streiten. Das fachgerichtliche Verfahren und dessen Entscheidung in der Sache werden damit maßgeblich vom BVerfG determiniert,127 insbesondere dadurch, dass das vorlegende Gericht im fortgesetzten Verfahren an die Entscheidung des BVerfG gebunden ist.128 Der Subjektbezug verdichtet sich, wenn man bedenkt, dass das Ausgangsver­ fahren für die Dauer des konkreten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG ausgesetzt wird und erst nach höchstrichterlicher Entscheidung fortgeführt wird.129 Dies spiegelt sich entsprechend in der Verfahrensdauer wider: Durch das Vorlage­ verfahren verlängert sich die Gesamtverfahrensdauer bei tatsächlicher Betrachtung (teilweise erheblich) für den Ausgangsverfahrensbeteiligten.130 123

BVerfGE 42, 42, (49). BVerfGE 7, 171 (174); BeckOK, BVerfGG / Geißler, § 80, Rn. 46; Lechner / Zuck, BVerfGG, § 80, Rn. 36; MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 80, Rn. 149. 125 BVerfGE 50, 108 (113). 126 BeckOK, BVerfGG / Geißler, § 80, Rn. 20; vgl. BVerfGE 126, 369 (387) m. w. N. 127 Dies gilt gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG ebenso für Parallverfahren (vgl. MSKB / Ulsa­ mer / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 82, Rn. 23–25). I. Ü. gelten obigen Ausführungen zu § 79 (i. V. m. § 82 Abs. 1 BVerfGG) für die konkrete Normenkontrolle entsprechend. 128 Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 81, Rn. 22 f.; BeckOK, BVerfGG / Geißler, § 81, Rn. 16. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 915 und HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 81, Rn. 5 gehen hingegen von einer „innerprozessualen Bindungswirkung“ aus, woraus sich im Ergebnis für das Ausgangsgericht keine Unterschiede ergeben. In diese Richtung auch MSKB / Ulsamer / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 82, Rn. 26. 129 Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 164. 130 So entschied der erste Senat im Geschäftsjahr 2018 u. a. über vier konkrete Normenkon­ trollen aus dem Jahr 2014 und eine aus dem Jahr 2015; weitere 16 aus den Jahren ab 2016 wa­ ren noch anhängig (vgl. BVerfG, Jahresstatistik 2018, B. III. 5., abrufbar unter https://www. bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2018/gb2018/B-III-5.pdf?__ 124

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Auch ein kurzer Vergleich zu den Entscheidungswirkungen der Verfassungs­ beschwerde zeigt, dass trotz unterschiedlicher dogmatischer Ansätze131 die Aus­ wirkungen für den Beschwerdeführer in einer Urteilsverfassungsbeschwerde bzw. den Beteiligten im Ausgangsverfahren sich im Ergebnis gleichen.132 Im ersteren Fall würde das BVerfG bei einer Unvereinbarkeits- oder Nichtigkeitserklärung die Sache grundsätzlich an das zuständige Gericht zurückverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Im zweiten Fall würde beim gleichen verfassungsgerichtlichen Te­ nor ebenfalls das Ausgangsgericht das Verfahren fortsetzen. In beiden Szenarien müsste das Fachgericht unter Bindung an die Unvereinbarkeits- bzw. Nichtig­ keitserklärung des BVerfG entscheiden. In der Sache würde  – unabhängig von der Verfahrensart vor dem Verfassungsgericht – ein und dieselbe Entscheidung für die betroffene Person gefällt werden. Es sollte daher keinen Unterschied ma­ chen, ob der Beteiligte eines Verfahrens bereits das erkennende Gericht von einer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder Bundesrecht überzeugen kann oder dies nicht schafft und erst nach Erschöpfung des Rechtsweges eine Urteilsverfas­ sungsbeschwerde erhebt. In beiden Verfahren ist der Verfahrensbeteiligte in seiner Stellung als Inhaber seiner bürgerlichen Rechte und Pflichten bzw. als Angeklag­ ter i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen und gleich schützenswert. Es würde aus konventionsrechtlicher Sichtweise wertungswidersprüchlich anmuten, wenn der Gerichtshof auf den einen Fall seine Jurisdiktion erstreckt, im anderen Fall dies wiederum verweigert. So zeigt sich, dass – trotz der an sich objektiven Funktion des Verfahrens – eine faktische Subjektbezogenheit festzustellen ist und damit ein praktischer Grund­ rechtsschutz133 einhergeht. Insofern kommt der „Befriedigungsfunktion“134 der konkreten Normenkontrolle für den Ausgangsrechtsstreit eine bisher unterschätze Bedeutung zu. Das BVerfG entscheidet bei einer konkreten Normenkontrolle stets mittelbar über das Ergebnis des Ausgangsfalls und damit über die Reichweite von zivilrechtlichen Rechten und Pflichten bzw. über eine strafrechtliche Anklage eines Einzelnen. Aus konventionsrechtlicher Sicht ist es daher nicht nur zulässig, sondern zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen gar geboten, die konkrete blob=publicationFile&v=2, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020). Beim zweiten Senat waren am Ende des Jahres 2018 noch 70 konkrete Normenkontrollverfahren anhängig, davon allein 28 Verfahren aus den Jahren 2009 bis 2014 (BVerfG, Jahresstatistik 2018, C. III. 5., https:// www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2018/gb2018/C-III-5. pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020), wobei das anhängige Verfahren von 2009 mittlerweile entschieden wurde (vgl. BVerfG, Beschluss v. 15. 01. 2019 – 2 BvL 1/09 – = NVwZ 2019, 870). Vgl. zur teils problematisch langen Verfahrensdauer auch HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 80, Rn. 34. 131 Objektive Funktion der konkreten Normenkontrolle gegenüber der doppelten (vornehm­ lich individualschützenden) Funktion der Verfassungsbeschwerde. 132 Parallelen sieht auch Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 139. 133 Ähnlich auch Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 139. 134 S. BVerfGE 44, 322 (338); 62, 354 (364); Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG; § 80, Rn. 18; Karkaj, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 80, Rn. 12; HKBVerfGG / L enz / Hansel, § 80, Rn. 6.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG an den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu messen. Den Beteiligten des Ausgangsverfahrens kommt daher nach Maßgabe der EMRK auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren ein Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer zu. cc) Weitere Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 2, 3, 126 GG (1) Völkerrechtliches Verifikationsverfahren Ebenso wie die konkrete Normenkontrolle ist das Verfahren zur Verifikation einer Völkerrechtsnorm nach Art. 100 Abs. 2 GG ein objektives Zwischenverfah­ ren.135 Angestoßen wird das Verfahren durch ein Fachgericht, welches die Frage vorlegt, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts136 Bestandteil des Bundes­ rechts ist und ob sie unmittelbare Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Art. 25 GG). Vergleichbar zur konkreten Normenkontrolle muss das Ausgangsge­ richt zur Geltung oder dem Inhalt der Norm ernstzunehmende Zweifel137 hegen.138 Darüber hinaus muss, trotz fehlender ausdrücklicher Nennung, im Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG eine Entscheidungserheblichkeit der Frage für den Ausgangs­ rechtsstreit bestehen.139 Zudem besteht ein Äußerungsrecht der Beteiligten des Aus­ gangsrechtsstreits im Prozess vor dem BVerfG (§ 84 i. V. m. § 82 Abs. 3 BVerfGG). Auf Grundlage dieser Parallelität140 lassen sich die eben zu Art. 100 Abs. 1 GG gezogenen Schlüsse auf das Verifikationsverfahren mutatis mutandis übertragen. Ihre nach nationaler Dogmatik objektive Funktion141 steht – wie bei der konkreten Normenkontrolle erläutert – einer menschenrechtsorientierten autonomen Inter­ pretation nicht entgegen. 135

MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 83, Rn. 7; Röcker, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 83, Rn. 3. 136 Universelles Völkergewohnheitsrecht oder ein allgemeiner Rechtsgrundsatz als Rechts­ sätze i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. b, c IGH-Statut; vgl. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 951 sowie Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 25, Rn. 35 m. w. N. 137 Insofern die konkrete Normenkontrolle eine Einschätzung der Verfassungswidrigkeit voraus­setzt, hat sich in diesem Verfahren der Grad des Zweifelns hin zu einer Überzeugung entwickelt. Dies entspricht den Abstufungen die auch Stern, in: BK, Art. 100, Rn. 239 vor­ nimmt. 138 Entweder an der Existenz, am allgemeinen Charakter, am Inhalt, am Adressaten oder am etwaigen Ius cogens-Charakter der in Frage stehenden völkerrechtlichen Norm, E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 966–974. 139 E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 980; HK-BVerfGG / L enz / Han­ sel, § 83, Rn. 10; MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 83, Rn. 16. 140 Vgl. MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 84, Rn. 1, 8; ebenda, § 84, Rn. 1; Röcker, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 84, Rn. 1. 141 BVerfGE 23, 288 (317); 46, 342 (360); 64, 1 (14 f.); 96, 68 (77 f.): E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 953, 955; MSKB / Müller-Terpitz, BVerfGG, § 83, Rn. 5; Ruffert, JZ 2001, 633 (634 f.); BeckOK BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 83, Rn. 1 f.; s. zum Zusam­ menhang mit Art. 25 GG E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 948–953.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Entsprechend den Ausführungen zur konkreten Normenkontrolle lässt sich insbesondere über den Charakter als akzessorisches Zwischenverfahren sowie der Zulässigkeitsvoraussetzung der Entscheidungserheblichkeit die Verbindung zu den zivilrechtlichen und strafrechtlichen Rechten des Individuums herstellen. Anschaulich wird der direkte Einfluss des Normenkontrollverifikationsverfah­ rens im Falle einer strafrechtlichen Anklage, der möglicherweise völkerrechtliche Strafverfolgungshindernisse entgegenstehen. In diesen Zusammenhang lässt sich die Problematik im Fall Gast and Popp v. Germany142 anführen, bei dem zwar die Dauer einer Verfassungsbeschwerde gerügt wurde; es allerdings in einem Parallelverfahren im Wege der Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG zu einer Leit­ entscheidung des BVerfG143 kam.144 Die Frage, ob im konkreten Fall der Spio­ nage ein Strafverfolgungshindernis als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. d. Art. 25 GG bestand, war für die Betroffenen von ausschlaggebender Bedeu­ tung, so dass mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts die Strafverfolgung und die Bestrafung ehemaliger MfS-Mitarbeiter stand und fiel. Vergleichbare Fallgestaltungen finden sich im zivilrechtlichen Bereich, etwa wenn Gläubiger ausländischer Staatsanleihen eine Verurteilung eines zwischenzeitlich zahlungs­ unfähigen Staates145 begehren. Der Einfluss auf die straf- und zivilrechtlichen Rechte und Pflichten ist daher im Rahmen der völkerrechtlichen Normenverifi­ kation genauso groß wie bei der konkreten Normenkontrolle; in Fällen146 etwaiger völkerrechtlicher Strafverfolgungshindernisse gar existenziell. Dieser Einfluss zeigt sich ebenfalls hinsichtlich der Wirkungen der Entscheidun­ gen. Nicht nur das vorlegende Gericht und die Beteiligten des Verfahrens werden an die Entscheidung gebunden, stattdessen beansprucht die Bestätigung eines Völ­ kerrechtssatzes gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG Allgemeinverbindlichkeit und hat gem. §§ 13 Nr. 12, 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG Gesetzeskraft147.148 Insofern kann die allge­ meine Regel des Völkerrechts für Jedermann (straf- oder zivilrechtliche) Rechte und Pflichten erzeugen.149

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EGMR, Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95. BVerfGE 92, 277. 144 S. dazu bereits Kap. 2 A. I. 6. 145 BVerfGE 118, 124. 146 Übersicht bei Matz-Lück, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, §§ 83, 84, Rn. 73 sowie BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 83, Rn. 3. 147 Die auf diesem Wege deklaratorisch verifizierte Norm nimmt entsprechend des Art. 25 S. 2 GG den sogenannten Zwischenrang ein und geht damit den einfachen Bundesgesetzen vor; steht allerdings unterhalb der Verfassung, s. BeckOK, GG / Heintschel von Heinegg, Art. 25, Rn. 27; Matz-Lück, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, §§ 83. 84, Rn. 43; vgl. auch E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 950 m. w. N. 148 E.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 996; Matz-Lück, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, §§ 83. 84, Rn. 41, 43; BeckOK, BVerfGG / v. Un­ gern-Sternberg, § 83, Rn. 45. 149 In der Praxis beschränkt sich dies bisher auf die Feststellung eines Völkerrechtssatzes, wonach der Staat nicht in das Bankkonto einer ausländischen Botschaft vollstrecken darf, wenn 143

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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(2) Divergenzvorlage Entsprechendes gilt für die Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG, §§ 13 Nr. 13, 85 BVerfGG, bei der das BVerfG über die Auslegung des Grundgesetzes zu entscheiden hat, wenn ein Landesverfassungsgericht von einer bisherigen bun­ des- oder landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechungslinie abweichen möch­ te.150 Denn sofern der Ausgangsrechtsstreit der Divergenzvorlage nicht staatsor­ ganisationsrechtlicher Natur ist, sondern die Stellung des Einzelnen i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK im Gewand seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte betroffen ist und durch die präjudizielle Auslegungsentscheidung des BVerfG be­ einflusst werden könnte, so reicht dies entsprechend der Deumeland-Formel aus, um in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu fallen. Die Besonder­ heit des Verfahrens dürfte darin liegen, dass die Beeinflussung auf das einfache Recht nicht bereits durch die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung vermit­ telt wird, sondern die beeinflussende Wirkung erst durch die nachfolgende Ent­ scheidung des Landesverfassungsgerichts eintritt. Die autoritative Auslegung durch das BVerfG dürfte trotz des dazwischen geschalteten Landesverfassungsgerichts maßgeblich zur Entscheidung in der Sache beitragen und somit das notwendige Beeinflussungspotential haben. (3) Normqualifizierungsverfahren Das Normqualifizierungsverfahren nach Art. 126 GG, §§ 13 Nr. 14, 86 ff. BVerfGG lässt sich in eine abstrakte und eine konkrete Variante einteilen.151 Wie bei den zuvor dargestellten Verfahren nach Art. 100 GG stellt das konkrete Normqualifizierungsverfahren nach § 86 Abs. 2 BVerfGG ein objektives Zwischen­ verfahren zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage dar.152 Eingeleitet wird das Verfahren durch ein Gericht, wenn in einem Ausgangsverfahren streitig und erheblich ist, ob ein Gesetz als Bundesrecht fort gilt (vgl. Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG). Über das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit kann eine direkte Verbindung zum Ausgangsverfahren gezogen werden: wie bei einer konkreten Normenkontrolle153 muss das Ergebnis des Ausgangsprozesses von der Frage der Fortgeltung als Bundesrecht abhängen, so dass sich die Ausführungen zur Ent­ dies zur Deckung der laufenden Kosten der Botschaft genutzt wird (BVerfGE 46, 343). Dieser Fall wäre von der EMRK als menschenrechtlicher Vertrag nicht erfasst. Prinzipiell könnten aber vergleichbare Vollstreckungsschutzreglungen oder Strafverfolgungshindernisse für den Einzelnen bestehen. 150 Vgl. zu den Vorlagevoraussetzungen Lechner / Z uck, BVerfGG, § 85, Rn. 3 ff. 151 MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 86, Rn. 28; Preisner, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 86, Rn. 3. 152 E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 922. 153 Vgl. HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 86, Rn. 20; Salomon, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 86, Rn. 35.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

scheidungserheblichkeit154 mutatis mutandis übertragen lassen. Damit kann sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung im Normqualifizierungsverfahren erheb­ lich auf die straf- oder zivilrechtliche Rechtsposition des Beteiligten auswirken.155 Verdeutlichen lässt sich dies an der Beantwortung der  – im Verfahren zwar untergeordneten  – Vorfrage, ob das alte Recht überhaupt nach Maßgabe des Art. 123 GG fortwirkt.156 Insofern enthält das Qualifikationsverfahren eine in­ zidente Normenkontrolle157, deren Ergebnis sich im Ausgangsverfahren nieder­ schlägt und somit maßgeblich die Rechte und Pflichten i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK beeinflussen kann. Dasselbe gilt für die eigentliche Hauptfrage nach dem Rang der Norm.158 Ferner wird durch die Aussetzung des Ausgangsverfahrens159 die tat­ sächliche Verfahrensdauer verlängert. Diese Aspekte sprechen allesamt für eine Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Umgekehrt verhält es sich im Falle einer abstrakten Normqualifizierung (Art. 126 GG, § 86 Abs. 1 BVerfGG). Antragsberechtigt sind lediglich staatli­ che Organe, namentlich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung (§ 86 Abs. 1 BVerfGG), die losgelöst von einem konkreten Rechtsstreit das Verfahren initiieren können. Es fehlt damit der unerlässliche Bezug zu einem Individuum, das als In­ haber seiner justiziellen Garantien aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in einem Zivil- oder Strafverfahren vor einem Ausgangsgericht betroffen sein könnte. Die Abstrakt­ heit160 des Verfahrens schließt daher eine Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK aus, so dass man hinsichtlich des Normqualifizierungsverfahrens als Ganzes zu einem gespaltenen Ergebnis gelangt. dd) Abstrakte Normenkontrollverfahren (1) Abstrakte Normenkontrolle Unter dem Eindruck des Ergebnisses zur abstrakten Normqualifizierung kann eine abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6 BVerfGG, 154

Vgl. Kap. 3 I. 2. c) bb). Beispiele für eine Auswirkung auf das Ausgangsverfahren liefert MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 86, Rn. 48. 156 Die Klärung der Fortgeltung als solche darf allerdings nicht Bestandteil der Entschei­ dungsformel sein (§ 89 BVerfGG), vgl. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 921, 945. Ferner darf nicht bereits das vorlegende Gericht die Norm für ungültig halten, MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 86, Rn. 50. 157 MSKB / Bethge, BVerfGG, § 31, Rn. 309; ebenda / v. Coelln, BVerfGG, § 89, Rn. 5; Preisner, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 86, Rn. 20. Zurückhaltend Salomon, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 86, Rn. 15. 158 S. Fn. 156. 159 MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 86, Rn. 53; Salomon, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 86, Rn. 39. 160 Näheres dazu sogleich. 155

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76 Abs. 1 BVerfGG ebenfalls nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen. Ausschlaggebend ist hierbei weniger der Charakter als objekti­ ves Verfahren161 zur „Klärung der verfassungsrechtlichen Lage“162, da diese As­ pekte auch bei konkreten Normenkontrollverfahren überwindbar sind. Stattdes­ sen kommt es auf die wesentliche Eigenschaft des Verfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG an: seine Abstraktheit. Hierunter versteht man im Allgemeinen „vom Gegenständlichen abgezogen“163 oder im Falle der abstrakten Normenkontrolle, dass sie „losgelöst von jedem konkreten Streitfall“164 ist. Die abstrakte Normen­ kontrolle zeichnet sich also dadurch aus, dass sie von einem konkreten Rechts­ streit derart gelöst ist,165 dass sie nicht wie die konkrete Normenkontrolle als „Teil eines einheitlichen Prozesses“166 fungiert und einem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, sondern bereits aufgrund allgemeiner Meinungsverschiedenheiten über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes von den hierzu Berechtigten initiiert wer­ den kann.167 Der wesentliche Unterschied besteht damit im Anlass für die Normenkontrol­ le.168 Während bei der konkreten Normenkontrolle ein Individuum im Ausgangs­ verfahren beteiligt ist, auf das sich einerseits die Entscheidung (un)mittelbar aus­ wirkt und das zudem die Dauer der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsfindung „erdulden“ muss, ist bei dem abstrakten Normenkontrollverfahren kein Grund­ rechtsberechtigter in irgendeiner Art und Weise beteiligt oder betroffen. Es sind beim abstrakten Überprüfungsverfahren lediglich staatliche Verfassungsorgane antragsberechtigt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG). Als Teil des grundrechtverpflichteten Staates fallen sie nicht in den personellen Anwendungs­ bereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weshalb die abstrakte Normenkontrolle nicht in dessen Anwendungsbereich fällt.

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BVerfGE 1, 208 (219); 1, 396 (407, 414); 20, 56 (95); 52, 63 (80); BeckOK, GG / Morgen­ thaler, Rn. 27 f.; MSKB / Rozek, BVerfGG, § 76, Rn. 5. Walter, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 231 f. sieht neben dem objektiven Charakter in der abstrakten Normenkontrolle ein „de facto-kontradiktorische[s] Verfahren“, was allerdings aufgrund der offensichtlich fehlenden tatsächlichen Verfahrensbeteiligung eines Individuums als Inhaber von Konventionsrechten nicht weiter zu vertiefen ist. 162 BVerfGE 1, 396 (413). 163 Köbler, Etymologische Rechtswörterbuch, 5. 164 So bereits Friesenhahn, in: Anschütz / T homa (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staats­ rechts, 526. 165 E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 692. 166 BVerfGE 42, 42 (49). 167 E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 692; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, BVerfGG, § 76, Rn. 1. Vgl. auch BeckOK, BVerfGG / Karpenstein, § 76, Vorbem.; MSKB / Rozek, BVerfGG, § 76, Rn. 4. 168 BeckOK, GG / Morgenthaler, Rn. 27; MSKB / Rozek, BVerfGG, § 76, Rn. 4; Walter, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 229.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

(2) Kompetenzkontrollverfahren Dies muss gleichermaßen für das Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, §§ 13 Nr. 6a, 76 Abs. 2 BVerfGG als „Variante der abstrakten Normenkontrolle“169 gelten, bei dem der Bundesrat, eine Landesregierung oder eine Volksvertretung eines Landes eine Verletzung der kompetenzrechtlichen Vorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG (oder des Art. 75 Abs. 2 GG a. F.)170 geltend machen können. Dasselbe gilt für das in Anlehnung171 an die abstrakte Normenkontrolle – so­ wie den Bund-Länder-Streit172 – entworfene Kompetenzfreigabeverfahren (Art. 93 Abs. 2 S. 1, §§ 13 Abs. 1 Nr. 2 6b, 96 BVerfGG) in dem vom BVerfG überprüft wird, ob die Erforderlichkeit einer bundesrechtlichen Regelung i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG weiterhin fortbesteht (vgl. Art. 72 Abs. 4 GG) bzw. ob Bundesrecht nach Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden kann. Aufgrund seiner Parallelen zum Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG173 und der offensichtlich fehlenden Be­ rührung der Rechte eines grundrechtsberechtigten Verfahrensbeteiligten i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK, ist eine Anwendung des menschenrechtlichen Gebots nach einer angemessenen Verfahrensdauer ausgeschlossen. ee) Kontradiktorische Verfahren (1) Organstreitverfahren Ausgangspunkt der Überlegungen zu den kontradiktorischen Verfahren ist des­ sen Prototyp: das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. Im Rahmen dieses Verfahrens streiten die Verfassungsorgane des Bundes, deren Teile oder andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder den Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet sind, über den Umfang von grundgesetzlichen Rechten und Pflichten. Der Organstreit ist kein Verfahren zur Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit von Organhandeln.174 Stattdessen geht es um die Geltendmachung eigener Rechte in einem kontradiktorischen Streit­ 169

BT-Drucks. 13/7673, 12. Vgl. dazu BeckOK, BVerfGG / Karpenstein, § 76, Rn. 46; E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 693, 729. 170 Letztere Variante ist wegen Art. 125a, 125b GG nicht obsolet, dürfte in der Praxis al­ lerdings kaum eine Bedeutung haben, vgl. E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 735. 171 Zur besonderen Rechtsnatur des Kompetenzfreigabeverfahrens MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 96, Rn. 12; E. Klein, Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 779; Lechner / Zuck, BVerfGG, Vor § 96, Rn. 11; BeckOK, BVerfGG / Masing, § 96, Rn. 8; Pottmeyer, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 96, Rn. 7. 172 Dazu sogleich. 173 MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 96, Rn. 12; zustimmend Pottmeyer, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 96, Rn. 7. 174 BVerfGE 150, 194 (200) m. w. N.

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verfahren.175 Zweck des Verfahrens ist die Klärung von Streitigkeiten in Verfas­ sungsrechtsbeziehungen,176 womit zugleich – aber eben nicht ausschließlich – die objektive Ordnung des Grundgesetzes geschützt wird.177 Vor diesem Hintergrund kann das Organstreitverfahren ratione personae sowie ratione materiae nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen. Die EMRK schützt das Individuum als Inhaber seiner Konventionsrechte und gerade nicht den Staat oder seine Organe. Zwar erstreckt der Gerichtshof Konventionsrechte wie die Meinungs­ freiheit (Art. 10 EMRK) auch auf Mitglieder von Parlamenten,178 charakterisiert diese allerdings als politische Rechte179 außerhalb des Anwendungsbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK180, es sei denn, der Beschwerdeführer ist wegen ihrer Inan­ spruchnahme straf- oder zivilrechtlicher Verfolgung ausgesetzt.181 In originär verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, wie dem Organstreitverfahren, lässt sich grundsätzlich keine Beeinträchtigung der von Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützten Positionen des Einzelnen erkennen.182 Selbst wenn gelegentlich Umfang und Gren­ zen der Redefreiheit eines Abgeordneten im Organstreit zur Disposition stehen, ändert dies nichts am verfassungsrechtlichen und zugleich politischen Charakter des Verfahrens, der eine Berufung auf Art. 6 Abs. 1 EMRK ausschließt. Die Ver­ fahrensbeteiligten eines Organstreitverfahrens können daher kein Recht auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ableiten. (2) Bund-Länder-Streitigkeiten Diese Befunde zum Organstreit lassen sich auf den Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG) übertragen, da es sich bei den Verfahren 175

Jüngst BVerfGE 150, 194 (200) m. w. N. aus der Rechtsprechung; MSKB / Bethge, BVerfGG, § 63, Rn. 1; Lechner / Z uck, BVerfGG, Vor §§ 63 ff., Rn. 2; Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger /  ders. (Hrsg.), BVerfGG, §§ 6, Rn. 1; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 63, Rn. 1. 176 „[V]erfassungsrechtliche Innenrechtsstreitigkeit kontradiktorischer Art“, Barczak, in: ders. (Hrsg.), BVerfGG, § 63, Rn. 13. 177 E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1021 f. 178 EGMR, Karácsony et. al. v. Hungary, Urteil v. 17. 05. 2016, No. 4261/13, 44357/13, Rn. 137 m. w. N. 179 EGMR, Karácsony et. al. v. Hungary, Urteil v. 17. 05. 2016, No. 4261/13, 44357/13, Rn. 137. 180 Vgl. EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite)  et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2. Ausdrücklich bestätigt in EGMR, Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f.; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f. dazu Kap. 3 A. I. 2. b) cc) sowie Kap. 3 A. I. 2. c) ee); offengelassen in EGMR, Jerusalem v. Austria, Urteil v. 27. 02. 2001, No. 26958/95, Rn. 51, wobei ein Zivilprozess und kein verfassungsge­ richtliches Verfahren den Ausgangspunkt des Rechtsstreits darstellt. 181 Vgl. für strafrechtliche Verfolgung EGMR, Féret c. Belgique, Urteil v. 16. 07. 2009, No. 15615/07, Rn. 91; offengelassen in EGMR, Jerusalem v. Austria, Urteil v. 27. 02. 2001, No. 26958/95, Rn. 51. 182 Vgl. dazu auch Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / ders. (Hrsg.), BVerfGG, § 85 f.

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„um im wesentlichen gleichartige Verfahren“183 kontradiktorischer Art184 handelt. Während im Organstreitverfahren verfassungsrechtliche Rechte und Pflichten von Organen innerhalb einer Körperschaft, hier im Bund, gegeneinander in Stellung gebracht werden, wird im Bund-Länder-Streit über aus der Verfassung stammende, föderative Rechte und Pflichten von verschiedenen Verbänden, hier Bund und Län­ der, gestritten.185 Die von § 69 BVerfGG angeordnete entsprechende Geltung der Vorschriften über das Organstreitverfahren (§§ 64–67 BVerfGG) bestätigt diese Feststellung.186 Da auch in diesem Fall offensichtlich kein Träger von Konventions­ rechten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK am Verfahren beteiligt oder tatsächlich betroffen ist, scheidet die Anwendung der Norm für dieses Verfahren aus. Gleiches muss für den Bund-Länder-Streit bei anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 GG, § 13 Nr. 8 Var. 1 BVerfGG gelten. Die hinsichtlich des Organstreitverfahrens und des Bund-Länder-Streits ge­ fundenen Ergebnisse lassen sich mutatis mutandis auf die – in der Praxis zu ver­ nachlässigenden187 – Binnenländerstreitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG, § 13 Nr. 8 Var. 3 BVerfGG) und Streitigkeiten zwischen den Ländern (Zwischen­ länderstreitigkeiten, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 GG, § 13 Nr. 8 Var. 2 BVerfGG) übertragen. Es sind entweder nur Verfassungsorgane im Binnenländerstreit (§ 71 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG) oder die Länder gegeneinander im Zwischenländerstreit (§ 71 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG) parteifähig188 und streiten um eigene öffentlich-recht­ liche Positionen189, so dass eine Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1  EMRK aus­ geschlossen ist. Dasselbe gilt für die mittlerweile190 nicht mehr zur Anwendung kommenden (staatsorganisationsrechtlichen) Verfahren nach Art. 99 GG, § 13 Nr. 10 BVerfGG, bei denen das BVerfG im Wege der Organleihe als Landesver­ fassungsgericht fungierte.191 183

BVerfGE 20, 18 (24). S. auch MSKB / Bethge, BVerfGG, § 69 Rn. 2 m. w. N. sowie HKBVerfGG / L enz / Hansel, § 68, Rn. 3. 184 BVerfGE 20, 18 (23 f.). MSKB / Bethge, BVerfGG, § 69 Rn. 14; E. Klein, Benda / K lein, Ver­ fassungsprozessrecht, Rn. 1099; Müller, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 68, Rn. 3; Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / ders. (Hrsg.), BVerfGG, §§ 68, 69, Rn. 10. 185 Vgl. BeckOK, BVerfGG / Johann, § 69, Rn. 1; Müller, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 69, Rn 2; Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / ders. (Hrsg.), BVerfGG, §§ 68, 69, Rn. 10. 186 Vgl. MSKB / Bethge, BVerfGG, § 69, Rn. 2; Müller, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 69, Rn. 1 f.; Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / ders. (Hrsg.), BVerfGG, §§ 68, 69, Rn. 11. 187 Vgl. E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1167 f.; Meister, in: Burkiczak /  Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 71, Rn. 38, 42; Müller, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 71, Rn. 6–8. 188 S. E. Klein, Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1153, 1172. 189 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 71, Rn. 3. 190 Bis 2008 übte das BVerfG seine rechtsprechende Gewalt als LVerfG Schleswig-Holsteins aus, dazu Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 73, Rn. 3, 20. 191 Die von der Verfassung Schleswig-Holsteins übertragenen Verfassungsstreitigkeiten wa­ ren die Organklage, die abstrakte Normenkontrolle, der Streit um das parlamentarische In­ formationsverlangen sowie die Zulässigkeit einer Volksinitiative, eines Volksbegehrens oder eines Volksentscheides, vgl. Schorkopf, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 73, Rn. 19, 21 f.

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Es ist zu konstatieren, dass keines der kontradiktorischen Verfahren wegen ihres originär staatsrechtlichen Charakters und der ausschließlich staatlichen Verfah­ rensbeteiligten unter die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. ff) Verfassungsschutzverfahren (1) Parteiverbotsverfahren Ein Blick auf die Judikatur des EGMR zu Parteiverbotsverfahren verdeut­ licht, dass vornehmlich die Vereinbarkeit mit der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK und deren konventionskonforme Einschränkbarkeit behandelt wurden.192 Lediglich am Rande hat sich der EGMR zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Parteiverbotsverfahren geäußert.193 So ist der Gerichtshof hinsichtlich des Verbots und der Auflösung von türkischen Parteien zur Erkenntnis gelangt, dass die Verbotsverfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht die Parteien nicht in ihrer zivilrechtlichen Stellung betrafen, sondern in ihrem Recht als politische Partei politische Aktivitäten auszuüben.194 Zwar führe die Verbots- und Auflösungsentscheidung des türkischen Gerichts ipso iure zur Übertragung des Parteivermögens an den Fiskus, so dass man prima vista von einer Streitigkeit über Eigentumsrechte und damit über zivile Rechte i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK reden könne. Allerdings stellte der Gerichtshof auf das Kri­ 192 Vgl. EGMR, United Communist Party of Turkey et. al. v. Turkey, Urteil v. 30. 01. 1998, No. 19392/92; Socialist Party et. al. v. Turkey, Urteil v. 25. 05. 1998, No. 21237/93; Freedom and Democracy Party (ÖZDEP) v. Turkey, Urteil v. 08. 12. 1999, Rn. 23885/94; Refah Partisi (Parti de Prospérité) et. al. c. Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, 41343/98, 41344/98; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94; Refah Partisi (The Welfare Party) et. al. v. Turkey, Entscheidung v. 13. 02. 2003, No. 41340/98, 41342/98, 41343/98, 41344/98; Parti de la Démocratie et de la l’Évolution et. al. c. Turquie, Urteil v. 26. 04. 2005, No. 39210/98, 39974/98; Republican Party of Russia v. Russia, Urteil v. 12. 04. 2011, No. 12976/07. Vgl. auch EGMR, Partidul Comunistilor (Nepe­ ceristi) and Ungureanu v. Romania, Urteil v. 03. 02. 2005, No. 46626/99. 193 EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 63–67; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Tur­ quie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 68–71. Als offensichtlich unbegründet zurück­ gewiesen in EGMR, Republican Party of Russia v. Russia, Urteil v. 12. 04. 2011, No. 12976/07, Rn. 132. Noch offengelassen in EGMR, Socialist Party et. al. v. Turkey, Urteil v. 25. 05. 1998, No. 21237/93, Rn. 58–60. Gegen eine Subsumtion unter eine strafrechtliche Anklage i. S. v. Art. 6 EMRK Kommission, TBKP, Sargin et Yagci c. Turquie, Entscheidung v. 06. 12. 1994, No. 19392/92, En Droit, Rn. 2. Ferner EGMR, Communist Party of Russia et. al. v. Russia, Urteil v. 19. 06. 2012, No. 29400/05, Rn. 143. Dazu auch Kumpf, DVBl. 2012, 1344 (1347). 194 EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2. Ausdrücklich bestätigt in EGMR, Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f.; Parti de la Démo­ cratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

terium der „Streitigkeit“ ab, wonach über die Rechtsfolge des Vermögensabflusses in der Sache keinerlei Streit herrsche; im Gegenteil alle Verfahrensbeteiligten seien sich über diese Rechtsfolge einig gewesen.195 Zum gleichen Ergebnis gelangt der Gerichtshof hinsichtlich der Variante der strafrechtlichen Anklage, die möglicherweise einem Parteiverbotsverfahren im­ manent sei. Der EGMR weist diesen Ansatz zurück, indem er klarstellt, dass das Parteiverbotsverfahren ausschließlich die politischen Rechte betreffe, die nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen.196 Diese Maßstäbe des EGMR lassen sich auf das deutsche Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG übertragen. Eine Subsumtion unter den zivilrechtlichen Ast von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist mit Blick auf die Rechts­ folge der Auflösung und der Vermögenseinziehung nach § 46 Abs. 3 S. 1, 2 BVerfGG denkbar. Denn mit ihrer Auflösung wird die Partei rechtlich inexistent und besteht nicht mehr als Vereinigung fort.197 Hierbei liegt der Schwerpunkt allerdings nicht auf der vereinigungs- und damit zivilrechtlichen Folge, sondern auf der Unterbindung der politischen Aktivitäten, die von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfasst werden.198 Hieran ändert auch der lediglich fakultative Ausspruch des Vermögenseinzugs nichts (§ 46 Abs. 3 S. 2 BVerfGG).199 Denn es erscheint durchaus zweifelhaft, dass im Parteiverbotsverfahren eine echte Streitigkeit i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK hier­ über entstehen kann. Hinsichtlich der Vollstreckungsregelungen und des Vollstre­ ckungsgegenstandes schafft der Verweis des § 32 PartG auf die §§ 10–13 VereinsG die notwendige Klarheit.200 Ein verbleibender Streitpunkt wäre lediglich das Er­ messen des BVerfG über die Einziehung des Parteivermögens. Allerdings versteht das Verfassungsgericht den Ausspruch der Vermögenseinziehung in der Praxis – insbesondere bei nicht übersichtlichen Vermögensverhältnissen – als einen Fall von intendiertem Ermessen.201 Der Primärstreit eines Parteiverbotsverfahrens wird sich also typischerweise nicht um die Einziehung des Vermögens drehen, sondern um die Frage der Verfassungswidrigkeit, welche wiederum ausschließlich verfas­ sungsrechtlicher Natur ist. 195

EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2. Ausdrücklich bestätigt in EGMR, Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f.; Parti de la Démo­ cratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f. 196 EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2. Ausdrücklich bestätigt in EGMR, Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f.; Parti de la Démo­ cratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f. 197 BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 46, Rn. 3. 198 Vgl. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 21, Rn. 559. 199 Zur praktischen Handhabung durch das BVerfG sogleich. 200 Vgl. MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 46, Rn. 58. 201 Vgl. BVerfGE 2, 1 (78); 5, 85 (392 f.); Benda / E . Klein, in: Benda / K lein, Verfassungspro­ zessrecht, Rn. 1206; Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 46, Rn. 63; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 46, Rn. 7; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 46, Rn. 6.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

125

Somit bleibt eine etwaige Subsumtion unter dem strafrechtlichen Ast von Art. 6 Abs. 1 EMRK übrig. Unter Heranziehung der Engel-Kriterien202 ist zunächst der Verfahrenscharakter in den Blick zu nehmen. Beim Parteiverbotsverfahren handelt es sich um keinen Fall des deutschen Kriminal- oder Nebenstrafrechts, sondern um ein verfassungsprozessrechtliches Verbotsverfahren zum Schutze der frei­ heitlich demokratischen Grundordnung203. Das nächste Kriterium, die Natur des „Vergehens“, ist ebenso wenig ergiebig. Mögliche Indizien wären die Verweise auf die Normen der StPO bei Ermittlungsmaßnahmen im Parteiverbotsverfahren (§ 28 Abs. 1 Hs. 1 BVerfGG i. V. m. §§ 48 ff., 72 ff., 250 ff. StPO; § 47 i. V. m. § 38 Abs. 1 BVerfGG i. V. m. §§ 94 ff. StPO)204. Auf Grundlage dieser Verweise sprechen manche Autoren von einem „quasi-strafrechtlichen Verfahren“205 oder „strafrechts­ ähnlichen Verfahren“206. Indes lässt sich die Condito sine qua non eines Strafver­ fahrens, die Verwirklichung eines Tatbestandes, an dieser Stelle kaum feststellen. Ein (quasi-)strafrechtlicher Tatbestand, der sich durch eine inkriminierte Hand­ lung auszeichnet, ist ausgehend vom Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG schwerlich festzustellen. Stattdessen wird der Satz aufgestellt, dass eine Partei, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Be­ stand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig ist. Hierzu stellt das BVerfG selbst in Abgrenzung zum Strafprozess fest: „Im Strafprozess geht es um die Feststellung schuldhaften und strafbaren individuellen Verhaltens und um die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, also primär um re­ pressiven staatlichen Rechtsgüterschutz. Dagegen dient das verfassungsgerichtliche Ver­ fahren gemäß Art. 21 Abs. 2 GG dem präventiven Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, eines der tragenden Fundamente des Staatswesens.“207

Oder mit den Worten von Lenz / Hansel: Es geht „nicht um eine repressive Sank­ tionierung, sondern um präventive Gefahrenabwehr.“208 Es wird im Parteiverbots­ verfahren also nicht an ein „Vergehen“, etwa das Betreiben einer verfassungswid­ rigen Partei209, angeknüpft. Stattdessen geht es um die Beantwortung der Frage, ob die Partei auf dem Boden des Grundgesetzes steht, welche offensichtlich dem Kernbereich des Verfassungsrechts zuzuordnen ist. Die Natur des „Vergehens“ ist daher nicht strafrechtlich i. S. d. Konvention. Offenkundig geht der EGMR in seiner

202

S. dazu Kap. 3 A. I. 2. b) bb). Benda / E . Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1183; Dollinger, in: Bur­ kiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 43, Rn.  5. 204 Die im Einzelnen anwendbaren Vorschriften finden sich aufgeführt bei MSKB / Ulsamer, BVerfGG, § 28, Rn. 4 f.; ebenda / v. Coelln, BVerfGG, § 38, Rn. 12–18. 205 Lechner / Z uck, BVerfGG, § 28, Rn. 1; MSKB / Ulsamer, BVerfGG, § 28, Rn. 4 f. 206 Meskouris, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 28, Rn. 1. 207 BVerfGE 107, 339 (368). 208 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 43, Rn. 5; vgl. auch BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 43, Rn. 11. 209 Dies wäre ein Fall des § 84 StGB. 203

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Judikatur210 zu ausländischen Parteiverboten von einer entsprechenden Zuordnung aus, so dass mit Blick auf die gesamteuropäische Ebene eine übereinstimmende Qualifikation vorliegt. Gleiches gilt hinsichtlich des dritten Engel-Kriteriums, der Art und Schwere der Sanktion. Wird die Verfassungswidrigkeit nach Art. 21 Abs. 2, 4 GG, § 46 Abs. 1 BVerfGG festgestellt, so ist die Partei aufzulösen, die Schaffung von Ersatzorgani­ sationen zu verbieten und i. d. R. ihr Vermögen einzuziehen (§ 46 Abs. 3 BVerfGG). Ferner werden die Parteimitglieder ihrer errungenen Mandate in Gesetzgebungs­ körperschaften verlustig.211 Die Folgen der Entscheidung zielen damit auf die Ein­ schränkung der politischen Rechte der Partei als verfasste Einheit212 sowie ihrer politischen Mitwirkungsmöglichkeiten in etwaigen Organen ab. Es handelt sich damit nicht um eine strafrechtliche Sanktion, sondern um eine Beschränkung der politischen Aktivitäten, die par excellence nicht in den Anwendungsbereich der Norm fällt.213 Mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung lässt sich dieses Ergebnis durch die Existenz der §§ 84–86a StGB bestätigen. Lediglich eine Anklage wegen Übertre­ tung dieser Normen des Strafrechts würde in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen.214 Im Ergebnis können weder die verschiedenen Anhaltspunkte im Einzelnen noch in ihrer Gesamtheit zu einer Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Par­ teiverbotsverfahren führen, da der sachliche Anwendungsbereich nicht eröffnet ist.

210

EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; bestätigt in Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f.; Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f. Als offensichtlich unbegrün­ det zurückgewiesen in EGMR, Republican Party of Russia v. Russia, Urteil v. 12. 04. 2011, No. 12976/07, Rn. 132. Noch offengelassen in EGMR, Socialist Party et. al. v. Turkey, Urteil v. 25. 05. 1998, No. 21237/93, Rn. 58–60. Gegen eine Subsumtion unter eine strafrechtliche An­ klage i. S. v. Art. 6 EMRK auch Kommission, TBKP, Sargin et Yagci c. Turquie, Entscheidung v. 06. 12. 1994, No. 19392/92, En Droit, Rn. 2. S. ferner EGMR, Communist Party of Russia et. al. v. Russia, Urteil v. 19. 06. 2012, No. 29400/05, Rn. 143. 211 Zunächst gestützt auf die allgemeine Vollstreckungsklausel des § 35 BVerfGG (BVerfGE 2, 1 [77 f.]); mittlerweile enthalten die einschlägigen Europa-, Bundes-, Landes- und Kommu­ nalwahlgesetze entsprechende Klauseln (so bereits in BVerfGE 5, 85 [392]), s. dazu Benda /  E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1207; Dollinger, in: Burkiczak / ders. /  Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 46, Rn. 67–69. 212 Dollinger, in: Burkiczak / ders. / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 43, Rn. 3. 213 Vgl. EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite)  et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2. 214 Die Normen flankieren letztlich das Parteiverbotsverfahren und finden als selbstständige Verfahren vor der Strafgerichtsbarkeit statt.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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(2) Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung Entsprechendes gilt für den Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung nach Art. 21 Abs. 3 GG, §§ 13 Nr. 2a, 46a BVerfGG.215 Wie beim Parteiverbots­ verfahren geht es beim Finanzierungsauschlussverfahren in der Begründetheit da­ rum festzustellen, ob eine Partei verfassungsfeindlich ist. Durch den semantischen Unterschied in Art. 21 Abs. 2 GG („darauf ausgehen“) gegenüber Abs. 3 S. 1 („da­ rauf ausgerichtet“) konzipierte der verfassungsändernde Gesetzgeber ein gestuftes Konzept zur Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Parteien.216 Bejaht das BVerfG das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 GG, so trifft es gem. § 46a Abs. 1 S. 1 BVerfGG zugleich die Feststellung, dass die Partei ab dem Zeitpunkt der Entscheidung für sechs Jahre aus der staatlichen Parteien­ finanzierung ausgeschlossen ist (vgl. § 18 Abs. 7 S. 2 PartG) sowie die steuerlichen Begünstigungen217 wegfallen. Entsprechend der oberen Argumentation könnte man den Ausschluss der staatlichen Finanzierung als verwehrtes pekuniäres Recht ver­ stehen, das als ziviles Recht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen könnte. Unabhängig davon, ob diese staatliche Leistung tatsächlich zivilrechtlicher Natur i. S. d. Kon­ vention ist, lässt sich ausgehend von der EGMR-Rechtsprechung218 von einem feh­ lenden Streit über diese Rechtsfolge ausgehen. Immerhin hat das BVerfG obligato­ risch den Ausschluss auszusprechen, so dass ein Streit zwischen Antragsteller und Antragsgegner über diesen Aspekt des Verfahrens fernliegt. Die Hauptfrage des Prozesses ist die Verfassungsfeindlichkeit der Partei i. S. v. Art. 21 Abs. 3 GG. Die Klärung dieser Frage unterliegt – ebenso wie beim Parteiverbotsverfahren – dem Kernbereich des Verfassungsrechts, welcher nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. Untermauen lässt sich dies mit dem Zweck des Verfahrens, der Bekämpfung von Verfassungsfeinden,219 so dass es letztlich weniger um eine finanzielle Fragestellung geht, sondern um die Einschränkung von politischen Aktivitäten einer verfassungs­ feindlichen Partei durch das Vorenthalten bestimmter staatlicher Mittel, welche die Partei zur Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nutzen könnte. Es wird daher eindeutig auf eine Verkürzung von politischen Rechten abge­ zielt, die ebenfalls außerhalb der ratione materiae des Art. 6 Abs. 1 EMRK stehen. 215

Zur Entstehungsgeschichte Barczak, in: ders. (Hrsg.), BVerfGG, § 46a, Rn. 1–4. S. zum Instrument des Finanzierungsausschlusses bereits Epping, Eine Alternative zum Parteiverbot. 216 Während im Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG seit der weg­ weisenden zweiten NPD-Entscheidung (BVerfGE 144, 20 [224–227]) das Kriterium der Poten­ tialität zur Erreichung der genannten verfassungsfeindlichen Ziele erfüllt sein muss, verzichtet Absatz 3 auf dieses Erfordernis (Barczak, in: ders. [Hrsg.], BVerfGG, § 46a, Rn. 13; BeckOK, GG / Kluth, Art. 21, Rn. 212b). 217 Lechner / Z uck, BVerfGG, § 46a, Rn. 9. 218 EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; bestätigt in Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f. und Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f. 219 BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 46a, Rn. 2.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

(3) Grundrechtsverwirkung Probleme bereitet die Einordnung des Verfahrens der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG, §§ 13 Nr. 1, 36 ff. BVerfGG, welches die freiheitliche demokra­ tische Grundordnung vor individuellen Verfassungsfeinden schützen220 soll. Das Verfahren ist in der Praxis zwar selten.221 Allerdings litten die wenigen Fälle unter einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer.222 Die verwirkungsfähigen Grundrechte sind in Art. 18 S. 1 GG enumerativ aufgezählt und beschränken sich u. a. auf die Meinungsäußerungsfreiheit, insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), sowie die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG).223 Hervorzuheben ist, dass die verwirkungsfähigen Grundrechte größtenteils auf den Teil des Schutzbereiches begrenzt sind, der nach außen wirkt und die öffentliche Meinung beeinflussen kann.224 Das Ziel von Art. 18 GG ist eine „Entpolitisierung“ und die Verdrängung von Verfassungsfeinden vom „poli­ tischen Kampffeld“.225 Die h. M. gelangt daher zu dem Befund, dass die Grund­ rechtsverwirkung nicht der repressiven Sanktionierung von Verfassungsfeinden, sondern primär der präventiven Gefahrenabwehr zugunsten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dient.226 Hierzu wird im Rahmen des Verfahrens eine Prognose über die Gefährlichkeit des Antragsgegners erstellt.227 Betrachtet man die Aspekte der Hinderung der Ausübung von politischen Rechten sowie den präventiven Charakters des Verfahrens, so spricht dies prima facie dafür, dass die Grundrechtsverwirkung  – entsprechend ähnlicher EGMR-Judikatur zu Partei­ verboten228 – nicht in den (strafrechtlichen) Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. Allerdings gilt zu beachten, dass die Grundrechtsverwirkung nach 220

Benda / E . Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1125. Bisher wurden lediglich vier erfolgslose Verfahren geführt, Benda / E . Klein, in: Benda /  Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1226 f. 222 Die bisherige Verfahrensdauer betrug elf Jahre, acht Jahre und zweimal über dreieinhalb Jahre, Benda / E . Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1228. 223 Darüber hinaus kann der Gehalt des jeweiligen speziellen Grundrechts, der in Art. 2 Abs. 1 GG mitverbrieft ist, ebenso verwirkt werden, BeckOK, GG / Butzer, Art. 18, Rn. 7.1; allgemein zum Umfang ebenda, Rn. 12. 224 BeckOK, GG / Butzer, Art. 18, Rn. 7.1. 225 BeckOK, GG / Butzer, Art. 18, Rn. 7.1; Dürig / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 18, Rn. 15. 226 Vgl. BVerfGE 11, 282 (283); 38, 23 (24); Benda / E . Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1238; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 36, Rn. 2. A. A. etwa Lechner / Z uck, BVerfGG, Vor § 36 ff., Rn. 5; Peterek, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 36, Rn. 5 m. w. N., die von einem Verfahren mit „strafprozessualen Charakter“ bzw. „quasistrafrechtlichen Verfahren“ ausgehen. 227 MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 36, Rn. 8; ebenda, § 39, Rn. 5, der hieran den Unterschied ggü. den strafrechtlichen Staatsschutzbestimmungen festmacht. 228 Vgl. für die Parteiverbotsverfahren EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite) et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; bestätigt in Yazar et. al. v. Turkey, Urteil v. 09. 04. 2002, No. 22723/93, 22724/93, 22725/93, Rn. 66 f. und Parti de la Démocratie (DEP) de Turquie v. Turquie, Urteil v. 10. 12. 2002, No. 25141/94, Rn. 70 f., die indes die Beeinträchtigung kollektiver politischer Rechte und nicht die des Ein­ zelnen betreffen. 221

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Art. 18 GG in Europa ein Unikum229 darstellt, welches noch nie vom Straßburger Gerichtshof behandelt wurde, so dass einer Übertragbarkeit Zweifel entgegenge­ halten werden können. Insbesondere in Fällen, in denen dem Antragsgegner das Eigentumsrecht nach Art. 14 GG230 (teilweise) entzogen werden würde oder durch die Verwirkung der Presse- und / oder Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 1, Abs. 3 GG) die Erwerbstätigkeit der Person betroffen wäre, erscheint es im Lichte eines effektiven Menschenrechtsschutzes erforderlich, diese eher dem Begriff der zivilen Rechte i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK als den politischen Rechten zuzuordnen. Dies dürfte mit Blick auf den einschneidenden Charakter231 auch dann gelten, wenn das BVerfG den Verwirkungsausspruch streng auf die politische Dimension des Grundrechts beschränken232 würde. Es lässt sich damit der Schluss ziehen, dass das Verfahren der Grundrechtsver­ wirkung in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen kann, sofern der Ausspruch der Verwirkung der Grundrechte – in ihrer politischen Dimension – untrennbar zivile Rechte und Pflichten i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasst. In den übrigen Fällen gilt, dass das Verfahren nicht von der ratione materiae des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasst wird, da es vornehmlich darauf abzielt, der betroffenen Per­ son den grundrechtlichen Schutz für ihre politischen Aktivitäten zu entziehen. (4) Präsidentenanklage Die Präsidentenanklage gem. Art. 61 GG, §§ 13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG dient nach herrschendem Verständnis ausschließlich dem Schutz der verfassungsgemäßen Ordnung.233 Trotz der Bezeichnung als Präsidentenanklage, gewisser Parallelen zum Strafprozess234 sowie des Verweises in § 28 Abs. 1 Hs. 1 BVerfGG auf die Nor­ men der StPO235 wird das Verfahren nicht als strafrechtlich, sondern von der h. M. als originär verfassungsrechtlich charakterisiert.236 Ziel der Präsidentenanklage ist nicht eine strafrechtliche Sanktionierung von präsidialem Fehlverhalten, sondern 229

v. Coelln, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 18, Rn. 53. Umstritten ist, ob dies auch das Erbrecht umfasst (s. BeckOK, GG / Butzer, Art. 18, Rn. 7.1. m. w. N.). 231 Anschaulich MSKB / v. Coelln, BVerfGG, § 39, Rn. 25; vgl. auch Dürig / Klein, in: Maunz /  Dürig, GG, Art. 18, Rn. 74 f. 232 Dürig / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 18, Rn. 70–73. S. auch BeckOK, GG / Butzer, Art. 18, Rn. 13; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 39, Rn. 3. 233 O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1247; S. Lorenz, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 49, Rn.  5; Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 145; MSKB / Maunz, § 49, Rn. 4; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 49, Rn. 3. 234 MSKB / Maunz, § 49, Rn. 10. Zum Ablauf S. Lorenz, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 55, Rn. 3–6. 235 S. zu den anwendbaren Normen der StPO Kap. 3 A. I. 2. c) ff) (1). 236 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 61, Rn. 10; Lechner / Z uck, BVerfGG, Vor §§ 49 ff., Rn. 1; S. Lorenz, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 49, Rn. 5; Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 145; MSKB / Maunz, § 49, Rn. 4; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 49, Rn. 3. 230

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

den Bundespräsidenten aufgrund der fehlenden Abwahl- oder sonstigen Absetzungs­ mechanismen des Grundgesetzes einer demokratisch-republikanischen Kontrolle zu unterwerfen.237 Mit den Worten von Löwer ist die „Präsidentenanklage Ausdruck des republikanischen Prinzips, das unverantwortete Herrschaft nicht kennt“.238 Die Linien des EGMR-Urteils239 zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Amtsenthebungsverfahren des ehemaligen litauischen Präsidenten Rolan­ das Paksas lassen sich im Wesentlichen auf die deutsche Präsidentenanklage über­ tragen.240. Im Fall Paksas v. Lithuania verwarf der Gerichtshof die Betroffenheit von zivilrechtlichen Rechten des enthobenen Präsidenten und untersuchte, ob das Amtsenthebungsverfahren aufgrund der verhängten Sanktionen241 strafrechtlicher Natur sei.242 Der Gerichtshof sah im Ziel des Verfahrens nicht die Feststellung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortung des Betroffenen, sondern die Prüfung der „verfassungsmäßigen Verantwortung des Staatsoberhauptes“ bei Verfehlun­ gen.243 Diese Verantwortlichkeit des Präsidenten liege entsprechend ihres Zwecks nicht im strafrechtlichen Bereich, weshalb Art. 6 Abs. 1 EMRK ratione materiae keine Anwendung finden konnte.244 Entsprechendes gilt für die deutsche Präsidentenanklage, die eine „Siche­ rung der verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit des Amtsträgers Bundes­ präsident“245 verfolgt. Eine Subsumtion unter die zivilrechtlichen Rechte und Pflichten – etwa wegen der beiläufigen Entscheidung über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten a. D. (vgl. § 5 BPräsRuhebezG)246  – würde den verfassungs­ rechtlichen Schwerpunkt des Verfahrens verkennen. Gleiches gilt für die Annahme einer strafrechtlichen Anklage. Das Verfahren soll keine strafrechtliche Ahndung für Fehlverhalten sein, sondern eine hinreichende demokratisch-republikanische Kontrolle und ggf. Absetzungsmöglichkeit des Bundespräsidenten eröffnen. So würde eine (nicht amtsbezogene) Verletzung des StGB für das Verfahren irrele­ 237

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 61, Rn. 2; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1247 f.; S. Lorenz, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), § 49, Rn. 4; BVerfGG, § Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 145; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 49, Rn. 3; ­BeckOK, GG  / Pieper, Art. 61, Rn. 2 f. Vgl. auch MSKB / Maunz, § 49, Rn. 1. 238 Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 145. 239 EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 65–69. 240 Das litauische Verfassungsrecht fordert – wie das Grundgesetz – ein durch das Parlament (Seimas) mit qualifizierter Mehrheit eingeleitetes Verfahren, welches der Feststellung dient, dass der Präsident die Verfassung grob verletzt oder seinen Eid gebrochen hat (Art. 74, 105 Abs. 3 Verfassung der Republik Litauen v. 25. 10. 1992). Im nächsten Schritt – abweichend vom deutschen Verfahren – entscheidet wiederum das Parlament, ob es aufgrund einer fest­ gestellten Verletzung den Präsidenten seines Amtes enthebt. S. zum Verfahren EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 45–47. 241 Paksas wurde insb. seines Präsidentenamtes verlustig sowie die Wählbarkeit entzogen. 242 EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 66. 243 EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 66. 244 EGMR, Paksas v. Lithuania, Urteil v. 06. 01. 2011, No. 34932/04, Rn. 66, 69. 245 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1247. 246 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1260.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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vant sein.247 Die Tenorierung über die „Schuld“ oder „Unschuld“ des Gesetzesver­ stoßes (§ 56 Abs. 1 BVerfGG) ist somit kein Äquivalent zu einer strafrechtlichen Verurteilung, sondern stets vor dem Hintergrund der demokratischen Kontrolle zu sehen. Die Präsidentenanklage ist damit – wie das litauische Amtsenthebungsver­ fahren – ausschließlich der verfassungsrechtlichen Sphäre zuzuordnen und fällt nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK. (5) Richteranklage Auf den ersten Blick ist die Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2, 5 GG, §§ 13 Nr. 9, 58 ff.  BVerfGG vergleichbar248 zur Präsidentenanklage ausgestaltet und könnte daher ebenfalls von der Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeschlossen sein. Die Funktion der Richteranklage wird in ähnlicher Weise in der „Sicherung der verfassungsrechtlichen Verantwortung“249 des Richters gesehen.250 Der Richter hat jederzeit – dienstlich und außerdienstlich – für die Verfassungsordnung einzu­ treten und soll nicht unter dem Deckmantel seiner Unabhängigkeit (Art. 97 GG) gegen die „Grundsätze des Grundgesetzes“ (Art. 98 Abs. 2 S. 1 GG) frondieren können.251 Bei einem festgestellten vorsätzlichen Verstoß ist die Entlassung mög­ lich (Art. 98 Abs. 2 S. 2 GG); in den übrigen Fällen kann der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand versetzt werden (Art. 98 Abs. 2 S. 1 GG). Um zu beurteilen, ob ein nationales Verfahren, welches eine dienstrechtliche Streitigkeit eines Angehörigen des öffentlichen Dienstes252 zum Gegenstand hat, unter die zivilrechtliche Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt, hat der EGMR den sog. Eskelinen-Test253 entwickelt. Ausgehend von der Vermutung, dass dienst­ rechtliche Verfahren grundsätzlich unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 EMRK stehen, geht der Gerichtshof zweistufig vor und überprüft zunächst, ob der Staat in seinem nationalen Recht den Zugang zu einem Gericht für die Stelle oder Per­ 247 Stattdessen ist diese Variante teleologisch dahingehend zu interpretieren, dass ein Bezug zum Amt bestehen muss (O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1252; Lö­ wer, in: HStR III, § 70, Rn. 146; zum Streitstand S. Lorenz, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf [Hrsg.], BVerfGG, § 49, Rn. 19). 248 Die Verweisungsvorschrift des § 58 Abs. 1 Hs. 2, unterstreicht die Verwandtschaft. S. zu den entsprechend anwendbaren Vorschriften MSKB / Maunz, § 58, Rn. 5. 249 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1261. 250 Vgl. Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 148 f.; Meister, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 58, Rn. 3; BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 58, Rn. 1. 251 Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 98, Rn. 34 m. w. N. 252 Der EGMR fasst hierunter auch Richter, insbesondere deren Entlassung, s. EGMR, Baka v. Hungary, Urteil v. 23. 06. 2016, No. 20261/12, Rn. 104; Denisov v. Ukraine, Urteil v. 25. 09. 2018, No. 76639/11, Rn. 52 jeweils m. w. N. Vgl. zur vorherigen Rechtsprechung EGMR, Baka v. Hungary, Urteil v. 23. 06. 2016, No. 20261/12, Rn. 102. 253 S. dazu den Fall EGMR, Vilho Eskelinen et. al. v. Finland, Urteil v. 19. 04. 2007, No. 63235/00, Rn. 62; zusammengefasst bei Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 389; Schabas, ECHR, 274.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

sonalgruppe explizit ausgeschlossen hat. Ist dies zu verneinen, so entspricht es einer Vermutung, dass der Fall in den Anwendungsbereich fällt.254 Ist der Rechts­ weg explizit ausgeschlossen, so ist zweitens zu fragen, ob der Ausschluss durch objektive Gründe des staatlichen Interesses gerechtfertigt ist. Der Staat muss hier­ für nachweisen, dass der Streitgegenstand eine Gefährdung für die Ausübung der öffentlichen Gewalt oder das besondere Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis mit sich bringt. Kann dies bejaht werden, so ist die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK gerechtfertigterweise ausgeschlossen.255 Die Prämisse zur Anwendbarkeit des Eskelinen-Tests auf die deutsche Richter­ anklage ist, dass es sich bei diesem Verfahren um eine „dienstrechtliche Streitig­ keit“256 handelt. Dies mag zwar nach nationaler Dogmatik nicht der Fall sein257, was wiederum eine autonome Qualifikation nicht ausschließt. Hinsichtlich der Rechts­ folge – Versetzung in ein anderes Amt, in den Ruhestand oder gar die Entlassung – ist die Richteranklage vergleichbar zu den bisher als dienstrechtlich qualifizierten Fällen aus anderen Mitgliedstaaten, welche die Richterschaft betrafen.258 Daher ist anzunehmen, dass der EGMR bei einer Bewertung der deutschen Richteranklage ebenso von einer „dienstrechtlichen Streitigkeit“ ausgehen würde. Wendet man den Eskelinen-Test auf das Verfahren der Richteranklage an, so endet die Prüfung bereits auf der ersten Stufe des Tests. Die Entscheidung über die Begründetheit der Richteranklage und die ggf. erforderliche Frage nach der eintretenden Rechtsfolge wird nicht, wie in anderen Fällen259, von einem außerge­ richtlichen Organ entschieden, sondern in einem rechtsförmigen Verfahren exklu­ siv und endgültig vom BVerfG als Teil der rechtsprechenden Gewalt beschlossen. Diese Entscheidung kann zwar nicht erneut von einer nationalen Instanz gerichtlich überprüft werden. Allerdings ist dies entsprechend der Entscheidung Kamenos v. 254

EGMR, Vilho Eskelinen et. al. v. Finland, Urteil v. 19. 04. 2007, No. 63235/00, Rn. 62; Baka v. Hungary, Urteil v. 23. 06. 2016, No. 20261/12, Rn. 103. 255 EGMR, Vilho Eskelinen et. al. v. Finland, Urteil v. 19. 04. 2007, No. 63235/00, Rn. 62. 256 „[E]mployment dispute between the authorities and public servants“, EGMR, Olujjć v. Croatia, Urteil v. 05. 02. 2009, No. 22330/05, Rn. 32; Baka v. Hungary, Urteil v. 23. 06. 2016, No. 20261/12, Rn. 102; „public-employment disputes“, EGMR, Denisov v. Ukraine, Urteil v. 25. 09. 2018, No. 76639/11, Rn. 52. Vgl. auch EGMR, Vilho Eskelinen et. al. v. Finland, Urteil v. 19. 04. 2007, No. 63235/00, Rn. 62, 64; Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 389. 257 Das Verfahren wird als „genuin verfassungsrechtliches Verfahren“ eingeordnet, BeckOK, BVerfGG / Waldhoff, § 58, Rn. 2, vgl. Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 98, Rn. 33; O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1261; Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 148; Meister, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 58, Rn. 3; BeckOK, GG / Morgenthaler, Art. 98, Rn. 7. 258 Vgl. EGMR, Olujjć v. Croatia, Urteil v. 05. 02. 2009, No. 22330/05, Rn. 32; Oleksandr Volkov v. Ukraine, Urteil v. 09. 01. 2013, No. 21722/11, Rn. 88 f.; Sturua v. Georgia, Urteil v. 28. 03. 2017, No. 45729/05, Rn. 25 f.; Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07, Rn. 62 f.; Denisov v. Ukraine, Urteil v. 25. 09. 2018, No. 76639/11, Rn. 52–54; Schabas, ECHR, 274. 259 Etwa wie in den Fällen EGMR, Suküt v. Turkey, Entscheidung v. 11. 09. 2007, No. 59773/00; Nazsiz v. Turkey, Teilentscheidung v. 26. 05. 2009, No. 22412/05; Özpinar c. Turquie, Urteil v. 19. 10. 2010, No.  20999/04.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Cyprus260 nicht als ein Ausschluss des Rechtsweges zu werten, sondern steht we­ gen der richterlichen Ausübung der Disziplinargewalt mit dem Eskelinen-Test im Einklang.261 Der Zugang zu einem Gericht i. S. der ersten Stufe des Eskelinen-Tests wird in solch einem Fall nicht beschnitten.262 Die zweite Stufe der Rechtfertigung des Ausschlusses von den Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK wird daher nicht er­ reicht, so dass entsprechend der rigiden Rechtsprechungspraxis263 des EGMR das Verfahren der Richteranklage in dessen Anwendungsbereich fällt.264 (6) Zwischenergebnis Für die Verfassungsschutzverfahren ist festzuhalten, dass weder das Parteienver­ bot, der Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung noch die Präsidenten­ anklage in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen und daher das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht anwendbar ist. Hinsichtlich des Verfahrens der Grundrechtsverwirkung ist das jeweils infrage stehende Grundrecht genau auf seinen zivilrechtlichen Charakter zu prüfen, so dass die Anwendbarkeit einzelfallabhängig ist. Hingegen kann nach Maßgabe der EGMR-Judikatur die Richteranklage eindeutig unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen. gg) Sonstige Verfahren (1) Verfahren in Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen Die Wahlprüfungsbeschwerde (Art. 41 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG) ist der zweite Teil eines zweistufig organisierten Wahlprüfungssystems.265 Zweck 260

EGMR, Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07. Vergleichbar zur deutschen Richteranklage entscheidet allein und endgültig der zypriotische „Supreme Council of Judi­ cature“ über disziplinarische Maßnahmen gegen Richter, etwa deren Entlassung. 261 Vgl. EGMR, Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07, Rn. 82–87 sowie Rn. 75–79. 262 Vgl. EGMR, Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07, Rn. 88. 263 Vgl. EGMR, Olujjć v. Croatia, Urteil v. 05. 02. 2009, No. 22330/05, Rn. 43 f.; Oleksandr Volkov v. Ukraine, Urteil v. 09. 01. 2013, No. 21722/11, Rn. 91; Baka v. Hungary, Urteil v. 23. 06. 2016, No. 20261/12, Rn. 118; Sturua v. Georgia, Urteil v. 28. 03. 2017, No. 45729/05, Rn. 27; Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07, Rn. 88; Denisov v. Ukraine, Urteil v. 25. 09. 2018, No. 76639/11, Rn. 55. 264 Vgl. EGMR, Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 147/07, Rn. 88, 102–110. Die Frage, ob in der Richteranklage zusätzlich eine strafrechtliche Anklage zugrunde liegt ist, kann daher offenbleiben (vgl. EGMR, Denisov v. Ukraine, Urteil v. 25. 09. 2018, No. 76639/11, Rn. 43), wobei der Charakter des Verfahrens gegen eine Zuordnung zum strafrechtlichen Be­ reich spricht (vgl. EGMR, Oleksandr Volkov v. Ukraine, Urteil v. 09. 01. 2013, No. 21722/11, Rn. 92–95; Sturua v. Georgia, Urteil v. 28. 03. 2017, No. 45729/05, Rn. 28; Kamenos v. Cyprus, Urteil v. 31. 10. 2017, No. 47/07, Rn. 50–53). 265 Bevor das BVerfG entscheidet muss grundsätzlich eine Wahlprüfungsentscheidung des Bundestages (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG, § 1 Abs. 1 WahlprüfG) vorliegen.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

des Verfahrens ist einerseits in objektiver Hinsicht die gesetzmäßige Zusammen­ setzung des Deutschen Bundestages zu gewährleisten, andererseits die subjektiv­ rechtlichen Regeln266 des aktiven und passiven Wahlrechts zu schützen.267 Im Zusammenhang mit dem subjektiven Rechtsschutz bei Wahlsachen wirft etwa die OSZE in ihrem Bericht zur Bundestagswahl vom 24. 09. 2017 die Frage auf, ob das zweistufige Prüfungsverfahren mit Blick auf die Verfahrensdauer internationalen Maßstäben zum effektiven Rechtsschutz von Wahlrechten ge­ recht wird.268 Hierbei listet der OSZE-Bericht den Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht als potentiell verletzte Norm auf. Dem ist vollends zuzustimmen, da die verfahrens­ gegenständlichen Normen als objektive Grundsätze des nationalen Wahl- und Verfassungsrechts bzw. subjektive Wahlrechte i. S. v. Art. 3 1. ZP EMRK ratione materiae nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen.269 Ins­ besondere das aktive und passive Wahlrecht fällt als politisches Recht par excel­ lence nicht unter die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK.270 Entsprechendes gilt für das Verfahren zur Überprüfung der Wahlen zum Euro­ päischen Parlament (Art. 93 Abs. 3 GG, § 13 Nr. 15 BVerfGG, § 26 Abs. 3 EuWG), zur Überprüfung von Abstimmungen über die Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 93 Abs. 3 GG, § 13 Nr. 15 BVerfGG, § 14 Abs. 3 Volksentscheidgesetz [G Ar­ tikel 29 Abs. 6]271)272 sowie im Falle der Nichtanerkennungsbeschwerde273 (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, §§ 13 Nr. 3, § 96a ff. BVerfGG)274.275 266

Aufgewertet durch § 48 Abs. 3 BVerfGG, Art. 3 des G. zur Verbesserung des Rechts­ schutzes in Wahlsachen v. 12. 7. 2012, BGBl. 2012 I, 1501. 267 „[Ü]berwiegend objektives Verfahren“, Bechler, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 48, Rn. 4; Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 41, Rn. 47; Misol, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 48, Rn. 3–5, 48; MSKB / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 48, Rn. 11, 13; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 48, Rn. 1. Vgl. auch die Motive des Gesetzgebers bei der Stär­ kung des subjektiven Rechtsschutzes, BTag-Drucks. 17/9391, 6: „Gegenstand der Wahlprüfung ist zwar in erster Linie die Gültigkeit der Wahl und nicht die Verletzung subjektiver Rechte (BVerfGE 89, 291 [299]).“ 268 Bericht des OSZE / BDIMR Expertenteams zur Bundestagswahl 2017 vom 27. 11. 2017, 9, abrufbar unter https://www.osce.org/de/odihr/elections/germany/363781?download=true, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 269 Vgl. dazu Kap. 3 A. I. 2. b) cc). 270 Vgl. EGMR, Refah Partisi (Parti de Prosperite)  et. al. c. la Turquie, Entscheidung v. 03. 10. 2000, No. 41340/98, 41342/98, En Droit, Rn. 2; Communist Party of Russia et. al. v. Russia, Urteil v. 19. 06. 2012, No. 29400/05, Rn. 143. 271 BGBl. 1979 I, 1317. 272 Dazu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1307 ff. 273 Zur Implementierung Hummel, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 96a, Rn. 3 f., s. auch die Kritik der OSZE an der vorherigen Rechtslage: Bericht der OSZE /  ODIHR-Wahlbewertungsmission zur Bundestagswahl 2009 v. 14. 12. 2009, 23 f., https://www. osce.org/de/odihr/elections/germany/40879?download=true, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 274 Dies gilt auch für den Parallelfall der Nichtanerkennung als Partei bei der Europawahl (vgl. § 14 Abs. 4a S. 2 EuWG). 275 Hinsichtlich der Nichtanerkennungsbeschwerde stellt sich das Problem einer unangemes­ sen langen Verfahrensdauer aufgrund der gesetzlich vergebenen Zeitkorridore (§ 18 Abs. 4a BWG) von vornherein nicht (vgl. BeckOK, BVerfGG / B. Grünewald, § 96a, Rn. 3).

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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(2) Verfahren nach dem PUAG Hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Verfahren nach dem PUAG lässt sich bündig feststellen, dass diese entweder dem Organstreitverfahren276 oder der kon­ kreten Normenkontrolle277 ähneln.278 Mutatis mutandis lassen sich die zu diesen beiden Verfahren getätigten Aussagen auf Verfahren nach dem PUAG in der Ge­ stalt übertragen, dass die Zuständigkeit des BVerfG nach dem PUAG evidenter Weise auf Streitigkeiten begrenzt ist, die den Binnenraum des Staates betreffen279 und damit als verfassungsrechtliche – den Bürger nicht betreffende – Streitigkeiten außerhalb von Art. 6 Abs. 1 EMRK stehen. (3) Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Für die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG gilt, dass sie als Nebenver­ fahren, in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen kann, wenn das Hauptsacheverfahren (der „Streitfall“) nach den eben dargelegten Grundsätzen unter die Konventionsnorm fällt. Für die einstweilige Anordnung ist damit eine ak­ zessorische Betrachtung geboten.280 Zwar dürfte eine unangemessene Verzögerung bei der besonders dringlichen einstweiligen Anordnung praktisch ausgeschlossen sein.281 Nichtsdestotrotz existieren Verzögerungsbeschwerden gegen die Verfah­ rensdauer von einstweiligen Anordnungen.282 hh) Verzögerungsbeschwerde Die Frage, ob die Verzögerungsbeschwerde (§§ 97a ff. BVerfGG) selbst –  als Rechtsbehelf, der Verzögerungen in anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren abhelfen soll – unter den Anspruch eines Verfahrens in angemessener Dauer fällt, mag auf den ersten Blick skurril erscheinen. Setzt dies doch in der Praxis eine verzögerte Verzögerungsbeschwerde voraus.283 Zur erschöpfenden Behandlung 276

So beim Verfahren nach §§ 18 Abs. 3 Hs. 1, 19, 23 Abs. 2 Hs. 2 PUAG. Selbiges gilt für das Verfahren nach § 14 PKGrG. 277 So das Vorlageverfahren nach Art. 93 Abs. 3 GG, § 36 Abs. 2 PUAG, § 13 Nr. 11a BVerfGG. 278 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1332, 1336, 1341. 279 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1332, 1336, 1341. 280 Vgl. zur Akzessorietät E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1384 ff.; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 32, Rn. 8 ff.; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 32, Rn. 17. 281 Selbst komplexe Fälle wie zum ESM-Vertrag und Fiskalpakt wurden mittels einer einst­ weiligen Anordnung zügig entschieden, vgl. BVerfGE 132, 295. 282 Z. B. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 06. 10. 2014, – 1 BvQ 12/13 – Vz 12/14 (unveröffentlicht). Die Verzögerungsbeschwerde wurde als unzulässig zurückgewiesen. Vgl. die übrigen Verfahren im Anhang. 283 Das dies nicht unmöglich ist zeigt der entsprechende italienische Rechtsbehelf, vgl. Calvez /  Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 15.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

der Verfahrensarten vor dem BVerfG ist diese – eher hypothetische284 – Frage in­ des zu beantworten. Nach der Rechtsprechung des EGMR können auch staatshaftungsrechtliche Fälle der Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterstehen,285 insbesondere Verfahren über die Kompensationszahlung für eine unangemessene Verfahrensdauer fallen hierunter.286 Die Verzögerungsbeschwerde, mit der eine Kompensation für mate­ rielle und nicht-materielle Nachteile infolge überlanger Verfahrensdauer erlangt werden kann, fällt daher grundsätzlich in den Anwendungsbereich.287 In Hinblick auf ihre akzessorische Ausgestaltung ist jedoch zu bedenken, dass nicht jedes (staatsrechtliche) Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, jedoch nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammer des BVerfG in den Anwendungsbereich der §§ 97a ff. BVerfGG fällt.288 Daher ist die Anwendbarkeit der Norm auf solche Verzögerungsbeschwerden zu beschrän­ ken, in deren Ausgangsverfahren selbst das konventionsrechtliche Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer gilt.289 Es ist daher zu einem differenzierten Ergebnis zu gelangen, wonach die Verzö­ gerungsbeschwerde nicht in all ihren statthaften Fällen in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt, sondern nur wenn das akzessorische, verzögerte Ausgangsverfahren selbst unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. d) Ergebnis zum Anwendungsbereich Eindeutig in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen lediglich die Individualverfassungsbeschwerde, die konkrete Normenkontrolle, das Nor­ menverifikationsverfahren, die Divergenzvorlage sowie die Richteranklage. Dies mag insofern überraschen, als dass die Verfahren nach nationaler Dogmatik ver­ schiedenste Dimensionen aufweisen, nichtsdestotrotz wegen der faktischen Grund­ rechtsbetroffenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beteiligten des ausgesetzten Ausgangsverfahrens unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen können. 284 Ausweislicht der Jahresstatistiken 2012–2017 des BVerfG zur Verzögerungsbeschwerde (auffindbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/ jahresstatistiken_node.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020) sind zum Ende eines Geschäfts­ jahrs im Durchschnitt unter 10 % der eingegangenen Beschwerden noch anhängig. 285 Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 385 m. w. N. 286 EGMR, Pelli c. l’Italie, Entscheidung v. 13. 11. 2003, No. 19537/02, En Droit, A; bestätigt in Cataldo v. Italy, Entscheidung v. 03. 06. 2004, No. 45656/99, The Law, Rn. 2; Wojcicka-­ Surowka v. Poland, Urteil v. 27. 11. 2007, No. 33017/03, Rn. 52. 287 S. zur Funktionsweise der Verzögerungsbeschwerde eingehend Kap. 4. 288 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). Vgl. auch BVerfG (Beschwerde­ kammer), Beschluss v. 30. 08. 2016  – Vz 1/16, 2 BvC 26/14, BeckRS 2016, 5173; s. dazu Kap. 4 A. III. 1. 289 Für diese Verknüpfung spricht zudem der Aspekt, dass die Verzögerungsbeschwerde als effektiver Rechtsbehelf nach Art. 13 ERMK akzessorisch mit Art. 6 Abs. 1 ERMK verbunden ist, vgl. Kap. 5 A. I.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Demgegenüber lassen sich folgende Verfahren außerhalb des Art. 6 Abs. 1 EMRK verorten: die Kommunalverfassungsbeschwerde, die abstrakte Normen­ kontrolle, das Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren, der Organ­ streit, die Bund-Länder-Streitigkeiten, der Zwischenländerstreit, der Binnenländer­ streit, das Parteiverbotsverfahren, das Parteienfinanzierungsausschlussverfahren, die Präsidentenanklage, die Wahlprüfungsbeschwerde sowie Verfahren, in denen das BVerfG im Rahmen der Organleihe als Landesverfassungsgericht fungiert oder nach dem PUAG zuständig ist. Den meisten dieser Verfahren ist gemein, dass sie originär staatsrechtlicher Natur sind und eine Grundrechtsbetroffenheit daher bereits wegen des nicht eröffneten persönlichen Anwendungsbereiches aus­ geschlossen ist. Des Weiteren führt nicht jeder Zusammenhang zu Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten zu einer Aktivierung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da dessen – zugegebenermaßen weiter – straf- und zivilrechtlicher Anwendungs­ bereich letztlich nicht jegliches grundrechtsrelevantes Verfahren mit einem An­ spruch auf eine angemessene Verfahrensdauer ausstattet. Dies zeigt sich ebenso bei den Verfahren, die stark einzelfallabhängig in den Anwendungsbereich fallen können (ambivalente Verfahren). Diese ambivalenten Verfahren sind die Grundrechtsverwirkung, die Verzögerungsbeschwerde, die einstweilige Anordnung sowie das Normqualifizierungsverfahren. Letzteres fällt nur in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, sofern es sich um dessen konkrete Variante handelt. Für die anderen gilt, dass aufgrund ihrer Akzessorietät bzw. bei der Grundrechtsverwirkung die Stoßrichtung im Einzelfall maßgeblich über die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK entscheidet. Damit fällt ein Großteil der verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht unter die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Indes erstreckt die Beschwerdekammer290 des BVerfG die Verzögerungsbeschwerde nicht nur auf Verfahren, die unter die Kon­ ventionsnorm fallen, sondern auf (zumindest teilweise) objektivrechtliche Verfah­ ren, in denen eine „individuelle Betroffenheit“ des Verfahrensbeteiligten durch die unangemessen lange Verfahrensdauer vorliegen kann.291 Eine konventionsrecht­ liche Notwendigkeit für diese Rechtsprechungslinie besteht indes nicht, womit sich für die Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG unter anderem die Frage stellt, ob für die von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfassten Verfahren eine konventionskonforme Auslegung geboten ist.292 Virulent werden derartige Fragen, sobald staatliche Or­ gane am Verfahren der Verzögerungsbeschwerde beteiligt sind und vom BVerfG eine Entschädigung fordern.

290

BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 292 S. dazu Kap. 4 A. III. 1., VI. 2.  und B. III. 2. c). 291

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

3. Inhalt: Angemessenheit der Verfahrensdauer Die Konvention selbst gibt dabei keine näheren Anhaltspunkte dafür, wann ein Zeitraum als angemessene Verfahrensdauer i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK anzuse­ hen ist und ab wann nicht mehr. Gelegentlich äußerte der Gerichtshof, dass als grobe Faustregel ein Jahr pro Instanz gelte.293 Gesichert scheint dieser Ansatz al­ lerdings nicht.294 Aus einer Analyse von EGMR-Entscheidungen, die zur Gesamt­ verfahrensdauer im strafrechtlichen Ast von Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangen sind, lässt sich zumindest ein 3-5-7-Schema ableiten:295 Strafrechtliche Verfahren, die weniger als drei Jahre in Anspruch genommen haben, seien regelmäßig als ange­ messen zu betrachten, während Verfahren, die länger als sieben Jahre gedauert haben, grundsätzlich konventionswidrig seien. Die Grenze zwischen einer (noch) angemessenen und unangemessenen Verfahrensdauer verlaufe in etwa bei fünf Jahren, so dass im Umfeld dieser Marke ein besonderes Augenmerk auf den Ein­ zelfall zu richten sei.296 Fernab von arithmetischen Formeln und schemenhaften Lösungen hat der Ge­ richtshof zur näheren Konkretisierung bereits in seinen Anfangsjahren verschie­ dene Kriterien entwickelt, anhand derer er im Einzelfall entscheidet, ob ein Ver­ fahren von angemessener Dauer ist: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers, das Verhalten der zuständigen Behörden, die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer.297 Allerdings modifiziert der Gerichtshof diese Kriterien, wenn er sie auf das BVerfG anwendet.298 Zu beachten ist, dass der Ge­ richtshof den Mitgliedstaaten keinen eigenen Beurteilungsspielraum (i. S. d. „mar­ gin of appreciation“-Doktrin299) bei der Ausfüllung der Kriterien gestattet, sondern eine eigene Bewertung vornimmt.300 293

Erstmalig in EGMR, Hutchinson v. The United Kingdom, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 50272/ 99, Rn. 79; wiederholt u. a. in Panchenko v. Russia, Urteil v. 08. 02. 2005, No. 45100/98, Rn. 117, Moiseyev v. Russia, Urteil v. 09. 10. 2008, No. 62936/00, Rn. 160; Strelets v. Russia, Urteil v. 06. 11. 2012, No. 2801/05, Rn. 103; Khlaifa v. Italy, Urteil v. 01. 09. 2015, No. 16483/12. Es fällt auf, dass der Gerichtshof diese Faustformel bisher im Kontext des Art. 5 Abs. 4 EMRK genutzt hat, um aufzuzeigen, dass Verfahren, die die Freiheit der Person betreffen, besonders beschleunigungsbedürftig sind. 294 Vgl. HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 199; 207 f. sowie die Fn. 293. Für einen Richtwert von anderthalb bis zwei Jahre Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 249. 295 Henzelin / Rordorf, NJECL 5 (2014), 78–109. 296 Henzelin / Rordorf, NJECL 5 (2014), 78 (94–96). 297 Vgl. EGMR, Neumeister v. Austria, Urteil v. 27. 06. 1968, No. 1936/63, As To The Law, Rn. 20 f.; Ringeisen v. Austria, Urteil v. 16. 07. 1971, No. 2614/65, Rn. 110 aus denen der EGMR in König v. Germany, Urteil v. 28. 07. 1978, No. 6232/73, Rn. 99 die Kriterien gewann. 298 S. dazu unten Kap. 3 A. I. 3. f). 299 D. h. eine abgesenkte Kontrolldichte, die je nach betroffenem Konventionsrecht variiert, um den demokratisch legitimierten Eigenheiten der Mitgliedstaaten gerecht zu werden und zugleich das Mandat des EGMR nicht überspannt, vgl. Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote /  Marauhn, EMRK / GG, Kap. 7, Rn. 58 f. 300 Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 441.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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a) Berechnung des zu berücksichtigenden Zeitraumes Der Gerichtshof unterscheidet zur Kalkulation des zu prüfenden Zeitraumes entlang des dichotomen Anwendungsbereiches: In strafrechtlichen Verfahren be­ ginnt die Verfahrensdauer nicht erst mit der Eröffnung des gerichtlichen Verfah­ rens, sondern – entsprechend des Wortlautes von Art. 6 Abs. 1 EMRK – mit der „Anklage“.301 Hierunter versteht der EGMR, die offizielle Mitteilung durch eine Person der zuständigen Behörde, dass man einer Straftat bezichtigt wird oder dass das behördliche Verhalten zumindest so starke Anhaltspunkte dafür bietet, dass dies eine wesentliche Auswirkung auf die Situation des Verdächtigten hat.302 Im zivilrechtlichen Ast ist grundsätzlich die Erhebung der Zivilklage der maßgebliche Zeitpunkt. Sofern es sich um ein verwaltungsgerichtliches Verfahren handelt kann auch ein behördliches Vorverfahren miteinzubeziehen sein.303 Bei einer Involvierung des BVerfG ist das Anhängigmachen des verfassungsge­ richtlichen Verfahrens der relevante Zeitpunkt.304 War im Einzelfall ein Vorabent­ scheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erforderlich,305 so lässt der EGMR diese Phase bei seiner Berechnung außer Be­ tracht.306 Endpunkt der Gesamtverfahrensdauer ist grundsätzlich die finale und unanfechtbare nationale Entscheidung, welche aus konventionsrechtlicher Sicht auch von einem Verfassungsgericht kommen kann.307 b) Komplexität des Falles Das Kriterium der Komplexität des Falles lässt sich unterteilen in rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten. Hinsichtlich des Rechts können sich besondere Umstände ergeben, wenn sich die gesetzlichen Grundlagen geändert haben, auf ein Präjudiz eines anderen Gerichts gewartet wird oder wenn Individualinteres­

301

Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 440. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 30. 303 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 81 m. w. N. Einzelheiten bei Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 32 f. 304 Vgl. EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 47; Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 59; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 69; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 15, 32. 305 Hinsichtlich jüngster Vorabentscheidungsverfahren, die vom BVerfG angestoßen wurden (s. BVerfGE 134, 366; 146, 216), ist das Herausrechnen nicht nur auf der Ebene der Fachge­ richte von Relevanz. 306 EGMR, Paftis et. al. v. Greece, Urteil v. 26. 02. 1998, No. 20323/92, Rn. 95; Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy v. Finland, Urteil v. 27. 06. 2017, No. 931/13, Rn. 208. 307 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 35; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14, Rn.  113; Peukert, in: Frowein / ders., Art. 6, Rn. 246. 302

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

sen mit denen der Allgemeinheit abgewogen werden müssen.308 Im Bereich der komplexen Sachfragen anzusiedeln sind u. a. die Befragung einer hohe Anzahl an Zeugen, die Ladung von unbekannten Zeugen, die Notwendigkeit Fachwissen heranzuziehen oder die Übersetzungen von fremdsprachigen Schriftstücken.309 Als Bereiche, in denen sich typischerweise komplexe Sach- und Rechtsfragen vermischen, sind das Wirtschafts- oder Umweltstrafrecht310 oder das städtische Planungsrecht311 zu nennen. Mit Blick auf das Verfassungsgericht billigt der EGMR, dass es aufgrund seiner besonderen Rolle oftmals Sachverhalte von besonderer Komplexität zu beurteilen hat, die eine eingängige Prüfung erforderlich machen.312 c) Verhalten des Beschwerdeführers Dem Verhalten des Beschwerdeführers kommt eine wesentliche Bedeutung bei der Beurteilung der Angemessenheit zu. Selbst bei offenkundig überlangen Ver­ fahren kann ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK abgelehnt werden, wenn die Verzögerungen allein oder zumindest maßgeblich dem Beschwerdeführer zuzu­ rechnen sind und insofern den nationalen Gerichten keine Untätigkeit vorzuwer­ fen ist.313 Dem Beschwerdeführer kann indes nicht vorgeworfen werden, dass er ihm zur Verfügung stehende Rechtsmittel ergriffen hat.314 Allerdings haben die Parteien im Zivilverfahren, in denen die Parteimaxime und der Beibringungsgrundsatz gilt, eine größere Sorgfalt zur Vermeidung von Verzögerungen walten zu lassen, was umgekehrt nicht bedeutet, dass der jeweilige Richter vom Gebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK entbunden wäre.315 Demgegenüber ist der Betroffene eines Strafverfah­ rens gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verpflichtet, an den Ermittlungen der Justiz­ behörde aktiv mitzuwirken.316 Grundsätzlich gilt, dass im Einzelfall abzuwägen ist, ob, und falls ja in welchem Verhältnis, eine Verzögerung dem Beschwerdeführer 308

Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 16 m. w. Bsp. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 16 m. w. Bsp. 310 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 82. 311 Vgl. EGMR, Katte Klitsche de la Grange, Urteil v. 27. 10. 1994, No. 12539/86, Rn. 52, 62, in dem sich technisch-städtebauliche, planungsrechtliche und umweltrechtliche Fragestellun­ gen vermengten. 312 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 45. Vgl. EGMR, Pam­ mel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 63; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 58. 313 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 17. 314 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 18; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 82. 315 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 17 m. w. N. sowie Harris /  O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 441 f. 316 EGMR, Eckle v. Germany, Urteil v. 15. 07. 1982, No. 8130/78 Rn. 82. 309

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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oder dem Staat anzulasten ist bzw. ob nicht ein von keiner Seite zu vertretendes, objektives Hindernis – wie etwa höhere Gewalt – bestand.317 In den vom Gerichtshof entschiedenen Fällen, denen ein verfassungsgericht­ liches Verfahren zugrunde lag, spielte das Verhalten des Beschwerdeführers – wohl aufgrund seiner begrenzten prozessualen Mitwirkungsmöglichkeiten – keine bzw. nur eine zu vernachlässigende Rolle.318 d) Verhalten der zuständigen Behörden und Gerichte Spiegelbildlich zum Verhalten des Beschwerdeführers ist das Verhalten der zu­ ständigen Behörden, insbesondere der Gerichte, hinsichtlich etwaiger Verzögerun­ gen von erheblicher Relevanz bei der Bewertung der Angemessenheit. Zunächst sind die Konventionsstaaten verpflichtet ihre Rechtssysteme in der Gestalt zu organisieren, dass die Gerichte die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK, insbesondere die Angemessenheit der Verfahrensdauer, einhalten können.319 Aus­ nahmsweise verzichtet der Gerichtshof auf eine Haftung des Konventionsstaates, wenn lediglich ein vorübergehender Rückstau von Fällen vorliegt und der Staat versucht diesen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuhelfen.320 Im Gegenteil dazu können strukturelle Defizite, die Verzögerungen nach sich ziehen, nicht zur Recht­ fertigung angeführt werden321. Unterhalb dieser Organisationsebene hat der je­ weilige Richter die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Verfahren zu beschleunigen bzw. um Verzögerungen zu vermeiden.322 Diese Prinzipien gelten grundsätzlich gleichermaßen für das BVerfG. Aller­ dings räumt der Gerichtshof dem Karlsruher Gericht größere Freiräume ein.323 Beispielsweise akzeptierte der EGMR die historisch einzigartige Situation der Wiedervereinigung Deutschlands, weshalb das BVerfG aus sozialpolitischen Grün­

317

S. zum case-law Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 17–19. Vgl. EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 51; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 74; Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99, Rn. 22; Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98, Rn. 49; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 37. 319 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77, Rn. 51; Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 55; Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 68; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 63; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 75; Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63. 320 EGMR, Buchholz v. Germany, Urteil v. 06. 05. 1981, No. 7759/77, Rn. 51. 321 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 69; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 64; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 76. 322 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 82 m. w. Bsp. 323 Dazu sogleich unter Kap. 3 A. I. 3. f). 318

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

den berechtigt war, Verfahren über die Beendigung von Arbeitsverträgen von An­ gestellten des öffentlichen Dienstes der DDR vorrangig zu behandeln.324 Der Staat kann sich allerdings auf solch einer Begründung nicht ausruhen und versuchen, hiervon unabhängige Verzögerungen zu erklären.325 Stattdessen gilt auch für das BVerfG, dass chronische Überlastungen nicht gerechtfertigt werden können und für eine Verantwortlichkeit des Staates sprechen.326 e) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer Die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer kann in besonderer Weise bereits bei einer relativ kurzen Zeitspanne eine unzulässige Verzögerung begrün­ den.327 Die Analyse von Calvez / Regis328 zeigt, dass sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgende besonders beschleunigungsbedürftige Fallgruppen entneh­ men lassen: – Arbeits- und sozialrechtliche Streitigkeiten, insbesondere solche, die sich auf Berufskrankheiten oder auf den Lebensunterhalt beziehen; – Entschädigungen für Opfer von Unfällen; – Fälle, in denen der Beschwerdeführer während des Verfahrens inhaftiert ist oder war; – Fälle, in denen der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers kritisch ist329 oder dessen Alter zu berücksichtigen ist; – Fälle, die den Schutz des Familienlebens behandeln sowie Streitigkeiten über Un­terhaltspflichten, den Personenstand oder die Prozess- und Geschäftsfähig­ keit; 324

EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 60. Ähnlich EGMR, Tričković v. Slovenia, Urteil v. 12. 06. 2001, No. 39914/98, Rn. 67. 325 Vgl. die Fälle EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 71; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 66; Klein v. Germany, Urteil v. 27. 07. 2000, No. 33379/96, Rn. 45, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99, Rn. 32; in der Sache Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98 ging der Gerichtshof gar nicht erst auf diesen Einwand der Regierung (s. ebenda, Rn. 45) ein. 326 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 69; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 64; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 76; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 26, s. zu die­ sen Fällen Kap. 2 A. I. 327 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 82; dies., in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 14, Rn. 114. 328 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 24–28; ebenda, Appen­dix 2, 86–90. 329 In Fällen schwerer und unheilbarer Erkrankungen (etwa einer Infektion mit dem HI-­Virus) ist eine außergewöhnliche Beschleunigung geboten, Calvez / Regis, Length of court proceed­ ings, CEPEJ(2018)26, 24, 26 f. m. w. N.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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– Verfahren wegen der Verletzung von absoluten Rechten (Art. 2, 3 und 4 EMRK);330 – sowie darüber hinaus die flexible Gruppe von Fällen, die aus bestimmten Grün­ den des Einzelfalles vorrangig anzusehen sind331. In den genannten Fallgruppen fordert der Gerichtshof nicht nur von den Fachge­ richten eine zügige Entscheidung, sondern ebenfalls von den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten.332 Das BVerfG ist – in Abhängigkeit vom Einzelfall333 – ge­ halten die neuralgischen Fälle zu priorisieren. f) Die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts Wie bereits stellenweise gezeigt eröffnet der Gerichtshof zugunsten der Ver­ fassungsgerichtsbarkeit gewisse Konzessionen bei der Feststellung der Unange­ messenheit der Verfahrensdauer.334 Der EGMR billigt in seiner ständigen Recht­ sprechung, dass das BVerfG einen Fall nicht chronologisch oder nach dessen Registereintragung abarbeiten muss, sondern aufgrund der Natur der Sache oder der sozialen oder politischen Bedeutung in einer anderen Reihenfolge bearbeiten kann.335 In seiner Rolle als „Hüter der Verfassung“ muss das BVerfG jeden nicht offensichtlich unzulässigen Fall mit einer größtmöglichen Sorgfalt behandeln, um die besonderen, über den Einzelfall hinauswirkenden Folgen seiner Entscheidung miteinbeziehen zu können.336 Dementsprechend kann das Verfassungsgericht ge­ wisse Fälle zurückstellen, um eine Grundsatzentscheidung in einem Parallelver­ fahren abzuwarten.337

330 Exemplarisch sind Fälle von Polizeigewalt oder Untersuchungen zum Menschenhandel zu nennen, Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 24, 27 f. 331 Entschieden für Privatsphäreverletzungen, Verleumdungen oder Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CE­ PEJ(2018)26, 28. 332 Vgl. EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 61; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 79 f.; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 44. 333 So entschied der Gerichtshof, dass in Fällen von Rentenansprüchen zwar eine wesent­ liche Bedeutung für den Beschwerdeführer bestehe, die reduzierte Auszahlungssätze allerdings nicht von solch einem Gewicht waren, als dass sie besonders eilbedürftig zu behandeln waren, EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 61. Vgl. auch EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 44. 334 Vgl. Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 440. 335 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 56; Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 40; vgl. auch Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 68; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 63. 336 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 41. 337 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 41, 46.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

g) Gesamtbetrachtung Nachdem der Gerichtshof sämtliche Kriterien geprüft hat, wägt er diese für den Einzelfall gegeneinander ab und kommt zum Ergebnis der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der Verfahrensdauer i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Hierbei be­ gutachtet der EGMR grundsätzlich die Gesamtdauer des Verfahrens und setzt die einzelnen Phasen vor den jeweiligen Instanzen zueinander ins Verhältnis. Sofern lediglich einzelne Phasen durch Überlänge geprägt sind – etwa allein die Verfah­ rensdauer vor dem BVerfG338 – stellt der Gerichtshof nur für diese Zeitspanne eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest.339 4. Ergebnis zu Art. 6 EMRK Zum primären Anspruch des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf eine angemessene Dauer von verfassungsgerichtlichen Verfahren lässt sich festhalten, dass sowohl der An­ wendungsbereich als auch die inhaltlichen Gewährleistungen der Norm keine schematische Anwendung auf alle Verfahrensarten vor dem BVerfG finden. Statt­ dessen sind bestimmte Verfahrensarten von vornherein dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK entzogen. So kann sich entsprechend der Architektur der Konvention der Staat, seine Untergliederungen oder sonstige Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht auf ihre Gewährleistungen berufen. Aufgrund dieser fehlenden Inhaber­ schaft an Konventionsrechten fallen bereits eine Vielzahl an Verfahren, in denen ausschließlich staatliche Organe beteiligt sind, aus dem persönlichen Anwen­ dungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK heraus. Exemplarisch sind hier die kontra­ diktorischen Verfahren (Organstreit, Bund-Länder-Streit) sowie die Kommunal­ verfassungsbeschwerde zu nennen. Eine weitere Filterung erfolgt durch den sachlichen Schutzbereich, der sich di­ chotom in zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen einteilt. Beide Felder sind autonom auszulegen, so dass gewisse Mate­ rien, die nach nationalem Verständnis nicht zivilrechtlich bzw. nicht strafrecht­ licher Natur sind, hierunter fallen können. In Abgrenzung zu diesen beiden Ästen des Art. 6 Abs. 1 EMRK sind genuin staatsrechtliche Streitigkeiten zu nennen. Hierunter lassen sich insbesondere staatsorganisationsrechtliche Fälle fassen, d. h. solche Streitigkeiten, in denen Verfassungsorgane um Rechte und Pflichten aus der Verfassung streiten und in denen keine unmittelbare oder mittelbare prozes­ suale Involvierung eines Individuums als Träger von straf- oder zivilrechtlichen Rechten und Pflichten i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. Dies können etwa Ver­

338 339

So etwa in EGMR, Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99, Rn. 23. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 28.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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fahren sein, die das aktive und passive Wahlrecht oder ein Amtsenthebungsver­ fahren zum Gegenstand haben. Derartige Rechtsstreitigkeiten fallen nicht in den sach­lichen Anwendungsbereich (ratione materiae) des Art. 6 Abs. 1 EMRK. So werden etwa das Parteiverbotsverfahren, die Präsidentenanklage oder die Wahl­ prüfungsbeschwerde nicht von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasst. Zur näheren Bestimmung der Anwendbarkeit auf das BVerfG ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR erforderlich, dass der Ausgang des verfassungsge­ richtlichen Verfahrens das Ergebnis des fachgerichtlichen Prozesses beeinflussen kann, d. h. einen Einfluss auf die straf- oder zivilrechtliche Position des Beteilig­ ten hat. Zur Ermittlung dieses Einflusses ist nicht die nationale Qualifikation als individualschützend maßgeblich, sondern eine funktionale Analyse des nationalen Prozessrechts sowie der Entscheidungspraxis des BVerfG vorzunehmen. Insbeson­ dere das Verfassungsprozessrecht dient als Scharnier zwischen der Verfassungs­ gerichtsbarkeit und der Fachgerichtsbarkeit. Dementsprechend können nicht nur klar individualschützende Verfahren wie die Verfassungsbeschwerde in den An­ wendungsbereich fallen, sondern auch die nach nationaler Dogmatik objektivrecht­ lichen Vorlageverfahren nach Art. 100 GG, wie die konkrete Normenkontrolle. Als Zwischenergebnis konnte daher festgestellt werden, dass die Mehrzahl der verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht unter die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. Lediglich in den Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde, der konkreten Normenkontrolle, der Normenverifikation, der Divergenzvorlage, der konkreten Normqualifizierung sowie nur unter bestimmten Umständen in den Verfahren der Verzögerungsbeschwerde, über den Erlass einer einstweiligen An­ ordnung und dem Grundrechtsverwirkungsverfahren gilt die Norm. Die übrigen Verfahrensarten lassen sich nicht unter den sachlichen und / oder persönlichen An­ wendungsbereich der Konventionsnorm subsumieren. Die Auswirkungen dieses Befundes finden sich auf Ebene der Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG. Es gilt insbesondere zu ermitteln, ob die Linien des EGMR in den nicht erfassten Ver­ fahren der Orientierung dienen oder stattdessen für diese ein rein nationaler An­ satz verfolgt werden sollte. Hinsichtlich der ermittelten Verfahren vor dem BVerfG gilt, dass sie zwar dem Grundsatz nach dem konventionsrechtlichen Anspruch auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeit unterstehen. Pauschalisierte Faustformeln zur Angemes­ senheit der Verfahrensdauer vor dem Verfassungsgericht sind allerdings nicht aus­ zumachen. Stattdessen erfolgt eine Gesamtabwägung der vom EGMR entwickelten Kriterien: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers, das Verhalten der Behörden, die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, wo­ bei jeweils die berechnete Gesamtverfahrensdauer bzw. die Dauer vor dem BVerfG den Bezugspunkt für den Angemessenheitsmaßstab bildet. Die genannten Kriterien sind aufgrund der Sonderstellung des BVerfG aller­ dings gewissen Modifikationen unterworfen. So hat der „Hüter der Verfassung“ die eingehenden Fälle nicht chronologisch oder nach dessen Registereintragung ab­

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

zuarbeiten, sondern kann diese aufgrund der Natur der Sache oder dessen sozialer oder politischer Bedeutung in einer anderen Reihenfolge bearbeiten. Daher kann das Verfassungsgericht zum selben Themenkreis gehörende Fälle bündeln oder einzelne Verfahren zurückstellen, um ein Präjudiz in einem Parallelverfahren ab­ zuwarten. Damit wird das BVerfG gegenüber der Fachgerichtsbarkeit privilegiert, wie es von kritischen Stimmen  – etwa dem BVR a. D. Udo Steiner – gefordert wurde.340 Die Sonderstellung kann indes nicht dazu führen, dass sich das BVerfG letztlich so viel Zeit nehmen darf, wie es meint, zu benötigen,341 da ansonsten der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer nivelliert werden könnte und jeglicher Kontrolle entzogen wäre. Zudem ist die Sonderstellung des BVerfG – wie von Kritikern behauptet – nicht bloß „rhetorisch“342. Stattdessen entspricht es auch der Rechtsprechung des BVerfG, dass sich der Staat nicht rechtfertigend auf Tatsachen berufen kann, die seiner Organisationssphäre zuzurechnen sind.343 Dass das BVerfG – teils durch besondere Ereignisse wie die Wiedervereinigung – einer­ seits an seine Belastungsgrenzen stößt,344 andererseits personelle oder strukturelle Erweiterungen als nicht opportun betrachtet werden,345 kann nicht dazu führen, dass der Staat seiner Haftung entgeht.346

II. Aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Wie im historischen Abriss gezeigt, unterscheiden sich das Grundrecht auf einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und der allgemeine Justizgewährleis­ tungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) hinsichtlich ihres inhalt­ lichen Kerns nicht.347 Vornehmlich bestehen die Divergenzen in den unterschied­ lich ausgestalteten Schutzbereichen, welche entsprechend hervorgehoben werden. Im Übrigen bleibt es bei einer einheitlichen Darstellung beider Garantien in ihrer 340

Steiner, in: FS Bethge, 653 (657). So aber Steiner, in: FS Bethge, 653 (657). 342 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1358, Fn. 38. 343 BVerfGE 36, 264 (275); BVerfG (Kammer) NVwZ 2004, 334 (335); NZS 2010, 381 (382); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; BVerfG (Beschwerde­ kammer), Beschluss v. 30. 08. 2016, 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 18. 344 „Insgesamt handelt es sich um eine Arbeitsbelastung, die mit den vorhandenen Ressour­ cen angesichts des hohen Engagements der Mitglieder und Beschäftigten des Gerichts gerade noch zu meistern ist.“, Andreas Voßkuhle in seiner Funktion als Präsident des BVerfG im Vor­ wort zu den Jahresstatistiken 2018, https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/ Jahresstatistiken/2018/gb2018/vorwort.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 345 BT-Drucks. 17/3802, 26; offenbar zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht). 346 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 56 sieht den Rahmen des Möglichen zur Reduzierung der Arbeitslast noch nicht ausgeschöpft (Stich­ wort: Mutwillensgebühr). 347 BVerfGE 107, 395 (403); dazu auch Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 54. 341

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Teilkonkretisierung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer,348 der die verfassungsrechtliche Grundlage der §§ 97a ff. BVerfGG bildet. 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich aa) Art. 19 Abs. 4 GG Der persönliche Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG schützt Jedermann, d. h. jede natürliche Person sowie grundsätzlich inländische und ausländische juris­ tische Personen des Privatrechts.349 Anders als für die grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 101 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG entschieden, wendet das BVerfG350 Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich nicht zugunsten juristischer Personen des öffentlichen Rechts und staatlich beherrschten Unternehmen an.351 Hiervon weicht das BVerfG lediglich ab, sofern sich die juristischen Personen des öffentlichen Rechts aus­ nahmsweise auf materielle Grundrechte berufen können.352 bb) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Vergleichbares gilt für den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch. Dieser wird gerade über ein materielles Grundrecht, regelmäßig über Art. 2 Abs. 1 GG,353 als Anspruch gegen den Staat vermittelt.354 Sofern sich der Staat und seine Einrich­ 348

Vgl. Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 54. Jarass, in: ders / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 48; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 38–40. 350 Verneint in BVerfGE 39, 302 (312–316); BVerfG NVwZ 2017, 53 (55); BVerfG (Kammer) NVwZ 2019, 642 (643); vgl. auch SächsVerfGH, Beschluss v. 03. 05. 2007 – Vf. 53, 54-IV-07 (= LKV 2007 511 [512]). Offenlassend BVerfGE 107, 299 (310 f.); BVerfG (Kammer) NVwZ 2007, 1176 (1177); NVwZ 2008, 778 (779). 351 Epping, Grundrechte, Rn. 918; Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19, Rn. 325, 387; Jarass, in: ders / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 48; Kahl / Hilbert, in: BK, Art. 19 Abs. 3, Rn. 234; Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 26; Rüfner, in: HStR IX, § 196, Rn. 130; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19, Rn. 108, 114; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 42. 352 BVerfGE 107, 299 (310 f.); BVerfG NJW 2008, 2167; Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 387; Rüfner, in: HStR IX, § 196, Rn. 130; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 43. Bspw. Universitäten, Kirchen oder öffentlich-recht­ liche Rundfunkanstalten (Ausnahmetrias), s. BVerfGE 143, 246 (314) m. w. N. Bzgl. Art. 28 Abs. 2 GG und den Gemeinden ist dies umstritten (BVerfGE 129, 108 [118]; Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 26); vgl. zum landesverfassungsrechtlichen Pendant SächsVerfGH, Beschluss v. 03. 05. 2007 – Vf. 53, 54-IV-07 (= LKV 2007 511 [512]) m. w. N. zum Bundesrecht. 353 Vgl. Maurer, in: FS Bethge, 535 (536). 354 Zur Einordnung als Leistungsgrundrecht Schenke, in: BK, Art. 19 Abs. 4, Rn. 58 f. 349

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

tungen nicht auf die Grundrechte berufen können, muss es ihnen ebenso verwehrt sein, den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch geltend zu machen, da dieser gerade an die materielle Grundrechtsposition355 anknüpft.356 cc) Die Geltung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer für juristische Personen des öffentlichen Rechts? Demgegenüber wird in der Literatur versucht eine (vermeintliche) Lücke, die Art. 19 Abs. 4 GG durch seine beschränkte Geltung für den Staat hinterließe, mit­ tels des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches zu schließen.357 Hierbei wird allerdings die dem Justizgewährleistungsanspruch innewohnende Verknüpfung358 vom Rechtsstaatsprinzip mit den Grundrechten, insb. Art. 2 Abs. 1 GG, überse­ hen,359 so dass man die dogmatischen Unterschiede von rügefähigen Verfahrens­ grundrechten und objektiven Verfahrensgrundsätzen360 verwischen würde. Denn die Verknüpfung eines Grundrecht mit dem Rechtstaatsprinzip beim allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches dient nicht als bloßes formelles Transportgrund­ recht für objektive Verfassungsgewährleistungen, der auch für einfachgesetzlich geschützte Positionen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts Anwen­ dung finden könne,361 sondern die Beeinträchtigung des rechtsstaatlichen Gebo­ tes der angemessenen Verfahrensdauer ist  – entsprechend der Elfes-Rechtspre­ chung362  – zugleich als eine Verkürzung der allgemeinen Handlungsfreiheit als materielles Grundrecht zu verstehen,363 welche wiederum juristischen Personen des öffentlichen Rechts von vornherein nicht eröffnet ist. Dementsprechend verbindet das BVerfG auch andere, speziellere materielle Grundrechte – wie Art. 2 Abs. 2 355

S. zu den Ausnahmen: BVerfG NJW 2008, 2167; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 551. Vgl. dazu auch § 198 Abs. 6 Nr. 2 Hs. 2 GVG, der ausnahmsweise eine Rüge- und Entschädigungsberechtigung eröffnet, soweit diese in Wahrnehmung eines Selbst­ verwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. 356 Dieser Ansicht scheint auch der Gesetzgeber zu sein, wenn er nicht die Erforderlichkeit sieht, den Trägern der öffentlichen Gewalt die Stellung als Verfahrensbeteiligten einzuräumen (§ 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG), so dass sie eine überlange Verfahrensdauer weder rügen noch Ent­ schädigung hierfür begehren können, vgl. BR-Drucks. 540/1/10, 9 f.; BT-Drucks. 17/3802, 23, 42; BT-Drucks. 17/7217, 28; dazu Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295 f.). 357 Barczak, AöR 138 (2013), 536 (545); Jarass, in: ders / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 48; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 385, ders., NJW 2013, 1132 (1133). 358 Eine ähnlich enge Verknüpfung hat das BVerfG für Art. 19 Abs. 4 GG festgestellt, vgl. BVerfGE 129, 108 (118). 359 Zuck, NJW 2013, 1132 (1133) sieht die Verknüpfung mit Art. 2 Abs. 1 GG lediglich als formelles Transportgrundrecht (für objektive Verfassungsgewährleistungen), der auch für ein­ fachgesetzlich geschützte Positionen von jur. Personen des öffentlichen Rechts Anwendung finden könne. 360 Dazu Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 8. 361 Hierfür Zuck, NJW 2013, 1132 (1133). 362 BVerfGE 6, 32. 363 Vgl. Schenke, in: HGR III, § 87, Rn. 78.

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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S. 2 GG – mit dem Rechtsstaatsprinzip,364 wenn eine überlange Verfahrensdauer geprüft wird. Im Kern geht also darum die Entwertung einer materiellen Grund­ rechtsposition, die grundsätzlich nur dem Bürger zustehen kann, vor unumkehr­ baren Zeitablauf zu schützen und damit den Grundrechtsschutz durch Verfahren und Organisation zu verwirklichen. Insofern kommt je nach Einzelfall auch eine Verknüpfung von Art. 20 Abs. 3 GG mit spezielleren Freiheitsrechten als der all­ gemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht. Auch eine Übertragung der für die grundrechtsgleichen Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG entwickelten Dogmatik, wonach sich der Staat ausnahmsweise auf die grundrechtsähnliche Position aus den Ver­ fassungsnormen selbst und nicht aus einem materiellen Grundrecht i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG berufen kann,365 auf den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch scheidet aus. Das BVerfG hat dies bisher lediglich für grundrechtsgleiche Rechte und exklusiv für diese beiden Gewährleistungen anerkannt.366 Diese Ausnahme rechtfertigt das Verfassungsgericht „aus Gründen, die wesentlich anderer Art und nicht mit jenen vergleichbar sind, nach denen sich der personale Geltungsbereich der materiellen Grundrechte bestimmt. Diese Verfassungsbestimmungen gehören formell nicht zu den Grundrechten im Sinne von Art. 19 GG; sie gewährleisten auch nach ihrem Inhalt keine Individualrechte wie die Art. 1 bis 17 GG, sondern enthalten objektive Verfahrensgrundsätze, die für jedes gerichtliche Verfahren gelten und daher auch jedem zugute kommen müssen, der nach den Verfahrens­ normen parteifähig ist oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen wird.“367 In Hinblick auf die aufgezeigte enge Verknüpfung des Art. 20 Abs. 3 GG mit mate­ riellen Grundrechten i. S. d. Art. 1 bis 17 GG wird deutlich, dass dieser Begrün­ dungsansatz zugunsten des Staates von vornherein nicht taugt. Auch zur Herstellung von Waffengleichheit368 – wie etwa bei Art. 103 Abs. 1 GG – ist eine Übertragung der Grundsätze nicht notwendig, da – anders als bei einer Rüge des rechtlichen Gehörs – nicht auf das Ergebnis des Prozesses und damit auch auf eine materielle Rechtsposition des Staates eingewirkt wird, sondern bei einer überlangen Verfahrensdauer das Ergebnis in der Sache unberührt bleibt und stattdessen die Art und Weise des Zustandekommens der Entscheidung Gegenstand der Beschwer ist. Ferner leuchtet es nicht ein, weshalb der effektive Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG für juristische Personen des öffentlichen Rechts anerkanntermaßen nicht eröffnet, über den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch für eben diese als Grundrecht gelten soll, wenn ersteres Grundrecht sogar ausschließlich in Situationen öffentlicher Gewalt angewendet wird – also in Situationen, in denen 364

S. etwa BVerfGE 57, 250 (275); BVerfG (Kammer), Beschluss v. 13. 09. 2010 – 2 BvR 449/10, BeckRS 2010, 53175; Beschluss v. 09. 10. 2014 – 2 BvR 2874/10, BeckRS 2014, 59304, Rn. 14. 365 Kahl / Hilbert, in: BK, Art. 19 Abs. 3, Rn. 234 m. w. N. 366 S. jüngst BVerfG (Kammer) NJW 2021, 1665 (1668) m. w. N. 367 BVerfGE 61, 82 (104); s. auch 138, 64 (83), jeweils m. w. N.; jüngst bekräftigt durch BVerfG (Kammer) NJW 2021, 1665 (1668). 368 Epping, Grundechte, Rn. 161, 946 m. w. N.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

zwingend staatliche Beteiligte mitwirken – und darüber hinaus beide Garantien im Kern gleich369 sind. Insbesondere Art. 19 Abs. 4 GG soll gerade als Kernnorm des Rechtsschutzes gegenüber dem Staat fungieren und nicht umgekehrt zu dessen Gunsten streiten. In diesen Zusammenhang spricht auch das Fundament beider Ansprüche gegen eine Erstreckung zugunsten des Staates. Denn beide Garantien stellen als Kehrseite370 zum staatlichen Gewaltmonopol sowie dem bürgerlichen Friedensgebot gerade dem Bürger Rechtsschutzmöglichkeiten anheim, damit die­ ser sich gegen die Staatsgewalt erwehren kann.371 Insofern besteht schon keine zu schließende Rechtsschutzlücke, sondern lediglich ein Zustand, der der hergebrach­ ten Grundrechtsdogmatik372 entspricht. Der Staat kann sich daher weder auf den allgemeinen noch auf den besonderen Justizgewährleistungsanspruch berufen. Damit entfällt zumindest aus grundrecht­ licher Perspektive das Fundament für die §§ 97a ff. BVerfGG, soweit sie zugunsten staatlicher Stellen wirken sollen. Dass dieser Befund nicht dazu führen kann, dass die Gerichte ihre Aufgaben in beliebiger Zeit gegenüber anderen staatlichen Gliederungseinheiten wahrneh­ men dürfen, erscheint jedoch naheliegend. Es ist daher zu überlegen, ob sich nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs. 3 GG) zumindest objektive Verfah­ rensgrundsätze ableiten lassen, die auch für juristische Personen des öffentlichen Rechts gelten, wenn sie – wie im Regelfall – nicht grundrechtsberechtigt sind. „Eröffnet die Rechtsordnung den Rechtsweg für Verfahrensgegenstände, an denen juri­ stische Personen des öffentlichen Rechts beteiligt sind, so bekundet sie, daß die für ein gerichtliches Verfahren im Rechtsstaat konstitutiven Gewährleistungen des gesetzlichen Richters und des rechtlichen Gehörs wie auch weitere, etwa aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Verbot der Verfahrenswillkür abzuleitende Gewährleistungen auch zugunsten der verfahrensbeteiligten juristischen Person des öffentlichen Rechts zu wirken haben. Denn die Funktion richterlicher Entscheidungen im Rechtsstaat rechtfertigt sich nur, wenn sie unter Beachtung der Erfordernisse eines gehörigen Verfahrens gewonnen werden, die im Interesse gerechter richterlicher Urteilsfindung unverzichtbar sind.“373

Aufbauend auf dieser Aussage des BVerfG hat das Verfassungsgericht des Lan­ des Brandenburg den Schluss gezogen, dass die in der Verfassung Brandenburgs ausdrücklich genannten Prozessgrundrechte, insbesondere das Recht auf ein „zü­ giges Verfahren vor einem […] Gericht“ (Art. 52 Abs. 1 S. 1 BbgVerf), ebenfalls für juristische Personen des öffentlichen Rechts gelten.374 369

BVerfGE 107, 395 (403). S. dazu Kap. 2 A. II. 2. 371 P. Kirchhof, in: FS Doehring, 439 (448 f.). 372 „Er [der Staat] kann nicht gleichzeitig Adressat und Berichtigter der Grundrechte sein [Konfusionsargument].“, BVerfGE 21, 362 (369 f.), vgl. eingehend Huber, in: v. Man­ goldt / K lein / Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 244 ff. sowie Remmert, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3, Rn. 45 ff. 373 BVerfGE 61, 82 (104 f.). 374 BbgVerfG, Beschluss v. 15. 04. 2011 – 50/10, BeckRS 2011, 52852, Rn. 12. Grammati­ sche und systematische Bedenken, in Hinblick auf die verschiedene Stellung der Normen in 370

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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Überträgt man die Wertungen des Landesverfassungsgerichts, wonach das lan­ desverfassungsrechtliche Recht auf ein zügiges Verfahren beachtet werden muss, um eine richterliche Entscheidung zu legitimieren, auf den allgemeinen und be­ sonderen Justizgewährleistungsanspruch auf der Ebene des Grundgesetzes, so lassen sich schwerlich Unterschiede erkennen. Die Garantien auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeit wurzeln letztlich im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG).375 Entweder in Verbindung mit materiellen Grundrechten, insb. Art. 2 Abs. 1 GG, oder als verselbstständigtes Grundrecht in Art. 19 Abs. 4 GG, wird der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit für den Bürger zu einem rügefähigen Grundrecht.376 Besonders deutlich wird dies am allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, der oftmals über Art. 2 Abs. 1 GG die an sich objektiven Grundsätze und Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips versubjektiviert und für den Bürger rügefähig macht. Wenn diese Teilkonkretisie­ rung allerdings aus dem Rechtsstaatsprinzip fließt, so spricht dies dafür, dass sie auch zugunsten von juristischen Personen des öffentlichen Rechts zumindest als objektiver Verfahrensgrundsatz Geltung entfalten muss. Denn auch eine richterli­ che Entscheidung gegenüber einem staatlichen Akteur kann unter der Herrschaft des Grundgesetzes nur legitimiert sein, wenn sie rechtsstaatlichen Prinzipien ge­ nügt. Dass zu diesen Prinzipien die angemessene Verfahrensdauer zählt, dürfte von keiner Seite ernsthaft bestritten werden können. Somit lassen sich die §§ 97a ff. BVerfGG auch im objektiven Verfassungsrecht radizieren, ohne dass hieraus die Notwendigkeit bestünde, dem Staat eine rügefähige Rechtsposition zu verschaffen. b) Sachlicher Schutzbereich aa) Art. 19 Abs. 4 GG Der Art. 19 Abs. 4 GG enthält keine Garantie eines allumfassenden Rechtswe­ ges, sondern eröffnet den Rechtsweg bei einer Verletzung von eigenen (subjekti­ ven) Rechten durch die öffentliche Gewalt,377 womit vornehmlich die vollziehende Gewalt in all ihren Ausprägungen gemeint ist.378 der Landesverfassung und im Grundgesetz, konnte das Gericht plausibel ausräumen (ebenda, Rn. 13–15). 375 Vgl. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, VII., Rn. 139; Grupp, in: FS K. Stern, 313 (329); Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Rn. 158, 164; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 220; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 15, 262 f.; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 10. 376 Vgl. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (547). 377 BVerfGE 116, 1 (11) m. N. aus der st. Rspr.; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 35 ff.; eingehend Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 116 ff. 378 BVerfGE 107, 395 (403 f.) m. w. N.; s. auch Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 28; SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 46 f. jeweils m. w. N. Strittig bzgl. der gesetzgebenden Gewalt BVerfGE 107, 395 (403 f.); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 93.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Bezüglich der im Zusammenhang mit dem BVerfG offensichtlich relevanten rechtsprechenden Gewalt wird (mittlerweile) eine differenzierte Betrachtung her­ angezogen. So kann das von Dürig begründete und vom BVerfG379 übernommene Dogma des Rechtsschutzes „durch den Richter, nicht gegen den Richter“380 in seiner Pauschalität nicht mehr aufrechterhalten werden. Zwar hat das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 2003381 an dieser Rechtsauffassung im Kern festgehalten, indes nicht ohne über den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch Abhilfemöglichkeiten gegen judikative Verletzungen von Verfahrensgrundrechten zu eröffnen.382 Neben der Garantie der Rechtswegeröffnung verlangt Art. 19 Abs. 4 GG über seinen Wortlaut hinaus, dass der vom Gericht gewährte Rechtsschutz effektiv, d. h. tatsächlich wirksam, sein muss.383 Teleologisch nachvollziehbar wird dies vor dem Hintergrund, dass dem Bürger ein Zugang zu einem Gericht nicht sonderlich nützt, wenn dieses ineffektiv arbeitet und somit die tatsächliche Erlangung des materiel­ len Rechtsschutzzieles bloß illusorisch wäre.384 Stattdessen ist das gerichtliche Ver­ fahren durch Ausgestaltung der Prozessordnungen und deren Auslegung im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG wirksam zu handhaben.385 Eine essentielle Teilkonkretisie­ rung dieses Grundsatzes ist der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer, wie er sich in den §§ 97a ff. BVerfGG wiederfindet.386 bb) Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Ebenso wie Art. 19 Abs. 4 GG für den Bereich des öffentlichen Rechts gewähr­ leistet der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG die Zugänglichkeit zu einem Gericht in zivilrechtlichen Strei­ tigkeiten.387 Über die Zugänglichkeit zu einem Gericht hinaus garantiert der all­ 379

S. etwa BVerfGE 15, 275 (280 f.); 49, 329 (340); 65, 76 (90); vgl. auch 107, 395 (403 f.). Dürig, in: Maunz / ders., GG, Erstbearbeitung, Art. 19 Abs. 4, Rn. 17, zitiert nach SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 96. 381 BVerfGE 107, 395. 382 BVerfGE 107, 395 (404; 407 f.); dazu Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 44 f.; Schmidt-­ Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 100. 383 BeckOK, GG / Enders, Art. 19, Rn. 74; Epping, Grundrechte, Rn. 920; Jarass, in: ders. /  Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 65 ff.; Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 57, 90; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19, Rn. 143; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 229, 262 ff.; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 53; Schlette, 23–27. 384 Vgl. Schlette, 24 f. 385 Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 90. 386 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 66 ff.; Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 93 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 262 ff. 387 BVerfGE 88, 118 (123); 93, 99 (107); 107, 395 (406 f.); Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, VI., Rn. 133; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 211; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rn. 322. Zu den Hintergründen und Unter­ schieden s. oben sowie BVerfGE 116, 135 (155); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 17. 380

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

153

gemeine Justizgewährungsanspruch zudem die Effektivität des Rechtsschutzes.388 Ein wirksamer Rechtsschutz ist dabei u. a. an seiner Dauer zu messen. Denn sowohl für den rechtssuchenden Einzelnen, als auch für die allgemeine Rechtssicherheit ist es erforderlich, dass ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeitspanne beendet wird.389 In diesem Zusammenhang gelten dieselben Erwägungen wie bei Art. 19 Abs. 4 GG. Neben seiner Geltung im Zivilprozess entfaltet das Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG im Strafverfahren entsprechende Wirkungen.390 Im Zentrum steht der Grundsatz des fairen Verfahrens (fair trial), welcher dem Beschuldig­ ten ein Mindestmaß an rechtsstaatlich gebotenen Rechten – u. a. die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens391 – zuteilwerden lässt.392 Letztlich gilt der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch als Auffanggrundrecht nicht nur im straf- oder zivilrechtlichen Bereich, sondern ergänzend in anderen Bereichen, in denen etwa Art. 19 Abs. 4 GG in seinem Schutzgehalt begrenzt ist.393 Damit kann der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch die Grundlage des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer vor grundsätzlich jeder Gerichtsbarkeit sein. c) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht Für eine Anwendbarkeit des Anspruches auf einen effektiven Rechtsschutz auf das BVerfG sprechen sich sowohl das Schrifttum394 als auch die Beschwerdekam­ mer des Karlsruher Gerichts395 selbst aus. Als Ausgangspunkt wird regelmäßig die Zuordnung des BVerfG zur rechtsprechenden Gewalt i. S. v. Art. 92 GG ge­ 388

BVerfGE 88, 118 (123); 93, 99 (107); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 212. BVerfGE 88, 118 (123); 93, 99 (107); Grupp, in: FS K. Stern, 313 (329); Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, VI., Rn. 139; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 135; Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 21; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 164; SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 220; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 64. 390 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 211, 214; Sommermann, in: v. Man­ goldt / K lein / Starck, GG, Art.  20 Abs.  3, Rn.  322. 391 BVerfGE 122, 248; Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 74. 392 Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 72; 74; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 216–218; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 63. 393 BVerfGE 107, 395 (407); Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 75; SchmidtAßmann, in: ebenda, Art. 19 Abs. 4, Rn. 17a; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rn. 322. 394 Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93, Rn. 10; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 1, Rn. 4 f.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 15–17; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 3, 32; Voßkuhle, in: v. Mangoldt / K lein /  Starck, GG, Art. 93, Rn. 19 f., 23; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 1, Rn. 8; ders., in: Maunz /  Dürig, GG, Art. 93, Rn. 125; implizit auch O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 1351 a. E. 395 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790) (=BVerfGK 20, 65 [72]); NJW 2015, 3361 (3363); NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 20; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 11. Vgl. auch BVerfGE 107, 395 (413). 389

154

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

wählt: Als Teil der dritten Gewalt ist das BVerfG grundsätzlich denselben Ver­ fahrensgarantien unterworfen wie die Fachgerichtsbarkeit. Dem ist im Grundsatz zuzustimmen, allerdings bedarf der Ansatz einer näheren verfassungsrechtlichen Einordnung sowie einer Differenzierung zwischen dem eigentlichen Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer einerseits und dem Recht auf eine Reaktion bzw. Sanktion396 bei einem Verstoß hiergegen andererseits.397 aa) Nationaler Interpretationsansatz Dass das BVerfG neben seiner Funktion als Verfassungsorgan ein Gericht ist, kann nicht ernsthaft bestritten werden.398 Ihm sind als Gerichtshof des Bundes (vgl. § 1 Abs. 1 BVerfGG) ausdrücklich die Aufgaben der Rechtsprechung gem. Art. 92 Hs. 2 GG anvertraut.399 Insofern leuchtet es prima vista ein, wenn man annimmt, dass das für die Fachgerichtsbarkeit geltende Gebot der angemessenen Verfahrens­ dauer ebenfalls für die Verfassungsrichter gilt. Allerdings erscheint es schwierig, einen Begründungsansatz über Art. 19 Abs. 4 GG zu formulieren, da dieser nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG keinen Rechtsschutz gegen richterliche Entscheidungen gewährt, sofern diese spruchrichterlicher Art sind.400 Blickt man auf das häufigste Verfahren vor dem Verfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde, so ist festzustellen, dass dieser wegen des Grundsatzes der Rechtswegerschöpfung und der Subsidiarität typi­ scherweise eine Gerichtsentscheidung vorausgeht, gegen welche Art. 19 Abs. 4 GG keinen zusätzlichen Rechtsschutz gewährt.401 Gleiches gilt für die Gesetzesver­ fassungsbeschwerde, da der Gesetzgeber von der Rechtsprechung nicht unter die öffentliche Gewalt i. S. d. Art. 19 Abs. 4 GG subsumiert wird.402 Wird allerdings ein weiterführender Rechtsweg  – und sei dieser auch außer­ ordentlich zum BVerfG – eingerichtet, so hat sich dieser „[a]ls Teil der Rechts­ schutzgewährleistung“403 aufgrund des Schutzzweckes von Art. 19 Abs. 4 GG404 an dessen Gewährleistungen eines effektiven Rechtsschutzes messen zu lassen.405 In­ 396

S. dazu Kap. 3 B. Entsprechend der Grundsätze der Plenarentscheidung, BVerfGE 107, 395 (401 ff.). 398 Voßkuhle, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 93, Rn. 19 m. w. N. 399 BVerfGE 40, 356 (360); MSKB / Bethge, BVerfGG, § 1, Rn. 4; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 1, Rn. 4; BeckOK, GG / Morgenthaler, Art. 93, Rn. 4; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 1, Rn. 6; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 124. 400 BVerfGE 107, 395 (403) m. w. N. sowie Kap. 3 A. II. 1. b). 401 Wenn Art. 19 Abs. 4 GG schon keinen Instanzenzug gewährleistet (vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 179 m. w. N.), dann erst recht keine außerordentliche Überprüfung durch das BVerfG. 402 Vgl. oben. 403 BVerfGE 107, 395 (413). 404 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 229; 262 f. 405 Vgl. BVerfGE 60, 253 (268); 84, 34 (49); 104, 220 (232); 112, 185 (208); 122, 248 (270 f.). 397

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

155

haltlich nichts anderes406 ergibt sich aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsan­ spruch, der insoweit als Auffanggrundrecht fungieren kann,407 sofern man Art. 19 Abs. 4 GG vor dem BVerfG für nicht einschlägig hält oder sich ein Fall außerhalb dessen sachlichem Anwendungsbereiches befindet.408 Für die Anwendbarkeit dieser Grundsätze spricht zudem die aus dem Rechts­ staatprinzip fließende (Art. 20 Abs. 3 Hs. 2 GG) umfassende Bindung der Recht­ sprechung i. S. v. Art. 92 GG an Recht und Gesetz, insbesondere die Bindung an die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG und somit auch an den allgemeinen und den besonderen Justizgewährleistungsanspruch.409 Diese Grundrechtsbindung wird flankiert durch die Funktion der dritten Gewalt im Rechtsstaat des Grundgesetzes, die ihre Aufgaben nur mit hinreichender Legi­ timationsbasis erfüllen kann, wenn sie gewisse rechtsstaatliche Grundsätze – un­ abhängig davon, ob sie explizit verbrieft sind oder nicht – beachtet.410 Es erscheint unangemessen, das BVerfG aufgrund seiner Aufgabe der Verfassungsauslegung und seiner Stellung als Verfassungsorgan von diesen Kernelementen des Grund­ gesetzes zu befreien. So würde eine Freizeichnung von teils elementaren rechts­ staatlichen Bedingungen seine Legitimität als Hüter der Verfassung erheblich in Frage stellen.411 Stattdessen sind rechtsstaatliche Garantien an die Besonderheiten des verfas­ sungsgerichtlichen Verfahrens anzupassen, sofern dies aufgrund der Funktion des BVerfG notwendig ist. So können beim Anspruch auf ein Verfahren inner­ halb einer angemessenen Zeit Kollisionslagen mit den verfassungsimmanenten Schranken der Stellung und den besonderen Aufgaben des BVerfG (vgl. Art. 92 Hs. 2, Art. 93, Art. 100 GG) entstehen, insbesondere die Verfassungsinterpretation und die weitreichenden Rechtsfolgen einer Entscheidung des BVerfG (vgl. Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG, § 31 BVerfGG) sind zu beachten.412 Eine hierdurch erforderliche Einschränkung des Grundrechts darf allerdings nicht zu dessen (beinahe) voll­ ständiger Verdrängung führen, so dass es nur noch als Leerformel bestünde. Es ist innerhalb des Spannungsfeldes der verschiedenen Ziele der Verfassung eine 406

BVerfGE 107, 395 (403). Vgl. BVerfGE 107, 395 (410); Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rn. 322. 408 Vgl. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (543–547). 409 Vgl. zur Grundrechts- und Gesetzesbindung der Rechtsprechung MSKB / Bethge, BVerfGG, § 1, Rn. 14; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, VI., Rn. 71; Herdegen, in: Maunz / Dü­ rig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 112; BeckOK, GG / Hillgruber, Art. 1, Rn. 66; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rn. 285; vgl. zur Beachtung von rechtsstaat­ lichen Standards durch das BVerfG: HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 1, Rn. 5; Voßkuhle, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 93, Rn. 23; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 1, Rn. 8; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 125. 410 Vgl. BVerfGE 61, 82 (104 f.); BbgVerfG, Beschluss v. 15. 04. 2011 – 50/10, BeckRS 2011, 52852, Rn. 11. 411 Dies übersieht Steiner, in: FS Bethge, 653 (657) im Kontext des Art. 6 Abs. 1 EMRK. 412 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht). 407

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

praktische Konkordanz413 herzustellen, so dass sich die Verfassungsprinzipien optimal entfalten können. Diese Abwägung ist wiederum einzelfallabhängig und kann schwerlich generalisiert betrachtet werden. Einfachgesetzliches Einfallstor für diese Erwägungen ist das auslegungsbedürftige Tatbestandsmerkmal der „un­ angemessenen Verfahrensdauer“ des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG, der anders als sein Pendant (§ 198 Abs. 1 S. 2 GVG) keine Kriterien zu dessen Bemessung aufzählt. bb) Völkerrechtsfreundlicher Interpretationsansatz Bestätigten lässt sich diese Ansicht durch die völkerrechtsfreundliche Auslegung der justiziellen Gewährleistungen von Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG im Lichte der Menschenrechtskonvention.414 Die EMRK adressiert als in das nationale Recht überführter menschenrecht­ licher Vertrag nicht bloß den Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland, sondern grundsätzlich all seine institutionellen Glieder.415 So hat die Bundesrepublik auf­ grund der Bindungswirkung von Art. 46 EMRK die Entscheidungen des EGMR zu befolgen, in denen dieser sich für eine Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das BVerfG aussprach. Zur Einbettung dieser Rechtssprechungslinien in das deutsche Verfassungsrecht ist keine schematische Parallelisierung von Grundge­ setz und Menschenrechtskonvention vorzunehmen, sondern eine ergebnisorien­ tierte Auslegung des nationalen Rechts.416 Hierzu lässt sich zunächst konstatieren, dass sowohl das Grundgesetz als auch die EMRK das Verfassungsgericht der Rechtsprechung sowie dem Gerichtsbegriff zuordnen. Auf Grundlage dieser Zuordnung lässt sich aus nationaler und konven­ tionsrechtlicher Perspektive die Geltung justizieller Garantien, insbesondere des Anspruches auf ein Verfahren in angemessener Zeit, für das BVerfG begründen. Indes gelten die Garantien des Art. 6 EMRK nur im personellen und sachlichen An­ wendungsbereich der Norm, so dass nicht pauschal jedes verfassungsgerichtliche Verfahren adressiert wird.417 Vergleichbares ergibt sich aus der Beschränkung des persönlichen Schutzbereiches der nationalen Justizgrundrechte, die grundsätzlich 413

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. Vgl. auch Barczak, AöR 138 (2013), 553 f. Ähnlich scheint die Beschwerdekammer des BVerfG vorzugehen, wenn sie regelmäßig nicht nur die nationalen Gewährleistungen aufführt, sondern zusätzlich Art. 6 Abs. 1 EMRK nennt, s. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790) (=BVerfGK 20, 65 [70 ff.]); NJW 2015, 3361 (3362 f.); NJW 2016, 2021 (2022); Be­ schluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 19; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 10. Aus historischer Sicht ist hervorzuheben, dass (wohl) erst das EGMR-Urteil im Fall König gegen Deutschlands zu dem Bewusstsein geführt hat, dass die deutsche Rechtsordnung denen des Art. 6 EMRK entspre­ chende Garantien enthalten könnte (vgl. Schlette, 25). 415 Vgl. BVerfGE 111, 307 (323 f.). 416 S. zur Auslegungsmethodik eingehend Kap. 3 A. 1. 417 S. Kap. 3 A. I. 2. c). 414

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

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nicht für den Staat oder seine Untergliederungen gelten und somit für (originär) staatsrechtliche Verfahren nicht anwendbar sind. Soweit die Straßburger Richter die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK be­ jahen, schränken sie die Garantien im selben Zug inhaltlich dahingehend ein, dass dem BVerfG aufgrund seiner Aufgaben und Stellung größere Spielräume zustehen als der Fachgerichtsbarkeit. Das Grundgesetz kann dieses Auslegungsergebnis in der Weise rezipieren, dass sich die Aufgaben und die Stellung des Verfassungsge­ richts unmittelbar aus den Art. 92 Hs. 2, Art. 93, Art. 100 GG sowie die weitrei­ chenden Entscheidungswirkungen aus Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG ableiten lassen. Als verfassungsimmanente Schranken können diese grundgesetzlichen Normen den Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz begrenzen. Allerdings im Rahmen einer praktischen Konkordanz nicht vollständig verdrängen. Insbesondere über letzteres Instrument kann es zur Feinjustierung der widerstreitenden Interessen im Lichte der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung kommen. Im Ergebnis kann die Straßburger Rechtsprechung unbeschadet in die nationale Dogmatik überführt werden, so dass beide Auslegungsergebnisse übereinstim­ men: Der Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz gilt grundsätzlich vor dem BVerfG, allerdings nicht in allen Verfahren und inhaltlich nur modifiziert unter Wahrung seiner Funktion und Stellung, wobei diese Schranken die Garantie nicht leerlaufen lassen dürfen. cc) Zwischenergebnis Die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie der allgemeine Justiz­ gewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) gewähren in ihren rechtsstaatlichen Kerngehalten des effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich einen Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer vor dem BVerfG. Diese Gewährleistung gilt jedoch nicht in allen Verfahren vor dem BVerfG und inhalt­ lich nur modifiziert unter Wahrung seiner Funktion und Stellung. Hierfür sprechen zwei zentrale Erwägungen: Erstens die Gesetzesbindung des Verfassungsgerichts als Teil der dritten Gewalt. Durch seine Bindung an die jus­ tiziellen Grundrechte sowie an das Rechtsstaatsprinzip hat es den Anspruch bzw. das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer zu beachten. Zweitens ergibt sich aus der grundsätzlichen Funktion der rechtsprechenden Tätigkeit im Rechtsstaat des Grundgesetzes, dass justizförmige Entscheidungen nur dann mit einer hinrei­ chenden Legitimation ausgestattet sind, wenn die Gerichte gewisse geschriebene und ungeschriebene rechtsstaatliche Grundsätze beachten. Dieser nationale Ansatz kann über die völkerrechtsfreundliche Auslegung der justiziellen Grundrechte und der rechtsstaatlichen Gebote bestätigt werden. Die Rechtsprechungslinien des EGMR lassen sich in die nationale Dogmatik einpfle­ gen, ohne dass Widersprüche zwischen der nationalen Rechtsordnung und der

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Menschenrechtskonvention entstehen. Dies wird insbesondere durch die aktive Rezeption von Straßburger Entscheidungen durch das BVerfG gewährleistet. dd) Subsumtion der einzelnen Verfahrensarten Aufbauend auf den bisher gewonnenen Erkenntnissen zur Anwendbarkeit418 lassen sich die Verfahren identifizieren, in denen aufgrund der nationalen Justiz­ grundrechte ein Anspruch auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Zeit gilt. Anders als der Art. 6 Abs. 1 EMRK beschränkt sich jedenfalls der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch nicht auf bestimmte straf- oder zivilrechtliche Verfahren, sondern ist der Sache nach (zumindest als Auffanggrundrecht) in ver­ fassungsrechtlichen Streitigkeiten anwendbar. Maßgebliches Kriterium zur Be­ grenzung der Anwendbarkeit ist daher der persönliche Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG bzw. des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches. (1) Die Verfassungsbeschwerdeverfahren Offenkundig erfasst ist die Individualverfassungsbeschwerde, in der typischer­ weise eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts Beteiligter vor dem BVerfG ist.419 Gleiches gilt für die Fälle, in denen sich ausnahmsweise juristische Personen des öffentlichen Rechts auf materielle Grundrechte berufen können. Ausgenommen ist hingegen die Kommunalverfassungsbeschwerde, mit welcher lediglich ein Hoheitsträger die grundgesetzliche Zuständigkeitsordnung (Art. 28 Abs. 2 GG) verteidigt. (2) Vorlageverfahren Ebenso wie beim konventionsrechtlichen Befund fällt die konkrete Normen­ kontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG bzw. des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches. Hiergegen mag zwar 418

Vgl. für Art. 6 Abs. 1 EMRK Kap. 3 A. I. 2. c). So bzgl. Art. 19. Abs. 4 GG auch Borm, der allerdings die Verankerung primär in den ma­ teriellen Grundrechten sieht, welche lediglich durch Art. 19 Abs. 4 GG und das Rechtsstaats­ prinzip flankiert würden (Borm, Angemessene Verfahrensdauer im Verfassungsbeschwerde­ verfahren, 134 f.). Im Ergebnis stimmt die von Borm vorgenommene Radizierung mit der zuvor beschriebenen Verankerung im allgemeinen sowie besonderen Justizgewährleistungsanspruch überein. Insbesondere die Zusammenziehung des Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) mit einem materiellen Grundrecht (i. d. R. Art. 2 Abs. 1 GG) beim allgemeinen Justizgewährleis­ tungsanspruch verdeutlicht dies. Indes kann die Ausgangsüberlegung von Borm, die hervorge­ hobene Bedeutung der materiellen Grundrechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren (ebenda, 134), nicht die Geltung des Anspruches auf ein Verfahren in angemessener Zeit in anderen Verfahrensarten, die weniger grundrechtszentriert sind, erklären. 419

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

159

prima vista die national-verfassungsprozessrechtliche Einordnung als objektives Verfahren, welches nicht individualschützend ist, sowie die Stellung der Beteilig­ ten des Ausgangsverfahrens, die gerade nicht Beteiligte des Verfassungsprozess sind (vgl. § 82 Abs. 2 BVerfGG), sprechen.420 Allerdings ist zu bedenken, dass die Beteiligten des ausgesetzten Ausgangsverfahrens am Verfahren vor dem BVerfG auch nicht gänzlich unbeteiligt sind, sondern sich zumindest zur Vorlage äußern können (§ 82 Abs. 3 BVerfGG). Daneben unterscheiden sie sich von Dritten, etwa Sachverständigen, dadurch, dass es gerade „ihr“ Rechtsstreit ist, der Anlass zu der Klärung der Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigen Recht bietet und es eben­ falls „ihre“ rechtliche Position ist, die durch die Zwischenentscheidung aus Karls­ ruhe gestärkt oder geschwächt wird. Neben diesem Präjudiz wird die tatsächliche Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit durch die Fachgerichtsbarkeit mittelbar durch die Verfahrensdauer vor dem BVerfG beeinflusst. Damit sprechen ähnliche Gründe wie bei der Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK für eine Geltung von Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG im konkreten Normenkontrollverfahren (Art. 100 Abs. 1 GG). Diese und die zuvor421 gemachten Überlegungen lassen sich mutatis mutandis auf das völkerrechtliche Verifikationsverfahren (Art. 100 Abs. 2 GG), die Diver­ genzvorlage (Art. 100 Abs. 3 GG) sowie auf das konkrete Normqualifizierungs­ verfahren (Art 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG) übertragen, so dass die Verfahren ebenfalls unter die verfassungsrechtlichen Garantien fallen. (3) Abstrakte Normenkontrolle und kontradiktorische Verfahren In Ermangelung eines eröffneten persönlichen Schutzbereiches fallen evidenter­ weise die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), das abstrakte Normqualifizierungsverfahren (Art 126 GG, § 86 Abs. 1 BVerfGG), Kompetenz­ kontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 GG), die diversen kontradiktorischen Verfassungsverfahren, namentlich das Organ­ streitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) und der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG), sowie die Verfahren nach dem PUAG422 nicht unter die Justiz­ grundrechte des Art. 19 Abs. 4 GG oder der Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Die Verfahren eint, dass die Beteiligten des Verfahrens – sei es als Antragsberech­ tigter, Antragsteller oder Antragsgegner – stets staatliche Akteure sind, die sich nicht auf den allgemeinen oder besonderen Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG) in seiner Ausprägung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer berufen können. 420

S. Kap. 3 A. I. 2. c) bb). S. Kap. 3 A. I. 2. c) cc). 422 Gemeint sie die Verfahren nach Art. 93 Abs. 3 GG, §§ 18 Abs. 3 Hs. 1, 19, 23 Abs. 2 Hs. 2 PUAG, § 36 Abs. 2 PUAG, § 13 Nr. 11a BVerfGG. Selbiges gilt für das Verfahren nach § 14 PKGrG. 421

160

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

Dies führt indes nicht dazu, dass die Beteiligten einer willkürlichen Dauer aus­ gesetzt sind. Stattdessen hat das BVerfG als Gericht das Rechtsstaatsprinzip und hieraus fließende elementare Verfahrensgrundsätze zu achten, weshalb zumindest das rechtsstaatliche Gebot einer angemessenen Verfahrensdauer objektivrechtliche Wirkung entfaltet.423 (4) Verfassungsschutzverfahren Abweichungen gegenüber der Einordnung anhand der Menschenrechtskonven­ tion ergeben sich hinsichtlich der Verfassungsschutzverfahren. Während diese teil­ weise weder als straf- noch zivilrechtliche Streitigkeit unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fielen, ist eine derartige sachliche Verengung den nationalen Grundrechten, zu­ mindest dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, nicht zu entnehmen. So ist der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit konsequenterweise im Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 GG), im Parteienfinanzierungsausschluss­ verfahren (Art. 21 Abs. 3 GG) sowie im Verfahren der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) – insbesondere aufgrund der starken Betroffenheit von Grundrech­ ten424 bzw. der Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 GG)  – zu achten. Bezüglich der Präsidentenanklage gelangt man zu einer Nichtanwendbarkeit der Garantie, da sie den Bundespräsidenten primär in seiner Funktion als Staatsoberhaupt betrifft und somit Ausdruck der demokratisch gebotenen Kontrolle und Absetzbarkeit des Bundespräsidenten ist.425 Anders verhält es sich bei der Richteranklage, welche zwar die gleiche Stoßrichtung wie die Präsidentenanklage hat, allerdings den Rich­ ter nicht allein in dessen Funktion adressiert, sondern gleichsam dessen Rechte (Art. 12 GG)426 als Individuum in erheblicher Weise betrifft. (5) Sonstige Verfahren und Verzögerungsbeschwerde Wie bei den Verfassungsschutzverfahren gibt es bei der Wahlprüfungsbe­ schwerde und der Nichtanerkennungsbeschwerde gegenüber der EMRK-Rechts­ lage Abweichungen. Die betroffenen politischen Teilhabe- und Wahlrechte (Art. 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 S. 1 GG) fallen in den deutlich weiteren Anwendungsbereich der nationalen Justizgrundrechte, so dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu beachten ist.

423

Vgl. Kap. 3 A. II. 1. a) cc). Insb. Art. 5 Abs. 1, Abs. 3, Art. 8, 9, 10, 14, 16a GG im Kontext der Grundrechtsver­ wirkung. 425 Das Verfahren dient vornehmlich der demokratisch-republikanischen Kontrolle, vgl. Kap. 3 A. I. 2. c) ff) (4). 426 Daneben kann der Makel der Anklage auch einen Eingriff in das allgemeine Persönlich­ keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) darstellen. 424

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

161

In die deutsche Rechtsordnung überführen lässt sich das zur Verzögerungsbe­ schwerde gefundene Ergebnis, wonach anhand des Ausgangsrechtsstreits zu dif­ ferenzieren ist, ob Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG auf dieses Verfahren anwendbar ist oder nicht. Lediglich im Falle der Anwend­ barkeit im Ausgangsfall erscheint es stringent, dass akzessorisch im Verfahren der Verzögerungsbeschwerde selbst die Garantie des Rechtsschutzes in angemessener Zeit gilt. Hiermit wird zugleich das Erfordernis eines effektiven Rechtsschutzes durch die Verzögerungsbeschwerde für die Betroffenen gesichert. Vergleichbares gilt für die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG, so dass das Hauptsacheverfahren in den Anwendungsbereich der justiziellen Gewähr­ leistung fallen muss, damit diese beim Eilrechtsschutz akzessorisch Anwendung finden kann. (6) Ergebnis Der allgemeine und besondere Justizgewährleistungsanspruch (Art.  2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 19 Abs. 4 GG) gelten in folgenden verfassungs­ gerichtlichen Verfahren: Individualverfassungsbeschwerde, konkrete Normen­ kontrolle, völkerrechtliches Verifikationsverfahren, Divergenzvorlage, konkretes Normqualifizierungsverfahren, Parteiverbotsverfahren, Parteienfinanzierungs­ ausschlussverfahren, Grundrechtsverwirkung, Richteranklage, Wahlprüfungsbe­ schwerde, Nichtanerkennungsbeschwerde und unter gewissen Umständen bei einer Verzögerungsbeschwerde sowie bei einer einstweiligen Anordnung. Diese Grundrechte gelten hingegen nicht im Verfahren der abstrakten Normen­ kontrolle, im abstrakten Normqualifizierungsverfahren, im Kompetenzkontrollund Kompetenzfreigabeverfahren, in den verschiedenen kontradiktorischen Ver­ fassungsverfahren, namentlich Organstreitverfahren und Bund-Länder-Streit, in Verfahren nach dem PUAG, sowie bei der Präsidentenanklage und der Kommunal­ verfassungsbeschwerde. Damit überschneiden sich die Ergebnisse zur verfassungsrechtlichen Rechtslage und der nach Art. 6 Abs. 1 EMRK427 in weiten Teilen. Diese Schnittmenge stellt das grund- und menschenrechtliche Fundament der einfachgesetzlichen §§ 97a ff. BVerfGG dar.

427

S. dazu oben Kap. 3 A. I. 2. d).

162

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

2. Inhalt Zur Feststellung der Angemessenheit oder der Unangemessenheit der Verfah­ rensdauer bedient sich das BVerfG Kriterien, die weitgehend kongruent mit denen des EGMR sind.428 Wie der Menschenrechtskonvention lassen sich auch der Verfassung selbst keine allgemeingültigen Zeitvorgaben entnehmen.429 Weder eine außerordentlich lange noch eine über dem Durchschnitt liegende Behandlung eines Falles sprechen eo ipso für eine Unangemessenheit.430 Stattdessen ist zur Beantwortung der Frage, ob tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, eine Gesamtabwägung im Einzelfall erforderlich.431 Maßgebliche Kriterien hierfür sind die Bedeutung des Rechtsstreits für die Beteiligten und die Auswirkung der Verfahrensdauer auf die Beteiligten432, die Schwierigkeit des Falles433, das den Beteiligten zuzu­ ordnende Verhalten (insb. des Beschwerdeführers) sowie das dem Gericht nicht zurechenbare Verhalten Dritter (insb. von Sachverständigen)434.435 Umstände, die dem Staat selbst zuzurechnen sind, kann dieser nicht zur Exkulpation der Unan­ gemessenheit nutzen.436 Auch hat das erkennende Gericht die Gesamtverfahrens­ dauer, d. h. auch die zeitlichen Abläufe in den Vorinstanzen, zu berücksichtigen und bei vorangegangenen sowie anhaltenden Verzögerungen Maßnahmen zur Be­ schleunigung zu treffen.437 428

Vgl. Kap. 3 A. I. 3., dazu auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 14, Rn. 116. 429 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 18. 430 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 25. 431 Vgl. grundlegend BVerfGE 55, 349 (369) sowie BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NJW 2008, 503; NVwZ-RR 2011, 625 (626); NZG 2012 345 (346); BVerfG (Beschwerdekam­ mer) NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 18. 432 BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967; BVerfG (Kammer) NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2000, 797; NVwZ 2004, 334 (335); NJW 2004, 835 (836); ferner BVerfGE 46, 17 (29). 433 BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967; BVerfG (Kammer) NJW 2000, 797; NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 271. 434 BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NVwZ 2004, 471. 435 S. insgesamt BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NZS 2010, 381 (382); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (780); NJW 2013, 2341 (2341 f.); NJW 2015, 3361 (3362); NJW 2016, 2021; Beschluss v. 30. 08. 2016  – 2 BvC 26/14  – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 18; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 9; dazu bereits BVerfG (Dreierausschuss) NJW 1984, 967. 436 BVerfGE 36, 264 (275); BVerfG (Kammer) NVwZ 2004, 334 (335); NZS 2010, 381 (382); Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160, Rn. 11; BVerfG (Beschwerde­ kammer), Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 5173, Rn. 18. 437 BVerfG (Kammer) NJW 2001, 214 (215); NZS 2010, 381 (382); NVwZ-RR 2011, 625 (626); BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2022).

A. Der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit 

163

Wie in der Rechtsprechung des EGMR finden sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG zu den deutschen Justizgrundrechten – wenn auch weniger ausdiffe­ renzierte – Fallgruppen besonderer Beschleunigungsbedürftigkeit: – Kindschaftssachen;438 – Verfahren, in denen der Betroffene inhaftiert ist;439 – Verfahren, in denen der Betroffene einen kritischen Gesundheitszustand oder ein hohes Alter hat;440 – Wahlprüfungsverfahren, da diese mit fortschreitendem Ablauf der Legislatur­ periode rasch und verbindlich geklärt werden sollen, allerdings nicht „generell vorrangig vor anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren bearbeitet werden [müssen]“;441 – Verfahren, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit den Lohn­ anspruch betreffen;442 – Geschlechtsspezifische Diskriminierung bei der Höhe des Lohns;443 – Streitigkeiten über Rentenbezüge444. Wendet man die eben genannten Kriterien zur Ermittlung der Angemessenheit der Verfahrensdauer auf das BVerfG an, so ist zu beachten, dass sie aufgrund der verfassungsrechtlich radizierten Funktion und Stellung des BVerfG zu modifizie­ ren sind.445 Das BVerfG hat mit der größtmöglichen Sorgfalt zu arbeiten und darf eine Priorisierung von Fällen vornehmen, die für das Gemeinwohl eine besondere Bedeutung haben. So kann das BVerfG anstelle des chronologischen Eingangs an­ dere Umstände, wie die Natur der Sache oder die soziale oder politische Bedeutung des Falles, berücksichtigen und sie in einer anderen Reihenfolge bearbeiten oder 438

BVerfG (Kammer), Beschluss v. 23. 08. 2018 – 1 BvR 700/18, BeckRS 2018, 22259, Rn. 7 m. w. N. aus der Rspr.; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 20; zustimmend Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 44. 439 BVerfG (Kammer) NJW 2001, 2707; BVerfGE 117, 71 (124 f.); s. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 220. 440 BVerfGE 55, 349 (369 f.); vgl. BVerfG (Kammer) NVwZ 2011, 486 (493). Hierfür auch Jaeger, VBlBW 2004, 128 (131); Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 240. 441 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 31; s. auch BVerfGE 85, 148 (159); BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 18. 442 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3364), unter Verweis auf EGMR, Fryd­ lender v. France, Urteil v. 27. 06. 2000, 30979/96, Rn. 45. S. allerdings auch BVerfG (Beschwer­ dekammer) NJW 2013, 2341 (2342). 443 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3364); Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 30. 444 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (792) (= BVerfGK 20, 65 [76]); Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 30. 445 S. dazu Kap. 3 A. I. 3. f).

164

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

bis zur Entscheidung von Pilotverfahren zurückstellen.446 Der hierbei bestehende Beurteilungsspielraum des BVerfG447 darf allerdings nicht dazu führen, dass die zuvor genannten Kriterien und damit der Anspruch insgesamt zu einer bloßen Leerformel werden.448 Hinsichtlich des zu betrachtenden Zeitraumes – entweder die isolierte Verfah­ rensdauer vor dem BVerfG oder die globale Verfahrensdauer – lassen sich aus den verfassungsrechtlichen Garantien keine zwingenden Vorgaben entnehmen. Es ist lediglich zu beachten, dass eine isolierte Betrachtungsweise den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht nivellieren darf. 3. Ergebnis zu Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Grundsätzlich gilt der grundrechtliche Anspruch auf eine angemessene Ver­ fahrensdauer auch vor dem BVerfG. Begründen lässt sich dies einerseits mit der Verfassungs- und Gesetzesbindung des Verfassungsgerichts als rechtsprechende Gewalt aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG. Andererseits mit der für die Funktion der Rechtsprechung erforderlichen Legitimationswirkung, die sich aus den verschiedenen geschriebenen und ungeschriebenen rechtsstaatlichen Verfah­ rensgarantien speist. Dieses nationale Ergebnis wird durch die konventionsfreund­ liche Interpretation des Grundgesetzes bestätigt. Aufgrund der Auslegung, dass die justiziellen Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG grundsätzlich449 nicht zugunsten des Staates, dessen Organen und juristischen Personen des öffentlichen Rechts wirken, folgt, dass es nicht nötig gewesen wäre alle Verfahrensarten vor dem BVerfG als statthafte Ausgangsverfahren einer Verzögerungsbeschwerde450 mit­ einzubeziehen. Stattdessen kann anknüpfend an die Ergebnisse zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt werden, dass die Justizgrundrechte lediglich in den Ver­ fahren gelten, die einen Bezug zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten des Einzelnen aufweisen. In den übrigen Verfahrensarten gilt das Grund­ recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht. Hierbei treten wegen der ver­ 446 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791) (= BVerfGK 20, 65 [73]); NJW 2015, 3361 (3363); NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 22 f.; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 13 f. 447 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); NJW 2016, 2021 (2023); Be­ schluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 26; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16. 448 Ähnlich Zuck, NVwZ 2013, 779 (781); ders., Verfassungsbeschwerde, Rn. 974b. 449 Ausnahmen bestehen, sofern sich die jur. Person des öffentlichen Rechts ausnahmsweise auf materielle Grundrechte berufen kann, vgl. Kap. 3 A. II. 1. a). 450 S. dazu unten Kap. 4 A. III. 1.

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

165

schiedenen Anwendungsbereiche Abweichungen gegenüber den Ergebnissen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auf. Soweit man zu der Anwendbarkeit des Anspruches auf ein Verfahren in an­ gemessener Zeit gelangt, muss ermittelt werden, welcher Zeitraum einzubezie­ hen ist und anhand welcher Kriterien die Angemessenheit zu bemessen ist. Nach Auslegung des BVerfG sind die Kriterien zur Bestimmung der Angemessenheit nach nationalem Recht weitgehend deckungsgleich mit denen des EGMR und der Konvention. Die Unterschiede sind weniger qualitativer als vielmehr semantischer Natur. Überschneidungen gibt es insbesondere bei den neuralgischen Fallgruppen, die einer besonderen Beschleunigung bedürfen. Inhaltlich ist der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit in Einklang zu bringen mit konfligierenden Verfassungsgütern. Mit Blick auf das BVerfG ist insbesondere dessen Funktion und Stellung in die Abwägung miteinzubeziehen. Im Wege einer praktischen Konkordanz ist der Anspruch dahingehend zu modifizieren, dass den Karlsruher Richtern mehr Spielräume zukommen als den Fachrichtern, wobei dies nicht dazu führen darf, dass der Anspruch seines Sinnes entleert wird.

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer: Abwehr und Kompensation, insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht Ubi ius, ibi remedium.451

Das Grund- und Menschenrecht auf eine angemessene Verfahrensdauer hat nicht sonderlich viel Gewicht, wenn es nicht mittels effektiver Reaktionsmöglich­ keiten durch den Betroffenen durchgesetzt werden könnte. Vornehmlich kommen Abwehr- und Kompensationsinstrumente in Betracht. Unter dem Begriff Abwehr lassen sich präventive Rechtsbehelfe sammeln, die dazu führen, dass eine Verfah­ rensverzögerung gar nicht erst eintritt bzw. eine bestehende Verzögerung nicht ausgeweitet wird. Bedenkt man die Irreversibilität der Missachtung der angemes­ senen Verfahrensdauer, so ist ein Rechtsbehelf pro futuro von erheblicher Bedeu­ tung für den Betroffenen. Auf der anderen Seite stehen Kompensationslösungen, welche eine erlittene Verletzung wiedergutmachen sollen. Da das Bedürfnis nach einer Kompensation sowie dessen Inhalt und Umfang variieren können, sind hier­ unter die schlichte Feststellung der Rechtswidrigkeit bis hin zu geldwerten Ersatz­ ansprüchen für materielle oder immaterielle Beeinträchtigungen zu fassen. Die Kompensation ist naturgemäß pro praeterito, wobei generalpräventive Elemente mitenthalten sein können. 451

In diesem Sinne auch § 89 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußi­ schen Staaten vom 01. 06. 1794: „Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann.“

166

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

I. Recht auf eine wirksame Beschwerde, Art. 13 EMRK i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention bietet zur nationalen Entfaltung und Durchsetzung der Konventionsrechte den Hebel des Art. 13 EMRK, der ein Recht auf eine wirksame Beschwerde verbrieft. Es sollen bereits durch innerstaat­ liche Einrichtungen die Konventionsrechte gewährt und verteidigt werden, so dass eine (subsidiäre) Inanspruchnahme des EGMR gar nicht erst erforderlich ist.452 1. Anwendungsbereich a) Allgemein Art. 13 EMRK begünstigt Jedermann, der in einem Konventionsrecht potenziell verletzt sein könnte.453 Insofern ist Art. 13 EMRK ein Verfahrensgrundrecht, wel­ ches akzessorisch an eine andere Garantie der EMRK anknüpft. Durch die Ver­ knüpfung der materiellen Garantien mit Art. 13 EMRK werden die Rechte inner­ staatlich effektuiert.454 Ausreichend für die Aktivierung von Art. 13 EMRK ist eine hinreichend plausible Verletzung („arguable claim“) einer Konventionsgarantie.455 Während in Einzelfällen die Verfahrensgarantie des Art. 13 EMRK hinter spe­ zielleren Gewährleistungsdimensionen zurücktritt,456 ist dies seit der grundlegen­ den Entscheidung Kudła v. Poland457 für den Anspruch auf eine angemessene Ver­ fahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mehr der Fall.458 Im Gegenteil wird durch die Verbindung von Art. 13 EMRK mit Art. 6 Abs. 1 EMRK gefordert, dass die Konventionsstaaten eine wirksame Beschwerdemöglichkeit bei überlanger Ver­ fahrensdauer in ihren Rechtsordnungen installieren bzw. den Straßburger Kriterien zur Effektivität anzupassen haben.459

452

Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  3, 19. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 183; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK /  GG, Kap. 20, Rn. 73–76. 454 Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 13, Rn. 1; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 183, 187; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 3. 455 Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 13, Rn. 2; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn.  193 f.; EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 7. 456 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 189 f.; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 40 f.; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  110 ff. 457 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96. 458 Zum vorherigen Verhältnis Gundel, DVBl. 2004, 17 (18 f.). 459 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 146–149, dazu Kap. 2 A. I. 7. sowie Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  115. 453

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

167

b) Anwendbarkeit auf das Bundesverfassungsgericht – ein „infiniter Rechtsschutz“? Dass diese Erfordernisse auch für die höchsten Gerichte, wie für das BVerfG, gelten, wird vom EGMR460 nicht ernsthaft infrage gestellt.461 Demgegenüber wird teilweise462 in dieser Rechtsprechungslinie die Gewährung eines problemati­ schen infiniten Rechtsschutzes gesehen: Denn gerade das Verfassungsgericht hat die Aufgabe als letzte nationale Instanz die Garantien der Konvention – vermittelt durch die nationalen Grundrechte – wirksam zu schützen und somit einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK abzuwenden. Würde wiederum hiergegen eine zusätzliche Beschwerdemöglichkeit konventionsrechtlich geboten sein, so würde dies zu einer „endlosen Kette an Rechtsbehelfen“463 führen. Diese Warnungen erscheinen bei näherer Betrachtung übertrieben. Hierzu weist der EGMR einerseits auf die praktische Wirksamkeit von bestehenden Rechts­ behelfen in anderen Konventionsstaaten hin, in denen kein unendliches Rechtsbe­ helfssystem entstanden sei. Andererseits mahnt der Gerichtshof an, dass bei Fehlen eines innerstaatlichen Rechtsbehelfes gegen finale Entscheidungen unmittelbar und systematisch Beschwerden in Straßburg eingehen werden und somit die Ef­ fektivität des EMRK-Systems langfristig geschwächt wird.464 Neben diesen Argumenten des EGMR lässt sich ins Feld führen, dass die Ein­ richtung eines nationalen Rechtsbehelfs nicht automatisch dazu führt, dass eine neue übergeordnete Gerichtsinstanz geschaffen werden muss. Stattdessen schließt Art. 13 EMRK nicht aus, dass sich der iudex a quo mit dem Rechtsbehelf befasst oder dass eine Querverweisung zu einer anderen (ggf. spezialisierten) Kammer bzw. zu einem anderen Senat vorgenommen wird, welcher die Angemessenheit der Verfahrensdauer überprüft.465 Für den Bereich des Rechtsschutzes gegen eine

460

Vgl. EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 55 f.; Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06, Rn. 81; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 54; s. auch Hauser-Sporn v. Austria, Urteil v. 07. 12. 2006, No. 37301/03, Rn. 40; Stempfer v. Austria, Urteil v. 26. 07. 2007, No. 18294/03, Rn. 48. 461 Kritisch Grabenwarter, in: FG Raschauer, 19 (24 f.); Steiner, in: FS Bethge, 653 (656 f.). 462 Grabenwarter, in: FG Raschauer, 19 (24 ff.); ders. / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 190 sowie die Auffassung der Bundesregierung: EGMR, Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 51; Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06, Rn. 81; in diese Richtung bereits Report of the Commission v. 25. 06. 1996, M. P. against Germany, No. 20950/92, Rn. 30; Report of the Commission v. 25. 01. 1996, F. W.P. against Germany, No. 17820/91, Rn. 40 f. 463 Grabenwarter, in: FG Raschauer, 19 (23); ders. / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 190. 464 EGMR, Kudła v. Poland, Urteil v. 26. 10. 2000, No. 30210/96, Rn. 154 f.; Kirsten v. Ger­ many, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 55 f.; Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009, No. 45749/06 und 51115/06, Rn. 81. 465 Vgl. Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 29 f.; Richter, in: Dörr /  Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  117.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

unangemessene lange Verfahrensdauer vor dem BVerfG ist ferner zu bedenken, dass es sich nicht um einen perpetuierten Konventionsverstoß der exekutiven oder legislativen Gewalt handelt,466 sondern um einen erstmaligen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Judikative.467 Würde man das BVerfG in diesem Fall aus dem Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK herausnehmen, so wäre dessen erst­ maliger Konventionsverstoß nach nationalem Recht weder rügefähig noch näher überprüfbar. Die Folge wäre eine nationale Rechtsschutzlücke, die Art. 13 EMRK gerade verhindern soll.468 Hypothetisch könnte aufgrund der partiellen Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Verzögerungsbeschwerde zwar diese selbst Gegenstand einer wei­ teren Verzögerungsbeschwerde sein469 und somit eine endlose Rechtsschutzschleife begründen. Allerdings ist zu beachten, dass es sich um zwei verschiedene (mut­ maßliche)  Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1  EMRK handeln würde: das verzögerte Ausgangsverfahren und die verzögerte Verzögerungsbeschwerde. Zudem ist das Problem der verzögerten Verzögerungsbeschwerde – wie bereits gezeigt470 – eher theoretischer Natur. Sollte sich im Übrigen eine Praxis der verzögerten Verzöge­ rungsbeschwerde über Einzelfälle hinaus entwickeln, so müsste man den Rechts­ behelf letztlich als ineffektiv i. S. v. Art. 13 EMRK ansehen, womit er zugleich nicht mehr Teil des zu erschöpfenden Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 EMRK) wäre. In solch einem Fall kann es nicht zu einem infiniten Rechtsschutz kommen, da die nationale Rechtsschutzkette aufgrund der Ineffektivität schlichtweg abbrechen würde471 und sich der Betroffene unmittelbar an den EGMR wenden könnte. Die Anwendung von Art. 13 EMRK auf Fälle unangemessener Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK) vor den Verfassungsgerichten führt somit nicht zu einem endlosen Rechtsschutz. Stattdessen schafft sie die einmalige Überprüfungsmög­ lichkeit eines erstmalig auftretenden Rechtsverstoßes. Ein darüber hinaus gehen­ der Rechtsschutz in Form eines weiteren nationalen Rechtsmittels gegen die ab­ weisende Entscheidung des für die Verzögerung zuständigen Spruchkörpers – und damit einen infiniten Rechtsschutz – fordert Art. 13 EMRK nicht. 2. Inhalt Art. 13 EMRK garantiert die Möglichkeit einer Beschwerde bei einer inner­ staatlichen Instanz. Hinsichtlich der Ausgestaltung eines innerstaatlichen Rechts­ 466

Dies übersieht Grabenwarter, in: FG Raschauer, 19 (26). Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 20. Ferner Maurer, in: FS Bethge, 535 (543). 468 Vgl. Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn.  3, 19–22. 469 Dazu Kap. 3 A. I. 2. c) hh). 470 S. Kap. 3 A. I. 2. c) hh) sowie Kap. 5 B. I. 3. 471 Die Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs bliebe hiervon unberührt, lediglich der Zugang zum EGMR wäre erleichtert. 467

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

169

behelfs macht der EGMR den Staaten lediglich begrenzte Vorgaben und lässt ih­ nen ansonsten einen Ermessensspielraum.472 Generell müssen die innerstaatlichen Rechtsbehelfe rechtlich sowie tatsächlich effektiv sein.473 Hierbei muss es sich nicht zwingend um einen Rechtsbehelf handeln, sondern es können auch mehrere Abhilfemöglichkeiten kumulativ betrachtet werden.474 Im Bereich von überlangen Verfahren bietet sich nach EGMR-Rechtsprechung ein präventiver Beschleunigungsrechtsbehelf als ideale Lösung an, da dieser einer drohenden Verletzung vorbeugt oder zumindest einer bestehenden Verletzung ab­ helfen kann.475 Alternativ kann ein kompensatorischer Rechtsbehelf vorhanden sein. Bei bereits abgeschlossenen Verfahren von unangemessen langer Dauer muss ein derartiger Rechtsbehelf sogar vorhanden sein.476 Eine Kompensationslösung hat dabei finanzielle Schäden, materieller und immaterieller Natur, in einer ange­ messenen Höhe zu ersetzen.477 Hierbei besteht eine starke, aber widerlegbare Ver­ mutung, dass mit einer überlangen Verfahrensdauer ein entschädigungspflichtiger immaterieller Schaden beim Betroffenen einhergeht.478 Damit das Entschädigungs­ verfahren als effektiver Rechtsbehelf gilt, muss es zugänglich sein sowie fair und in angemessener Zeit entschieden werden; eine zugesprochene Entschädigung muss zügig ausgezahlt werden.479 Eine Kombination von präventiven und kompensato­ rischen Lösungsansätzen stellt die insgesamt beste Lösung dar.480 Insbesondere für den Sonderfall der besonders beschleunigungsbedürftigen Kindschaftssachen muss ein präventiver Rechtsbehelf vorhanden sein, damit das Recht aus Art. 8 EMRK nicht illusorisch wird.481 In Strafsachen kann die Kom­ 472

EGMR, Vilvarajah et. al. v. The United Kingdom, Urteil v.30. 01. 1991, No. 13163/87, Rn. 122; Chahal v. The United Kingdom, Urteil v. 15. 11. 1996, No. 22414/93, Rn. 145. 473 S. etwa EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 54 sowie Gra­ benwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 197 m. w. N. 474 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 98; Grabenwar­ ter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 207; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 9. 475 EGMR, Cocchiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 74; Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 183; Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 100. 476 Vgl. EGMR, Mifsud v. France, Entscheidung v. 11. 09. 2002, No. 57220/00, Rn. 17; Scor­ dino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 185. Dazu Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 67. 477 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 207; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 19 jeweils m. w. N. 478 EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; Herbst v. Ger­ many, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66; vgl. HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 19. 479 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 207; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 18 jeweils m. w. N. 480 EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 183; Sürmeli v. Ger­ many, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 100. 481 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 137; HK-EMRK /  Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 17.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

pensation in einer reduzierten Strafzumessung oder Verringerung der vollstreck­ baren Strafe liegen.482 Abweichend von der offenen Formulierung „innerstaatliche Instanz“ ist bei einer Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer als Fall des judikativen Unterlas­ sens der Rechtsschutz durch eine gerichtliche Instanz zu gewähren.483 Entspre­ chend der zuvor gemachten Ausführungen führt dies aber nicht zu einem Recht auf einen Instanzenzug.484 Besondere Vorgaben bei der Implementierung eines Rechtsbehelfs gegen über­ lange Verfahrensdauer vor einem Verfassungsgericht sind der Rechtsprechung des EGMR nicht zu entnehmen. Die akzessorische Verbindung von Art. 13 EMRK mit Art. 6 Abs. 1 EMRK führt nicht dazu, dass ein etwaiger Rechtsbehelf vor dem BVerfG weniger effektiv sein darf, indem man ihn abschwächt. Immerhin wer­ den bereits auf der materiellen Seite des Art. 6 Abs. 1 EMRK die Besonderheiten eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens berücksichtigt, so dass eine weitere Absenkung der Effektivitätsanforderungen an den Rechtsbehelf den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer nivellieren könnte. Lediglich bei der ver­ fahrensrechtlichen Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen unangemessen lange verfassungsgerichtliche Verfahren besitzen die Konventionsstaaten einen Ermes­ sensspielraum, den sie z. B. bei der Frage nach der zuständigen Beschwerdeinstanz nutzen können.

II. Abwehr- und Kompensationsrechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG 1. Reaktionsmöglichkeiten nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG? a) Grundsätzliche Erwägungen Auf eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer durch ein Fachgericht kann nicht mit Art. 19 Abs. 4 GG geantwortet werden, da dieser keinen Rechtsschutz gegen den Richter vermittelt.485 Allerdings ermög­ licht der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) einen Rechtsschutz gegen den Richter, soweit dieser rechtsstaatlich geboten ist. Dies ist der Fall, wenn erstmalig Verfahrensgrundrechte durch ein

482

Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 62 f.; HK-EMRK / Meyer-La­ dewig / Renger, Art. 13, Rn. 20. 483 Vgl. Breuer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), Art. 13 EMRK, Rn. 24; Frowein, in: ders. /  Peukert, EMRK, Art. 13, Rn. 12; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 189; Gundel, DVBl. 2004, 17 (19). 484 S. Kap. 3 B. II. 1. b). 485 Vgl. BVerfG 107, 395 (404).

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

171

Gericht verletzt werden.486 Überträgt man die zu Art. 103 Abs. 1 GG gemachten Ausführungen des BVerfG487 auf den Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit, so kann man feststellen, dass letzteres ein subjektives Recht des Einzelnen ist sowie vom Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes als objektives Gebot vorgege­ ben wird. Seine zentrale Bedeutung ist in anderen Rechtsordnungen488 sowie auf der Ebene des internationalen Menschenrechtsschutzes489 breit anerkannt. Hinter­ grund dieses weitverbreiteten Anerkenntnisses ist, dass dem Einzelnen nicht nur formal ein Rechtsweg eröffnet werden soll, um seine Rechte geltend zu machen. Er muss die realistische Chance haben, sie in einer angemessenen Zeit tatsäch­ lich durchzusetzen, damit seine materielle Rechtsposition nicht hypothetischer Natur verbleibt. Dauert ein Verfahren über Gebühr lange, so wird das eigentliche Recht, um das gestritten wird, letztlich illusorisch. Denn ob dem Einzelnen der Rechtsweg gänzlich verweigert wird oder ob dessen Rechtsdurchsetzung derart lange verzögert wird, bis seine Rechte so gut wie entwertet sind, macht für den Betroffenen oftmals keinen Unterschied.490 Aus diesem Verständnis speist sich die prägnante Formel: „Justice delayed, is justice denied“. Insofern gilt der Passus aus der Plenarentscheidung: „Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen […]“491 ebenso im Kontext der angemessenen Verfahrensdauer. Zu­ sätzlich bildet ein Verfahren in angemessener Zeit einen der Grundbausteine für weitere institutionelle und verfahrensrechtliche Garantien, die ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren erst konstituieren.492 Eine unangemessen lange Verfahrensdauer gefährdet die staatliche Pflicht zur Justizgewähr und somit mittelbar das materielle Recht, so dass es rechtsstaatlich geboten ist, eine Abhilfemöglichkeit zu eröffnen. Der Gesetzgeber493 hat in den Prozessordnungen zumindest ein einmaliges gerichtliches Kontrollmittel hierge­ gen zu installieren.494

486

BVerfGE 107, 395 (407); vgl. Maurer, in: FS Bethge, 535 (543). BVerfGE 107, 395 (408 f.). 488 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 68–73. 489 S. eingangs bei Kap. 2 A. II. 490 Vgl. Schlette, 24 f. 491 BVerfGE 107, 395 (409). 492 Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (224); ders., in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (366). 493 Vgl. BVerfGE 107, 395 (408). 494 Vgl. Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (224); ders., in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (365 f.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (574 f.); Britz / Pfeifer, DÖV 2004, 245 (246); Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 94, Fn. 226; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 121; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 17a, 263a; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (177 f.); dies., NJW 2008, 1783–1785. Ähnlich Jaeger, VBlBW 2004, 128 (136). Ferner Gundel, DVBl. 2004, 17 (23); Remus, NJW 2012, 1403 (1408); Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rn. 322. 487

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

b) In Bezug auf das Bundesverfassungsgericht Verbindet man diese Erkenntnis mit der oben495 aufgezeigten Anwendbarkeit des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches im verfassungsgerichtlichen Verfahren, so muss auch hier ein Rechtsschutz gegen mögliche Verletzungen von Verfahrensgrundrechten durch Verfassungsrichter eröffnet werden, um Rechts­ schutzlücken zu schließen. Insofern lassen sich die obigen Begründungsansätze496 mutatis mutandis übertragen: der verfassungsrechtlichen Bindung an Recht und Gesetz – insbesondere an die Grundrechte – sowie der konventionsfreundlichen Interpretation des Grundgesetzes entspringen nicht nur der Anspruch auf eine an­ gemessene Verfahrensdauer als solche, sondern darüber hinaus eine verfassungs­ rechtlich gebotene Möglichkeit zu einer Reaktion des Betroffenen. Dies gilt ins­ besondere in den Fällen, in denen die Verfahrensverzögerungen erstmalig vor dem BVerfG auftreten. Der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet für die Fach- sowie für die Verfassungsgerichts­ barkeit eine Abhilfemöglichkeit gegen eine unangemessen lange Verfahrensdau­ er.497 Hinsichtlich der an dieser Stelle auftretenden Parallelfrage nach einem (ver­ meintlichen) infiniten Rechtsschutz vor dem BVerfG kann auf die entsprechenden Ausführungen verwiesen werden.498 2. Inhaltliche Dimension der Abhilfemöglichkeit: Abwehr oder Kompensation? Bei der Auswahl, ob ein abwehrender oder kompensatorischer Rechtsbehelf in­ stalliert werden muss, gilt das Prinzip: Grundsätzlich geht der Primärrechtsschutz dem Sekundärrechtsschutz vor („Kein dulde und liquidiere“).499 Insbesondere die Ausformung des Rechtsstaatsprinzips in Art. 19 Abs. 4 GG indiziert einen Vorrang von abwehrenden Rechtsbehelfen gegenüber kompensatorischen.500 Der Gesetzge­ ber ist also gehalten zumindest einen einmaligen präventiven Rechtsbehelf gegen eine (drohend)  überlange Verfahrensdauer zu installieren, damit der originäre Anspruch auf eine angemessene Dauer soweit wie möglich bewahrt werden kann. Wendet man diesen Grundsatz strikt auf das Problemfeld der überlangen Ver­ fahrensdauer an, so erreicht man schnell dessen Grenzen. Denn sobald eine un­ 495

S. Kap. 3 A. III. 1. c). Vgl. zu diesen beiden Interpretationsansätzen Kap. 3 A. III. 1. c) aa) und bb). 497 So auch Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehr­ ebenensystem, 339 (378 ff.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575 ff.; 581). 498 Vgl. Kap. 3 B. I. 1. b). 499 Dazu Erbguth, in: VVDStRL 61 (2002), 221 (227–231). 500 Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19, Rn. 460; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 28; ders., in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, Vor § 1, Rn. 230 f. Instruktiv der Nassauskiesungsbeschluss BVerfGE 58, 300 (324). Kritisch Höfling, in: VVDStRL 61 (2002), 260 (278 ff.). 496

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

173

angemessene Verzögerung des Verfahrens eingetreten ist, kann dieser Verletzung mit einem Primärrechtsbehelf nicht weiter abgeholfen werden. Der Zeitverlust ist irreversibel eingetreten, womit eine primärrechtliche Abhilfe pro praeterito un­ möglich geworden ist.501 Zudem kann es dem Betroffenen oftmals nicht zugemutet werden, sich hiergegen bereits vorab zur Wehr zu setzen. Denn die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht anhand starrer Zeitvorgaben aus­ zumachen, sondern durch verschiedene Kriterien (tendenziell retrospektiv) zu er­ mitteln,502 so dass für den Betroffenen der Moment, in dem eine noch angemessene Verfahrensdauer in das Unangemessene umzuschlagen droht, kaum zu ermitteln ist. Über diese tatsächliche Unmöglichkeit und die rechtlichen Ungewissheiten kann ein Primärrechtsbehelf bei bereits eingetretenen Verzögerungen nicht hin­ weghelfen.503 Eine „eingriffsbereinigende Kraft“504 des Primärrechtsschutzes, die dessen Vorrang gegenüber dem Sekundärrechtsschutz begründet, kann nicht mehr entfaltet werden. Der Zweck des Vorrangs wird letztlich verfehlt. Diese Probleme rechtfertigen indes keinen generellen Ausschluss des Primär­ rechtsschutzes verbunden mit einem Verweis auf einen Kompensations- oder Fest­stellungsanspruch.505 Soweit kein vergangenheitsbezogener, abwehrender Rechts­schutz mehr erfolgen kann, schließt dies nicht aus, dass ein effektiver Pri­ märrechtsbehelf künftige sowie weitere Verzögerungen nicht doch noch verhindern oder abmildern kann.506 Würde man in einem laufenden Verfahren von einem Pri­ märrechtsbehelf gänzlich abrücken, so täte sich eine Rechtsschutzlücke auf, die mit dem grundlegenden Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer unvereinbar wäre. Der pauschale Verweis auf die Sekundärebene würde das Verfahrensgrund­ recht sowie die hiermit verbundenen materiellen Interessen im Ausgangsverfahren illusorisch werden lassen. Auch nach Maßgabe der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG wäre die Zulässigkeit des Ausschluss des Primärrechtsschutzes zugunsten des Sekundärrechtsschutzes zu verneinen: Bisher in diese Richtung entschiedene Fälle507 zeichnen sich durch mehrpolige, in Ausgleich zu bringende private und

501

Dies ist ein gewaltiger Unterschied gegenüber anderen Verstößen gegen Verfahrensgrund­ rechte, Schlette, 59. So kann z. B. das verweigerte rechtliche Gehör nachgeholt werden, Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (380); Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (178). 502 Oftmals dürfte hinzukommen, dass der Betroffene – insbesondere vor dem Verfassungs­ gericht – von den staatlicherseits begründeten Umständen erst im Nachhinein Kenntnis erlangt. Vgl. Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 12, der das Verfahren als „black box“ charakterisiert. 503 Vgl. Schoch, Die Verwaltung 34 (2001), 261 (274 f.). 504 Erbguth, in: VVDStRL 61 (2002), 221 (230). 505 So auch R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 32 f. 506 Wobei sich die Abhilfe vom Gericht steuerbare Maßnahmen begrenzt. Gegen system­ immanente Störungen der Justiz kann der Rechtsbehelf als solcher nichts ausrichten, Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (381 f.). 507 Vgl. BVerfGE 116, 1 (18–22); 116, 135 (155–159).

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

öffentliche Interessenslagen aus, die auf das Feld der überlangen Verfahrensdauer sowie des Rechtsschutzes hiergegen schwerlich übertragbar sind.508 Stattdessen ist aus den tatsächlichen und rechtlichen Problemen des Primär­ rechtsschutzes zu folgern, dass es rechtsstaatlich zur Gewährleistung eines effek­ tiven Rechtsschutzes geboten ist, einen Sekundärrechtsschutz dort einzurichten, wo eine Verfahrensverzögerung bereits irreversible eingetreten ist und / oder wegen des Fehlens oder der Unzulänglichkeiten einer effektiven Abhilfemöglichkeit nicht verhindert werden konnte. Fehlt es an solch einem komplementierenden Sekun­ därrechtsbehelf, so täte sich für den Betroffenen eine Rechtsschutzlücke auf, die weder verfassungs- noch konventionsrechtlich hinzunehmen wäre. Verfassungsrechtlich lässt sich ein derartiger Anspruch auf eine Kompensations­ leistung im allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch verorten.509 Aus nationaler Perspektive spricht hierfür, dass sich das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) nach den umfangreichen Analysen von Breuer510 als verfassungsrechtlicher Sitz einer unmittelbaren Staatsunrechtshaftung identifizieren lässt. Im Kern steht die Überlegung, dass die Staatshaftung einen Ausgleich für das Gewaltmonopol des Staates schafft.511 Dieser Gedanke lässt sich hinsichtlich des allgemeinen Justiz­ gewährleistungsanspruches weiter ausführen: Der Wesensgehalt des Justizge­ währleistungsanspruches wird zunächst einmal durch das Rechtsstaatsprinzip bestimmt. Als Kehrseite zum staatlichen Gewaltmonopol und dem bürgerlichen Gewaltverbot512 stiftet der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch u. a. den Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit. Verzögert sich allerdings ein gerichtliches Verfahren, so unterlässt es der Staat – zumindest temporär  – sein Gewaltmonopol in Form seiner Gerichtsbarkeit auszuüben. Ist zusätzlich eine abwehrdimensionale Restitution der Verletzung wegen Irrever­ sibilität nicht möglich bzw. wegen rechtlicher Ungewissheiten unzumutbar, so muss dem Betroffenen unmittelbar ein kompensatorischer Rechtsbehelf zur Ver­ fügung stehen, damit ihm zumindest ein einmaliger Rechtsschutz gewährt wird.513

508

A. A. Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 90, 552 der aus den Entscheidungen schließt, dass unter Umständen ein Sekundärrechtsschutz gegen Akte der Judikativen ausrei­ chend sein könnte. 509 So auch Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehr­ ebenensystem, 339 (378 ff.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575 ff., 581). 510 Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 143 ff. 511 Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 147 ff., 167. 512 BVerfGE 54, 277 (292); 141, 121 (Rn. 44); Papier, in: HStR VIII, § 176, Rn. 1; 7 f.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20, Rn. 162; Schlette, 23; Schmidt-Aßmann, in: HStR II, § 26, Rn. 71; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 16; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 1, 27. 513 Vgl. Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehr­ ebenensystem, 339 (381); Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 366 f.; Schlette, 62; Schoch, Die Verwaltung 34 (2001), 261 (275). Ähnlich für einen verfassungsunmittelbaren „Verzögerungsfolgenanspruch“ Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575–579, 581).

B. Reaktion auf eine Verletzung des Anspruches  

175

Andernfalls wäre der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer praktisch unwirksam.514 Ein Ausgleich für das Gewaltmonopol des Staates würde nicht er­ reicht werden. Betrachtet man diesen Gedankengang im Lichte von Art. 6 sowie Art. 13 EMRK, so wird deutlich, dass sich in dem offenen Tatbestand des Justizgewähr­ leistungsanspruches  – neben dem Primärrechtsschutz  – ein Anspruch auf eine Kompensation für eine bereits eingetretene Verfahrensverzögerung einbetten lässt.515 Ohne die dogmatischen Linien des nationalen Rechts zu verlassen, lassen sich die europäischen Grundsätze in den offenen Tatbestand des deutschen Jus­ tizgewährleistungsanspruches hineinlesen: Wie gezeigt516 fordert die Konvention keinen bestimmten präventiven oder kompensatorischen Rechtsbehelf. Lediglich in Fällen, in denen eine Verzögerung bereits eingetreten ist, müssen die Staaten Kompensationslösungen bereithalten. Im Wege des aktiven Rezeptionsvorgangs517 kann unter Zuhilfenahme innerstaatlicher Institute, hier der ausnahmsweisen Durchbrechung des Primärrechtsschutzes zugunsten des Sekundärrechtsschutzes bei Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit, das nationale Verfassungsrecht im Lichte der EMRK dahingehend interpretiert werden, dass jedenfalls bei eingetretenen Verzögerungen ein Anspruch auf Entschädigung von Verfassungs wegen besteht. Die hierbei erforderliche Feinjustierung ergibt sich im Rahmen des offenen Justiz­ gewährleistungsanspruches unter Beachtung der Linien des deutschen Staatshaf­ tungsrechts, so dass letztere nicht verwischt werden. Im Ergebnis kann somit ein Einklang zwischen den Vorgaben des EGMR zu Art. 6 und 13 EMRK und dem nationalen Recht hergestellt werden. Der Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet damit nicht nur dem Primärrechtsschutz gegen den Richter, sondern da­ rüber hinaus in Fällen einer bereits eingetretenen Verzögerung einen Anspruch auf Kompensation (Sekundärrechtsschutz gegen den Richter). Im letzteren Fall ist eine Ausnahme vom grundsätzlichen Vorrang des Primärrechtsschutzes auszu­ machen.518 Bei der näheren Ausgestaltung eines Rechtsbehelfs gegen überlange Verfah­ rensdauer hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum und muss die gegenläu­ figen Güter des effektiven Rechtsschutzes, die Funktionsfähigkeit der Rechts­

514 „Soll das verfassungsrechtliche Gebot in der Praxis aber nicht verpuffen, so darf eine Verletzung nicht ohne spürbare Folgen bleiben.“, Schlette, 59. Ähnlich Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 100. 515 Vgl. Bäcker, in: Matz-Lück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehr­ ebenensystem, 339 (382 f.); Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 360; ähnlich für Art. 19 Abs. 4 GG Papier, in: HStR VIII, § 177, Rn. 98. 516 S. Kap. 3 B. I. 2. 517 S. zur Methodik Kap. 3 A. I. 1. 518 Ähnlich Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 100.

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Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

pflege, die Rechtsbehelfsklarheit und die Unabhängigkeit der Richter in Einklang bringen.519 Betrifft der Rechtsbehelf das BVerfG, so wird der Ausgestaltungsspiel­ raum in der Weise modifiziert, dass der Gesetzgeber zusätzlich die verfassungs­ rechtlich verankerte Funktion und Stellung des BVerfG zu berücksichtigen hat. Verbunden mit den eingangs genannten Nachteilen eines präventiven Rechtsbehelfs darf der Gesetzgeber prinzipiell die Effektivität des Primärrechtsschutzes absen­ ken, wenn er dies zum Ausgleich mit einem starken Kompensationsrechtsbehelf verbindet.520 Allerdings ist selbst in diesem Falle zu beachten, dass die Effektivität des Präventivrechtsbehelfs derart reduziert wird, dass von ihm kein signifikanter Effekt mehr ausgehen kann und der Anspruch auf eine angemessene Verfahrens­ dauer auf Primärebene nicht mehr durchgesetzt werden kann.

III. Zwischenergebnis Sowohl die Menschenrechtskonvention als auch das Grundgesetz fordern Re­ aktionsmöglichkeiten für eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer. Während Art. 13 EMRK und der korrespondierenden Straß­ burger Rechtsprechung erkennbare Vorgaben sowie Anregungen zu entnehmen sind, gestaltet sich bereits die Frage der Verortung von Reaktionsmöglichkeiten, insbesondere die Frage nach kompensatorischen Rechtsbehelfen, im Grundgesetz schwieriger. Überzeugend erscheint letztlich ein Weg über den allgemeinen Jus­ tizgewährleistungsanspruch in einer grundrechts- und konventionsfreundlichen Interpretation. Dies führt dazu, dass – in Einklang mit der EMRK – eine bereits erfolgte Verzögerung grundsätzlich zu kompensieren ist, selbst wenn kein Primär­ rechtsbehelf eingelegt wurde (ausnahmsweise Durchbrechung des Grundsatzes des Vorranges des Primärrechtsschutzes). Ansonsten steht es sowohl nach der Konven­ tion als auch dem Grundgesetz dem Gesetzgeber anheim, das Rechtsbehelfssystem nach eigenem Ermessen mit präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen zu gestalten, sofern die konkurrierenden Verfassungsgüter – etwa die Effektivität des Rechtsschutzes, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die Rechtsbehelfs­ klarheit und die Unabhängigkeit der Richter – in praktische Konkordanz gebracht werden und die vom EGMR postulierten Leitlinien eingehalten werden. Allerdings ist nach Maßgabe des Grundgesetzes ein präventiver Rechtsbehelf, sofern er noch eine beschleunigende Wirkung entfalten kann, zu installieren. Diese Grundsätze gelten für die Fachgerichtsbarkeit sowie, unter Beachtung seiner Aufgaben und Stellung, für die Verfassungsgerichtsbarkeit. Das von man­

519

Vgl. BVerfGE 107, 395 (408, 411 ff.); Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (224); ders., in: MatzLück / Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (369 ff.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (572 ff.); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 282. 520 Bäcker, Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, 339 (380 ff.).

C. Zusammenfassung  

177

chen Autoren gesehene hiermit verbundene Problem eines infiniten Rechtsschutzes lässt sich bei näherer Betrachtung weitgehend entschärfen. Letztlich sind Rechts­ behelfe geboten, um eine ansonsten offenbleibende Rechtsschutzlücke gegenüber der Dritten Gewalt zu schließen.

C. Zusammenfassung Konventionsrechtlicher Grund für die Geltung des Anspruches auf eine ange­ messene Verfahrensdauer vor einem Verfassungsgericht ist Art. 6 Abs. 1 EMRK, der sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich verbindlich ist. Die Norm adres­ siert allerdings nicht per se das BVerfG, sondern findet lediglich in ausgewählten verfassungsgerichtlichen Verfahren Anwendung, dessen straf- oder zivilrecht­ liche Position des einzelnen Beteiligten beeinflussen kann. Konkret fallen fol­ gende Verfahren unter die Garantie: die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG), die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG), das Normenverifikationsver­ fahren (Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 12, 83 f. BVerfGG), die Divergenzvorlage (Art. 100 Abs. 3 GG, §§ 13 Nr. 13, 85 BVerfGG), sowie die Richteranklage (Art. 98 Abs. 2, 5 GG, §§ 13 Nr. 9, 58 ff. BVerfGG). Demgegenüber lassen sich folgende – teils genuin staatsrechtliche – Verfahren außerhalb des Schutzbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK verorten: die Kommunal­ verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfGG), die abstrakte Normenkontrolle (Art.  93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG, §§ 76 Abs. 1 BVerfGG), das Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, §§ 13 Nr. 6a, 76 Abs. 2 BVerfGG; Art. 93 Abs. 2 S. 1 GG, §§ 13 Abs. 1 Nr. 2 6b, 96 BVerfGG), der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG), die Bund-Länder-Streitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG), der Zwischen- und Binnenländerstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2, 3 GG, §§ 13 Nr. 8 Var. 2, 3, 71 f. BVerfGG), Parteiverbotsverfahren, das Parteienfinanzierungsausschlussverfahren (Art. 21 Abs. 2, 3 GG, §§ 13 Nr. 2, 2a, 43 ff. BVerfGG), die Präsidentenanklage (Art. 61 GG, §§ 13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG), die Wahlprüfungsbeschwerden sowie Verfahren, in denen das BVerfG im Rah­ men der Organleihe als Landesverfassungsgericht fungiert oder nach dem PUAG zuständig ist. Ambivalent in dieser Einordnung der Anwendbarkeit sind das Ver­ fahren der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG, §§ 13 Nr. 1, 36 ff. BVerfGG), die Verzögerungsbeschwerde (§§ 97a ff. BVerfGG), die einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) sowie das Normqualifizierungsverfahren (Art. 126 GG, §§ 13 Nr. 14, 86 ff. BVerfGG). Zur Ermittlung der Angemessenheit der Verfahrensdauer i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK vor dem BVerfG lassen sich keine pauschalierten Formeln heranziehen. Stattdessen ist eine Gesamtabwägung der vom EGMR entwickelten Kriterien durchzuführen: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers,

178

Kap. 3: Konventionsrechtlicher Hintergrund der §§ 97a ff.

das Verhalten der Behörden, die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer. Maßgeblich kann hierbei die Gesamtverfahrensdauer sein oder isoliert die Dauer vor dem BVerfG. Hinsichtlich der besonderen Aufgaben und Stellung des „Hüters der Verfassung“ werden diese Kriterien zwar großzügiger gehandhabt, was aller­ dings nicht dazu führt, dass die staatlicherseits zu verantwortende, hohe Arbeits­ belastung des BVerfG eine Verzögerung rechtfertigen kann. Sollte es zu einer Verletzung des Anspruches aus Art. 6 Abs. 1 EMRK kommen, so garantiert Art. 13 EMRK, dass dem Betroffenen ein effektiver Rechtsbehelf im innerstaatlichen Recht zusteht. Dies gilt neben der Fachgerichtsbarkeit ebenso für das BVerfG, welches hierbei nicht in eine Spirale endloser Rechtsbehelfe gerät. Inhaltlich steht den Konventionsstaaten die Ausgestaltung des Rechtsbehelfs zu. Der Frage, ob ein präventiver, kompensatorischer oder kombinierter Rechtsbehelf gewählt wird, werden vom EGMR lediglich dort Grenzen gesetzt, wo eine Ver­ zögerung bereits eingetreten ist oder eine neuralgische Fallgruppe im Raum steht. Insgesamt hat der Rechtsbehelf zugänglich und fair zu sein, außerdem muss in an­ gemessener Zeit über ihn beschieden werden. EGMR-Judikate oder andere Gründe zur Absenkung dieser Anforderung bei einem Rechtsbehelf, der das BVerfG be­ trifft, sind nicht ersichtlich. Stattdessen ist es erforderlich diese Maßstäbe ohne weitere Modifikation anzuwenden. Ähnliche Ergebnisse lassen sich den Vorgaben des Grundgesetzes entnehmen. Sowohl nach verfassungsrechtlichen als auch nach konventionsfreundlichen Maß­ stäben gelangt man zu der Erkenntnis, dass der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer vor dem BVerfG gilt. Verankern lässt sich diese nicht explizite genannte Garantie in den Justizgewährleistungen von Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Hieraus kann gefolgert werden, dass – ähnlich wie bei Art. 6 Abs. 1 EMRK – der Anspruch nur in bestimmten verfassungsgerichtlichen Verfahren gilt. Namentlich bei der Individualverfassungsbeschwerde, der konkreten Normenkontrolle, dem völkerrechtlichen Verifikationsverfahren, der Divergenzvorlage, dem konkreten Normqualifizierungsverfahren, dem Parteiverbotsverfahren, dem Parteienfinan­ zierungsausschlussverfahren, der Grundrechtsverwirkung, der Richteranklage, der Wahlprüfungsbeschwerde, der Nichtanerkennungsbeschwerde und unter gewissen Umständen bei einer Verzögerungsbeschwerde. In den übrigen Verfahrensarten greift das Grundrecht auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht. Dies bedeutet indes nicht, dass diese Verfahren ohne jegliche zeitlichen Gren­ zen geführt werden können. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich zumindest der objektive Verfahrensgrundsatz ableiten, dass ein Verfahren in einer angemessenen Zeit beendet werden muss. Dieser objektive Grundsatz bindet das BVerfG und kann aber nicht von den staatlichen Beteiligten als Verletzung eines verfassungs­ rechtlichen oder grundrechtsähnlichen Anspruches gerügt werden. Insofern ist für diesen Teilbereich weder verfassungs- noch konventionsrechtlich ein Rechts­ schutzinstrument geboten.

C. Zusammenfassung  

179

Die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer bemisst sich nach natio­ nalem Recht weitestgehend deckungsgleich nach den Kriterien des EGMR unter der besonderen Beachtung der verfassungsrechtlichen Stellung und Aufgaben des BVerfG. Sollte ein Verfahren unangemessen lang gedauert haben bzw. droht dies, so fordert auch das Grundgesetz eine Reaktionsmöglichkeit für den Betroffenen. Grundlage hierfür ist der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, der sowohl innerhalb der Fachgerichtsbarkeit als auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren seine Wirkung entfaltet. Wie solch ein Rechtsbehelf konkret aussieht ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Das Ver­ fassungsrecht gebietet lediglich in Fällen, in denen die Erhebung eines präventiven Rechtsbehelfes unmöglich oder unzumutbar war, eine Kompensationsmöglichkeit bereitzustellen. Dies dürfte mit Blick auf die Irreversibilität des Zeitverlusts und die typischerweise rechtliche Ungewissheit über den Zeitpunkt der Unangemessen­ heit häufig der Fall sein, so dass ein Kompensationsrechtsbehelf zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken angezeigt ist. Weitere Aspekte, die der Gesetzgeber bei der näheren Ausgestaltung zu beachten hat, sind konfligierende Rechtsgüter, ins­ besondere wieder die Stellung und Aufgaben des Verfassungsgerichts.

Kapitel 4

Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde sowie Voraussetzungen und Inhalt des Entschädigungsanspruches nach §§ 97a ff. BVerfGG  A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG I. Einordnung der Verzögerungsbeschwerde 1. Dogmatische Verortung im Verfassungsprozessrecht Aus dogmatischer Sicht ist die Verzögerungsbeschwerde im Verfassungspro­ zessrecht ein völliges Novum.1 Bisher gab es keine kodifizierte Möglichkeit, um eine finale Entscheidung des BVerfG mittels eines nationalen Rechtsbehelfs zu beanstanden. Es galt der Grundsatz, dass dem Verfassungsprozessrecht eine Nachprüfung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen durch eine weitere nationale Instanz fremd ist.2 Einzig der Widerspruch im einstweiligen Rechts­ schutz (§ 32 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) bildet eine eng begrenzte Ausnahme.3 Hin­ sichtlich ungeschriebener Korrekturinstrumente – wie der Berichtigung oder der Gegenvorstellung – ist die Rechtslage verworren.4 Die Verzögerungsbeschwerde ist jedoch kein Rechtsbehelf, der dazu führt, dass die verfassungsgerichtliche Entscheidung – quasi in einer nächsten Instanz – in der Sache überprüft wird. Stattdessen kann mit ihr ein mutmaßlicher Verstoß gegen den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer korrigiert werden. Es 1

So auch O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1375. Vgl. BVerfGE 1, 89; BVerfGE 19, 88; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 656; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 90, Rn. 143; BeckOK, BVerfGG / Scheffczyk, § 93d, Rn. 5 f. 3 In individualschützenden Verfahren wie der Verfassungsbeschwerde hat der Widerspruch eine geringe Bedeutung, da weder der Beschwerdeführer (vgl. § 32 Abs. 3 S. 2 BVerfGG) noch der Äußerungsberechtigte widerspruchsberechtigt sind (MSKB / Graßhof, § 32, Rn. 229 ff.; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1423 f.). 4 Die Möglichkeit zur Gegenvorstellung wurde vom BVerfG meistens offengelassen, BVerfG (Kammer) NJW 2008, 1582; NJW 2016, 3230; stattgegeben in BVerfGK 19, 148 (= NJW 2012, 1065), hierzu kritisch Lechner / Z uck, BVerfGG, § 90, Rn. 147p; vgl. MSKB / Graß­ hof, BVerfGG; § 93a, Rn. 46; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 580, 656; Schenke, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 93d, Rn. 11 jeweils m. w. N. Zur eng begrenzten Berichtigung E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 401 f. 2

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

181

geht also nicht darum, eine perpetuierte Rechtswidrigkeit in Gestalt der verfas­ sungsgerichtlichen Entscheidung anzugreifen, sondern einen erstmaligen Verstoß des Verfassungsgerichts gegen ein Prozessgrundrecht wiedergutzumachen. Ver­ deutlicht wird diese Unabhängigkeit vom Inhalt und Ausgang der Entscheidung an der Möglichkeit, bereits während eines laufenden Verfahrens eine Verzöge­ rungsbeschwerde anhängig zu machen.5 Dieser Mechanismus der Verzögerungs­ beschwerde soll eine Lücke im Individualrechtsschutz schließen, die vor dem In­ krafttreten des ÜGRG bestand. Sie geht allerdings aufgrund einer überschießenden Umsetzung über die Anforderungen der EMRK hinaus.6 Im Sinne der Trennung von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit wird mit der Verzögerungsbeschwerde nach § 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG ausschließlich die Ver­ zögerung angegriffen, die vom BVerfG ausgeht. Hingegen sind für eine überlange Verfahrensdauer vor den Fachgerichten die §§ 198 ff. GVG maßgeblich.7 Daher knüpft die Verzögerungsbeschwerde stets an ein verfassungsgerichtliches Verfahren an (Akzessorietät).8 Aufgrund dieser Trennung sind die Regelungen der §§ 198 ff. GVG auf das BVerfG nicht unmittelbar anwendbar. Stattdessen hat der Gesetzgeber mit den §§ 97a ff. BVerfGG planvoll ein Sonderregime (lex specialis) geschaffen.9 Im Übrigen behält der Gesetzgeber die verfassungsprozessualen Grundsätze des Antragsprinzips und der Dispositionsmaxime bei,10 so dass dem BVerfG ein Zugriff auf die §§ 97a ff. BVerfGG von Amts wegen versperrt ist.11 2. Zweck Mit der Verzögerungsbeschwerde hat der Gesetzgeber die einzige prozessuale Möglichkeit geschaffen, um den Entschädigungs- und Wiedergutmachungsan­ spruch aus § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG geltend zu machen (vgl. § 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Das Telos des Verfahrens ist daher die Realisierung der verfassungsbzw. konventionsrechtlich gebotenen Entschädigung. Das Instrument ist damit pri­ mär kompensatorischer Natur und dient dem Rechtschutz pro praeterito.12 Unter­ 5

Vgl. § 97b Abs. 2 S. 1, dazu Kap. 5 B. 2. Vgl. Kap. 4 A. III. 1. 7 Lediglich nach Erschöpfung dieses Rechtsweges ist subsidiär das BVerfG zu Kontrolle im Wege der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG berufen. 8 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 4; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 19; Ma­ ciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 18; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 4. 9 BT-Drucks. 17/3802, 26. Näheres hierzu und zur Frage der Rechtsfortbildung Kap. 4 A. V. 1. 10 S. hierzu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 217 f.; E. Klein, ebenda, Rn. 331. 11 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 5; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 2; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 3. 12 Vgl. für die Parallelregelung (§ 198 Abs. 5 GVG) BT-Drucks. 17/3802, 22. 6

182

Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

geordnet lässt sich der Verzögerungsbeschwerde zudem eine gewisse präventive Funktion zuschreiben:13 Bereits die Existenz des Instruments kann die Verfas­ sungsrichter anhalten, die Verfahren generell beschleunigt zu behandeln. Zudem kann in Fällen, in denen bereits eine Verzögerungsrüge erhoben wurde, die nun nicht allzu fernliegende Möglichkeit einer tatsächlichen Kompensationszahlung zu einer Beschleunigung führen. Insbesondere dadurch, dass die Verzögerungsbe­ schwerde bereits während des laufenden Verfahrens erhoben werden kann. Dieser Effekt kann sich einerseits verstärken, wenn man bedenkt, dass das BVerfG eine Entschädigung aus eigenen Haushaltsmitteln zu begleichen hat,14 anderseits sind hierdurch auch Hemmungen denkbar.15

II. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts „To whom should litigants turn either to have proceedings expedited or to secure compensa­ tion for loss resulting from a violation of Article 6 § 1 where the violation has been committed by the highest court in the land?“16

Die sachliche Zuständigkeit des BVerfG für die Entscheidung über die Verzö­ gerungsbeschwerde ergibt sich unmittelbar aus § 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG („zum Bundesverfassungsgericht“) sowie aus § 13 Nr. 15 BVerfGG.17 Der Gesetzgeber hat sich auf Anraten des Verfassungsgerichts18 für diese bundesverfassungsge­ richtsinterne Rechtsschutzlösung entschieden und sah von einer Zuständigkeit des Berliner Kammergerichts19 oder des Bundesgerichtshofes20 ab.21 Mit Blick auf die Stellung des Verfassungsgerichts hätte eine Entscheidung durch ein Fachgericht nicht nur systemfremd angemutet,22 sondern wäre hinsichtlich der fehlenden In­ 13

Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 16; ebenda, Anlage 4, 41. Zwar haftet grundsätzlich der Rechtsträger, d. h. der Bund (vgl. BVerfG [Beschwerde­ kammer], Beschluss v. 20. 08. 2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Tenor zu 3. [= NJW 2015, 3361, allerdings ohne Abdruck des Tenors]; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 22; Schmaltz, in: Barczak [Hrsg.], BVerfGG, § 97a, Rn. 20), allerdings wird die Zah­ lung aus den Mitteln des BVerfG bestritten (s. zu dieser Praxis Kap. 5 B. I. 5., für eine Direkt­ haftung des BVerfG auch Lechner / Zuck, BVerfGG, § 97a, Rn. 82; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 10 f.; zum Haushalt des BVerfG E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 123). 15 S. zum Problem des Richters in eigener Sache, Kap. 5 B. I. 5. 16 EGMR, Kudła v. Poland, Teilweise abweichende Meinung des Richters Casadevall, No. 30210/96, Rn. 8. 17 Die Ermächtigung dieser einfachgesetzlichen Zuweisung findet sich Art. 93 Abs. 3 GG, MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 1; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 3. 18 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2 f. (unveröffentlicht), s. hierzu Kap. 2 B. III. 1. 19 Als Gerichtsstand des Bundes. 20 In Anlehnung an § 201 Abs. 1 S. 2 GVG. 21 BT-Drucks. 17/3802, 27. 22 A. A. Stellungnahme des Vizepräsidenten des AG Lübeck Carsten Löbbert vom 16. 03. 2011, 4. 14

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

183

nenkenntnis bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wenig zielführend gewesen.23 Die funktionelle Zuständigkeit liegt bei der eigens zur Bearbeitung von Verzöge­ rungsbeschwerden neu eingerichteten Beschwerdekammer (§ 97c Abs. 1 BVerfGG). Für das BVerfG als „Zwillingsgericht“24 ist diese Art der Kammer in doppelter Hinsicht ein Novum25: Einerseits durch die Besetzung mit zwei Richtern je Se­ nat durch das Plenum. Durch diese senatsübergreifende, paritätische Besetzung werden Hierarchien zwischen den Senaten und damit verbundene gerichtsinterne Akzeptanzprobleme vermieden.26 Anderseits besteht erstmalig ein Spruchkörper, welcher gerichtsintern Verfahrensfehler des BVerfG aufarbeiten und korrigieren kann. Bisher gab es grundsätzlich weder durch das Plenum, die Senate noch durch die Kammern eine derartige Überprüfungsmöglichkeit.27 Aufgrund der paritätischen Besetzung mit je zwei Richtern pro Senat und der Wahl dieser Richter durch das Plenum lässt sich die Beschwerdekammer als eine Art „Unterausschuss des Plenums“28 bezeichnen. Die hieran geäußerte Kritik, wonach leidglich die in § 3 GO-BVerfGG genannten Ausschüsse als Unteraus­ schüsse des Plenums im eigentlichen Sinne zu begreifen seien,29 ist prima vista nachvollziehbar, greift aber bei funktionaler Betrachtung zu kurz. Denn die Be­ schwerdekammer erfüllt mit ihrer senatsübergreifenden paritätischen Besetzung gerade die Aufgabe gerichtsinterne Harmonie und Akzeptanz zu stiften, ähnlich wie es der Fall ist, wenn etwa das gesamte Plenum über eine Divergenzfrage (§ 16 BVerfGG) oder die Amtsenthebung eines Verfassungsrichters (§ 105 BVerfGG) zu entscheiden hat. Die Tatsache, dass die Entscheidung über die Verzögerungsbe­ schwerde auf vier Richter delegiert wurde und nicht vom ganzen Plenum erfolgt, findet ihren Hintergrund darin, dass der Verzögerungsbeschwerde gegenüber den zuvor genannten Fällen eine geringere Relevanz zukommt und daher mit ihrer Bearbeitung nicht disproportional viele Kapazitäten gebunden werden sollen.30

23 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2 f. (unveröffentlicht); BT-Drucks. 17/ 3802, 27. 24 MSKB / Hömig, BVerfGG, § 2, Rn. 4 m. w. N. 25 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 188. 26 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 3 (unveröffentlicht); BT-Drucks. 17/3802, 27. 27 St. Rspr. BVerfGE 1, 89; 7, 17; 18, 440; 19, 88; BeckOK, BVerfGG / B. Grünewald, § 2, Rn.  8; MSKB / Hömig, BVerfGG, § 2, Rn. 4; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 580, 655; s. zu den engen Ausnahmen Kap. 4 A. I. 1. 28 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Rn. 173 und nunmehr von einer „Kammer des Plenums“ sprechend, ders., in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 188; zustimmend MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97c, Rn. 2; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97c, Rn. 2. 29 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97c, Rn. 2; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97c, Rn. 2. 30 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 3 (unveröffentlicht).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

III. Statthaftes Ausgangsverfahren Aufgrund der Akzessorietät muss ein statthaftes Ausgangsverfahren beim BVerfG anhängig sein, damit eine Verzögerungsbeschwerde erhoben werden kann. Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang mit § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG, der von einem Verfahren vor dem BVerfG spricht. 1. Alle Verfahrensarten als statthaftes Ausgangsverfahren? Mit Blick auf den konventionsrechtlichen Hintergrund der Verzögerungsbe­ schwerde stellt sich die Frage, ob gewisse – genuin staatsrechtliche – Verfahrens­ arten31 von vornherein aus dem Anwendungsbereich der §§ 97a ff. BVerfGG he­ rausfallen. Ausgehend vom Wortlaut der §§ 97a ff. BVerfGG wird keine Begrenzung auf bestimmte Ausgangsverfahrensarten vorgenommen. Stattdessen spricht die offene Formulierung in § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG dafür, dass jegliche Verfahren Gegen­ stand einer Verzögerungsbeschwerde sein können. Eine Einschränkung durch eine restriktive Auslegung des Begriffes des „Verfahrensbeteiligten“ (§ 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG) in Anlehnung an § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG, der staatliche Akteure weitgehend von der parallelen Verzögerungsklage ausschließt, kann nicht über­ zeugen.32 Bereits die Inanspruchnahme der §§ 198 ff. GVG zur Lückenfüllung er­ scheint zweifelhaft, da der Gesetzgeber klar zum Ausdruck bringt, dass es sich bei den §§ 97a ff. BVerfGG um eine abschließende, spezialgesetzliche Regelung für das BVerfG handelt.33 Ebenso sprechen die Gesetzessystematik sowie die Historie gegen den Aus­ schluss bestimmter Verfahrensarten. Die Verzögerungsbeschwerde ist als eigen­ ständiger IV. Teil des BVerfGG hinter den einzelnen verfassungsgerichtlichen Verfahren des III. Teils angesiedelt und damit „hinter die Klammer“ gezogen wor­ den.34 Dies spricht dafür, dass ausnahmslos alle zuvor im BVerfGG genannten Ver­ fahrensarten adressiert werden. Die Intention des Gesetzgeber bei der Auswahl der statthaften Verfahrensarten ist zwar nicht gänzlich ersichtlich,35 allerdings dürfte er mit der offenen Formulierung des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG stillschweigend dem Vorschlag des Plenums des BVerfG36 gefolgt sein, wonach keinerlei Beschrän­ 31

Vgl. zur Frage, welche Verfahrensarten unter Art. 6 Abs. 1 EMRK Kap. 3 A. I. 2. c). So aber Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563 f.). 33 BT-Drucks. 17/3802, 26. 34 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1352; Schmidt, in: FS Klein, 485 (490). 35 Anhaltspunkte liefern lediglich BT-Drucks. 17/3802, 17 sowie § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfG, die zumindest nicht nur die verfassungsprozessrechtlichen Verfahrensbeteiligten, sondern auch die Beteiligten in einem zur Herbeiführung einer Entscheidung des BVerfG ausgesetzten Ver­ fahren als Anspruchsberechtigte nennen. 36 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 6 f. (unveröffentlicht). 32

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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kung auf bestimmte Verfahrensarten vorgenommen werden solle. Eine etwaige Reduzierung auf straf- und zivilrechtliche Streitigkeiten i. S. d. Konvention könnte zu Unsicherheiten führen und das BVerfG in die konfliktträchtige Lage bringen, über Reichweite und Inhalt von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbindlich entscheiden zu müssen.37 Unabhängig davon, dass – wie gezeigt38 – eine Identifikation der nach der Straßburger Judikatur einschlägigen Verfahrensarten durch den Gesetzgeber (oder durch das BVerfG) per se möglich gewesen wäre, dürfte der Gesetzgeber mit seinen konkludenten Ausführungen von einer eingeschränkten Lösung Abstand genommen haben und hat stattdessen die Vorgaben des EGMR für einen Rechts­ behelf in überschießender Weise in das nationale Recht überführt.39 Es werden nicht bloß die nach der EMRK gebotenen Verfahren adressiert, sondern be­ wusst unterschiedslos alle verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten erfasst, un­ abhängig davon von welchem Spruchkörper des BVerfG – Plenum, Senat, Kam­ mer – die Sache behandelt wird.40 Somit können prinzipiell auch Verfahren, an denen keinerlei Grundrechtsträger beteiligt sind,  – wie Organstreitverfahren oder abstrakte Normenkontrollen  – der Ausgangspunkt einer Verzögerungsbe­ schwerde sein.41 2. Die Verzögerungsbeschwerde: Nur ein Annex zum Ausgangsverfahren oder ein eigenständiges Verfahren? Nicht nur von akademischem Interesse ist die Überlegung, ob die Verzögerungs­ beschwerde ein bloßer Annex zum Ausgangsverfahren ist oder ein eigenständiges Verfahren darstellt. So wird die Frage in der Praxis virulent, wenn es um die Er­ forderlichkeit eines gesondert begründeten Ablehnungsgesuch gegen einen Richter geht (vgl. § 19 Abs. 2 S. 1 BVerfGG).42 37

Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 6 f. (unveröffentlicht). Dieses Prob­ lem könnte sich zukünftig mit einer Ratifikation des 16. ZP zur EMRK erledigen, welches eine Art Vorlageverfahren eröffnet, vgl. https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/ conventions/rms/0900001680084832, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 38 S. Kap. 3 A. I. 2. c). 39 So auch O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1351; HK-BVerfGG /  Lenz / Hansel, § 97a, Rn. 6; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 17; Maciejewski, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  20. 40 Dafür auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 17; ebenda, § 97b, Rn. 11; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1351, 1354; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 27 ff.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 21; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 9–12; BeckOK, BVerfGG / v. UngernSternberg, § 97a, Rn. 7; Zuck, NVwZ 2012, 265, (266). Mit Blick auf BVerfG (Beschwerde­ kammer) NVwZ 2013, 1479 zurückhaltender HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 6. A. A. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563 f.). 41 Einschränkungen finden sich allerdings verfassungsprozessual in der Beschwerdebefug­ nis sowie materiell-rechtlich auf der Rechtsfolgenseite, s. Kap. 4 A. VI. und B. III. 2. c). 42 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 10–14.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Die eingangs genannte Akzessorietät der Verzögerungsbeschwerde führt nicht dazu, dass der Rechtsbehelf einen bloßen Annex43 darstellt. Zwar wird ein kombi­ niertes Aktenzeichen genutzt, bestehend aus dem Aktenzeichen des Ausgangsver­ fahrens und dem Zusatz „Vz“.44 Indes zeigt sich hieran lediglich die Verbindung von Verzögerungsbeschwerde und Ausgangsverfahren. Zudem zeichnet sich die Eigenständigkeit der Verfahrensart anhand der besonderen prozessrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen aus, die nicht bloß dem Ausgangsverfahren entspringen. Dies ist sachgerecht, da über verschiedene Verfahrensgegenstände verhandelt wird.45 Ebenso wird die Verzögerungsbeschwerde nicht von demselben Spruchkörper beschieden, sondern durch eine spezialisierte Beschwerdekammer geprüft.46 Letztlich kann lediglich eine Verzögerungsbeschwerde als eigenstän­ dige Verfahrensart Gegenstand einer weiteren Verzögerungsbeschwerde sein, wo­ mit im Zweifelsfall eine Eigenkontrolle über die Effektivität des Entschädigungs­ verfahrens nach Maßgabe EGMR-Rechtsprechung47 eröffnet werden könnte.48 Dieser Befund zur Eigenständigkeit lässt sich mit der Rechtsprechung der Be­ schwerdekammer bestätigten, in der eine prozessrechtliche Einheit oder eine An­ nexeigenschaft verneint wird.49

IV. Beschwerdegegenstand Gegenstand der Beschwerde ist gemäß der Legaldefinition des § 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG die Entscheidung über die Entschädigung und Wiedergutmachung einer unangemessenen Verfahrensdauer vor dem BVerfG.50 In der Sache ist so­ mit über den Tatbestand und die Rechtsfolgen des Entschädigungs- und Wieder­ gutmachungsanspruches aus § 97a BVerfGG zu entscheiden.51 Im Unterschied 43

So aber HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 3; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 4. 44 Z. B. Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077. 45 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 13. 46 Für eine eigenständige Verfahrensart MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 4; wohl auch O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1352. In diesem Sinne auch BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 9 (unveröffentlicht): „Die Regelungen über die Verzöge­ rungsbeschwerde als neue (akzessorische) Verfahrensart [Herv. d. Verf.] sollen ausschließlich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und ergänzend in der Geschäftsordnung enthalten sein.“ 47 Insb. muss das Entschädigungsverfahren selbst in angemessener Zeit beschieden werden, vgl. oben. 48 Vgl. Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 19. 49 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 13. 50 Vorherige Verzögerungen in der Fachgerichtsbarkeit sind mittels der §§ 198 ff. GVG ab­ gedeckt. 51 BT-Drucks. 17/3802, 27; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 11; HK-BVerfGG / L enz /  Hansel, § 97b, Rn. 4; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 2; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 3; BeckOK, BVerfGG / v. UngernSternberg, § 97b, Rn. 2.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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zur Regelung des § 198 GVG ist nicht die gesamte Verfahrensdauer, d. h. in­ klusive der ggf. zuvor durchlaufenden Instanzen, Gegenstand der Beschwerde, sondern isoliert die Angemessenheit der Dauer des verfassungsgerichtlichen Ver­ fahrens.52

V. Beschwerdeberechtigte Die Frage, wer zur Erhebung der Verzögerungsbeschwerde berechtigt ist, regelt § 97b BVerfGG nicht selbst. Allerdings ergibt sich aus dem Zusammenhang mit § 97a BVerfGG, dass jeder mögliche Inhaber des Entschädigungs- oder Wieder­ gutmachungsanspruches zur Beschwerde berechtigt ist.53 Als Anspruchsinhaber kommt grundsätzlich jede natürliche oder juristische Person in Betracht.54 Kon­ kret sind dies die in § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG genannten Verfahrensbeteiligten (Alt. 1) sowie die Beteiligten in einem zur Herbeiführung einer Entscheidung des BVerfG ausgesetzten fachgerichtlichen Verfahren (Aussetzungsverfahrensbetei­ ligte55, Alt. 2). Damit werden die Verfahrensbeteiligten im engeren sowie im weiteren Sinne adressiert und gleichgestellt.56 Erstere sind die unmittelbar am verfassungsge­ richtlichen Verfahren  – ggf. erst nach einem Beitritt  – Beteiligten57 i. S. d. des BVerfGG;58 während den Verfahrensbeteiligten i. w. S. (Aussetzungsverfahrens­ beteiligte)  lediglich Äußerungsrechte zustehen (vgl. § 82 Abs. 3 BVerfGG), an­ sonsten nach der jeweiligen Prozessordnung nur Beteiligte des zur Vorlage aus­ gesetzten fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens sind. Dass die Einbeziehung der Vorlageverfahren nach Art. 100 GG, §§ 80 ff. sowie Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG konventionsrechtlich geboten war, zeigt die Judikatur des EGMR59 sowie die obigen Ausführungen60. Andere Personen, die am verfassungsgerichtlichen Verfahren teilnehmen (z. B. Sachverständige, sachkundige Dritte oder Zeugen)61 52

O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1359; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 4. 53 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver­ fahren, § 97b BVerfGG, Rn. 2. 54 BT-Drucks. 17/3802, 26. 55 In Anlehnung an „Aussetzungsbeteiligte“, HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 14; Zuck, NVwZ 2012, 265 (267). 56 Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1355. 57 Die Stellung als Beteiligter richtet sich nach der jeweiligen Verfahrensart und damit nach den jeweiligen Bestimmungen des III. Teils des BVerfGG, dazu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 231–233. 58 O. Klein, in: Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1355; Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 59 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51, 53; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46, 48; vgl. auch Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35. 60 S. Kap. 3 A. I. 2. c). 61 Vgl. §§ 27a, 28 BVerfGG.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

sind im Umkehrschluss zu § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG grundsätzlich nicht be­ schwerdeberechtigt.62 1. Äußerungsberechtigte i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG als Beschwerdeberechtigte? Problematisch erweist sich der Umgang mit Personen, die Begünstigte einer fachgerichtlichen Entscheidung sind, die von der Gegenseite zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht wurde, weshalb die Begünstigten gemäß § 94 Abs. 3 BVerfGG vor dem Verfassungsgericht als Äußerungsberechtigte auf­ treten können. Im Lichte einer mit Art. 6 Abs. 1 EMRK konformen Auslegung sowie der ver­ gleichbaren Lage gegenüben den Aussetzungsverfahrensbeteiligten (§ 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BVerfGG) wird eine Erstreckung der Beschwerdeberechtigung auf die Äußerungsberechtigten (§ 94 Abs. 3 BVerfGG) für geboten gehalten.63 Andere Teile der Literatur lehnen solch eine erweiternde Auslegung zugunsten der Äuße­ rungsberechtigten generell ab.64 Methodisch ist eine Ausdehnung auf die Äußerungsberechtigten i. S. v. § 94 Abs. 3 BVerfGG im Wege einer Analogie denkbar, da sich entsprechend der Unter­ scheidung von Verfahrensbeteiligten und Äußerungsberechtigten nach der inneren Systematik des BVerfGG65 letztere weder unter die Begrifflichkeit des Verfah­ rensbeteiligten noch des Aussetzungsverfahrensbeteiligten i. S. d. § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfG unmittelbar subsumieren lassen. Weitere Voraussetzungen einer Analogie sind eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes66 (planwidrige Regelungs­ lücke) sowie eine von der immanenten Teleologie des Gesetzes geforderte Gleich­ behandlung des Gleichartigen67 (vergleichbare Interessenslage).

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MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 19; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungspro­ zessrecht, Rn. 1355; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 25; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 16; Schmidt, in: FS Klein, 485 (490 f.); BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 8; Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 63 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 13 f.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger /  Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 26; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 17; BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 10. 64 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 19 „kein Bedürfnis“; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1355; Lechner / Zuck, BVerfGG, § 97a, Rn. 41; Ott, in: SteinbeißWinkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97a BVerfGG, Rn. 14; Schmidt, in: FS Klein, 485 (490 f.); Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 65 Dazu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 231 ff., 234 ff. 66 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 194 ff. 67 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 195 ff.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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a) Planwidrige Regelungslücke Der Gesetzgeber verfolgte mit der Schaffung der §§ 97a ff. BVerfGG das Ziel, einen vollständig konventionskonformen Zustand herzustellen, um die Bundesre­ publik Deutschland vor weiteren Verurteilungen durch den EGMR68 zu bewahren. Das eigentliche Prinzip des ÜGRG (ratio legis), in dessen Rahmen die §§ 97a ff. BVerfGG implementiert wurden, ist damit das Bestreben der Schließung von be­ stehenden Rechtsschutzlücken, die weder vom Grundgesetz noch von der EMRK hingenommen werden konnten.69 Der gesetzgeberische Plan ist damit u. a. eine lückenlose Erfassung der Fälle, die nach Maßgabe des EGMR unter Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK fallen können.70 Insofern ist zu überprüfen, ob der Äußerungsberechtigte den Schutz der EMRK im verfassungsgerichtlichen Verfahren beanspruchen könnte. Nach Maßgabe der etablierten Deumeland-Formel71 reicht es hierzu aus, dass die verfassungsgericht­ liche Entscheidung den Ausgang des verfahrensgegenständlichen Anspruches be­ einflussen kann. Im Fall des Äußerungsberechtigten kann aufgrund der von der anderen Partei erhobenen Verfassungsbeschwerde eine Verschlechterung seiner zi­ vilrechtlichen Position i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgen, etwa wenn das BVerfG dem Beschwerdeführer recht gibt und die Sache an das Ausgangsgericht zurück­ verweist. Im Übrigen bestimmt der EGMR die Opfereigenschaft autonom unter Heranziehung des Kriteriums der direkten Betroffenheit durch die angegriffene Maßnahme72 und betont hierbei seine weder starre, mechanische noch unflexible Auslegungspraxis.73 Infolgedessen fordert der EGMR keine unmittelbare Beteili­ gung am verfassungsgerichtlichen Verfahren i. S. d. nationalen Verfahrensrechts, 68 Vgl. insbesondere EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01; Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06, dazu oben. 69 Das gesamte Gesetzgebungsverfahren ist durch die Judikatur des EGMR entscheidend geprägt, vgl. etwa BT-Drucks. 17/3802, 1, 15; ebenda, Anlage, 4, 40 ff.; 17/7217, 1, 27 f.; BRDrucks. 540/1/10, 1 f.; Entschließung des Deutschen Bundestages: „Vor diesem Hintergrund geht der Deutsche Bundestag davon aus, dass der staatshaftungsrechtliche Entschädigungs­ anspruch im Falle unangemessener Verfahrensdauer  – auch unter Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention – eine sachgerechte Ausgestaltung [Herv. d. Verf.] erfahren hat.“, BT-Prot. 17130, 15348 D (abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3); zu diesem Re­ gelungszweck auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 3–13; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1350; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 3–6; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 1–18; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 2–6; BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 1–5 sowie Kap. 2 B. 70 Der Zweck, die Verhinderung weiter Verurteilungen durch den EGMR, manifestiert sich sichtbar in der Übergangsvorschrift des § 97e BVerfGG, die auch Altfälle erfasst, vgl. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97e, Rn. 4; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97e, Rn. 1. 71 EGMR, Deumeland v. Germany, Urteil v. 29. 05. 1986, No. 9384/81, Rn. 77. 72 Harris / O’Boyle / Bates / Buckley (Hrsg.), ECHR, 87; Schabas, ECHR, 737 f. jeweils m. w. N. 73 EGMR, Karner v. Austria, Urteil v. 24. 07. 2003, No. 40016/98, Rn. 25; Micallef v. Malta, Urteil v. 15. 10. 2019, No. 17056/06, Rn. 45; vgl. auch Gorraiz Lizarraga et. al. v. Spain, Urteil v. 27. 04. 2004, No. 62543/00, Rn. 38.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

sondern lässt etwa die Beteiligung an einem zur Vorlage ausgesetzten Verfahren für die Annahme einer möglichen Konventionsverletzung vollkommen ausrei­ chen.74 Mit Blick auf die möglichen Folgen einer erfolgreichen Verfassungsbe­ schwerde für den ursprünglich begünstigten Beteiligten des Ausgangsverfahren sowie seine – wenn auch nur begrenzte – Teilnahme als Äußerungsberechtigter im Verfassungsbeschwerdeverfahren erscheint es überzeugend, ihm einen Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit (Art. 6 Abs. 1 EMRK) sowie zur Durch­ setzung dieses Anspruches einen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) zuzusprechen.75 Somit lässt sich in der fehlenden Beschwerdeberechtigung des Äußerungsbe­ rechtigten (§ 94 Abs. 3 BVerfGG) in den §§ 97a ff. BVerfGG eine Unvollständigkeit ausmachen, die der eigentlichen ratio legis widerspricht. b) Vergleichbare Interessenslage Mit der Identifizierung dieser offenen Gesetzeslücke ist zu überlegen, ob und wie diese im Wege einer Analogie geschlossen werden kann.76 Hierbei ist zu ver­ gleichen, ob der geregelte Tatbestand und der vom Gesetz nicht geregelte ähnliche Tatbestand unter Rückbesinnung auf die ratio legis als gleich zu bewerten sind. Insofern müssen die Tatbestände in der für die rechtliche Bewertung maßgebenden Hinsicht übereinstimmen, das heißt auf den ähnlichen, aber ungeregelten Sach­ verhalt müsste ebenfalls das Prinzip des Gesetzes zutreffen, ohne dass ein Grund vorliegt von diesem Prinzip eine Ausnahme zu machen.77 Die Identität der jeweiligen Tatbestände speist sich einerseits aus der gleichen Adressierung durch die Konvention, anderseits aus dem Vergleich zum Ausset­ zungsverfahrensbeteiligten (§ 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BVerfGG). Unter Einbeziehung der ratio legis, die Bundesrepublik vor weiteren Verurteilungen seitens Straßburg abzuschirmen, erscheint es nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber die beiden von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK erfassten Tatbestände, den Verfahrensbeteiligten in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren sowie den Äußerungsberechtigten nach § 94 Abs. 3 BVerfGG, die Beschwerdeberechtigung eingeräumt hätte, wenn er sich des Problems bewusst gewesen wäre.78 Es macht insofern keinen Unter­ schied, ob die Bundesrepublik wegen des einen oder des anderen Verstoßes gegen die Konvention verurteilt werden würde. 74

Vgl. EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 51, 53; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 46, 48; vgl. auch Ruiz-Mateos v. Spain, Urteil v. 23. 07. 1993, No. 12952/87, Rn. 35. Ferner Nölkenbockhoff v. Germany, Urteil v. 25. 08. 1987, No. 10300/83, Rn. 32 f.; Demkanjuk v. Germany, Urteil v. 24. 01. 2019, No. 24247/15, Rn. 22. 75 So auch Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 17. 76 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 202 ff. 77 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 202 f. 78 Daher für eine „konventionskonforme Auslegung“ BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Stern­ berg, § 97a, Rn. 10.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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Einen triftigen Grund, den Äußerungsberechtigten von der Verzögerungsbe­ schwerde auszuschließen, ist nicht ersichtlich. Die Tatsache, dass dieser bisher nicht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EGMR war, bedeutet nicht, dass sich dies in Zukunft nicht ändern könnte. Im Gegenteil kann die Schaffung des neuen Rechtsbehelfs unter Herausnahme des Äußerungsberechtigten gerade die Aufmerk­ samkeit für die eigene prozessuale Stellung und der Problematik der Verfahrens­ dauer schärfen, ohne dass ein unmittelbar anwendbarer Rechtsbehelf zur Abhilfe bereitsteht. Es bliebe für den Äußerungsberechtigten letztlich nur der unmittelbare Gang nach Straßburg. Im Übrigen indiziert die bisher fehlende Judikatur, dass der Gesetzgeber die Problematik um den Äußerungsberechtigten übersehen hat. Auch die fehlende Beteiligteneigenschafft i. S. d. BVerfGG rechtfertigt eine ausnahmsweise Schlechterstellung des Äußerungsberechtigten nicht, denn der ebenfalls nichtbeteiligte Aussetzungsverfahrensbeteiligte ist gemäß § 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BVerfGG und aufgrund der Straßburger Judikatur zur Beschwerde be­ rechtigt. Die Ausgangspositionen beider Sachverhalte sind dabei derart ähnlich, dass eine Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen wäre. Während der Ausset­ zungsverfahrensbeteiligte beschwerdeberechtigt ist, obwohl er möglicherweise nichts zur Verfahrensaussetzung und Vorlage zum BVerfG beigetragen bzw. gar hiergegen argumentiert hat, wäre der nach § 94 Abs. 3 BVerfGG Äußerungsbe­ rechtigte von der Verzögerungsbeschwerde ausgeschlossen, obwohl er bereits eine rechtskräftige Entscheidung in den Händen hält und seine zivilrechtlichen Rechte i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK mindestens genauso, wenn nicht sogar stärker betrof­ fen sind.79 Spätestens mit der Zustellung der Verfassungsbeschwerde an den be­ günstigten Äußerungsberechtigte ist dieser wieder einer tatsächlichen Unsicherheit über die Rechtslage bis zur endgültigen Entscheidung des BVerfG ausgesetzt,80 gleichwohl er eine verfassungsgerichtliche Überprüfung im Wege einer Verfas­ sungsbeschwerde nie initiiert hat. In diesen Fällen muss der Äußerungsberechtigte erst recht ein Berechtigter einer Verzögerungsbeschwerde sein können. c) Zwischenergebnis Um diese Ungleichbehandlung zu beseitigen, ist eine analoge Anwendung von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG zugunsten des Äußerungsberechtigten i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG geboten, sofern diesem die Verfassungsbeschwerde zugestellt wurde.81 79

Vgl. HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 13 f.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollin­ ger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 26; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 17. 80 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 13; zustimmend Maciejewski, in: Burkiczak / Dol­ linger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 26; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 17. 81 Ohne ausdrücklich von einer Analogie zusprechen im Ergebnis auch HK-BVerfGG / L enz /  Hansel, § 97a, Rn. 13; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 26; für eine „erweiternde Auslegung“ Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG,

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

2. Die Stellung von staatlichen Verfahrensbeteiligten (insb. Verfassungsorganen) als Beschwerdeberechtigte Ein weiteres Problemfeld eröffnet die Begrifflichkeit des Verfahrensbeteiligten (§ 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BVerfGG), da sie ausgehend von ihrem weiten Wortlaut undifferenziert nichtstaatliche und staatliche Beteiligte des verfassungsgericht­ lichen Verfahrens gleichermaßen erfasst. Insofern adressiert der § 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 – wie sogleich gezeigt wird82 – bewusst alle Verfahrensbeteiligten im Sinne des BVerfGG.83 Da einerseits auf der Ebene des statthaften Ausgangsverfahrens vom Gesetzgeber keine Verengung auf bestimmte Verfahrensarten vorgenommen wurde, andererseits eine Einbeziehung von staatlichen Verfahrensbeteiligten we­ der konventions- noch verfassungsrechtlich geboten84 ist, mag man sich zunächst die Frage nach einer konventions- oder verfassungskonformen Auslegung stellen. Allerdings fehlt es bereits hierfür an der erforderlichen Grundlage, da es dem Gesetzgeber anheim steht, über die konventions- und verfassungsrechtlichen Ge­ währleistungen hinauszugehen, so dass von keinem verfassungs- oder konventions­ widrigen Gesetz ausgegangen werden kann, dessen Erhaltung es bedürfte.85 Eine Einschränkung der Beschwerdeberechtigung könnte daher allenfalls im Wege der Rechtsfortbildung gefunden werden. a) Analoge Anwendung von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG? So wird im Schrifttum86 eine Analogie zu § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG vorgeschla­ gen, welcher staatliche Beteiligte grundsätzlich vom fachgerichtlichen Entschä­ digungsverfahren ausschließt, es sei denn, sie nehmen im streitgegenständlichen Verfahren ein Selbstverwaltungsrecht wahr.87 Hintergrund dieser Regelung ist der Rechtsgedanke, dass dem Staat kein Entschädigungsanspruch gegen sich selber zustehen soll.88 Ob diese Analogie von der überwiegenden Ansicht89 zu Recht zu­ rückgewiesen wird, bedarf einer näheren Betrachtung.

§ 97a, Rn. 17. Ähnlich BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a. A. A. MSKB / Ha­ ratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 19; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1355; Schmidt, in: FS Klein, 485 (490 f.); Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 82 S. hierzu die folgende historisch-genetische Auslegung in Kap. 4 A. V. 2. a). 83 Vgl. O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1355, s. auch eingangs Kap. 3 A. V. 84 Vgl. Kap. 3 A. I. 2. a) und c). 85 Vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 11, Rn. 30 ff., § 12, Rn. 126 ff. 86 Schmidt, in: FS Klein, 485 (491–493); in diese Richtung auch Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563 f.); Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 4. 87 S. zur Regelung des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295 f.). 88 BT-Drucks. 17/3802, 23; BR-Drucks. 540/1/10, 9 f. 89 Ausdrücklich gegen eine Analogie MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 21; ebenda, § 97b, Rn. 10; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a,

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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Entsprechend der obigen Ausführungen ist eine planwidrige Regelungslücke er­ forderlich. Betrachtet man das Telos von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG so scheint prima vista solch eine Lücke vorzuliegen. Denn das Prinzip, wonach der Staat keinen pekuniären Anspruch gegen sich selbst haben soll, so dass es zu einer schlichten Verschiebung von Haushaltsmittel kommt, kann an sich auch bei der Verzöge­ rungsbeschwerde vor dem BVerfG zum Tragen kommen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass an einer Vielzahl von Verfahren ausschließlich staatliche Beteiligte beteiligt sind. Als Argument ließe sich zudem eine immanente Beschränkung des ÜGRG auf das von der Konvention und vom EGMR gebotene Maß heranziehen,90 worauf im Gesetzgebungsverfahren91 tatsächlich gelegentlich hingewiesen wurde. Da Verfassungsorgane und andere staatliche Stellen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der EMRK fallen, wäre eine Beschwerdeberechtigung im Rahmen der Verzögerungsbeschwerde nicht geboten.92 Einen indifferenten Hinweis bietet die Gesetzesbegründung93, welche in die­ sem Zusammenhang von einem parallel zu § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ausgestalteten Entschädigungsanspruch einer „natürlichen oder juristischen Person“ gegen den Staat spricht.94 Indes bleibt offen, ob nicht auch juristische Personen des öffent­ lichen Rechts oder deren (teil-)rechtsfähigen95 (Verfassungs-)Organe gemeint sein könnten. Schließlich ist zu bedenken, dass, obwohl der Leitgedanke des ÜGRG die Schlie­ ßung von grundgesetz- und konventionswidrigen Rechtsschutzlücken war, der Ge­ setzgeber sich für die §§ 97a ff. BVerfGG nicht nur auf das konventionsrechtlich gebotene Maß beschränkte, sondern mit den spezielleren Regelungen96 eine „über­ schießende“ Umsetzung97 anstrebte.98 Die §§ 97a ff. BVerfGG werden vom Gesetz­ Rn. 27–29; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 18; BeckOK, BVerfGG /  v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 9. In diese Richtung auch BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480); O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1356; HKBVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 12; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechts­ schutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97a BVerfGG, Rn. 15. Für einen verfahrensbezoge­ nen Ansatz, mit dem i. E. eine Analogie ebenso verneint wird Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 37, Fn. 67; Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 90 Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563 f.); Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 4; Schmidt, in: FS Klein, 485 (492). 91 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, Anhang 4, 43; 17/7217, 28; BR-Drucks. 540/1/10, 17. 92 So Schmidt, in: FS Klein, 485 (491–493), der sogleich in Anlehnung an § 198 Abs. 6 Nr. 2 Hs. 2 eine Rückausnahme zugunsten von Selbstverwaltungskörperschaften, Parteien und anderen juristische Personen des öffentlichen Rechts, die sich ausnahmsweise auf ma­ terielle Grundrechte berufen können, schafft. Hierfür auch Barczak, AöR 138 (2013), 536 (564 f.). 93 BT-Drucks. 17/3802, 26. 94 Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 4. 95 Vgl. Friauf, AöR 88 (1963), 257 (297 ff.). 96 BT-Drucks. 17/3802, 26. 97 S. hierzu bereits Kap. 4 A. III. 1. 98 Dies verkennen Barczak, AöR 138 (2013), 536 (564) und Schmidt, in: FS Klein, 485 (492).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

geber ausdrücklich als Sonderregelung99 betrachtet,100 weshalb die Normen selbst keinen schlichten Verweis auf die §§ 198 ff. GVG enthalten sowie die Gesetzge­ bungsmaterialien nur partiell auf die entsprechenden Begründungen verweisen und Unterschiede gegenüber den §§ 198 ff. GVG betonen.101 Hieraus lässt sich schlie­ ßen, dass der Gesetzgeber beide Regelungskomplexe voneinander getrennt wissen wollte, weshalb es widersprüchlich erscheint, das innere System der §§ 198 ff. GVG ohne Weiteres auf prozessualer Ebene auf die §§ 97a ff. BVerfGG zu übertragen. Im Übrigen kann von einer planwidrigen Unvollständigkeit kaum die Rede sein, wenn man sich vor Augen führt, dass sowohl die §§ 198 ff. GVG als auch die §§ 97a ff. BVerfGG uno actu mit dem ÜGRG eingeführt wurden.102 Zwar schließt die Simultanität nicht per se eine planwidrige Regelungslücke aus, vor allem da der Fokus der Diskussionen auf den geplanten Vorschriften des GVG lag.103 Aller­ dings ist zu bedenken, dass die §§ 198 ff. GVG betreffenden Änderungsvorschläge des Bundesrates auf die §§ 97a ff. BVerfGG übertragen wurden,104 während die zeitgleiche Anpassung des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG keinerlei Niederschlag in den §§ 97a ff. BVerfGG fand.105 Dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber von einer Voll­ ständigkeit der jeweiligen Regelungskomplexe ausging. Der Gesetzgeber unterschied insofern bewusst zwischen den ähnlichen Sach­ verhalten, so dass von einer Planwidrigkeit der Regelungslücke nicht ausgegan­ gen werden kann. Eine analoge Anwendung des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG scheidet somit aus. b) Teleologische Reduktion von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG? Betrachtet man diesen Befund im Rahmen einer teleologischen Reduktion, so kann schwerlich eine verdeckte Lücke vorhanden sein, die es zu schließen gilt. Unter einer verdeckte Lücke versteht man, dass entsprechend des Wortsinnes der Regelung ein Sachverhalt erfasst wird, der gemäß der immanenten Teleologie des Gesetzes nicht erfasst werden sollte, so dass die Vorschrift einer Einschränkung be­ 99

BT-Drucks. 17/3802, 1, 17; 17/7217, 1; vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 9 (unveröffentlicht). 100 So auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 21; O.  Klein, in: Benda / K lein, Ver­ fassungsprozessrecht, Rn. 1356; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 28; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 18; die Sonder­ stellung übersehen Barczak, AöR 138 (2013), 536 (563), Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 4. 101 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 26 f. 102 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 28; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 18. 103 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 16, 18–26; BR-Drucks. 540/1/10; 1–12; BT-Druck. 17/3802, Anlage 4, 40–42; BT-Drucks. 17/7217, 27 f. sowie zum Gesetzgebungsverfahren Kap. 2 B. 104 BT-Drucks. 17/7217, 8 f., 28. 105 Vgl. BT-Drucks. 17/7217, 7, 28.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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darf, die im Gesetzestext nicht enthalten ist (teleologische Reduktion).106 Im Wege der teleologischen Reduktion soll Gerechtigkeit hergestellt werden, indem Un­ gleiches ungleich behandelt werden soll.107 Solch eine vermeintlich erforderliche Differenzierung würde allerdings dem Regelungskonzept des §§ 97a ff. BVerfGG widersprechen. Denn ausweislich der Konzeption der §§ 97a ff. BVerfGG sollen alle verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten gleichsam erfasst und keine prozes­ sualen Ungleichheiten geschaffen werden.108 Mit der Übernahme dieser Anregung des BVerfG zeigt der Gesetzgeber seinen Widerwillen, Ungleiches – zumindest prozessrechtlich – ungleich zu behandeln, so dass eine teleologische Reduktion von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG ausscheidet. c) Zwischenergebnis Es kommt weder eine analoge Anwendung von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG noch eine teleologische Reduktion von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG in Betracht, um staat­ liche Verfahrensbeteiligte von der Beschwerdeberechtigung auszuschließen. Nach Maßgabe einer teleologischen und historischen Auslegung sind staatliche Betei­ ligte eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens berechtigt eine Verzögerungsbe­ schwerde zu erheben. Sofern man dies für eine rechtspolitische Fehlentscheidung hält, muss der Gesetzgeber korrigierend eingreifen.109 Der Befund deckst sich mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammer des BVerfG, welche die Beschwerdeberechtigung von staatlichen Beteiligten be­ jaht, allerdings ohne das Problem auf der Ebene der Beschwerdeberichtigung zu diskutieren.110 3. Ergebnis zum Beschwerdeberechtigten Unter dem Begriff des Beschwerdeberechtigten lassen sich alle potenziellen An­ spruchsinhaber i. S. v. § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG fassen. Für die erste Alternative des Verfahrensbeteiligten fallen hierunter die Beschwerdeführer einer Verfassungs­ beschwerde111, Antragsteller und Antragsgegner in kontradiktorischen Verfahren112 106

Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 210 f. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 211. 108 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 6 f. (unveröffentlicht), s. dazu Kap. 2 B. III. 1. 109 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1356. So in Hamburg geschehen, § 65a Abs. 1 S. 2 Hmb. LVerfGG; vgl. LTag-Drucks. 20/9559, 7 sowie Kap. 6 B. 110 Stattdessen wird ein besonderes Augenmerk auf die Beschwerdebefugnis gerichtet, vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480), s. dazu Kap. 4 A. VI. 111 Dies umfasst sowohl die Individual- als auch die Kommunalverfassungsbeschwerde. 112 Gemeint sind das Organstreitverfahren, der Bund-Länder-Streit, die Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, § 13 Nr. 8 BVerfGG und Art. 99 GG, § 13 Nr. 10 BVerfGG sowie die organ­ streitähnlichen Verfahren nach §§ 18 Abs. 3 Hs. 1, 19, 23 Abs. 2 Hs. 2 PUAG und § 14 PKGrG. 107

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

sowie in Verfassungsschutzverfahren113, die Beschwerdeberechtigten einer Wahl­ prüfungsbeschwerde114 und in ähnlichen Verfahren115 sowie die Antragsberechtig­ ten einer abstrakte Normenkontrolle116. Die zweite Alternative des Aussetzungsverfahrensbeteiligten umfasst die nach der jeweiligen Prozessordnung Beteiligten des ausgesetzten Ausgangrecht­ streit in folgenden verfassungsgerichtlichen Verfahren: konkretes Normenkont­ rollverfahren, völkerrechtliches Normverifikationsverfahren, Divergenzvorlage (Art. 100 GG); konkretes Normqualifizierungsverfahren (Art. 126 GG). Analog gilt die Vorschrift für den Äußerungsberechtigten i. S. v. § 94 Abs. 3 BVerfGG, sofern diesem die Verfassungsbeschwerde zugestellt wurde. Im Übri­ gen ist eine Beschränkung der Vorschriften über die Beschwerdeberechtigung – in Anlehnung an § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG – zuungunsten von staatlichen Verfahrens­ beteiligten abzulehnen, da dies dem Regelungskonzept des Gesetzgebers wider­ sprechen würde.

VI. Beschwerdebefugnis Trotz der fehlenden Erwähnung in § 97a und § 97b BVerfGG ist das Erfordernis einer Beschwerdebefugnis breit anerkannt.117 Zur Zulässigkeit der Verzögerungs­ beschwerde muss es zumindest möglich sein, dass der Beschwerdeberechtigte in­ folge der unangemessenen Verfahrensdauer vor dem BVerfG einen materiellen oder immateriellen Nachteil erlitten hat. 1. Das Erfordernis der individuellen Betroffenheit Ein kompensationspflichtiger Nachteil soll nach der Rechtsprechung der Be­ schwerdekammer allerdings nur dann vorliegen, wenn sich die unangemessene Verfahrensdauer auf die individuelle Stellung eines Beteiligten auswirken kann 113

Dies sind das Parteiverbotsverfahren, das Parteienfinanzierungsausschlussverfahren, das Verfahren über die Grundrechtsverwirkung sowie die Präsidenten- und Richteranklage. 114 § 48 Abs. 1 BVerfGG, vgl. MSKB / Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 48, Rn. 28. 115 Verfahren zur Überprüfung der Wahlen zum Europäischen Parlament (Beschwerde­ berechtigte nach § 26 Abs. 3 EuWG) sowie der Abstimmungen über die Neugliederung des Bundesgebietes (Beschwerdeberechtigte nach § 14 Abs. 3 Volksentscheidgesetz [G Artikel 29 Abs. 6]); Nichtanerkennungsbeschwerde (Beschwerdeberechtigte nach § 96a BVerfGG). 116 Dies gilt ebenfalls für die Antragsberechtigten von Kompetenzkontrollverfahren, Kom­ petenzfreigabeverfahren und abstrakten Normqualifizierungsverfahren. 117 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 12; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungspro­ zessrecht, Rn. 1357; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 31; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 14; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 6; BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97a, Rn. 2; vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480); HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 12.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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(individuelle Betroffenheit).118 Diese Auslegung der Beschwerdebefugnis speist die Beschwerdekammer aus der ratio legis des ÜGRG, wonach der Gesetzgeber, die Herstellung eines grundgesetz- und konventionskonformen Schutzniveaus zuguns­ ten des Einzelnen anstrebte. Indes relativiert die Beschwerdekammer den Rück­ griff auf diesen Gesetzeszweck, indem sie das Fallbeispiel des Abgeordneten im Organstreit gegenüber dem Bundestag nennt,119 welcher sich aber offensichtlich weder auf die deutschen Grund- noch die Konventionsrechte berufen könnte. Eine Gleichsetzung von individueller Betroffenheit und grund- bzw. menschenrecht­ licher Betroffenheit strebt die Beschwerdekammer somit (wohl) nicht an. Dies ent­ spräche der oben gezeigten Intention der überschießenden Umsetzung der EGMRVorgaben. Allerdings bleibt offen, was genau unter der individuellen Betroffenheit, insbesondere bei der Beteiligung von staatlichen Akteuren, zu verstehen ist. Einige wenige Anhaltspunkte liefert der Beschluss der Beschwerdekammer, in­ dem das eben genannte Beispiel des Abgeordneten angeführt wird sowie die Aus­ sage, dass bei erledigten Sachverhalten, deren Klärung vorrangig im allgemeinen Interesse liegt, ein Nachteil lediglich unter besonderen Voraussetzungen infrage kommt.120 Hieraus lässt sich zumindest ableiten, dass als Antonym zur individu­ ellen (subjektiven) Betroffenheit das allgemeine (objektive) Interesse gelten soll. Zur näheren Differenzierung zwischen der subjektiven Betroffenheit und einem bloß objektiven Interesse wird im Folgenden der typische Grad der tatsächlichen Betroffenheit von Grund- und Menschenrechten, von grundrechtsähnlichen Rech­ ten, von politischen Mitwirkungsrechten sowie darüber hinaus von sonstigen sub­ jektiv öffentlichen bzw. eigenen organschaftlichen Rechten betrachtet.121 Als zu­ sätzliche Anhaltspunkte fungieren der Charakter des Verfahrens sowie die Frage nach der Beschwerdebefugnis im Ausgangsverfahrens. Kann anhand dieses Maßstabs eine subjektive Betroffenheit bejaht werden, muss sich die überlange Verfahrensdauer auf die ermittelte individualisierbare Rechtsposition auswirken können, d. h. aufgrund der Verfahrensdauer muss ein pekuniärer oder nicht-pekuniärer Nachteil möglich sein. Letzterer kann sich in staatsrechtlichen Verfahren etwa in Form von seelischer Unbill für den einzel­ nen Organwalter oder in der obstruktiven Wirkung des anhängigen Rechtsstreits für die Kompetenzausübung des staatlichen Verfahrensbeteiligten realisieren.122 118

BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480); vgl. dazu MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 7, 12; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 12; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 6. 119 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 120 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 121 O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1357, Fn. 34 schlägt eine ent­ sprechende Prüfung des Betroffenheitstrias (§ 90 BVerfGG) vor. Dies mag zwar für die indivi­ dualschützende Verfassungsbeschwerde sinnvoll erscheinen. Gleichwohl erreicht das Konzept bei genuin staatsrechtlichen Streitigkeiten schnell seine Grenzen. 122 Für ein ähnliches Prüfungskonzept: Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 24.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Da diese Fragen des Auswirkens der Verfahrensdauer auf die Verfahrensbetei­ ligten hochgradig einzelfallabhängig sind, kann sich dem Feld zumindest genähert werden, indem geprüft wird, in welchen Verfahrensarten typischerweise eine in­ dividualisierbare Rechtsposition vorliegen kann, die infolge einer übermäßigen Verfahrensdauer belastet sein könnte. 2. Individuelle Betroffenheit in den einzelnen Verfahrensarten Ein Fall individueller Betroffenheit par excellence ist die Individualverfassungs­ beschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), bei der es dem Beschwerdeführer um die Durchsetzung von Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten und damit um Individualschutz geht.123 Dieser individualschützende Charakter zeigt sich nicht nur an den in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bzw. § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rech­ ten, sondern ebenso in den Zulässigkeitsvoraussetzungen der eigenen, gegenwärti­ gen und unmittelbaren Betroffenheit. Der Beschwerdeführer124 wird daher regel­ mäßig in rechtlicher sowie in tatsächlicher Hinsicht in seinen eigenen Grund- und Menschenrechten individuell betroffen sein. Demgegenüber ist die Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) ein Instrument zur Verteidigung der Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG), welche weder ein Grund- oder Menschenrecht noch ein grundrechts­ gleiches Recht darstellt, sondern eine institutionelle Garantie. Die Kommunal­ verfassungsbeschwerde dient allerdings – über eine objektive Sicherung der ins­ titutionellen und kompetenziellen Ordnung hinaus – dem Schutz des aus Art. 28 Abs. 2 GG fließenden subjektiven Rechts der Gemeinde auf Selbstverwaltung.125 Dies spiegelt sich insbesondere in der Geltend zumachenden Beschwerdebefugnis der Gemeinde wider.126 Insofern kann bei der Kommunalverfassungsbeschwerde eine individuelle Betroffenheit der Gemeinde, trotz ihr Staatszugehörigkeit und dem teils objektiven Verfahrenscharakter, auszumachen sein. Dass die an sich objektivrechtlichen Vorlageverfahren nach Art. 100 GG bzw. Art. 126 GG127 Gegenstand einer Verzögerungsbeschwerde sein können ergibt 123

Vgl. O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 452. Mutatis mutandis gilt dies ebenso für den Äußerungsberechtigten i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG. 125 MSKB / Bethge, BVerfGG, § 91, Rn. 14–16 m. w. N.; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfas­ sungsprozessrecht, Rn. 664, 668 f. 126 Vgl. MSKB / Bethge, BVerfGG, § 91, Rn. 42–46; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 678–681. 127 Gemeint sind die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG), das völkerrechtliche Verifikationsverfahren (Art. 100 Abs. 2 GG), die Divergenzvorlage (Art. 100 Abs. 3 GG) sowie das konkrete Normqualifizierungsverfahren (Art. 126, § 86 Abs. 2 BVerfGG). Sinngemäß gel­ tend die Ausführungen für das Vorlageverfahren nach Art. 93 Abs. 3 GG, § 36 Abs. 2 PUAG, § 13 Nr. 11a BVerfGG, bei dem die Rechtsmäßigkeit eines Beschlusses über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Verfahrensgegenstand ist (vgl. O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn.1340–1349). Diese Vorlagefrage betrifft untrennbar die organ­ 124

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sich bereits aus der expliziten Erwähnung des Aussetzungsverfahrensbeteiligten in § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG als Beschwerde- und Anspruchsberechtigten. Eine Aussortierung durch eine zu strenge Handhabung der individuellen Betroffenheit würde dementsprechend der gesetzgeberischen Intention zuwiderlaufen. Legt man das Kriterium der tatsächlichen Grundrechts- bzw. Menschenrechtsbetroffenheit an, so konnte bereits gezeigt werden,128 dass diese in den verschiedenen Arten von Vorlageverfahren einer vergleichbaren Betroffenheitslage ausgesetzt sind wie bei einem Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dies spricht für eine regelmäßige Beja­ hung der individuellen Betroffenheit der Aussetzungsverfahrensbeteiligten. Die Losgelöstheit von einem konkreten Rechtsstreit und damit die fehlende Beteiligung eines Individuums definiert den Unterschied zwischen den an sich objektivrechtlichen Verfahrensarten der konkreten und der abstrakten Normen­ kontrolle.129 Letztere sind als objektive Verfahren unabhängig von subjektiven Berechtigungen und dienen dem Schutz der Verfassung und nicht dem Schutz der Antragsberechtigen.130 Die Antragsteller machen hierbei keinen „Anspruch“ gel­ tend, sondern haben mit ihrer privilegierten Antragsberechtigung die Möglichkeit, den Hüter der Verfassung zu aktivieren und dem Grundgesetz mutmaßlich wider­ sprechende Rechtsnormen einer Überprüfung zuzuführen. Aufgrund dieser aus­ schließlich objektiven Konzeption wird für die Antragsberechtigten der abstrak­ ten Normenkontrolle131 keinerlei individuelle Betroffenheit auszumachen sein.132 Von dieser rein objektiven Konzeption unterscheiden sich die kontradiktori­ schen Verfahren. So dient etwa die Initiierung eines Organstreitverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG)133 nicht der Überprüfung der objektiven Rechtmäßigkeit von jeg­ lichem Organhandeln, sondern der Klärung von konkreten verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Organen bzw. Organteilen, so dass die vom Grundgesetz verliehenen, eigenen Rechte und Pflichten der Beteiligten geschützt werden. Inso­ fern die eigenen, organschaftlichen Rechte der Verfahrensbeteiligten i. S. d. § 64 Abs. 1 BVerfGG zumindest möglicherweise verletzt oder unmittelbar gefährdet sind, spricht dies prinzipiell für eine individuelle Betroffenheit.134 Organstreitver­ schaftlichen Rechte des Untersuchungsausschusses, so dass eine individuelle Betroffenheit regelmäßig im Raume stehen wird. 128 Vgl. Kap. 3 A. I. 2. c) bb) und II. 1. c) dd) (2). 129 Vgl. MSKB / Rozek, BVerfGG, § 76, Rn. 4. 130 BVerfGE 1, 396 (407 f.). 131 Entsprechendes gilt für das abstrakte Normqualifizierungsverfahren (Art. 126 GG, § 86 Abs. 1 BVerfGG) sowie das Kompetenzkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG). 132 So auch Schmidt, in: FS Klein, 485 (492). 133 Die Ausführungen gelten entsprechend für die organstreitähnlichen Verfahren nach §§ 18 Abs. 3 Hs. 1, 19, 23 Abs. 2 Hs. 2 PUAG und § 14 PKGrG. 134 Vgl. das Beispiel der Beschwerdekammer, BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480) sowie den zugrundeliegenden Fall selbst, bei dem Delegierte der NPD die Ver­ letzung ihrer Rechte bei der Wahl des Bundespräsidenten in der 13. und 14. Bundesversamm­ lung im Wege von Organstreitverfahren – erfolglos (vgl. BVerfGE 136, 277) – rügten. Für MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 12 eine regelmäßige Verneinung der Beschwerdebe­ fugnis bei Streitigkeiten von Verfassungsorganen um Kompetenzabgrenzungen.

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fahren, in denen die beanstandende Maßnahme bzw. das Unterlassen bereits erle­ digt ist, sind hiervon nicht per se ausgeschlossen, da eine individuelle Betroffenheit vorliegen kann, sofern die abgeschlossene Handlung Nachwirkungen hervorbringt oder eine Wiederholungsgefahr besteht.135 Bei einem Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) sowie bei anderen kontradiktorischen föderativen Streitverfahren136 besteht an sich weniger ein indi­ vidueller Bezug zum jeweiligen Organwalter als etwa beim Organstreitverfahren. Stattdessen beziehen sich diese Verfahrensarten auf eine Abgrenzung der Kompe­ tenzen zwischen den Entitäten. Gleichwohl werden – wie beim Organstreitverfah­ ren – eigene subjektive Rechte137 verteidigt, so dass eine individuelle Betroffenheit der prozessierenden Beteiligten nicht gänzlich ausgeschlossen ist.138 Demgegen­ über verblasst beim hybriden Verfahren der Kompetenzfreigabe (Art. 93 Abs. 2 S. 1 GG) der Anknüpfungspunkt der eigenen Rechte derart stark, dass von einer individuellen Betroffenheit nicht mehr ausgegangen werden kann. Für die Verfassungsschutzverfahren wird man typischerweise von einer in­ dividuellen Betroffenheit jedenfalls auf Antragsgegnerseite ausgehen müssen. Das Parteiverbots- sowie das Parteienfinanzierungsausschlussverfahren (Art. 21 Abs. 2, 3 GG) treffen die betroffene Partei in ihrer privilegierten Stellung aus Art. 21 Abs. 1 GG; zugleich werden damit ihre politischen Mitwirkungs- und Teilhaberechte belastet, so dass eine individuelle Betroffenheit regelmäßig vor­ liegt. Noch klarer ist die individuelle Betroffenheit im Verfahren über die Grund­ rechtsverwirkung (Art. 18 GG) zu bejahen. Hier wird der (mutmaßliche) Verfas­ sungsfeind im Einzelnen adressiert und sieht sich mit der Folge, dem Verlust der in Art. 18 S. 1 GG genannten Grundrechten, konfrontiert. Die Absetzung des Bundespräsidenten im Wege der Präsidentenanklage (Art. 61  GG) ist zwar primär Ausdruck einer demokratisch-republikanischen Kontrolle des Staatsoberhauptes. Indes wird mit dem Verfahren der Status als Bundespräsident – und damit verbunden seine organschaftlichen Rechte und Pflichten – bedroht so­ wie die Person mit dem potentiellen Makel der schuldhaften Grundgesetz- oder Gesetzesverletzung (vgl. § 56 Abs. 1 BVerfGG) belastet. Das Verfahren trifft inso­ fern den Organwalter als solchen, so dass eine individuelle Betroffenheit wie bei den übrigen Verfassungsschutzverfahren vorliegt. Dasselbe gilt für die Richter­ anklage (Art. 98 Abs. 2, 5 GG), bei welcher sich der betroffene Richter einer An­ klage wegen Verletzung der Grundsätze des Grundgesetzes ausgesetzt sieht. Die Konzentration auf die Einzelperson sowie der gleichermaßen bestehende Eingriff in Art. 12 GG sprechen bei der Richteranklage für eine individuelle Betroffenheit. 135 (Wohl) strenger Beschwerdekammer, BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 136 Gemeint sind die Verfahren des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG. 137 Vgl. MSKB / Bethge, BVerfGG, § 69, Rn. 14–16. 138 Kritisch in Fällen der Kompetenzabgrenzung MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 12, s. dazu Fn. 134.

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Aufgrund der gestiegenen subjektiv-rechtlichen Bedeutung139 der Wahlprüfungs­ beschwerde (Art. 41 Abs. 2 GG) wird regelmäßig von einer individuellen Betroffen­ heit auszugehen sein.140 Mit dem erhöhten Schutz des aktiven und passiven Wahl­ rechts141 wird ein individueller Bezug zum einzelnen Wählenden bzw. Gewählten gewährleistet. Sinngemäß gilt dies für die vergleichbaren Verfahrensarten.142 Sollte ein Antrag auf eine einstweilige Anordnung oder in atypischen Fällen143 eine Verzögerungsbeschwerde selbst Gegenstand einer Verzögerungsbeschwerde sein, so bemisst sich die individuelle Betroffenheit quasi-akzessorisch nach der Betroffenheit im Ausgangsverfahren. Denn nur wenn im Hauptverfahren bzw. in der vorherigen Verzögerungsbeschwerde eine individuelle Betroffenheit über­ haupt möglich erschien, kann diese in einem nachgeschalteten zweiten Verfahren anzunehmen sein. 3. Erleichterte Darlegung der Beschwerdebefugnis nach § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG auch für staatliche Verfahrensbeteiligte? Bei individualschützenden Verfahren wie der Verfassungsbeschwerde oder der konkreten Normenkontrolle erleichtert die Beweislastumkehr des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG zugunsten des Betroffenen die Darlegung eines möglichen immateriel­ len Nachteils und damit auch der Beschwerdebefugnis. Es stellt sich die Frage, ob diese Vermutungsregelung gleichermaßen für staatliche Akteure wirkt, sofern – entsprechend dem eben Ausgeführten – eine individuelle Betroffenheit nicht von der Hand gewiesen werden kann. Hintergrund der Beweislastumkehr des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG ist die Ju­ dikatur des EGMR, wonach eine strenge, aber widerlegbare Vermutung besteht, dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer zu immateriellen Schäden führt.144 Diese vom Gesetzgeber übernommene Linie führt zu einer besonders engen Ver­ 139

S. BVerfGE 151, 1 (14 f.) sowie Kap. 3 A. I. 2. c) hh) (1). Die Beschwerdekammer hat die Beschwerdebefugnis bei Verzögerungsbeschwerden, die einer Wahlprüfungsbeschwerde zugrundlagen, nicht moniert, vgl. BVerfG (Beschwerdekam­ mer), Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732. I. Ü. wurde sie wegen unzureichender Begründung (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG) als unzulässig verworfen: BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 01. 06. 2016, 2 BvC 69/14 – Vz 2/16; Beschluss v. 30. 08. 2016, 2 BvC 70/14 – Vz 3/16; Beschluss v. 10. 11. 2016, 2 BvC 68/14 – Vz 9/16 (allesamt unveröffentlicht). 141 Vgl. § 48 Abs. 3 BVerfGG, hierzu Lechner / Z uck, BVerfGG, Vor § 48, Rn. 6 f. 142 Verfahren nach § 96a ff. BVerfGG (Nichtanerkennungsbeschwerde), nach § 26 Abs. 3 EuWG (Überprüfungsverfahren der Wahl des Europäischen Parlaments) sowie nach § 14 Abs. 3 Volksentscheidgesetz (Überprüfungsverfahren von Abstimmungen über die Neugliederung des Bundesgebietes). 143 Dass der Fall eher hypothetischer Natur ist, wurde in Kap. 3 A. I. 2. c) hh) bereits behandelt. 144 EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66; vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 33, Rn. 25; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 19. 140

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knüpfung145 der Vermutungsregelung mit dem Individualschutz, der das eigentliche Konzept der überschießenden Umsetzung und der prozessrechtlichen Gleichbe­ handlung146 perforiert. Diese materiell-rechtliche Wertung erlaubt eine teleologi­ sche Reduktion der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG dahingehend, dass staatliche Verfahrensbeteiligte – sofern sie nicht ausnahmsweise als Grundrechtsträger auftreten – materielle sowie immaterielle Nachteile, die auf­ grund einer Beeinträchtigung ihrer Rechte und Interessen infolge der Länge der Verfahrensdauer entstehen, aktiv darzulegen haben. Ansonsten dürfte die Verzö­ gerungsbeschwerde Gefahr laufen als nicht hinreichend substantiiert gem. § 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG verworfen zu werden.147 In den zuvor genannten Verfahren, bei denen zwar prinzipiell eine individuelle Betroffenheit vorstellbar ist, hilft die Vermutungsregelung den staatlichen Beteiligten nicht weiter. 4. Zwischenergebnis Auf der Ebene der Zulässigkeitsvoraussetzungen nimmt die Beschwerdebefug­ nis eine besondere Rolle bei der Auswahl der zulässigen Verfahren ein. Der Be­ schwerdeberechtigte hat nicht nur darzulegen, dass er möglicherweise infolge der unangemessenen Verfahrensdauer einen Nachteil erlitten hat, sondern darüber hinaus aufzuzeigen, dass sich die unangemessene Verfahrensdauer auf seine indi­ viduelle Stellung ausgewirkt hat. Über dieses Merkmal der individuellen Betroffen­ heit können gewisse Verfahren von der Verzögerungsbeschwerde ausgeschlossen werden. Dies gilt namentlich für die abstrakte Normenkontrolle, die lediglich eine objektiv-rechtliche Dimension aufweist. Für die übrigen Verfahrensarten variiert die typische individuelle Betroffenheit u. a. nach der tatsächlicher Betroffenheit von Grund- und Menschenrechten oder sonstigen subjektiv öffentlichen bzw. eige­ nen organschaftlichen Rechten. In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass die Vermutungsregelung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG grundsätzlich nicht zugunsten von staatlichen Verfahrensbeteiligten wirkt, so dass sie ihre Beschwer­ debefugnis nicht erleichtert darlegen können.

VII. Ordnungsgemäße Verzögerungsrüge Zur Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde muss gemäß § 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG grundsätzlich eine ordnungsgemäße Verzögerungsrüge erhoben wor­ den sein, mit welcher der Betroffene die Verfahrensdauer beim BVerfG gerügt 145

Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 19, 26 f.; ebenda, Anlage 4, 40 f.; 17/7217, 23; BR-Drucks. 540/ 1/10, 6; insb. die Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), ab­ gedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3. 146 Vgl. Kap. 4 A. III. 1. 147 Im Ergebnis wie hier BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480); ähnlich auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 70 f.

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hat. Nach Maßgabe der Übergangsvorschrift konnte von der Verzögerungsrüge abgesehen werden, wenn es sich um abgeschlossene Verfahren handelte, deren Verfahrensdauer am 3. 12. 2011 Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR war oder noch werden konnte (§ 97e S. 2 Hs. 1 BVerfGG).148 1. Einordnung der Verzögerungsrüge a) Dogmatische Verortung im Verfassungsprozessrecht Betrachtet man die Verzögerungsrüge im Gefüge des Verfassungsprozessrechts näher, so findet sich hierzu kein äquivalentes Instrument im BVerfGG. Es lassen sich lediglich aufgrund des angestrebten Zwecks der Selbstkorrektur gewisse Pa­ rallelen zum Widerspruch gegen eine einstweilige Anordnung (§ 32 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) oder zur Gegenvorstellung ziehen. Allerdings sind deren Statthaftig­ keit auf besondere Ausnahmefälle begrenzt und im Falle der Gegenvorstellung nicht kodifiziert.149 Aufgrund dieser Sonderstellung ist zunächst zu fragen, ob es sich bei der Ver­ zögerungsrüge überhaupt um einen Rechtsbehelf handelt, der ein Vor- oder Neben­ verfahren150 eröffnet. Im Gesetz findet sich hierzu lediglich der Hinweis, dass die Verzögerungsrüge – anders als bei § 198 GVG151 – eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Verzögerungsbeschwerde ist.152 Dem BVerfG wird damit eine möglichst un­ aufwendige Bearbeitung der Verzögerungsbeschwerde eröffnet, indem es letztere bei fehlender oder fehlerhafter Verzögerungsrüge als schlichtweg unzulässig ver­ werfen kann.153 Zur weiteren Verortung der Verzögerungsrüge hat man sich zunächst den Be­ griff des Rechtsbehelfs zu vergegenwärtigen, der „ein verfahrensrechtliches Mittel 148 Mit dem Verstreichen der Drei-Monatsfrist (§ 97e S. 2 Hs. 2 BVerfGG) ist diese Über­ gangsregelung mittlerweile gegenstandslos. 149 Die Möglichkeit zur Gegenvorstellung wurde vom BVerfG meistens offengelassen, BVerfG (Kammer) NJW 2008, 1582; NJW 2016, 3230; stattgegeben in BVerfGK 19, 148, hierzu kritisch Lechner / Zuck, BVerfGG, § 90, Rn. 147p; vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG; § 93a, Rn. 46; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 656; Schenke, in: Burkiczak /  Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 93d, Rn. 11 jeweils m. w. N. 150 Für die Einordnung als „Vorverfahren“ Barczak, AöR 138 (2013), 536 (558); O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1360; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollin­ ger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 4; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b, Rn. 5 „stark entformalisierte Art von Vorverfahren“; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 7; Schmidt, in: FS Klein, 485 (496, 503). 151 Dort stellt die ordnungsgemäß erhobene Verzögerungsrüge ein Tatbestandsmerkmal des Entschädigungsanspruches dar, BT-Drucks. 17/3802, 20, 27. Kritisch Schmidt, in: FS Klein, 485 (496 f.). 152 BT-Drucks. 17/3802, 27. 153 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 27.

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zur Verwirklichung eines Rechts“154 darstellt. Dies trifft für die Verzögerungs­ rüge insofern zu, als dass mit ihr das Recht auf eine angemessene Verfahrens­ dauer durchgesetzt werden soll, indem das BVerfG als Antwort auf eine Rüge die erforderlichen Beschleunigungsmaßnahmen auf den Weg bringen soll. Dass dieses Ergebnis gegenüber dem Betroffenen nicht unbedingt förmlich beschieden oder anderweitig angezeigt werden muss155, lässt die Verzögerungsrüge indes als atypisch erscheinen. Ebenso atypisch leitet die Verzögerungsrüge kein zusätz­ liches (Vor-)Verfahren ein. Denn gerade die nach Maßgabe des § 97b Abs. 1 S. 5 BVerfGG fehlende Notwendigkeit einer Entscheidung über die Rüge verdeutlicht, dass man schwerlich von einem Verfahren i. S. e. Bewältigung einer Aufgabe oder eines Vorhabens durch eine gerichtlichen Entscheidung über eine Rechtsstreitig­ keit156 sprechen kann. Stattdessen kann die Rüge nur faktische, interne Beschleuni­ gungsbestrebungen auslösen, muss dies allerdings nicht.157 Die Verzögerungsrüge ist damit eine Prozesshandlung158 in der Gestalt eines atypischen Rechtsbehelfs im Ausgangsverfahren, die final auf die Verfahrensbeschleunigung gerichtet ist und zugleich als Zulässigkeitsvoraussetzung des späteren Verfahrens der Verzö­ gerungsbeschwerde dient.159 b) Zweck Die Verzögerungsrüge gibt dem BVerfG die Möglichkeit, dass Verfahren – so­ weit erforderlich – zu beschleunigen. Ziel ist es, dass die Rüge bereits präventiv einer drohenden unangemessenen Verfahrensdauer entgegenwirkt, indem sie die Verfassungsrichter hiervor warnt (Warnfunktion).160 Dass das BVerfG bereits auf­ grund der Verfassung sowie der EMRK an das Gebot einer angemessenen Ver­ fahrensdauer und damit korrespondierender Prozessförderungspflichten gebunden ist, spricht nicht gegen die Sinnhaftigkeit dieser Zielrichtung,161 da die Binnen- und Außenperspektive auf die Verfahrensdauer auseinanderfallen können.162 Zudem wären andere Rechtsbehelfe im Sinne solch einer Argumentation ebenso obsolet, 154

Köbler, Etymologische Rechtswörterbuch, 328. Vgl. § 97b Abs. 1 S. 5 BVerfGG. 156 Köbler, Etymologische Rechtswörterbuch, 428. 157 Zur Praxis des BVerfG Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 9. 158 So auch Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b, Rn. 6. 159 Ähnlich MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 13 „prozessuale Zulässigkeitsvoraus­ setzung“; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 3, 16, die jedenfalls den Charakter als Zuläs­ sigkeitsvoraussetzung hervorheben. A. A. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (558); Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 16. Die Aussage des Gesetzgebers, wonach die Verzö­ gerungsrüge keinen eigenständigen Rechtsbehelf, sondern eine Obliegenheit darstelle (BTDrucks. 17/3802, 16, 21), bezieht sich auf den § 198 Abs. 3 GVG. 160 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 20. 161 So aber HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 14; teilweise zustimmend Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 4. 162 Ähnlich Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 8. 155

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da der Staat ohnehin an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden ist. Neben der Warnfunktion soll die Verzögerungsrüge verhindern, dass der Be­ troffene die Verfahrensdauer duldet und anschließend  – ohne Geltendmachung einer präventiven Abhilfemöglichkeit – den entstandenen Schaden liquidiert (Miss­ brauchsabwehr).163 Damit kommt in der Verzögerungsrüge der grundsätzliche Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Sekundärrechtsschutz zum Ausdruck. Hinsichtlich dieser beiden Funktionen ist allerdings zu bedenken, dass zumindest eine bereits eingetretene unangemessene Verfahrensdauer mit einer Irreversibilität einhergeht. Die Warnfunktion kann insofern nur pro futuro wirken und lässt den bestehenden Zeitverlust unberührt. Ähnlich problematisch kann die Funktion der Missbrauchsabwehr sein. Denn eine eingriffsbereinigende Kraft kann für die ver­ strichene Zeit aus tatsächlichen Gründen nicht erfolgen, so dass hierfür grundsätz­ lich eine Kompensation angezeigt ist. So kann der Gedanke der Missbrauchsabwehr lediglich dahingehend verengt werden, dass dem Betroffenen in Fällen, in denen er es trotz erkannter Überlänge unterließ, eine weitere unangemessene Verfahrens­ dauer abzuwehren, die Kompensation reduziert und gänzlich versagt werden muss. 2. Statthaftigkeit a) Statthaft in allen Verfahrensarten Die Verzögerungsrüge ist in allen Verfahren statthaft, die Gegenstand einer Ver­ zögerungsbeschwerde sein können. Eine Beschränkung auf lediglich individual­ schützende Verfahren – wie die Verfassungsbeschwerde – lässt sich weder dem Text des § 97b BVerfGG noch dem Geiste der Vorschriften entnehmen.164 Damit kann sie in allen Verfahren, in denen das BVerfG zuständig ist, erhoben werden. Das Verfahren, in dem die Verzögerungsbeschwerde erhoben wird, darf noch nicht abgeschlossen sein, d. h. mit Zustellung oder Verkündung noch nicht in formeller Rechtskraft165 erwachsen sein, oder sich anderweitig erledigt166 haben. Dies mag sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 97b Abs. 1 BVerfGG ergeben. Allerdings sprechen der Sinn und Zweck der Rüge, die Beschleunigung und im besten Fall die Beendigung des Verfahrens, hierfür. Die Verfahrensbeschleuni­ gung und damit die Abwehr von Verletzung des Anspruches auf eine angemes­ sene Verfahrensdauer können nur erreicht werden, wenn das betroffene Verfahren

163

Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 20. Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unveröffentlicht). 165 Hierzu E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1487. 166 S. zur Rücknahme und zum Vergleich E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 351 ff. 164

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noch nicht abgeschlossen ist.167 Ferner hätte es der Übergangsregelung des § 97e S. 2 BVerfGG168, wonach im Zeitpunkt des Inkrafttretens in bereits abgeschlosse­ nen Verfahren die Verzögerungsrüge nicht zu erheben ist, nicht bedurft, wenn sich dies bereits unmittelbar aus § 97b Abs. 1 BVerfGG ergeben würde. Im Gegenteil wollte der Gesetzgeber hiermit verdeutlichen, dass eine Erhebung in abgeschlos­ senen Verfahren dem Telos der Verzögerungsrüge widersprechen würde.169 b) Präklusionswirkung Verpasst es der Betroffene vor der Entscheidung des BVerfG eine Verzögerungs­ rüge zu erheben, so ist er in Hinblick auf die Verzögerungsbeschwerde präkludiert. Es fehlt an der Zulässigkeitsvoraussetzung der ordnungsgemäß erhobenen Ver­ zögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG), so dass die Beschwerdekammer die Beschwerde als unzulässig verwerfen wird und sich nicht inhaltlich hierzu äußern muss. Diese Präklusionswirkung kann zu problematischen Ergebnissen führen, da für den Betroffenen die internen Verfahrensabläufe im BVerfG intransparent sind und insbesondere der Stand des Verfahrens regelmäßig unbekannt ist.170 Es besteht die Gefahr, dass der Betroffene – ohne die Verzögerungsrüge eingelegt zu haben – von einer Entscheidung überrascht wird und ihm die Möglichkeit einer – gar begründeten – Verzögerungsbeschwerde genommen wird. Dem Betroffenen ist daher zu raten, dass mit zunehmenden Abstand zur Wartefrist von zwölf Monaten (§ 97b Abs.1 S. 4 BVerfGG) und bei etwaigen Indizien zur Unangemessenheit – zur Erfüllung des Begründungserfordernisses von § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG – eine Verzögerungsrüge zu erheben, um hinsichtlich eines Entschädigungsanspruches aus § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG nicht präkludiert zu sein.171 In gewissen Maßen ist hiermit die Gefahr verbunden, dass die Verzögerungs­ rüge lediglich zu einer bloßen Förmelei verkommt, die der Betroffene pro forma einlegt, um einen etwaigen Kompensationsanspruch nicht zu verlieren. Auch das Begründungserfordernis bietet keine hinreichende Garantie, um diese Gefahr wirksam einzudämmen, da hierbei der Betroffene ebenso mit dem Problem der Unkenntnis belastet sein wird.

167

MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 20; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 7; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 6. Vgl. auch Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 8, 12; BeckOK, BVerfGG / v. UngernSternberg, § 97b, Rn. 3. 168 Vgl. hierzu die Parallelvorschrift Art. 23 S. 4, 5 ÜGRG. 169 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 28; ferner ebenda, 31. 170 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 8; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 6; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 12 spricht von einer „black box“. 171 So auch Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 12.

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Immerhin kann der befürchteten „Zwickmühle“ eines „Dulde oder Verliere“Szenarios zulasten des Betroffenen entgegengetreten werden.172 So wird gemut­ maßt, dass der Verfahrensbeteiligte in ein Dilemma gerät, indem er einerseits die Verfassungsrichter mit einer Verzögerungsrüge nicht „verärgern“ möchte, ande­ rerseits sich auch nicht in die Gefahr der Präklusion begeben möchte.173 Aller­ dings entbehrt bereits die Annahme, dass die Verfassungsrichter nach Erhebung der Verzögerungsrüge verstimmt sein könnten und sich dies gar inhaltlich auf die Entscheidung auswirken könnte, jeglicher Grundlage174 und ist als Spekulation zurückzuweisen. Den Verfassungsrichtern ist zuzutrauen, dass sie mit den Rege­ lungen des BVerfGG – auch der §§ 97a ff. BVerfGG – bestens vertraut sind und somit um die Abwehr der Präklusionswirkung wissen. c) Statthaftigkeit von „Kettenrügen“? Während in § 198 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 GVG die Wiederholung der Verzögerungs­ rüge nach sechs Monaten bzw. in Ausnahmefällen auch bereits nach kürzerer Frist ausdrücklich ermöglicht wird,175 findet sich in den §§ 97a ff. BVerfGG keinerlei entsprechende Passage. Hintergrund der Regelung im GVG ist, dass der Gesetz­ geber das Bedürfnis erkennt, in gewissen Verfahren mehrfach die Warnfunktion der Verzögerungsrüge zu aktivieren und damit das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer zu sichern. Auf der anderen Seite schützt er mit der Sperrfrist von grundsätzlich sechs Monaten die Gerichte vor in kurzen Abständen erhobe­ nen „Kettenrügen“.176 Es stellt sich damit die Frage, ob das BVerfG gleichsam vor solchen „Kettenrü­ gen“ geschützt ist oder ob Betroffene beliebig oft Verzögerungsrügen erheben kön­ nen. Ausgehend von der fehlenden Regelung in den §§ 97a ff. BVerfGG könnte man darauf schließen, dass eine wiederholte Verzögerungsrüge weder ausgeschlossen noch an Sperrfristen gebunden wäre.177 In diesem Fall würde einzig die Autorität des BVerfG vor „Kettenrügen“ schützen.178 Dann bliebe allerdings offen, ob der Betroffene in gewissen Konstellationen nicht sogar verpflichtet wäre, eine erneute Verzögerungsrüge zu erheben, damit er sich nicht dem Vorwurf des „Dulde und Liquidiere“ ausgesetzt sieht.179 172

HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 15 f. So HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 8. 174 Ebenso Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 8; BeckOK, BVerfGG /  v. Ungern-Sternberg, § 97b, Rn. 4. 175 Hierzu R.-C.  Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 105 ff. 176 BT-Drucks. 17/3802, 21. 177 So Marx / Roderfeld, ÜGRG, §§ 97b BVerfGG, Rn. 11. 178 Marx / Roderfeld, ÜGRG, §§ 97b BVerfGG, Rn. 11. 179 Vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren, § 198 GVG, Rn. 198. 173

208

Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Das BVerfG muss sich jedenfalls nicht einzig auf seine Wertschätzung verlassen, um „Kettenrügen“ zu entgehen. Denn gerade das Fehlen einer ausdrücklichen Be­ fugnis zu einer Wiederholung der Verzögerungsrüge spricht dafür, dass eine wie­ derholte Verzögerungsrüge und erst recht „Kettenrügen“ unstatthaft sind. Denn anders als bei der GVG-Regelung ist die Verzögerungsrüge nach § 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG vom Gesetzgeber bewusst als Zulässigkeitsvoraussetzung ausgestaltet worden, um den geringstmöglichen Arbeitsaufwand für das BVerfG zu sichern.180 Dem Gedanken der möglichst unaufwändigen Bearbeitung entspricht es, dass der Betroffene lediglich einmal eine ordnungsgemäße Verzögerungsrüge erheben kann. Mit Blick auf diese beabsichtigt unterschiedlichen Regelungskonzepte von § 198 Abs. 3 GVG und § 97b Abs. 1 BVerfGG scheidet im Übrigen eine Analogie aus. Zudem ist dem Zweck der Warnfunktion und des Vorrangs des Primärrechts­ schutzes ausreichend Rechnung getragen, da das BVerfG bereits mit der einmaligen Rüge verfahrensbeschleunigende Maßnahmen einleiten kann. Hiervon unberührt bleibt die Möglichkeit des Betroffenen eine erneute Verzögerungsrüge zu erheben, wenn zuvor eine fehlerhafte Verzögerungsrüge181 erhoben wurde. 3. Adressat, Form und Begründung a) Adressat Die Verzögerungsbeschwerde ist „beim Bundesverfassungsgericht“ (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG) zu erheben. Der genaue Adressat ist der Senat bzw. die Kammer, die für das mutmaßlich verzögerte Verfahren zuständig ist. Dies entspricht dem Charakter der Verzögerungsrüge als Rechtsbehelf, der das Verfahren beschleuni­ gen soll. Sofern für den Betroffenen nicht näher ersichtlich ist, wer zuständig ist,182 reicht die Übersendung der Verzögerungsrüge unter Nennung des Aktenzeichens an das BVerfG aus.183 b) Form und Begründung Gemäß § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG ist die Verzögerungsrüge schriftlich und unter Darlegung der Umstände, die die Unangemessenheit begründen, einzule­ gen. Damit unterscheidet sich die Verzögerungsrüge nach dem BVerfGG deutlich

180

Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 27. S. dazu Kap. 4 A. VII. 6. 182 Ggf. kann die Klärung dieser Frage (vgl. § 14 Abs. 5 BVerfGG) gerade der Ursprung der Verzögerung sein, vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363 f.). 183 HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 9; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 7. Ähnlich Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 6. 181

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

209

gegenüber der Rüge nach § 198 Abs. 3 GVG, welche keiner bzw. kaum einer Be­ gründung bedarf und an keine Formvorschrift gebunden ist.184 Das Erfordernis der Schriftform begründet der Gesetzgeber damit, dass fast alle verfassungsgerichtlichen Verfahren schriftlich geführt werden.185 In Anknüp­ fung an diesen Grundsatz der Schriftform gelte der § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG186 entsprechend. c) Schwierigkeiten des Begründungserfordernisses Die Begründungspflicht soll nach der gesetzgeberischen Intention verhindern, dass Verzögerungsrügen formelhaft und routinemäßig eingelegt werden.187 Statt­ dessen soll der Betroffene mit der Begründung dem BVerfG die Umstände anzei­ gen, aus denen sich nach seiner Sicht eine unangemessene Verfahrensdauer begrün­ den lässt.188 Darüber hinausgehende Zulässigkeits- oder Anspruchsvoraussetzungen des § 97a BVerfGG müssen ausweislich des Wortlauts nicht vorgebracht werden.189 Hiermit soll einerseits der Belastung des BVerfG, andererseits dem Charakter als außerordentlicher Rechtsbehelf Rechnung getragen werden, so dass es dem Betroffenen zumutbar sei, zumindest die Verzögerungsumstände darzulegen.190 Während das Schriftformerfordernis keine Bedenken mit sich bringt, sieht dies für die Begründungspflicht anders aus. Es ist das zur Präklusionswirkung Ge­ sagte an dieser Stelle zu wiederholen: Der Verfahrensstand sowie die internen Arbeitsabläufe sind für den Betroffenen oftmals intransparent.191 In mangelnder Kenntnis dieser Umstände ist es für den Betroffenen regelmäßig nicht zumutbar zu dem Angemessenheitskriterium des Verhaltens der Behörden, in diesem Fall des BVerfG, vorzutragen. Ähnliches gilt für die Komplexität des Falles: Zwar sind dem Betroffenen die verfassungsrechtlichen Implikationen seines Falles grund­ sätzlich bekannt. Nichtsdestotrotz kann das BVerfG die Komplexität, ggf. wegen völker- oder europarechtlicher Relevanz, anders bewerten. Dementsprechend ist es für den Betroffenen ebenso schwierig etwas zur besonderen Rolle des BVerfG in Zusammenhang mit seinem Fall vorzutragen. Es dürfte zu erwarten sein, dass der Betroffene bloß auf die besondere Stellung hinweist, ohne einen Einblick in die interne Gewichtung der Verfahren und damit in die Bearbeitungsreihenfolge zu kennen, so dass es bei einem formelhaften Hinweis verbleibt. 184

Vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren, § 198 GVG, Rn. 208 ff, 213. 185 BT-Drucks. 17/3802, 27. 186 Zur Frage, was der Schriftform genügt: BeckOK, BVerfGG / Scheffczyk, § 23, Rn. 6. 187 BT-Drucks. 17/3802, 27. 188 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 13, spricht von einer „Appellfunktion“. 189 So auch Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 9. 190 BT-Drucks. 17/3802, 27. 191 Vgl. Kap. 4 A. VII. 2. b).

210

Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

In Anbetracht dieser beschränkten Innenkenntnisse ist es dem Betroffenen regel­ mäßig nur zumutbar, dass er sich zur Bedeutung der Sache und zu seinem eigenen Verhalten äußert.192 Hinsichtlich des letzteren Aspekts ist allerdings zu bedenken, dass seine prozessualen Einflussmöglichkeiten regelmäßig begrenzt sind. Der Be­ deutung der Sache kommt insofern die maßgebliche Bedeutung bei der Begrün­ dung der Verzögerungsrüge zu. Der Betroffene kann seine bereits im Ausgangs­ verfahren gemachten Gründe zur Bedeutsamkeit wiederholen und hervorheben sowie neu hinzutretende Umstände  – etwa Krankheiten oder veränderte sozioökonomische Lebensumstände – anführen. Zudem kann in Vorlageverfahren der Aussetzungsverfahrensbeteiligte mit Verzögerungsrüge erstmalig die Bedeutung des Falles aus seiner Sicht gegenüber dem Verfassungsgericht kommunizieren.193 Sofern eine der besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen194 einschlägig ist, hat der Betroffene dies zu intonieren.195 Zu beachten ist, dass das Kriterium der Bedeutung der Sache für individual­ schützende Verfahren entwickelt wurde. Nach Maßgabe der überschießenden Um­ setzung lässt sich das Kriterium allerdings mutatis mutandis auch auf die Verfah­ ren anwenden, die nicht vorrangig auf Individualrechtsschutz angelegt sind.196 So kann in staatsorganisationsrechtlichen Verfahren – z. B. im Organstreitverfahren – zumindest die objektive Bedeutung197 der Sache und / oder die Bedeutung der Sache für die individuelle Rechtsposition der staatlichen Verfahrensbeteiligten mittels der Verzögerungsrüge vorgebracht werden.198 Es ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber einer gewissen Fehlvorstellung unter­ lag.199 Aufgrund der undurchsichtigen Verfahrensabläufe vor dem Verfassungsge­ richt wird mit Blick auf die meisten Angemessenheitskriterien oftmals nur eine formelhafte, vom Einzelfall losgelöste Darlegung der Umstände in der Verzöge­ rungsrüge zu erwarten sein, da ansonsten die Anforderungen an die Zumutbarkeit überspannt und damit zugleich die Effektivität der Rüge erheblich in Frage gestellt

192

So auch HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 11 f.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dol­ linger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 10; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 14. 193 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 10. 194 Vgl. Kap. 3 A. I. 3. e). 195 Ebenso Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11–13. 196 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 197 Dazu Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 14. 198 Bei einer ausschließlich objektiven Bedeutung – ohne individuelle Betroffenheit – kann es zu der Situation kommen, dass eine Verzögerungsrüge statthaft wäre, während in Ermange­ lung der Beschwerdebefugnis die Verzögerungsbeschwerde unzulässig wäre; vgl. Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 14 rekurrierend auf BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479. 199 So auch HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 11 f.; Maciejewski, in: Burkiczak / Dol­ linger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 9; vgl. auch Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn.  9; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 17.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

211

würde.200 Lediglich hinsichtlich der Bedeutung der Sache kann eine hinreichende Begründung erwartet werden. 4. Wartefrist a) Die zwölfmonatige Wartefrist Die Verzögerungsrüge kann erst nach Ablauf einer Wartefrist von zwölf Mona­ ten nach Eingang des Verfahrens201 eingelegt werden (§ 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG). Mit dieser gegenüber § 198 Abs. 3 S. 2 GVG absoluten Mindestfrist trägt der Ge­ setzgeber der besonderen Stellung des BVerfG und dessen weiten Spielraum bei der Bearbeitung von Verfahren Rechnung,202 wie sie auch der EGMR203 in ständiger Rechtsprechung anerkannt hat. Auf Grundlage der Statistiken der Jahre 2000 bis 2009, wonach etwa zwei Drittel aller Verfassungsbeschwerden binnen einen Jah­ res beendet wurden,204 macht der Gesetzgeber von seiner Typisierungsbefugnis Gebrauch und erklärt mit der Wartefrist von zwölf Monaten, dass eine hierunter liegende Verfahrensdauer als angemessen anzusehen ist.205 Umgekehrt soll dies aber nicht bedeuten, dass eine darüber hinausgehende Verfahrensdauer ohne Wei­ teres unangemessen wäre.206 Insofern liegt es nach Ansicht des Gesetzgebers fern, dass auch nach Ablauf der zwölf Monate allein aus dem Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge Rückschlüsse auf das tatsächliche Ausmaß einer Verfah­ rensüberlänge gezogen werden können.207

200

Zur Frage der Effektivität Kap. 5 A. Zur Berechnung der Frist MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 19. 202 BT-Drucks. 17/3802, 27; ferner BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unveröf­ fentlicht). 203 S. Kap. 2 A. I. 204 Zu den Daten von 2003–2010, BVerfG Jahresstatistik 2010, 20, https://www.bundes verfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/statistik_2010.pdf?__blob= publicationFile&v=3, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 205 BT-Drucks. 17/3802, 27; BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791); NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 24; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 15; Ma­ ciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn.15; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11. A. A. HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 13. 206 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 25; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16. 207 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 27. 201

212

Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

b) Einschränkung der Wartefrist? Es ist durchaus fraglich, ob nach Ablauf der absoluten Mindestfrist in den beson­ ders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen208 sowie bei Verzögerungsbeschwer­ deverfahren noch eine substantielle Beschleunigung ergehen kann, die in der Lage ist, die Integrität der angemessenen Verfahrensdauer zu schützen.209 Ob die Mög­ lichkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) in solchen Fällen ausreichend Rechtsschutz verschafft, mag zweifelhaft sein.210 Denn der strenge Maßstab der Begründetheitsprüfung211 wird wahrscheinlich dazu füh­ ren, dass nicht in allen Sachen, in denen gemäß der EMRK ein besonderes Beschleu­ nigungsgebot gilt, eine vorläufige Anordnung ergehen wird.212 Ebenso schwierig erscheint die Geltung der Wartefrist im einstweiligen Rechtsschutz selbst. Dem mag man zwar entgegenhalten, dass zumindest aus der Praxis keine unangemes­ sene Verfahrensdauer bekannt sei,213 anderseits existieren (verworfene) Verzöge­ rungsbeschwerden zu Verfahren über den Erlass von einstweiligen Anordnungen.214 Ferner überrascht die starre Wartefrist, da eine Wertung der Angemessenheit anhand von starren Fristen weder vom Grundgesetz noch von der EMRK vor­ gesehen ist, sondern gegenteilig den Wertungen des Einzelfalles unterliegen.215 Aufgrund dieser Kritik stellt sich die Frage nach einer methodischen Ein­ schränkung des § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG. Jedenfalls eine konventions- bzw. verfassungskonforme Auslegung der Norm scheidet von vornherein aus, da ihr Wortlaut eindeutig ist. Gleiches gilt im Ergebnis für eine teleologische Reduktion in den zuvor genannten Fällen. Denn gegen das Vorliegen einer verdeckten Lücke sprechen mehrere Gründe: Erstens hat der Gesetzgeber216 bewusst und unter Ein­ beziehung der Sonderstellung des BVerfG eine rigide Regelung getroffen, während er sich beim parallelen § 198 Abs. 3 S. 2 GVG für eine flexible Lösung entschied. In diesem Sinne traf er planvoll eine Differenzierung zwischen den Rechtsschutz­

208

So auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 16. 209 Zur Frage der Effektivität Kap. 5 B. 210 So aber BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unveröffentlicht). 211 Vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 97b, Rn. 55, 57 ff., 108 ff., 152 ff.; E. Klein, in: Benda /  Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1403 ff.; BeckOK, BVerfGG / Walter, § 32, Rn. 50 ff. 212 Vgl. dazu Kap. 4 D. I. 2. und Kap. 5 A. III. 213 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 18; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11; Zuck, NVwZ 2012, 265 (269); ferner O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozess­ recht, Rn. 15’351, 1354; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 16. Kritisch gegenüber diesem Argument Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 13. 214 S. Anhang. 215 S. dazu oben Kap. 3 A. I. 3. a); so auch Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11. 216 BT-Drucks. 17/3802, 20 f., 27; vgl. auch BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unveröffentlicht).

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

213

systemen. Zweitens strebte der Gesetzgeber – wie auch bereits gezeigt217 – eine gleichgeartete prozessuale Erfassung von allen verfassungsgerichtlichen Verfah­ rensarten an, so dass kein Platz für eine Differenzierung mittels einer teleologi­ schen Reduktion verbleibt.218 5. Keine Bescheidung Damit die Verzögerungsrüge keine kontraproduktiven Belastungsfolgen für das BVerfG und damit weitere Verzögerungen für das Verfahren auslöst, hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, dass es einer Bescheidung der Rüge nicht bedarf (§ 97b Abs. 1 S. 5 BVerfGG).219 Dies betrifft nur eine Bescheidungspflicht;220 un­ berührt bleibt ein Bescheidungsrecht oder eine sonstige Mitteilung zu den Um­ ständen der (vermeintlichen) Verzögerung.221 Eine Pflicht zur Bescheidung ergibt sich jedenfalls nicht aus Gründen des ef­ fektiven Rechtsschutzes, wenn der Betroffene die Verzögerungsrüge derart fehler­ haft – etwa nicht frist- oder formgerecht – eingelegt hat, dass sie unwirksam ist und deswegen eine spätere Verzögerungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen wä­ re.222 Zwar wäre ein schlichter Hinweis des Verfassungsgerichts zu dem etwaigen formalen Fehler mit dem Zweck des geringstmöglichen Arbeitsaufwandes nicht unvereinbar. Dennoch liegt das Risiko zur frist- und formgerechten Erhebung der Verzögerungsrüge in der Sphäre des Betroffenen. Kommt dieser seinen Obliegen­ heiten nicht nach, so geht dies zu seinen Lasten. Auch mit Blick auf das Begrün­ dungserfordernis erscheint dies nicht als unzumutbar, da die Rechtsprechung des BVerfG hierzu (bisher) keine unüberwindbaren Hürden aufstellt.223

217

Vgl. Kap. 4 A. III. Ob man eine teleologische Reduktion der Norm ausschließen möchte, weil lediglich die Geltendmachung des Anspruches hinausgeschoben wird und nicht – wie bei § 198 Abs. 3 GVG – die Entstehung des Anspruches als solcher, erscheint fraglich (so aber Ott, in: Steinbeiß-Win­ kelmann / ders. [Hrsg.], Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 5). Denn nach der gesetzgeberischen Intention hat die Verzögerungsrüge u. a. die Funktion das Verfahren zu beschleunigen. Sie soll gerade nicht zum reinen Selbstzweck eingelegt werden und kann nicht auf eine reine Zulässigkeitsvoraussetzung der Verzögerungsbeschwerde reduziert werden. Im Ergebnis bleibt es bei der gesetzlichen Wartefrist nach § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG. 219 BT-Drucks. 17/3802, 27; vgl. auch BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unver­ öffentlicht). 220 BT-Drucks. 17/3802, 27. 221 S. zur Nützlichkeit solch einer Bescheidung Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 17. 222 Ähnlich Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 13. 223 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479; ferner NJW 2015, 3361 (3362), s. Kap. 5 B. I. 1. b). 218

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

6. Folgen einer fehlenden oder fehlerhaften Verzögerungsrüge a) Fehlen der Verzögerungsrüge Wurde es von dem Betroffenen gänzlich unterlassen, eine Verzögerungsrüge zu erheben, so ist eine Verzögerungsbeschwerde unzulässig (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG),224 es sei denn, es handelte sich um ein abgeschlossenes Verfahren, des­ sen Dauer am 03. 12. 2011 Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR war oder noch werden konnte (§ 97e S. 2 Hs. 1 BVerfGG).225 Sollte der Betroffene im An­ schluss an eine überraschende Entscheidung des BVerfG eine (unstatthafte) Ver­ zögerungsrüge erheben, so ist diese gegenstands- und wirkungslos.226 In diesem Fall ist der Betroffene präkludiert und eine Verzögerungsbeschwerde unzulässig.227 b) Fehlerhafte Verzögerungsrüge Im Falle einer unzureichenden oder unvollständigen Begründung der Verzö­ gerungsrüge dürfte dies irrelevant sein, solange der Betroffene ernsthaft Anstoß an der Verfahrensdauer nimmt (Rüge) und zumindest solche Umstände erkennen lässt, aus denen sich eine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen las­ sen.228 Das Begründungserfordernis der Verzögerungsrüge sollte mit Blick auf die intransparente Verfahrensgestaltung nicht überspannt werden. Stattdessen kommt es für den Betroffenen maßgeblich auf die Begründung der Verzögerungs­ beschwerde an (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG), da gerade diese förmlich beschieden wird und letztlich über die Unangemessenheit der Verfahrensdauer sowie eine et­ waige Kompensation entscheidet.229 Anders hingegen sind Verzögerungsrügen zu bewerten, die gar keine Begrün­ dung im eben genannten Sinne enthalten – d. h. keinerlei Umständen darlegen – oder nicht schriftlich eingelegt wurden. Eine derartige Missachtung des Begrün­ dungs- oder Formerfordernisses führt zur Gegenstandslosigkeit der Rüge.230 224

BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 17. 12. 2014, BvR 1720/11 – Vz 15/14 – (un­ veröffentlicht); Beschluss v. 02. 07. 2019, 2 BvR 1729/16 – Vz 3/18 – (unveröffentlicht); Be­ schluss v. 27. 05. 2019 – 2 BvR 1089/18 – Vz 2/19, Rn. 6, juris; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 15; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 7. 225 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790). 226 Vgl. den Fall in BVerfG (Beschwerdekammer) Beschluss v. 27. 05. 2019 – 2 BvR 1089/18 – Vz 2/19, juris. 227 S. zur Kap. 4 A. VII. 2. b). 228 Ähnlich Lechner / Zuck, BVerfGG, § 97b, Rn. 9 a. E.; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 11. 229 Ähnlich Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 14. 230 Das BVerfG kann die Rüge als unzulässig verwerfen – muss dies aber nicht (vgl. § 97b Abs. 1 S. 5 BVerfGG); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 11.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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Gleiches gilt für eine verfrühte Verzögerungsrüge: Die Wartefrist von § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG ist nach der gesetzgeberischen Intention zwingend einzuhal­ ten. Eine vor Ablauf dieser Frist eingelegte Verzögerungsrüge geht ins Leere.231 Eine Heilung eo ipso durch Ablauf der Mindestfrist kommt mithin nicht in Be­ tracht, da die Verzögerungsrüge ansonsten stets zeitgleich mit dem Ausgangsver­ fahren erhoben werden könnte und der Zweck der Rüge – die Beschleunigungs- und Warnfunktion – sowie der Zweck der Frist – Beachtung der Sonderstellung und Entlastung des BVerfG – gänzlich umgangen werden würden.232 Im Übrigen gelten für die drei zuletzt genannten Situationen, dass eine „Hei­ lung“ im weitesten Sinne lediglich durch die Einlegung einer erneuten frist- und formgemäßen Verzögerungsrüge möglich ist.233 c) „Verspätete“ Verzögerungsrüge? Neben diesen Fallgruppen stellt sich die Frage, wie mit einer Verzögerungsrüge umzugehen ist, die mit einem deutlichen zeitlichen Abstand zur Wartefrist des § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG eingelegt wurde, allerdings noch vor Beendigung des Verfahrens („verspätete“ Verzögerungsrüge). Grundsätzlich gilt, dass die Geduld des Betroffenen – insbesondere gegenüber dem BVerfG – nicht bestraft werden soll.234 Zudem sieht der Gesetzgeber den Zeitpunkt der Verzögerungsrüge von der Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer als abgekoppelt an.235 Eine „ver­ spätete“ Rüge wäre damit folgenlos. Zu einer anderen Bewertung mag man gelangen, wenn sich anhand des Ver­ haltens des Betroffenen erkennen lässt, dass dieser um die Unangemessenheit der Verfahrensdauer weiß und nunmehr absichtlich wartet, um eine Kompensation zu kassieren („Dulde und Liquidiere“); er also vorsätzlich die Beschleunigung mittels der Verzögerungsrüge unterlässt. Jedoch kommt selbst in solch einem Fall eine Verwirkung der Verzögerungsrüge – und damit zugleich der Verzöge­ rungsbeschwerde  – nicht in Betracht, da dieses Verhalten im Rahmen der Prü­ fung der Angemessenheit der Verfahrensdauer unter dem Aspekt des Verhal­ tens des Beteiligten oder auf Rechtsfolgenseite236 hinreichend gewürdigt werden

231

So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 8. 232 Ähnlich Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11. 233 So auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 19; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 8; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11. 234 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 21. 235 BT-Drucks. 17/3802, 27. 236 In Betracht kommt eine bloße Feststellung der Unangemessenheit (§ 97a Abs. 2 S. 2 BVerfGG) oder eine Reduzierung der Entschädigungssumme (§ 97a Abs. 2 S. 4 BVerfGG).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

kann.237 Ferner dürfte solch ein „Dulde und Liquidiere“-Szenario eher theoretischer Natur sein, da es für den Betroffenen in Unkenntnis der internen Verfahrensab­ läufe regelmäßig undurchsichtig ist, ab wann die Verfahrensdauer unangemessen sein soll.238 Damit stellt sich die Frage einer unzulässigen „verspäteten“ Verzögerungsrüge in tatsächlicher Hinsicht nicht bzw. kann in Ausnahmefällen auf der materiellen Ebene gelöst werden. 7. Zwischenergebnis zur Verzögerungsrüge Die Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf birgt eine Vielzahl an Pro­ blemen. Zuallererst ist die rechtliche Folgenlosigkeit einer ordnungsgemäßen Ver­ zögerungsrüge zu nennen. Denn um eine übermäßige Belastung des BVerfG zu ver­ hindern, muss weder eine Entscheidung über die Rüge gefällt werden, noch muss eine tatsächliche Reaktion des zuständigen Spruchkörpers folgen. Hinzukommen weitere Probleme bei der praktischen Handhabung der Rüge, da die Wartefrist starr ausgestaltet ist und das Begründungserfordernis eine potenziell unverhält­ nismäßige Hürde sein kann. Vermengt man diese Probleme mit der Möglichkeit einer überraschend ein­ tretenden Präklusion des Betroffenen, so muss man sich insgesamt fragen, ob die Verzögerungsrüge überhaupt einen effektiven Rechtsbehelf darstellt.239

VIII. Frist der Verzögerungsbeschwerde Bei der Erhebung der Verzögerungsbeschwerde sind zwei Fristen zu beachten: Die sechsmonatige Wartefrist nach Einlegung der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG) sowie die dreimonatige Ausschlussfrist nach Erledigung des Ausgangsverfahrens durch eine Entscheidung oder auf andere Weise (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG).

237 Für eine Verneinung des Rechtsschutzinteresses bei einer „offenkundige unangemesse­ nen“ Verfahrensdauer, Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 14. Die allerdings eingestehen, dass dies selten der Fall sein dürfte. Für eine Verwirkung in „extremen Ausnahmefällen […], etwa wenn der Verfahrensbeteiligte für die Verzögerung des Verfahrens maßgeblich verant­ wortlich ist.“, MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 20. 238 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 21; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 12; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 12. S. zu den grundsätzlichen Problemen des Vorrangs des Primär- gegenüber dem Sekundärrechtsschutzes im Kontext einer überlan­ gen Verfahrensdauer Kap. 3 B. II. 239 S. Kap. 5 A.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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1. Die Wartefrist nach § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG Die Verzögerungsbeschwerde kann frühestens sechs Monate nach Einlegung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Zusammen mit der Wartefrist der Verzö­ gerungsrüge kann das Entschädigungsverfahren frühestens nach 18 Monaten ein­ geleitet werden. Der Gesetzgeber erwartet insofern Geduld vom Betroffenen. Sinn und Zweck dieser Wartefrist ist es, dass der zuständige Spruchkörper und insbe­ sondere der Berichterstatter ausreichend Zeit haben soll, um die ggf. erforderlichen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung zu treffen (Beschleunigungsfunktion der Verzögerungsrüge).240 Nach Maßgabe dieses Telos sowie der Systematik zur Ausschlussfrist (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG) findet diese Wartefrist nur im noch laufenden Ausgangsverfahren Anwendung.241 Erhebt der Betroffene bereits vor Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist eine Verzögerungsbeschwerde, so führt dies zu deren Unzulässigkeit derselben, da ansonsten der Zweck der Frist vereitelt werden würde.242 Dem Betroffenen steht es in diesem Fall frei, nach Ablauf der Wartefrist eine erneute, ordnungsgemäße Verzögerungsbeschwerde zu erheben.243 Diese wäre nicht als bloße Förmelei ab­ zutun.244 Denn möglicherweise ist in der Zwischenzeit eine Entscheidung ergan­ gen, die dem Betroffenen bereits eine hinreichende Befriedigung seiner Interessen verschafft hat, so dass er von der Geltendmachung des Entschädigungsanspruches nach § 97a BVerfGG Abstand nimmt. Auch können Situationen bestehen, in denen der Betroffene lediglich mit der Verzögerungsbeschwerde „drohen“ wollte oder er aus Respekt vor dem BVerfG von einem Entschädigungsprozess absieht. Zudem entspricht das Erfordernis einer erneuten Erhebung dem Antragsprinzip und der Dispositionsmaxime im Verfassungsprozessrecht.245

240

Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 22. So auch Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 17. Vgl. auch BTDrucks. 17/3802, 22. 242 Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 28. 243 Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 16, zustimmend MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 28. 244 So aber Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 23, der auf die Entscheidung BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341 verweist, in der offenkundig die Wartefrist nicht eingehalten wurde und die Beschwerdekammer die Verzögerungsbeschwerde lediglich wegen einer unzureichenden Begründung als unzulässig verworfen hat. Der Schluss auf die Überflüssigkeit der wiederholten Erhebung ist allerdings nicht zwingend, wenn man in Be­ tracht zieht, dass die Beschwerdekammer mit der Entscheidung seine Handhabung des Be­ gründungserfordernisses (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG) akzentuieren wollte. 245 Dazu O. Klein, in Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 217 ff.; E. Klein, ebenda, Rn. 349. 241

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

2. Die Ausschlussfrist nach § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG Ist eine Entscheidung des BVerfG ergangen oder das Verfahren anderweitig erledigt worden, so ist die Verzögerungsbeschwerde innerhalb von drei Monaten nach Zugang der Entscheidung246 zu erheben (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG).247 Die Ausschlussfrist zwingt den Betroffenen dazu, sich innerhalb von drei Mo­ naten nach Erledigung des Verfahrens zu entscheiden, ob er eine Verzögerungs­ beschwerde einlegt oder nicht. Dies dient einerseits dem Interesse des Fiskus an einem raschen Überblick über mögliche Entschädigungspflichten.248 Andererseits begründet der Gesetzgeber die kurze Frist mit dem Interesse des Gerichts sowie des Betroffenen an einer zügigen Klärung der Verzögerungsbeschwerde.249 Sie ist damit Ausdruck des Beschleunigungsgebotes, wie es etwa in Art. 13 EMRK wurzelt.250 Allerdings ergibt sich aus Art. 13 EMRK ebenso die Zugänglichkeit des Rechts­ behelfs. Diese kann an dieser Stelle jedenfalls angezweifelt werden, wenn man die dreimonatige Frist mit der doppelt so langen Frist aus § 198 Abs. 5 S. 2 GVG sowie Art. 35 Abs. 1 EMRK bzw. der viermal so langen Frist aus § 12 StrEG251 vergleicht.252 Lässt der Betroffene die drei Monate ohne Erhebung einer Verzögerungsbe­ schwerde verstreichen, so ist nicht nur die Verzögerungsbeschwerde unzulässig, son­ dern – in Anlehnung an § 12 StrEG253 – der materiell-rechtliche Anspruch verwirkt.254 Trotz dieses materiellen Effekts wird eine verfristete Verzögerungsbeschwerde nicht als unbegründet zurückgewiesen, sondern von der Beschwerdekammer255 246 S. zur Berechnung der Frist und dem maßgeblichen Ereignis Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 24. Für das Datum der verfahrensbeendenden Entscheidung: Dafür MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 30; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 18; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 20. 247 Für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGRG abgeschlossene Verfahren, deren Dauer Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR war oder noch werden konnte, galt hingegen der Stichtag des 03. 03. 2012 (§ 97e S. 2 Hs. 2 BVerfGG). 248 BT-Drucks. 17/3802, 22 zu § 198 Abs. 5 S. 2 GVG. 249 BT-Drucks. 17/3802, 27. 250 Vgl. dazu oben. 251 Strafverfolgungsentschädigungsgesetz. 252 Eingehend dazu Kap. 5 B. I. 1. a). 253 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 22 zu § 198 Abs. 5 S. 2 GVG. S. zur Verwirkung im Rahmen von § 12 StrEG MüKoStPO / Kunz, § 12 StrEG, Rn. 1. 254 So auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 31; O. Klein, in Benda / K lein, Verfas­ sungsprozessrecht, Rn. 1365; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 21; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 14. Gegen eine „Verwirkung“, aber für ein Erlöschen des Anspruches Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 24. 255 S. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 21. 07. 2017 – 2 BvR 1349/16 – Vz 12/17, juris; sowie die unveröffentlichten Entscheidungen: Beschluss v. 06. 10. 2014, – 1 BvQ 12/13 – Vz 12/14; Beschluss v. 24. 07. 2017; – 2 BvR 1236/16 – Vz 11/17, – 1 BvR 1331/16 – Vz15/17, –1 BvR1335/16 – Vz 19/17; Beschluss v. 02. 07. 2018, – 2 BvR 1729/16 – Vz 3/18; Beschluss v. 21. 08. 2018, –2 BvR 868/17 – Vz 2/18; Beschluss v. 14. 12. 2018, – 1 BvR 329/17 – Vz 7/18.

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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als unzulässig verworfen.256 Aufgrund der materiell-rechtlichen Wirkung sowie in Ermangelung einer expliziten Norm kommt beim Verstreichenlassen der Frist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. § 93 Abs. 2 BVerfGG) nicht in Betracht.257 3. Ausschluss der Verzögerungsbeschwerde bei Erledigung des Verfahrens innerhalb der Wartefrist? Hilft das Verfassungsgericht der Verzögerungsrüge ab, indem es das Verfahren beschleunigt und durch eine Entscheidung innerhalb der sechsmonatigen Warte­ frist (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG) beendet, so stellt sich die Frage, wie sich dies auf die Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde auswirkt. Hierzu wird teil­ weise angenommen, dass eine Verzögerungsbeschwerde nunmehr ausgeschlos­ sen sei. Mit der verfahrensbeenden Entscheidung innerhalb der Wartefrist sei der Zweck der Verfahrensbeschleunigung erfüllt worden. Es bestünde schlechterdings keine Notwendigkeit für einen Entschädigungsprozess.258 Hiergegen spricht bereits, dass der Wortlaut der Norm dies nicht zwingend anordnet. Insbesondere muss man den zweiten Halbsatz von § 97b Abs. 2 S. 1 BVerfGG nicht dahingehend verengt lesen, dass dieser nur nach Ablauf der sechs­ monatigen Wartefrist zur Anwendung gelangt, sondern schlichtweg die Aus­ schlussfrist beginnt, wenn eine Entscheidung des BVerfG ergangen ist oder das Verfahren anderweitig erledigt wurde. Indifferent zeigen sich die gesetzgeberischen Motive zum § 97b Abs. 2 S. 1 BVerfGG.259 Lediglich der Begründung zum parallelen § 198 Abs. 5 S. 1 GVG lässt sich der Anhaltspunkt entnehmen, dass bereits während des laufenden Ver­ fahrens ein Kompensationsanspruch entstehen kann.260 Weshalb dieser auf die eingetretene Verzögerung gerichtete Anspruch stets erlöschen soll, nur weil wei­ tere zukünftige Verzögerungen mit einer gerichtlichen Entscheidung abgewehrt wurden, kann nicht schlüssig erklärt werden. Zudem kann auf den übergeordneten Sinn und Zweck des ÜGRG rekurriert werden. Der Gesetzgeber wollte eine Rechtsschutzlücke schließen, die sowohl 256 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 31; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 17. Anders hingegen die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (BT-Drucks. 17/3802, Anlage 4, 41) sowie Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 21. 257 Vgl. Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 21; zustimmend MSKB / Ha­ ratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 31; zur Wiedereinsetzung allgemein O. Klein, in Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 225. 258 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 27; O.  Klein, in Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1365; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 19; Maciejewski, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn.  19. 259 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 27. 260 BT-Drucks. 17/3802, 22.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

unter dem Grundgesetz als auch der EMRK bestand.261 Er ging davon aus, „dass der staatshaftungsrechtliche Entschädigungsanspruch im Falle unangemessener Verfahrensdauer – auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention  – eine sachgerechte Ausgestaltung erfahren hat“.262 Eine sachgerechte Ausgestaltung erfordert allerdings, dass bereits eingetretene Verzögerungen kompensationspflichtig sind.263 Sie können als irreversible Ver­ letzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht allein durch eine Beschleunigung des Verfahrens pro futuro bereinigt werden.264 Letztlich bleibt die Gesamtdauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens der Maßstab, so dass eine Beschleunigung in der Endphase des Verfahrens eine Unangemessenheit nicht per se ausschließt, sondern global betrachtet lediglich mindert.265 Im Lichte des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruches (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) ist § 97b Abs. 2 S. 1 BVerfGG daher so auszulegen, dass eine Erledigung des Verfahrens während der Wartefrist nicht dazu führt, dass eine Verzögerungs­ beschwerde stets ausgeschlossen ist, sondern erst nach Ablauf der Ausschlussfrist von drei Monaten.266 Ohne sich explizit zu dieser Frage zu widmen, entspricht diese Auslegung jedenfalls der Spruchpraxis der Beschwerdekammer267.

IX. Adressat, Form und Begründung der Verzögerungsbeschwerde 1. Adressat Die Verzögerungsbeschwerde ist schriftlich bei der Beschwerdekammer des BVerfG268 einzulegen und gleichzeitig zu begründen (§§ 97b Abs. 2 S. 2, 97c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). 261

BT-Drucks. 17/3802, 15. Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BTDrucks. 17/7217, 3. 263 S. Kap. 3 B. I. 2. 264 Dies verkennt MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 27. 265 So auch Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 27. 266 Hierfür auch Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 17; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 26 f. Damit wird letztlich das (abwegige) Szenario von HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 17 verhindert, wonach das BVerfG regelmäßig zur Vermeidung einer Kompensationszahlung eine Verfassungsbeschwerde kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist nicht zur Entscheidung annehmen werde. 267 S. den zeitlichen Ablauf in BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021; Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732; (hierzu Schmaltz, in: Barczak [Hrsg.], BVerfGG, § 97b, Rn. 26, insb. Fn. 93, 94) sowie Beschluss v. 22. 03. 2018  – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077. 268 Teilweise wurden diese beim OLG Karlsruhe eingelegt, vgl. BVerfG (Beschwerdekam­ mer), Beschluss v. 01. 06. 2017 – 2 BvR 1349/16 – Vz 12/17, juris; Beschuss v. 26. 07. 2017, 1 BvR 1077/16 – Vz 14/17 (unveröffentlicht). 262

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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2. Form und Begründung Auch ohne expliziten Hinweis in Gesetzgebungsmaterialien dürfte der Gesetz­ geber beim Schriftformerfordernis (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG) vom Gedanken geleitet gewesen sein, dass fast alle verfassungsgerichtlichen Verfahren schriftlich geführt werden.269 Daher gilt bei der Begründung der Verzögerungsbeschwerde der § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG entsprechend. Unter dem Begründungserfordernis (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG) ist zu verstehen, dass der Betroffene substantiiert darzulegen hat, dass sowohl die Zulässigkeits­ voraussetzungen der Verzögerungsbeschwerde nach § 97b BVerfGG als auch die materiellen Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches aus § 97a BVerfGG vorliegen.270 Damit geht das Begründungserfordernis über das der Verzögerungs­ rüge hinaus, bei der lediglich die Umstände der unangemessenen Verfahrensdauer dargelegt werden müssen. Indes gilt auch hier, dass es dem Betroffenen regelmäßig unzumutbar sein wird zu den internen und intransparenten Verfahrensabläufen im BVerfG Stellung zu nehmen.271 Stattdessen muss der Verzögerungsbeschwerde­ führer regelmäßig nur die Umstände der Unangemessenheit der Verfahrensdauer vortragen, die in seinem Kenntnisbereich liegen.272 Praktisch wird er sich oftmals nur zu der Bedeutung der Sache und zu seinem eigenen Verhalten äußern können, so dass die zur Verzögerungsrüge aufgestellten Grundsätze zur Begründung der Unangemessenheit entsprechend gelten. Daher kann der Betroffene grundsätzlich auf die mit der Verzögerungsrüge dargelegten Umstände verweisen. Gleichwohl hat er auf weitere verfahrenserhebliche Umstände zu verweisen, die erst nach Er­ hebung der Verzögerungsrüge eingetreten sind.273 Zudem ist eine Darlegung einer rein objektiven Bedeutung der Sache aufgrund des Erfordernisses der individuellen Betroffenheit im Entschädigungsprozess zu vernachlässigen. Ein weiterer Schwerpunkt der Begründung ist die Darlegung von Nachteilen, die kausal aus der verzögerten Verfahrensdauer entstanden sind. Regelmäßig dürfte es problematisch sein, die Kausalität zwischen der Verzögerung und einem pekuniä­ ren Vermögensnachteil nachzuweisen.274 Sollte dies ausnahmsweise möglich sein, so ist die Höhe des Nachteils zu beziffern. Hinsichtlich nicht-pekuniärer Nachteile gilt, dass diese gemäß § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG widerlegbar vermutet werden, so dass das Substantiierungserfordernis an dieser Stelle reduziert wird.275 Ihre Höhe 269

Vgl. für die Verzögerungsrüge BT-Drucks. 17/3802, 27. Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341; NVwZ 2013, 1479 (1480); MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 24; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 20; Macie­ jewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 21; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 18, 20 f. 271 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341. 272 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341. 273 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341; NJW 2015, 3361 (3362). 274 Dazu Kap. 4 B. II. 5. 275 Vgl. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 25; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 21; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 23. 270

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

ist für jedes Jahr der Verzögerung (§ 97a Abs. 2 S. 3 BVerfGG) bzw. für jeden Mo­ nat der Verzögerung276 zu beziffern. Für ein Abweichen von diesem Maßstab muss dezidiert aufgezeigt werden, weshalb es nach den Umständen des Einzelfalles un­ billig wäre nur den pauschalen Satz zu gewähren (§ 97a Abs. 2 S. 4 BVerfGG).277 Wie bereits gezeigt, haben Hoheitsträger, die sich auf solch einen Nachteil berufen, aufgrund der teleologischen Reduktion der Vermutungsregelung, aktiv einen nichtpekuniären Nachteil i. S. e. individuellen Betroffenheit darzulegen.278 3. Gleichzeitigkeit von Begründung und Erheben der Verzögerungsbeschwerde? Missverständlich ist die Formulierung der gleichzeitigen Begründung in Fällen, in denen infolge der Erledigung durch eine Entscheidung oder auf andere Weise die dreimonatige Ausschlussfrist nach § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG läuft. Mit Blick auf den Wortlaut von § 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG könnte man meinen, dass sich die gleichzeitige Begründung auf das Erheben der Verzögerungsbeschwerde bezieht. Die Beschwerde und die Begründung müssten gleichzeitig eingehen, was ein Nachreichen von Gründen vor Ablauf der Ausschlussfrist, wie es § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG bei anderen fristgebunden Anträgen ermöglicht, bei dieser Inter­ pretation ausschließen würde.279 Die Beschwerdekammer weist allerdings darauf hin, dass der Gesetzgeber solch eine restriktive Handhabung – trotz des scheinbar eindeutigen Wortlautes – nicht implementieren wollte.280 Stattdessen sah er in § 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG „vergleichbar mit § 92 [BVerfGG], eine verfahrensspezifische Klarstellung des allgemeinen Begründungserfordernisses aus § 23 Absatz 1 Satz 2 [BVerfGG]“281. Es ist daher anzunehmen, dass sich das „gleichzeitig“ auf die drei­ monatige Ausschlussfrist selbst bezieht, d. h. es ist möglich, zunächst eine Verzö­ gerungsbeschwerde zu erheben und im Laufe der dreimonatigen Ausschlussfrist die erforderliche Begründung einzureichen.282 Beides muss gerade nicht mit dem­ selben Schriftsatz geschehen. Hierfür spricht im Übrigen, dass die Stellungnahme des Berichterstatters binnen eines Monates nach Eingang der Begründung der Ver­ 276

Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365). Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 20; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 20. 278 S. Kap. 4 A. VI. 3.  Ähnlich Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 24; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 18. Kritisch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 26. 279 Dafür MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 23; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97b BVerfGG, Rn. 15. 280 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3362). 281 BT-Drucks. 17/3802, 27. 282 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3362); HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 22; Marx, in: ders. / Roderfeld, ÜGRG, § 97b BVerfGG, Rn. 23; O.  Klein, in Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1365. Zustimmend Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 23; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 25. 277

A. Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde, § 97b BVerfGG 

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zögerungsbeschwerde und nicht nach Eingang der Verzögerungsbeschwerde als solcher vorzulegen ist (vgl. § 97d Abs. 1 BVerfGG). Das „gleichzeitig“ verhindert letztlich nur ein Nachschieben von Gründen nach Ablauf der Ausschlussfrist und ist insofern schärfer als die Regelung des § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG, die solch ein Vorgehen teilweise eröffnet.283 Damit dient das „gleichzeitig“ verfahrensspezifisch der Beschleunigung des Entschädigungsverfahrens und trägt der Verpflichtung der EMRK Rechnung, wonach über einen kompensatorischen Rechtsbehelf in ange­ messener Zeit beschieden werden muss.284

X. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis Grundsätzlich wird das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis durch das Vorliegen der Beschwerdebefugnis indiziert sein. Ausnahmen sind lediglich zu machen, wenn die Erhebung der Verzögerungsbeschwerde als bloßer institutioneller Missbrauch prozessualer Rechte gewertet werden kann.285 1. Ausschluss bei formellem Missbrauch In Anlehnung an die Kriterien von Art. 35 Abs. 3 lit.  a EMRK dürfte eine Verzögerungsbeschwerde als formell missbräuchlich bewertet werden, wenn sie beleidigende oder diffamierende Passagen gegenüber dem BVerfG oder seinen Richtern enthält.286 Die Beschwerdekammer kann in diesem Fall die Verzöge­ rungsbeschwerde als rechtsmissbräuchlich zurückweisen. 2. Ausschluss von Bagatellen (de minimis non curat praetor) Ebenso lässt sich der Rechtsprechung des EGMR entnehmen, dass ein Aus­ schluss von Bagatellen als materieller Rechtsmissbrauch entsprechend des Grund­ satzes de minimis non curat praetor287 möglich ist.288 Verallgemeinert spricht dies dafür, dass die Beschwerdekammer das Rechtsschutzbedürfnis einer Verzöge­ rungsbeschwerde verneinen kann, wenn ein signifikantes Missverhältnis zwi­ 283

Vgl. O. Klein, in Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 224. Vgl. zum Inhalt von Art. 13 EMRK Kap. 3 B. I. 2. 285 Vgl. MSKB / Bethge, BVerfGG, § 69, Rn. 96. 286 Z. B. aus Wut oder Enttäuschung, dass eine (Annahme-)Entscheidung (ggf. nach länge­ rer Zeit) gem. § 93d Abs. 1 S. 3 oder § 24 S. 2 BVerfGG ohne Begründung erging; vgl. dazu den Sachverhalt in EGMR, Řehák v. The Czech Republic, Entscheidung v. 18. 05. 2004, No. 67208/01. 287 Vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 5, Rn. 79 ff, 84. 288 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 13, Rn. 51; Schmalz, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, 583 (603). 284

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

schen einer Minimalforderung im Ausgangsverfahren und dem Arbeitsaufwand des – ohnehin ausgelasteten – Verfassungsgerichts besteht.289 Bei der Ermittlung der Erheblichkeitsschwelle sind insbesondere einzubeziehen, ob die Forderung im Verhältnis zum Einkommen offensichtlich nicht zu einer Existenzgefährdung führt oder die wegen der Verzögerung geforderte Entschädigung im Missverhältnis zur eigentlichen Forderung steht.290 Der Anwendungsbereich beschränkt sich auf die individualschützenden Ver­ fahren291, in denen um solche Bagatelle gestritten wird. Hingegen ist in nicht-in­ dividualschützenden Verfahren – man denke an den Bund-Länder-Streit oder den Organstreit  – eine Einschlägigkeit der Fallgruppe hinsichtlich des Verfahrens­ zwecks grundsätzlich nicht ersichtlich. 3. Verwirkung infolge einer „verspäteten“ Verzögerungsbeschwerde? Parallel zur Frage der „verspäteten“ Verzögerungsrüge292 lässt sich diskutieren, ob der Betroffene sein Recht zur Erhebung der Verzögerungsbeschwerde verwirkt hat, wenn sich sein Verhalten als ein „Dulde und Liquidiere“ einstufen lässt. Der Betroffene also absichtlich und in voller Kenntnis der Unangemessenheit der Ver­ fahrensdauer mit der Erhebung der Verzögerungsbeschwerde abwartet. Grundsätzlich gilt, dass die Geduld des Betroffenen nicht bestraft werden soll.293 Zudem ist zu beachten, dass die Verzögerungsbeschwerde primär der Kompensation der erlittenen überlangen Verfahrensdauer dient und – anders als die Verzögerungsrüge – nur vermindert präventiv wirkt. Letzteres wird durch die Ausschlussfrist des § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG bestätigt, der eine Verzöge­ rungsbeschwerde auch nach Verfahrenserledigung ermöglicht. Der Gesetzgeber hat damit zugleich einen kodifizierten Verwirkungstatbestand geschaffen, so dass kein Platz für eine Verwirkung auf der Ebene des allgemeinen Rechtsschutzbe­ dürfnisses besteht. Sollte ein „Dulde und Liquidiere“-Verhalten ausnahmsweise tatsächlich vorliegen, so kann diesem auf der materiellen Ebene hinreichend Rech­ nung getragen werden.

289 So etwa der Fall EGMR, Bock v. Germany, Entscheidung v. 19. 01. 2010, No. 22051/07, in dem die Verfahrensdauer eines Rechtsstreits um die Beihilfefähigkeit einer Packung Mag­ nesiumtabletten im Wert von 7,99 € gerügt wurde. 290 Vgl. EGMR, Dudek v. Germany, Entscheidung v. 23. 11. 2010, No. 12977/09, 15856/09, 15890/09, 15892/09, 16119/09. 291 Vornehmlich die Verfassungsbeschwerde und die konkrete Normenkontrolle. 292 S. dazu Kap. 4 A. VII. 6. c). 293 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 21.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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4. Ausschluss bei Litispendenz? Ein Ausschluss des Rechtsschutzbedürfnisses ist ebenso zu verneinen, wenn die verfassungsgerichtliche Verfahrensdauer bereits als Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR rechtshängig ist (Litispendenz).294 Entsprechend der bisherigen Ent­ scheidungen würde der EGMR die Beschwerde wegen fehlender Rechtsweger­ schöpfung als unzulässig verwerfen. Insofern ist zunächst das nationale Verfahren der Verzögerungsbeschwerde durchzuführen und kann nicht durch eine (verfrüht) erhobene Beschwerde zum EGMR blockiert werden. 5. Zwischenergebnis In der Praxis wird sich die Verneinung des allgemeinen Rechtsschutzbedürf­ nisses auf die beschriebenen Ausnahmefälle des formellen oder materiellen Miss­ brauchs, insbesondere nach Maßgabe des de minimis-Grundsatzes, beschränken. Anzumerken ist, dass eine derartige Entscheidung der Beschwerdekammer bisher nicht vorliegt.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG I. Dogmatische Verortung des Entschädigungsanspruches Dass im Fall einer überlangen Verfahrensdauer vor dem BVerfG eine Reak­ tionsmöglichkeit sowohl verfassungs- als auch konventionsrechtlich geboten ist, wurde bereits erläutert.295 Insbesondere ist eine Kompensationslösung angezeigt, wenn das Verfahren bereits unangemessen verzögert ist und zuvor keine präven­ tive Abhilfe möglich war. Dieser Befund lässt allerdings offen, wie sich solch ein Kompensationsanspruch in das deutsche Staatshaftungsrecht einbetten lässt. Dabei ist es dem Gesetzgeber anheimgestellt über die genaue Verortung zu entscheiden. Anstelle einer dezidierten Auseinandersetzung mit dem Staatshaftungsrecht hat der Gesetzgeber den simplen Weg gewählt und den § 97a BVerfGG sowie den § 198 Abs. 1, 2 GVG als staatshaftungsrechtliche Ansprüche sui generis betitelt.296 Diese Charakterisierung erscheint zu kurz gegriffen, wenn man sich die verschiedenen Überschneidungspunkte mit den bekannten Haftungsinstituten des Schadens­ ersatz- und Entschädigungsrechts vor Augen führt. Ein Schadensersatzanspruch, dessen Umfang sich nach §§ 249 ff. BGB richtet, kann die Folge einer schuldhaften oder schuldlosen Verletzung einer Haftungs­ 294

In Anlehnung an Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK. S. Kap. 3. 296 BT-Drucks. 17/3802, 19, Anlage 4, 40; vgl. auch BT-Drucks. 18/2950, 7. 295

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

norm sein. Im Staatshaftungsrecht kommen die schuldhafte Verletzung einer Amtspflicht (Amtshaftungsanspruch, § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) oder die Ver­ wirklichung eines Tatbestandes der Gefährdungshaftung oder der prozessrechtli­ chen Risikohaftung297 in Betracht.298 Grundlegend spricht gegen eine Zuordnung zu diesen Haftungsinstituten, dass der § 97a BVerfGG nicht auf eine Kompensation nach §§ 249 ff. BGB angelegt ist, wenngleich die Rechtsfolge in konventionskonfor­ mer Auslegung faktisch diese Richtung einschlägt.299 Unabhängig von der Rechts­ folgenseite kann der Entschädigungsanspruch mit Sicherheit nicht als Variante des Amtshaftungsanspruches eingeordnet werden, da es an den (äquivalenten) Tatbe­ standsmerkmalen einer Amtspflichtverletzung (i. S. e. Handlungsunrechts) sowie eines Verschuldens300 offenkundig mangelt. Für die Institute der Gefährdungshaftung301 sowie der prozessrechtlichen Risi­ kohaftung302 spricht im Kern die Verschuldensunabhängigkeit des § 97a BVerfGG. Andererseits zeichnen sich diese Anspruchsgrundlagen  – anders als der § 97a BVerfGG – nicht durch eine festzustellende Rechtswidrigkeit aus, sondern knüp­ fen ihrerseits an bestimmte Haftungsgründe an, welche die Verwirklichung einer erhöhten abstrakten (Betriebs-)Gefahr erfordern.303 So fehlt es dem § 97a BVerfGG zumindest gegenüber der Gefährdungshaftung an solch einer Haftungslegitima­ tion, da sich eine verwirklichte Gefahr des Rechtsstaats typischerweise nicht in ma­ teriell-rechtlicher Weise auf den Verfahrensbeteiligten und seine Rechtsgüter aus­ wirkt.304 Stattdessen ist der Entschädigungsanspruch prozessrechtlich fundiert,305 weshalb eine prozessrechtliche Risikohaftung naheliegt.306 Diesbezüglich ließe sich vertreten, dass der § 97a BVerfGG an das im verfassten Rechtsstaat immanente Risiko anknüpft, wonach aufgrund der Funktion und Architektur des BVerfG ein verfassungsgerichtliches Verfahren in Ausnahmefällen eine unangemessene Dauer annehmen kann307 und daher kompensiert werden muss.308 Dass der Staat nicht für jedes verzögerte Verfahren eo ipso haftet, sondern im Rahmen der Angemessen­

297 S. etwa die § 302 Abs. 4 S. 4, § 717 Abs. 2 S. 1, § 945 ZPO, vgl. Reiter, NJW 2015, 2554 (2557). 298 Magnus, ZZP 2012, 75 (84 f.); MüKoBGB / Papier / Shirvani, § 839, Rn. 295; Reiter, NJW 2015, 2554 (2557 f.), jeweils m. w. N. 299 S. Kap. 4 B. III. 2. 300 Insbesondere findet bei der Bestimmung der Angemessenheit weder eine direkte noch indirekte Verschuldensprüfung statt, vgl. für §§ 198 ff. GVG R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 204. 301 In diese Richtung für §§ 198 ff. GVG Schlick, in: FS Tolksdorf, 549 (556). 302 Für die §§ 198 ff. GVG Magnus, ZZP 2012, 75 (84 f.); Reiter, NJW 2015, 2554 (2557 f.). 303 Vgl. Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 449–551. 304 Vgl. Schlick, in: FS Tolksdorf, 549 (552 f.). 305 Schlick, in: FS Tolksdorf, 549 (553). 306 Reiter, NJW 2015, 2554 (2557 f.). 307 Mit anderen Worten ist dies die prozessrechtliche „Betriebsgefahr“ des verfassten Rechts­ staats bei einem Verfahren vor dem BVerfG. 308 Ähnlich Barczak, AöR 138 (2013), 536 (576).

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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heit eine Gesamtabwägung stattfindet, schadet der Zuordnung zur Risikohaftung nicht.309 Im Gegenteil sorgt diese Abwägung gerade für die adäquate Ermittlung, ob sich das Risiko der Verzögerung staatlicherseits realisiert hat oder, ob andere Faktoren hierzu geführt haben. Lediglich die Diskrepanz von Entschädigung und Schadensersatz auf Rechtsfolgenseite verhindert eine eindeutige Zuordnung zum Institut der prozessrechtlichen Risikohaftung.310 Etwas anders mag dies prima vista für die Einordnung als Aufopferungsan­ spruch gelten, da dieser – wie § 97a BVerfGG – auf eine angemessene Entschädi­ gung gerichtet ist.311 Jedoch lässt sich der § 97a BVerfGG nicht als Unterfall des Aufopferungsanspruches oder des enteignungsgleichen Eingriffs verorten, da mit der überlangen Verfahrensdauer weder ein unmittelbarer Eingriff in das Eigen­ tum noch in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG erfolgt.312 Dennoch lässt sich der Entschädigungsanspruch nach § 97a BVerfGG in die Nähe der Aufopferung rücken: Sowohl der Entschädigungs- als auch der Aufopferungsanspruch knüpfen an das Erfolgsunrecht, d. h. die Rechtswidrigkeit der Folgen eines Eingriffs an.313 In concreto soll schwerpunktmäßig nicht die Prozessführung der Verfassungsrichter bewertet werden, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter Abwägung verschiedener Kriterien und Abgrenzung von Verantwortungssphären die Ange­ messenheit der Verfahrensdauer bestimmt werden, womit zugleich die Frage nach dessen Konventions- und Grundrechtsmäßigkeit beantworten wird.314 Auch das konstitutive Merkmal des Sonderopfers zum Wohle der Allgemein­ heit315 lässt sich in Ansätzen im § 97a BVerfGG wiederfinden. Das Sonderopfer findet sich in der Erduldung der unangemessenen Verfahrensdauer.316 Dessen Konnexität zum Gemeinwohl erscheint allerdings durchaus fraglich. Als dem ge­ meinwohlorientierten Motivation ließe sich allenfalls die vage Möglichkeit anfüh­ ren, dass aufgrund des einen verzögerten Verfahrens andere (wichtigere) verfas­ sungsgerichtliche Verfahren vorrangig behandelt werden könnten.317 Andererseits 309

So aber R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 204. Die Risikohaftung zeichnet sich durch einen Schadensersatzanspruch nach §§ 249 ff. BGB aus, vgl. MüKoZPO / Musielak, § 302, Rn. 17 f.; MüKoZPO / Götz, § 717, Rn. 18; Mü­ KoZPO / Drescher, § 945, Rn. 25 f. 311 Vgl. Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 146 f., 462. 312 Barczak, AöR 138 (2013), 536 (571). 313 Vgl. Vgl. Hess. LSG, Urteil v. 06. 02. 2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 42, juris; Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 368 f.; R.-C.  Lorenz, Die Dogmatik des Entschädi­ gungsanspruches aus § 198 GVG, 204; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 135 f. 314 So auch R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 204. 315 So bereits § 75 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 01. 06. 1794: „Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohl des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen ge­ halten.“ 316 So Barczak, AöR 138 (2013), 536 (578). 317 Wobei wegen des Entscheidungsspielraums des BVerfG in diesen Fällen oftmals schon keine unangemessene Verfahrensdauer vorliegen wird. 310

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

wird diese Intention sicherlich nicht bei jeder Verzögerung vorliegen. Stattdessen kann es schlichtweg passieren, dass gewisse Verfahren, aus den verschiedensten Umständen, einzelfallabhängig liegenbleiben und der Gemeinwohlbezug fehlt.318 Des Weiteren besteht auf Rechtsfolgenseite keine vollständige Deckungsgleich­ heit. Die konventionskonforme Auslegung in individualschützenden Verfahren319 wird regelmäßig über die hergebrachte angemessene Entschädigung eines Aufop­ ferungsanspruches320 hinausgehen. Außerdem werden gem. § 97a Abs. 2 BVerfGG immaterielle Nachteile vermutet und pauschal kompensiert, während ein Schmer­ zensgeld als Rechtsfolge des Aufopferungsanspruches erst jüngst möglich ist.321 Damit lässt sich der § 97a BVerfGG allenfalls als aufopferungsähnlicher Entschä­ digungsanspruch322 charakterisieren. Die eindeutige Zuordnung zu den bekannten Haftungsinstituten ist somit nicht möglich. Eine dogmatische Kapitulation323 mit der Einordnung als Anspruch sui generis muss damit nicht einhergehen. Stattdessen lässt sich der § 97a BVerfGG am ehesten als ein Entschädigungsanspruch qualifizieren, der dem Aufopferungsan­ spruch nahesteht und dessen fragliches Merkmal, das Sonderopfer zum Wohle der Allgemeinheit, atypisch durch ein Abwägungselement substituiert wird, welches mit der Risikohaftung verwandt ist. Damit kann der Entschädigungsanspruch nach § 97a BVerfGG als Chimäre dieser beiden Rechtsinstitute klassifiziert werden.

II. Anspruchsvoraussetzungen Auf der Tatbestandsseite erfordert der Entschädigungsanspruch aus § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG einen Nachteil eines Anspruchsberechtigten, der ihm infolge der unangemessenen Dauer eines verfassungsgerichtlichen Ausgangsverfahrens ent­ standen ist.

318

Ähnlich R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 203; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857 (858 f.); ders. / Cornils, Staatshaftungsrecht, 462 f.; Reiter, NJW 2015, 2554 (2557). Barczak, AöR 138 (2013), 536 (571). Barczak, AöR 138 (2013), 536 (577 f.) erklärt den Gemeinwohlbezug für verzichtbar. 319 Vgl. zu diesen Kap. 3 A. 320 Vgl. Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 146 f. 321 Schenke, NVwZ 2012, 257 (260 f.); vgl. BGHZ 215, 335, dazu MüKoBGB / Papier / Shir­ vani, § 839, Rn. 106. 322 Vgl. Hess LSG, Urteil v. 06. 02. 2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 42, juris; ähnlich Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575); Schenke, NVwZ 2012, 257 (260 f.); Zuck, NVwZ 2012, 265 (268). 323 Ähnlich Schlick, in: FS Tolksdorf, 549 (552).

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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1. Ausgangsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Entsprechend der bereits gezeigten gesetzgeberischen Konzeption der §§ 97a ff. BVerfGG, eine überschießende Umsetzung der EGMR-Judikatur,324 können alle verfassungsgerichtlichen Verfahren Ausgangspunkt des Entschädigungsanspru­ ches sein. In diesem Zusammenhang ist es irrelevant, ob das Verfahren individual­ schützender oder genuin staatsrechtlicher Natur ist. 2. Anspruchsberechtigter Wie oben325 ausgeführt kommt als Anspruchsinhaber jede natürliche oder juristi­ sche Person in Betracht, die Verfahrensbeteiligter (§ 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BVerfGG) oder Aussetzungsverfahrensbeteiligter (§ 97a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BVerfGG) ist. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verfahrens- oder Aussetzungsverfahrensbeteiligten dem Staat oder der staatlichen Sphäre zuzuordnen sind oder nicht. Somit können grundsätzlich auch juristische Personen des öffentlichen Rechts bzw. deren am Verfahren beteiligte (Verfassungs-)Organe Inhaber des Entschädigungsanspru­ ches sein. Ebenfalls ist der Äußerungsberechtigte i. S. v. § 94 Abs. 3 BVerfGG aufgrund einer analogen Anwendung von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG ein potenzieller An­ spruchsberechtigter, sofern ihm die Verfassungsbeschwerde zugestellt wurde. 3. Anspruchsgegner Bei der Verzögerungsbeschwerde handelt es sich um kein kontradiktorisches Verfahren, weshalb es in der Zulässigkeit keinen „Beschwerdegegner“ gibt.326 Nichtsdestotrotz muss der Entschädigungsanspruch des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG einen Adressaten kennen, dem gegenüber der Anspruch geltend gemacht wird. Zur Ermittlung des Anspruchsgegners ist der Wortlaut der §§ 97a ff. BVerfGG nicht ergiebig. Anders als in der fachgerichtlichen Parallelnorm (vgl. § 200 S. 2 GVG) hat es der Gesetzgeber unterlassen, explizit zu regeln, wer der Anspruchsgegner ist. Einen allenfalls vagen Anhaltspunkt liefert die Gesetzesbegründung, wenn sie von einem „Entschädigungsanspruch gegen den Staat“327 spricht. Als Verpflichtete kommen entweder das BVerfG selbst328 oder der Bund als dessen Rechtsträger in Betracht. Für die Haftung des Bundes spricht der allgemeine Grundsatz des Rechts­ 324

S. Kap. 4 A. III. 1. S. hierzu eingehend Kap. 4 A. V. 326 Vgl. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 5; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97d, Rn. 2. 327 BT-Drucks. 17/3802, 26. 328 Hierfür Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 82; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 10 f. 325

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

trägerprinzips, der in § 200 GVG329 haftungsrechtlich zum Ausdruck gelangt.330 Zudem entspricht dies der Praxis der Beschwerdekammer, welche die bisher ein­ zige erfolgsreiche Verzögerungsbeschwerde entsprechend tenoriert hat.331 Den­ noch werden zugesprochene Kompensationszahlungen unmittelbar vom BVerfG selbst bestritten, da es als Verfassungsorgan mit einem eigenen Haushalt332 aus­ gestattet ist. Insofern fungiert das BVerfG als Vertreter seines Rechtsträgers und übernimmt eine entsprechende Haftung.333 4. Angemessenheit der Verfahrensdauer Die entscheidende Tatbestandsvoraussetzung ist die Angemessenheit der Ver­ fahrensdauer vor dem Verfassungsgericht. Die Angemessenheit der Verfahrens­ dauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des BVerfG (§ 97a Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Mit der Auswahl dieser offenen und einzelfallabhängigen Tatbestandskriterien eröffnet der Gesetzgeber letztlich das Einfallstor für die Vorgaben des Grundgesetzes sowie der EMRK.334 Zwar sind – anders als in der Parallelvorschrift des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG – in § 97a Abs. 1 BVerfGG nicht ausdrücklich die Kriterien, wie die Schwie­ rigkeit und Bedeutung des Verfahrens oder das Verhalten der Verfahrensbeteilig­ ten und Dritter, aufgelistet. Nichtsdestotrotz beabsichtigte der Gesetzgeber, dass die vom EGMR vorgezeichneten und vom BVerfG übernommenen Kriterien zur Bewertung der Angemessenheit mitentscheidend sein sollen.335 Mit dem Verzicht auf die Nennung der Kriterien und dem expliziten Verweis auf die Aufgaben und Stellung des BVerfG sollte verdeutlicht werden, dass aufgrund der organisatori­ schen und verfahrensmäßigen Besonderheiten des BVerfG die Kriterien anders als im fachgerichtlichen Verfahren angewendet und gewichtet werden können.336 Zudem kann in nicht-individualschützenden Verfahren die Angemessenheit anders bewertet werden als in solchen, die einen Individualschutz vermitteln.

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Vgl. zu § 200 BT-Drucks. 17/3802, 25. So auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 22; Maciejewski, in: Burkiczak / Dol­ linger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 30; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 20; Schmidt, in: FS Klein, 485 (498); BeckOK, BVerfGG / v. Ungern-Sternberg, § 97b, Rn. 11. 331 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 201 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Tenor zu 3. (= NJW 2015, 3361, dort allerdings ohne Tenor veröffent­ licht). 332 Vgl. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 123. 333 Anders Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 20. S. zur Haftung Kap. 5 B. I. 5. 334 BT-Drucks. 17/3802, 26. 335 BT-Drucks. 17/3802, 26; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 48; Maciejewski, in: Bur­ kiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  36; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 24. 336 BT-Drucks. 17/3802, 26. 330

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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a) Berechnung des zu berücksichtigenden Zeitraums Für den Entschädigungsanspruch ist ausschließlich der Zeitraum des Verfahrens vor dem BVerfG maßgeblich.337 Dies ergibt sich aus dem Wortlaut „vor dem Bun­ desverfassungsgericht“ sowie der Systematik des ÜGRG, welches für das gesamte Verfahren338 vor den Fachgerichten die Verzögerungsrüge und -klage nach den §§ 198 ff. GVG als Abhilfemöglichkeiten bereithält. Ein vorheriges oder zwischen­ zeitlich ausgesetztes Verfahren vor einem Fachgericht ist somit nicht Teil des frag­ lichen Zeitraums. Ebenfalls außer Betracht bleibt entsprechend der EGMR-Recht­ sprechung339 die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) zum EuGH. Konkret ist der Zeitraum vom Anhängigmachen des Verfahrens beim Ver­ fassungsgericht bis zur Zustellung des Beschlusses bzw. der Verkündung des Urteils zu berücksichtigen.340 Als Eingangszeitpunkt kann bereits der Zeitpunkt der Eintragung in das Allgemeine Register (§ 63 Abs. 2 GO-BVerfG) gelten, so­ fern das Verfahren in das Verfahrensregister umgeschrieben wird.341 Denn mit der Umschreibung wird aus der Justizverwaltungsangelegenheit ein gerichtliches Verfahren. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EGMR, wonach (verwaltungsrechtliche)  Vorverfahren bei der Berechnung der Verfahrensdauer miteinzubeziehen sind.342 Um bei der Berechnung des Eingangszeitpunktes die Einheitlichkeit zu wahren, gilt dies auch in Fällen, in denen auf Antrag des Be­ schwerdeführers die Verfassungsbeschwerde im Allgemeinen Register „geparkt“ und erst später auf dessen Zutun in das Verfahrensregister umgeschrieben wurde (§ 64 Abs. 2 GO-BVerfG).343 Hierdurch entstehende Verzögerungen sind umfas­ send unter dem Aspekt des Verhaltens des Beschwerdeführers zu würdigen und nicht bereits bei der wertungsfreien Berechnung des Zeitraumes.

337

Vgl. hierzu BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 5 (unveröffentlicht); MSKB / Ha­ ratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 23; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1358. 338 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 18. 339 EGMR, Paftis et. al. v. Greece, Urteil v. 26. 02. 1998, No. 20323/92, Rn. 95; Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy v. Finland, Urteil v. 27. 06. 2017, No. 931/13, Rn. 208. 340 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 789 (791); NJW 2016, 2021 (2022); Be­ schluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 2, 4. 341 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 23 unter Verweis auf die Rechtspre­ chungspraxis BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2015, – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Rn. 2, 35 (= NJW 2015, 3361, allerdings gekürzt); Beschluss v. 08. 12. 2015, – 1 BvR 99/11 – Vz 1/15, BeckRS 2015, 56395, Rn. 4, 38. A. A. Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 31; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 34, Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). 342 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 23; vgl. auch Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 32 f.; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 81, jeweils m. w. N. 343 So aber Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 33; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 24.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

b) Die Kriterien der Angemessenheit aa) Die Umstände des Einzelfalles Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalles, so dass es verfehlt ist, starre oder schematische Fristen zur Beurteilung heranzuziehen. Auch eine Orientierung an der durchschnittlichen Verfahrensdauer erscheint wenig zielführend.344 Dem­ entsprechend ist die gesetzgeberische Wertung345 zur zwölfmonatigen Wartefrist bis zur Einlegung der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG) unter dem Eindruck des Grundgesetzes sowie der EMRK nicht sonderlich hilfreich. Sie wird jedoch von der Beschwerdekammer oft als Referenzpunkt gewählt.346 Allenfalls zur Bemessung der außergewöhnlichen Länge der Verfahrensdauer können die durchschnittliche Verfahrensdauer sowie die Wartefrist indiziell herangezogen werden und den Einstieg in die Einzelfallprüfung bilden.347 Zur Bewertung der Angemessenheit der Verfahrensdauer führt die Beschwer­ dekammer die aus dem Grundgesetz stammenden Kriterien an, insbesondere die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache und die Auswirkungen einer lan­ gen Verfahrensdauer auf die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten sowie das Verhalten Dritter; auf Um­ stände, die der Staat zu vertreten hat, kann er sich nicht selbst berufen. Zudem nutzt die Beschwerdekammer die den eben genannten entsprechenden Parameter des EGMR: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers, das Verhalten der zuständigen Behörden und Gerichte sowie die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer.348 Insofern kann vielfach auf die bereits erfolgten Ausführungen verwiesen wer­ den.349 Lediglich punktuell sind diese im Kontext der §§ 97a ff. BVerfGG zu akzentuieren: Hinsichtlich der Komplexität des Falls (bzw. der Schwierigkeit der Sachma­ terie)  ist besonders zu berücksichtigen, dass das BVerfG regelmäßig besonders komplexe Sach- und Rechtsfragen zu beantworten hat. Es stellen sich oftmals (und erstmalig) im verfassungsgerichtlichen Verfahren verfassungs-, europa- oder 344

Vgl. Kap. 2 A. II. 3. BT-Drucks. 17/3802, 27. 346 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791); NJW 2015, 3361 (3365); NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 24; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 15. 347 Vgl. Kap. 2 A. II. 3.  sowie Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 52; Maciejewski, in: Bur­ kiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  42; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 25. 348 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790); NJW 2013, 2341 (2341 f.); NJW 2015, 3361 (3362); NJW 2016, 2021 (2021 f.); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 18 f; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 9 f. 349 Vgl. Kap. 2 A., Kap. 3 A. I. 3. und II. 2. 345

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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völkerrechtliche Grundsatzfragen, die eminente Auswirkungen haben können und daher eine präzise Analyse des Rechts erfordern. In den zu lösenden Grund­ rechtsfällen geht es oftmals um eine feinjustierte Abwägung von Interessen des Einzelnen mit denen der Allgemeinheit, der Abwägung von Grundrechtsposition von Privaten oder um mehrpolige Grundrechtsverhältnisse, die jeweils erheb­ liche rechtliche sowie rechtspolitische Implikationen bergen. Ähnliches gilt bei staatsrechtlichen – insbesondere kontradiktorischen – Verfahren, bei denen eine genaue Abgrenzung von Rechten und Pflichten bzw. Kompetenzen zwischen Or­ ganen und Ebenen stattfindet. Ein Zusammenhang von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (§ 25 Abs. 1 BVerfGG) und der Komplexität ist jeden­ falls nicht ersichtlich.350 Das Verhalten des Beschwerdeführers wird aufgrund seiner begrenzten prozes­ sualen Mitwirkungsmöglichkeiten regelmäßig keine oder bloß eine untergeordnete Rolle spielen.351 Dementsprechend kann oftmals davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer nicht maßgeblich für eine Verzögerung des Verfahrens ver­ antwortlich sein wird. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Beschwerdeführer von seinen zulässigen prozessualen Mitteln (übermäßig) Gebrauch gemacht hat.352 In diesem Fall ist umgekehrt nicht das BVerfG für hierauf beruhende Verzögerun­ gen verantwortlich zu machen, es sei denn, es hat seine Prozessförderungspflich­ ten missachtet. Vergleichbares gilt bei dem eingangs beschriebenen „Parken“ der Verfassungsbeschwerde im Allgemeinen Register. Dem Beschwerdeführer ist dies selbstredend zu gestatten, allerdings muss er und nicht das BVerfG für die hieraus resultierenden Verzögerungen einstehen. Der Verfahrensbeteiligte hat das BVerfG nicht an seine verfassungs- und kon­ ventionsunmittelbaren Pflichten zu erinnern.353 Ebenfalls ist nach der gesetzgebe­ rischen Intention die Geduld des Beteiligten nicht zu bestrafen, so dass sich eine „verspätete“ Verzögerungsrüge oder -beschwerde grundsätzlich nicht nachteilig auswirkt.354 Die sachgemäße Geduld endet dort, wo aufgrund eines hinreichenden Verdachts naheliegt, dass der Verfahrensbeteiligte bewusst eine (evident) über­ lange Verfahrensdauer erduldet, um im Anschluss eine Entschädigung zu kassie­ ren („Kein Dulde und Liquidere“). Dies dürfte allenfalls auf extreme Sonderfälle zutreffen.355 Insgesamt gilt, dass im Einzelfall abzuwägen ist, ob, und falls ja in welchem Verhältnis, eine Verzögerung dem Verfahrensbeteiligten oder dem Verfassungs­ 350

Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 28. So auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 47; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 36. 352 S. allgemein Kap. 3 A. I. 3. c) sowie für das BVerfG Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 36. 353 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2023); EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 43; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 37. 354 S. dazu Kap. 4 A. VII. 6. c) und VIII.; BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2023). 355 S. Kap. 4 A. VII. 6. c). 351

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

gericht zuzurechnen ist bzw. ob nicht schlicht ein objektives Hindernis bestand.356 Insofern findet eine Abgrenzung und Abwägung von Verantwortungssphären statt. Somit rückt das Verhalten des Verfassungsgerichts in den Fokus. Den Richtern des BVerfG obliegen Prozessförderungs- und Beschleunigungspflichten, um das Verfahren zu einem zügigen Ende zu bringen. Diese Pflichten gelten verschuldens­ unabhängig.357 Dem Verfassungsgericht sind bei der konkreten Umsetzung dieser Pflichten größere Freiräume zu gewähren als der Fachgerichtsbarkeit.358 Nichts­ destotrotz darf das Gewicht des betroffenen Grundrechts nicht außer Betracht bleiben. So hat das BVerfG bei der Ausübung seiner Prozessförderungspflicht eine vorherige fachgerichtliche Verzögerung, die zwar als solche nicht über § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG ausgleichspflichtig ist, dennoch zu beachten sowie die dies­ bezüglich gebotene Sorgfalt walten zu lassen.359 Die dem Verfassungsgericht zugebilligten Freiräume dürfen nicht überdehnt werden, da ansonsten der Grundsatz, wonach sich der Staat nicht auf Umstände, die in seinem Organisationsbereich liegen, entschuldigend berufen kann, in das Gegenteil verkehrt würde. Beispielhaft ist die ungewöhnlich lange Bestimmung der Senats- und Berichterstatterzuständigkeit anhand des Geschäftsverteilungsplans zu nennen, bei der sich das BVerfG lediglich in Ausnahmefällen auf die relativ größere Bedeutung anderer Verfahren berufen kann.360 Das Verhalten Dritter umschreibt das Verhalten sonstiger am Verfahren Be­ teiligter wie sachkundige Dritte (§ 27a BVerfGG), Zeugen und Sachverständige (§ 28 BVerfGG) oder Institutionen oder Personen des Verfassungslebens (vgl. etwa §§ 77, 82 Abs. 3, 94 Abs. 1–4 i. V. m. § 77 BVerfGG). Ihr Verhalten und von ihnen verursachte Verzögerungen361 liegen grundsätzlich außerhalb des Verantwortungs­ bereiches des Verfassungsgerichts und können daher zur Angemessenheit der Verfahrensdauer beitragen. Allerdings ist auch an dieser Stelle die Prozessförde­ rungspflicht des BVerfG zu beachten, insbesondere bei der Setzung von Fristen zur Stellungnahme.362 Ein höchst relevantes Kriterium ist die Bedeutung der Sache für den Betroffe­ nen. Nach Maßgabe der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG können sich 356

Vgl. Kap. 3 A. I. 3. g). MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 32; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 35. Vgl. zu §§ 198 ff. GVG BT-Drucks. 19/3802, 19. 358 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 26; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 –Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 36. 359 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790); NJW 2015, 3361 (3362); NJW 2016, 2021 (2022); Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 39; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 28. 360 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363 f.). 361 S. zur Praxis der Anhörung Dritter (§ 94 BVerfGG) Maciejewski, in: Burkiczak / Dollin­ ger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 48. 362 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 48. 357

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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an dieser Stelle besonders beschleunigungsbedürftige Fallgruppen (z. B. in Kind­ schaftssachen oder bei Rechtsstreitigkeiten, die sich auf das Existenzminimum auswirken) auftun.363 In solch einem Fall können bereits kurzzeitige Verzögerungen eine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen.364 Neben der subjektiven Bedeutung ist – insbesondere in staatsrechtlichen Verfahren – die objektive Be­ deutung der Sache miteinzubeziehen. Dies kann etwa die – über den Einzelfall hinausgehende – politische oder soziale Bedeutung der Sache sein,365 wie z. B. die zügige Überprüfung von Wahlen.366 Zu beachten ist, dass die Bedeutung der Sache nicht nur zur Unangemessenheit, sondern bei geringer Relevanz umgekehrt zur Angemessenheit der Verfahrens­ dauer führen kann. Denkbar ist, dass sich die politische oder soziale Bedeutung mit einer Gesetzesnovelle entschärft,367 erledigt oder, dass sich die besonderen subjektiven Umstände im Laufe der Zeit verändern. Als Indiz der objektiven oder subjektiven Bedeutung der Sache kann die Annah­ meentscheidung (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), die Stattgabe der Beschwerde durch eine Kammer (§ 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG) oder die Zuweisung an einen Senat dienen.368 Das verfassungsrechtliche Kriterium369 der Natur des Verfahrens findet sich nicht unmittelbar in den Rechtsprechungslinien des EGMR wieder, lässt sich in­ des in den Sphären der Bedeutung der Sache sowie der Komplexität des Verfah­ rens ansiedeln. Spezifisch im Kontext der §§ 97a ff. BVerfGG ist bei der Bemes­ sung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu beachten, welchen Zweck das verfassungsgerichtliche Ausgangsverfahren verfolgt. Fällt das Verfahren unter Art. 6 Abs. 1 EMRK oder unter Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, so ist dem individualschützenden Verfahren grundsätzlich ein engerer Zeitrahmen zu Grunde zu legen. Umgekehrt können objektivrechtliche Verfahren großzügiger gehandhabt werden. Hinsichtlich der Frage, wann ein Verfahren als individualschützend i. S. d. Grundgesetzes oder der Menschenrechtskonvention zu qualifizieren ist, kann auf die Analysen zu den einzelnen Verfahrensarten ver­ wiesen werden.370

363

S. zu den Fallgruppen eingehend Kap. 3 A. I. 3. e) und II. 2.; s. auch Maciejewski, in: Bur­ kiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  44 f.; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 29 ff. 364 (Wohl) strenger BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2014, 3361 (3365): „nur außerge­ wöhnliche und seltene Umstände [können] dazu führen, eine etwa bei einem Jahr liegende Bearbeitungsdauer […] zu beanstanden“. 365 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 26. 366 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1470 (1480); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 31. 367 So BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (792). 368 Vgl. Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 49; Zuck, NVwZ 2013, 265 (267). 369 BVerfG (Kammer), Beschluss v. 14. 12. 2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160. 370 Vgl. Kap. 3 A. I. 2. c) und  II. 1. c).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

bb) Unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts Die nach diesen Kriterien gefundenen Umstände des Einzelfalles sind unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben und Stellung des BVerfG einer Ge­ samtbewertung zuzuführen („verfassungsgerichtsspezifische Auslegung“371). Aus­ gangspunkt der Besonderheiten des BVerfG ist dessen Stellung als Verfassungs­ organ und Gericht. Als Hüter der Verfassung ist das BVerfG ein Teil der dritten Gewalt und der alleinige Letztinterpret des Grundgesetzes. Die sich hieraus erge­ benden organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten sollen nach der gesetzgeberischen Intention besonders berücksichtigt werden.372 (1) Organisatorische Besonderheiten Die Berücksichtigung von organisatorischen Besonderheiten beruht darauf, dass eine Kapazitätsausweitung – nach Ansicht des Gesetzgebers und des BVerfG373 – durch Berufung zusätzlicher Verfassungsrichter strukturbedingte Grenzen gesetzt seien, da zum einen das Grundgesetz und vor allem das BVerfGG die Zusammen­ setzung des Gerichts vorgeben und Änderungen ein Eingreifen des Gesetzgebers erfordern. Zum anderen berge ein größeres Kollegium Unwägbarkeiten hinsichtlich der Aufgabe einer einheitlichen und verlässlichen Rechtsprechung.374 Unterhalb der Ebene der Richter kann bis zu einem gewissen Grad die Einstellung weiterer Wissenschaftlicher Mitarbeiter Abhilfe verschaffen.375 Bei aktuell 65 Wissen­ schaftlichen Mitarbeiter, d. h. circa vier pro Richter, muss aber bedacht werden, dass letztlich der zuständige Richter die persönliche Verantwortung für die Arbeit der Mitarbeiter trägt376 und ihre Anzahl daher nicht beliebig gesteigert werden kann.377 Demgegenüber ist unter dem Eindruck der Konvention zu würdigen, dass auch bei der Verfassungsgerichtsbarkeit eine chronische Überlastung eine unangemes­ 371

Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 36. BT-Drucks. 17/3802, 26; offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht). 373 BT-Drucks. 17/3802, 26, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht); BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (790 f.); NJW 2015 3361 (3362); NJW 2016, 2021 (2022). 374 Unter Hinweis auf die 47 Richter des EGMR sieht Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 9 dieses Argument zumindest als diskutabel an und verweist dabei auf die Einschätzungsprärogative des Parlaments. 375 Vgl. die action reports des BMJV CoE, CM / ResDH(2001)6, Appendix; CM / ResDH​ (2001)7, Appendix; CM / ResDH(2007)163, Appendix, II, dazu Kap. 2 C. II. 376 Vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 914. 377 Schluckebier, ZRP 2012, 133 (134) spricht von einer einhelligen Einschätzung der Ver­ fassungsrichter, dass vier Mitarbeiter pro Richter das Maximum des guten Gewissens Ver­ tretbaren sind. 372

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

237

sene Verfahrensdauer nicht rechtfertigen kann und für eine Verantwortlichkeit des Staates spricht.378 Lediglich ein kurzzeitiger Rückstand kann eine Haftung ver­ hindern, sofern der Staat und seine Gerichte die notwendigen Gegenmaßnahmen ergreifen.379 Damit steckt das Verfassungsgericht letztlich in einem Dilemma: auf der einen Seite sind der Kapazitätsausweitung systemimmanente Schranken ge­ setzt, auf der anderen Seite kann sich der Staat nicht rechtfertigend auf Umstände berufen, die seinem Organisationsbereich zuzurechnen sind, insbesondere nicht aus einer chronischen Überlastung herrühren. Das Kriterium der organisatorischen Besonderheiten läuft damit weitestgehend leer bzw. kann sogar in sein Gegenteil verkehrt werden.380 Der Gerichtshof hat die Frage nach der rechtfertigenden Wirkung der organi­ satorischen Besonderheiten bisher nicht weiter aufgegriffen und belässt es beim allgemeinen Verweis auf die Pflicht der Konventionsstaaten ihre Fachgerichte und in modifizierter Weise die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gestalt zu organi­ sieren, dass ein Fall in angemessener Zeit bearbeitet werden kann.381 Auf nähere Aussagen zur Gerichtsorganisation verzichtet der EGMR und überlässt diese den Entscheidungsfreiräumen der Mitgliedstaaten.382 (2) Verfahrensmäßige Besonderheiten Die verfahrensmäßigen Besonderheiten ergeben sich aus der Stellung als Hüter der Verfassung, dessen ureigenste Aufgabe die autoritative Auslegung und Inter­ pretation des Grundgesetzes ist.383 Folgen dieser Funktion sind, dass die Entschei­ dungen über den Einzelfall hinauswirken und ggf. Gesetzeskraft haben (vgl. § 31 BVerfGG).384 Diese Aufgaben und Wirkungen erfordern es, dass grundsätzlich 378

EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 69; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 64; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 76; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 26. 379 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 69; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 64; vgl. auch Unión Alimentaria Sanders S. A. v. Spain, Urteil v. 07. 07. 1989, No. 11681/85, Rn. 40 m. w. N. 380 Ähnlich Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 974b, Fn. 82; vgl. zu den Möglichkeiten, um Überlastungen der Senate oder einzelner Richter zu verhindern Maciejewski, in: Burki­ czak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  57 f. 381 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 68; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 63; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 75; Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02, Rn. 45; Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63. 382 Auf das Argument der strukturbedingten Grenzen geht der Gerichtshof nicht näher ein, vgl. EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 35, 40 f. 383 BT-Drucks. 17/3802, 26, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht). 384 BT-Drucks. 17/3802, 26, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

jedes Verfahren385 einer besonders tiefgehenden und abwägenden Prüfung unter­ zogen wird.386 Damit werden dem Anspruch auf eine angemessene Verfahrens­ dauer (verfassungsimmanente) Schranken gesetzt,387 die auch der EGMR in seiner Rechtsprechung grundsätzlich würdigt. So billigen die Straßburger Richter, dass das BVerfG einen Fall nicht chronologisch oder nach dessen Registereintragung abarbeiten muss, sondern aufgrund der Natur der Sache oder der sozialen oder poli­ tischen Bedeutung in einer anderen Reihenfolge bearbeiten kann.388 Die Beschwer­ dekammer rezipiert diesen Linien, indem sie Verfahren, insbesondere Senatsver­ fahren, von besonders stark politischer Bedeutung einen Vorrang einräumt.389 Zudem wurde von der Beschwerdekammer berücksichtigt390 und vom EGMR nicht beanstandet391, dass es einem Verfassungsrichter in der letzten Phase seiner zwölfjährigen Amtszeit aus prozessökonomischen Gründen gestattet sein kann, bereits begonnene umfangreiche Verfahren, insbesondere Senatsverfahren, abzu­ schließen und andere Verfahren hierfür zurückzustellen.392 Bei der Beurteilung der Zurückstellung darf allerdings der Anspruch auf eine angemessene Verfah­ rensdauer, vor allem in den neuralgischen Fallgruppen, nicht nivelliert werden.393 Nach Maßgabe der EGMR-Rechtsprechung erlaubt der modifizierte Arbeitsab­ lauf insbesondere, dass gewisse Verfahren zurückgestellt werden, um eine Grund­ satzentscheidung in einem Parallelverfahren abzuwarten.394 In Anlehnung an diese Judikatur nimmt die Beschwerdekammer einen weiten Gestaltungsspielraum395 an, in dessen Rahmen bestimmte Sachen als Pilotverfahren vorzuziehen und andere 385 Ob wirklich „jedes Verfahren“, insbesondere „jede“ Verfassungsbeschwerde, derart tiefgehend behandelt werden muss, kann bei Standardfällen oder offensichtlich unzulässig und / oder unbegründeten Fällen bezweifelt werden, vgl. Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 13. 386 BT-Drucks. 17/3802, 26, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 1 (unveröffentlicht). 387 Vgl. zur Radizierung der verfassungsgerichtlichen Sonderstellung Kap. 3 A. II. 2. und B. II. 388 EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, 20024/92, Rn. 56; Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008, No. 58911/00, Rn. 63; Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 40; vgl. auch Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 68; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 63; vgl. Zuck, NVwZ 2012, 265 (267 f.). 389 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3364); NJW 2016, 2021 (2023); s. auch NVwZ 2013, 789 (791) (=BVerfGK 20, 65 [73]); NJW 2016, 2021 (2022); Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 23; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 –Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 14. 390 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791). 391 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 46–48. 392 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 65. Kri­ tisch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 30; Zuck, NVwZ 2013, 779 (781). 393 Vgl. Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 48. 394 EGMR, Peter v. Germany, Urteil v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 41, 46. 395 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 26; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 –Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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parallele Verfahren zunächst zurückgestellt werden können, sofern „aus der Sicht ex ante vernünftigerweise erwartet werden konnte, dass die Auswahl des zu be­ treibenden Pilotverfahren und die Zurückstellung anderer Verfahren der effektiven Erfüllung der Aufgaben unter Berücksichtigung der wohlverstandenen Interessen der jeweils Beteiligten dient“.396 Umgekehrt ist nach Maßgabe der ex ante-Pers­ pektive nicht nur ein Zurückstellen, sondern eine Zusammenfassung geeigneter Parallelverfahren möglich, um einen Themenkomplex sinnvoll und umfassend beleuchten zu können.397 Mit dem Zurückstellen und Bündeln trägt das Verfas­ sungsgericht letztlich den organisatorischen Besonderheiten Rechnung, indem es mit den begrenzten personellen Ressourcen ökonomisch sinnvoll umgeht.398 Inso­ fern sind die Grenzen des Gestaltungsspielraumes erst überschritten, „wenn sich die verfahrensleitende Entscheidung nicht auf verfahrensökonomische Sachgründe stützen lässt, sondern von sachfremden und zweckwidrigen Erwägungen getragen ist oder im Hinblick auf die besonderen Umstände des Falls unverhältnismäßig erscheint“.399 Unter Wahrung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer kann letzteres der Fall sein, wenn sich aufgrund der subjektiven Bedeutung des Falls aufdrängt, dass dieser vorrangig behandelt werden muss.400 (3) Atypische Rechtfertigungsgründe Neben den organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten können noch atypische Rechtfertigungsgründe angeführt werden. Dies sind in der Regel singuläre Ereignisse, die einen ungewöhnlichen Anstieg an Eingängen hervorrufen und eine Priorisierung von besonderes virulenten Fällen durch das Verfassungs­ gericht erfordern. Zu nennen ist die Wiedervereinigung Deutschlands, welche der EGMR je nach Ausgangsfall als rechtfertigend ansah.401 Ähnliches galt in der 396

BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791); NJW 2015, 3361 (3362); NJW 2016, 2021 (2022), Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 –Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 14. Hierzu Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 63. 397 BT-Drucks. 17/3802, 26. 398 So auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 59. 399 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791 f.); NJW 2016, 2021 (2023). 400 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2023); Beschluss v. 30. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 26; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16. Bei einer bei etwa einem Jahr liegenden Verfahrens­ dauer müssen „außergewöhnlich dringliche und seltene Umstände“ vorliegen, NJW 2015, 3361 (3365). S. auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 62. 401 Akzeptiert in: EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92, Rn. 60; Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95, Rn. 72; Maltzan and Others v. Germany, Entscheidung v. 02. 03. 2005, No. 71916/01, 71917/01, 10260/02, Rn. 134, 136. Ab­ gelehnt in: EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 71; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 66; Klein v. Germany, Urteil v. 27. 07. 2000, No. 33379/96, Rn. 45, Hesse-Anger c. Allemagne, Urteil v. 06. 02. 2003, No. 45835/99, Rn. 32;

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Gründungs- und Transformationsphase für die noch junge Republik Slowenien und dessen Verfassungsgericht.402 Vergleichbares dürfte für Verzögerungen infolge der COVID-19-Pandemie gelten.403 Entsprechend der vom EGMR aufgestellten Grundsätze können solche Ereignisse allenfalls vorrübergehend als Rechtfertigung herangezogen werden und können keine bereits zuvor bestehende unangemessene Verfahrensdauer ausgleichen.404 c) Zwischenergebnis Im Wege einer Gesamtbetrachtung sind die Kriterien gegeneinander abzuwägen. Für die Besonderheiten des Verfassungsgerichts gilt, dass diese nicht nur formel­ haft angeführt werden dürfen,405 sondern auf Tatsachen fußen müssen, damit es nicht zu einer Abwälzung des staatlichen Verantwortungsbereiches zulasten des Einzelnen kommt. Denn der Nukleus des Prüfungsmaßstabs ist der Anspruch des Individuums auf eine angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG.406 Räumt man dem BVerfG eine zu große qualitative Sonderstellung und zu weite Spielräume bei der Beurteilung in eigener Sache ein, so birgt dies die Gefahr der Ineffektivität des Rechtsbehelfs, damit erneuten Verurteilungen durch den EGMR und den Rück­ fall in frühere Zeiten. 5. Kausaler Nachteil a) Nachteilsbegriff Zum haftungsbegründenden Tatbestand gehört entsprechend des Wortlauts von § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG das Vorliegen eines Nachteils, der kausal auf die unan­ gemessene Verfahrensdauer zurückzuführen ist. Entsprechend des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG fallen hierunter sowohl materielle als auch immaterielle Nachteile. Den Nachteilsbegriff lässt der Gesetzgeber offen. Greift man auf die im Gesetzgebungs­

in der Sache Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98 ging der EGMR gar nicht erst auf diesen Einwand der Regierung (vgl. ebenda, Rn. 45) ein. S. dazu Kap. 2 A. I. 402 EGMR, Tričković v. Slovenia, Urteil v. 12. 06. 2001, No. 39914/98, Rn. 67. 403 Vgl. die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des BVerfG, https:// www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-019a.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 404 Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 32 sowie Kap. 2 C. I. 3. 405 Vgl. die Kritik von Zuck, NVwZ 2013, 779 (781) an BVR a. D. Steiner, der seinerseits von einer Einhegung des BVerfG durch Art. 6 EMRK mehr als kritisch gegenübersteht, vgl. Steiner, in: FS Bethge, 653 (657). 406 Vgl. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 31; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1358; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 16.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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verfahren erfolgten Änderungen im haftungsausfüllenden Tatbestand zurück, so wird einerseits deutlich, dass die Entschädigung des Nachteils nicht nach Maßgabe der §§ 249 ff. BGB erfolgen soll, sondern auf eine angemessene Entschädigung – in Anlehnung an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB – begrenzt werden soll. Zudem ging man von einer sachgerechten Ausgestaltung unter Berücksichtigung der EMRK und damit letztlich der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1, 41 EMRK aus.407 Dies spricht dafür den Begriff des Nachteils weder synonymhaft mit dem des Schadens aus §§ 249 ff. BGB noch wegen der Divergenzen zu Art. 41 ERMK mit dem der Beeinträchtigung aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB408 zu verwenden.409 Stattdessen ist der Nachteilsbegriff des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG eigenständig zu definieren:410 Ein Nachteil ist jedes nicht völlig unerhebliche „quantitatives und / oder qualitatives Weniger als sonst, als ohne die Überlänge des Verfahrens“411. Materielle Nachteile sind alle infolge der unangemessenen Verfahrensdauer erlittenen Einbußen an wirtschaftlichen Vermögenswerten. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR umfasst dies unmittelbare Verminderungen der wirt­ schaftlichen Substanz, mittelbare verursachte Vermögensabflüsse sowie unterblie­ bene Vermögensmehrungen.412 Dass der letztgenannte Nachteil nach der gesetzge­ berischen Intention nicht angemessen entschädigt werden soll,413 ist eine Frage der Rechtsfolge und nicht des Tatbestandes. Exemplarisch sind als materielle Nachteile zu nennen: Kostenerhöhungen im verfassungsgerichtlichen oder im ausgesetzten fachgerichtlichen Ausgangsverfahren, oder die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruches.414 Als immaterielle Nachteile kommen sämtliche erlittenen nicht-pekuniären Einbußen infolge des überlangen Verfahrens in Betracht. Diese psychischen Aus­ wirkungen lassen sich bei unangemessen langer Verfahrensdauer auf seelisches Unbill konkretisieren, welches u. a. auf andauernder Anspannung, Ungewissheit, Planungsunsicherheit, Rufschädigung oder Entfremdung des Kindes von einem Elternteil fußen kann.415 Für den Eintritt solch eines Nachteils besteht nach stän­ 407

S. zum Gesetzgebungsverfahren und zur Entschließung des Bundestages eingehend Kap. 2 B. IV. 408 Vgl. MüKoBGB / Brückner, § 906, Rn. 187 ff. 409 Vgl. zu § 198 GVG R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 188 f. 410 Aufgrund der Parallelität und des geringen verfassungsgerichtsspezifischen Gehalts kann an die Definition zu §§ 198 ff. GVG angelehnt werden, s. zum Nachteilsbegriff Becker, in: Baumbach / Lauterbach / Hartmann / Anders / Gehle, ZPO, § 198 GVG, Rn.  16 f. 411 Becker, in: Baumbach / Lauterbach / Hartmann / Anders / Gehle, ZPO, § 198 GVG, Rn.  16 f. 412 Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  19–23; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 15, Rn. 7. 413 BT-Drucks. 17/7217, 28; Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3. 414 Vgl. für § 198 Abs. 1 GVG BT-Drucks. 17/3802, 19. 415 Vgl. für § 198 Abs. 1 GVG BT-Drucks. 17/3802, 19; für Art. 6, 41 EMRK Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  25.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

diger EGMR-Rechtsprechung sowohl im Kontext von Art. 41 EMRK als auch den entsprechenden nationalen Rechtsbehelfen zur Kompensation von unangemessen langen Verfahren eine starke, aber widerlegbare Vermutung,416 wie sie in der Re­ gelung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG einfachgesetzlich verankert ist.417 Aufgrund des bereits gezeigten, besonders engen Bezug zum Individualrechts­ schutz ist die Vermutung gegenüber staatlichen Verfahrensbeteiligten grundsätz­ lich nicht anwendbar, so dass sie aktiv eine individuelle Betroffenheit und einen hieraus resultierenden immateriellen Nachteil darzulegen haben.418 Vorstellbar ist dies in Fällen bei denen ein engerer Bezug zum einzelnen Amtsinhaber oder Abgeordneten besteht. Ähnliches kann für Kollektivorgane gelten.419 Beispielhaft kann mit einer überlangen Richter- oder Präsidentenanklage eine Rufschädigung einhergehen oder bei überlangen kontradiktorischen Verfahren Ungewisshei­ ten oder Planungsunsicherheiten bei der Ausübung der umstrittenen Rechte und Pflichten entstehen.420 b) Kausalität Zwischen der behaupteten Verzögerung und dem unangemessenen Nachteil muss ein haftungsausfüllender Kausalzusammenhang bestehen. Hierfür können die bekannten Kausalitätsnachweise anhand der Äquivalenz- und Adäquanztheorie sowie des Schutzzwecks der Norm herangezogen werden.421 Materielle Nachteile sind im Sinne einer conditio sine qua non nur kausal, wenn sie ohne die Verzögerung nicht entstanden wären. Entscheidend ist hierbei nicht der Ausgang des Verfahrens in der Sache, sondern lediglich der Zeitraum der Überlän­ ge.422 Adäquanz liegt vor, wenn die unangemessene Verfahrensdauer allgemein und nicht nur unter besonders atypischen Umständen den Nachteil herbeigeführt hat.423 416

EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66; vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 33, Rn. 25; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 19. 417 BT-Drucks. 17/3802, 19, 26 f.; Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3; ebenda, 23. 418 S. Kap. 4 A. VI. 3. 419 S. zur individuellen Betroffenheit Kap. 4 A. VI. 2. 420 Vgl. Schmidt, in: FS Klein, 485 (494) sowie BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 421 Für § 198 GVG Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG, Rn. 156; zustimmend Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei über­ langen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 74; R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 190. 422 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); vgl. auch Dörr, in: ders. / Grote / Ma­ rauhn, EMRK / GG, Kap. 33, Rn. 29. 423 Vgl. Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vor­ gaben des EGMR, 74.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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Da es sich bei einer überlangen Verfahrensdauer letztlich um eine Verletzung der Prozessgrundrechte durch ein richterliches Unterlassen handelt, ist im Wege der Quasi-Kausalität zu überlegen, ob eine Verfahrensbeschleunigung die Rechtsver­ letzung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Soweit hierfür die allgemeinen Darlegungs- und Beweislastgrundsätze gelten, dürfte es für den Be­ schwerdeführer schwer sein dies nachzuweisen. Daher sind auch die allgemeinen Beweiserleichterungen, wie der Anscheinsbeweis, anwendbar,424 so dass sich der Betroffene auf einen typischen Geschehensablauf aufgrund von Erfahrungssätzen stützen kann, ohne dass es eines näheren Vortrages bedarf.425 Im Lichte der kon­ ventionskonformen Auslegung trägt dies der EGMR-Rechtsprechung zu den ge­ lockerten Kausalitätsanforderungen bei bloß „entgangenen Chancen“ hinreichend Rechnung,426 ohne dass es zu einer pauschalierten Entschädigung nach reinen Billigkeitsmaßstäben kommt.427 Als Beispiel für kausale Nachteile kann auf die Fälle Pammel und Probstmeier verwiesen werden, bei denen der EGMR den Be­ schwerdeführern einen billigen Ersatz für entgangene Mieterhöhungen zusprach.428 Für die Kausalität von immateriellen Nachteilen gilt wiederum die Vermutungs­ regelung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG und die hierzu aufgestellten Maßstäbe.

III. Rechtsfolge 1. Der Begriff der angemessenen Entschädigung Auf Vorschlag des Bundesrates wurde im Gesetzgebungsprozess429 der § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG derart geändert, dass dem Wort „entschädigt“ das Adverb „angemessen“ vorangestellt wurde.430 Der Gesetzgeber rückte damit von den im Regierungsentwurf vorgesehenen Bemessungsgrundsätzen der §§ 249 ff. BGB ab und beabsichtigte die Reduzierung des Kompensationsumfangs – in Anlehnung an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB431 – auf ein angemessenes Entschädigungsniveau zu re­ duzieren, insbesondere auf „eingetretene Substanzverluste“ unter Ausschluss von „entgangenen Gewinn“.432 Diese Ansicht brachte der Bundestag nicht nur in den 424 Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BTDrucks. 17/7217, 3; ebenda, 23. 425 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 31; vgl. auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG, Rn. 157. 426 Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  32. 427 Hierfür aber HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 24. 428 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 78; Probstmeier v. Ger­ many, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 73, s. dazu Kap. 2 A. I. 5. 429 S. eingehend Kap. 2 B. IV. 430 BT-Drucks. 17/7217, 27 f. 431 BT-Drucks. 17/3802, Anlage 3, 34. 432 Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BTDrucks. 17/7217, 3; ebenda, 23, 27 f.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Gesetzesmaterialien, sondern zusätzlich in einer parlamentarischen Entschließung zum Ausdruck.433 Im staatshaftungsrechtlichen Dualismus von Schadensersatz und Entschädi­ gung müsste die „angemessene Entschädigung“ des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG entsprechend der Terminologie im letzteren Bereich zu verorten sein.434 Die Ent­ schädigung ist systematisch betrachtet, ein billiger Ausgleich für das vom Betrof­ fenen erbrachte Sonderopfer und damit eigentlich die Rechtsfolge von Aufopfe­ rungs- oder Enteignungsentschädigungsansprüchen.435 Typischerweise ist deren Entschädigungsumfang „nicht notwendig mit einem vollen Schadensausgleich kongruent, kann aber darauf gerichtet sein, wenn erst damit das Sonderopfer voll kompensiert wird“.436 Eine Erstattung von immateriellen Schäden wird in diesen Konstellationen nach Maßgabe der – umstrittenen – Rechtsprechung abgelehnt.437 2. Inhalt und Umfang a) Ersatz materieller Nachteile Da der Gesetzgeber dem Haftungsregime der §§ 249 ff. BGB eine Absage er­ teilte und lediglich Substanzschäden unter Ausschluss von entgangenem Gewinn kompensieren möchte, würde eine rein nationale Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG unter Anwendung der dargelegten Grundsätze des Entschädigungsrechts sich als partiell konträr zur Rechtsprechung des EGMR über den Haftungsumfang bei Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erweisen, insbesondere was die Erstattungs­ fähigkeit von entgangenem Gewinn betrifft. aa) Unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbußen Ausgangspunkt der EGMR-Rechtsprechung ist an sich – wie vom Gesetzgeber richtig erkannt438 – der Grundsatz der Naturalrestitution (restitutio in inte­grum), d. h. der Betroffene ist in tatsächlicher Hinsicht so zu stellen, als wäre die Kon­ ventionsverletzung nicht ergangen.439 Bei einer irreversiblen Verletzung des An­ spruches auf eine angemessene Verfahrensdauer ist solch eine Restitution pro

433

S. BT-Drucks. 17/3802, Anlage 3, 34; 17/7217, 23, 27 f.; Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3. 434 Vgl. für § 198 GVG R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 191 f. 435 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 146 f., 249 ff., 462; s. dazu Kap. 4 B. I. 436 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 146. 437 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 147 f. m. w. N. 438 BT-Drucks. 17/7217, 23, 28. 439 Schabas, ECHR, 837 m. w. N.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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praeterito naturgemäß ausgeschlossen.440 Stattdessen erstattet der EGMR gemäß Art. 41 EMRK dem Betroffenen unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbu­ ßen (damnum emergens) infolge der Konventionsverletzung.441 Dies entspricht dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausgleich für eingetretene Substanzverluste. Anders als im übrigen Staatshaftungsrecht ist es aufgrund des konventionsrecht­ lichen Hintergrundes geboten, bei der Abwägung und Bemessung der Entschädi­ gungshöhe sich stark an den Grundsätzen des EGMR zu orientieren, damit der Rechtsbehelf nicht als ineffektiv bewertet wird.442 Konkret ist bei Verfahren – ins­ besondere solchen, die Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfallen – grundsätzlich ein voller Ausgleich für unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbußen zu gewähren.443 Eine Abwägung zulasten des Betroffenen, die zu einem geminderten Anspruch führt, liefe Gefahr der Konventionswidrigkeit. bb) Entgangener Gewinn? Über diese Vermögenseinbußen hinaus bewilligt der EGMR im Einzelfall den entgangenen Gewinn (lucrum cessans).444 Zwar fordert weder der Grundsatz der konventionskonformen Auslegung445 noch der EGMR446 eine schematische Paral­ lelisierung von nationaler und konventionsrechtlicher Rechtslage. Stattdessen er­ wartet der EGMR lediglich eine adäquate Kompensation, deren Höhe in Relation zu den vom Gerichtshof in ähnlichen Fällen getroffenen Entscheidungen nicht unangemessen abweichen darf.447 Dabei sind die einzelnen verfahrensmäßigen Ausgestaltungen des nationalen Präventiv- und Kompensationsrechtsbehelfs in Verhältnis zur Entschädigungshöhe zu setzen.448 Überträgt man diese Grundsätze auf die Verzögerungsbeschwerde, so würde eine Diskrepanz der Entschädigungshöhe aufgrund des Ausschlusses von ent­ gangenem Gewinn zusammen mit den übrigen in §§ 97a ff. BVerfGG angelegten 440

S. dazu oben Kap. 3 B. II. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  19 f.; Schabas, ECHR, 837; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 56 f., jeweils m. w. N. 442 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64 f.; CoE, CDLSTD(2007)044, para. 166 f. 443 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  50 ff. 444 Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  21 f.; Schabas, ECHR, 837; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 56 f., jeweils m. w. N. 445 S. dazu Kap. 3 A. I. 1. 446 Vgl. HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 19. 447 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64; CoE, CDL-STD(2007)​ 044, para. 166. 448 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 65; CoE, CDL-STD(2007)​ 044, para. 167. 441

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Hürden449 die Gefahr einer Beanstandung eminent steigern. Insofern stellt sich die Frage, wie der Widerspruch zwischen dem Willen des Gesetzgebers und der EGMR-Judikatur methodisch aufzulösen ist. Ausgangspunkt dieses Dissenses sind die eingangs vorgestellten Aussagen des Gesetzgebers, wie sie in den Drucksachen sowie verstärkt in der Entschließung des Bundestages450 artikuliert wurden.451 Zu bedenken ist aber, dass insbeson­ dere letzterer Parlamentsbeschluss rechtlich nicht verbindlich, auf der anderen Seite bei der Auslegung der betroffenen Normen rechtlich nicht irrelevant ist.452 Im Lichte einer genetischen Interpretation könnte also der Schluss nahe liegen, dass ein entgangener Gewinn – trotz anderslautender EGMR-Judikatur – nicht zu entschädigen wäre.453 Gleichwohl ist neben diesen formalen Erkenntnisquellen der historische Kon­ text und damit verbunden das Telos des ÜGRG heranzuziehen: Das Gesetz wurde erst nach zahlreichen Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland sowie auf­ grund einer Fristsetzung des EGMR implementiert.454 Dieser Hintergrund wird in den Gesetzgebungsmaterialien an vielen Stellen deutlich und manifestiert sich in der übergeordneten Intention des Gesetzgebers, einen konventionskonformen Rechtsbehelf zu kreieren.455 So wurde selbst bei der Begrenzung der Entschädi­ gung durch das Einfügen des Wortes „angemessen“ auf die (vermeintliche) Kon­ ventionskonformität verwiesen.456 Der konkrete gesetzgeberische Wille zur Be­ schränkung der Entschädigungshöhe auf der einen Seite sowie die allgemeine Absicht zur konventionskonformen Ausgestaltung auf der anderen Seiten erweisen sich damit als widersprüchlich.457 449 Gemeint sind die Verzögerungsrüge, die Warte- und Ausschlussfristen, die Präklusions­ wirkung sowie das Begründungserfordernis (s. Kap. 4 A., Kap. 5 A. und B. I.). Ferner hat der EGMR den auf Erstattung nach §§ 249 ff. BGB gerichteten Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) bereits als ineffektiv bewertet, s. Kap. 2 A. I. 10. 450 Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BTDrucks. 17/7217, 3. 451 Zum Gesetzgebungsverfahren Kap. 2 B. IV. 452 Vgl. Klein, in: HStR III, § 50, Rn. 4; eingehend zur Verbindlichkeit Butzer, AöR 119 (1994), 61 (90 ff.). 453 So für §§ 198 ff. GVG Althammer / Schäuble, NJW 2012, 1 (3 f.); Heine, MDR 2012, 327 (330); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichts­ verfahren, § 198 GVG, Rn. 222; Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); zweifelnd Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 104; dagegen wohl auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn.  73. 454 Vgl. Kap. 2 A. I. 455 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 1, 15, 19, 26 f.; ebenda, Anlage 4, 40; 17/7217, 1, 23, 28; BRDrucks. 540/1/10, 17; Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3. 456 „Auch konventionsrechtlich ist daher keine weitergehende Regelung geboten.“, BTDrucks. 17/7217, 28; vgl. HK-BVerfG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 8; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 39. 457 Vgl. zu diesem Unsicherheitsargument Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 42, 44; § 12, Rn. 68.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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Der Gesetzgeber unterlag insofern einer offensichtlichen Fehlvorstellung über die Ausschlussfähigkeit des entgangenen Gewinns, so dass er gerade nicht bewusst von der Konvention abweichen wollte. Ein Konventionsabweichungswille kann da­ her nicht nachgewiesen werden. Nach Maßgabe der BVerfG-Rechtsprechung wäre Letzterer allerdings erforderlich, um ausnahmsweise einer konventionskonformen Auslegung – zur Abwehr von Verstößen gegen tragende Grundsätze der Verfas­ sung – eine Absage zu erteilen.458 Stattdessen bleibt es aufgrund der irrtümlichen Annahme der Konventionskonformität bei dem Grundsatz, dass der Interpretation im Lichte der Menschenrechtskonvention – zur Vermeidung von Völkerrechtsver­ stößen – ein Vorrang einzuräumen ist. Weder der Wortlaut des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG („angemessen entschädigt“) noch die hergebrachte Entschädigungs­ dogmatik stehen solch einer Auslegung als unüberwindbare Grenze im Weg. Im Gegenteil eröffnet gerade der offene Wortlaut eine konventionskonforme Interpre­ tation, so dass auch ein Nachteil in Form eines entgangenen Gewinns angemessen entschädigt werden kann. Zudem können die §§ 97a ff. BVerfGG nicht pauschal in das hergebrachte Staatshaftungsrecht einsortiert werden,459 weshalb ein Abweichen von den bisherigen Entschädigungsgrundsätzen sachgemäß erscheint. Im Ergebnis schirmt lediglich diese Auslegung im Lichte der Menschenrechtskonvention die Bundesrepublik nachhaltig vor erneuten Verurteilungen460 ab.461 Bei der Höhe des Ausgleichs empfiehlt sich eine Orientierung an den vom EGMR zugesprochenen Summen. Da sich diese tendenziell nach Billigkeitsmaß­ stäben bilden,462 hat ebenso die Beschwerdekammer keine fixen Entschädigungs­ summen auszusprechen, sondern kann sie nach Abwägung auf ein adäquates Maß mindern. Relevant sind in diesem Abwägungsvorgang die Frage nach der Verant­ wortlichkeit der Verzögerung sowie eine Bewertung der verpassten Exspektanz im Einzelfall. Die konventionskonforme Interpretation kann mit dieser Feinjus­ tierung sogar der staatshaftungsrechtlichen Dogmatik des § 97a Abs. 1 BVerfGG sowie dem gesetzgeberischen Willen zur Reduzierung des Anspruches hinreichend Rechnung tragen.

458 Vgl. zu den Grenzen der konventionskonformen Auslegung und zur EMRK-Bindung des Gesetzgebers Kap. 3 A. I. 1.  sowie Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  2, Rn. 49. 459 Vgl. Kap. 4 A. III. 460 Hierbei ist zu beachten, dass der EGMR weiterhin die praktische Anwendung des ÜGRG im Lichte der Konvention beobachtet und sich weitere Überprüfungen vorbehält, vgl. Kap. A. I. 13. und 14. 461 Hierfür auch Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 69; MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 34, 38 f.; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 52; Zuck, NVwZ 2012, 265 (268 f.); vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 29. 11. 2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, juris, Rn. 236– 241; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 462 f.; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857 (859); Wolff, VR 2012, 289 (291). 462 Vgl. EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 78; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 73; vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 33, Rn. 54 f., 58.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

cc) Zwischenergebnis Materielle Nachteile sind entsprechend der Grundsätze des nationalen Ent­ schädigungsrechts in konventionskonformer Auslegung zu kompensieren, so dass einem Betroffenen unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbußen regelmäßig vollständig sowie entgangene Gewinne angemessen zu entschädigen sind. Damit ist der Entschädigungsanspruch faktisch einem echten Schadensersatzanspruch an­ genähert.463 Als entschädigungspflichtig kommen regelmäßig Nutzungsausfälle, Zinsen sowie Kosten und Auslagen in Betracht.464 Für alle Posten gilt, dass bei der Bemessung des Nachteils zumindest der Rechtsgedanke des § 254 BGB An­ wendung findet und ein Mitverschulden berücksichtigt wird.465 Demgegenüber geht die Beschwerdekammer bislang unter Verweis auf den Regierungsentwurf und ohne nähere Auseinandersetzung mit der Thematik von einer Kompensation nach §§ 249 ff. BGB aus.466 Dabei ist zu beachten, dass die Kammer bisher keine Kompensation für materielle Nachteile gewährt hat und eine Revidierung der Aussage ohne weiteres möglich wäre. b) Ersatz immaterieller Nachteile aa) Wiedergutmachung auf andere Weise Für die nach § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG vermuteten immateriellen Nachteile, kann eine geldwerte Entschädigung nur dann begehrt werden, soweit nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht aus­ reichend ist (§ 97a Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Diese Ausschlussregelung467 räumt der Wiedergutmachung auf andere Weise einen Vorrang gegenüber einer geldwer­ ten Entschädigungszahlung ein (Subsidiarität der geldwerten Entschädigung von immateriellen Nachteilen).468 Als Form der anderweitigen Wiedergutmachung kommt vor dem Verfassungsgericht nur die bloße Feststellung der Unangemes­ senheit der Verfahrensdauer in Betracht.469 Der Gesetzgeber knüpft hiermit an die 463

MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 39. Dazu Barczak, AöR 138 (2013), 536 (580); Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 70, Fn. 139. 465 Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 70–73. 466 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363). 467 Vgl. zur Frage, ob es sich um ein negatives Tatbestandsmerkmal oder Entschädigungsaus­ schluss handelt, R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 205–207. 468 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 40; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 77; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 59. A. A. Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 79. 469 So auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 78; vgl. BT-Drucks. 17/3802, 19, 26 f. MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 40 spricht sich zusätzlich für eine „Entschuldigung beim Verfahrensbeteiligten“ aus. 464

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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EGMR-Rechtsprechung an, wonach ein immaterieller Nachteil nicht stets eine monetäre Kompensation erfordert.470 Eine Feststellung kann daher ausreichen, wenn die Verzögerung allenfalls geringfügig ist, die Sache keine besondere Be­ deutung hat oder der Betroffene durch sein Verhalten zur Verfahrensdauer beige­ tragen hat.471 Umgekehrt kann auch eine bereits bestehende Verzögerung, die durch prozessfördernde Maßnahmen des BVerfG abgemildert wurde, ausreichend durch eine Feststellung der Verzögerung kompensiert werden. Maßgeblich sind dabei die besonderen Umstände des Einzelfalles.472 Abweichend von § 97d Abs. 2 S. 4 BVerfGG bedarf solch eine Feststellungs­ entscheidung nach Maßgabe der Konvention einer hinreichenden Begründung.473 Denn anders als der § 97a Abs. 2 S. 2 BVerfGG sieht der EGMR eine geldwerte Kompensationsleistung gegenüber der bloßen Feststellung als vorrangig an,474 so dass dem Betroffenen mitgeteilt werden muss, weshalb ihm nur eine Feststellung zusteht. Insofern muss die Beschwerdekammer in der Praxis davon ausgehen, dass die an sich vorrangige Wiedergutmachung auf andere Weise regelmäßig ausschei­ det und stattdessen eine monetäre Entschädigung zu erfolgen hat;475 andernfalls muss die bloße Feststellung begründet werden. Die vom Gesetzgeber intendierte Subsidiarität der geldwerten Entschädigung ist zumindest in Verfahren, die in den Anwendungsbereich der Konvention fallen, faktisch nicht haltbar und muss um­ gekehrt werden. bb) Entschädigungszahlung Die Entschädigungssumme für einen immateriellen Nachteil beträgt pauschal 1200 € pro Jahr der Verzögerung (§ 97a Abs. 2 S. 3 BVerfGG) bzw. zeitanteilig 100 € pro Monat476 der Verzögerung. Die Höhe orientiert sich an der Entschädi­ 470

BT-Drucks. 17/3802, 19, 26 f.; EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; EGMR, Cocchiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 95; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66; Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  77–79. 471 Vgl. Dörr, in: ders. / G rote / Marauhn, EMRK / G G, Kap.  33, Rn.  78; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 79; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 59 f. 472 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  78. 473 EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; EGMR, Coc­ chiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 95; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66. 474 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  77; HK-EMRK / MeyerLadewig / Brunozzi, Art. 41, Rn. 26; ferner Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ​ (2018)26, 66. 475 Dies verkennt Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 78. 476 BT-Drucks. 17/3802, 20, 26 f.; BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 42; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 80; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 61; vgl. auch R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 208–211.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

gungspraxis des EGMR.477 Der generalisierte Satz bietet den Vorteil, dass keine zusätzlichen Streitigkeiten über die Höhe entstehen und die Verzögerungsbe­ schwerde im Interesse der Prozessökonomie sowie der Effektivität zügig beschie­ den werden kann.478 Die Beschwerdekammer kann von dem pauschalierten Satz abweichen und einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn dies aus Billigkeitsgründen an­ gezeigt ist (§ 97a Abs. 2 S. 4 BVerfGG). Hierfür steht der Kammer zur Verwirkli­ chung der Einzelfallgerechtigkeit ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage der Anwendung und der Ausgestaltung zu (vgl. „kann“).479 Bei der Beurteilung sind insbesondere die Gesamtlänge des Verfahrens sowie die Angemessenheits­ kriterien einfließen zu lassen. Wesentliche Aspekte für eine Anhebung oder eine Verringerung des Regelsatzes dürften daher die Bedeutung der Sache für den Be­ troffenen oder das Verhalten des Betroffenen bzw. des Verfassungsgerichts sein. Eine Erhöhung kann angezeigt sein, wenn eine der besonders beschleunigungs­ bedürftigen Fallgruppen einschlägig ist, wenn sich die überlange Verfahrensdauer in nachweisbaren körperlichen oder psychologischen Leiden, in einer anhaltenden Rufschädigung oder in ähnlicher Weise niedergeschlagen hat oder eine besonders extreme Überlänge vorliegt. Die Klausel bietet damit die Möglichkeit zur Feinjus­ tierung und zur erforderlichen Rezeption der Rechtsprechung des EGMR. Diese Elastizität sichert die konventionskonforme Anwendung der §§ 97a ff. BVerfGG im Einzelfall ab.480 Aufgrund des engen konventionsrechtlichen Zusammenhangs hat die Beschwerdekammer jedenfalls eine Kürzung der Regelentschädigung mit einer Begründung zu versehen.481 c) Entschädigungsansprüche des Staates gegen sich selbst? Wie an verschiedenen Stellen gezeigt, können prinzipiell auch staatliche Ver­ fahrensbeteiligte Inhaber des Entschädigungsanspruches aus § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG sein. Dem steht der in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG niedergelegte Rechtsge­ 477

Vgl. zur Höhe der EGMR-Entschädigungen Kap. 5 B. II. 2. sowie Dörr, in: ders. / Grote / Ma­ rauhn, EMRK / GG, Kap. 33, Rn. 69 f.; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 41, Rn. 28; Tiwi­sina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 57. Für eine zu geringe Höhe Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97a, Rn. 77, die allerdings auf außer­ gewöhnliche hohe Summen in Einzelfällen rekurrieren. Offenlassend Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 61. 478 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 20, 26 f. 479 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 42; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 81; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 62; Zuck, NVwZ 2012, 265 (269), sprechen jeweils von einem „Beurteilungsermessen“. 480 Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 166 f. Daher für eine verstärkte Anwendung der Billigkeitsklausel HK-BVerfG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 29. 481 Vgl. EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 204; EGMR, Cocchiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 95; Herbst v. Germany, Urteil v. 11. 01. 2007, No. 20027/02, Rn. 66.

B. Entschädigungsanspruch, § 97a BVerfGG 

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danke gegenüber, wonach dem Staat kein Entschädigungsanspruch gegen sich sel­ ber zustehen soll.482 Eine bloße, widersinnige Verschiebung von Mitteln innerhalb desselben Haushalts bzw. zwischen den Haushalten von Bund und Ländern soll vermieden werden.483 Ferner ist solch eine Binnenhaftung des Staates weder nach Maßgabe der Konvention noch des Grundgesetzes erforderlich, so dass man sich bei Entschädigungsansprüchen des Staates gegen sich selbst im „überschießend“ umgesetzten Bereich der §§ 97a ff. BVerfGG befindet. Da eine analoge Anwendung von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG zur Begrenzung des Kreises der Beschwerdeberechtigten ausscheidet,484 gilt dies erst recht für eine entsprechende (doppelte) Analogie auf Rechtsfolgenseite. Unter umgekehrten Vor­ zeichen ist ebenso eine teleologische Reduktion ausgeschlossen.485 Denn der Ge­ setzgeber hat die §§ 97a ff. BVerfGG bewusst in Abweichung von §§ 198 ff. GVG als Sonderregelung kreiert und dabei grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch von staatlichen Verfahrensbeteiligten in Kauf genommen.486 Im Übrigen kann dem Problem im Wege einer „gespaltenen“ Auslegung der Vorschriften begegnet werden. Denn die Relativität von Rechtsbegriffen kann es erlauben, einen Begriff in ein und derselben Norm unterschiedlich auszulegen.487 Dies rechtfertigt sich aus dem Gedanken, dass den Bereichen der „überschießen­ den“ Umsetzung, derart andere Interessenslagen und Wertungen gegenüber dem Ausgangsanwendungsbereich zugrunde liegen, dass eine gleichartige Regelung nicht infrage kommt.488 So müssen in (genuin staatsrechtlichen) Verfahren vor dem BVerfG, die nicht individualschützenden Charakters sind und damit nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. der entsprechenden nationalen Grundrechte fallen, die konventions- und grundrechtlichen Vorgaben zur Effekti­ vität des Rechtsbehelfs gerade nicht zwingend beachtet werden. Stattdessen kann der Grundgedanke des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG zur Haftungsbegrenzung bei der Entschädigungsabwägung einbezogen und das Entschädigungsniveau zuunguns­ ten des staatlichen Beteiligten abgesenkt werden, womit der besonderen Situation der Haftung im Binnenraum des Staates hinreichend Rechnung getragen werden kann. Dies entspricht im Übrigen der Intention des Gesetzgebers, den Entschädi­

482

BT-Drucks. 17/3802, 23; BR-Drucks. 540/1/10, 9 f. Vornehmlich stünde eine Verschiebung von Mitteln im Bundeshaushalt im Raum, da die Mehrheit der BVerfG-Verfahren Akteure auf Bundesebene betrifft; Ausnahmen bilden u. a. der Bund-Länder-Streit und verwandte Verfahren. 484 Vgl. zum Fehlen einer offenen oder verdeckten Regelungslücke eingehend Kap. 4 A. V. 2. 485 A. A. Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 74, der sich für eine teleologische Reduktion ausspricht, wenn Anspruchsinhaber und -gegner denselben Rechtsträger angehören. 486 S. Kap. 4 A. V. 2., so auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 21. Dies übersieht Ma­ ciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 74. 487 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 27, ferner § 12, Rn. 95. 488 Vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 27, ferner § 12, Rn. 95. 483

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

gungsumfang gering zu halten.489 Daher sind Verfahren, die außerhalb des Anwen­ dungsbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. korrespondierenden grundgesetz­ lichen Garantien stehen, nicht konventions- oder verfassungskonform auszulegen, sondern stattdessen „gespalten“ restriktiv zu interpretieren. Konkret bedeutet dies, dass materielle Nachteile, die einem staatlichen Verfah­ rensbeteiligten entstanden sind, zwar an sich kompensationsfähig sind. Allerdings kann der Abwägungsmaßstab häufig dahingehend verschoben werden, dass aus­ schließlich (unmittelbare) Substanzverluste abzugelten sind. Für immaterielle Nachteile eines staatlichen Verfahrensbeteiligten gilt die Ver­ mutungsregelung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG nicht. Sofern ausnahmsweise ein immaterieller Nachteil dargelegt werden kann, ist nach Maßgabe des Subsidiari­ tätsverhältnisses von geldwerter Entschädigung und anderweitiger Wiedergutma­ chung zuvörderst an letztere zu denken. Anders als bei individualschützenden Ver­ fahren, bei denen die EMRK zu beachten ist, ist für staatliche Verfahrensbeteiligte eine bloße Feststellung der unangemessenen Dauer des Verfahrens grundsätzlich angemessen, um einerseits hinreichend Genugtuung zu erhalten und andererseits dem Rechtsgedanken des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG zu würdigen.490 Sollte aus­ nahmsweise ein besonders enger persönlicher Bezug zum einzelnen Organwalter bestehen (z. B. bei den Rechten eines Abgeordneten oder des Bundespräsidenten) und nachvollziehbare körperliche oder psychologische Beeinträchtigungen oder Rufschädigungen infolge der Verfahrensdauer vorliegen, so kann an eine – ggf. aus Billigkeitsgründen angepasste – Entschädigungszahlung gedacht werden (§ 97a Abs. 2 S. 2, 3 BVerfGG). d) Zwischenergebnis Der Entschädigungsanspruch des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG ist auf Rechtsfol­ genseite „gespalten“ auszulegen: Einerseits in individualschützenden Verfahren weit im Lichte der Menschenrechtskonvention, so dass der Entschädigungsan­ spruch faktischen einem Schadensersatzanspruch angenähert wird und eine Kom­ pensationsfähigkeit für materielle Nachteile – inklusive, aber abgemildert für ent­ gangenen Gewinn – besteht sowie immaterielle Nachteile regelmäßig in geldwerter 489 Die „gespaltene“ Auslegung rechtfertigt sich damit aus der überwiegenden Entscheidung des Gesetzgebers zur Haftungsbegrenzung, dem in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG manifestierten Rechtsgedanken sowie der besonderen Aspekte, die nur im Fall einer Binnenhaftung des Staa­ tes und damit im „überschießenden“ Bereich der §§ 97a ff. BVerfGG vorkommen; methodisch angelehnt an Habersack / Mayer, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 14, Rn. 42, 44 ff. 490 Ähnlich Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 74; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 19, die allerdings nicht darauf hinweisen, dass die Feststellung nur bei immateriellen Nachteilen von staatlichen Verfahrens­ beteiligten in Betracht kommt.

C. Verfahren und Entscheidung 

253

Weise zu entschädigen sind. Andererseits ist in nicht individualschützenden Ver­ fahren und für staatliche Verfahrensbeteiligte eine restriktive Abwägung durchzu­ führen, so dass materielle Nachteile nur durch verringerte Entschädigungen aus­ zugleichen sind und immaterielle Nachteile grundsätzlich durch eine Feststellung der überlangen Verfahrensdauer abgegolten werden können. Sofern man für einen generellen Ausschluss von staatlichen Akteuren plädiert, ist diese rechtspolitische Forderung an den Gesetzgeber zu richten.491

C. Verfahren und Entscheidung I. Prozessuale Besonderheiten Nachdem das Verfahren der Verzögerungsbeschwerde durch den Verzöge­ rungsbeschwerdeführer fristgerecht initiiert und die erforderliche Begründung eingereicht wurde, soll der Berichterstatter des beanstandeten Ausgangsverfah­ rens binnen eines Monates eine Stellungnahme zur Verfahrensdauer abgegeben (§ 97d Abs. 1 BVerfGG). Die Soll-Regelung eröffnet die Flexibilität, in evident unzulässigen und / oder unbegründeten Fällen492 aus Gründen der Verfahrensöko­ nomie von der Stellungnahme abzusehen.493 Diese Intention hat das BVerfG rezi­ piert und in seiner Geschäftsordnung näher geregelt, dass die Stellungnahme in der Regel erst nach Aufforderung durch das berichterstattende Mitglied der Be­ schwerdekammer vorzulegen ist (§ 62 Abs. 1 S. 1 GO-BVerfG). Zudem kann sich das Beschwerdekammermitglied die Akten des Ausgangsverfahrens vorlegen las­ sen, soweit die Einsicht nicht nach § 34 GO-BVerfG ausgeschlossen wurde (§ 62 Abs. S. 2 GO-BVerfG). Der Inhalt der dienstlichen Stellungnahme erstreckt sich nicht auf die Erfolgs­ aussichten des verzögerten Ausgangsverfahrens, sondern lediglich auf dessen Ver­ fahrensdauer. Insbesondere ist vom Berichterstatter auf die genannten Kriterien der Angemessenheit Bezug zu nehmen.494 491

So geschehen in Hamburg bei Kreierung der landesrechtlichen Parallelnorm § 65a Abs. 1 S. 2 Hmb. LVerfGG, vgl. LTag-Drucks. 20/9559, 7 sowie Kap. 6 B. 492 Theoretisch auch in evident zulässigen und / oder begründeten Fällen, wobei dies praktisch selten sein dürfte. 493 BT-Drucks. 17/3802, 28, zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 8 (unveröffentlicht); Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), § 97d, Rn. 3. 494 Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), § 97d, Rn. 2; Schmaltz, in: ­Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 3; vgl. die wiedergegebenen Stellungnahme in BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 01. 10. 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12, BeckRS 2013, 47034, Rn. 15 f. (insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2013, 789); Beschluss v. 03. 04. 2013 – 1 BvR 2256/10 – Vz 32/12, BeckRS 2013, 50055 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2013, 2341); Be­ schluss v. 08. 12. 2015 – 1 BvR 99/11 – Vz 1/15, BeckRS 2015, 56395, Rn. 16–22 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2016, 2021); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 9; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 6.

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Sofern eine Stellungnahme abgegeben wurde, so ist diese sowohl unter grund­ rechtlichen als auch unter konventionsrechtlichen Gesichtspunkten dem Verzöge­ rungsbeschwerdeführer zuzustellen.495 Denn aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK lässt sich zur Verwirklichung des effektiven Rechtsschutzes im All­ gemeinen sowie des Anspruches auf rechtliches Gehör im Besonderen ein Informa­ tionsanspruch auf entscheidungsrelevante Tatsachen ableiten.496 Für die Gerichte erwächst hieraus eine Informationspflicht, weshalb derartige Informationen nicht erst vom Verfahrensbeteiligten angefordert werden müssen, sondern das BVerfG sie ihm von Amts wegen zuzukommen lassen hat.497 Denn der Verzögerungsbe­ schwerdeführer kann regelmäßig nicht wissen, ob überhaupt eine Stellungnahme erstellt wurde (Soll-Vorschrift) und ab wann diese vorliegt. Bedenkt man zudem, dass gerade die Stellungnahme die zentralen (Rechtfertigungs-)Gründe für eine überlange Verfahrensdauer anführen wird, so muss diese schnellstmöglich dem Verzögerungsbeschwerdeführer zugeleitet werden, damit dieser auf Grundlage der nunmehr vorliegenden Tatsachen und Rechtsauffassung des Berichterstatters ent­ scheiden kann, ob er das Verfahren fortführt und hierauf substantiiert antwortet oder von der Verzögerungsbeschwerde Abstand nimmt. Unter Achtung dieser Prozessrechte ist die Ansicht des Gesetzgebers, wonach es der „Beschwerdekammer unbenommen [bleibt], dem Beschwerdeführer eine Abschrift der Stellungnahme zuzustellen“498, nicht haltbar.499 Daher entspricht es der verfassungsgerichtlichen Praxis, dass die Stellungnahmen dem Verzöge­ rungsbeschwerdeführer weitergeleitet werden und diesem die Möglichkeit zur Er­ widerung eingeräumt wird.500

495

So für Art. 103 Abs. 1 GG auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97d, Rn. 4; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), § 97d, Rn.  4; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann / ders. (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 97d BVerfGG, Rn. 6; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 4. Ähnlich HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97d, Rn. 3. 496 Vgl. für Art. 103 Abs. 1 GG: BeckOK, GG / Radtke, Art. 103, Rn. 8; Remmert, in: Maunz / ​ Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1, Rn. 78; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 45; für Art. 6 Abs. 1 EMRK Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 72; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, Art. 6, Rn. 96. 497 Vgl. zur Informationspflicht des Gerichts BeckOK, GG / Radtke, Art. 103, Rn. 9; Remmert, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1, Rn. 78; Uhle, in: HGR V, § 129, Rn. 46. 498 BT-Drucks. 17/3802, 28. 499 So auch Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), § 97d, Rn. 4; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 4. Für eine Ermessensreduzierung auf null MSKB / Ha­ ratsch, BVerfGG, § 97d, Rn. 4. 500 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 01. 10. 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12, BeckRS 2013, 47034, Rn. 17 (insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2013, 789); Beschluss v. 03. 04. 2013 – 1 BvR 2256/10 – Vz 32/12, BeckRS 2013, 50055 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2013, 2341); Beschluss v. 20. 08. 2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Rn. 19 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2015, 3361); Beschluss v. 08. 12. 2015  – 1 BvR 99/11 – Vz 1/15, BeckRS 2015, 56395, Rn. 23 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2016, 2021). Unklar in Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 9; Be­ schluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 6.

C. Verfahren und Entscheidung 

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II. Die Entscheidung Im weiteren Verlauf der Verzögerungsbeschwerde entscheidet die Beschwerde­ kammer zwingend501 ohne mündliche Verhandlung.502 Das berichterstattende Mitglied der Beschwerdekammer konzipiert das Votum und stimmt sich mit den Kollegen ab. Zur finalen Entscheidung bedarf es einer Mehrheit der Stimmen der Richter (§ 97d Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Bei einer Stimmengleichheit gilt die Verzö­ gerungsbeschwerde – angelehnt an die Grundregel § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG – als zurückgewiesen (§ 97d Abs. 2 S. 2 BVerfGG), woraus sich eine – teilweise kriti­ sierte503 – faktische Drei-Viertel-Mehrheit ergibt. Die Entscheidung durch Beschluss504 bedarf – abweichend von § 30 Abs. 1 S. 2 BVerfGG – keiner Begründung (§ 97d Abs. 2 S. 4 BVerfGG), um das BVerfG nicht zusätzlich zu belasten.505 Die fehlende Begründungspflicht verhindert allerdings kein Begründungsrecht. Im Gegenteil bietet es sich für den Dialog der Richter an, eine Verzögerungsbeschwerde zu begründen, wenn der Gang nach Straßburg ab­ sehbar ist.506 Das Ermessen, ob eine Begründung ergeht oder nicht, ist zudem in den Fällen konventionsrechtlich auf Null reduziert, in denen eine monetäre Ent­ schädigung für immaterielle Nachteile vorenthalten oder reduziert werden soll.507 Der Beschluss über die Stattgabe, die Verwerfung oder das Zurückweisen der Verzögerungsbeschwerde durch die Beschwerdekammer ist unanfechtbar (§ 97d Abs. 3 BVerfGG). Eine Anrufung einer anderen nationalen Instanz oder erneut des BVerfG – etwa im Wege der Verfassungsbeschwerde508 – scheidet aus. Lediglich im europäischen Rechtsschutzsystem ist eine weitere Überprüfung möglich, da mit der finalen Entscheidung der Beschwerdekammer der innerstaatliche Rechtsweg i. S. v. Art. 35 Abs. 1 EMRK erschöpft ist und somit eine Individualbeschwerde vor dem EGMR zulässig sein kann. Dies gilt allerdings nur für natürliche und juristische Personen i. S. d. Art. 34 EMRK und nicht für staatliche Verzögerungs­ beschwerdeführer, es sei denn, sie können sich ausnahmsweise auf die Konvention berufen. Im Übrigen ist eine Beanstandung der Verfahrensdauer der Verzögerungs­ beschwerde selbst denkbar. In solch einem (hypothetischen) Fall würde jedoch die Beschwerdekammer – in anderer Zusammensetzung (vgl. § 97c Abs. 2 BVerfGG) – 501

Damit abweichend von § 25 Abs. 1 BVerfGG. BT-Drucks. 17/3802, 28, zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 8 (unveröffentlicht). 503 BRAK, in BT-Drucks. 18/2950, 29; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97d, Rn. 6; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 7. 504 Vgl. § 25 Abs. 2 Hs. 2 BVerfGG. 505 BT-Drucks. 17/3802, 28, zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 8 (unveröffentlicht). 506 Vgl. auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97d, Rn. 8; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollin­ ger / Schorkopf (Hrsg.), § 97d, Rn. 9; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97d, Rn. 9. 507 Vgl. Kap. 4 B. III. 2. b), so auch MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97d, Rn. 9. 508 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97d, Rn. 10; Maciejewski, in: Burkiczak / Dollinger / Schor­ kopf (Hrsg.), § 97d, Rn. 10. 502

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

nicht die vorherige Entscheidung in der Sache, sondern isoliert die angemessene Dauer des Verzögerungsbeschwerdeverfahrens überprüfen. Die Frage nach der Erstattung von Kosten und Auslagen des Verfahrens sind für die Verzögerungsbeschwerde nicht speziell geregelt, sondern ergeben sich aus den allgemeinen §§ 34, 34a BVerfGG509.510 Ferner ist erst nach dem rechtskräftigen Ab­ schluss des Verzögerungsbeschwerdeverfahrens der Entschädigungs­anspruch aus § 97a BVerfGG wirksam abtretbar oder pfändbar (§ 97b Abs. 2 S. 3 BVerfGG).511

III. Wirkungen der verfahrensrechtlichen Besonderheiten Der Zweck der spezifischen Verfahrensregelungen zur Verzögerungsbeschwerde besteht einerseits darin, die Arbeitsbelastung des BVerfG gering zu halten, ande­ rerseits die Effektivität der Verzögerungsbeschwerde zu sichern.512 So kann die Soll-Regelung und die Monatsfrist zur Stellungnahme sowie das Absehen von einer mündlichen Verhandlung zu einer Beschleunigung des Verzögerungsbeschwerde­ verfahrens beitragen. Zudem sichert die von § 62 Abs. 1 S. 2 GO-BVerfG eröffnete Möglichkeit der Akteneinsicht eine substantiierte Prüfung des Ausgangsverfahrens durch die Beschwerdekammer selbst und das unabhängig von der Stellungnahme des vermeintlich nicht unvoreingenommenen513 Berichterstatters. Zudem kann die Beschwerdekammer mit lediglich vier Mitgliedern zügige Entscheidungen treffen, ohne dass allzu viele Richter am BVerfG mit der Abarbeitung von Verzögerungs­ beschwerden belastet werden.

D. Konkurrenzen I. Präventive, konkurrierende Rechtsbehelfe? 1. Ungeschriebene Beschleunigungsrechtsbehelfe? In Anlehnung an die Rechtslage in der Fachgerichtsbarkeit vor Inkrafttreten des ÜGRG ist zunächst an etwaige ungeschriebene Beschleunigungsrechtsbehelfe zu denken, die neben die Verzögerungsrüge treten könnten.

509

S. hierzu O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 403 ff. Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 9 (unveröffentlicht); BVerfG (Beschwer­ dekammer), Beschluss v. 20. 08. 2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, Rn. 51, juris (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2015, 3361). 511 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 28 f. m. w. N. 512 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 28, zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 8 (unveröffentlicht). 513 Vgl. § 97c Abs. 2 BVerfG, dazu BT-Drucks. 17/3802, 27. 510

D. Konkurrenzen 

257

Das Instrument der Gegenvorstellung kommt – sofern man es überhaupt an­ erkennt514  – nicht in Betracht, da es auf Fälle begrenzt ist, in denen eine Ent­ scheidung des Verfassungsgerichts vorliegt, die unter Missachtung von Art. 103 Abs. 1 GG oder auf anderen unzutreffenden Annahmen getroffen wurde und daher ausnahmsweise die Rechtskraft überwunden werden kann.515 Im Raum steht also eine Selbstkorrektur des BVerfG in Bezug auf den Inhalt einer bereits ergangenen Entscheidung. In Fällen der überlangen Verfahrensdauer wird eine Entscheidung gerade vom Betroffenen eingefordert, weshalb die Gegenvorstellung als repressi­ ves Instrument516 per se ungeeignet ist. Vergleichbares gilt für die Berichtigung der Entscheidung, mit der lediglich offenkundige (redaktionelle) Unrichtigkeiten bereinigt werden können.517 Ebenso ist für eine außerordentliche Beschwerde kein Platz. Der bereits in der Fachgerichtsbarkeit nicht durchweg anerkannte Rechtsbehelf518 ist jedenfalls dem Verfassungsprozessrecht unbekannt. Im Übrigen wären die Voraussetzungen einer außerordentlichen Beschwerde derart unklar, dass sie dem Grundsatz der Rechts­ behelfsklarheit nicht entsprechen würden.519 Zudem hat der Gesetzgeber mit dem ÜGRG ausdrücklich eine abschließende Regelung gefunden, mit der anderwei­ tige Rechtsbehelfskonstruktionen der Rechtsprechung im Bereich der überlan­ gen Verfahrensdauer ausgeschlossen werden.520 Im Ergebnis kann es neben der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG) keine weiteren ungeschriebenen Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung geben. Anderweitig bezeichnete Rechtsbehelfe sind im Zweifelsfall als Verzögerungsrüge auszulegen. 2. Einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG Als geschriebenes Rechtsschutzinstrument kommt neben der Verzögerungsrüge die einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) in Betracht.521 Zwar ist die einstwei­ lige Anordnung anders als die Verzögerungsrüge nicht direkt auf eine Beschleuni­ gung des Hauptsacheverfahrens gerichtet, sondern dient der rechtsstaatlich gebo­ tenen Vermeidung von irreversiblen Folgen, der Sicherung der Hauptsache sowie 514

Offengelassen in BVerfG (Kammer) NJW 2008, 1582; NJW 2016, 3230; stattgegeben in BVerfGK 19, 148 (= NJW 2012, 1065), hierzu kritisch Lechner / Zuck, BVerfGG, § 90, Rn. 147p. 515 Vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 93a, Rn. 46; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 580, 656; Schenke, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 93d, Rn. 11 jeweils m. w. N. 516 O.  Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 656 spricht anschaulich vom „Nachmotzverfahren“. 517 Vgl. E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 401 f. 518 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 15, Anlage 4, 43. 519 Vgl. BT-Drucks. 17/3802, 1. 520 BT-Drucks. 17/3802, 16; s. ferner für die §§ 198 ff. GVG R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 278 ff. 521 Vgl. BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 7 (unveröffentlicht).

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

der interimistischen Befriedigung.522 Damit zielt die einstweilige Anordnung im Ergebnis auf dasselbe Ziel wie die Verzögerungsrüge im Rahmen der §§ 97a ff. BVerfGG: das materielle Interesse des Verfahrensbeteiligten soll durch Zeitablauf nicht vereitelt und illusorisch werden. Um dies zu erreichen sichert die einstweilige Anordnung vorläufig einen Zustand und wirkt einer etwaigen Verzögerung in der Hauptsache und einer damit einhergehenden Vereitelung des materiellen Rechts vor bzw. entgegen. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer einstweiligen Anordnung begegnen unter dem Aspekt der Effektivität wenig Bedenken. Insbesondere die Möglich­ keiten, einen isolierten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stel­ len sowie die Abweichungen vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache,523 sprechen unter dem Aspekt der Zugänglichkeit für die Effektivität der einstwei­ ligen Anordnung. Auf der Ebene der Begründetheit besteht indes die Gefahr, dass der strenge Prüfungsmaßstab524 der Folgenabwägung nach Maßgabe der Doppelhypothese die praktische Wirksamkeit der einstweiligen Anordnung schmälert. Im Einzelfall ist erforderlich, dass die Nachteile des Betroffenen gegenüber den Folgen in den bei­ den zu vergleichenden hypothetischen Kausalverläufen deutlich überwiegen. Wird dies bejaht, so wird das BVerfG die begehrte Anordnung erlassen.525 Lediglich aus­ nahmsweise wird hiervon abgewichen und stattdessen eine kursorische Prüfung der Begründetheit der Hauptsache durchgeführt.526 Diese zurückhaltende Linie des Verfassungsgerichts erklärt sich anhand der auch objektiven Funktion der einst­ weiligen Anordnung („zum gemeinem Wohl“, § 32 Abs. 1 BVerfGG) sowie der Ver­ meidung des (vorläufigen) Eingriffs in die Kompetenzen der parlamentarischen, exekutiven oder fachgerichtlichen Gewalt, weshalb der § 32 BVerfGG hinter dem einstweiligen Rechtsschutz der Fachgerichtsbarkeit zurückbleibt.527 Sofern das Verfassungsgericht bei der Folgenabwägung die Straßburger Recht­ sprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie die eigene Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG rezipiert und den besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen ein stärkeres Gewicht einräumt, trägt dies zur Verbesserung des effektiven Rechtsschutzes bei.528 Im Einzelfall kann es daher erforderlich sein, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, um eine (ggf. irreversi­ 522

Vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 32, Rn. 1 ff.; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1378 ff.; BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 1–3. 523 Vgl. BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 18 f., 26 f. 524 Vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 32, Rn. 55; BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 50 f., jeweils m. w. N.; zur praktischen Bedeutung BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 4 f. 525 Vgl. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 32, Rn. 108 ff.; E. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungs­ prozessrecht, Rn. 1406 ff., jeweils m. w. N. 526 BeckOK BVerfGG / Walter, BVerfGG, § 32 Rn. 58 ff. m. w. N. 527 Löwer, in: HStR III, § 70, Rn. 211. Kritisch gegenüber der objektiven Funktion MSKB / ​ Graßhof, § 32, Rn. 12; vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1152. 528 Vgl. zur Bedeutung im Einzelfall BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 5, 25.

D. Konkurrenzen 

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ble) Beeinträchtigung von sensiblen Konventions- und Grundrechten abzuwenden. In solch einem Fall kann von einer einstweiligen Anordnung oftmals nur abgesehen werden, wenn das BVerfG vertretbar davon ausgeht, dass die Hauptsache rechtzei­ tig entschieden wird.529 Insbesondere der letztere Aspekt kann zu einer Verfahrens­ beschleunigung beitragen, da mit der einstweiligen Anordnung häufig signalisiert wird, dass für den Verfahrensbeteiligten hochrangige Rechtsgüter auf dem Spiel stehen und durch Zeitablauf gefährdet werden. Sind die Annahmen des Betroffe­ nen begründet, so wird das BVerfG bereits die Hauptsache bevorzugt entscheiden, womit sich zugleich der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung erledigt.530 Die einstweilige Anordnung kann bei entsprechenden Folgen für gewichtige Rechtsgüter unmittelbar das materielle Interesse des Beteiligten sichern und so gegenüber der Verzögerungsrüge als vorgelagertes Rechtsschutzinstrument dienen. Darüber hinaus kann die einstweilige Anordnung einen faktischen Beschleuni­ gungseffekt auf das Hauptverfahren haben, wenn der Verfahrensbeteiligte seine besondere Situation  – ggf. unter Verweis auf die neuralgischen Fallgruppen  – kundtut und das BVerfG daraufhin beschließt, das Verfahren zu priorisieren. Der Eilrechtsschutz kann daher den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer fördern, wobei die Signifikanz einer Beschleunigungswirkung höchst einzelfall­ abhängig ist.531 Als mögliche Alternative zur Verzögerungsrüge dürfte sich die einstweilige Anordnung vor allem in den Fällen erweisen, die innerhalb der zwölf­ monatigen Wartefrist (§ 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG) zu entscheiden sind.

II. Amtshaftungsanspruch, § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG Während für die Parallelnormen der §§ 198 ff. GVG gesichert ist, dass nebenher der Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG anwendbar ist,532 erscheint dies für Verfahrensverzögerungen durch das BVerfG mehr als fraglich. Stattdessen kommt ein Ausschluss der Amtshaftung der Richter des BVerfG in Fällen der unangemessen langen Verfahrensdauer in Betracht.533 Ein derartiger Haftungsausschluss ist gem. Art. 34 GG verfassungsrechtlich zulässig, wenn dieser durch ein formelles Gesetz in Ausnahmefällen bestimmt wird, in denen gewich­ 529

MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 32, Rn. 71. MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 32, Rn. 72, 74. 531 Ähnlich Borm, Angemessene Verfahrensdauer im Verfassungsbeschwerdeverfahren, 144–147. 532 Vgl. Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BT-Drucks. 17/7217, 3; BT-Drucks. 17/3802, 16, 19, Anlage 3, 34; R.-C. Lorenz, Die Dog­ matik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 290 ff.; Ossenbühl / Cornils, Staatshaf­ tungsrecht, 463; Steinbeiß-Winkelmann, in: dies. / Ott (Hrsg.), Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einführung, Rn. 384 ff. 533 Offenkundig gehen Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 20 sowie Schmidt, in: FS Klein, 485 (501 f.) von einer prinzipiellen Anwendbarkeit aus, ohne einen Ausschluss zu diskutieren. 530

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

tige sachliche Gründe des öffentlichen Wohls eine Amtshaftung ungerechtfertigt erscheinen lassen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.534 Für einen Haftungsausschluss spricht, dass der Gesetzgeber mit den §§ 97a ff. BVerfGG ein spezielles und abschließendes Haftungsregime für das Problem der überlangen verfassungsgerichtlichen Verfahrensdauer wollte.535 Zwar wurde im Gesetzgebungsprozess hervorgehoben, dass der weitergehende Amtshaftungs­ anspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG durch den neuen Entschädigungs­ anspruch nicht ausgeschlossen werden soll.536 Indes sind diese Äußerungen aus­ schließlich im Kontext der §§ 198 ff. GVG und nicht der §§ 97a ff. BVerfGG zu finden. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Gesetzgebungsprozess, dass eine Über­ prüfung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit der Stellung des BVerfG als Verfas­ sungsorgan und als Verfassungsgericht, das selbst keiner nationalen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, nicht gerecht wird.537 Zudem verfügen die Fachgerichte nicht über die notwendige Innenkenntnis, um über die Ordnungsgemäßheit der Verfah­ rensführung beim BVerfG zu entscheiden.538 Der Gesetzgeber beabsichtige viel­ mehr, die Frage der Haftung des BVerfG in Fällen überlanger Verfahrensdauer der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen und stattdessen bei der speziali­ sierten Beschwerdekammer des BVerfG unter ausschließlicher Anwendung des besonderen Verfahrens der §§ 97a ff. BVerfGG zu monopolisieren. Diese gesetz­ geberische Grundentscheidung wäre letztlich konterkariert, wenn man in diesen Fällen schlichtweg den § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG auf die Verfassungsrichter anwenden würde. Dieser Ausschluss der Amtshaftung ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da mit den §§ 97a ff. BVerfGG ein formelles Gesetz des Bundes539 vorliegt, welches der besonderen Stellung und Aufgaben des Verfassungsgerichts Rechnung tragen soll. Dieser verfassungsrechtlich verankerte Zweck ist zudem sachlich und perso­ nell eng auf Verfahren und Richter beim BVerfG begrenzt. Überdies geschieht der Ausschluss in verhältnismäßiger Weise, indem an die Stelle des Amtshaftungsan­ spruches ein verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch tritt, der beim BVerfG selbst geltend gemacht werden kann. Insofern liegt bei einer Gesamtbe­ trachtung nicht einmal ein genereller Haftungsausschluss auf dem Felde der über­ langen Verfahrensdauer vor, sondern lediglich eine Verschiebung zu einem anderen Haftungssystem samt abweichendem Rechtsweg. 534 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 97; Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 34, Rn.  240 f.; MüKoBGB / Papier / Shirvani, § 839, Rn. 338, jeweils m. w. N. 535 BT-Drucks. 17/3802, 26; zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 9 (unveröffentlicht). 536 Entschließung des Deutschen Bundestages (BT-Prot. 17130, 15348 D), abgedruckt in BTDrucks. 17/7217, 3; BT-Drucks. 17/3802, 16, 19, Anlage 3, 34. 537 BT-Drucks. 17/3802, 27; zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2 f. (unveröffentlicht). 538 BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 2 f. (unveröffentlicht). 539 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG.

D. Konkurrenzen 

261

Sofern man doch von einer Anwendbarkeit des § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG ausgeht,540 würden dessen Voraussetzungen in der Praxis kaum zu erfüllen sein. Zwar fällt gemäß § 839 Abs. 2 S. 2 BGB eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung bei der Ausübung des Richteramtes dem Wortlaut nach nicht unter das sog. Spruchrichterprivileg541 des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB. Allerdings führt nach Maßgabe der BGH-Rechtsprechung542 die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG) bei Verfahrensverzögerungen lediglich zu einer weitmaschigen Ver­ tretbarkeitsprüfung: Es werden selbst pflichtwidrige Verzögerungen dem Richter­ spruchprivileg unterstellt, so dass diese – unter Wahrung des Beschleunigungs­ gebots543 – lediglich im Einzelfall eine Haftung auslösen können.544 Modifiziert man diesen für die Fachgerichtsbarkeit entwickelten Vertretbarkeitsmaßstab um die Sonderstellung des BVerfG, würde dies in den meisten Fällen einem faktischen Haftungsausschluss gleichen. Im Übrigen würde die für den Betroffenen nachteilige Komplexität des Tatbe­ standes der Amtshaftung, die offene Frage nach Schadensersatz für immaterielle Nachteile sowie die anders gelagerte Darlegungs- und Beweislast zu weiteren Un­ zulänglichkeiten des Rechtsbehelfs führen.545 In diesem Sinne sprach sich der EGMR gegen die Effektivität des Amtshaftungsanspruches zur Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer aus.546

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK Über die nationalen Rechtsschutzmöglichkeiten hinaus steht dem Betroffenen nach Erschöpfung der Verzögerungsbeschwerde der Rechtsweg nach Straßburg offen. Im Rahmen der Individualbeschwerde (Art. 35 Abs. 1 EMRK) kann der Beschwerdeführer gemäß Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung und Ersatz seiner Kosten verlangen, wobei eine auf Grundlage nationalem Rechts gezahlte Kompensation grundsätzlich nicht zu einem Ausschluss oder einer Reduzierung der Entschädigung führen muss.547 Voraussetzung für eine Entschädigung nach 540

So etwa Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 20; Schmidt, in: FS Klein, 485 (501 f.). Vgl. hierzu Breuer, Staatshaftung für Judikatives Unrecht, 226 ff., 333 f.; Ossenbühl / Cor­ nils, Staatshaftungsrecht, 101 ff., 463; Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 34, Rn. 262 ff.; Mü­ KoBGB / Papier / Shirvani, § 839, Rn. 322 ff. 542 BGH NJW 2011, 1072. 543 BVerfG (Kammer) NJW 2013, 3630. 544 Vgl. BeckOGK / Dörr, BGB, § 839, Rn. 667 ff.; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278), m. w. N. 545 Vgl. Althammer / Schäuble, NJW 2012, 1 (5 f.); Bien / Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (458 f.); R.-C.  Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 295; Ossen­bühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 463. 546 EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 113 f. 547 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  13 ff.; EMRK / MeyerLade­wig / Brunozzi, Art. 41 EMRK, Rn. 5 f.; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 646 f. 541

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

Art. 41 EMRK ist allerdings, dass die §§ 97a ff. BVerfGG in der Theorie oder deren praktische Anwendung durch die Beschwerdekammer hinter den Anforderungen des EGMR an Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK548 zurückbleiben und ein entsprechender Konventionsverstoß festgestellt wird.549 Sollte es hierzu kommen und der EGMR eine gerechte Entschädigung gewähren, so bemisst sich deren Inhalt und Umfang nach Maßgabe der bereits vorgestellten Rechtsprechungslinien.550 Eine in diesem Zusammenhang von der Bundesrepublik zu zahlende Entschädigung würde – wie bei einer Zahlung nach §§ 97a ff. BVerfGG – mittelbar den Haushalt des BVerfG treffen.551

IV. Zusammenfassung Entsprechend der besonderen Stellung des Verfassungsgerichts sind außerhalb des BVerfGG keine weiteren nationalen präventiven oder kompensatorischen Rechtsbehelfe gegen eine überlange Verfahrensdauer auszumachen, die zu den §§ 97a ff. BVerfGG in Konkurrenz treten können. Insbesondere der Amtshaftungs­ anspruch (§ 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) gelangt nach der hier vertretenen Ansicht unter teleologischen Gesichtspunkten nicht zur Anwendung. Als ein präventives Mittel, das faktisch eine Beschleunigung entfalten kann, ist lediglich die einstwei­ lige Anordnung nach § 32 BVerfGG einzuordnen. Zudem steht dem Betroffenen außerhalb der nationalen Rechtsordnung die Individualbeschwerde zum EGMR offen. Um die Erfolgsaussichten solch einer Beschwerde näher zu bestimmen, ist eine tiefgehende Überprüfung der Effektivität der Normen (§§ 97a ff. BVerfGG) sowie der korrespondierenden Entscheidungspraxis der Beschwerdekammer von­ nöten (Kap. 5).

E. Ergebnis Die §§ 97a ff. BVerfGG sind gegenüber den übrigen Bestimmungen des BVerfGG in gewisser Weise ein Fremdkörper, was bereits durch dessen isolierte systemati­ sche Stellung im IV. Teil des BVerfGG unterstrichen wird. Aus dogmatischer Sicht zeigen sich die Besonderheiten auf prozessualer Ebene dahingehend, dass der Ver­ zögerungsrüge als atypischer Rechtsbehelf kein vergleichbares verfassungsprozes­ suales Instrument gegenübersteht. Ähnliches gilt für die Verzögerungsbeschwerde, mit der erstmalig ein Rechtsbehelf in prinzipiell allen Verfahrensarten bereitsteht und damit als Novum ein nationales Überprüfungsverfahren für verfassungsge­ 548

Vgl. zur bisherigen EGMR-Rspr. zum ÜGRG Kap. 2 A. I. 13. und 14. Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  10; EMRK / Meyer-Lade­ wig / Brunozzi, Art. 41 EMRK, Rn. 3; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, 638, 641 f. 550 Vgl. Kap. 4 B. II. 2. 551 Klein, NVwZ 2010, 221 (223, insb. Fn. 22). 549

E. Ergebnis 

263

richtliche Verfahren eröffnet wird. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Verzögerungsbeschwerde gerade keine Revision in der Sache ist, sondern sich auf die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Ausgangsverfahren und der hieraus entstehenden Rechtsfolgen beschränkt. Eine weitere Besonderheit ist die Niederlegung einer staatshaftungsrechtlichen Anspruchsgrundlage in § 97a BVerfGG. Nicht nur die Tatsache, dass das BVerfGG ansonsten keine vergleichbarem Haftungsbestimmungen enthält macht die Rege­ lung prozessrechtlich einzigartig, sondern auch aus staatshaftungsrechtlicher Sicht ist der Entschädigungsanspruch eine Ausnahmeerscheinung. Versucht man ihn den tradierten dogmatischen Linien zuzuordnen, so ist der Anspruch am ehesten als ein Mischwesen aus dem allgemeinen Aufopferungsanspruch und der staatlichen Risikohaftung zu klassifizieren. Daher verwundert es nicht, dass sich die §§ 97a ff. BVerfGG nach ihrem Wort­ laut, ihrer Systematik, in ihrem Zweck und ihrer Entstehungsgeschichte von den §§ 198 ff. GVG deutlich unterscheiden. Die Unterschiede zwischen den Haftungs­ regimen sind nicht bloß rhetorischer Art. Stattdessen bilden die §§ 97a ff. BVerfGG ein spezielles Regelungssystem, das zwar unter Berücksichtigung der Parallel­ normen §§ 198 ff. GVG, aber letztlich autonom auszulegen ist. So finden sich verschiedenste bundesverfassungsgerichtsspezifische Probleme in Zusammenhang mit den §§ 97a ff. BVerfGG, die methodengeleitet unter Ein­ druck der EMRK und des Grundgesetzes selbstständig zu lösen sind. Dies zeigt sich insbesondere bei der zentralen Tatbestandsvoraussetzung des § 97a Abs. 1 BVerfGG der Angemessenheit der Verfahrensdauer sowie auf Rechtsfolgenseite bei Ermittlung des Inhalts und Umfangs der angemessenen Entschädigung für materielle und immaterielle Nachteile. Darüber hinaus sind die besonderen Pro­ bleme um die Entschädigung von Hoheitsträgern sowie der überraschenden Prä­ klusion von Verfahrensbeteiligten explizit als bundesverfassungsgerichtsspezifisch hervorzuheben. Das Problem eines Entschädigungsanspruches des Staates gegen sich selbst kann auf prozessualer Ebene nicht bereits pauschal durch den generellen Ausschluss von Hoheitsträgern bei der Beschwerdeberichtigung oder von staatsrechtlichen Verfahren bei der statthaften Verfahrensart bewältigt werden. Zumindest eine ver­ engende Auslegung der Beschwerdebefugnis mittels des Kriteriums der individu­ ellen Betroffenheit kann dazu führen, dass die Beschwerde eines Hoheitsträgers unzulässig ist. So wird etwa eine abstrakte Normenkontrolle typischerweise nicht der Gegenstand einer zulässigen Verzögerungsbeschwerde sein können. Die wirk­ same Bewältigung des Problems erfolgt jedoch erst auf der materiell-rechtlichen Ebene – konkret auf der Rechtsfolgenseite. Mit einer gespaltenen Auslegung des § 97a BVerfGG kann erreicht werden, dass einerseits für Verfahren, die in den An­ wendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, eine effektive Kompensation für materielle sowie immaterielle Nachteile bereitsteht (konventionskonforme Ausle­ gung), andererseits für staatliche Verfahrensbeteiligte eine Kompensation auf ein

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Kap. 4: Zulässigkeit der Verzögerungsbeschwerde  

adäquates Niveau herunterjustiert wird (restriktive Auslegung in Anlehnung an § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG). Hoheitsträger können daher für materielle Nachteile nur im begrenzten Maße sowie für immaterielle Nachteile grundsätzlich in anderer (nicht-monetärer) Weise durch eine Feststellung entschädigt werden. Ein weiteres problematisches Feld ist die Möglichkeit der überraschenden Prä­ klusion durch eine unangekündigte Entscheidung des BVerfG im Ausgangsver­ fahren, ohne dass eine Verzögerungsrüge eingelegt werden konnte. Hintergrund dieses Präklusionsphänomens sind die intransparenten Verfahrensabläufe und das Informationsdefizit des Verfahrensbeteiligten über den Verfahrensstand, so dass die Gefahr besteht, dass dieser sich genötigt sieht, nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist von zwölf Monaten pro forma die Verzögerungsrüge zu erheben, um nicht die Aussicht auf eine Kompensation im Wege der Verzögerungsbeschwerde zu verlieren. In gewisser Weise wird die Verzögerungsrüge zu einer bloßen För­ melei degradiert. Dem Problem lässt sich kaum über die Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG begegnen, da der Ursprung des Problems in der Informationspraxis des BVerfG liegt.

Kapitel 5

Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG sowie der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammer Der Gesetzgeber verfolgte mit dem ÜGRG und der Implementierung der §§ 97a ff. BVerfGG das Ziel, eine Rechtsschutzlücke zu schließen, die sowohl unter dem Grundgesetz als auch unter der Menschenrechtskonvention bestand. Während sich die Bundesregierung in ihrem Evaluationsbericht zum ÜGRG zufriedengibt und die Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG gar als bestätigt ansieht,1 hat bereits die Auslegung der Bestimmungen gewisse Probleme zu Tage gefördert.

A. Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf I. Die Effektivität der Verzögerungsrüge Nach der Intention des Gesetzgebers soll die Verzögerungsrüge samt ihrer Warn­ funktion ein Rechtsbehelf sein, der eine „konkret-präventive Beschleunigungs­ wirkung“2 entfaltet. Allerdings bleibt trotz dieser Einordnung offen, ob die Ver­ zögerungsrüge in theoretischer sowie tatsächlicher Hinsicht effektiv i. S. v. Art. 13 EMRK ist. Positiv zu werten ist, dass die Verzögerungsrüge im laufenden Verfahren ein­ gelegt werden kann und somit theoretisch zu einer Beschleunigung führen könnte, noch bevor eine unangemessene Verfahrensdauer eingetreten ist.3 Problematisch ist, dass die Verzögerungsrüge nach ihrer Konzeption gänzlich folgenlos bleiben kann. Die Verzögerungsrüge löst keinerlei verbindliche Rechts­ folgen aus, welche eine überlange Verfahrensdauer eindämmen könnten. Über sie muss nicht förmlich beschieden werden, so dass für den Verfahrensbeteiligten nicht einmal ersichtlich ist, ob überhaupt, und falls ja, welche Maßnahmen zur Beschleunigung getroffen werden. Eine rechtliche oder tatsächliche Folge wäre allerdings notwendig, um eine andauernde oder drohende Verletzung des Anspru­ ches auf eine angemessene Verfahrensdauer zu unterbinden und das Verfahren 1 BT-Drucks. 18/2950, 9, 32 ff.; vgl. ferner CoE, CM / ResDH(2013)244, s. dazu Kap. 2 B. V. und C. II. 2 BT-Drucks. 17/3802, 16. 3 Vgl. EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 183; Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 66; CoE, CDL-STD(2007)044, para. 136 f.

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

bedeutend zu beschleunigen. Andernfalls gilt der Rechtsbehelf nicht als effektiv i. S. d. EMRK.4 Die Praxis des BVerfG, im Anschluss an eine Rüge das Verfahren dem zu­ ständigen wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie dem berichterstattenden Richter vorzulegen,5 mag zwar im Einzelfall eine überlange Verfahrensdauer verhindern. Allerdings kann die Verzögerungsrüge aufgrund ihrer konzipierten Folgenlosig­ keit eine Beschleunigung weder rechtlich garantieren noch einen tatsächlichen signifikanten Einfluss auf die Verfahrensdauer nehmen. Untermauern lässt dies anhand der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von Verfassungsbeschwerden, bei der seit der Einführung des Rechtsbehelfs gar ein leicht negativer Trend zu be­ obachten ist. Aus den Jahresstatistiken von 2012 bis 2019 zur durchschnitt­lichen Verfahrensdauer6 von Verfassungsbeschwerdeverfahren ergibt sich, dass die An­ zahl an binnen eines Jahres erledigten Beschwerden langsam, aber stetig abnimmt. Vergleicht man den Wert von 2012 gegenüber dem aus 2019, so hat sich die Anzahl an binnen eines Jahres abgeschlossenen Verfassungsbeschwerden um über vier Prozentpunkte verringert. Im gleichen Zeitraum hat die Anzahl an innerhalb von zwei Jahren entschiedenen Verfassungsbeschwerden um circa dreieinhalb Prozent­ punkte zugelegt, während die Anzahl an Eingängen7 – mit Ausnahme im Jahr 2013 und 2014 – sich konstant im Korridor von ca. 5.600 bis ca. 6.200 Eingängen pro Geschäftsjahr bewegte bzw. zuletzt gar auf ca. 5.400 fiel. Hieraus wird ersichtlich, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer beim zahlenmäßig häufigsten Ver­ fahren, der Verfassungsbeschwerde, länger geworden ist, obwohl nach der gesetz­ geberischen Konzeption der Verzögerungsrüge das Gegenteil der Fall sein sollte. Zwar kann aus der Statistik allein nicht auf eine unangemessene Verfahrensdauern im Einzelfall geschlossen werden, jedoch wird deutlich, dass die gesetzgeberische Zielmarke von zwölf Monaten aus § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG, ab welcher eine Unangemessenheit drohen kann, gehäuft überschritten worden ist. Es muss daher festgestellt werden, dass von der Verzögerungsrüge in der Breite keine nachhaltige, verfahrenssteuernde Beschleunigungswirkung ausgeht. Wegen ihrer konzipierten Folgenlosigkeit wird sie einen derartigen Effekt letztlich auch nicht leisten können, so dass die Verzögerungsrüge für den Betroffenen mehr eine vage Hoffnung auf Beschleunigung als ein verbrieftes Recht hierauf vermittelt.

4 Vgl. EGMR, Horvat v. Croatia, Urteil v. 26. 07. 2011, No. 51585/99, Rn. 47; Barta and Drajkó v. Hungary, Urteil v. 17. 12. 2013, No. 35729/12, Rn. 18; Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 137; Calvez / Regis, Length of court proceedings, CE­ PEJ(2018)26, 67; CoE, CDL-STD(2007)044, para. 41, 137; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 197 f., 206. 5 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b Rn. 9. 6 Abrufbar unter Abschnitt A. IV. 3. der jeweiligen Jahresstatistik unter https://www. bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/jahresstatistiken_node.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 7 S. https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2019/gb​ 2019/A-II-1.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020.

A. Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf 

267

Bezieht man nunmehr die aktuelle Jahresstatistik von 20208 ein, so scheint es eine plötzliche Trendumkehr gegeben zu haben. So wurden 80 % aller Verfas­ sungsbeschwerden binnen einen Jahres erledigt, was gegenüber 2019 einen starken Anstieg von 18 Prozentpunkten ergibt. Ein denkbarerer Erklärungsansatz hierfür dürfte die Corona-Pandemie sein, die gegenüber dem Vorjahr etwa 40 % mehr an Anträgen auf Erlass von einstweiligen Verfügungen mit sich brachte, während die Anzahl an Verfassungsbeschwerden indes nahezu gleichblieb. Allerdings gab es im Jahr 2020 insgesamt 880 Verfahren mit Bezug zur Pandemie,9 davon 313 Parallel­ verfahren10, was aufgrund der ähnlich gelagerten Hintergründe und Rechtsfragen zu einer Entlastung beigetragen haben dürfte. Nichtsdestotrotz bleibt letztlich un­ klar, ob die hohe Zahl an Erledigungen im Jahr 2020 auf die Corona-Pandemie und pandemiebedingte Umstellung der Arbeitsweisen am BVerfGG zurückzuführen ist oder einen Trend einläutet, der dem Recht auf eine angemessene Verfahrens­ dauer einen neuen Stellenwert einräumt und möglicherweise mit den §§ 97a ff. BVerfGG in Verbindung steht. Für eine zuverlässige Einordnung sind die Statis­ tiken der nächsten Jahre zu beobachten. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass trotz der begrenzten personellen Ressourcen eine Beschleunigung offenbar möglich ist, sofern die Rahmenbedingungen dies zulassen. Neben dem Problem der fehlenden hinreichenden Garantie auf eine Verfahrens­ beschleunigung kommt hinzu, dass die Wartefrist der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG) ausnahmslos eine Beschleunigung frühestens nach zwölf Monaten zulässt. Diese vom Gesetzgeber vorgenommene Typisierung der Ange­ messenheit dürfte zwar für ein Großteil der Verfahren zutreffend sein,11 kann in den besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen allerdings zu heiklen Er­ gebnissen führen, die sich an der Grenze des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zumutba­ 8

Abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/​ 2020/statistik_2020.html, zuletzt geöffnet am 30. 06. 2021. 9 Siehe hierzu das Vorwort des Präsidenten des BVerfG Harbarth, https://www.bundes​ verfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2020/gb2020/vorwort.html;jsessionid =1164E5AE0AC68251610785B10D25C4D6.2_cid386, zuletzt geöffnet am 30. 06. 2021. 10 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2020/gb​ 2020/A-I-2.pdf;jsessionid=1164E5AE0AC68251610785B10D25C4D6.2_cid386?__blob=​ publicationFile&v=2, S. 4, Fn. 6, zuletzt geöffnet am 30. 06. 2021. 11 Als angemessen eingeordnet wurden die Verfahrensdauer vor dem BVerfG in den Fällen EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92 (circa drei Jahre); Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95 (beinahe drei Jahre); Grässer v. Germany, Urteil v. 05. 10. 2006, No. 66491/01, Rn. 58 (zwei Monate); Peter v. Germany, Entscheidung v. 04. 09. 2014, No. 68919/10 (viereinhalb Jahre). Als unangemessen gerügt EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91 (über fünf Jahre); EGMR, Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92 (über sieben Jahre); Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98 (acht Jahre); Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99 (zehn Jahre); EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99 (beinahe sieben Jahre); Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02 (dreieinhalb Jahre); Leela För­ derkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008 (circa elf Jahre); Kaemena and Thöne­ böhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009 (sechs Jahre); Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06 (zwei Jahre, wobei die elf Jahre vor der Fachgerichtsbarkeit zu beachten sind).

268

Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

ren bewegen.12 In diesen Einzelfällen kann lediglich im Wege der einstweiligen Anordnung ein Eilrechtsschutz gesucht werden.13 Unter Gesichtspunkten des grundgesetzlich gebotenen Rechtsschutzes gegen eine Verfahrensverzögerung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt sich ein ähnliches Bild. Nach Maßgabe des Grundgesetzes kommt ein genereller Aus­ schluss des Primärrechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer nicht infrage. Stattdessen ist eine Abwehr gegenüber drohenden Verzögerungen in einem lau­ fenden Verfahren geboten.14 Diesen beschleunigenden Effekt kann die Verzöge­ rungsrüge weder rechtlich noch tatsächlich leisten, so dass aus verfassungsrecht­ licher Sicht keine wirksame Abhilfemöglichkeit vorliegt.

II. Zwischenergebnis Damit ist weder aus rechtlicher noch tatsächlicher Perspektive die Verzöge­ rungsbeschwerde ein präventiver Rechtsbehelf, der effektiv i. S. d. Konvention oder des Grundgesetzes ist. Dieser Befund führt für sich genommen noch nicht zu einer Ineffektivität der gesamten Lösung, da ein präventiver Rechtsbehelf laut Aussage des EGMR zwar das beste Mittel zur Abhilfe ist, allerdings nicht das einzige. Dem­ gegenüber genügt unter dem Grundgesetz eine ausschließlich kompensatorische Lösung nicht, um effektiven Rechtsschutz nach Maßgabe des allgemeinen Justizge­ währleistungsanspruches (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) zu garantieren. Zudem ist konventionsrechtlich bedenklich, dass für die besonders beschleu­ nigungsbedürftigen Fallgruppen – etwa Kindschaftssachen15 – eine effektive Be­ schleunigung mittels der Verzögerungsrüge ausgeschlossen ist, obwohl bereits kurzzeitige Verzögerungen – auch vor dem BVerfG16 – in diesen Fällen zu einem Verstoß der EMRK führen können.17 Allein die Aussicht, dass eine drohende Kom­ pensationszahlung nach § 97a BVerfGG das Verfahren in irgendeiner Weise be­ schleunigt, wird den neuralgischen Fällen jedenfalls nicht gerecht, da stattdessen zunächst eine Abwehr von Verzögerungen zur Vermeidung irreparabler Schäden zu erfolgen hat.18 In diesem Teilbereich erweist sich die Verzögerungsrüge als un­ vereinbar mit der EMRK. 12

Vgl. Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 19. Dies dürfte in besonde­ ren Maße für die Dauer einer einstweiligen Anordnung gelten, MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97b, Rn. 18; O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1361; Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 13. 13 Dazu sogleich unter Kap. 5 A. III. 14 Vgl. Kap. 3 B. II. 15 EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 140. 16 So wurde etwa eine Verfahrensdauer von circa anderthalb Jahren vor dem BVerfG für überlang befunden, EGMR, Tsikakis v. Germany, Urteil v. 10. 02. 2011, No. 1521/06, Rn. 66 f. 17 S. Kap. 3 B. I. 18 Vgl. für Kindschaftssachen EGMR, Kuppinger v. Germany, Urteil v. 15. 01. 2015, No. 62198/11, Rn. 137, 140.

A. Verzögerungsrüge als präventiver Rechtsbehelf 

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III. Einbeziehung der einstweiligen Anordnung als präventiver Rechtsbehelf? Betrachtet man die Rechtsbehelfe vor dem BVerfG kumulativ,19 so kommt neben der Verzögerungsrüge die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG20 in Betracht, um eine vorläufige Sicherung der in Frage stehenden Rechte zu errei­ chen. Zudem kann sie einen beschleunigenden Impuls auf das Hauptverfahren aus­ lösen. Insbesondere vor Ablauf der zwölfmonatigen Wartefrist der Verzögerungs­ rüge sollte daher die einstweilige Anordnung als präventives Instrument genutzt werden. Indes ist zu bedenken, dass die zurückhaltende Begründetheitsprüfung des BVerfG dazu führt, dass die Effektivität der einstweiligen Anordnung nicht überbewertet werden darf. Lediglich in Einzelfällen wird man bei einer Gesamt­ betrachtung von Verzögerungsrüge und einstweiliger Anordnung von einem effek­ tiven Rechtsbehelfssystem ausgehen können. Dies gilt vor allem für die beschleu­ nigungsbedürftigen Fallgruppen, insbesondere bei Fragen des Kindschaftsrechts, denen das BVerfG eine priorisierte Bearbeitung zukommen lässt und die Belange der Betroffenen häufig höher gewichtet,21 so dass Anträge auf Erlass einer einst­ weiligen Anordnung eher erfolgreich sein können. Insofern kann punktuell, dort wo es konventions- sowie verfassungsrechtlich besonders geboten ist, mittels der einstweiligen Anordnung die materielle Rechtslage vorläufig gesichert werden. In anderen Fällen wird eine Beschleunigungswirkung von der einstweiligen Anord­ nung regelmäßig nicht ausgehen können.

IV. Ergebnis zur Verzögerungsrüge Der Gesetzgeber hat es nicht geschafft die vorgefundene Lücke im präventiven Rechtsschutz adäquat zu schließen, da die Verzögerungsrüge aufgrund der feh­ lenden Rechtsfolgen mit einem Konstruktionsfehler behaftet ist. Selbst wenn man über diesen Mangel hinwegsehen könnte, so stellen ein allzu streng gehandhab­ tes Begründungserfordernis zusammen mit der zwölfmonatigen Wartefrist (§ 97b Abs. 1 S. 3, 4 BVerfGG) – insbesondere in den neuralgischen Fällen22 – Hinder­ 19

Vgl. EGMR, Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 98; Calvez  / ​ Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 63; CoE, CDL-STD(2007)044, para. 40, 135. 20 S. hierzu Kap. 4 D. I. 2. 21 Vgl. BeckOK / Walter, BVerfGG, § 32, Rn. 5, 25 m. w. N. 22 S. die Fallgruppen in Kap. 3 A. I. 3. und II. 2. Überdies dürfte im Fall einer einstweiligen Anordnung ein präventiver Effekt nach zwölf Monaten zu spät kommen, so auch Maciejew­ ski, in: Burkiczak / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 16; Schmaltz, in: Bar­ czak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 11. Der Verweis auf die fehlende praktische Bedeutung von überlangen Verfahren über Anträge auf einstweilige Anordnung kann nicht überzeugen, da hiergegen tatsächlich Verzögerungsbeschwerden erhoben wurden (s. Anhang); vgl. auch Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 13.

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

nisse dar, welche die begehrte Beschleunigung derart erschweren können, so dass der Rechtsbehelf als ineffektiv einzustufen ist. Lediglich in den besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen kann die­ ses Ergebnis durch eine einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) konventions- und verfassungskonform korrigiert werden. Insofern kann mit der einstweiligen An­ ordnung zumindest dasselbe Ziel der Verzögerungsrüge erreicht werden: die Ver­ hinderung eines schwer reversiblen oder gar irreversiblen Eingriffs in die Rechte des Betroffenen durch einen Rechtsschutz in angemessener Zeit. Ein echter Be­ schleunigungsrechtsbehelf, der in der Breite der übrigen individualschützenden Verfahren wirkt, ist die einstweilige Anordnung jedoch nicht. Damit verbleibt eine offene Rechtsschutzlücke, deren Schließung zwar nicht von der EMRK, aber mindestens vom Grundgesetz gefordert ist.

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf Damit stellt sich die Lösung nach dem ÜGRG nicht als Kombinationsrechts­ behelf heraus, sondern als ein Kompensationsrechtsbehelf, dessen Voraussetzung eine weitgehend ineffektive Verzögerungsrüge ist. Das Augenmerk ist daher auf die Effektivität der Verzögerungsbeschwerde sowie des Entschädigungsanspru­ ches zu lenken.

I. Prozedurale Gesichtspunkte Weder das Grundgesetz noch die Konvention erteilen dem Gesetzgeber genaue Vorgaben über die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und Ausgestaltungen des Rechtsbehelfes. Stattdessen ist ihm ein Ausgestaltungsspielraum (margin of discretion) anzuerkennen.23 Nichtsdestotrotz hat der Rechtsbehelf zugänglich und fair zu sein, muss zügig beschieden werden und darf keine unnötigen Hürden (z. B. durch Kosten) enthalten, um als effektiv zu gelten. Zudem muss im Falle des Ob­ siegens eine Kompensation zügig ausgezahlt werden.24 Gerade nicht entscheidend für die Effektivität ist der Ausgang des Entschädigungsverfahrens zugunsten des Verzögerungsbeschwerdeführers.25

23

EGMR, Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 188 f.; Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 63; CoE, CDL-STD(2007)044, para. 40, 89. 24 Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64; CoE, CDL-STD​(2007)​ 044, para. 157, 161–164; vgl. auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  20, Rn. 70. 25 CoE, CDL-STD(2007)044, para. 40.

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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1. Zugänglichkeit a) Warte- und Ausschlussfristen Zusammen mit der zwölfmonatigen Wartefrist der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG) kann eine Verzögerungsbeschwerde in einem laufenden Aus­ gangsverfahren erst nach zusätzlichen sechs Monaten anhängig gemacht werden (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG); in bereits beendeten Verfahren ist sie binnen drei Monaten zu erheben (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG). Damit ergibt sich in einem laufenden Verfahren eine Mindestwartefrist von achtzehn Monaten und in einem beendeten Verfahren von mindestens zwölf Monaten plus die variable Dauer des Ausgangsverfahrens bis der Entschädigungsprozess in Gang gesetzt werden kann. Die gewählten Zeiträume für die Fristen bewegen sich grundsätzlich in dem Bereich, den der EGMR für Verfassungsgerichte als konventionskonform i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen hat.26 Die sechsmonatige Wartefrist bis zur Er­ hebung der Verzögerungsbeschwerde soll im laufenden Verfahren eine beschleu­ nigende Wirkung entfalten,27 so dass einerseits grundsätzlich eine angemessene Verfahrensdauer noch erzielt werden kann, andererseits ein etwaiger Entschädi­ gungsprozess nicht allzu weit aufgeschoben wird. Zudem schließt – nach der hier vertretenen Ansicht – eine Verfahrensbeendigung innerhalb dieser Phase den Ent­ schädigungsprozess nicht aus,28 so dass für diesen kein übermäßiges Hindernis bereitet wird. Lediglich in besonders beschleunigungsbedürftigen Einzelfällen kann sich die insgesamt achtzehnmonatige Wartefrist – selbst unter Achtung der Sonderstellung des Verfassungsgerichts – am Rande der Konventionswidrigkeit bewegen und ein vermeidbares Hindernis zur Geltendmachung des Entschädi­ gungsanspruches darstellen.29

26 Als angemessen eingeordnet wurden die Verfahrensdauer vor dem BVerfG in den Fällen EGMR, Süßmann v. Germany, Urteil v. 16. 09. 1996, No. 20024/92 (circa drei Jahre); Gast and Popp v. Germany, Urteil v. 25. 02. 2000, No. 29357/95 (beinahe drei Jahre); Grässer v. Germany, Urteil v. 05. 10. 2006, No. 66491/01, Rn. 58 (zwei Monate); Peter v. Germany, Entscheidung v. 04. 09. 2014, No. 68919/10 (viereinhalb Jahre). Als unangemessen gerügt EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91 (über fünf Jahre); EGMR, Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92 (über sieben Jahre); Kind c. Allemagne, Urteil v. 20. 02. 2003, No. 44324/98 (acht Jahre); Becker c. Allemagne, Urteil v. 26. 09. 2002, No. 45448/99 (zehn Jahre); EGMR, Voggenreiter c. Allemagne, Urteil v. 08. 01. 2004, No. 47169/99 (beinahe sie­ ben Jahre); Kirsten v. Germany, Urteil v. 15. 02. 2007, No. 19124/02 (dreieinhalb Jahre); Leela Förderkreis e. V. and Others v. Germany, Urteil v. 06. 11. 2008 (circa elf Jahre); Kaemena and Thöneböhn v. Germany, Urteil v. 22. 01. 2009 (sechs Jahre); Rumpf v. Germany, Urteil v. 02. 09. 2010, No. 46344/06 (zwei Jahre, wobei die elf Jahre vor der Fachgerichtsbarkeit zu beachten sind). 27 Vgl. Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b Rn. 9; s. allerdings Kap. 5 A. 28 S. Kap. 4 A. VIII. 3. 29 Vgl. Roderfeld, in: Marx / ders., ÜGRG, § 97a BVerfGG, Rn. 19.

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

Die dreimonatige Ausschlussfrist mag im Vergleich zu anderen Fristen30 zwar kürzer sein. Diese Entscheidung unterliegt jedoch in Ermangelung einer verfas­ sungs- oder konventionsrechtlichen absoluten Mindestfrist der Einschätzungs­ prärogative des Gesetzgebers und wurde nachvollziehbar begründet.31 Positiv zu bewerten ist das zulässige Nachschieben von Gründen innerhalb dieser Frist. Es ist nicht erkennbar, dass die drei Monate derart knapp bemessen sind, dass eine Verfolgung des Entschädigungsanspruches per se verhindert wird. Dies lässt sich durch die Judikatur der Beschwerdekammer untermauen: Lediglich in fünf von 78 ausgewerteten Entscheidungen wurde eine Verzögerungsbeschwerde allein we­ gen einer Verfristung i. S. v. § 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BVerfGG verworfen, in sechs weiteren Fällen wegen einer Verfristung und zusätzlich eines anderen Grundes.32 Insgesamt erscheint die Ausgestaltung der Fristen der Verzögerungsbeschwerde als angemessen. Der Zugang zum Entschädigungsprozess wird nicht über Gebühr behindert. Die Warte- und Ausschlussfristen von Verzögerungsrüge- und -be­ schwerde führen nicht zu einer Ineffektivität der Kompensationslösung. b) Begründungserfordernis An dem Begründungserfordernis aus § 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG scheitern mit Abstand die meisten Verzögerungsbeschwerden. In 57 von 78 untersuchten Ent­ scheidungen hat die Beschwerdekammer eine Verzögerungsbeschwerde aus diesem Grund verworfen.33 Dies wirft die Frage auf, ob die Beschwerdekammer trotz der oben beschriebenen Problematik zum Darlegungsumfang des Verfahrensbe­ teiligten einen zu strengen Maßstab anwendet.34 Da eine Einsicht in die Verfah­ rensakten aller Verzögerungsbeschwerden nicht möglich ist, lässt sich die Hand­ habung des Begründungserfordernisses lediglich anhand der wenigen begründeten Beschlüsse kursorisch prüfen. So fällt der Beschluss der Beschwerdekammer vom 03. 03. 2013 zunächst positiv auf, in welchem dem Verzögerungsbeschwerdeführer auferlegt wird, in der Regel die Umstände der Unangemessenheit der Verfahrensdauer vorzutragen, soweit es sich um Umstände handelt, die in seinem Kenntnisbereich liegen.35 Damit wird der intransparenten Fallbearbeitung am BVerfG Rechnung getragen, so dass der Betroffene  – wie oben ausgeführt  – vornehmlich die subjektive Bedeutung der Sache und sein eigenes Verhalten darzulegen hat. Als unzureichend wertete die 30

Im Vergleich zu den Fristen aus § 198 Abs. 5 S. 2 GVG, § 12 StrEG und Art. 35 Abs. 1 EMRK. 31 S. Kap. 4 A. VIII. 32 Vgl. Anhang. 33 Vgl. Anhang. 34 Ähnlich Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 25 f.; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 20; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 19. 35 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341.

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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Beschwerdekammer jedoch den Vortrag zur besonderen Bedeutung des Falles, ob­ wohl das fachgerichtliche Verfahren eine arbeitsrechtliche Streitigkeit war, in der ein Schwerbehinderter um Gehaltsausfälle und gekürzte Rentenzahlungen stritt.36 Dies verwundert mit Blick auf das von der Beschwerdekammer rezipierte case law des EGMR, wonach arbeitsrechtliche Streitigkeiten, insbesondere in Zusammen­ hang mit dem Lebensunterhalt, als besonders beschleunigungsbedürftig gelten.37 Hauptgrund der Zurückweisung dürfte allerdings gewesen, dass die Begründung hinsichtlich der Kausalität zwischen der Dauer des Verfassungsbeschwerdever­ fahrens und den drohenden Einbußen unzureichend war.38 Jedenfalls agierte die Beschwerdekammer im Beschluss vom 30. 07. 2013 rigide, indem sie die Verzögerungsbeschwerde gegen die Dauer eines Organstreits als un­ zureichend begründet verwarf.39 Die Verzögerungsbeschwerdeführer hätten es versäumt eine individuelle Betroffenheit darzulegen, obwohl dieses Zulässigkeits­ kriterium vom BVerfG erstmals in diesem Verfahren postuliert wurde. Die beiden Verfahren verdeutlichen, weshalb von Teilen der Literatur die Hand­ habung des Begründungserfordernisses als relativ streng eingestuft wird.40 Weitet man den Blick, findet man jedoch Gegenbeispiele für eine moderate Verfahrens­ weise. So wurden Verzögerungsbeschwerden für zulässig befunden, in denen sich überschaubare Begründungen41 zur Angemessenheit der Verfahrensdauer und des kausalen Nachteils finden lassen. Hierbei ist anzumerken, dass die Betroffenen im Ergebnis in den Verzögerungsbeschwerdeverfahren keine Entschädigungszahlung erzielen konnten, was allerdings noch keinen Schluss auf eine Ineffektivität be­ dingt. In der Entscheidung vom 20. 08. 2015 billigte die Beschwerdekammer – bis dato zum einzigen Mal  – eine Kompensation zu.42 Diesem Erfolg waren wie­ derum ausführliche Begründungen zur Unangemessenheit und zu den kausalen Nachteilen vorausgegangen.43 Das Gesamtbild zum Begründungserfordernis ist damit nicht eindeutig. Aus den Fallzahlen sowie den verworfenen Entscheidungen mit einer weiteren Begründung 36

BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341 (2342), dazu Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 19. 37 S. oben sowie die Bsp. bei Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, Appendix 2, 86 f. 38 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2013, 2341 (2342). 39 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479 (1480). 40 So Lechner / Z uck, BVerfGG, § 97b, Rn. 26; HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97b, Rn. 20; Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 19. 41 Vgl. die Zusammenfassung der Begründungen durch die Beschwerdekammer in BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 01. 10. 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12, BeckRS 2013, 47034, Rn. 11–13, 17 (insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2013, 789); Beschluss v. 08. 12. 2015  – 1 BvR 99/11 – Vz 1/15, BeckRS 2015, 56395, Rn. 9–15, 23 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2016, 2021); Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 5. 42 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361. 43 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Rn. 11–19 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2015, 3361).

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der Beschwerdekammer lässt sich tentativ eine tendenziell strengere Handhabung ableiten. Die Hürde des Begründungserfordernis und dessen Einfluss auf die Be­ gründetheit der Verzögerungsbeschwerde sind damit Faktoren, die für die prakti­ sche Effektivitätsbeurteilung nicht abschließend geklärt werden können. c) Präklusionswirkung und die Verknüpfung der Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsbeschwerde Die beschriebene Präklusionswirkung44 einer nicht eingelegten Verzögerungs­ rüge verhindert endgültig die Geltendmachung des Entschädigungsanspruches. Zwar scheint dieses Phänomen mit Blick auf die Fallzahlen keine allzu große Relevanz zu haben.45 Zu bedenken ist aber, dass eine Quantifizierung aufgrund eines vermutlich größeren Dunkelfeldes nicht mit hinreichender Sicherheit möglich ist. Denn aufgrund der eindeutigen Rechtslage ist eine Verzögerungsbeschwerde nur zulässig, wenn zuvor die Verfahrensdauer gerügt wurde (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Diese offensichtliche Unzulässigkeit dürfte präkludierte Verfahrens­ beteiligte oftmals von einer Verzögerungsbeschwerde von vornherein abhalten, so dass diese Fälle gar nicht erst an die Beschwerdekammer gelangen und in keiner Statistik auftauchen können. Grundsätzlich ist es weder verfassungs- noch konventionsrechtlich schädlich als Gesetzgeber eine Präklusionswirkung bei einer unterlassenen Verzögerungsrüge zu implementieren. Im Gegenteil ist eine Verhinderung einer drohenden oder an­ dauernden unangemessenen Verfahrensdauer – mit den Worten des EGMR – die beste Lösung46 und sollte einer Entschädigung vorgeschaltet werden. Allerdings ist dieser Ansatz mit rechtlichen und tatsächlichen Unwägbarkeiten47 verbunden, die sich vor dem BVerfG durch eine intransparente Verfahrensführung verstärken und zum Problem der Präklusion führen. Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass die Verzögerungsrüge  – als sowieso ineffektiver Rechtsbehelf  – zu reinen För­ melei wird. Durch die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG wird der Entschädigungsprozesses mit der Verzögerungsrüge samt ihrer grundsätzlichen Problematik als präventiver Rechtsbehelf, ihrer Ineffektivität sowie insbesondere mit dem Präklusionsproblem verknüpft. Diese Bedenken lassen sich – anders als

44

S. Kap. 4 A. VII. 2. b). Lediglich fünf von 78 Verzögerungsbeschwerden wurden allein oder u. a. wegen einer fehlenden Verzögerungsrüge als unzulässig verworfen, s. Anhang. 46 EGMR, Cocchiarella v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 64886/01, Rn. 74; Scordino v. Italy, Urteil v. 29. 03. 2006, No. 36813/97, Rn. 183; Sürmeli v. Germany, Urteil v. 08. 06. 2006, No. 75529/01, Rn. 100. 47 S. Kap. 3 B. II. 45

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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bei der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG48 – zudem wegen der übrigen Hürden der Verzögerungsrüge (rigide Wartefrist, Schwierigkeiten beim Begrün­ dungserfordernis) nicht aus dem Weg räumen. Damit beeinträchtigt die Erhebung der Rüge in prozessualer Hinsicht die Effektivität der Verzögerungsbeschwerde. Denn in einem bereits beendeten Verfahren wird hierdurch die Geltendmachung einer Kompensation ausgeschlossen, es sei denn, der Betroffene hat als Formalie die ineffektive Rüge eingelegt. In Anlehnung an die Judikatur des EGMR49 ist solch eine rein formale Anforderung eine unzulässige prozessuale Hürde, die den Zugang zum Entschädigungsprozess ungerechtfertigt behindert. Dem Verfahrens­ beteiligten wird damit – insbesondere im Falle einer überraschenden Präklusion – die Möglichkeit eines angemessenen Kompensationsrechtsbehelfs genommen.50 Die Ineffektivität der Verzögerungsrüge infiziert letztlich die Verzögerungs­ beschwerde. Damit unterscheidet sich die Rechtslage unter dem § 97b BVerfGG substantiell von der Verknüpfung der Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsklage nach § 198 GVG,51 da im fachgerichtlichen Verfahren das Problem der Präklusion infolge von intransparenten Verfahrensabläufen und überraschenden Entscheidungen stark ver­ mindert oder gar ausgeschlossen ist. Zudem besteht im Verfassungsprozessrecht keine Möglichkeit, bei Versäumnis der Verzögerungsrüge zumindest eine Feststel­ lung der überlangen Verfahrensdauer (vgl. § 198 Abs. 4 S. 3 Hs. 2 GVG) zu erhalten. Stattdessen wird der Betroffene im Falle einer überraschenden Präklusion gänzlich rechtsschutzlos gestellt, obwohl ein nationaler Kompensationsrechtsbehelf verfas­ sungs- sowie konventionsrechtlich geboten wäre, soweit ein beendetes Verfahren mit Verzögerungen behaftet ist. Als Folge dieser Präklusionswirkung bleibt für den Betroffenen nur der unmittelbare Gang nach Straßburg, obwohl ausweislich der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 Abs. 1 EMRK dieser gerade erst nach Inanspruchnahme eines nationalen Rechtsbehelfs eröffnet sein soll. Die Möglichkeit der überraschenden Präklusion konterkariert damit letztlich das europäische Unterfangen,52 eine effektive Rechtsschutzlösung bereits auf na­ tionaler Ebene einzurichten. d) Zwischenergebnis Die Vielzahl an Ablehnungen wegen einer unzureichenden Begründung sowie die Handhabung des Begründungserfordernisses (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG) deuten auf eine eher rigide Praxis der Beschwerdekammer hin, die bis dato aber nicht zu beanstanden ist. 48

Vgl. R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 306. Vgl. EGMR, Olivieri et. al. c. Italie, Urteil v. 25. 02. 2016, Rn. 62–64. 50 Vgl. EGMR, Olivieri et. al. c. Italie, Urteil v. 25. 02. 2016, Rn. 64. 51 Vgl. R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 306. 52 S. Kap. 2 A. I. 7. und C. 49

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

Während sich aus den verschiedenen Fristen des § 97b BVerfGG keine durch­ greifenden Bedenken gegen die Effektivität der Verzögerungsbeschwerde ableiten lassen, sieht dies für die Verknüpfung der Verzögerungsrüge mit der Verzögerungs­ beschwerde (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG) anders aus. Die Ausgestaltung als Zu­ lässigkeitsvoraussetzung kann den Entschädigungsprozess durch die rein formale Hürde hemmen oder im Falle einer überraschenden Präklusion gänzlich verhin­ dern. Diese führt zu einer Ineffektivität der Verzögerungsbeschwerde auf prozes­ sualer Ebene. 2. Einleitung der Verzögerungsbeschwerde während eines noch laufenden Verfahrens Grundsätzlich positiv zu werten, ist die Möglichkeit, eine Verzögerungsbe­ schwerde bereits während eines noch laufenden Verfahrens erheben zu können. Da­ mit erfüllt der Gesetzgeber die Anforderungen der Konvention.53 Abgeschwächt wird das Modell zwar durch die zusätzliche Wartefrist von sechs Monaten nach Einlegung der Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG). Jedoch führt die Wartefrist nicht zu einer übermäßigen Hürde, da sie der Beschleunigung des Ausgangsverfahrens dienen soll und sich ferner in einem noch vertretbaren zeit­ lichen Rahmen bewegt.54 3. Angemessene Dauer des Verzögerungsbeschwerdeverfahrens Ausweislich der Jahresstatistiken des Verfassungsgerichts sind seit der Einfüh­ rung des Rechtsbehelfs im Schnitt circa 10 % der erhobenen Verzögerungsbeschwer­ den zum Ende des Eingangsjahres noch anhängig.55 Dies spricht für eine zügige Bearbeitung innerhalb eines Jahres. Bestätigen lässt sich dies mit einem Blick auf die Zeiträume, wie sie aus den Entscheidungen hervorgehen.56 Soweit ersichtlich, dauerte lediglich in einem Fall57 die Entscheidungsfindung mehr als zwölf Mo­

53

Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 168; Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 171. 54 Vgl. Kap. 5 B. I. 1. a). 55 Von insgesamt 107 erhobenen Verzögerungsbeschwerden waren insgesamt 12 am Ende der Geschäftsjahre 2012 bis 2019 noch anhängig, vgl. Jahresstatistiken des BVerfG (2012–2019) https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/jahresstatistiken_ node.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 56 S. etwa BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (knapp acht Monate); NJW 2015, 3361 (ca. elf Monate); NJW 2016, 2021 (drei Monate); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732 (knapp sieben Monate); Beschluss v. 27. 05. 2019 – 2 BvR 1089/18 – Vz 2/19, juris (ca. vier Monate). 57 BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 22. 03. 2018  – 2 BvR 289  – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077 (ca. anderthalb Jahre).

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nate. Die Beschwerdekammer entscheidet daher zügig über den Entschädigungs­ anspruch, so dass die Praxis konventionsrechtlich58 unbedenklich ist. Gleiches dürfte für die Dauer der Auszahlung der Entschädigungssumme gel­ ten. Jedenfalls sind im einzigen Fall einer zugesprochenen Kompensation keine Verzögerungen bekannt.59 4. Prozesskosten Das Verfahren der Verzögerungsbeschwerde ist kostenfrei (§ 34 Abs. 1 BVerfGG) und es besteht kein Vertretungszwang (vgl. § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG)60. Im Übrigen kann dem Betroffenen Prozesskostenhilfe gemäß §§ 114 ff. ZPO analog bewilligt werden. Während die Beschwerdekammer hieran nicht näher er­ läuterte Zweifel hegt,61 sind indes keine sachlichen Gründe erkennbar, weshalb im individualschützenden Verfahren der Verzögerungsbeschwerde andere Maßstäbe gelten sollten als bei anderen62 verfassungsgerichtlichen Verfahren.63 Vorausset­ zung für die Prozesskostenhilfe ist die Stellung eines Antrag gemäß § 117 ZPO analog innerhalb der Fristen des § 97b Abs. 2 S. 1 BVerfGG. In der Sache muss der Antragsteller aufzeigen, dass er ohne die Hilfe eines Rechtsanwaltes nicht in der Lage wäre, die Verzögerungsbeschwerde in einer der §§ 97a ff. BVerfGG ge­ nügenden Form vorzutragen, sowie dass eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht und die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint.64 58

Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361, jedenfalls wurde die anschließende In­ dividualbeschwerde vom Einzelrichter am EGMR (vgl. Art. 27 EMRK) verworfen, EGMR, K. v. Germany, Entscheidung v. 23. 06. 2016, No. 13936/16 (unveröffentlicht). 60 Da eine mündliche Verhandlung stets ausscheidet (§ 97d Abs. 2 S. 3 BVerfGG) kommt ein Vertretungszwang nach § 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BVerfGG nicht in Betracht. 61 BVerfG (Beschwerdekammer), NJW 2013, 2341 (2342); Beschluss v. 21. 06. 2017 – 2 BvR 1349/16 – Vz 12/17, Rn. 5, juris; Beschluss v. 26. 07. 2017, 1 BvR 1077/16 – Vz 14/17 (unver­ öffentlicht). 62 So finden die §§ 114 ff. ZPO analoge Anwendung zugunsten des Beschwerdeführers einer Verfassungsbeschwerde oder unter besonderen Umständen des Aussetzungsverfahrens­ beteiligten einer konkreten Normenkontrolle oder gar des Äußerungsberechtigten (§ 98 Abs. 3 BVerfGG), O. Klein, in: Benda / K lein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 420; ­BeckOK, BVerfGG / ​ Scheffczyk, § 34a, Rn. 51. 63 Im Übrigen ist anerkannt, dass im Verfahren nach §§ 198 ff. GVG die §§ 114 ff. ZPO an­ wendbar sind, R.-C. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG, 268. 64 Die Beschwerdekammer hat bisher die Anträge wegen der fehlenden Aussicht auf Erfolg abgelehnt, BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 03. 04. 2012, 1 BvR 2089/10 – Vz 8112 (unveröffentlicht); NJW 2013, 2341 (2343); Beschluss v. 21. 07. 2017 – 2 BvR 1349/16 – Vz 12/17, juris; Beschluss v. 26. 07. 2017, 1 BvR 1077/16 – Vz 14/17 (unveröffentlicht). Vgl. zur strengen Handhabung im Allgemeinen MSKB / Graßhof, BVerfGG, § 34, Rn. 13 ff.; BeckOK, BVerfGG / Scheffczyk, § 34a, Rn. 51 ff. MSKB. 59

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

Zudem kann im Fall der Begründetheit der Verzögerungsbeschwerde angeordnet werden, dass die Auslagen des Verzögerungsbeschwerdeführers erstattet werden (§ 34a Abs. 3 BVerfGG).65 Die Regelungen des Kostenrechts verursachen daher keine Hürden66 zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruches. 5. Die Beschwerdekammer als unparteiliche Instanz Nach Maßgabe von Art. 13 EMRK ist der Rechtsbehelf bei einer innerstaatlichen Instanz geltend zu machen, die unabhängig und unparteilich ist.67 Hinsichtlich der Entscheidung über die Verzögerungsbeschwerde durch das BVerfG pro domo kann man den Aspekt der Unparteilichkeit anzweifeln.68 Dieser weist zwei Dimensio­ nen auf: Erstens hat das Gericht subjektiv unvoreingenommen und muss frei von persönlichen Vorurteilen sein. Zweitens muss das Gericht objektiv unparteiisch sein, das bedeutet, dass der Richter unabhängig von seinem persönlichen Verhalten unparteilich zu sein hat sowie darüber hinaus müssen hinreichende Garantien be­ stehen, um den berechtigten Zweifel hieran auszuschließen.69 Vornehmlich unter objektiven Gesichtspunkten kann die Unparteilichkeit infrage gestellt werden, da dem BVerfG die Missachtung der Angemessenheit der Verfahrensdauer angelastet wird und es zugleich hierüber als „Richter in eigener Sache“ eine Entscheidung zu fallen hat. Mit Blick auf die besondere Stellung des Verfassungsgerichts liegt jedoch ein derartiges Verfahren der Binnenrevision Nahe. Zudem ist nicht der iudex a quo für den Entschädigungsprozess zuständig, sondern die spezialisierte Beschwerdekam­ mer.70 Durch ihre senatsübergreifende paritätische Besetzung mit vier Richtern aus beiden Senaten wird die Kontrolle organisatorisch vom Ausgangsverfahren getrennt und kann dem Grunde nach Gewähr für eine sachlich-objektive Unab­ hängigkeit sowie Unparteilichkeit bieten. Allerdings schließt die Architektur der Beschwerdekammer eine partielle per­ sonelle Überschneidung nicht aus. So ist es durchaus vorgekommen, dass Richter

65

So im Fall BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2015 – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Tenor zu 3., 4., Rn. 51 (insoweit nicht abgedruckt in NJW 2015, 3361). 66 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64. 67 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 196; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Renger, Art. 13, Rn. 13; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 20, Rn. 63, jeweils m. w. N. 68 Vgl. Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97c, Rn. 11; allgemein Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap. 20, Rn. 63; für das EuG Generalanwältin Sharpston, Groupe Gascogne SA, Schlussantrag v. 30. 05. 2013, Rs. C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:360, Rn. 142–147. 69 EGMR, Findlay v. The United Kingdom, Urteil v. 25. 02. 1997, No. 22107/93, Rn. 73; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 44; 70 S. zur Beschwerdekammer Kap. 4 A. II.

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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des Ausgangsverfahrens und Richter im Entschädigungsprozess personenidentisch waren.71 Des Weiteren kann der Verdacht der mangelnden Unparteilichkeit auf­ kommen, da sich theoretisch der betroffene Senat in seiner Rolle als BVerfG stets einer stattgebenden Entschädigungsentscheidung versperren kann, indem die aus dem Senat stammenden Richter durch Stimmengleichheit eine Zurückweisung der Verzögerungsbeschwerde erwirken (§ 97d Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Dass die Verfas­ sungsrichter hieran wirklich ein persönliches oder berufliches Interesse haben, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Hingegen kann ein tatsächlicher Anknüpfungs­ punkt für einen bösen Schein der persönlichen Voreingenommenheit72 erfolgreich eliminiert werden. Denn der berichterstattende Richter des Ausgangsverfahrens ist aus der Beschwerdekammer von Gesetzes wegen ausgeschlossen (§ 97c Abs. 2 BVerfGG),73 da gerade ihm – gegenüber seinen mitentscheidenden Kollegen – in besonderen Maße eine Schlüsselrolle bei der Frage der Bearbeitungsdauer zu­ kommt.74 Daher ist es sachgerecht, die übrigen am Ausgangsverfahren beteiligten Richter nicht per se der vermeintlichen Voreingenommenheit zu bezichtigen und daher nicht von Gesetzes wegen vom Verfahren auszuschließen. Dies hätte in Se­ natssachen ansonsten die Folge, dass eine senatsübergreifende Besetzung nicht realisierbar wäre. Im Übrigen bestehen die Möglichkeiten des Ausschlusses nach § 18 BVerfGG sowie der Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BVerfGG, wobei bloß die Mitwirkung am Ausgangsverfahren, ohne Bericht­ erstatter zu sein, für die Annahme der Befangenheit nicht ausreichend ist.75 Aufgrund der teils vertretenen Ansicht, dass der Bund als Rechtsträger für eine zugesprochene Entschädigungssumme unmittelbar einzustehen hat und sich in diese Richtung auch die Tenorierung der Beschwerdekammer deuten lässt,76 lie­ ßen sich Bedenken an der Unparteilichkeit beiseiteschieben, da man dem BVerfG und seinen Richtern jedenfalls kein unmittelbares Interesse an den finanziellen Folgen des Verfahrens unterstellen würde.77 Nach Auskunft des BVerfG werden

71 So z. B. im Verfahren BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 1479, bei dem BVRin Hermanns und BVR Gerhardt ebenfalls an der Hauptsache mitwirkten (BVerfGE 136, 277). 72 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24, Rn. 48; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Harren­ dorf / König, Art. 6, Rn. 75. 73 BT-Drucks. 17/3802, 27, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 4 (unveröffentlicht). Vgl. zur Parallelvorschrift § 41 Nr. 7 ZPO BT-Drucks. 17/3802, Anlage 3, 37; 17/7217, 29. 74 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97c, Rn. 10. Ähnlich für § 41 Nr. 7 ZPO BSG NJW 2018, 1122 (1123 f.). 75 BT-Drucks. 17/3802, 28, offenkundig zurückgehend auf BVerfG (Plenum), Beschluss v. 10. 03. 2010, 4 (unveröffentlicht). 76 MSKB / Haratsch, BVerfGG, § 97a, Rn. 22; Schmaltz, in: Barczak [Hrsg.], BVerfGG, § 97a, Rn. 20; BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 20. 08. 2015  – 1 BvR 2781/13  – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Tenor zu 3. (= NJW 2015, 3361, allerdings ohne Abdruck des Tenor). 77 Vgl. dieses Argument für das EuG: Generalanwältin Sharpston, Groupe Gascogne SA, Schlussantrag v. 30. 05. 2013, Rs. C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:360, Rn. 147.

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

die Summen allerdings nicht aus der allgemeinen Finanzverwaltung des Bundes (Einzelplan 60 des Bundeshaushalts) oder sonstigen Bundesmitteln bestritten, sondern unmittelbar aus dem Einzelplan 1978, der ausschließlich dem BVerfG zu­ gewiesen ist.79 Durch die unmittelbare Zahlung der Entschädigungssumme durch das Verfassungsgericht muss es letztlich selbst für die zugesprochenen Summen haften. Hierdurch kommt der berechtigte Zweifel auf, dass die Beschwerdekam­ mer ein finanzielles Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens haben könnte. Das finanzielle Motiv könnte so zu einer obstruktiven Haltung in einem Ent­ schädigungsverfahren führen und dessen Ausgang beeinflussen, was bereits für die Annahme einer fehlenden objektiven Unparteilichkeit ausreichend ist.80 Der Einwand, dass dieses Argument ambivalent sei, da die Richter insofern beson­ ders achtsam vorgehen könnten, mag nicht verfangen. Denn erstens ist die Frage der objektiven Unparteilichkeit vorrangig aus einer externen und nicht internen Perspektive zu beantworten81 und zweitens zeugt gerade die bewusste – oder ggf. nur unbewusste – Einbeziehung der Kostenlast als etwaiger Faktor bei der Be­ arbeitung des Verfahrens und nachträglich bei der Entscheidung im Verfahren der Verzögerungsbeschwerde, dass eine offenkundig sachfremde Erwägung Einfluss auf die Entscheidung genommen hätte. Insgesamt wäre es mangels weiterer Ga­ rantien gerade nicht gegeben, dass man eben nicht die besondere Achtsamkeit an den Tag legt, sondern sich aufgrund der etwaigen Kostenlast einer Entscheidung versperrt. Kumuliert man diesen finanziellen Fehlanreiz mit der Entscheidung in eigener Sache über die mutmaßliche eigene Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer, so verdichten sich diese objektiven Gesichtspunkte aus der Warte eines Außenstehenden dahingehend, dass die Annahme des An­ scheins einer nicht neutralen Ausübung der richterlichen Gewalt82 gerechtfertigt ist. Bereits dieser böse Schein ist ausreichend, um die objektive Unparteilichkeit der Beschwerdekammer zu verletzen.

78 S. den aktuellen Einzelplan 19 für das BVerfG unter https://www.bundeshaushalt.de/ fileadmin/de.bundeshaushalt/content_de/dokumente/2020/soll/epl19.pdf, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 79 Dies gilt überdies auch für Entschädigungen, die der EGMR aufgrund überlanger Ver­ fahrensdauer vor dem BVerfG zuspricht. 80 Vgl. Generalanwältin Sharpston, Groupe Gascogne SA, Schlussantrag v. 30. 05. 2013, Rs. C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:360, Rn. 147; vom EuGH nicht näher aufgegriffen (EuGH, Urteil vom 26. 11. 2013, Rs. C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:770). Allerdings hat der EuGH das naheliegende Problem um etwaige personelle Überschneidungen gesehen (ebenda, Rn. 90) und musste – entsprechend der unionsprozessualen Arbeitsteilung – zu der von der General­ anwältin bereits verneinten Problematik eines finanziellen Eigeninteresse beim EuG nicht näher Stellung beziehen. 81 Vgl. EGMR, Kyprianou v. Cyprus, Urteil v. 15. 12. 2005, No. 73797/01, Rn. 118; Kriegisch v. Germany, Urteil v. 23. 11. 2010, No. 21698/06. 82 Vgl. für die Verwaltung BeckOK, VwVfG / Heßhaus, § 21, Rn. 3.

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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6. Ergebnis Unter prozeduralen Gesichtspunkten bietet sich folgendes Bild: Die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen behindern die Zugänglichkeit des Rechtsbehelfs an sich nicht übermäßig. Als eine unzulässige, rein formale Hürde erweist allerdings die Verknüpfung der ineffektiven Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsbe­ schwerde auf der Ebene der Zulässigkeit. Diese Verbindung führt zur Ineffektivität der Verzögerungsbeschwerde unter dem Aspekt der Zugänglichkeit. Darüber hinaus bietet die bundesverfassungsgerichtsinterne Lösung der Be­ schwerdekammer einige Angriffspunkte für das Besorgnis einer unzureichenden objektiven Unparteilichkeit wegen einer Entscheidung pro domo. Soweit diese ausschließlich das Verfahren und die Besetzung der Kammer betreffen, können sie nicht durchgreifen. Ein erhebliches Problem ist jedoch die Lastenverteilung im Innenverhältnis des Bundes, da das BVerfG aufgrund seiner eigenen Entscheidung in eigener Sache für die zugesprochene Entschädigungssumme aufkommen muss. Diese Vereinigung von Pflichtverletzung, Entscheidungskompetenz hierüber und finanzieller Belastung im BVerfG entspricht nicht den Grundsätzen der objektiven Unparteilichkeit.83 Um dem entgegenzuwirken sollten die Entschädigungszahlun­ gen de lege ferenda unmittelbar aus dem Bundeshaushalt (z. B. aus dem Einzelplan 60 zur allgemeinen Finanzverwaltung) und ohne Belastung des BVerfG erfolgen. Zugegebenermaßen ist dies nicht unproblematisch, da das BVerfG anders als die übrigen Bundesgerichte ein Verfassungsorgan mit eigenem Haushalt ist. Nichts­ destotrotz gebietet das hochrangige Rechtsgut der Unparteilichkeit dem Haushalts­ gesetzgeber eine Lösung – etwa über eine Nachschusspflicht – zu finden. Insofern sollte der Gesetzgeber die §§ 97a ff. BVerfGG um eine Norm ergänzen, welche den Bund ausdrücklich als Anspruchsgegner benennt84 und die Lastenverteilung inner­ halb des Bundes klar regelt.

II. Materiell-rechtliche Gesichtspunkte 1. Die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer a) In der Theorie: Der § 97a Abs. 1 BVerfGG Der Nukleus der Verzögerungsbeschwerde ist die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Mit ihr steht und fällt die Effektivität des Kompensations­ rechtsbehelfs. Maßgeblich ist, dass die Angemessenheitsprüfung die Parameter des EGMR rezipiert85 sowie im Lichte des Grundgesetzes die Anforderungen von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG beachtet werden. 83

Vgl. Generalanwältin Sharpston, Groupe Gascogne SA, Schlussantrag v. 30. 05. 2013, Rs. C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:360, Rn. 147. 84 Für einen Anspruch aus §§ 198 ff. GVG ergibt sich dies bereits aus § 200 S. 2 GVG. 85 Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 31, 148.

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Betrachtet man dazu den § 97a Abs. 1 BVerfGG abstrakt, kann man feststellen, dass die Norm die einzelnen Kriterien nicht explizit nennt und lediglich mit den „Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stel­ lung des Bundesverfassungsgerichts“ die Unangemessenheit spezifiziert. Nichts­ destotrotz soll der offene Wortlaut eine verfassungs- sowie konventionskonforme Interpretation anhand der vom EGMR sowie vom BVerfG genutzten Kriterien ermöglichen.86 Kritikwürdig erscheint lediglich die durch § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG im­ plizierte Wertung des Gesetzgebers, wonach zwölf Monate pauschal als ange­ messen anzusehen sind. Solch ein starrer Ansatz ist dem Grundgesetz sowie der Konvention fremd, auch wenn sich die Frist grundsätzlich im Bereich des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK Vertretbaren bewegt.87 Lediglich in besonders beschleuni­ gungsbedürftigen Einzelfällen dürfte die gesetzgeberische Wertung regelmäßig fehlerhaft sein, weshalb die Beschwerdekammer in diesen Fällen eine besondere Sorgfalt walten lassen muss und die Leitlinien des EGMR in besonderen Maße zu rezipieren hat. Insgesamt weist der § 97a Abs. 1 BVerfGG keinerlei durchgreifende Bedenken auf, die für eine Ineffektivität der Angemessenheitsprüfung sprechen. b) In der Praxis: Die Rechtsprechung der Beschwerdekammer Der erste Blick auf die Statistik bereitet Zweifel an der Effektivität der Ange­ messenheitsprüfung durch die Beschwerdekammer. In neun88 von 78 untersuchten Verfahren wurde eine Verzögerungsbeschwerde u. a. wegen keiner unangemesse­ nen Verfahrensdauer zurückgewiesen.89 Lediglich in einem einzigen Fall erreichte der Verzögerungsbeschwerdeführer, dass eine unangemessene Verzögerung festge­ stellt und er entsprechend entschädigt wurde.90 Vergleicht man diesen Befund mit der vor der Einführung der §§ 97a ff. BVerfGG doch relativ häufigen Verurtei­ lung der Bundesrepublik durch den EGMR wegen einer überlangen Verfahrens­ dauer vor dem BVerfG,91 so müsste es nahe liegen, dass seit der Implementierung des Rechtsbehelfs das Problem der Verfahrensdauer zurückgegangen sei. Den­ noch ergibt sich aus Jahresstatistiken des BVerfG ein gegenteiliger Trend: Die durchschnittliche Verfahrensdauer hat seit der Einführung des Rechtsbehelfs im Jahr 2011 leicht zugenommen.92 Diese Entwicklung könnte auf eine ge­ 86

S. Kap. 4 B. II. 4. Vgl. Kap. 5 B. I. 1. a). 88 Davon fünf Verfahren, in denen weitere Gründe zur Unzulässigkeit der Verzögerungs­ beschwerde führten. 89 Vgl. Anhang. 90 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361. 91 S. oben Kap. 2 A. I. 92 S. Kap. 5 A. I. 87

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wisse Schieflage der Rechtsprechung der Beschwerdekammer gegenüber der des EGMR hindeuten. Betrachtet man die Entscheidungen näher, zeigt sich, dass die Beschwerdekam­ mer sowohl die verfassungs- als auch die konventionsrechtlichen Kriterien an­ wendet. Hinzugezogen werden die organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten des BVerfG. Die Beschwerdekammer bettet diese Parameter in eine Vertretbarkeitsprüfung des erheblichen Spielraums des Verfassungsgerichts darüber ein, welches Verfahren aufgrund welcher Maßstäbe als vordringlich ein­ zuordnen ist. Zunächst glich dieser Maßstab eher einer Willkürkontrolle, mit der die verfahrensleitende Entscheidung dahingehend geprüft wurde, ob sie sich nicht auf verfahrensökonomische Sachgründe stützen ließ, sondern von sachfremden und zweckwidrigen Erwägungen getragen wurde oder aufgrund der besonderen Umstande des Falls unverhältnismäßig erschien.93 Später spezifizierte die Be­ schwerdekammer den Prüfungsmaßstab dahingehend, dass eine Überschreitung des Spielraums anzunehmen sei, soweit sich nach den maßgeblichen Kriterien des Konventions- und Verfassungsrechts aufdrängt, dass dem Verfahren ein Vorrang hätte eingeräumt werden müssen.94 Bei der Bewertung fließt zumindest teilweise die Dauer vor der Fachgerichtsbarkeit ein, weshalb einem bereits verzögerten Ver­ fahren mit besonderer Sorgfalt begegnet werden soll.95 Die Anwendung der einzelnen Kriterien lässt sich in der Rechtsprechungspraxis gut nachzeichnen. So wurden Verzögerungen infolge eines Zuständigkeitskonflikts zwischen den Senaten und einer späteren Änderung des Geschäftsverteilungsplans entsprechend der EGMR-Rechtsprechung96 als unangemessen bewertet, da sie von staatlicher Seite zu verantworten sind.97 Anders hingegen wurde die infor­ melle Entscheidung zur Zurückstellung von Verfahren zum Abwarten von – aus ex-ante-Sicht eingestuften – Parallelverfahren oder zur vorrangigen Abarbeitung von verhältnismäßig bedeutsameren Verfahren98 nicht als unangemessene, vom Staat zu vertretene Verzögerung eingeordnet, sondern unter die privilegierte Stel­ lung des BVerfG gefasst. Hierbei wurde nicht nur formelhaft auf die Sonder­stellung oder auf einen sinnvollen prozessökonomischen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen rekurriert, sondern transparent dargelegt, weshalb das Verfahren nicht vorrangig zu behandeln war.99 In ähnlicher Weise geht die Beschwerdekammer 93

BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (791); NJW 2016, 2021 (2023). Erstmals in BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365); fortgeführt im Be­ schluss v. 20. 08. 2016  – 2 BvC 26/14  – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 26; Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 16. 95 Vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363). 96 Vgl. EGMR, Loffler v. Austria (No. 2), Urteil v. 04. 03. 2004, No. 72159/01, Rn. 57. 97 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363 ff.). 98 So fielen beim Ersten Senat brisante Verfahren wie das zur Vorratsdatenspeicherung (BVerfGE 130, 151), zum Antiterrordateigesetz (BVerfGE 133, 277) sowie zum BKA-Gesetz (BVerfGE 141, 220) vorrangig an, vgl. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2016, 2021 (2023). 99 BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 788 (791 f.), akzeptiert vom EGMR, Peter v.  Germany, Entscheidung v. 04. 09. 2014, No. 68919/10, Rn. 46 f.; BVerfG (Beschwerde­ 94

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auf die Bedeutung der Sache für den Betroffenen ein: Es werden oftmals die Um­ stände des Einzelfalles hervorgehoben, die eine vor- oder nachrangige Bearbei­ tung rechtfertigten.100 Insgesamt erfolgt die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch die Beschwerdekammer am Maßstab der Konvention sowie des Grundgesetzes unter Achtung der besonderen Stellung und Aufgaben des BVerfG. Die Kammer bewegt sich mit ihren Abwägungsentscheidungen im Rahmen des Vertretbaren. Lediglich eine Einzelentscheidung über eine Verfahrensdauer von sechs Jahren und fünf Monaten, die vornehmlich wegen weiteren „besonders zeitaufwändig[en]“ und „arbeitsintensiven“ anhängigen Verfahren als „noch angemessen“ eingestuft wurde, lässt Raum für Zweifel, ob nicht eine Überlastung infolge eines Richter­ wechsels und damit Umstände der staatlichen Sphäre unzulässigerweise auf den Verfahrensbeteiligten abgewälzt wurden.101 Zudem wurden  – anders als in den zuvor genannten Verfahren – die persönliche Belange des Verzögerungsbeschwer­ deführers gegenüber denen der Betroffenen der anderweitig anhängigen Verfah­ ren nur knapp und die Komplexität der Verfahren nur oberflächlich beleuchtet. Auch die vorherige Verfahrensdauer von circa zweieinhalb Jahren und damit eine Gesamtdauer von knapp acht Jahren wurde – jedenfalls nicht ausdrücklich – gewür­digt, so dass sich der Eindruck einer wenig selbstkritischen Handhabung in diesem Fall verdichtet. Da offenbar keine Individualbeschwerde zum EGMR erfolgte, wurde diese Entscheidung keiner näheren Prüfung unterzogen, obwohl sie außerhalb des zeitlichen Korridors102 liegt, den der EGMR als noch angemes­ sen beurteilt. Jedenfalls unter Beimessung einer gewissen Fehlertoleranz befindet sich die Ju­ dikatur der Beschwerdekammer im Rahmen der Vorgaben der EMRK sowie des Grundgesetzes. Bestätigen lässt sich dies durch die Rechtsprechung des EGMR, der in zwei überprüften Entscheidungen der Kammer ebenso von keiner unange­ messenen Dauer ausging.103 Zu guter Letzt fällt positiv auf, dass die Beschwerde­ kammer die Praxis pflegt, eine ablehnende Entscheidung zur Unangemessenheit der Verfahrensdauer – entgegen § 97d Abs. 2 S. 4 BVerfGG – mit einer Begrün­

kammer) NJW 2016, 2021 (2023 f.); Beschluss v. 22. 03. 2018  – 2 BvR 289  – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 19–29; vgl. auch Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 33. 100 S. etwa BVerfG (Beschwerdekammer) NVwZ 2013, 789 (792); NJW 2015, 3361 (3363 f.); NJW 2016, 2021 (2024); Beschluss v. 20. 08. 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16, BeckRS 2016, 51732, Rn. 32; vgl. auch Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 28. 101 S. BVerfG (Beschwerdekammer), Beschluss v. 22. 03. 2018 – 2 BvR 289 – 10 Vz 10/16, BeckRS 2018, 5077, Rn. 20 ff. 102 S. Kap. 5 A. I. 103 EGMR, Peter v. Germany, Entscheidung v. 04. 09. 2014, No. 68919/10; offenbar auch in K. v. Germany, Entscheidung v. 23. 06. 2016, No. 13936/16 (unveröffentlicht).

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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dung zu versehen.104 Damit werden die Anforderungen an eine Begründung aus der EMRK übererfüllt sowie der Dialog der Richter gestärkt, sofern das Verfahren beim EGMR anhängig gemacht wird. 2. Die Entschädigung Von ähnlich zentraler Bedeutung wie die Frage der Angemessenheit der Ver­ fahrensdauer ist der Umfang sowie die Höhe der Entschädigung. Lediglich, wenn die von der Beschwerdekammer auf der Basis von § 97a BVerfGG zugestandenen Summen nicht außer Verhältnis zu den vom EGMR zugebilligten Entschädigungs­ zahlungen stehen, können sie als konventionskonform erachtet werden.105 a) Materielle Nachteile Die §§ 97a ff. BVerfGG treffen keine explizite Anordnung zur Höhe und zum Umfang einer Entschädigung für materielle Nachteile, außer dass diese angemes­ sen zu sein hat. Wie gezeigt ist in den Fällen, die Art. 6 Abs. 1 EMRK unterliegen, eine konventionskonforme Auslegung geboten, so dass nach den oben genannten Maßstäben106 unmittelbare und mittelbare Vermögenseinbußen sowie entgangener Gewinn107 entschädigungspflichtig sind. Ein Absinken unterhalb dieser Maßstäbe läuft Gefahr der Konventionswidrig­ keit, da dies für einen reinen Kompensationsrechtsbehelf  – wie der Verzöge­ rungsbeschwerde  – regelmäßig inadäquat und damit ineffektiv wäre.108 Solch eine Minderung wäre lediglich bei einer echten Kombinationslösung (im Kontext der jeweiligen nationalen Rechtstradition) haltbar, was wegen der Ineffektivität der Verzögerungsrüge für das Entschädigungsniveau des § 97a BVerfGG gerade nicht der Fall ist. Ebenso abzulehnen sind anderweitige vom EGMR akzeptierten Reduzierungsgründe wie etwa ein vergleichsweise niedriger Lebensstandard im betroffenen Staat.109 Insofern bieten die obigen Ausführungen einen konventions­ konformen Maßstab für die Kompensation von materiellen Nachteilen. Die Beschwerdekammer hat sich bisher nicht näher zur Höhe und zum Umfang des Entschädigungsanspruches für materielle Nachteile geäußert. In der bisher

104

Vgl. Anhang. Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 64 f. 106 Vgl. Kap. 4 B. III. 2. 107 Soweit ersichtlich wurde entgangener Gewinn bisher nicht geltend gemacht (vgl. BTDrucks 18/2950, 9). 108 Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 166 f. 109 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 65; CoE, CDL-STD​ (2007)044, para. 167. 105

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

einzigen stattgebenden Entscheidung wird lediglich – wohl irrtümlich110 – auf die §§ 249 ff. BGB verwiesen.111 Bei der Prüfung, welche Nachteilsposten kompen­ sationsfähig sind, bezieht die Kammer nicht weiter Stellung, sondern stellt vor­ rangig auf die mangelnde Kausalität zwischen dem überlangen verfassungsgericht­ lichen Verfahren und den geltend gemachten Nachteilen ab. Es wird betont, dass sie weder die verfassungsgerichtliche Ausgangsentscheidung inhaltlich kontrolliert noch über einen anderweitigen Ausgang des Verfahrens spekuliert. Stattdessen muss der materielle Nachteil aus der Verzögerung resultieren.112 Dementsprechend lehnte die Kammer eine Entschädigung für verschiedene Posten ab, die vornehm­ lich auf der Prämisse fußten, dass das BVerfG ohne Verzögerung im Sinne der Beschwerdeführerin entschieden hätte.113 Mit diesem Votum liegt die Beschwerdekammer auf der Linie des EGMR, der ebenfalls von einer Spekulation über den Verfahrensausgang absieht („Spekula­ tionsverbot“)114 und stattdessen eine nachweisbare Kausalität von Verzögerung und Schaden verlangt.115 In der Praxis ist diese lediglich in Ausnahmefällen  – z. B. bei entgangenen Pachtzinsen  – gegeben.116 Im Übrigen unterstreicht diese Praxis des EGMR, dass eine fehlende Kompensationsfähigkeit von entgangenem Gewinn Gefahr der Konventionswidrigkeit läuft, da oftmals allein solche entgan­ genen Chancen als materieller Schaden eingestuft117 wurden. b) Immaterielle Nachteile Positiv für die Wirksamkeit der Verzögerungsbeschwerde ist, dass neben einem materiellen Nachteil ebenfalls ein immaterieller Nachteil kompensationsfähig ist.118 Flankiert wird die Effektivität durch die Vermutungsregelung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG, die bei einer unangemessenen Verfahrensdauer einen im­

110

S. zu den Änderungen im Gesetzgebungsverfahren Kap. 2 B. IV. BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3363) unter Verweis auf den Gesetzes­ entwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. 17/3802, 19). 112 BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365). 113 Die Verzögerungsbeschwerdeführerin begehrte Ersatz für die Kosten eines Privatgutach­ tens, der Hinzuziehung eines zusätzlichen Anwalts im fachgerichtlichen Berufungsverfahren, eines Coachings zur Vorbereitung auf eine Mediation sowie die Erstattung von Rechtsanwalts­ kosten, die über die gesetzlichen Gebühren hinausreichten, BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365), ungekürzt Beschluss v. 20. 08. 2015  – 1 BvR 2781/13  – Vz 11/14, BeckRS 2015, 51365, Rn. 18, 47 f., 51. 114 HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Brunozzi, Art. 41, Rn. 14. 115 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  29, 31; HK-EMRK / MeyerLadewig / Brunozzi, Art. 41, Rn. 10, 16, jeweils m. w. N. 116 EGMR, Pammel v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 17820/91, Rn. 73, 78; Probstmeier v. Germany, Urteil v. 01. 07. 1997, 20950/92, Rn. 68, 73. 117 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  31 f. 118 Vgl. CoE, CDL-STD(2007)044, para. 165. 111

B. Verzögerungsbeschwerde als kompensatorischer Rechtsbehelf  

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materiellen Nachteil vermutet. Die Regelung sichert die Vorgaben der EGMRJudikatur119 ab und ist ein wesentlicher Bestandteil der Kompensationslösung.120 Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Wiedergutmachung auf andere Weise zur geldwerten Entschädigung. Allerdings kann die Ausschlussregelung des § 97a Abs. 2 S. 2 BVerfGG, wonach die Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind, konventionskonform in der Gestalt ausgelegt werden, dass eine geldwerte Entschädigung im Anwendungsbereich der Konven­ tion den Regelfall bildet.121 Friktionen mit der Rechtsprechung des EGMR, der vorrangig eine pekuniäre Entschädigung gewährt,122 können somit vermieden werden. Der pauschalierte Satz von 1.200 € pro Jahr der Verzögerung (§ 97a Abs. 2 S. 3 BVerfGG) bzw. 100 € pro Monat der Verzögerung bestimmt sich ausschließlich anhand der Verzögerungsdauer. Die besonderen Umstände des Einzelfalles können über die Billigkeitsklausel von § 97a Abs. 2 S. 4 BVerfGG berücksichtigt werden und zu einer Anhebung oder einem Absenken des Regelsatzes führen. Dies äh­ nelt in gewisser Weise der vertraulichen und intern genutzten Skala des EGMR, mit deren Hilfe unter Heranziehung der Verfahrensdauer sowie den Umständen des Einzelfalles auf Billigkeitsbasis eine Entschädigungssumme für immaterielle Nachteile kalkuliert wird.123 Ein Absinken unterhalb der nach Maßgabe dieser Liste gewährten Entschä­ digungssummen für immaterielle Nachteile kann je nach den Umständen des Einzelfalls bis zu einem gewissen Grad hingenommen werden.124 Erst bei einem Unterschreiten der vom EGMR üblicherweise bei einer Verurteilung des Staates zugesprochenen Summe um (deutlich) mehr als 50 % wird von demselben eine In­ effektivität angenommen.125 Diese Rechtsprechungslinie des EGMR kann als eine Evidenzkontrolle verstanden werden, da die Mitgliedstaaten grundsätzlich auto­ nom bestimmen können, welche Entschädigungssumme sie für angemessen halten. Um zu verhindern, dass rein symbolische Summen zugesprochen und Art. 6 Abs. 1 119

Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 65 f.; CoE, CDLSTD(2007)044, para. 165. 120 Dies war bereits der Bundesregierung bei der Kreierung des Rechtsbehelfs bewusst, vgl. BT-Drucks. 17/3802, Anlage 4, 40 f. 121 Vgl. Kap. 4 B. III. 2. 122 Vgl. Dörr, in: ders. / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  33, Rn.  77; HK-EMRK / MeyerLadewig / Brunozzi, Art. 41, Rn. 26; ferner Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ​ (2018)26, 66. 123 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 65. 124 Im Fall EGMR, Garino c. Italie, Entscheidung v. 18. 05. 2006, No. 16605/03, 16644/03, 16641/03 wurde die von der nationalen Instanz gewährte Summe von ca. 10.000 € als die Hälfte dessen bezeichnet, was der EGMR in einem vergleichbaren italienischen Fall bei einer dreizehnjährigen Verfahrensdauer zusprechen würde. Dennoch wurde die Summe als (noch) adäquat eingestuft. 125 Vgl. Calvez / Regis, Length of court proceedings, CEPEJ(2018)26, 65 m. w. N. aus der EGMR-Rspr.

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Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

i. V. m. Art. 13 EMRK zu einer Leerformel werden, eignet sich der Mindestsatz von 50 %. Betrachtet man das hierzu einschlägige case law des EGMR126 so dürfte der pauschalierte Satz von 1.200 € p. a. der Verzögerung für die Industrienation Deutschland sehr nah an dem internen Vergleichswert des EGMR liegen. Ein sig­ nifikantes Unterschreiten kann jedenfalls ausgeschlossen werden.127 Bisher wurde von der Beschwerdekammer einmalig eine Entschädigungssumme für immaterielle Nachteile zugesprochen. Die Entscheidung blieb vom EGMR un­ beanstandet und lässt im Übrigen keinen Zweifel an der Handhabung des § 97a Abs. 2 BVerfGG aufkommen.128 Die Entschädigung von immateriellen Nachteilen nach § 97a Abs. 2 BVerfGG wird vollumfänglich den Effektivitätsanforderungen des EGMR gerecht. Aus rechtspolitischer Sicht kann allenfalls hinterfragt werden, ob die Entschädigung eine verhaltenssteuernde Wirkung auf die Arbeit der Verfassungsrichter entfaltet. Jedenfalls die Eigenhaftung des BVerfG kann theoretisch solch einen Effekt er­ zeugen und zu einer besonderen Achtsamkeit auf dem Feld der Verfahrensdauer, insbesondere in den neuralgischen Fallgruppen, führen. Jedoch kann dies als „Richter in eigener Sache“ genauso gut die gegenteilige Wirkung entfalten und dabei die objektive Unparteilichkeit verletzen,129 so dass selbst bei einer Art „Diszi­ plinierungsfunktion“ deren Nachteile überwiegen würden bzw. diese sich gar als unzulässig darstellen kann. 3. Ergebnis Unter materiell-rechtlichen Gesichtspunkten ist der § 97a BVerfGG sowie dessen Anwendung in der Praxis nicht zu beanstanden. Die Regelungen lassen genügend Raum für eine verfassungs- bzw. konventionskonforme Auslegung, so dass die etablierten Kriterien zur Feststellung einer Unangemessenheit – trotz fehlender expliziter Nennung – angewendet werden können. Hinzu kommt die Einbeziehung 126

So waren 1.050 € für eine über zehnjährige Verfahrensdauer in Nordmazedonien nur 35 % und 4.000 € für eine über achtundzwanzigjährige Verfahrensdauer in Italien nur 21 % dessen, was der EGMR in vergleichbaren Fällen (3.000 € bzw. ca. 20.000 €) als adäquat beurteilen würde, vgl. EGMR, Petrović v. „The Former Yugoslav Republic of Macedonia“, Entschei­ dung v. 22. 06. 2017, No. 30721/15, Rn. 21; Fasan et. al. c. Italie, Entscheidung v. 13. 04. 2017, No. 36974/11, Rn. 27. 127 So aber Lechner / Zuck, BVerfGG, § 97a, Rn. 77, die allerdings auf außergewöhnliche hohe Summen in Einzelfällen rekurrieren. Offenlassend Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97a, Rn. 61. 128 Die Kammer entschied auf eine Wiedergutmachung auf andere Weise angesichts der Umstände des Einzelfalles zu verzichten und stattdessen pro Monat der Verzögerung 100 € (insgesamt 3.000 €) zuzusprechen, BVerfG (Beschwerdekammer) NJW 2015, 3361 (3365). Die Individualbeschwerde hiergegen wurde vom Einzelrichter abgelehnt, EGMR, K. v. Germany, Entscheidung v. 23. 06. 2016, No. 13936/16 (unveröffentlicht). 129 Vgl. Kap. 5 B. I. 5.

C. Zusammenfassung  

289

der organisatorischen und verfahrensmäßigen Besonderheiten des Verfassungsge­ richts, wie sie vom EGMR akzeptiert werden. In der Judikatur der Beschwerdekammer sind erst wenige Entscheidungen über die Angemessenheit der Dauer ergangen. Diese enthalten – mit einer Ausnahme – keine Hinweise auf eine Konventions- oder Verfassungswidrigkeit. Dementspre­ chend sind in diesem Zusammenhang nur abschlägige Entscheidungen des EGMR bekannt. Vorteilhaft dürften sich hierbei die Begründungen der jeweiligen Ent­ scheidungen auswirken, um die aus der Sicht der Verfassungsrichter maßgeblichen Gründe beim Gang nach Straßburg mitzugeben. Ein vergleichbares Bild ergibt sich bei der Entschädigung von Nachteilen. Die gesetzlichen Regelungen geben entweder die Rechtsprechung des EGMR zu im­ materiellen Schäden wieder oder lassen sich hinsichtlich materieller Nachteile konventionskonform weit interpretieren. Auch wenn der letztere Fall wegen der oftmals fraglichen Kausalität und des „Spekulationsverbots“ in der Praxis kaum vorkommen dürfte, so wurde in der bisher einzigen stattgebenden Entscheidung eine Summe zugebilligt, deren Umfang und Höhe sich an den Sätzen des EGMR orientiert.

C. Zusammenfassung Mit den §§ 97a ff. BVerfGG hat der Gesetzgeber seine Absicht, die verfas­ sungs- und konventionsrechtliche Rechtschutzlücke zu schließen, nur teilweise verwirklicht. Es wurde versäumt, einen wirksamen präventiven Rechtsbehelf zu installieren. Die Verzögerungsrüge kann diesen Effekt weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht erbringen. Stattdessen sind die §§ 97a ff. BVerfGG eine reine Kompensationslösung. Dies ist zwar konventionsrechtlich für reguläre Fälle im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zu beanstanden, aber in den besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen mit der Konvention un­ vereinbar. Darüber hinaus erfordert eine verfassungskonforme Ausgestaltung, dass grundsätzlich in jedem noch laufenden Verfahren grundsätzlich eine wirksame präventive Abhilfemöglichkeit bestehen muss. Die Probleme der Verzögerungsrüge setzen sich auf der prozessualen Seite der Verzögerungsbeschwerde fort und führen wegen der Verknüpfung der bei­ den Instrumente dazu, dass im Entschädigungsverfahren übermäßige und damit unzulässige Hürden bereitet werden. Insbesondere zusammen mit dem Problem der überraschenden Präklusion infolge der für den Betroffenen undurchsichtigen Entscheidungsvorgänge beim BVerfG kann der Entschädigungsprozess gänzlich ausgeschlossen sein, es sei denn, es wurde als Formalie eine ordnungsgemäße Verzögerungsrüge erhoben. Abseits dieser Unzulänglichkeit erweist sich auf prozeduraler Ebene die Ver­ einigung von der Entscheidungskompetenz über einen Rechtsverstoß in eigener

290

Kap. 5: Kritische Würdigung der §§ 97a ff. BVerfGG  

Sache und die unmittelbare Haftung aus eigenen Haushaltsmitteln als problema­ tisch. Diese Konstruktion kann finanzielle Fehlanreize entstehen lassen, die sich auf das Ergebnis des Entschädigungsprozesses auswirken könnten. Dass dies tat­ sächlich nicht der Fall sein dürfte, ist insofern irrelevant, als dass bereits der böse Schein die objektive Unparteilichkeit der Beschwerdekammer verletzt. Auf materiell-rechtlicher Ebene sind die §§ 97a ff. BVerfGG sowie die Judika­ tur der Beschwerdekammer effektiv. Insbesondere finden sich in den wenigen Be­ schlüssen zur Begründetheit der Verzögerungsbeschwerde keine durchgreifenden Anhaltspunkte, die für eine Konventions- oder Verfassungswidrigkeit sprechen. Stattdessen bewegt sich die Beschwerdekammer im Rahmen der vom EGMR vorgezeichneten Linien zur Beurteilung der angemessenen Dauer eines verfas­ sungsgerichtlichen Verfahrens sowie der hierzu gebotenen Rechtsschutzmöglich­ keiten. Aus der Tatsache, dass so gut wie alle Entscheidungen nicht im Sinne der Verzögerungsbeschwerdeführer ausgegangen sind, kann im Übrigen nicht auto­ matisch auf die Ineffektivität der Regelung geschlossen werden. Bei zukünftigen Entscheidungen ist allerdings auf der Rechtsfolgenseite verstärkt ein Fokus auf die Entschädigung von materiellen Nachteilen zu richten, die ausweislich des ge­ setzgeberischen Willens nicht nach §§ 249 ff. BGB ersetzt werden, sondern einem eigenen Haftungsregime unterliegen, das im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK konventionskonform auszulegen ist. Die für immaterielle Nachteile gel­ tenden Rechtsfolgen sind sehr nah an der Straßburger Judikatur und damit nicht zu beanstanden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es dem deutschen Gesetzgeber in weiten Teilen gelungen ist, die Rechtsschutzlücke mit dem kompensatorischen Rechtsbe­ helf der Verzögerungsbeschwerde zu schließen. Lediglich die unzureichende Prä­ ventivlösung der Verzögerungsrüge birgt Unzulänglichkeiten, die weder konven­ tions- noch grundgesetzkonform sind und sich zudem negativ auf die Effektivität des Entschädigungsprozesses auswirken können.

Kapitel 6

Schlussbetrachtungen A. Punktuelle Reformansätze Die Befunde zur Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG decken sich teilweise mit den Bedenken der BRAK, wie sie in ihrer Evaluation und deren Änderungsvor­ schlägen zum ÜGRG1 zum Ausdruck kommen. Daher sollten die BRAK-Reform­ vorschläge zur Verbesserung der Verzögerungsrüge, der Umkehrung des RegelAusnahme-Verhältnis von Wiedergutmachung auf andere Weise zu monetärer Entschädigung sowie der Appell für eine großzügigere Handhabung der Voraus­ setzungen der Verzögerungsbeschwerde vom Gesetzgeber bzw. von der Beschwer­ dekammer ernsthaft geprüft und umgesetzt werden. Lediglich der Vorschlag der BRAK, die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer strenger zu gestal­ ten, lässt sich nicht nachvollziehen. Die bisherige Linie der Beschwerdekammer hat sich vorerst bewährt, so dass Veränderungen lediglich Potential für Reibungen mit der EGMR-Rechtsprechung sowie den grundgesetzlichen Verfahrensrechten bieten und daher vermieden werden sollten. Teils konkretisieren, teils erweitern lassen sich die Ansätze der BRAK hinsicht­ lich der Verzögerungsrüge, der Wartefristen, der Entschädigung von staatlichen Verfahrensbeteiligten sowie der Organisation der Beschwerdekammer. Wie gezeigt kann von der Verzögerungsrüge de lege lata keine signifikante Beschleunigungswirkung ausgehen. Prinzipiell könnte man daher für ihre gänz­ liche Abschaffung plädieren. Dies hätte zumindest den Vorteil, dass man die be­ sondere und schwer verrückbare Architektur des BVerfG in der Gestalt würdigt, als dass eine Beschleunigung des Verfahrens schlichtweg aus Kapazitätsgründen oftmals nicht möglich sein wird. Konventions- sowie verfassungsrechtlich wäre dies allerdings unzulässig. So würde der Gesetzgeber Axt an den Primärrechts­ schutz legen, der die Integrität des Verfahrensgrundrechts gewährleisten soll. Be­ trachtet man die Argumente, die grundsätzlich gegen einen generellen Ausschluss des Primärrechtsschutzes zugunsten einer Kompensationslösung sprechen,2 so müsste man doch anerkennen, dass diese in der besonderen Verfahrenssituation vor dem BVerfG nicht gleichermaßen zu Tragen kommen wie vor der Fachge­ richtsbarkeit. Dennoch würde ein pauschaler Ausschluss vom Primärrechtsschutz 1 BT-Drucks. 18/2950, 29; befürwortet von HK-BVerfGG / L enz / Hansel, § 97a, Rn. 31, vgl. dazu Kap. 2 B. V. 2 S. Kap. 3 B. II.

292

Kap. 6: Schlussbetrachtungen  

gerade die zentrale Errungenschaft der Plenarentscheidung vom 30. 03. 20033  – den Rechtsschutz gegen den Richter fließend aus dem allgemeinen Justizgewähr­ leistungsanspruch – in seinem Kern aushöhlen. Zudem bliebe eine offene Lücke in den nach der Judikatur des EGMR besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen. Daher ist ein Weg zu wählen, mit dem zumindest versucht wird, die Verzöge­ rungsrüge zu effektuieren. Erstens müsste das zentrale Problem, die rechtliche Folgenlosigkeit der Verzögerungsrüge, beseitigt werden, indem dem Betroffenen ein subjektives Recht auf eine Entscheidung über die Rüge zuteilwird. Zweitens sollte für ihn ersichtlich sein, ob der zuständige Spruchkörper des BVerfG das Ver­ fahren priorisieren wird oder nicht. Gegebenenfalls sollte dem Betroffen knapp die Gründe4 hierfür mitgeteilt werden. Insbesondere der letztere Punkt kann für eine höhere Akzeptanz der nunmehr nachvollziehbaren Verfahrensdauer führen und möglicherweise weit im Vorfeld Kompensationsbegehren verhindern. Eine übermäßige Inanspruchnahme verfassungsgerichtlicher Ressourcen dürfe hier­ durch nicht zu erwarten sein, da die zu kommunizierenden Gründe für eine voroder nachrangige Behandlung des Verfahrens i. d. R. bereits feststehen dürften. Drittens könnte mit solch einer echten Verzögerungsrüge dem Problem der Verknüpfung der Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsbeschwerde begegnet werden, da die beschriebene Situation5 gar nicht erst eintreten würde. Im Übrigen ließe sich dieses Problem entschärfen, indem man die ordnungsgemäße Erhebung der Verzögerungsrüge von einer Zulässigkeitsvoraussetzung zu einem Tatbestands­ merkmal des Entschädigungsanspruches wandeln würde. Dies müsste mit einem dem § 198 Abs. 4 S. 3 Hs. 2 GVG entsprechenden Passus einhergehen, so dass selbst bei einer fehlenden Verzögerungsrüge zumindest eine Feststellung der un­ angemessen langen Verfahrensdauer möglich wäre. Die strenge Koppelung der Kompensation an den Präventivrechtsbehelf, die zum Präklusionsproblem führen kann, wäre weitgehend gelockert. Der Vorteil solch einer echten Kombinationslösung läge zudem darin, dass auf materieller Ebene stärker das Verhalten des Beschwerdeführers berücksichtigt wer­ den kann, da dieser nun eine reale Einwirkungsmöglichkeit zur Hand hätte, und sich dies in Abwägung der Angemessenheit der Verfahrensdauer oder auf Rechts­ folgenseite in einem reduzierten monetären Entschädigungsanspruch niederschla­ gen könnte. So billigt es der EGMR, dass in einem kombinierten Rechtsbehelfs­ system verringerte Kompensationen ausgeschüttet werden dürfen. Diese Verzögerungsrüge de lege ferenda müsste nicht einmal auf alle Ver­ fahrensarten anwendbar sein, sondern lediglich auf die hier identifizierten indi­ 3

BVerfGE 107, 395. Z. B. die Bündelung mit anderen Verfahren, die Zurückstellung bis zu Entscheidung eines Parallelverfahrens oder die vorrangige Bearbeitung von wichtigeren Verfahren. 5 S. zum Problem der Präklusion Kap. 4 A. VII. 2. b). 4

A. Punktuelle Reformansätze 

293

vidualschützenden Verfahren, die sich im Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes bzw. der EMRK bewegen. Um die Effektivität der Verzögerungsrüge zu flankieren, sollte das BVerfG das Grundproblem der unzureichenden Transparenz bei der Verfahrensführung bewältigen. Es würde sich empfehlen, den Verfahrensbeteiligten proaktiv über die für die Verfahrensdauer relevanten (informellen) internen Entscheidungen zu informieren oder eine automatische Verfahrensstandmitteilung nach Ablauf einer noch zu bestimmenden Frist (z. B. nach 18 Monaten)6 zu erteilen. Insbesondere bei den – meist hochpolitischen – Großverfahren oder Pilot-Verfahren erscheint ein derartiges Vorgehen sinnvoll, um etwaige – ggf. nur öffentlichkeitserhaschende – Verfahren im Nachhinein vor der Beschwerdekammer oder gar dem EGMR zu entgehen. Insofern bietet es sich bei diesen Verfahren an, auch die Öffentlichkeit zu einem gewissen Maße über den Verfahrenstand zu informieren – wie es z. B. bei internationalen Gerichten durchaus üblich ist. All dies könnte dazu beitragen, dass das BVerfG nicht mehr als absolute „black box“7 wahrgenommen wird. Inwiefern solch ein Konzept einer echten Verzögerungsrüge zusammen mit einer erhöhten Transparenz trotz begrenzter Kapazitäten tatsächlich realisierbar ist, bleibt der Entscheidung des Gesetzgebers – in Abstimmung mit dem Plenum des BVerfG – vorbehalten. Hierbei sollte einbezogen werden, dass der befürchtete Ansturm auf die Instrumente des ÜGRG ausgeblieben ist und sich die Zahlen an jährlichen Verzögerungsbeschwerden arg in Grenzen halten. Ein weiterer Baustein zur verbesserten Effektivität wäre die Flexibilisierung der Wartefristen der Verzögerungsrüge und -beschwerde. Zwar bewegen sich diese in den meisten Fällen innerhalb eines konventionskonformen Zeitraums. Für die be­ sonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen sowie bei der einstweiligen An­ ordnung fehlt allerdings die notwendige Elastizität der Regelungen. So wäre für diese Bereiche eine Ausnahme von den holzschnittartigen Wartefristen angebracht. Eine gänzliche Flexibilisierung der Wartefrist der Verzögerungsrüge – analog zu § 198 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 GVG – würde der Sondersituation vor dem BVerfG nicht hinreichend Rechnung tragen und höchstwahrscheinlich zu Rechtsunsicherheiten über den richtigen Zeitpunkt der Erhebung der Rüge und Folgeproblemen führen, die sich als kontraproduktiv erweisen.8 Weniger zur Steigerung der Effektivität, sondern mehr als Beitrag zur Rechts­ klarheit wäre eine Reform des „überschießenden“ Bereichs der §§ 97a ff. BVerfGG diskussionswürdig. Insbesondere hinsichtlich der Frage, ob, und falls ja, wie staat­ liche Beteiligte in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren entschädigt wer­ 6

Eine Frist von 18 Monaten dürfte der gesetzgeberischen Intention zum regelmäßig frü­ hestmöglichen Zeitpunkt eines Entschädigungsprozesses am nächsten kommen. 7 Schmaltz, in: Barczak (Hrsg.), BVerfGG, § 97b, Rn. 12. 8 Vgl. für § 198 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 GVG Hofmarksrichter, Rechtsschutz bei überlangen Ge­ richtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR, 88.

294

Kap. 6: Schlussbetrachtungen  

den sollen, sollte der Gesetzgeber einen klaren Willen bilden. Die Option eines generellen Ausschlusses aller staatlichen Verfahrensbeteiligten  – wie vor dem Hamburgischen Verfassungsgericht9 – wäre wohl mit Blick auf ausnahmsweise grundrechtsberechtigten juristischen Personen des öffentlichen Rechts konventi­ ons- sowie verfassungswidrig.10 Es bietet sich eine differenzierte Lösung an, die sich am § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG und den hier vorgestellten Auslegungsmaßstä­ ben11 orientierten könnte. Neben diesen Veränderungen wäre eine Reform der Beschwerdekammer eine Überlegung wert. Insbesondere die Eigenhaftung des BVerfG führt zum bösen Schein eines finanziellen Fehlanreizes, der die objektive Unparteilichkeit der Kammer verletzt, und ist daher durch eine klare Haftungsregelung im BVerfGG zu unterbinden. Im Übrigen könnten gewisse Neujustierungen bis hin zu einer Neukonstituierung der Beschwerdekammer Vorteile bzgl. der Akzeptanz sowie der Effektivität mit sich bringen. Denkbar wäre eine Abkehr von der Abweisung der Verzögerungsbeschwerde bei Stimmengleichheit,12 so dass ein vermeintlich böser Schein des Selbstschutzes des betroffenen Senats vermieden werden kann. Die Regelung, die ansonsten im BVerfGG durchaus angebracht ist, begegnet im Kontext der Entscheidung der Ver­ fahrensdauer als Richter in eigener Sache Bedenken und kann die Akzeptanz der Entscheidung durch den rechtssuchenden Betroffenen verschlechtern. Das Problem der gerichtsinternen Akzeptanz wegen einer wahrgenommenen Über-Unter-Ord­ nung der Senate bliebe dabei in gewissen Konstellationen bestehen. Stellt man die Beschwerdekammer als Institution de lege lata gänzlich infrage, so tun sich zwei alternative Konzepte auf, die jeweils Vor- und Nachteile beinhal­ ten. So könnten an die Stelle der heutigen Beschwerdekammer zwei Beschwerde­ kammern treten, die jeweils bei einem Senat angesiedelt sind. Sie würden über die Verzögerungsbeschwerden entscheiden, die den jeweils anderen Senat bzw. seine Kammern betreffen (Querverweisung). Der Vorwurf, Richter in eigener (Senats-) Sache zu sein, wäre vollends entkräftet. Auf der anderen Seite wäre ein gerichts­ fremdes Über-Unter-Ordnungsverhältnis der Senate in der konkreten Rechtssache nicht von der Hand zu weisen. Bei einer globalen Betrachtung aller Verzögerungs­ beschwerden würde sich diese Über-Unter-Ordnung als reziprok erweisen, so dass die Balance zwischen den Senaten gewahrt bliebe. Sieht man von solch einer Aufspaltung der Beschwerdekammer ab, könnte eine senatsparitätisch besetzte Beschwerdekammer mit Bundesverfassungsrichtern a. D. eine Lösung sein. Hierin läge der Vorteil, dass die Richter weder personell noch sachlich mit den gerügten Ausgangsverfahren verbunden sind sowie durch ihre 9

S. § 65a Abs. 1 S. 2 Hmb. LVerfGG. Vgl. Kap. 3 A. I. 2. a) und II. 1. a). 11 S. Kap. 4 A. V. 2. und B. III. 2. c). 12 Hierfür auch die BRAK, BT-Drucks. 18/2950, 29. 10

B. Bewertendes Fazit und Ausblick 

295

langjährige Zugehörigkeit zum BVerfG mit den internen Abläufen bestens vertraut sind und eine entsprechende „Altersweisheit“ mitbringen. Zudem würden die am­ tierenden Richter nicht mit dem, gegenüber den eigentlichen Verfassungsfragen, zu vernachlässigendem Feld der überlangen Verfahrensdauer belastet werden. Pro­ blematisch wäre allerdings, dass der Gesetzgeber ein klares Prozedere zur Weiter­ beschäftigung oder zur (Wieder-)Ernennung als Richter in der Beschwerdekammer entwerfen müsste. Daneben ist durchaus fraglich, ob seitens der ehemaligen Ver­ fassungsrichter überhaupt ein Interesse besteht, in solch einer Beschwerdekammer (nebenberuflich) mitzuwirken, sowie ob deren Entscheidungen auf gerichtsinterne Akzeptanz stoßen würde.

B. Bewertendes Fazit und Ausblick Von der ersten Verurteilung der Bundesrepublik durch den EGMR wegen einer unangemessen langen Verfahrensdauer vor dem BVerfG bis zur Implementierung eines Rechtsbehelfs war es ein langer Weg, obwohl das Problem der Verfahrens­ dauer seit spätestens Anfang der 2000er Jahre von den Institutionen des Europa­ rates als akut angesehen wurde. Auch dass das Grundgesetz und die innerstaatlich geltende EMRK entsprechende Ansprüche in gewissen verfassungsgerichtlichen Verfahren verbrieften, wurde erst spät wahrgenommen. So war die Einführung der §§ 97a ff. BVerfGG Ende 2011 eine längst überfällige Erfüllung von grundund menschenrechtlichen Verpflichtungen. Umso bedauerlicher ist es, dass der Gesetzgeber das Feld nicht hinreichend erfasst hat und von einem echten Prä­ ventivrechtsbehelf abgesehen hat. Zumindest lassen sich andere Probleme und Unklarheiten der §§ 97a ff. BVerfGG durch eine konventionskonforme resp. eine gespaltene Auslegung auflösen. Nichtsdestotrotz bieten die Vorschriften noch Op­ timierungsbedarf, um das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer vor dem BVerfG zu effektuieren. Betrachtet man die Fallzahlen seit der Einführung der §§ 97a ff. BVerfGG so fällt auf, dass die Verzögerungsbeschwerde in Relation zu den gesamten Ver­ fahrenseingängen quantitativ keine große Rolle spielt. Oftmals bewegen sich die Eingänge an Verzögerungsbeschwerden im unteren zweistelligen, teils sogar im einstelligen Bereich.13 Insofern ist zweifelhaft, ob die Einführung der Verzögerungsrüge und -be­ schwerde zu einem Paradigmenwechsel hinsichtlich des Problems der überlangen Verfahrensdauer geführt hat. Zumindest aus der Plenarentscheidung zur Einfüh­ rung der §§ 97a ff. BVerfGG sowie der Judikatur der Beschwerdekammer lässt sich herauslesen, dass das BVerfG seiner Aufgabe nach einem zeitlich angemessenen Rechtsschutz unter Achtung seiner Funktion und Stellung nachkommen möchte. Dies dürfte in einzelnen Verfahren, die Gegenstand einer Verzögerungsrüge oder 13

Vgl. Anhang.

296

Kap. 6: Schlussbetrachtungen  

einer Verzögerungsbeschwerde waren, tatsächlich zu einer zügigeren Bearbeitung geführt haben. Zudem können aufgrund der §§ 97a ff. BVerfGG unerfreuliche Ver­ urteilungen der Bundesrepublik – und mittelbar des BVerfG – durch den EGMR vermieden werden. Der Blick auf die verfassungsgerichtsinternen Statistiken14 zeigt jedoch, dass eine über den Einzelfall hinauswirkende, verhaltenssteuernde Wirkung in der Breite von den neu geschaffenen Rechtsschutzinstrumenten nicht ausgeht. Im Gegenteil zeigt sich eine Tendenz zu einer längeren Verfahrensdauer, wobei sich diese Entwicklung nicht nur beim BVerfG, sondern in weiten Teilen der Rechtsprechung15 wiederfinden lässt. Passend zu dieser Entwicklung fallen in jüngerer Zeit Fälle auf, in denen Ver­ urteilungen durch den EGMR wegen Verstößen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK le­ diglich durch eine unilaterale Erklärung Deutschlands abgewendet wurden (vgl. Art. 37 Abs. 1 S. 1 lit. c EMRK).16 Dies bestätigt insofern den Befund der (par­ tiellen) Ineffektivität der Lösungen aus dem ÜGRG, als dass von der Verzöge­ rungsrüge keine signifikanten Impulse zur Verfahrensbeschleunigung ausgehen können. Damit verbunden bröckelt die Abschirmung der Bundesrepublik Deutsch­ land vor weiteren Verurteilungen durch den EGMR wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 13 EMRK. Ein Korrekturbedarf ist daher vor allem im Bereich des präventiven Rechtsschutzes geboten. Hierbei ist der Blick auch auf eine Rechtsschutzlücke zu richten, die bisher we­ nig Beachtung17 gefunden hat, obwohl sie bereits Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR18 war: Der wirksame Rechtsschutz gegen eine überlange Verfah­ rensdauer vor den Landesverfassungsgerichten. Denn aufgrund der breiten An­ wendbarkeit der Verfahrensrechte aus dem Grundgesetz und der EMRK werden sogar die Landesverfassungsgerichte erfasst, die keinen Rechtsbehelf der Indivi­ dualverfassungsbeschwerde19 kennen.20 Ausreichend für die Anwendbarkeit ist

14 Vgl. die Durchschnittliche Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden in den Jah­ resstatistiken des BVerfG von 2012 bis 2019 (https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/ Verfahren/Jahresstatistiken/jahresstatistiken_node.html, zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020; s. dazu Kap. 5 A. I. 15 Vgl. die Zunahme der durchschnittlichen Verfahrensdauer ab 2012 laut den Statistiken zur Geschäftsentwicklung (https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/ Justizstatistik/Geschaeftsentwicklung_Zivilsachen.pdf?__blob=publicationFile, https://www. bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/Justizstatistik/Geschaeftsentwicklung_ Straf_Bussgeldsachen.pdf?__blob=publicationFile) sowie dem Justizbarometer der Europäi­ schen Union (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52019DC0 198&from=EN, 14, jeweils zuletzt geöffnet am 05. 12. 2020. 16 S. etwa EGMR, Schulz v. Germany, Entscheidung v. 31. 03. 2015, No. 4800/12; Kalwat v. Germany, Entscheidung v. 19. 04. 2016, No. 6099/15. 17 S. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (565 ff.); ferner BT-Drucks. 17/3802, 2. 18 EGMR, Schulz v. Germany, Entscheidung v. 31. 03. 2015, No. 4800/12. 19 S. etwa §§ 55 ff. BW VerfGHG; §§ 43 ff. Hess. StGHG; § 53 NW VGHG; §§ 55 ff. Saarl. VerfGHG; in Bayern gar als Popularklage Art. 55 ff. Bay. VfGHG. 20 So etwa in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

B. Bewertendes Fazit und Ausblick 

297

bereits das Vorhandensein einer konkreten Normenkontrolle, wie sie sich in den Verfahrensgesetzen aller Landesverfassungsgerichte wiederfindet.21 Wegen der Eigenstaatlichkeit der Länder kann nicht schlichtweg der Bundes­ gesetzgeber oder durch eine analoge Anwendung der §§ 97a ff. BVerfGG ein Rechtsschutz implementiert werden. So wurden immerhin in neun Ländern die Landesgesetzgeber aktiv und wiederholten bzw. verwiesen zumindest auf die §§ 97a ff. BVerfGG.22 Hiermit werden allerdings die dargelegten Probleme und Ineffektivitäten übernommen.23 Eine derartige Unitarisierung des Verfassungs­ prozessrechts ist weder notwendig noch sinnvoll. Stattdessen sollten die Landes­ gesetzeber – wie der Bundesgesetzgeber – ihre Rechtsschutzkonzepte prüfen und konventions- und verfassungskonform reformieren bzw. erstmalig implementieren. Blickt man über das Themengebiet des Rechtsschutzes gegen eine überlange Verfahrensdauer vor den Verfassungsgerichten hinaus, so könnte man dazu neigen, die wesentlichen Befunde auf weitere Prozessrechte (z. B. den Anspruch auf recht­ liches Gehör) zu extrapolieren und die Zuständigkeiten der Beschwerdekammer entsprechend zu erweitern. Für solch eine Expansion – quasi zu einer internen Re­ visionsinstanz – ist allerdings weder eine verfassungs- noch eine konventionsrecht­ liche Notwendigkeit erkennbar. Stattdessen sollte man die verfassungs­gerichtliche Gewalt mit einer derartigen Instanz nicht übermäßig einhegen. Zudem bestünde die Gefahr der missbräuchlichen Nachahmung in anderen europäischen Staaten, in denen der Rechtsstaat und die (verfassungs-)richterliche Gewalt bereits akut gefährdet sind.

21

S. etwa § 28 Brem. StGHG; § 41 Hess. StGHG§ 35 NStGHG; § 50 NW VGHG; § 47 Saarl. VerfGHG. 22 S. § 61 BW VerfGHG; §§ 65a ff. Hmb. VerfGG; § 16 Abs. S. 3 Hess. StGHG; § 15b RlP VGHG; § 61a Saarl. VerfGHG; § 45 SächsVerfGHG; § 53 S-A LVerfGG; § 52a ThürVerfGHG. Die Einführung der §§ 58 ff. Berl. VerfGHG dürfte eine Reaktion auf EGMR, Schulz v. Ger­ many, Entscheidung v. 31. 03. 2015, No. 4800/12 gewesen sein. Die allgemeinen Verweise in Bremen und Niedersachsen sind für eine entsprechende Anwendung nicht ausreichend, § 12 Abs. 1 Brem. StGHG; § 12 Abs. 1 NStGHG. 23 Lediglich in Hamburg wurde geregelt, dass „Verfassungsorgane, Teile dieser Organe, Trä­ ger öffentlicher Verwaltung und sonstige öffentliche Stellen“ nicht entschädigungsberechtigt sind, § 65a Abs. 1 S. 2 Hmb. VerfGG.

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen These 1: Der historische Ausgangspunkt der §§ 97a ff. BVerfGG ist die Deume­ land-Entscheidung des EGMR vom 29. 05. 1986, in der erstmalig die Verfahrens­ dauer vor dem Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK gemessen wurde (Kap. 2 A. I. 3.). Aufbauend auf dieser Entscheidung erstreckte der EGMR den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer auf weitere ver­ fassungsgerichtliche Verfahrensarten (Kap. 2 A. I. 3.–6., 9.). These 2: Die Notwendigkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht hätte den Akteuren des Gesetzgebungsverfahrens bereits ab der wegweisenden EGMR-Entschei­ dung in der Rechtssache Kudła v. Poland sowie der umfassenden Befassung des Europarates mit dem Problem der überlangen Verfahrensdauer klar sein müssen (Kap. 2 A. I. 7., C. I.). Jedenfalls spätestens seit Anwendung der Kudła-Maßstäbe auf die Bundesrepublik Deutschland in der Sürmeli-Entscheidung und dem Pi­ lotverfahren Rumpf v. Germany war ein dringender Handlungsbedarf geboten (Kap. 2 A. I. 10., 12.). These 3: Da das Grundgesetz selbst keinen expliziten Anspruch auf eine an­ gemessene Verfahrensdauer benennt, liegt es nahe, dass das Bundesverfassungs­ gericht den grundgesetzlichen Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer aus dem Recht auf einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) erst unter Eindruck der Judikatur des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelte (Kap. 2 A. II. 1., 2.). These 4: Das langwierige Gesetzgebungsverfahren zum ÜGRG wurde, soweit es die §§ 97a ff. BVerfGG betraf, maßgeblich von dem unveröffentlichten Plenar­ beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 03. 2010 geprägt (Kap. 2 B. III., IV.), weshalb dieser Beschluss für die historische Auslegung der Normen ent­ scheidend ist. These 5: Art. 6 Abs. 1 EMRK findet grundsätzlich in Verfahren vor dem Bun­ desverfassungsgericht Anwendung, sofern diese individualschützend zivil- oder strafrechtliche Rechte und Pflichten einer Person betreffen, jedoch nicht in genuin staatsrechtlichen Verfahren (Kap. 3 I. 2. b)). These 5.1: Sofern der konventionsrechtliche Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, sind die Kriterien zur Bewertung der Angemessenheit verfassungsgerichtsspezi­ fisch zu modifizieren (Kap. 3 I. 2. c)).

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen

299

These 6: Ein weitgehend identisches Ergebnis findet sich hinsichtlich der grund­ gesetzlichen Garantie auf einen effektiven Rechtsschutz in Ausprägung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG (Kap. 3 A. II.). These 6.1: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer jeweils aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG sind in ihrem Wesens­ kern, d. h. in der verbürgten Garantie, identisch (Kap. 2 A. II. 3.). Unterschiede ergeben sich lediglich hinsichtlich der Eröffnung des Schutzbereiches, wobei im Zweifel der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch subsidiär zur Anwendung gelangt (Kap. 3 A. II.). These 7: Die Rechtsprechungslinien von EGMR und Bundesverfassungsgericht zeigen für den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer eine weitgehende Konkordanz auf, weshalb das Schutzniveau von EGMR und Grundgesetz gleich­ wertig ist (Kap. 2 A. II. 4., Kap. 3). These 8: Hinsichtlich der Frage, ob ein präventiver oder kompensatorischer Rechtsbehelf zu gewähren ist, kommen das Grundgesetz (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) und die Konvention (Art. 13 EMRK) zu verschiedenen Ergeb­ nissen (Kap. 3 B.). These 8.1: Während die EMRK grundsätzlich eine Kompensation für eine be­ reits eingetretene überlange Verfahrensdauer genügen lässt, fordert das Grundge­ setz dem Grunde nach einen präventiven, effektiven Rechtsbehelf. Da dieser oft­ mals rechtlich unzumutbar oder tatsächlich unmöglich ist, steht dem Betroffenen auch ohne Erhebung eines solchen präventiven Rechtsbehelfs von Verfassungs wegen ein Anspruch auf eine Kompensation zu (Durchbrechung des Vorrangs des Primärrechtsschutzes) (Kap. 3 B. II. 2.). These 8.2: Insofern liegt das Schutzniveau des Grundgesetzes höher als das der EMRK, welche lediglich für die besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgrup­ pen einen präventiven Rechtsbehelf verlangt (Kap. 3 B. I. 2., II. 2.). These 8.3: Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch vor dem Bundesverfas­ sungsgericht und damit für die Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG (Kap. 3 B.). Sie führen nicht zu einem infiniten Rechtsschutz (Kap. 3 B. I. 1. b)). These 9: Der Kompensationsrechtsbehelf der Verzögerungsbeschwerde (§ 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG) stellt im Verfassungsprozessrecht ein Novum dar, da mit ihr erstmalig ein Rechtsschutz gegen Verstöße von Prozessgrundrechten besteht, die mutmaßlich durch das Bundesverfassungsgericht begangen wurden und durch die bundesverfassungsgerichtsinterne Beschwerdekammer (§ 97c BVerfGG) geprüft werden (Kap. 4 A. I. 1.). These 9.1: Ähnliches gilt für die Verzögerungsrüge (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG), welche einen atypischen, präventiven Rechtsbehelf im Ausgangsverfahren darstellt (Kap. 4 A. VIII. 1. a)).

300

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen

These 10: Im Rahmen der historischen Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG ergibt sich, dass bewusst unterschiedslos alle verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten ein statthaftes Ausgangsverfahren der Verzögerungsbeschwerde sowie der Verzö­ gerungsrüge sein können, so dass der Gesetzgeber die Vorgaben des Grundgesetzes und der EMRK in überschießender Weise umgesetzt hat (Kap. 4 A. III. 1., V. 2. a)). These 11: Neben den gesetzlich geregelten Beschwerdeberechtigten ist aufgrund einer analogen Anwendung des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG auch der Äußerungsbe­ rechtigte i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG zur Erhebung einer Verzögerungsbeschwerde berechtigt (Kap. 4 A. V. 1.). These 11.1: Unter Einbeziehung der Historie sowie des Telos der Verzögerungs­ beschwerde sind auch staatliche Verfahrensbeteiligte berechtigt, eine Verzöge­ rungsbeschwerde zu erheben. Eine analoge Anwendung von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG oder eine teleologische Reduktion des § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG scheiden aus (Kap. 4 A. V. 2.). These 12: Das Erfordernis der individuellen Betroffenheit im Rahmen der un­ geschriebenen Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerdebefugnis führt dazu, dass gewisse Verfahrensarten typischerweise nicht Gegenstand einer Verzöge­ rungsbeschwerde sein können und insofern über dieses Merkmal staatliche Ver­ fahrensbeteiligte teilweise von der Verzögerungsbeschwerde ausgeschlossen wer­ den können (Kap. 4 A. VI.). These 13: Eine Verzögerungsbeschwerde ist nicht bereits deshalb unzulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht innerhalb der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 97a Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BVerfGG) dieser abhilft und das Ausgangsverfahren beendet, da dies der konventions- und grundgesetz­ lichen Vorgabe nach einer Kompensation bereits eingetretener Verzögerungen widersprechen würde (Kap. 4 A. VIII. 3.). These 14: Der Entschädigungsanspruch aus § 97a BVerfGG ist in der staatshaf­ tungsrechtlichen Dogmatik nicht eindeutig einzuordnen und ist letztlich als Chi­ märe aus dem allgemeinen Aufopferungsanspruch und einer prozessrechtlichen Risikohaftung zu qualifizieren. (Kap. 4 B. I.). These 14.1: Der Nukleus des Entschädigungsanspruches ist die Prüfung der An­ gemessenheit der Verfahrensdauer anhand der vom EGMR und vom Bundesver­ fassungsgericht vorgezeichneten Kriterien und Achtung der Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Hierbei können vor allem die verfahrensmäßigen Besonderheiten des Verfassungsgerichtsprozesses rechtfertigend wirken, während die organisatorischen Besonderheiten hierzu weniger geeignet sind, da sie in Kon­ flikt mit der EGMR-Rechtsprechung geraten können (Kap. 4 B. II. 4.). These 14.2: Auf Rechtsfolgenseite sind materielle Nachteile in konventionskon­ former Weise zu entschädigen, so dass der Anspruch aus § 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG den §§ 249 ff. BGB faktisch angenähert ist (Kap. 4 B. III. 2. a)).

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen

301

These 14.3: Trotz des anderslautenden konkret historischen Willens des Gesetz­ gebers sind zur Erfüllung des Gesetzeszwecks sowie zur Vermeidung von einer Ineffektivität des Rechtsbehelfs und damit von Konventionsverstößen nicht nur un­ mittelbare sowie mittelbare Vermögenseinbußen als materielle Nachteile entschä­ digungspflichtig, sondern auch ein entgangener Gewinn (Kap. 4 B. III. 2. a) bb)). These 14.4: Im Lichte der EMRK ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis von einer Wiedergutmachung in anderer Weise und der geldwerten Entschädigung von immateriellen Nachteilen (§ 97a Abs. 2 S. 2 BVerfGG) faktisch umgekehrt (Kap. 4 B. III. 2. b)). These 14.5: Im Wege einer gespaltenen Auslegung der §§ 97a ff. BVerfGG ist auf Rechtsfolgenseite zwischen individualschützenden und genuin staatsrechtlichen Verfahren zu differenzieren (Kap. 4 B. III. 2. c)). These 14.6: So sind staatliche Beteiligte in genuin staatsrechtlichen Verfahren nicht anhand der weiten konventionsrechtlichen Maßstäbe zu entschädigen, son­ dern anhand einer eigenen Abwägung unter Einbeziehung des Rechtsgedankens des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG. Dies führt bei materiell Nachteilen i. d. R. nur zu einem beschränkten Mindestmaß an Entschädigung und bei immateriellen Schä­ den grundsätzlich zu einer bloßen Feststellung der überlangen Verfahrensdauer als Wiedergutmachung auf andere Weise (Kap. 4 B. III. 2. c)). Überdies können sich die staatlichen Beteiligten aufgrund einer teleologischen Reduktion nicht auf die Vermu­ tungswirkung des § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG berufen (Kap. 4 A. VI. 3., B. III. 2. c)). These 15: Der Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG ist kein konkurrierender Rechtsbehelf, da Verfahrensverzögerungen in einem verfassungs­ gerichtlichen Verfahren ausschließlich mittels der spezialgesetzlichen Vorschriften der §§ 97a ff. BVerfGG abgeholfen werden sollen (Kap. 4 D. II.). These 16: Der Evaluationsbericht der Bundesregierung zum ÜGRG vom 17. 10. 2014 missinterpretiert das EGMR-Urteil Peter v. Germany, dahingehend als dass nicht über eine vollumfängliche Bestätigung der Effektivität der §§ 97a ff. BVerfGG entschieden wurde, sondern lediglich vorläufig die Effektivität in dem konkreten Fall bejaht wurde und sich ausdrücklich eine weitere Kontrolle seitens des EGMR vorbehalten wurde (Kap. 2 B. V.). These 17: Aufgrund der fehlenden verbindlichen Rechtsfolge genügt die Ver­ zögerungsrüge weder den grundgesetzlichen Vorgaben noch denen der EMRK in besonders beschleunigungsbedürftigen Fällen und ist daher kein effektiver Rechts­ behelf (Kap. 5 A. I., II.). These 17.1: Diese offene Lücke kann nur bedingt durch die einstweilige Anord­ nung (§ 32 BVerfGG) geschlossen werden, da sie nicht hinreichend Gewähr für eine Beschleunigung in der Breite der Verfahren bietet (Kap. 5 A. III., IV.). These 18: Aufgrund der Verknüpfung der ineffektiven Verzögerungsrüge mit der Verzögerungsbeschwerde wird eine rein formale Hürde geschaffen, die das

302

Zusammenfassung der Dissertation in Thesen

gebotene Entschädigungsverfahren hemmt oder im Falle einer überraschenden Präklusion gänzlich verhindert, weshalb die Verzögerungsbeschwerde nicht hin­ reichend zugänglich i. S. d. Art. 13 EMRK ist (Kap. 5 B. I. 1. c)). These 19: Zudem entspricht die Vereinigung von Pflichtverletzung, Entschei­ dungskompetenz hierüber und finanzieller Belastung im Bundesverfassungsge­ richt nicht den Grundsätzen der objektiven Unparteilichkeit von Art. 13 EMRK (Kap. 5 B. I. 5.). These 20: Die gesetzlichen Bestimmungen des § 97a BVerfGG zur Prüfung der Angemessenheit sowie der Entschädigung genügen den Vorgaben des Grund­ gesetzes sowie der EMRK. Insbesondere die von Gesetzes wegen pauschalierte Höhe der Entschädigung für immaterielle Nachteile (§ 97b Abs. 2 S. 3 BVerfGG) entspricht den Maßstäben des EGMR (Kap. 5 B. II. 1. a), 2.). These 20.1: Der Beschwerdekammer am Bundesverfassungsgericht ist es gelun­ gen, eine verfassungs- sowie konventionskonforme Rechtsprechungslinie zur Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer und damit auch zur Entschädigung zu etablieren (Kap. 5 B. II. 1. b), 2.). These 21: Der Gesetzgeber hat die §§ 97a ff. BVerfGG lediglich punktuell zu reformieren (Kap. 6 A.). These 21.1: Zwingend ist die Verzögerungsrüge derart zu reformieren ist, als dass sie eine verbindliche Entscheidung über eine beschleunigende Bearbeitung nach sich zieht (Kap. 6 A.). These 21.2: Zur Schaffung einer objektiven Unparteilichkeit sollte eine Haf­ tungsregelung implementiert werden, aus der eindeutig hervorgeht, dass der Bund als solcher und nicht das Bundesverfassungsgericht selbst die Entschädigungs­ summe nach § 97a BVerfGG zahlen muss (Kap. 5 B. I. 1. c), Kap. 6 A.). These 21.3: Des Weiteren sollte über eine verstärkte Transparenz bei länger dau­ ernden Verfahren, eine partielle Flexibilisierung der Wartefristen für die besonders beschleunigungsbedürftigen Fallgruppen sowie eine Reform oder die Neukonsti­ tuierung der Beschwerdekammer nachgedacht werden (Kap. 6 A.). These 21.4: Im Übrigen sind verbleibende Lücken im Rechtsschutz gegen eine Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer ebenso bei den Landesverfassungsgerichten zu schließen (Kap. 6 B.). These 22: Die Einführung der §§ 97a ff. BVerfGG hat nicht dazu geführt, dass Verfahren durch das Bundesverfassungsgericht insgesamt betrachtet schneller bearbeitet werden. Stattdessen ist eine leicht negative Entwicklung erkennbar, die allerdings dem Gesamttrend der Rechtsprechung folgt (Kap. 5 A. I., Kap. 6 B.).

Anhang: Chronologischer Überblick über die Rechtsprechungspraxis der Beschwerdekammer Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

2. Senat 1. Beschluss v. 05. 03. 2012, – 2 BvR 1538/11 – Vz 4/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)1

Nein

Nein

2. Senat 2. Beschluss v. 14. 03. 2012, – 2 BvR 309/12 – Vz 7/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

2. Senat 3. Beschluss v. 19. 03. 2012, – 2 BvR 520/12 –Vz 11/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

2. Senat 4. Beschluss v. 19. 03. 2012, – 2 BvR 521/12 –Vz 10/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

n. a.

Nein

Nein

2. Senat 5. Beschluss v. 19. 03. 2012, – 2 BvR 593/01 – Vz 5/13 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

2. Senat 6. Beschluss v. 21. 03. 2012, – 2 BvR 1806/11 – Vz 12/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

7. Beschluss v. 2. Senat 28. 03. 2012, – 2 BvR 483/11 – Vz 16/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

1

In dieser Tabelle genannte §§ sind solche des BVerfGG.

304 Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Anhang: Chronologischer Überblick Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

2. Senat 8. Beschluss v. 28. 03. 2012, – 2 BvR 1807/11 – Vz 13/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

9. Beschluss v. 2. Senat 03. 04. 2012, – 2 BvR 482/12 – Vz 14/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

10. Beschluss v. 1. Senat 03. 04. 2012, – 1 BvR 2089/10 – Vz 8112 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

11. Beschluss v. 11. 04. 2012, –2 BvR 1606/10 – Vz 17/12 –

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

12. Beschluss v. 2. Senat 11. 04. 2012, – 2 BvR 2446/10 – Vz 20/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

13. Beschluss v. 2. Senat 11. 04. 2012, – 2 BvR 1154/11 – Vz 21/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

14. Beschluss v. 2. Senat 13. 04. 2012, – 2 BvR 1854/10 – Vz 18/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

15. Beschluss v. 2. Senat 13. 04. 2012, – 2 BvR 896/11 – Vz 24/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

16. Beschluss v. 2. Senat 16. 04. 2012, – 2 BvR 2325/10 – Vz 19/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

305

Anhang: Chronologischer Überblick Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

2. Senat 17. Beschluss v. 24. 04. 2012, – 2 BvR 603/12 – Vz 22/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

18. Beschluss v. 2. Senat 24. 04. 2012, – 2 BvR 711/12 – Vz 26/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Missachtung Nein der Wartefrist (§ 97b Abs. 1 S. 4), feh­ lende Verzö­ gerungsrüge sowie un­ zureichende Begründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

19. Beschluss v. 2. Senat 18. 05. 2012, – 2 BvR 970/12 – Vz 29/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

20. Beschluss v. 1. Senat 18. 05. 2012, – 1 BvR 2054/11 – Vz 25/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

21. Beschluss v. 1. Senat 18. 05. 2012, – 1 BvR 2888/10 – Vz 9/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

22. Beschluss v. 2. Senat 26. 09. 2012, – 2 BvR 1903/10 – Vz 28/12 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

23. Beschluss v. 1. Senat 01. 10. 2012, – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 –

Verfassungs­ zurück­ beschwerde gewiesen2

Viereinhalb Jahre

Keine unan­ gemessene Verfahrens­ dauer

Ja

Ja NVwZ 2013, 789

2 Die anschließende Individualbeschwerde wurde vom EGMR zurückgewiesen, EGMR, Urteil v. 04. 09. 2014, Peter v. Germany, No. 68919/10.

306 Datum der Entscheidung, Aktenzeichen 24. Beschluss v. 03. 04. 2013, – 1 BvR 2256/10 – Vz 32/12 – 25. Beschluss v. 13. 05. 2013, – 2 BvR 593/01 – Vz 5/13 – 26. Beschluss v. 15. 05. 2013, – 2 BvR 287/12 – Vz 6/12 – 27. Beschluss v. 27. 06. 2013, – 2 BvR 1020/12 – Vz 7/13 – 28. Beschluss v. 30. 07. 2013, – 2 BvE 2/09 – Vz 2/13, 2 BvE 2/10 – Vz 3/13 – 29. Beschluss v. 05. 08. 2013, – 1 BvR 1109/10 – Vz 4/13 – 30. Beschluss v. 30. 12. 2013, – 1 BvR 2489/05 – Vz 9/13 – 31. Beschluss v. 20. 05. 2014, – 1 BvR 1979/12 – Vz 3/14 –

3

Anhang: Chronologischer Überblick Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

Ja

Ja NJW 2013, 2341

Nein

Nein

Nein

Nein

n. a.

Fehlende Ver­ Nein zögerungs­ rüge

Nein

verworfen

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Ja

Ja NVwZ 2013, 1479

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Nein

Nein

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2)3

Nein

Nein

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Nein

Nein

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

27 Monate

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

2. Senat

Organstreit

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Der Nichtannahmebeschluss erging bereits am 14. 12. 2005.

307

Anhang: Chronologischer Überblick Datum der Entscheidung, Aktenzeichen 32. Beschluss v. 10. 06. 2014, – 2 BvR 2144/12 – Vz 7/14 – 33. Beschluss v. 10. 06. 2014, – 1 BvR 2729/12 – Vz 6/14 – 34. Beschluss v, 26. 06. 2014, – 2 BvR 1445/12 – Vz 2/14 – 35. Beschluss v. 25. 07. 2014, – 2 BvR 2240/12 – Vz 8/14 – 36. Beschluss v. 27. 07. 2014, – 1 BvR 2194/12 – Vz 5/14 – 37. Beschluss v. 27. 07. 2014, – 2 BvR 710/12 – Vz 1/14 – 38. Beschluss v. 27. 08. 2014, – 1 BvR 505/14 – Vz 9/14 – 39. Beschluss v. 23. 09. 2014, – 1 BvR 1619/14 – Vz 10/14 –

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Veröffentlichung, Fundstelle

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

308 Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Anhang: Chronologischer Überblick Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja NJW 2015, 3361

n. a.

Nein

Nein

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

1. Senat 40. Beschluss v. 06. 10. 2014, – 1 BvQ 12/13 – Vz 12/14 –

Einstweilige Anordnung

verworfen

n. a.

41. Beschluss v. 2. Senat 20. 11. 2014, – 2 BvR 113/02 – Vz 14/14 – 2. Senat 42. Beschluss v. 27. 11. 2014, – 2 BvR 120/08 – Vz 13/14 – 1. Senat 43. Beschluss v. 17. 12. 2014, – 1 BvR 1720/11 – Vz 15/14 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

44. Beschluss v. 1. Senat 20. 08. 2015, – 1 BvR 2781/13 – Vz 11/14 –

Verfassungs­ stattgege­ Fünfeinhalb beschwerde ben, Ent­ Jahre schädi­ gung i. H. v. 3000 € ge­ währt4 Verfassungs­ verworfen n. a. beschwerde

45. Beschluss v. 1. Senat 29. 09. 2015, – 1 BvR 3099/13 – Vz 2/15 – 1. Senat 46. Beschluss v. 02. 12. 2015, – 1 BvR 1220/15 – Vz 3/15 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2) sowie un­ zureichende Begründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Fehlende Verzöge­ rungsrüge sowie un­ zureichende Begründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unangemes­ sene Verfah­ rensdauer

4 Die anschließende Individualbeschwerde wurde vom Einzelrichter am EGMR (vgl. Art. 27 EMRK) für unzulässig erklärt, EGMR, Entscheidung v. 23. 06. 2016, K. v. Germany, No. 13936/16 (unveröffentlicht).

309

Anhang: Chronologischer Überblick Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

1. Senat 47. Beschluss v. 08. 12. 2015, – 1 BvR 99/11 – Vz 1/15 – 2. Senat 48. Beschluss v. 01. 06. 2016, – 2 BvC 69/14 – Vz 2/16 –

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Verfassungs­ zurück­ beschwerde gewiesen

Vier Jahre und acht Monate

Wahlprü­ fungsbe­ schwerde5

verworfen

n. a.

2. Senat 49. Beschluss v. 30. 08. 2016, – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16 – 2. Senat 50. Beschluss v. 30. 08. 2016, – 2 BvC 70/14 – Vz 3/16 –

Wahlprü­ fungsbe­ schwerde

zurück­ gewiesen

18 Monate

Wahlprü­ fungsbe­ schwerde

zurück­ gewiesen

n. a.

1. Senat 51. Beschluss v. 27. 10. 2016, – 1 BvR 1917/16 – Vz 7/16 – 52. Beschluss v. 1. Senat 09. 11. 2016, – 1 BvR 1931/16 – Vz 8/16 – 2. Senat 53. Beschluss v. 10. 11. 2016, – 2 BvC 68/14 – Vz 9/16 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Wahlprü­ verworfen fungsbe­ schwerde, Einstweilige Anordnung Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

54. Beschluss v. 2. Senat 10. 11. 2016, – 2 BvR 2240/12 – Vz 5/16 –

5

n. a.

Keine unan­ gemessene Verfahrens­ dauer Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Keine unan­ gemessene Verfahrens­ dauer Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Veröffentlichung, Fundstelle

Ja

Ja NJW 2016, 2021

Nein

Nein

Ja

Nein

Ja BeckRS 2016, 51732 Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

In der Entscheidung trotz des Aktenzeichens „BvC“ als Verfassungsbeschwerde bezeichnet.

310 Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Anhang: Chronologischer Überblick Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

2. Senat 55. Beschluss v. 22. 11. 2016, – 2 BvR 1826/16 – Vz 6/16 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

56. Beschluss v. 23. 02. 2017, – 1 BvR 1408/15 – Vz 5117 – 57. Beschluss v. 23. 02. 2017, – 1 BvR 1861/15 – Vz 9/17 – 58. Beschluss v. 23. 02. 2017, – 1 BvR 3138/14 – Vz 1/17 – 59. Beschluss v. 14. 03. 2017, – 1 BvR 1340/15 – Vz 4/17, 1 BvR 1853/15 – Vz 8/17 – 60. Beschluss v. 21. 03. 2017, – 2 BvR 1589/14 – Vz 11/16 – 61. Beschluss v. 21. 06. 2017, – 2 BvR 1349/16 – Vz 12/17, 1 BvR 1332/16 – Vz 16/17, 1 BvR 1336/16 – Vz 20/17 –

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat, 1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

Zwei Monate

Veröffentlichung, Fundstelle

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Ja Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2); i. Ü. nicht un­ angemessen lang

Nein

„keine Ver­ fahrensver­ zögerung im Sinne der §§ 97a ff. BVerfGG ge­ rügt“ Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Ja Juris

311

Anhang: Chronologischer Überblick Datum der Entscheidung, Aktenzeichen 62. Beschluss v. 03. 07. 2017, – 1 BvR 2610/15 – Vz 13/17, 1 BvR 1333/16 – Vz 17/17, 1 BvR 1337/16 – Vz 21/17 – 63. Beschluss v. 24. 07. 2017, – 2 BvR 1236/16 – Vz 11/17, 1 BvR 1331/16 – Vz 15/17, 1 BvR 1335/16 – Vz 19/17 – 64. Beschluss v. 26. 07. 2017, – 1 BvR 1077/16 – Vz 14/17 –

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

Veröffentlichung, Fundstelle

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2)

Ja

Nein

2. Senat, 1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2)

Ja

Nein

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Nein

65. Beschluss v. 2. Senat, 26. 07. 2017, – 1. Senat 2 BvR 1235/16 – Vz 10/17 –, – 1 BvR 1334/16 – Vz 18/17 – 66. Beschluss v. 2. Senat 31. 08. 2017, – 2 BvR 1234/16 – Vz 23/17 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Ja Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2); i. Ü. nicht un­ angemessen lang Ja Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2); i. Ü. nicht un­ angemessen lang

Verfassungs­ verworfen beschwerde, Einstweilige Anordnung

n. a.

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2)

Nein

Nein

Nein

312 Datum der Entscheidung, Aktenzeichen 67. Beschluss v. 27. 09. 2017, – 1 BvR 1148/15 – Vz 2/17, 1 BvR 1230/15 – Vz 3/17, 1 BvR 1738/15 – Vz 6/17, 1 BvR 1852/15 – Vz 7/17 – 68. Beschluss v. 06. 12. 2017, – 1 BvR 3210/14 – Vz 22/17 – 69. Beschluss v. 20. 03. 2018, – 1 BvR 3156/15 – Vz 1/18 – 70. Beschluss v. 22. 03. 2018, – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16 – 71. Beschluss v. 02. 07. 2018, – 2 BvR 1729/16 – Vz 3/18 –

Anhang: Chronologischer Überblick Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Ja Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2); i. Ü. nicht unange­ messen lang

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

2. Senat

Verfassungs­ zurückge­ beschwerde wiesen

Sechs Jahre und fünf Monate

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Keine unan­ gemessene Verfahrens­ dauer

2. Senat

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

72. Beschluss v. 2. Senat 03. 07. 2018, – 2 BvR 1725/16 – Vz 4/18 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Veröffentlichung, Fundstelle Ja Juris

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja BeckRS 2018, 5077

Fehlende Ver­ Nein zögerungs­ rüge, Verfri­ stung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2) so­ wie unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Ja Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2)

Nein

Nein

313

Anhang: Chronologischer Überblick Datum der Entscheidung, Aktenzeichen

Ausgangs- Ausgangszuständig- verfahren keit

Ergebnis

Verfahrens- Grund für Begründauer das Ergebnis dung

2. Senat 73. Beschluss v. 11. 07. 2018, – 2 BvR 1864/16 – Vz 5/18 – 74. Beschluss v. 2. Senat 21. 08. 2018, – 2 BvR 868/17 – Vz 2I18 – 75. Beschluss v. 1. Senat 14. 11. 2018, – 1 BvR 329/17 – Vz 7/18 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

1. Senat 76. Beschluss v. 18. 12. 2018, – 1 BvR 790/17 – Vz 6/18 – 77. Beschluss v. 2. Senat 26. 03. 2019, – 2 BvR 1728/16 – Vz 1/19 – 2. Senat 78. Beschluss v. 27. 05. 2019, – 2 BvR 1089/18 – Vz 2/19 –

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

n. a.

Verfassungs­ verworfen beschwerde

Ja Vier Monate Verzöge­ rungsbe­ schwerde gegen fach­ gerichtliche Verfahrens­ dauer nicht statthaft so­ wie fehlende Verzöge­ rungsrüge; i. Ü. nicht un­ angemessen lang

Veröffentlichung, Fundstelle

Nein

Nein

Nein

Nein

Missachtung Nein der Wartefrist (§ 97b Abs. 1 S. 4); Verfri­ stung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2) Nein Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) n. a. Nein

Nein

Unzurei­ chende Be­ gründung (§ 97b Abs. 2 S. 2) Verfristung (§ 97b Abs. 2 S. 1 Hs. 2)

Nein

Nein

Ja Juris

Literaturverzeichnis Althammer, Christoph / Schäuble, Daniel: Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrens­ dauer – Das neue Gesetz aus zivilrechtlicher Perspektive, NJW 2012, S. 1–7. Anschütz, Gerhard / T homa, Richard (Hrsg.): Handbuch des Deutschen Staatsrecht, Zweiter Band, Tübingen 1932. Arndt, Claus: Bestrafung von Spionen der DDR, NJW 1995, S. 1803–1804. Axer, Peter: Primär- und Sekundärrechtsschutz im öffentlichen Recht, DVBl. 2001, S. ­1322–1332. Bäcker, Matthias: Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Ge­ bot, EuGRZ 2011, S. 222–225. Bäcker, Matthias: Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot  – Ein Beitrag zur „weichen“ Europäisierung des Grundgesetze, in: Matz-Lück, Nele / Hong, Mathias (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völ­ kerrecht, Band 229, Heidelberg 2012, S. 339–392. Bader, Johann / Ronellenfitsch, Michael (Hrsg.): BeckOK VwVfG mit VwVG und VwZG, 51 Edition, Stand: 01. 04. 2021, München 2021. Barczak, Tristan: Rechtsschutz bei Verzögerung verfassungsgerichtlicher Verfahren, Zugleich die Konturierung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Verzögerungsfolgenkom­ pensation, AöR 138 (2013), S. 536–583. Barczak, Tristan (Hrsg.): BVerfGG – Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichts­ gesetz, Berlin 2018. Baumbach, Adolf / L auterbach, Peter / Hartmann, Wolfgang / Anders, Monika / Gehle, Burk­ hard (Hrsg.): Zivilprozessordnung mit GVG und anderen Nebengesetzen, 78. Auflage, München 2020. Becker, Yvonne / L ange, Friederike (Hrsg.): Linien der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts, Erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Band 3, Berlin 2014. Benda, Ernst / Klein, Eckart / Klein, Oliver: Verfassungsprozessrecht, 4. Auflage, Heidelberg 2020. Benda, Ernst / Maihofer, Werner / Vogel, Hans-Jochen: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, Berlin 1994. Bien, Florian / Guillaumont, Oliver: Innerstaatlicher Rechtsschutz gegen überlange Verfah­ rensdauer, EuGRZ 2004, S. 451–466. Brett, Angela: Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Recht­ sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, Berlin 2009.

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Sachwortverzeichnis Abstrakte Normenkontrolle  118 ff., 159 ff., 184 f., 199, 202 Allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch ​ 64 ff., 147 ff., 170 ff. Amtshaftungsanspruch  48 ff., 226, 259 ff. Angemessene Verfahrensdauer 41, 138 ff., 162 ff., 230 ff., 276, 281 ff. Anspruchsgegner  229 f., 281 Aufopferungsanspruch  30, 227 f. Ausschlussfrist  218 f., 222 f., 224, 271 f. Äußerungsberechtigte  188 ff. Bedeutung der Sache  142, 162 ff., 210 f., 221, 234 f., 237 ff., 250, 272 f., 283 f. Begründungserfordernis  206 f., 208 ff., 214, 221 ff., 272 ff. Beschwerdeberechtigte  187 ff., 251 Beschwerdekammer 73, 76, 80, 183, 253, 255 f., 278 ff., 294 f. Besonders beschleunigungsbedürftige Fall­ gruppen ​80 f., 142 f., 163, 169 f., 212 f., 258 f., 267 f., 271, 291 f., 293 Bund-Länder-Streit  121 ff., 159 f., 200, 224 COVID-19-Pandemie 240 Einstweilige Anordnung  135, 161, 201, 212, 257 ff., 269 f. Engel-Kriterien  102 ff. Entschädigungsumfang  244 ff., 285 ff. Eskelinen-Test  131 ff. Europäische Menschenrechtskonvention ​96 ff. Europarat  82 ff. Evaluationsbericht der Bundesregierung ​77 ff., 81, 265 Gefährdungshaftung 226 Gesetzesverfassungsbeschwerde  47, 107 ff. Gespaltene Auslegung  251 ff., 263, 295 Haushalt des BVerfG  182, 230, 262, 279 ff., 290

Infiniter Rechtsschutz  167 ff., 172, 176 f. Kindschaftssachen  57 ff., 80 f., 92 f., 95, 163, 169, 268 Kombinationslösung  58, 75, 87, 169, 270, 285, 292 Kompensationslösung 49, 72 ff., 165, 169, 174 ff., 225, 270, 289, 291 Komplexität des Falles 34, 67, 139 f., 209, 232 f., 235 Konkrete Normenkontrolle  39 f., 42 f., 111 ff., 158 f., 198 f., 296 f. Konventionskonforme Auslegung  96 ff., 245, 247 f., 263, 295 Landesverfassungsgerichtsbarkeit  117, 137, 296 f. Organstreitverfahren  120 f., 159 f., 199 f., 210 Parteiverbotsverfahren  104, 123 ff., 160, 200 Präklusion  28, 206 f., 209, 216, 264, 274 ff., 292 Präventivlösung  29, 50, 71, 80 f., 87, 265 ff. Primärrechtsschutz  25, 172 ff., 205, 208, 268, 291 f. Relevanter Zeitraum  139, 164, 231 Risikohaftung  226 ff., 263 Sekundärrechtsschutz  172 ff., 205 Unabhängigkeit  131, 175 f., 261 Unparteilichkeit  278 ff., 289 f., 294 Untätigkeitsbeschwerde  71 f., 74, 94 Venedig-Kommission  86 ff. Verfahrensbeteiligte  187 ff., 198 ff., 201 ff. Verfahrensdauer, siehe Angemessene Verfahrensdauer

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Sachwortverzeichnis

Verfassungsbeschwerde  40 f., 49 f., 107 ff., 158, 198, 266 f., 296 f. Verhalten des Gerichts  42, 138, 141 f., 162, 231 f., 234 Verhalten des Verfahrensbeteiligten 138, 140 f., 162, 231 f., 233, 249 f. Verzögerungsbeschwerde  135 f., 160 f., 180 ff., 201, 270 ff.

Verzögerungsrüge  202 ff., 265 ff., 291 ff. Wahlprüfungsverfahren  133 ff., 160 ff., 177 f., 201 Wartefrist 211 ff., 216 ff., 232, 267 f., 269, 271 f., 274 f., 276, 293 Wiedervereinigung  42 ff., 46 f., 51, 90, 141 f., 146, 239