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German Pages 413 [432]
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 120
Hannes Unberath
Die Vertragsverletzung
Mohr Siebeck
Hannes Unberath, geboren 1973; Studium der Rechtswissenschaft in Erlangen und Oxford (MJur, DPhil); 2006 Habilitation; seit Oktober 2006 Universitätsprofessor an der FriedrichSchiller-Universität Jena.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-151197-4 ISBN 978-3-16-149189-4 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Garamond-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Für Barbara
Vorwort Diese Arbeit lag im Sommersemester 2006 der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München als Habilitationsschrift vor. Für die Drucklegung wurde sie auf den Stand von August 2006 gebracht. Mein Habilitationsvater, Prof. Dr. Stephan Lorenz, hat mir während meiner Assistententätigkeit an seinem Lehrstuhl unschätzbare Freiräume gewährt und mich auf vielfältige Weise unterstützt. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Maßgeblichen Einfluß auf den Zuschnitt des Werkes hatte auch die fruchtbare Kooperation mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Sir Basil Markesinis und Angus Johnston anläßlich der 2. Auflage von The German Law of Contract – A Comparative Treatise. Während der für das vorliegende Werk gewählte Ansatz, Lehrsätze der Dogmatik rechtsphilosophisch zu fundieren, anglo-amerikanischem Vorbild folgt, geht der leitmotivische Bezug zu Kant auf meine Zeit bei Prof. Dr. Joachim Hruschka in Erlangen zurück. Besonderen Dank schulde ich darüber hinaus Prof. Dr. Horst Eidenmüller für die Übernahme und außerordentlich rasche Abfassung des Zweitgutachtens sowie Stefan Arnold, Dr. Barbara Höfling, Dr. Martino Mona, Dr. Jan Schuhr und Katharina Unberath für die sorgfältige Lektüre des Textes und wertvolle Hinweise. Der Verwertungsgesellschaft Wort danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Jena, im November 2006
Hannes Unberath
Inhaltsübersicht Einleitung
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1
Erster Teil Die Bindung an den Vertrag § 1 Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
6
. . . . . . . . . . . . . . . . .
32
§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien . . . . . . . . . . . . . . . .
71
§ 4 Teleologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
. . . . . . . .
107
§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht . . . . . . . . .
143
§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik . . . . . . . . . . .
160
Zweiter Teil Leistungsstörungsrecht § 8 Grundlagen des Leistungsstörungsrechts . . . . . . . . . . . . . . .
182
§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
. . . . . . . . . . . . . . . .
283
§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322
§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung . . . . . . . . . .
359
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Erster Teil
Die Bindung an den Vertrag § 1 Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Naturrecht und Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . III. Dogmatik, Philosophie und Geschichte . . . . . . . . . . IV. Interpretative Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Normative Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subjektive Rechte und Gerechtigkeit . . . . . . . . . 2. Teleologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Utilitarismus und ökonomische Analyse insbesondere 4. Topik und andere Kombinationstheorien . . . . . . . VI. Vertragstheorie und Leistungsstörungsrecht . . . . . . . VII. Vertragstheorie und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . 1. Provinzialität und universeller Charakter der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theorie und Methode der Rechtsvergleichung . . . . 3. Ziel der Rechtsvergleichung in der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants . . . . . . . . . . . I. Das Privatrecht in Kants Metaphysik der Sitten . . 1. Das angeborene Freiheitsrecht . . . . . . . . . . 2. Die Erweiterung der Freiheit durch das Postulat des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Postulat des öffentlichen Rechts . . . . . . . II. Das Vertragsrecht innerhalb des Privatrechts . . . . 1. Das persönliche Recht . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bindung an den Vertrag . . . . . . . . . . . 3. Die Grenze des Vertragsrechts . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
6 6 8 11 15 19 19 19 20 20 23 25
. . . . . .
25 27
. . .
29
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 33
. . . . . .
35 41 43 44 46 49
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. . . . . .
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XII
Inhaltsverzeichnis
III. Kant und seine Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hugo Grotius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Samuel Pufendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zum Einfluß Kants auf die Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge der modernen Prozeßrechtsdogmatik 2. Eigentum und freier Wille bei Hegel . . . . . . . . 3. Positives Recht und Naturrecht bei Hugo . . . . . 4. Rechtsverhältnis und Rechtsinstitut bei Savigny . a) Der Volksgeist als Quelle des positiven Rechts b) Die Aufgabe des Staates: Freiheitssicherung . . c) Der Gegenstand des Privatrechts: unfreie Natur und fremde Person . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
51 53 55
. . . . . . .
. . . . . . .
57 57 59 62 63 64 65
. . . . .
67
. . . . . . .
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien . . . . . . . . . . . . . I. Vertrag und Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bindung an Versprechen . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten II. Vertrag als Übertragung von subjektiven Rechten . . . . 1. Barnetts Einwilligungsmodell . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einheit des Vertragsrechts bei Benson . . . . . . . III. Vertrag als Gegenstand ausgleichender Gerechtigkeit . . 1. Ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit . . . . . 2. Gerechtigkeit und subjektives Recht . . . . . . . . . . 3. Die Wechselseitigkeit von Recht und Pflicht . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 4 Teleologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertrag in der »aristotelischen Tradition« . . . . . . . . . 1. Das gute Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrag und Fairneß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Autonomie und die »richtige« Wahl . . . . . . . . . . II. Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . 1. Der intrinsische Wert von Versprechen und Vertrag . 2. Die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten 3. Welchen Wert hat Autonomie? . . . . . . . . . . . . . III. Der Zweck im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
89 89 90 92 93 95 96 98 99 103
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts . I. Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Prinzip der Nützlichkeit bei Bentham . 2. Abschwächung des Utilitarismus durch Mill
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107 108 110 113
. . . .
. . . .
. . . .
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. . . .
. . . .
71 71 72 74 75 76 78 80 81 84 85
XIII
Inhaltsverzeichnis
3. Handlungs- und Regelutilitarismus . . . . . . . . . . . II. Ökonomische Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . 1. Effizienz statt Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomie der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Incentive Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Incomplete Contract Theory . . . . . . . . . . . . . c) Transaction Cost Theory . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Aufgabe des Vertragsrechts aus Sicht der Ökonomie 4. War die ökonomische Analyse des Vertragsrechts »erfolgreich«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
116 122 124 129 130 132 133 136
. .
139
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143 144 145
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147 151 152 154 154 155 157 158 158
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160 161 162 164 167 167 170 174 174
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175
§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht . . . . . . . I. Hypothetische Imperative und Rechtspflicht . . . . . . . . 1. Die Effizienz-Regel als einstufiges Modell . . . . . . . 2. Zweistufige Regel-Modelle innerhalb der ökonomischen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ebene der Normrechtfertigung – Subjektive Rechte . III. Die Motivation zum Abschluß eines Vertrages . . . . . . . IV. Auslegung und dispositives Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. Parteiwille und Vertragsdurchsetzung . . . . . . . . . . 2. Dispositives Recht der Vertragstypen . . . . . . . . . . 3. Auslegung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der anzuwendende Effizienzmaßstab . . . . . . . . . . V. Die Reichweite des materiellen Prinzips . . . . . . . . . . § 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik . . . . . I. Überpositive Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . 1. Drei normative Ebenen subjektiver Rechte . . . 2. Naturrecht und positives Recht . . . . . . . . . II. Der Schutz subjektiver Rechte im deutschen Recht 1. Subjektives Recht und Anspruch . . . . . . . . . 2. Für mehr Aktionendenken? . . . . . . . . . . . III. Der Schutz subjektiver Rechte im englischen Recht 1. Die Abschaffung der forms of action . . . . . . 2. Überblick über die Klagearten und das Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . .
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XIV
Inhaltsverzeichnis
Zweiter Teil Leistungsstörungsrecht § 8 Grundlagen des Leistungsstörungsrechts . . . . . . . . . . . . I. Überpositive Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen für die Reichweite des vertraglichen Rechts 1. Die Prinzipien »neminem laede« und »pacta sunt servanda« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist »rechtsgeschäftlich«, was »gesetzlich«? . . . . 3. Leistungsinteresse und Schutzinteresse . . . . . . . . III. Folgerungen für das Leistungsstörungsrecht . . . . . . . 1. Der Leistungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arten des Zwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Für weniger Aktionendenken . . . . . . . . . . . . c) Das dualistische System . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Leistungspflicht: Ein Zwischenergebnis . . . . 2. Die Gewährung eines Substituts der Leistung . . . . . a) Surrogat und wertmäßiger Ausgleich . . . . . . . . b) Primär- und Sekundäranspruch . . . . . . . . . . . c) Der Schadensersatz wegen Vertragsverletzung: Ein Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lösung vom Vertrag wegen Vertragsverletzung . . . .
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182 183 184
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184 187 188 194 195 195 196 198 200 200 201 204
. . . . . .
207 207
§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deontologische und teleologische Argumente . . . . . . . 1. Der grundsätzliche Einwand gegen den Leistungszwang a) Die Vertrauenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Vertrag als Anerkenntnis außer-vertraglicher Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Schutz »der Praxis« des Vertrages und das »harm principle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Widerlegung des Einwands . . . . . . . . . . . . . a) Die Bindung an das vertragliche Versprechen . . . . b) Rechtfertigung des Leistungszwangs . . . . . . . . . 3. Das rechte Maß des Leistungszwangs . . . . . . . . . . 4. Leistungszwang und Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . 5. Disjunktive Obligation als Primäranspruch . . . . . . . II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs . . . . . . 1. Der Anwendungsbereich der ökonomischen Analyse . a) Bindung an den Vertrag als Ausgangspunkt . . . . .
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210 211 212 212
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214
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215 216 217 217 218 221 222 225 229 230 230
. . . . . . . . . . .
XV
Inhaltsverzeichnis
b) Relevanz der Folgenanalyse . . . . . 2. Die Theorie des »efficient breach« . . . a) Effizienz und Widerrechtlichkeit der Vertragsverletzung . . . . . . . . . . b) »Bessere« Angebote Dritter . . . . . c) Steigerung der Produktionskosten .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231 232
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232 234 236
§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Primäranspruch im deutschen Recht . . . . . . . . . . 1. Die materiell-rechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . a) Das Nachfrist-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nachfrist und Vertragsaufhebung . . . . . . . . . . c) Nachfrist, Mahnung und Schadensersatz . . . . . . . d) Verhältnis von Vertragsaufhebung und Sekundäranspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unbedingter Vorrang des Primäranspruchs? . . . . . f) Nacherfüllung beim Stückkauf . . . . . . . . . . . . 2. Der Leistungszwang in der Vollstreckung . . . . . . . . a) Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen . . . b) Existenzsicherung und Insolvenz . . . . . . . . . . . c) Zwangsvollstreckung zur Herausgabe von Sachen . d) Zwangsvollstreckung vertretbarer Handlungen . . . e) Zwangsvollstreckung nicht vertretbarer Handlungen II. Alternative Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Specific Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen und Folgen des Leistungszwangs . b) Leistungszwang bei einer unvertretbaren Handlung c) Durchsetzung des Anspruchs auf Herausgabe von Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Ansatz der Grundregeln und des CISG . . . . . . III. Die Grenze der Leistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Funktion des Parteiwillens . . . . . . . . . . . . b) Die Kontroverse um die Stückschuld . . . . . . . . . 2. Unverhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Funktion des dispositiven Rechts . . . . . . . . b) Der mutmaßliche Parteiwille bei Steigerung der Produktionskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgerungen für die Dogmatik der §§ 275 II, 439 III, 635 III BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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241 241 242 243 244 245
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247 249 252 253 255 256 258 259 261 263 263 264 265
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267 268 268 271 271 272 275 277 278
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278
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279
XVI
Inhaltsverzeichnis
d) Abgrenzung zur Störung der Geschäftsgrundlage . . . . 3. Persönliche Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . I. Deontologische und teleologische Argumente . . . . . . 1. Rechtfertigung des Sekundäranspruchs . . . . . . . . 2. Zielrichtung der Haftung: Ausgleich . . . . . . . . . . a) Das positive Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das negative Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewinnabschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Strafschadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurechnung der Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . a) Was ist Zurechnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wann kommt es auf Zurechnung an? . . . . . . . . c) Der Gegenstand der Zurechnung bei einer Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die ordentliche Zurechnung (actio libera) . . . . . e) Die außerordentlich Zurechnung (actio libera in causa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die unselbständige Sorgfaltspflicht . . . . . . . . . 4. Haftungsausfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Adäquanz, Voraussehbarkeit und Schutzzweck . . c) Mitverantwortlichkeit des Gläubigers und Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ökonomische Analyse des Sekundäranspruchs . . . 1. Reichweite der ökonomischen Analyse . . . . . . . . 2. Die Haftungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . a) Zurechnung als Gegenstand der Parteivereinbarung b) Learned-Hand-Formel und fahrlässige Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Umfang des Ausgleichs als Gegenstand der Parteivereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das positive Interesse und der Parteiwille . . . . . b) Die Voraussehbarkeit des Schadens . . . . . . . . .
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik . . . . . . . . . . . . . I. Zurechnung in der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . 1. Zurechnung, Verschulden, Vertretenmüssen . . . a) Vorsatz und Fahrlässigkeit als Verschulden . . b) Vertretenmüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Überlegenheit des »Verschuldensprinzips«
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283 285 286 288 288 289 290 292 294 294 296
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309 310 310 311 312
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316 316 319
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322 323 323 325 327 328
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XVII
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d) Von Vorsatz und Fahrlässigkeit abweichende Zurechnungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Garantiehaftung des common law . . . . . . . . b) Der Ansatz des CISG und der Principles . . . . . . II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richtung des Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grund der Differenzierung der §§ 280ff. BGB . . . . . 3. Schadensersatz statt der Leistung . . . . . . . . . . . . . a) Vermeidbarkeit des Schadens durch Nachleistung . b) Bezugspunkt der Vertretenmüssens . . . . . . . . . 4. Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung . . . . a) Positives Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bezugspunkt des Vertretenmüssens . . . . . . . . . 5. Einfacher Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aufwendungsersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Negatives Interesse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rentabilitätsvermutung . . . . . . . . . . . . . . c) Verfolgung immaterieller Zwecke . . . . . . . . . . 7. Anfängliche Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Geltung des § 311a BGB als Norm des positiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Nichtentstehen des Primäranspruchs auf die Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorvertragliche Pflichtverletzung und negatives Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Versprechen von Schadensersatz als Primäranspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung . . . . . . I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der gegenseitige Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gefährdung des Leistungsinteresses . . . . . . . 3. Der Spielraum bei Gestaltung der Vertragsaufhebung 4. Die Folgen der Vertragsaufhebung . . . . . . . . . . II. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Nachfrist-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Suspendierung der Gegenleistungspflicht . . b) Wegfall der Leistungspflicht aufgrund Gesetzes . c) Vertragsaufhebung als Gestaltungsrecht . . . . .
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XVIII
Inhaltsverzeichnis
2. Das Auslegungs-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Kombinationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Über fast jede Generation von Rechtswissenschaftlern läßt sich feststellen, wie James Gordley feinsinnig darlegt,1 daß sie ein bestimmtes charakteristisches Projekt verfolgt und sich einer besonderen Richtung der Forschung verpflichtet fühlt. Zuweilen wechseln die Vorlieben radikal mit dem Aufkommen einer neuen »Schule«: Schon oft wurde ein Projekt im Laufe der Geschichte der Rechtswissenschaft über mehrere Generationen verfolgt, um dann doch schlagartig verlassen zu werden. So sah es die lange Zeit einflußreiche Naturrechtslehre als ihre Aufgabe an, ein vollständiges System des Vernunftrechts zu ergründen. Die späteren Pandektenlehrbücher wiederum bauten ihr gleichermaßen wohlgeordnetes System auf den römischen Quellen auf. Im 20. Jahrhundert schließlich konnten sich die deutschen Privatrechtler darauf beschränken, das Erbe dieser Epochen, wie es sich in den nationalen Gesetzbüchern gefestigt hatte, zu pflegen. Die heutige Generation setzt ganz überwiegend dieses dogmatikbezogene Projekt fort. Die vorliegende Arbeit verläßt die schützende Sphäre einer am positiven Recht ausgerichteten Dogmatik und wendet sich einem juristischen Projekt zu, das man der Naturrechtstradition zuordnen könnte. Ziel ist dabei nicht, wie gleich eingangs betont werden muß, ein von der Dogmatik vollständig abstrahierendes fiktives Regelwerk zu entwickeln, sondern Maßstäbe für die Güte des positiven Rechts aufzuzeigen und anzuwenden. Aufgabe dieser Arbeit ist es, die sachlogischen Strukturen des Vertragsrechts herauszuarbeiten. Anhand deren wird für das reformierte Schuldrecht der »materielle Gerechtigkeitsgehalt der Problemlösung«2 dargelegt und gewürdigt. Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst die großen Theorien des Vertragsrechts vorgestellt und kritisiert. Leitfaden der Untersuchung ist dabei, wie die Bindung an den Vertrag jeweils begründet und welchen Einschränkungen das Prinzip pacta sunt servanda unterworfen wird. Im zweiten Teil sind sodann die gewonnenen Erkenntnisse für die Dogmatik des Leistungsstörungsrechts fruchtbar zu machen. Dabei sind zuerst wiederum allgemeine Prinzipien – diesmal auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe – zu formulieren und sodann auf die Dogmatik anzuwenden. Zweifelsohne verbleibt nach Anwendung dieser vorpositiven Prinzipien der Vertragstheorie ein erheblicher Spielraum für die Ausgestaltung 1 2
Gordley 50 Am.J.Comp.L. 657, 658 (2002). Canaris in Leser/Isomura (Hrsg.), Festschrift für Zentaro Kitagawa, S. 59, 65.
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Einleitung
des positiven Rechts. Daraus ergibt sich auch der hier zugrunde gelegte Ansatzpunkt für den Rechtsvergleich. Denn nur anhand eines Vergleichs konkreter Antworten auf a priori gegebene Sachfragen in den einzelnen Rechtsordnungen läßt sich beurteilen, ob die Dogmatik den Spielraum in vorteilhafter Weise zu nutzen versteht. Gegenwärtig stehen in Deutschland Theorien »mittlerer Reichweite« im Mittelpunkt der Zivilrechtswissenschaft. Claus-Wilhelm Canaris hält diese als wissenschaftliches Programm für vorzugswürdig, weil sie »wegen ihrer größeren Sachhaltigkeit dem modernen Drang zum Problemdenken weitaus besser entsprechen« als die Theorien »großer Reichweite«, deren Leistungsfähigkeit abnehme, je weiter sie sich von der Einzelfrage entfernen.3 Die vorliegende Untersuchung trägt diesem gewichtigen Einwand dadurch Rechnung, daß sie als Zwischenstufe zwischen der rechtsphilosophischen Fundierung und der konkreten Sachfrage solche Theorien »mittlerer Reichweite« einführt. Diese Zwischenglieder werden sowohl auf ihre Vereinbarkeit mit den allgemeinen Prinzipien als auch auf ihre Aussagekraft für konkrete Lösungen hin zu überprüfen sein. Im Idealfall soll diese Arbeit die Ableitung vom allgemeinen rechtsphilosophischen Postulat bis zur konkreten Lösung des positiven Rechts aufzeigen. Ich bin mir bei diesem Unterfangen der Gefahr wohl bewußt, daß man sich in solchen Abstraktionshöhen allzu leicht in Allgemeinplätzen verliert. Ulrich Huber warnt,4 konkrete Regeln ließen sich nie von einem allgemeinen Prinzip mit logischer Notwendigkeit ableiten; der historische Zufall und die Tradition spielten eine nicht unerhebliche Rolle. Das Buch, aus dem das Zitat stammt, ist selbst durch »historischen Zufall« in vielerlei dogmatischer Hinsicht überholt, doch hat es – wie auch in der vorliegenden Untersuchung deutlich werden wird – einen bleibenden Ertrag geliefert: Es ist die vom positiven Recht unabhängige Kraft der für konkrete Lösungen vorgetragenen Argumente. Ich ziehe daraus folgenden Schluß: So wie gute Dogmatik immer schon auf eine mehr oder weniger explizit formulierte Vertragstheorie gegründet ist, muß sich die Vertragstheorie, wenn sie die Allgemeinplätze meiden soll, die Lösung konkreter Einzelfragen als Prüfstein ihrer Grundsätze gefallen lassen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft zeigt, daß Theorie und Praxis schon oft eine selbstverständliche Einheit eingegangen sind. Der Einfluß der deutschen Rechtswissenschaft auf die Lösung von konkreten Einzelfragen war wohl nie unmittelbarer als in den Tagen der Aktenversendung.5 Zugleich war das 16. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung juristischer Systematik jenseits der Exegese autoritativer Texte.6 Später hat Friedrich Carl von Savigny für sein Spruchkollegium an der Humboldt Uni3 4 5 6
Canaris Fn. 2, S. 62. Huber, Leistungsstörungsrecht, Bd. I, S. 27. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 181. Troje in Bühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Bd. 3, S. 63.
Einleitung
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versität noch über 130 Gutachten angefertigt.7 Das hat ihn freilich nicht davon abgehalten, ein Theoriegebäude in größter Abstraktionshöhe und auf apriorischer Grundlage8 zu entwickeln. Rudolph von Jherings »Damaskuserlebnis«,9 seine theoretisch höchst bedeutsame Kehrtwende zum Zweckdenken, geht auf die gutachterliche Auseinandersetzung mit einem konkreten Fall zurück.10 Die Reihe ließe sich fortführen. Nun könnte man einwenden, daß die »großen« Theorien für das Privatrecht längst entwickelt worden seien11 und daß deswegen eine stärkere Konzentration auf die Dogmatik vonnöten sei. Der erste Teil dieser Feststellung ist zweifelsohne richtig. Nur deutet sich schon im Plural des Wortes »Theorie« an, daß die Diskussion um die Grundlagen des Privatrechts längst nicht zum einmütigen Stillstand im Konsens gekommen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Mit der ökonomischen Analyse des Rechts ist zudem eine ernstzunehmende Theorie hinzugekommen, die das traditionelle Selbstverständnis der Rechtswissenschaft zu erschüttern vermag. Auch der Streit zwischen den herkömmlichen Theorien, zwischen liberalen und wertorientierten, deontologischen und konsequentialistischen Ansätzen ist so lebendig und aktuell wie eh und je. Die Tatsache, daß die »großen« Theorien »längst« entwickelt wurden, ist also kein Grund, sich nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen. Auch die in vielen Bereichen vorzügliche Dogmatik ist nicht zuletzt Ergebnis einer langen theoretisch-dogmatischen Auseinandersetzung, die im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen erst relativ spät ihre Verwirklichung im positiven Recht erfahren hat. Um so nachhaltiger hat die zum Gesetz erstarkte Theorie den theoretisch-historischen Aspekt der Rechtswissenschaft in den Schatten gestellt. Während also noch im 19. Jahrhundert Rechtswissenschaft mit größter Selbstverständlichkeit als Einheit von Dogmatik, Philosophie und Geschichte verstanden wurde, sollte im 20. Jahrhundert die Dogmatik – das »Brotkollegium«12 – das Zepter übernehmen. Aufgabe der Dogmatik ist es, aus den Wertungen des positiven Rechts ein schlüssiges und kohärentes System zu schaffen.13 Ein Projekt, bei dem Rechtswissenschaft mit Dogmatik gleichgesetzt wird, macht Sinn, soweit und solange das System statisch ist. Systemimmanente Argumente verlieren aber definitionsgemäß ihre Überzeugungskraft, sobald das System geändert wird, oder mit anderen Systemen verglichen werden soll. Eine solche Phase hat das re7
Vogenauer [2005] C.L.J. 481, 494. S. die Kritik daran von Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 1: »Man frug zuerst: was ergibt sich aus der Natur der Sache? und war dann überzeugt, daß das auch im römischen Recht anzutreffen sei.« 9 Wieacker Fn. 5, S. 451. 10 Behrends in Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft, S. 14. 11 Canaris Fn. 2, S. 65. 12 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 1, S. 82, verweist dabei freilich auf das Studium der Institutionen als dem damals geltenden Recht. 13 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 86ff. 8
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Einleitung
formierte deutsche Schuldrecht gerade hinter sich und im Hinblick auf ein zukünftiges Europäisches Vertragsrecht möglicherweise vor sich. Im Wettbewerb der Privatrechte wird man aber kaum jemanden allein damit überzeugen können, daß das deutsche Recht in sich stimmig ist. In der gegenwärtigen Diskussion um das Leistungsstörungsrecht bleibt der angewendete Maßstab für die Qualität von Regeln oft unausgesprochen. In meiner Arbeit möchte ich zumindest einen Versuch wagen, über die Dogmatik hinaus zu gehen und das Leistungsstörungsrecht nicht nur auf seine Kohärenz, sondern auch auf seine materielle Richtigkeit hin zu untersuchen. Dafür bedarf es einer Vertragstheorie.
Erster Teil
Die Bindung an den Vertrag
§ 1 Vertragstheorie I. Theorie und Praxis Die vorliegende Arbeit ist eine theoretische Untersuchung des derzeit geltenden Vertragsrechts. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition dessen, was eine juristische Theorie ausmacht. Eine hilfreiche Analyse findet sich bei Kant: »Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln als Prinzipien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und daher von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben. Umgekehrt heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks Praxis, welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird.«1
Für die Zwecke des vorliegenden Buches wird unter Theorie ein System von allgemeinen Prinzipien verstanden, die einem bestimmten Rechtsgebiet zugrunde liegen und die einzelne seiner Regeln widerspruchsfrei, als Teil eines Ganzen und rational begründen kann. Gegenstand der vorliegenden Theorie ist das Vertragsrecht. Die Regeln des Vertragsrechts sind praktische Regeln, weil sie einen bestimmten Bereich menschlicher Handlungen präskriptiv regeln. Die Theorie wird deshalb notwenig ergänzt durch die Praxis, die in der Anwendung der (allgemein-theoretischen) Regeln auf den Einzelfall besteht.2 Unter Praxis wird vorliegend daher die Rechtsanwendung durch die Gerichte verstanden. Für das Verständnis des Vertragsrechts ist die Praxis genauso wichtig wie die Theorie. Die Gerichte wenden das derzeit geltende Vertragsrecht an, oder umgekehrt, was die Gerichte anwenden, ist das geltende Vertragsrecht. Das ist das positive Recht, also das Recht, das von einer wirklichen Gesetzgebung herrührt.3 Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, auf der Basis des positiven Rechts allgemeine Prinzipien zu formulieren, die die Regeln des Vertragsrechts als Teil eines Ganzen widerspruchsfrei erklären. Dies ist aber nicht denknotwendig der Fall. Für die positivistische Perspektive, auf die zurückzukommen sein wird, ist allein maßgeblich, ob die darzustellenden Regeln auch tatsächlich gelten. Selbst die De1
Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 275. Das verbindende Glied ist ein Akt der Urteilskraft, welcher entscheidet, ob ein Fall unter die Regel fällt, oder nicht, vgl. Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 275, in der gegenwärtigen Terminologie »Subsumtion«. 3 Kant, MS, AA VI, S. 229. 2
I. Theorie und Praxis
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finition dessen, was Vertragsrecht ist, müßte von empirisch feststellbaren Konventionen geleitet sein. Eine Theorie in dem hier festgelegten Sinn unterscheidet sich grundlegend von diesem Ansatz. Sie muß in erster Linie dem Kriterium der Rationalität genügen. Es wird freilich mehrerer Kapitel bedürfen, um den Begriff der Rationalität mit Leben zu erfüllen. Für vorliegende Zwecke reicht es jedoch aus, ihn als Gegenbegriff zu einem bloß positivistischen, also empirischen Ansatz zu verstehen. Die Vertragstheorie ist aus sehr gewichtigen pragmatischen Gründen zwar auf die vorgefundenen Regeln des positiven Rechts hin ausgerichtet, sie setzt dabei jedoch ein davon unabhängiges Verständnis dessen, was Vertragsrecht ist, voraus. Beides ist nicht selbstverständlich. Zunächst zur Ausrichtung der Analyse auf das positive Recht hin: Ein legitimer alternativer Ansatz könnte etwa darin bestehen, die Eigenschaften der juristischen »Phänomene« (das Versprechen, das Eigentum, usw.) unter völliger Abstraktion von allem positiven Recht zu untersuchen.4 Die Gefahr, daß man sich dabei unbewußt dennoch von den Wertungen und Mustern des positiven Rechts beeinflussen und leiten läßt, liegt auf der Hand. Daher ist es transparenter, das Recht, wie wir es zwischen den Buchdeckeln eines Buches zum derzeitigen Vertragsrecht vorfinden,5 offen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Zudem ist es auch zweckmäßig, so zu verfahren. Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.6 Rechtstheorie muß konsequenterweise eine Theorie der Rechtfertigung der Ausübung von staatlich ausgeübtem Zwang sein. Es besteht daher ein vitales Interesse daran, das gelebte Recht zu verstehen und zu kritisieren. Nur so wird vermieden, daß Vertragstheorie und Dogmatik wie zwei Schiffe im Nebel unerkannt aneinander vorbei gleiten, und zudem sicher gestellt, daß die Theorie der Praxis den Weg weisen kann, genau wie umgekehrt bei dieser Vorgehensweise die Praxis die Theorie vor manchem Irrweg bewahren kann. Wenn nun die Theorie so gar nicht die Praxis erklären kann, so ist diese Divergenz selbst erklärungsbedürftig.7 Wenn man annimmt, daß das deutsche Recht eine im Grundsatz mit der Vernunft vereinbare, rationale Ordnung darstellt, so besteht jedoch kein Anlaß anzunehmen, daß die Praxis von der Theorie abweichen wird, zumindest nicht in erheblichem Ausmaß. Im übrigen gilt jedoch der Satz: Was in der Theorie richtig ist, das taugt auch in der Praxis.8 Praxis, wenn sie nicht sinnentleerte »Hantierung« sein soll, muß als Anwendung rationaler Prinzipien begriffen werden.
4 Vertreter dieses Ansatzes der Rechtsphänomenologie sind vor allem Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts, und Husserl, Der Rechtsgegenstand. 5 Weir, Tort Law, S. IX: »Tort is what is in the tort books and the only thing holding it together is the binding.« 6 § 2 I. unten. Die Implikationen dieses Satzes werden u.a. in § 7, unten, erörtert. 7 Vgl. Jansen ZEuP 2005, 750, 774, im Hinblick auf die Entwicklung einer europäischen Privatrechtslehre: »Jede Abweichung von dem in Europa vorherrschenden Rechtszustand oder einer herrschenden Lehre ist spezifisch zu begründen (...)«. 8 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 277.
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§ 1 Vertragstheorie
Was nun, um den zweiten Aspekt des Programmsatzes aufzugreifen, also die Emanzipation der Theorie vom positiven Recht angeht, so sind Einwände in einer Zeit, in der ein Großteil der Literatur ausschließlich dogmatisch arbeitet, sicherlich zu erwarten. Die Einwände des fraglichen Nutzens abstrakter Sätze für die Lösung praktischer Einzelfragen und der vorgeblichen Stagnation der »großen« juristischen Theorien, die längst entwickelt seien, wurden bereits in der Einführung thematisiert. Es würde wenig nützen, sie über das hinaus, was in der Einführung dazu angemerkt wurde, abstrakt widerlegen zu wollen. Diese müssen vielmehr durch die Erarbeitung von Lösungen zu konkreten juristischen Problemen zerstreut werden. Ein weiterer Einwand gegen den vorliegenden extra-positiven Ansatz der Theoriebildung liegt nahe. Er ist zugleich tiefgreifender als der des fraglichen Nutzens: Die moderne Rechtsphilosophie könne auf ein bloß aus der Vernunft entwickeltes System praktischer Philosophie gestützt werden, sondern bedürfe andersartiger Absicherung. Die »Gültigkeit« normativer Aussagen müßte etwa mit dem »Konsens der Beteiligten innerhalb einer Rechtsgemeinschaft« oder die »akzeptierte(n) autoritative(n) Anerkennung« begründet werden.9 Freilich ist die für die vorliegende Vertragstheorie als möglich vorausgesetzte universelle Rationalität keineswegs unproblematisch.10 Es würde aber den Rahmen des vorliegenden Werkes sprengen, sich mit dieser Fundamentalkritik auseinanderzusetzen. Für die Vertreter jener Richtung könnte die vorliegende Untersuchung zumindest ein Angebot auf der Suche nach dem Konsens sein. In den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels werde ich der Frage nachgehen, wie diese Loslösung vom positiven Recht aussehen könnte. Zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen zu Positivismus und Naturrecht.
II. Naturrecht und Positivismus Der Positivismus ist eine einflußreiche juristische Theorie, die von Jeremy Bentham, John Austin, Hans Kelsen, H.L.A. Hart und Joseph Raz, um nur einige bekannte Vertreter zu nennen, stetig weiterentwickelt und verfeinert wurde.11 Die
9 Jansen ZEuP 2005, 750, 776. S. für diesen Ansatz etwa auch Neumann in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Rechtsphilosophie, S. 385, 399f. Zur Entwicklung der »konsensuellen Richtigkeitstheorien« s. Seelmann, Rechtsphilosophie, S. 162ff. Die autoritative Anerkennung ist dagegen, wenn sie empirisch bestimmt wird, das Kennzeichen positivistischer Lehren; dazu sogleich. 10 Für einen Überblick zu den Einwänden gegen das (insbesondere traditionelle, vorkritische) Naturrecht s. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Kap. 5, S. 139ff., zu modernen Gerechtigkeitstheorien Kap. 6, S. 161ff. 11 Zur Entstehungsgeschichte Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 58ff.; M. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 138ff.; zu Bentham, Austin und Kelsen, s. etwa Raz, The Concept of
II. Naturrecht und Positivismus
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zentralen Aussagen des Positivismus lassen sich in drei Thesen zusammenfassen:12 Erstens ist die Existenz des Rechts von »sozialen Tatsachen« abhängig (Social Fact Thesis); diese Fakten sind zweitens durch »Konventionen« festgelegt (Conventionality Thesis); drittens gibt es keine notwendige Schnittmenge zwischen Moral oder Ethik und Recht (Separability Thesis). Das zentrale, fast ausschließliche Thema des Positivismus ist die Ableitung des Begriffs der Geltung von Rechtsnormen anhand dieser drei Thesen. In den Worten Kelsens: »Unter juristischem Positivismus versteht man jene Rechtstheorie, die nur positives Recht als ›Recht‹ begreift und jede andere soziale Ordnung, auch wenn sie im Sprachgebrauch als ›Recht‹ bezeichnet wird, wie insbesondere das ›Naturrecht‹, nicht als ›Recht‹ gelten läßt. (...) Auch die Geltung einer Rechtsordnung im allgemeinen und einer einzelnen Rechtsnorm im besonderen ist durch Tatsachen bedingt. (...) Darin, daß die Geltung des Rechts durch diese Tatsachen bedingt ist, besteht die Positivität des Rechts.«13
Eine Darstellung der unterschiedlichen Strömungen im einzelnen würde zu weit führen. Hinzuweisen ist lediglich darauf, daß es eine Variante des Positivismus gibt, die zwar keine notwendige Verbindung zwischen Moralität und Recht anerkennt, aber immerhin eine zufällige: Nach dem sogenannten »Inclusive Positivism« kann es innerhalb eines Rechtssystems eine (bloß empirisch) geltende Norm geben, die moralische Argumente für die Rechtsanwendung für maßgeblich erklärt.14 Diese Möglichkeit wird freilich vom »Exclusive Positivism« bestritten, für den selbst eine solche Norm moralischen Argumenten keinerlei »Geltung« verschaffen kann.15 Nun ist es aber nicht so, daß der Positivismus fordern würde, der praktischen Philosophie zu entsagen, vielmehr würde er lediglich bestreiten, daß zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit irgendeine (nicht zufällige) Verbindung bestünde. Die Bewertung von Rechtsnormen als »richtig« oder »falsch« wird lediglich von ihrer ausschließlich empirisch bestimmten »Geltung« abgesondert.16 Wiederum in den Worten Kelsens: »Die allgemeine Rechtslehre hat das positive Recht ohne jede Bewertung desselben zu beschreiben, so wie es ist, nicht so, wie es sein soll. (...) Eine solche Bewertung (...) ist der Rechtsphilosophie vorbehalten (...).«17
Die Kontroverse zwischen Naturrecht und Positivismus reduziert sich damit auf den Begriff der Geltung von Normen und dem daraus abzuleitenden Zuschnitt a Legal System, S. 5ff., 70ff., zu seiner eigenen Ansicht, aaO., S. 121ff. Grundlegend immer noch Hart, The Concept of Law. 12 Himma in Coleman/Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence, S. 125. 13 Kelsen JZ 1965, 465. 14 Bsp. Hart Fn. 11, S. 200ff. unter Hinweis auf die Rechtsprechung durch Verfassungsgerichte. 15 Bsp. Marmor in Coleman/Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence, S. 104ff. 16 S. zur praktischen Philosophie von Raz S. 95ff., zu der Benthams S. 110ff. 17 Kelsen JZ 1965, 465, 468f.
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§ 1 Vertragstheorie
von Rechtswissenschaft. Dies ist weitgehend eine Definitionsfrage mit der sich auseinanderzusetzen an dieser Stelle wenig fruchtbar erscheint.18 Sie hat freilich Auswirkungen auf das Verständnis der Aufgaben, die die Rechtslehre erfüllen sollte: Empirie und Soziologie auf der einen Seite, praktische Philosophie und »Rechtsethik« auf der anderen.19 Im übrigen wird die Geltungsfrage erst dann erheblich, wenn sie auf das Bestehen eines Widerstandsrechts gegen staatliche Machtausübung zugespitzt wird.20 In dieser Hinsicht ist es eine geradezu polemische Vereinfachung, wenn Vertreter des Positivismus der Naturrechtslehre generell die These unterstellen, daß die Staatsbürger bei jeglicher Abweichung des positiven Rechts vom Ideal von ihrer Pflicht zum Rechtsgehorsam befreit wären21. Kants Position etwa ist, zumindest bei naheliegender Interpretation, sogar besonders unnachgiebig: »[W]enn das Organ des Herrschers, der Regent, auch den Gesetzen zuwider verführe (...), so darf der Untertan dieser Ungerechtigkeit zwar Beschwerden (...), aber keinen Widerstand entgegensetzen.«22
Auch gegenüber nicht gerechtfertigten Normen besteht eine Pflicht zum Gehorsam, die zwar nicht aus dem Inhalt der Normen selbst abgeleitet ist, sondern aus der Überlegung, daß der Bestand von gerechten Nomen und der Rechtszustand insgesamt nicht gefährdet werden darf.23 Diese Positivierung des Rechts ist im Naturrecht selbst angelegt: Jede Person ist verpflichtet, mit anderen in einen Rechtszustand einzutreten, wenn sie ihnen nicht aus dem Weg gehen kann.24 Zur Sicherung der subjektiven Rechte der Person ist die Konstitution des Staates durch das öffentliche Recht unabdingbar.25 Ohne das positive Recht ist der bürgerliche Zustand nicht denkbar. Daraus er-
18 Demgegenüber wirft Hart Fn. 11, S. 209, der nicht-positivistischen Sichtweise von Geltung vor, nichts als Verwirrung zu stiften. 19 Für einen Überblick über Naturrechtslehren M. Kaufmann Fn. 11, S. 30ff. 20 Näher etwa A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 207ff. 21 Der Einwand dürfte auf Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, S. 37, zurückgehen: »In der That kann man sich keine gefährlichere Wissenschaft denken, als eine, nach deren Lehren der Richter das ihm von seinem Oberen vorgeschriebene, von seinem Volke angenommene Recht hintansetzen müßte.« Hugo betont aber ebda., daß dies nicht von Kant (und einigen anderen Naturrechtlern) gefordert werde. 22 Kant, MS, AA VI, S. 319; s. auch aaO.S. 318: »(...) das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn wollte der Untertan, der den letzteren Ursprung nun ergrübelt hätte, sich seiner jetzt herrschenden Autorität widersetzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d.i. mit allem Recht bestraft«. 23 Diese Argumentation findet sich modellhaft bei Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 354ff. 24 Kant, MS, AA VI, § 42, S. 307; s. auch Hegel, R, TW 7, § 258, S. 399 (es sei »höchste Pflicht« Mitglied des Staates zu sein). 25 Diese Thesen werden in § 2 I., S. 43, näher erläutert.
III. Dogmatik, Philosophie und Geschichte
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klärt sich die überragende Bedeutung, die dem positiven Recht gerade in der Naturrechtslehre zukommt. Kant schreibt: »Unter [den äußeren Gesetzen] sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (...) begründete.«26
Für die folgenden Ausführungen ist daher von der Geltung des positiven Rechts auszugehen.27 Ob diese Geltung an eine Grenze stößt und ein Widerstandsrecht entsteht, wenn der Staat kaum mehr als die bekannte »Räuberbande« ist, muß für vorliegende Zwecke nicht geklärt werden.28 Das Programm der vorliegenden Untersuchung könnte nicht besser formuliert werden als in den Worten von Hans Welzel: »[Es bedarf] nicht des Rückgriffs auf ein irgendwie geartetes überpositives ›Recht‹, das allzuleicht zur Auflösung der grenzsetzenden Funktion des wirklichen Rechts führt, sondern der Herausarbeitung der sachlogischen Strukturen, die im ganzen Rechtsstoff stecken und die jeder positiven Regelung vorgegeben sind. Diese Überwindung des Positivismus in uns wird nicht leicht sein.«29
III. Dogmatik, Philosophie und Geschichte Gustav Hugo identifiziert am Ausgang des 18. Jahrhunderts »Dogmatik«, »Philosophie« und »Geschichte« als drei ebenbürtige Kollegien, die zusammengenommen die Jurisprudenz bilden.30 Auch bei denen, die der historischen Rechtsschule distanzierter gegenüber standen, gehört dieser Dreiklang bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zum natürlichen Selbstverständnis. So findet sich etwa bei Rudolph von Jhering folgende These zur Jurisprudenz als Wissenschaft:31 »Und wenn ich jetzt die Summe ziehe von dem, was ich gesagt habe, so nenne ich die Rechtswissenschaft das wissenschaftliche Bewußtsein in Dingen des Rechts, das Bewußtsein, das nach Seiten der Rechtsphilosophie hin die letzten Gründe zu erforschen hat, de26
Kant, MS, AA VI, S. 224. S. auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 210: »Das Naturrecht bildet den Maßstab für die Beurteilung des positiven Rechts.« 28 »Wenn wir die Gerechtigkeit hinwegdenken, was sind Staaten dann anders als große Räuberbanden?« (Augustinus) Zitat nach Hruschka JZ 2004, 1085, 1087 Fn. 32. S. selbst Radbruch vor seiner Hinwendung zum »Naturrecht«, ders., Rechtsphilosophie, S. 34: »Die Idee des Rechts kann nun keine andere sein als die Gerechtigkeit.« 29 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 198. 30 Näher zu Hugo, S. 53f. 31 Zu Jhering näher S. 103ff. 27
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§ 1 Vertragstheorie
nen das Recht auf Erden seinen Ursprung und seine Geltung verdankt, nach Seiten der Rechtsgeschichte ihm folgt auf allen seinen Wegen, die es genommen hat, um von Stufe zu Stufe höherer Vollkommenheit sich zu erheben, nach Seiten der Dogmatik die zum praktischen Gebrauch geordnete wissenschaftliche Darstellung aller Erfahrungen und Thatsachen, welche den augenblicklichen Höhen- und Endpunkt unserer Erkenntnis und Erfassung des Rechts in sich schließen.«32
Den drei Disziplinen, die Jhering beschreibt, entsprechen drei verschiedene Methoden der Befassung mit Recht. Der historische Ansatz, der über punktuelle historische Momentaufnahmen hinausgeht, erklärt einen Zustand als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung.33 Der philosophische Ansatz beschreibt, welche Annahmen dem Vertragsrecht als rationaler Ordnung zugrunde liegen, was also die sachlogischen Strukturen des Vertrages ausmacht. Rechnet man, was hier noch nicht näher erörtert werden soll,34 den Ansatz der ökonomischen Analyse ebenfalls hinzu, dann schließt der philosophische Aspekt die Untersuchung der Folgen von Regeln des Privatrechts mit ein. Am weitesten verbreitet ist schließlich der ausschließlich an der Praxis, also am positiven Recht und seiner Anwendung orientierte Ansatz, das jeweils geltende Recht zu beschreiben.35 Während auf diese Weise nach den Aufgaben unterschieden werden kann, die diese Theorien in Angriff nehmen, sind weitere Differenzierungen danach möglich, inwieweit eine Theorie deskriptive oder normative Aussagen trifft. Das Verhältnis zwischen deskriptiven und normativen Gehalt ist, soviel läßt sich vorab sagen, für jedes der drei Unterfangen komplex. Überwiegend deskriptiv geht der dogmatische Ansatz vor. Im einzelnen ist es aber durchaus umstritten, was Dogmatik leisten kann und soll. Die folgende Definition wird in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt: Aufgabe von Dogmatik ist es, auf der Grundlage der Wertungen und Normen des positiven Rechts ein möglichst in sich widerspruchfreies System von Regeln zu schaffen. Dies ist angesichts des notwendig positiven Charakters des Rechts eine fundamental wichtige Aufgabe. In den Worten von Josef Esser: »Dogmatisches Denken i.S. der wertungsneutralen Begriffsarbeit ist zwar nicht aus sich selbst produktiv, aber doch für das Gefundene stabilisierend und reproduktiv. Das wäre wenig, wenn man die Wertungsfragen damit für ›anderweitig erledigt‹ erklären wollte. Es ist aber viel, da die dogmatische Fassung den rechtpolitischen Gedanken, den Gerechtigkeitsimpetus, erst profiliert, realisiert und positiviert.«36
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Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, S. 91. An erster Stelle ist die historische Schule zu nennen, der sich auch Jhering im Vortrag (noch) verpflichtet fühlt, weiter Gustav Hugo und Friedrich Carl von Savigny. Für eine moderne Variante einer historisch-dogmatischen Theorie s. Zimmermann, The Law of Obligations. 34 Dazu S. 122ff. 35 Zu dieser Analyse des Rechts als einer »Summe von Sanktionen« näher S. 170ff. 36 Esser AcP 172 (1972), 97, 103. 33
III. Dogmatik, Philosophie und Geschichte
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Dieser auf das positive Recht ausgerichtete Begriff von Dogmatik baut auf dem Verständnis des 19. Jahrhunderts auf und ermöglicht eine sinnvolle Abgrenzung der drei Teil-Disziplinen, Dogmatik, Philosophie und Geschichte. Im übrigen dürfte sie auch das heutige Verständnis wiedergeben, wenn auch weitere Definitionen des Begriffes zu verzeichnen sind.37 Dogmatik ist somit eine Kontrollinstanz, die die »Verträglichkeit von Lösungen mit anderweitig vorgegebenen Regelungen sichert«.38 Logische Brüche im System lassen sich nur systemimmanent »heilen«: »Indessen besteht die Aufgabe der Dogmatik grundsätzlich lediglich darin, die Regelung des Gesetzes in eine konsistente begriffliche und systematische Ordnung zu bringen, nicht aber umgekehrt darin, ihrerseits deren Auslegung zu beeinflussen oder gar zu dirigieren.«39
Auch die richterliche Rechtsfortbildung von einzelnen Regeln und die »kreative« wissenschaftlich-dogmatische Arbeit bei der Fortentwicklung von allgemeinen Lehrsätzen dürfen nur innerhalb der Grenzen des positiven Rechts stattfinden. Die Grenzen der Dogmatik bestimmen das, was in der Rechtsanwendung noch zulässig ist und trennen es von dem, was schlicht »unvertretbar« ist. So haben Analogie und teleologische Reduktion, auch wenn sie scheinbar vom statutarischen Recht abweichen, die Funktion, dem Zweck der Norm zum Tragen zu verhelfen.40 Eine Korrektur des Gesetzes, die diesen Anforderungen nicht entspricht, kann nicht innerhalb der Dogmatik vorgeschlagen werden.41 Von der Rechtspolitik ist auch die Vertragstheorie zu unterscheiden. Die Vertragstheorie dient dazu, die Grundlagen des gegebenen positiven Rechts zu erfassen und auf diesem Weg zu einem Verständnis des positiven Rechts als Ausprägung eines Systems rationaler Ordnung zu gelangen. Daran mag ein rechtspolitischer Vorschlag anzuknüpfen sein, der auf Änderung einer bestimmten Regel des positiven Rechts abzielt; das ist jedoch nicht das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit. Es ist jedenfalls nicht Aufgabe von Rechtswissenschaft, positives Recht zu setzen 37 S. etwa die Unterscheidung zwischen »applikativer Theorie« und »konstruktiver Jurisprudenz« bei Jansen ZEuP 2005, 750, 764ff. Erstere wäre sicherlich Dogmatik im vorliegend verwendeten Sinn des Wortes, denn diese »[setzt] autoritative Vorgaben vor dem Hintergrund eines weitgehend feststehenden normativ-dogmatischen Rahmens um«, aaO.S. 764. Die »konstruktiven Theorien« wären nur dann »dogmatisch«, wenn Maßstab ihrer »Richtigkeit« wiederum allein das positive Recht, wenn auch nicht notwendig eines bestimmten Rechtssystems, sondern etwa eines europäischen common core wäre. Da Jansen selbst einer interpretativen Theorie den Vorzug gibt, dazu sogleich, S. 15ff., müßte auch die konstruktive Theorie letztlich dogmatischer Natur sein. 38 Wiederum im Anschluß an Esser AcP 172 (1972), 97, 104. 39 Canaris JZ 2003, 831, 835 (dort erläutert am Beispiel des Begriffs »Stückschuld«). 40 Larenz/Canaris, Methodenlehre S. 187ff. Die Grenzen dieses Vorgehens betonend, Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 841ff., 936ff. Enger auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112ff. 41 Jenseits dessen, was dogmatisch zulässig ist, wird die Rechtspolitik angesiedelt. Das spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen de lege lata und de lege ferenda wieder.
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§ 1 Vertragstheorie
– dies ist Aufgabe der Legislative –, sondern nur, diesen Prozeß durch kritische Würdigung zu begleiten und zu unterstützen. Historische Theorien gehen in vielerlei Hinsicht deskriptiv vor, indem sie das Recht vor dem Hintergrund seiner Genese erklären und verstehen. Allerdings besteht in der Auswahl und Gewichtung der historischen Entwicklungssprünge durchaus ein Spielraum für eine teleologische Theorie, also die These, daß sich das Recht auf einen bestimmten Idealzustand hin bewegt (oder bewegen sollte).42 Der Übergang zu philosophischen Theorien ist fließend. Der präskriptive Aspekt tritt etwa bei James Gordley, obgleich er in der Geschichte zurückblickt und den Einfluß bestimmter Schulen auf die Entwicklung des Rechts aufzeigt, so stark in den Vordergrund, daß sein Ansatz wohl nicht mehr als historisch eingestuft werden kann. Sein Ziel ist lediglich, Erklärungsmodelle, die einen bestimmten historischen Ursprung und Kontext haben, für das gegenwärtige Recht fruchtbar zu machen.43 Da die vorliegende Untersuchung nicht historische Methoden anwendet, soll die Abgrenzung jedoch hier auf sich beruhen. Die Funktion des philosophischen Ansatzes, der der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, besteht in erster Linie darin, die Bedingungen der Möglichkeit des Rechts, seine vom positiven Recht unabhängigen sachlogischen Strukturen aufzuzeigen. Es geht dabei, wie bereits angedeutet, nicht primär darum, welches Ergebnis der Rechtsanwendung im einzelnen vorzuziehen ist, sondern welche Struktur der zur Erzielung des Ergebnisses angewendeten Regeln innewohnt. Idealerweise besteht eine Übereinstimmung zwischen den von der Theorie behaupteten Ordnungsprinzipien und dem geltenden Recht. Es ist aber von der Perspektive der Vertragstheorie letztlich unerheblich, ob die Übereinstimmung besteht. Die Relevanz von Vertragstheorie hängt daher nur bis zu einem gewissen Grad davon ab, wie gut oder schlecht sie das bestehende Recht erklären kann. Sollte etwa, was nicht der Fall ist, das gegenwärtige Recht kein mit allgemeinen Prinzipien zu vereinbarendes Leistungsstörungsrecht vorsehen, so ist dies in erster Linie eine theoretische Erkenntnis und allenfalls in zweiter Linie eine normative Forderung, das positive Recht anzupassen. In dieser Arbeit geht es hauptsächlich um den ersten Aspekt, also um das Feststellen der Übereinstimmung mit bzw. des Abweichens der Dogmatik von allgemein-theoretischen Prinzipien. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß bestimmte philosophische Richtungen einen wesentlich stärker rechtspolitischen Standpunkt einnehmen.44 42
S. etwa Pound, The Ideal Element in Law, S. 372 (unter Berufung auf Savigny, dazu S. 63ff.). Gordley, Foundations of Private Law. Näher S. 89ff. In 47 Am.J.Juris. 1 (2002), hebt er hervor, daß sein Thema die moralischen Grundlagen seien, nicht Rechtsgeschichte. Vgl. ders., The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine Philosophical Origins, S. 9: »By understanding what is wrong, we may be able not only to understand our history, but also to shape it.« Bezugspunkt ist im wesentlichen die Spätscholastik und Aristoteles. 44 Gemeint ist vor allem die ökonomische Analyse des Rechts, vgl. im einzelnen unten § 5 II.3. Nach der Ansicht von Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961, 1312ff. (2001), ruht die soziale Ver43
IV. Interpretative Theorien
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IV. Interpretative Theorien Der philosophische Ansatz, wie er bisher beschrieben wurde, kann als normative Theorie bezeichnet werden. Ziel dabei ist, aufzuzeigen, wie die Praxis beschaffen sein sollte, wenn sie eine ernstzunehmende rationale Tätigkeit sein will. Es liegt im Wesen juristischer Theorien, angewendet zu werden; es handelt sich daher immer um auf eine Praxis bezogene Theorien. Allerdings sind sie von einer bestimmten in der Wirklichkeit existierenden Praxis, dem positiven Recht, unabhängig. Dieser Ansatz unterscheidet sich damit in seiner Vorgehensweise und seinem Aussagegehalt grundlegend von den interpretativen Theorien, die in diesem Abschnitt erörtert werden sollen. Diese Theorien geben vor, die Theorie von einer gegebenen Praxis abzuleiten. Man kann sie »interpretativ« nennen, weil sie lediglich eine bestimmte Interpretation einer existierenden Praxis anbieten. Nun könnte man annehmen, daß diese Theorien nichts weiter als »Dogmatik« im eben beschriebenen Sinne darstellten und daher nicht eines eigenen Abschnitts bedürften. Das Verhältnis von positivem Recht und davon unabhängigen Maßstäben ist bei diesen Theorien jedoch komplex und letztlich, wie zu zeigen sein wird, unbestimmt. Das Einfallstor für vom positiven Recht unabhängige Wertungen ist die von diesen Theorien vertretene These, daß nicht jede beliebige Interpretation den Anforderungen an eine juristische Theorie genügt. Obwohl die Theorie sich nicht von einer bestimmten Praxis lösen kann oder will, hält sie in gewissen Umfang doch vom positiven Recht unabhängige Maßstäbe dafür bereit, was als »richtige« Interpretation der Praxis gelten darf. Diese im folgenden näher zu definierenden Anforderungen sind freilich schwächer, also inhaltlich weniger streng, als der Maßstab der normativen Theorien. Ronald Dworkin etwa führt aus, daß ein Jurist mit den Fähigkeiten eines Herkules in der Lage wäre, aus dem gegebenen Fallmaterial und dem Regelarsenal des common law induktiv auf allgemeine Prinzipien zu schließen, aus denen wiederum deduktiv eine passende Lösung für jeden zukünftigen Fall gewonnen werden könnte.45 Es besteht jedoch keinerlei Gewähr dafür, daß die auf diese Weise aus der Praxis abgeleiteten Prinzipien mit den letzantwortung für die Rechtfertigung von Regeln de facto bei den Rechtswissenschaftlern. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Rechtswissenschaft sich ihrerseits ausschließlich der Methode der ökonomischen Analyse des Rechts (»welfare economics«) bedienen sollte, um Regelungsvorschläge zu unterbreiten. 45 Dworkin, Law’s Empire, passim. Ob Dworkin eine normative Theorie im Sinne des Naturrechtslehre vertritt, ist nicht ganz eindeutig. S. aber das bei Bix in Coleman/Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence, S. 61, 83, wiedergegebene Zitat: »If the crude description of natural law I just gave is correct, that any theory that makes the content of law sometimes depend on the correct answer to some moral question is a natural law theory, then I am guilty of natural law.« Bix selbst ordnet Dworkins Theorie ebenfalls als »Naturrecht« ein. Zu Dworkin etwa auch Eisenberg in Benson (Hrsg.), Theory of Contract, S. 206, 213ff., der normativen Argumenten bei Dworkin nur eine eingeschränkte Relevanz innerhalb einer interpretativen Theorie einräumt.
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§ 1 Vertragstheorie
ten Grundannahmen eines liberalen Vertragsrechts vereinbar sein müssen.46 Verfolgt man also nicht eine rein interpretative Theorie, so läßt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, das bestimmte Regeln des positiven Rechts mit der normativen Theorie nicht vereinbar sind. Eine weitere Variante einer interpretativen Theorie hat kürzlich Stephen Smith für das Vertragsrecht verteidigt.47 Zweck von Theorie sei es, eine nachvollziehbare innere Ordnung des Rechts aufzudecken, soweit eine solche Ordnung besteht.48 Dieser Ansatz sei weder rein deskriptiv noch präskriptiv. Smith gesteht aber zu, daß der Unterschied zwischen einem interpretativen und einem deskriptiven Ansatz letztlich gradueller Natur sei: Eine (deskriptive) Darstellung komme ohne ein übergreifendes Verständnis des Rechts genauso wenig aus, wie eine Deutung des Vertragsrechts ohne eine Beschreibung dessen, was in der Praxis gilt. Dieser Aufgabenstellung entsprechen die Kriterien, die Smith in erster Linie an eine juristische Theorie anlegt, nämlich die des Zusammenpassens (fit) von Theorie und Praxis und der Kohärenz (coherence).49 Vertragstheorie soll also dazu geeignet sein, das, was nach gefestigter Ansicht als Vertragsrecht angesehen wird,50 zu erklären. Zudem kann eine gute Theorie das Vertragsrecht als kohärentes Ganzes erklären. Dies sei mehr als die Abwesenheit von Widersprüchen. Vielmehr soll die Theorie in der Lage sein, die verschiedenen Elemente des Vertragsrechts unter einem einheitlichen System zu vereinen.51 In der prägnanten Zusammenfassung von Smith: »Interpretive theories are assessed according to: (1) how well they fit the rules and decisions that make up contract law, (2) how coherent they are, and (3) how well they explain the way that legal actors themselves explain what they are doing. The third criterion can be subdivided into two parts: (1) how well does the theory explain law’s claims to authority (the claim that law is a legitimate or morally justified authority), and (2) how well does the theory explain law’s claim to transparency (the claim that legal reasoning is meaningful)?«52
Diese Theorie stimmt mit der vorliegend verwendeten Definition von »Dogmatik« weitgehend überein. Sie geht nur in einem Punkt über den deskriptiv-dogmatischen Ansatz hinaus. Der normative Aspekt besteht in der geforderten »Ratio46 Dies ist beim common law zweifelsohne der Fall; wenn aber etwa die früheren sozialistischen Systeme den Bezugsrahmen abgäben, wäre zweifelhaft, ob eine induktive Theorie liberale Grundsätze aufstellen könnte. 47 Smith, Contract Theory, Kap. 1, S. 3ff. 48 Smith Fn. 47, S. 5. 49 Smith Fn. 47, S. 7ff., 11ff. Vgl. etwa die Anforderungen an eine juristische Theorie bei Jansen ZEuP 2005, 750, 774: Übereinstimmung mit dem faktischen Rechtszustand im europäischen Privatrecht, ebda. S. 776: Kohärenz, Wertungswidersprüche innerhalb der autoritativen Vorgaben sind offenzulegen. 50 Smith Fn. 47, S. 9, verlangt einen Konsens aber nur hinsichtlich der Kernelemente dessen, was als Vertragsrecht gilt. 51 Smith Fn. 47, S. 11. Vgl. die Forderung nach Wertungsangemessenheit bei Jansen ZEuP 2005, 750, 777. 52 Smith Fn. 47, S. 36.
IV. Interpretative Theorien
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nalität« einer Theorie:53 Entscheidend für die Überzeugungskraft einer Theorie sei, inwiefern sie den Anspruch des Rechts, moralisch gerechtfertigt zu sein, erfassen könne.54 Ob der Anspruch gerechtfertigt ist, spielt für diese positivistische Sichtweise dagegen keine Rolle mehr. Rational ist danach bereits das ernsthafte55 Erheben des Anspruchs moralischer Legitimation. Abbilden muß die Theorie daher nicht die moralische Rechtfertigung selbst, sondern nur die ernst gemeinte Behauptung, daß dies der Fall ist. Um den Unterschied sowohl zu deskriptiven als auch zu normativen Theorien zu erläutern, führt Smith drei Thesen nach dem Grad der Stärke des Zusammenhangs zwischen normativer Fundierung und deskriptiver Aussage ein. Die »starke« These behauptet, daß diejenige Theorie besser sei, die das Recht als moralisch gerechtfertigt darstellt. Dies sind die Theorien, die Smith als die normativen Theorien bezeichnet und die, wie auch er einräumt, dem traditionellen Verständnis von juristischer Theorie am ehesten entsprechen. Sie suchen nach dem Idealzustand des Rechts und sind daher im wesentlichen präskriptiv.56 Am entgegengesetzten Ende des Spektrums juristischer Theorien ist eine Theorie angesiedelt, für die es ausreicht, daß sie erklärt, warum sich die Akteure des Rechts (insbesondere Richter und Gesetzgeber) darauf berufen, daß die betreffenden Regeln moralisch gerechtfertigt sind, ohne daß es darauf ankäme, ob die Rechtsanwender selbst daran glauben, daß sie es sind. Dies wird als die »schwache« These bezeichnet. Die Behauptung moralischer Rechtfertigung ist nicht ernst gemeint. Die Art von Theorie, die diesem Kriterium genügen würde, läuft letztlich auf eine – offensichtlich wenig plausible – Verschwörungstheorie hinaus, da der moralische Appell nur vorgeschoben ist. Smith selbst hält eine, wie er meint, »vermittelnde Ansicht« für vorzugswürdig.57 Es handelt sich dabei um das kennzeichnende Element seiner interpretativen Theorie. Eine gute Theorie könne erklären, warum die Akteure, die Recht anwenden, ehrlicherweise glauben dürfen, daß eine bestimmte Regel moralisch gerechtfertigt ist. Ob die Rechtfertigung trägt, muß offenbleiben, entscheidend sei nur, daß sich die zur Rechtfertigung vorgetragenen Argumente ihrer Art nach dafür eignen, eine Regel moralisch zu begründen. Diese Theorie ist also nur der Form, aber nicht ihrem Inhalt nach normativ. Sie fragt nicht nach dem moralischen Idealzustand und ist deswegen nicht präskriptiv, sondern sie bestimmt lediglich den Rahmen, innerhalb dessen eine moralische Rechtfertigung von Regeln gesucht und gefunden werden kann. Eine gute Theorie sollte dies deswegen leisten können, weil das Recht selbst den Anspruch legitimer Machtausübung erhebt. Wenn das Recht diese Verbindung zur Legitimität (der moralischen Recht53 54 55 56 57
Diese ist an Hart Fn. 11, S. 79ff., angelehnt. Smith Fn. 47, S.S. 13ff. Im Gegensatz zum bloß vorgetäuschten, zynischen Appell an die Moralität. Die vorliegende Arbeit etwa vertritt diese »starke These«. Smith Fn. 47, S. 18ff. (»moderate Version«).
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§ 1 Vertragstheorie
fertigung) in sich trägt, so muß Theorie als juristische Theorie dieses Selbstverständnis derer, die Recht anwenden, erfassen können. Als ihrer Art nach zur Legitimation geeignet, betrachtet Smith im Grunde nur zwei Argumente: den Schutz subjektiver Rechte einerseits und utilitaristische Erwägungen andererseits, einschließlich der ökonomischen Effizienz.58 Diese »interpretative« Theorie gibt vor, das zu leisten, was eine normative Theorie leisten kann, ohne sich in derselben Weise wie eine normative Theorie festzulegen und damit angreifbar zu machen. Beides läßt sich jedoch nicht vereinbaren. Das ist denn auch der Haupteinwand gegen die ansonsten durchaus angemessene und anschauliche Vertragstheorie von Smith. Dieser Einwand kann konkret für das Vertragsrecht formuliert werden: Eine utilitaristische Überlegung kann man, das ist nicht streitig, als »ein Argument« in einem normativen Kontext verstehen, auch wenn man es für falsch hält. Ob dieses oder ein damit unvereinbares Argument a priori zur Begründung der Bindung an den Vertrag vorzuziehen ist, will diese interpretative Theorie offen lassen. Beide Positionen sollen zugleich dem Kriterium »guter« Theorie genügen, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Wie soll aber eine kohärente Vertragstheorie (das zweite Kriterium »guter« Theorie nach Smith) entstehen, wenn zu ihrem Bau jeweils miteinander unvereinbare Thesen verwendet werden können? Dieses »Moral«-Kriterium bleibt letztlich unbestimmt. Diese Unzulänglichkeit scheint auch Smith empfunden zu haben, denn er ergänzt das Moral-Kriterium um das »wesensverwandte« Transparenzkriterium.59 Dieses Erfordernis bewertet eine Theorie danach, wie gut sie das Recht mit Hilfe der Begriffe und Muster erklären kann, die dem Recht eigen sind. Die transparente Theorie kann das Recht von einem dem Recht internen Standpunkt aus erklären. Die Theorie ist nicht transparent, wenn die wahren Gründe für eine juristische Entscheidung versteckt bleiben, also nicht im juristischen Rechtfertigungsprozeß erscheinen. Auch hier unterscheidet Smith die schwache Version des Transparenzkriteriums (die »nicht ernstgemeinte Begründung«) von der starken Version, die fordert, daß die Gründe, die Richter zur Rechtfertigung anführen, inhaltlich zutreffen. Wiederum zieht Smith die vermittelnde Position vor, wonach es ausreicht, wenn gezeigt werden kann, daß die angeführten Gründe ehrlicherweise für die wahren Gründe gehalten werden dürfen, auch wenn sie die Entscheidung tatsächlich nicht tragen.60 Wichtig sei nur, daß die angeführten Gründe die Entscheidung tragen könnten, also ernstgemeint sind. Das Transparenzkriterium fordert, daß die Gründe für eine Entscheidung stets vom juristischen, inter58 Smith Fn. 47, S. 21. Ohne dafür naturgemäß eine normative Begründung geben zu können. Die Eingrenzung dessen, was seiner Art nach als Rechtfertigung dienen kann, würde ihrerseits eine normative Meta-Theorie voraussetzen. Diese liefert Smith nicht, sondern leitet die Kategorien zulässiger Rechtfertigung aus den von ihm faktisch vorgefundenen Theorien ab. 59 Smith Fn. 47, S. 24ff. 60 Smith Fn. 47, S. 28.
V. Normative Vertragstheorien
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nen Standpunkt aus verständlich gemacht werden könnten. Mit Hilfe dieses Argumentes gelingt es Smith letztlich doch, eine einheitliche, kohärente Vertragstheorie zu formulieren. Es dürfte nunmehr nicht weiter überraschend sein, daß seine »interpretative« Theorie utilitaristische Erwägungen auf der Basis des Transparenzkriteriums generell für nicht überzeugend hält.61 Dabei ist weniger bedenklich, daß die vorgeblich interpretative Theorie unter der Hand unverkennbar normative Züge annimmt, sondern daß Smith den normativen Schwerpunkt der deontologischen Argumente, also den von ihm ausdrücklich befürworteten Schutz subjektiver Rechte, letztlich nicht begründet. Die vorliegende Untersuchung muß daher, wenn sie eben diesen Einwand vermeiden möchte, die normativen Implikationen der Vertragstheorie darstellen und verteidigen.
V. Normative Vertragstheorien Es lassen sich zumindest vier Typen normativer Vertragstheorie unterscheiden. Sie alle bieten einen Maßstab für die Güte von Privatrecht an und erheben den Anspruch, die Regeln des Vertragsrechts fundieren zu können. Die ersten drei Ansätze könnte man als Einheitstheorien bezeichnen, weil sie sich methodisch auf einen Weg zur Erschließung des Rechtsbegriffs festlegen, während der vierte Ansatz eine Kombination verschiedener heterogener Gesichtspunkte zuläßt.
1. Subjektive Rechte und Gerechtigkeit Der ursprünglichen Konzeption des deutschen Privatrechts am nächsten sind die Theorien, die das Recht aus sich selbst heraus, vor allem im Hinblick auf den Schutz (überpositiv begründeter) subjektiver Rechte erklären. Ein weiteres intrinsisches Erklärungsmodell bietet etwa die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit. Diese Theorien, die nach Prinzipien a priori des Vertragsrechts suchen, werden in § 2 und § 3 näher erörtert. Im Bereich des Vertragsrechts ist die letzte große Blüte dieses Ansatzes mit dem Aufkommen der Willenstheorie im 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Die Privatautonomie war bereits vorher in der Naturrechtslehre als Fundament des Privatrechts eingeführt worden. Savigny, Windscheid und andere systematisierten unter teils abweichender Terminologie die römischen Regeln diesem Leitmotiv folgend.
2. Teleologische Theorien Theorien, die das Recht mit Hilfe außerhalb des Rechts stehender Werte beurteilen (§ 4), nehmen in gewisser Hinsicht eine Mittelstellung ein. Die maßgebliche 61 Bsp. Smith Fn. 47, S. 208, 267, 314, 375, 408. Dem »Moral«-Kriterium halten sie dagegen stand.
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§ 1 Vertragstheorie
Frage ist hier, welche Werte eine Gesellschaft politisch, ethisch oder moralisch für vorzugswürdig hält und wie diese mit Hilfe von Rechtsregeln umzusetzen sind. Das Kennzeichnende dieses Ansatzes ist, daß die freiwillige Selbstbindung durch Vertrag nicht als ein an sich selbst Gutes angesehen wird. Es kommt vielmehr darauf an, welchem Ziel die Autonomie dient. Diese Theorien haben ein perfektionistisches Element und sind auf die Verwirklichung eines bestimmten Zieles durch Normen ausgerichtet. Gemessen an der Zahl der gesetzgeberischen Eingriffe im Privatrecht, die ein von der Bewahrung von Autonomie unabhängiges Ziel verfolgen, dürfte diese Art von Theorie dem modernen Gesetzgeber am meisten entgegenkommen.
3. Utilitarismus und ökonomische Analyse insbesondere Im weitesten Sinne gehört zu den teleologischen Theorien auch der Utilitarismus, der die Richtigkeit von Handlungen danach beurteilt, welche Folgen diese für den Nutzen oder das Glück der Mitglieder einer Gesellschaft hat (§ 5 I.). Ebenfalls teleologisch, also ein außerhalb des Rechts stehendes Ziel verfolgend, ist der verwandte Ansatz der ökonomischen Analyse des Rechts (§ 5 II.). Der Zweck des Rechts ist hier Effizienz. Vom Utilitarismus als weit verstandene Glückseligkeitslehre unterscheidet sie sich dadurch, daß der Kosten/Nutzen Kalkül einen sehr speziellen Begriff von Wohlstand verfolgt. Utilitaristische Theorien legen einen weiteren Begriff von Nutzen zugrunde, sind in ihrer Folgenorientierung aber mit der ökonomischen Analyse sehr wohl vergleichbar.
4. Topik und andere Kombinationstheorien Das vierte Projekt, das bereits an dieser Stelle vertiefend erörtert werden soll, zerfällt in viele unterschiedliche Theorien, die nur insofern eine Gemeinsamkeit haben, als sie (einige oder alle) der eben genannten Aspekte miteinander kombinieren. Ein typischer Ansatz ist etwa der von Roy Kreitner.62 Nach seiner Auffassung versuchen »Einheitstheorien« zuviel und leisten zu wenig, um konkrete Probleme zu lösen. Ein »vernünftiger« Entscheidungsträger würde zumindest zwei Arten von Gründen berücksichtigen, wenn es um Vertragsrecht geht: zunächst solche der Fairneß aber eben auch solche der sozialen Nützlichkeit.63 Melvin Eisenberg entwickelt seine »multivalue theory of contracts« nach ähnlichen Grundsätzen.64 Sie basiert auf zwei Grundegeln:65 Erstens soll der Willen der Parteien grundsätzlich, also unter Anerkennung von »angemessenen« Ausnahmen 62
Kreitner in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies, S. 19, 28ff. Sein Vorschlag zielt darauf ab, den Unterschieden zwischen den einzelnen Vertragstypen wieder mehr Gewicht zu verleihen, Kreitner Fn. 62, S. 38. 64 Eisenberg Fn. 45, S. 240ff. 65 Eisenberg Fn. 45, S. 241. 63
V. Normative Vertragstheorien
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durchgesetzt werden. Zweitens sind die dafür benötigten Regeln des Vertragsrechts durch den Gesetzgeber festzulegen. Eine inhaltliche Anforderung ist damit zwar nicht verbunden, aber der Gesetzgeber muß bestimmten Kriterien genügen: Er darf nicht ein eigenes Interesse verfolgen, muß gut informiert sein und alle moralisch, politisch und empirisch relevanten Faktoren umfassend abwägen. Auch Eisenberg unterstellt diesem »Gesetzgeber«, daß er Fairneßargumente mit utilitaristisch-ökonomischen Prinzipien kombinieren würde. Den Vertretern dieser Kompromißlösungen kann man Beliebigkeit vorhalten: Wenn die Auswahl des jeweils anzuwendenden normativen Maßstabs einem »idealen Gesetzgeber« ergebnisoffen aufgetragen wird, verlagert man die Frage nach der normativen Grundlage des Rechts lediglich, entscheidet sie aber nicht. Diese Art der Kombination trifft darüber hinaus ein ganz grundlegender Einwand, der anhand einer Extrem-Version dieser Theorien, der Topik, erläutert werden soll. Der Archetypus der Kombinationstheorie ist Theodor Viehwegs Topik und Jurisprudenz. Ausgangspunkt bei diesem Ansatz ist das juristische Problem selbst, das sodann anhand einer »nichtsystematisierten Vielfalt von Gesichtspunkten«, »Leitsätze« oder »Topoi« in den Griff zu bekommen sei.66 Nach Viehwegs Ansicht ist jegliches Streben nach Systematisierung der Topoi zum Scheitern verurteilt. Jurisprudenz sei, wie die Erfahrung der täglichen juristischen Arbeit zeige, »nicht systematisierbar«.67 Axiome, die sich an »die Spitze der ganzen Disziplin« oder auch nur Teilen derselben stellen ließen, könnten nicht gefunden werden.68 Aufgabe der Rechtswissenschaft sei lediglich, für die Problemlösung relevante Gesichtspunkte »zu sammeln« und in Katalogen zusammenzufassen.69 Viehwegs Theorie zeigt die Problematik der Kombinationstheorien in aller Schärfe auf. Der große Nutzen solcher Topoikataloge und der dazu gehörenden Argumentationskunst soll hier jedoch nicht in Abrede gestellt werden. Auch der Verbreitungsgrad dieser pragmatischen Methode in der Rechtsgeschichte ist bei Viehweg überzeugend nachgezeichnet. Jedoch geht die geradezu ideologische Verweigerung gegenüber Systematisierung einen Schritt zu weit. Sie schätzt zudem die Bemühungen um Systematik zumindest der Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts zu gering. Die Sammlung von Gesichtspunkten ohne theoretische Durchdringung verkommt eben notwendigerweise zum »allesbeherrschenden, einseitigen Soziologismus«,70 gegen den sich Viehweg (vergeblich) verwahrt.71 Die ungeordnete eklektische »Kombination« der Leitsätze ist zudem in sich widersprüchlich, soweit die unterschiedlichen »Gesichtspunkte« Theorien entstam66
Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 75. Viehweg Fn. 66, S. 74. 68 Viehweg Fn. 66, S. 74. 69 Viehweg Fn. 66, S. 34ff. 70 Viehweg Fn. 66, S. 68. 71 S. bereits die Einwände bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff der Jurisprudenz, S. 138. 67
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§ 1 Vertragstheorie
men, die den Anspruch von Ausschließlichkeit erheben, wenn also die Gesichtspunkte auf konträren Annahmen beruhen. Der Vorwurf des Widerspruchs in den Prämissen trifft nur dann nicht, wenn solche hybridartigen Theorien Meta-Regeln mit einschließen, die festlegen, wann ein Fairneßmaßstab und wann ein Effizienzmaßstab anzuwenden ist.72 Dies ist nur möglich, wenn man die relevanten Gesichtspunkte »systematisiert« und somit eine einheitlich-kohärente Theorie schafft. Ein anschauliches Beispiel für den Ausschließlichkeitsanspruch konsequentialistischer Ansätze ist die Studie von Kaplow und Shavell.73 Ihre Mahnung lautet, daß man sich zwischen Fairneß oder Effizienz entscheiden müsse. Fairneß könne man aber guten Gewissens nicht befürworten, denn dann würde man in Kauf nehmen, daß es allen schlechter geht, was offensichtlich niemand wollen könne.74 Fairneßregeln werden nur als tatsächlich geltend hingenommen, in ihrem Anspruch auf unbedingte Geltung aber nicht ernst genommen. Die Tatsache, daß vielerorts mit Fairneß argumentiert werde, sei nur ein scheinbares Indiz für die Überlegenheit des Fairneßmaßstabs. Denn diese angeblichen Fairneßregeln seien in Wahrheit lediglich aus der Erfahrung gewonnene Faustregeln für Regeln, die im Ergebnis ihrer Anwendung mehrheitlich den Gesamtnutzen steigern.75 Kant würde dieser Theorie durchaus zustimmen, wenn denn ihre Grundannahme zuträfe: »Wenn die Sittenlehre nichts als Glückseligkeitslehre wäre, so würde es ungereimt sein, zum Behuf derselben sich nach Prinzipien a priori umzusehen. Denn so scheinbar es immer auch lauten mag: daß die Vernunft noch vor der Erfahrung einsehen könne, durch welche Mittel man zum dauerhaften Genuß wahrer Freuden des Lebens gelangen könne, so ist doch alles, was man darüber a priori lehrt, entweder tautologisch, oder ganz grundlos angenommen. Nur die Erfahrung kann lehren, was uns Freude bringe.«76
In einer Entgegnung auf seine Kritiker gesteht Kant also durchaus zu, daß ein komparativ besserer Zustand, den eine Person anderen Zuständen derselben Art vorzieht, im Bereich der Glückseligkeit als ein Gut anzuerkennen sei.77 Kants praktische Philosophie hält diese nur komparativ besseren Zustände jedoch für grundsätzlich unerheblich für die moralische Qualität einer Handlung: »Derjenige Zustand aber, da ich im Falle der Kollision gewisser meiner Zwecke mit dem moralischen Gesetze der Pflicht diese vorzuziehen mir bewußt bin, ist nicht bloß ein besserer, sondern der allein an sich gute Zustand: ein Gutes aus einem ganz anderen Felde (...)«.78 72
Darauf weist Craswell 32 J. Legal Stud. 245, 273 (2003), hin. Abgedruckt u.a. in 114 Harv. L. Rev. 961 (2001). 74 Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961, 1381 (2001). Dabei wird ein Pareto-Maßstab angewendet. Beachte aber Craswell 32 J. Legal Stud. 245 (2003), der zu Bedenken gibt, daß es sehr wenige Regeln gibt, die Pareto-effizient sind. S. näher § 5 II.1. unten. 75 Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961, 1383 (2001). 76 Kant, MS, AA VI, S. 215. 77 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 283. 78 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 283. 73
VI. Vertragstheorie und Leistungsstörungsrecht
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Und für das Verhältnis von Fairneß und Effizienz fällt das Urteil Kants nicht weniger eindeutig aus als die entgegengesetzte These von Kaplow und Shavell: »[Z]uerst muß ich sicher sein, daß ich meiner Pflicht nicht zuwider handle; nachher allererst ist es mir erlaubt, mich nach Glückseligkeit umzusehen«.79
Der apriorische Pflichtbegriff tauge sehr wohl auch für die Praxis, denn, da er nur die Form der Handlung betrifft, ermöglicht er ein klares Urteil über die Richtigkeit der Handlung.80 Demgegenüber »schwanke« derjenige, der Glückseligkeit anstrebt, zwischen seinen Triebfedern, »(...) denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen.«81
Es ist daher nicht weiter überraschend, daß Kant für den utilitaristischen »Beweis« des Prinzips pacta sunt servanda nur wenig Verständnis aufbringt: Ein solches Unterfangen, für das man heute die ökonomische Analyse einsetzen könnte, sei eine »mühselige und doch immer vergebliche Bestrebung der Rechtsforscher«.82 Für ihn ist Sittenlehre eben nicht eine aus der Erfahrung zu beurteilende Glückseligkeitslehre. Noch deutlicher verwirft Kant aus der Erfahrung gewonnene Rechtsbegriffe in folgender berühmter Passage: »Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.«83
An dieser Stelle soll noch keine Entscheidung zwischen der Relevanz hypothetischer oder kategorischer Urteile für die Rechtswissenschaft getroffen werden.84 Die vorgehenden Überlegungen haben jedoch gezeigt, daß die Jurisprudenz als Wissenschaft gar keine andere Wahl hat, als ihre »Topoikataloge« zu systematisieren.
VI. Vertragstheorie und Leistungsstörungsrecht Dogmatik hat, wie geschildert, eine in der Welt der Erfahrung verankerte Grenze. Sie vermag ein, soweit das positive Recht dies zuläßt, kohärentes System von Ver79
Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 283. Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 286. Kant gibt dort das Beispiel eines anvertrauten fremden Gutes, dessen Eigentümer tot ist und dessen Erben keine Kenntnis davon haben. Auf die Frage, ob man es zum eigenen Nutzen verwenden dürfe, wüßte selbst ein achtjähriges Kind eine klare Antwort; was der Glückseligkeit besser dient, ist dagegen Spekulation. 81 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 287. Der Vorwurf der Unbestimmtheit wird freilich mit umgekehrtem Vorzeichen auch von der »Gegenseite« erhoben, s. etwa Craswell 88 Michigan L.Rev. 489 (1989). 82 Kant, MS, AA VI, S. 273. 83 Kant, MS, AA VI, S. 230. 84 S. aber S. 143ff. 80
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§ 1 Vertragstheorie
tragsregeln zu schaffen, doch sie vermag nicht, dieses System zu bewerten. Dafür bedarf es einer Vertragstheorie, die als Teil der praktischen Philosophie einen gleichberechtigten Platz neben der Dogmatik des Vertragsrechts einnimmt. Gute Dogmatik ist, wie bereits in der Einführung angedeutet, immer schon auf mehr oder weniger offen artikulierte Theorie gegründet. Wir finden eine dogmatische Lösung im Vertragsrecht um so überzeugender, je näher sie unseren Annahmen über den tieferen Sinn von Verträgen kommt. Das Vertragsrecht und innerhalb dessen das Leistungsstörungsrecht ist gegenwärtig in besonderem Maße auf eine theoretische Erörterung angewiesen: Die Schuldrechtsreform hat einen grundlegenden Wechsel mit sich gebracht, der vielen überkommenen dogmatischen Argumentationsmustern buchstäblich den Boden unter den Füßen entzogen hat. Das Leistungsstörungsrecht leidet seither unter der Trägheit überholter Dogmatik. Die heftige Debatte zu den Zielen und Mitteln der Reform hat nicht immer klar zwischen dogmatischen Argumenten und theoretischen Aussagen zum Schuldrecht unterschieden. Die ersteren wären nur begrenzt überzeugend, während die letzteren Argumente wandlungsresistent sind. Ein aus dem positiven Recht gewonnenes Argument versagt definitionsgemäß, wenn ein System geändert wird oder wenn es, etwa im Rahmen der Vorarbeiten zu einer supranationalen Vereinheitlichung, mit anderen verglichen werden soll. Beide Phänomene lassen sich im Leistungsstörungsrecht zur Zeit beobachten. Die Grundannahmen des Vertragsrechts zu formulieren, soll vorliegend dazu dienen, einen vom positiven Recht unabhängigen Maßstab für die Güte des »modernisierten« Schuldrechts zu entwickeln. Meine eigene Vertragstheorie werde ich, soweit dies für das Leistungsstörungsrecht erforderlich ist, in den folgenden Kapiteln entwickeln. Es handelt sich dabei zunächst um eine Einheitstheorie, die, in der Kaplowschen Terminologie, eine »Kollisionsregel« zugunsten der Fairneß vorsieht. Allerdings wird der ökonomischen Analyse ein durchaus berechtigtes Anliegen zugestanden. Sie vermag dazu dienen, in näher zu bestimmenden Umständen, die Interessen der Parteien nachzuvollziehen. Im Vertragsrecht sind diese Analysen für die Bestimmung des Inhalts des Vertrages relevant. Folgenabhängige Elemente der Begründung werden jedoch nur dann eingeführt, wenn dies mit dem Schutz subjektiver Rechte vereinbar ist. Der Ausschließlichkeitsanspruch der ökonomischen Analyse wird daher in fundamentaler Weise verletzt. Abschließend bleibt nur die Fruchtbarkeit des theoretischen Ansatzes für einen bislang noch nicht eingeführten, aber wesentlichen Aspekt rechtswissenschaftlicher Forschung zu veranschaulichen, den der Rechtsvergleichung.
VII. Vertragstheorie und Rechtsvergleichung
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VII. Vertragstheorie und Rechtsvergleichung 1. Provinzialität und universeller Charakter der Jurisprudenz Das Vertragsrecht ist auf europäischer und auch internationaler Ebene in das Zentrum der Aufmerksamkeit derer gerückt, die eine Harmonisierung politisch wie wirtschaftlich für geboten halten. Der anspruchsvolle Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, mit dessen Umsetzung bereits in den nächsten Jahren zu rechnen ist, verheißt einen umfassenden Katalog an zusammenhängenden Regeln des Vertragsrechts.85 Auch wenn dies noch kein umfassendes Vertragsgesetzbuch sein soll, so ist angesichts der durchaus ehrgeizigen Ziele zu erwarten, daß das nationale Vertragsrecht weiter zurück gedrängt wird, sei es auch nur deswegen, weil das bestehende Richtlinienrecht konsolidiert wird.86 Ein umfassendes Zivilgesetzbuch wird jedoch in absehbarer Zeit nicht geschaffen werden. Der Verlust der formellen im römischen Recht begründeten Gemeinschaft der europäischen Rechtswissenschaft wird also fortwirken. Eine erneute formelle Gemeinschaft wird auch in Zukunft nur in Teilbereichen bestehen,87 während im übrigen die (reichhaltigen) nationalen Traditionen vorherrschen. Es ist in dieser Geschichtlichkeit des Rechts angelegt, daß ihm damit im Bereich juristischer Dogmatik zwangsläufig Provinzialität zukommt.88 Der universelle Charakter der Rechtswissenschaft ist ein Ideal. Vornehmlich durch vergleichende Jurisprudenz kann man sich ihm annähern. Von dieser Perspektive aus ist Rechtsvergleichung keine eigenständige Disziplin, sondern Teil einer gemeinsamen Aufgabe aller Rechtswissenschaftler,89 ob sie nun primär im nationalen Recht tätig sind, oder in den Bereichen, in denen Rechtsvergleichung ohnehin zum notwendigen Rüstzeug gehört.90 Freilich zeugt die bisherige Bilanz, was die Rolle der Rechtsvergleichung in der (deutschen) gerichtlichen Praxis außerhalb dieser Bereiche angeht, nicht von einer Erfolgsgeschichte.91 Daraus den Schluß zu ziehen, die Rechtsvergleichung wäre in ihrer Bedeutung für das natio85 KOM(2001) 398 endg.; vgl. KOM(2003) 68 endg.; KOM(2004) 651 endg. Dazu etwa von Bar/Schulte-Nölke ZRP 2005, 165. Die Bezeichnung »Gemeinsamer Referenzrahmen« wurde für dieses Projekt gewählt. 86 Zu den Angleichungsmechanismen s. den Überblick bei Franzen, Privatrechtsangleichung, passim. 87 Umfassende Darstellung bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 237ff. 88 Canaris in Leser/Isomura (Hrsg.), Festschrift für Zentaro Kitagawa, S. 59, 92f. 89 Gordley 46 Am.J.Comp.L. 607 (1998). 90 Zu den Bereichen, in denen Rechtsvergleichung als Methode notwendig eingesetzt werden muß, gehören das Internationale Privat- und Verfahrensrecht, die Methode der Rechtsschöpfung und Anwendung auf Europäischer Ebene, sowie wegen der Notwendigkeit einheitlicher Auslegung von Einheitsrecht auch dieses. 91 Im einzelnen Unberath in Canivet/Andenas/Fairgrieve (Hrsg.), Comparative Law before the Courts, S. 307ff.
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nale Recht gescheitert, wäre jedoch verkehrt. Vielmehr ist dies eine Herausforderung für die, die Rechtvergleichung betreiben, sich stärker auf die nationale Perspektive einzulassen, das rechtsvergleichende Argument in eine für die Dogmatik des nationalen Rechts verständliche und brauchbare Form zu bringen und dem nationalen Recht etwas zu seinem Vorteil anzubieten.92 Dies ist der integrative Ansatz, Rechtsvergleichung zu praktizieren. Welche Gründe sind es nun, die eine solche Entwicklung begünstigen? Der erste Grund für Rechtsvergleichung ist pragmatisch-politischer Natur. Wer einen ausschließlich dogmatischen Ansatz verfolgt, läuft derzeit im Anwendungsbereich der geplanten Maßnahmen Gefahr, daß die Ergebnisse der Arbeit nicht in dem Maße ein Echo finden, wie es bei einer rein national orientierten Rechtswissenschaft der Fall wäre. Dies hatte auch der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes erkannt, wenn er beabsichtigte, das deutsche Recht attraktiv zu gestalten für diesen Wettbewerb um die beste Lösung schuldrechtlicher Probleme.93 Es besteht nicht nur die Möglichkeit, daß bestimmte nationale Lösungen durch Einheitsrecht abgelöst werden, sondern umgekehrt die Gefahr, daß der Wert der nationalen Lösung bei der Schaffung von Einheitsrecht schon gar nicht erkannt wird, weil die Rechtswissenschaft einer Erweiterung der dogmatischen Methode in theoretischer und rechtsvergleichender Hinsicht skeptisch gegenüber steht. Es kommt ein weiterer Grund hinzu. Es ist in der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz selbst angelegt, daß sie nationale Grenzen zu übersteigen vermag. In den Worten Rudolph von Jherings: »Die formelle Einheit der Wissenschaft, wie sie einst durch die Gemeinsamkeit eines und desselben Gesetzbuches für den größten Teil Europas gegeben war, jenes Zusammenarbeiten der Jurisprudenz der verschiedensten Länder an demselben Stoff und derselben Aufgabe ist mit der formellen Gemeinschaft des Rechts für immer dahin; die Wissenschaft ist zur Landesjurisprudenz degradiert, die wissenschaftlichen Grenzen fallen in der Jurisprudenz mit den politischen zusammen. Eine demütigende, unwürdige Form für eine Wissenschaft! Aber es hängt nur von ihr selber ab, jene Schranken zu überspringen und den Charakter der Universalität, den sie so lange besaß, in einer anderen Form als vergleichende Jurisprudenz sich für alle Zeiten zu sichern. Ihre Methode wird eine andere, ihr Blick ein weiterer, ihr Urteil ein reineres, ihre Behandlung des Stoffes eine freiere werden, und so wird der scheinbare Verlust in der Tat zu ihrem wahren Heile ausschlagen, sie auf eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Tätigkeit erheben.«94
92 Markesinis, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, S. 35; Gordley 46 Am.J.Comp.L. 607, 615 (1998): »The best cure is to see ourselves as participants in a joint enterprise in which our task is to give them something they can use.« (Zum Verhältnis der Rechtsvergleicher zu den national orientierten Juristen.) Für eine Illustration dieses integrativen rechtsvergleichenden Ansatzes aus der Rechtsgeschäftslehre Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 387ff., 445ff. 93 Dazu Lorenz, Neues Leistungsstörungs- und Kaufrecht, eine Zwischenbilanz, S. 31ff. 94 Jhering, Vom Geist des römischen Rechts, Bd. 1, S. 14f.
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Jherings Plädoyer für die Rechtsvergleichung ist eine Konsequenz aus der Einheit von Dogmatik, Philosophie und Geschichte, die er für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz einfordert. In dieser Passage liegt somit, anders als es vielleicht den Anschein haben mag, keine Forderung nach Abkehr von Dogmatik sondern im Gegenteil, deren Absicherung von einem externen Standpunkt aus, sei dies die Rechtsgeschichte oder der theoretische Ansatz der Philosophie. Geschichte und Philosophie können die nationale Dogmatik nicht ersetzen. Ohne dogmatische Methode wären sie blind hinsichtlich ihres ureigensten Gegenstands, nämlich den jederzeit gegebenen, also wirklich bestehenden Regeln eines Rechtssystems. Rechtswissenschaft ist eine praktische Wissenschaft. Praxis setzt zwingend die Positivierung des Rechts voraus und dessen Anwendung durch den Richter auf den konkreten Einzelfall: Erst im Rechtszustand der bürgerlichen Verfassung erhalten die Rechte einer Person Notwendigkeit.95
2. Theorie und Methode der Rechtsvergleichung Vertragstheorie ermöglicht die Vergleichbarkeit über die Grenzen der Dogmatik hinaus. Nur sie bietet einen vom positiven Recht unabhängigen Maßstab für die Güte von Vertragsregeln an, auf dessen Grundlage die verschiedenen Systeme auf sinnvolle Weise verglichen werden können.96 Hierin vor allem liegt der Gewinn an Wissenschaftlichkeit, den sich Jhering von der rechtsvergleichenden Methode erhofft. Für die Methode der Rechtsvergleichung hat sich weitgehend die von Konrad Zweigert und Hein Kötz begründete sogenannte »funktionale Methode der Rechtsvergleichung«97 durchgesetzt. Eine ihrer Hauptforderungen ist, daß von national geprägten Systembegriffen abzusehen sei und statt dessen die Funktion einer Problemlösung in den Vordergrund treten sollte. Diese funktionale Methode bedarf jedoch der Korrektur und Ergänzung, um sie für die eben beschriebene Aufgabe der Universalisierung operabel zu machen. Claus-Wilhelm Canaris ist darin zuzustimmen, wenn er einwendet, daß eine dogmatische »Reinigung« als Voraussetzung eines Vergleichs methodisch unbefriedigend ist:98 Befreit man ein juristisches Problem von allen nationalen »Systembegriffen«, so bleibt zunächst nur die rein empirische Beschreibung eines Lebenssachverhalts. In der Tat scheinen manche Formulierungen von Zweigert und Kötz darauf hinzudeutet, daß eine solche »Reinigung« angestrebt wird.99 95
Kant, MS, AA VI, § 41, S. 305f. Näher S. 33ff. Dies gilt für alle in diesem Kapitel vorgestellten Theorien, für interpretative Theorien jedoch nur mit Einschränkungen, weil sie die Grundannahmen des Vertragsrechts eben nicht unabhängig von ihrer Ausgestaltung im positiven Recht formulieren. Einen ähnlichen Ansatz von Rechtsvergleichung vertritt Valcke 52 Am. J. Comp. L. 713 (2004). 97 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 3 II, S. 33–35. 98 Canaris Fn. 88, S. 83. 99 S. etwa Zweigert/Kötz Fn. 97, S. 33: »Angelpunkt jeder Rechtsvergleichung ist stets das konkrete Sachproblem.« 96
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Mit dem Ausmerzen »juristisch-dogmatischer Vorurteile« allein wäre aber nichts gewonnen, im Gegenteil, der normative Gehalt juristischer Sätze würde ersatzlos verloren gehen. Rechtsvergleichung wäre bei dieser Radikalreinigung nur als soziologische Methode interessant. Dies dürfte letztlich nicht der Vorschlag von Zweigert und Kötz sein. Sie setzen an die Stelle des positiven Rechts, von dessen Begriffen abgesehen werden soll, die »Funktion« einer bestimmten »Problemlösung«.100 Dieser Ansatz bleibt, und insofern bedarf er der Ergänzung, eine inhaltliche Bestimmung dieses denknotwenig außer- oder über-positiven Maßstabs schuldig.101 Dies läßt sich an den von Zweigert und Kötz als Beispiel angeführten Sätzen zeigen. So heißt es etwa, man solle nicht nach »Vor- und Nacherbschaft« fragen, »(s)ondern man sucht zu ermitteln, auf welche Weise das ausländische Recht dem Bedürfnis seiner Erblasser nach langfristiger Nachlaßbindung Rechnung trägt.«102 Soll dieser Satz keine Systembegriffe des positiven Rechts enthalten und zugleich nicht frei von jeglichem normativen Gehalt sein, so setzt er ein außer-positives Verständnis von Erbschaft (»Erblasser«, »Nachlaß«) voraus,103 um sinnvoll zu sein. Ein solches Verständnis kann jedoch nur juristische Theorie liefern. Der Hinweis auf »Interessen«104 mag zwar die Richtung dieser Theorie andeuten,105 für eine vollständige Methode der Rechtsvergleichung bleibt dieser »funktionale« Ansatz aber erstaunlich ambivalent, was, positiv formuliert, eine große Kompatibilität mit den verschiedensten theoretischen Ansätzen zur Folge hat und vermutlich den großen Erfolg der »funktionalen Methode« erklärt. Die funktionale Methode enthält also einen zutreffenden Kern: mit Dogmatik allein ist der Rechtsvergleichung nicht gedient. Im übrigen ist diese Methode jedoch zu radikal, in dem sie eine völlige Abkehr von der Dogmatik fordert, und zugleich zu wenig konsequent, weil sie eine theoretische Fundierung des Dogmatiksurrogats, der »Funktion« einer »Problemlösung«, schuldig bleibt. Dogmatik ist jedoch zur Erfassung des Gegenstands der Rechtsvergleichung des ausländischen, notwendig positiven Rechts unerläßlich. Für den Vergleich sind ihre Grenzen freilich zu sprengen. Dies geschieht im wesentlichen durch Rechtsphilosophie. Gegenstand der Rechtsvergleichung sind zwar nicht von Dogmatik bereinigte, aber dennoch theoretisch-historisch aufbereitete Lösungen konkreter Sachprobleme. Ein nicht näher bestimmter Maßstab von »Funktionalität« ist als Kriterium für die Rationalität einer juristischen Sachlösung nicht entwickelt ge100
Zweigert/Kötz Fn. 97, S. 33. Zweigert/Kötz Fn. 97, S. 34, beschreibt als »positive« Seite den äußeren Aspekt der Rechtsquellen. 102 Zweigert/Kötz Fn. 97, S. 33. 103 Ein solches findet sich etwa bei Kant, MS, AA VI, § 34, S. 293; Savigny, System, Bd. 1, § 57, S. 380ff. 104 Zweigert/Kötz Fn. 97, S. 33. 105 Als teleologische Theorie, dazu S. 89ff. 101
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nug, um der Rechtsvergleichung ein gegenüber der Philosophie und Geschichte eigenständiges Gebiet zu sichern.
3. Ziel der Rechtsvergleichung in der vorliegenden Untersuchung Um auf den pragmatisch-politischen Aspekt der Rechtsvergleichung zurück zu kommen und ihn aus der Perspektive des deutschen Rechts zu formulieren:106 Wenn das deutsche Recht eine attraktive Lösung anbieten soll, so wird es notwendig sein, mit Hilfe von Dogmatik zunächst ein möglichst widerspruchsfreies System zu schaffen. Dies ist aber nicht hinreichend, denn man wird kaum jemanden allein mit dem Argument überzeugen können, daß das deutsche Recht in sich stimmig ist. Es muß auch sonst stimmen, also materiell richtig sein. Dies kann nur vom Standpunkt der Vertragstheorie beurteilt werden. Als dogmatischer Bezugspunkt der Vertragstheorie dient dieser Arbeit damit in erster Linie das deutsche Recht. Das positive Recht kennt jedoch einen beträchtlichen Spielraum bei der Bewältigung von juristischen Problemen. Die Vorzüge oder Nachteile einer bestimmten Lösung mögen oft erst unter Abwägung von zwei – aus der Sicht der Vertragstheorie zunächst gleichwertigen – Problemlösungen zu Tage treten. Hierin liegt das große Potential der Rechtsvergleichung. Darauf weist Canaris selbst hin, wenn er als Beispiel einer spezifisch deutschen »Erfindung« das Trennungsprinzip anführt:107 Auch wenn dieses zu den apriorischen Grundlagen des Privatrechts zu zählen ist, räumt er ein, muß das positive Recht sich diese Möglichkeit des dinglichen Vertrages nicht zunutze machen, sondern kann die entstehenden Sachprobleme im Kontext der jeweiligen schuldrechtlichen Fragestellung lösen. Beide Wege sind mit den theoretischen Grundlagen vereinbar, nur ist im Rechtsvergleich das Trennungsprinzip in vielerlei Hinsicht die elegantere und klarere Lösung.108 Die Seltenheit dieser Lösung spielt natürlich keine Rolle, da es nicht darum geht, der quantitativ häufigsten Lösung international zum Durchbruch zu verhelfen, sondern die qualitativ beste Antwort auf ein juristisches Problem zu finden. Auch in dieser Hinsicht besteht daher nicht der befürchtete Gegensatz von Rechtsvergleichung und Dogmatik – beide Disziplinen ergänzen sich. Gewissermaßen als Gegenpart zum deutschen Recht fungieren in dieser Untersuchung die Regeln des common law. Die bemerkenswerten Unterschiede109 in Dogmatik, Methode und Stil zwischen den beiden Systemen sind von der Rechtsvergleichung immer schon als Herausforderung empfunden worden. Eine gemeinsame Sprache für civil und common law zu finden, ist aber auch im Hinblick 106 Die Frage, ob es sinnvoll ist, das Vertragsrecht zu vereinheitlichen, muß dagegen an dieser Stelle offenbleiben. Dafür etwa Basedow ZEuP 2004, 1 107 Canaris Fn. 98, S. 84ff. 108 Näher Markesinis/Unberath/Johnston, The German Law of Contract, S. 27ff. 109 Vgl. etwa Samuel ZEuP 1995, 375; Markesinis/Unberath, The German Law of Torts, S. 8ff.
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auf eine sinnvolle Vereinheitlichung des Rechts die erste Voraussetzung. Die Umsetzung der Kaufrechtsrichtlinie belegt genau dies110 und zeigt darüber hinaus, daß eine abgestimmte Vorgehensweise selbst bei isolierten Harmonisierungsbestrebungen vonnöten ist.111 Die vorliegende Untersuchung bezieht darüber hinaus solche Projekte mit ein, die bereits gegenwärtig einen Kompromiß oder Ausgleich zwischen den beiden Systemen versuchen. Dies trifft natürlich auf das in der Praxis langjährig erfolgreich erprobte UN-Kaufrecht (nachfolgend »CISG«)112 zu, aber auch auf die Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (nachfolgend abgekürzt »PECL«)113 sowie die Grundregeln der Internationalen Handelsverträge (nachfolgend abgekürzt »PICC«).114 Die Berücksichtigung der beiden letzteren ist begründungsbedürftig, da den Grundregeln keinerlei Verbindlichkeit in Deutschland oder in einem anderen Rechtssystem zukommt; für ihre Einbeziehung spricht aber, daß sie als erster umfassender Versuch angesehen werden können, nach dem Vorbild der amerikanischen Restatements115 für das europäische Vertragsrecht bzw. internationale Handelsverträge systemübergreifende Grundregeln zu formulieren.116 110 Arnold/Unberath ZEuP 2004, 366, 377, 384. Dogmatische Brüche resultieren insbesondere aus der Haftung auf Erfüllung. Die fehlende Abstimmung zwischen Richtlinie und den herkömmlichen remedies des englischen Rechts hat zu einer höchst unübersichtlichen Rechtslage geführt. Von einer »Harmonisierung« dieses Teilbereichs kann daher keine Rede sein, allenfalls von einer partiellen zufälligen Übereinstimmung der Käuferrechte. 111 Zur Abrundung und Klarstellung wird gelegentlich auf andere Rechtsordnungen Bezug zu nehmen sein, um den Eindruck zu vermeiden, daß das civil law en block dem common law gegenüber gestellt werden könnte. Allerdings sind die Unterschiede hier weniger grundlegend und betreffen, von Einzelfragen abgesehen, eher Nuancen der Differenzierung, wie sie etwa auch im Vergleich der englischen zur US-amerikanischen Variante des common law beobachtet werden können. 112 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods (Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf vom 11. 4. 1980), BGBl. 1989 II, S. 588. 113 Zur Zusammensetzung der Kommission und Zwecksetzung der Grundregeln vgl. die von Bar/Zimmermann (Hrsg. der deutschten Ausgabe), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teile I und II, S. XVff., sowie Lando/Clive/Prüm/Zimmermann (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Part III, S. XVff. 114 UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2004. Dazu Bonell Uniform Law Review 2004, 5. 115 Vom American Law Institute herausgegeben, für das Vertragsrecht wurden diese zuletzt 1979 beschlossen: Restatement of the Law (Second) Contracts. 116 Deren Relevanz läßt sich auch daran erkennen, daß auch der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes auf diese Regeln zur Abgrenzung oder Erläuterung der deutschen Vorschriften zurück gegriffen hat (s. die Begründung des Regierungsentwurfs, Bundestags-Drucksache 14/6040, passim; sowie Canaris JZ 2001, 499ff.). Von den zahlreichen weiteren Projekten, einheitliche Lösungen aufzuzeigen oder vorzuschlagen, sind vor allem die Einzelstudien der von Christian von Bar geleiteten Study Group on a European Civil Code zu nennen, die sich als unmittelbare Vorarbeit für ein Europäisches Zivilgesetzbuch verstehen. Zu nennen wären weiter etwa das Common Core Projekt (Initiatoren: Ugo Mattei und Mauro Bussani), die sog. »Acquis Gruppe« (Koordinator: Hans Schulte-Nölke), und die Akademie Europäischer Privat-
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Die Ergebnisse der Arbeit sollen an dieser Stelle nicht vorweg genommen werden. Nur eines kann bereits hier festgestellt werden. Das common law beruht trotz der vielfältigen Unterschiede dennoch auf denselben Grundlagen wie das civil law. Diese These ist entgegen der häufig anzutreffenden Behauptung von der »noble isolation«117 des englischen Rechts naheliegend, wenn man die historische Entwicklung des englischen Rechts nachverfolgt und die vielfältigen Einflüsse vom Kontinent in den Blick nimmt.118 Aber entspricht unabhängig von den historischen Gegebenheiten auch die heutige Substanz des common law den Grundannahmen des civil law? Ein erster Verdacht, daß dem so ist, entsteht, wenn man sieht, daß sich die theoretisch interessierten anglo-amerikanischen Autoren soweit sie nicht ökonomische Analysen vornehmen, fast durchweg auf kontinentaleuropäische Philosophen berufen und das moderne common law mit Hilfe von Theorien erklären, die ihrerseits das Fundament des civil law bilden.119 Viele anglo-amerikanische Autoren bauen an dieser Brücke zum civil law. Die dabei angewendete Methode ist die der Vertragstheorie.
rechtswissenschaftler (Initiator: Giuseppe Gandolfi). Ein Überblick findet sich z.B. bei Wurmnest ZEuP 2003, 714. 117 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 35. 118 Dazu Zimmermann ZEuP 1993, 4; Stein ZEuP 1997, 385; Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, S. 232ff. 119 Im einzelnen unten § 3 und § 4, Ernest Weinrib, Charles Fried, Peter Benson, James Gordley um nur einige zu nennen.
§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants Immanuel Kants Rechtsphilosophie ist eine »Philosophie des subjektiven Rechts«.1 Der rechtliche Zustand der bürgerlichen Verfassung (status civilis) hat nur einen Zweck: Die Rechte der Staatsbürger untereinander, die im vorrechtlichen Zustand provisorisch bestanden, dauerhaft zu sichern.2 Im Wege austeilender Gerechtigkeit garantiert der Staat die Rechte der Staatsbürger nur;3 er gewährt sie ihnen nicht, »denn man kann niemandem etwas geben, was er schon hat«.4 Es ist vor allem dieser Aspekt der Philosophie Kants, der sie in der Diskussion um die Grundlagen des modernen Privatrechts nach wie vor eine herausragende Stellung einnehmen läßt. Zunächst werden die apriorischen Grundlagen des Privatrechts bei Kant näher erläutert, um in einem zweiten Abschnitt das Besondere dieser Theorie durch einen Vergleich mit alternativen naturrechtlichen Ansätzen herauszuarbeiten und ihren Einfluß auf die nachfolgende Pandektenwissenschaft zu untersuchen. Ein paar klärende Worte zum Begriff »subjektives Recht« sind an dieser Stelle vonnöten.5 Kant selbst verwendet den Ausdruck »subjektives Recht« nicht. Er benutzt zwar die Wörter »erworbenes Recht« zusammenfassend für Sachen-, persönliches und dinglich-persönliches Recht, es fehlt aber ein Oberbegriff für erworbenes und angeborenes Recht. Die Rechte einer Person beinhalten einen jeweils näher definierten Ausschnitt aus der äußeren Welt, in der eine Person von der Herrschaft anderer Personen unabhängig ist – eine Sphäre der Selbstbestimmung, wenn man so will. Ohne den Begriff in der Sache zu verfälschen, kann »subjektives Recht« daher mit Friedrich Carl von Savigny als eine der einzelnen Person zustehende Macht bezeichnet werden, mittels ihres Willens über ein bestimmtes Gebiet der äußeren Welt zu herrschen.6 Nun stören sich Personen gegenseitig in ihrer Herrschaft über die unfreie Natur, denn der zur Verfügung stehende Raum ist endlich. Daraus entsteht bei Kant, ihm folgend Gustav Hugo und 1
Hruschka JZ 2004, 1085. Kant, MS, AA VI, § 15, S. 264. 3 Kant, MS, AA VI, S. 307, 313 u.ö. 4 Kant, MS, AA VI, S. 237. 5 An dieser Stelle kann ich der langen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Begriff vor allem im öffentlichen Recht nicht gerecht werden, sondern möchte lediglich seine Verwendung im vorliegenden Kapitel erhellen. 6 Savigny, System, Bd. 1, § 4, S. 6. 2
I. Das Privatrecht in Kants Metaphysik der Sitten
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schließlich Savigny die Begrenzung der Freiheitssphären durch das allgemeine Gesetz. Das »objektive Recht« ist die Summe der allgemeinen Regeln, die die subjektiven Rechte gegeneinander abgrenzen und schützen.7
I. Das Privatrecht in Kants Metaphysik der Sitten 1. Das angeborene Freiheitsrecht Kant entwickelt seine Rechtslehre aus der Überlegung heraus, daß, da die Welt nicht unendlich groß ist, die auf ihr lebenden Personen interagieren müssen. Dabei hat jede Person als Person einen Anspruch auf größtmögliche Freiheit. Die Grenze liegt dort, wo die Ausübung der Willkür einer Person nicht mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar ist. Die Begriffe der Willkür und Freiheit sind zentral für das Verständnis der Rechtslehre Kants. Die Willkür ist ein Vermögen, etwas nach Belieben zu tun oder zu lassen.8 Der Bestimmungsgrund einer Handlung liegt, wenn von Willkür die Rede ist, in der Person und nicht im Objekt, das durch die Handlung hervorgebracht wird. Wenn der Bestimmungsgrund in den Neigungen, also sinnlichen Antrieben, liegt, so ist der Mensch naturgesetzlich bestimmt (»tierische Willkür«).9 Zu dieser zählt auch das Handeln nach Klugheitsregeln, also das Fördern der eigenen Glückseligkeit. Dem stellt Kant die Bestimmung der Willkür durch (reine praktische) Vernunft des Subjekts gegenüber. Wenn eine Person nach Gesetzen der reinen praktischen Vernunft und nicht bloß nach Klugheitsregeln handelt, so liegt der Bestimmungsgrund der Willkür im Willen (»freie Willkür«).10 Die beiden Begriffe von Willkür entsprechen zwei unterschiedlichen Standpunkten, die für die gesamte Philosophie Kants grundlegend sind: dem der phänomenalen Welt, in der Naturgesetze und naturgesetzliche Kausalität herrschen, und dem der noumenalen Welt, in der die Handlungen des Menschen als Person durch reine praktische Vernunft bestimmt werden.11 Der Freiheitsbegriff, der in der Metaphysik der Sitten zugrunde gelegt wird, knüpft an die beiden Bedeutungen von Willkür an. Die negative Freiheit besteht in der Unabhängigkeit der Bestimmung der Willkür durch sinnliche Antriebe.12 Der Begriff der Freiheit der Willkür als »Freiheit von« Bestimmung durch Antriebe der Sinnenwelt ist negativ, weil er nichts darüber besagt, was die Willkür statt dessen bestimmt. Den Bestimmungsgrund der Willkür, soweit er nicht der 7
Savigny, System, Bd. 1, § 5, S. 9ff. Näher S. 62ff. Kant, MS, AA VI, S. 213. 9 Kant, MS, AA VI, S. 213. 10 Kant, MS, AA VI, S. 226. 11 Vgl. etwa Cooke 41 Review of Metaphysics 739, 744 (1988); Hruschka ARSP 2002, 463, 465f. 12 Kant, MS, AA VI, S. 213. 8
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
Sinnenwelt entstammt, enthält die positive Freiheit. Sie besagt, was unabhängig von allen empirischen Bedingungen und sinnlichen Antrieben die Willkür bestimmen soll und bedeutet für Kant »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein«.13 Von positiver Freiheit kann dann gesprochen werden, wenn der Gebrauch der Willkür mit der reinen praktischen Vernunft übereinstimmt. Der Gebrauch der Willkür hat einen inneren und einen äußeren Aspekt. Dementsprechend hat auch die negative Freiheit zwei Bezugspunkte. Der innere Aspekt bezieht sich auf die Freiheit von Neigungen, also den Phänomenen, die etwa die Psychologie untersucht. Der äußere Aspekt bezieht sich auf die Freiheit von nötigender Willkür anderer. Die Rechtslehre betrifft nur den äußeren Gebrauch der Willkür. Aus welchen Triebfedern jemand – äußerlich – handelt, ist vom Standpunkt der Rechtslehre gleichgültig; es kommt nur auf die »Legalität«, also die Gesetzmäßigkeit der äußeren Handlung an.14 Im Gegensatz dazu hat die Tugendlehre, bei der es um die »Moralität« von Handlungen geht, die Bestimmungsgründe der Handlung zum Gegenstand. Rechtspflichten verlangen also nicht, daß man sie um ihrer selbst willen erfüllt. Das Handeln »aus Pflicht«,15 also das Rechthandeln zur Maxime oder Triebfeder zu machen, ist eine Forderung der Ethik und damit Tugendpflicht.16 Die Einschränkung auf »äußere« Handlungen ist entscheidend, denn Rechtspflichten, die Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen auferlegen, sind durch äußeren Zwang durchsetzbar: »Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.«17
Tugendpflichten sind nicht mit Zwang durchsetzbar; sie beruhen allein auf freiem Selbstzwang.18 Ausgangspunkt der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten ist das allgemeine Prinzip des Rechts: »Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«.19
Dieses allgemeine Prinzip bezieht sich damit, wie Kant wiederholt betont, allein auf den äußeren Gebrauch der Willkür, den äußeren Aspekt der Freiheit. In seiner negativen Bedeutung fordert es die Freiheit von der nötigenden Willkür anderer, und in seiner positiven Bedeutung fordert es die Übereinstimmung der äußeren Handlung mit dem allgemeinen Gesetz. Diese zweifache Bedeutung von Freiheit kehrt in der Formulierung des einzig angeborenen Freiheitsrechts wieder. Dieses 13 14 15 16 17 18 19
Kant, MS, AA VI, S. 214. Kant, MS, AA VI, S. 214. Wie es schon in der Grundlegung, AA IV, S. 401, heißt. Kant, MS, AA VI, S. 219, 231, 383. Kant, MS, AA VI, § D, S. 232. Kant, MS, AA VI, S. 383. Kant, MS, AA VI, S. 231.
I. Das Privatrecht in Kants Metaphysik der Sitten
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angeborene Freiheitsrecht ist das Recht, unabhängig von eines anderen nötigender Willkür zu sein, sofern diese Freiheit mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.«20
Das angeborene Freiheitsrecht fordert negativ die Unabhängigkeit von der Willkür anderer, steht aber von Anfang an unter der Bedingung des allgemeinen Prinzips des Rechts und schließt damit die Übereinstimmung der Form der Willkür mit allgemeinen Gesetzen ein.
2. Die Erweiterung der Freiheit durch das Postulat des Privatrechts Das angeborene »Mein und Dein« ist das, was den individuellen Menschen ausmacht. Kant bezeichnet es als das »innere« Mein und Dein, um es vom »äußeren« Mein und Dein zu unterschieden und zum Ausdruck zu bringen, daß während das erstere angeboren ist, das letztere erworben werden muß.21 Im Hinblick auf das innere Mein und Dein gibt es nur das eben eingeführte angeborene Freiheitsrecht.22 Das moralische Vermögen, äußere Gegenstände der Willkür als etwas äußeres »Meines« zu haben, läßt sich von dem angeborenen Freiheitsrecht nicht ableiten.23 Letzteres umfaßt nur den Schutz der Person selbst. In den Worten Kants enthält es nur »das Recht einer Person in Ansehung ihrer selbst«.24 Daraus lassen sich daher im Hinblick auf äußere Gegenstände der Willkür nur Rechtssätze gewinnen, die letztlich den Schutz des inneren Mein und Dein betreffen. Ein aktuell physischer Besitz einer Sache ist damit zwar gegen Übergriffe anderer geschützt: Kant gibt das Beispiel eines Apfels, der einem aus der Hand gerissen wird, und einer Lagerstätte, von der man weggeschleppt wird.25 Diese Handlungen würden in der Tat die (angeborene) Freiheit von der nötigenden Willkür anderer beeinträchtigen. Wenn die Person den Apfel aber nicht mehr physisch innehat, so ist die Verhinderung der Besitzergreifung anderer aus dem inneren Mein und Dein nicht mehr begründbar. Dasselbe gilt für das verlassene Lager, dessen sich ein anderer bemächtigt. Wenn ein äußeres Mein und Dein nach Absonderung aller Bedingungen des empirischen Besitzes, also a priori, möglich sein soll, so geht dies über das angeborene Freiheitsrecht hinaus.
20 21 22 23 24 25
Kant, MS, AA VI, S. 237. Kant, MS, AA VI, S. 237. Kant, MS, AA VI, S. 237. Kant, MS, AA VI, S. 247. Kant, MS, AA VI, S. 250. Kant, MS, AA VI, S. 248, 250.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
Das Privatrecht in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten steht als erster von zwei Hauptteilen an zentraler Stelle. Es handelt hauptsächlich vom »äußeren Mein und Dein« und dessen Erwerbung. Dies ist neben dem Schutz des »inneren Mein und Dein«, also dem angeborenen Freiheitsrecht, die zweite Säule des Privatrechts.26 Weil das angeborene Freiheitsrecht auf das innere Mein und Dein beschränkt ist, beruht die Möglichkeit von äußerem Mein und Dein auf einer Erweiterung der praktischen Vernunft durch einen »synthetischen Rechtssatz a priori«.27 Damit ist ein Satz gemeint, der keiner weiteren Ableitung fähig ist (»synthetisch«) und unmittelbar in der reinen praktischen Vernunft gründet (»a priori«). Der Rechtssatz in Anbetracht des physischen Besitzes dagegen ist analytisch, also vom angeborenen Freiheitsrecht abgeleitet. Die Möglichkeit eines nicht-empirischen Besitzes der äußeren Gegenstände der Willkür aufzuzeigen, ist der Zweck des Privatrechts in der Rechtslehre. Der Begriff »Besitz« ist in diesem Zusammenhang ungewöhnlich. Kant verwendet die Bezeichnung: »intelligibler« Besitz um den Gegensatz zum »physischen« Besitz hervorzuheben: Es geht also um den von empirischen Bedingungen abstrahierenden Besitz. Wichtig zu bemerken ist auch, daß der Begriff erheblich weiter ist als das Eigentum an Sachen: Gemeint ist der rein rechtliche Besitz eines beliebigen äußeren Gegenstandes der Willkür nach Abstraktion aller Bedingungen des empirischen Besitzes in Raum und Zeit.28 Dementsprechend kann man das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft, das die Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein begründet, mit guten Gründen mit Hruschka als »Postulat des Privatrechts« bezeichnen.29 Dieses Postulat lautet schlicht: »Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben«.30
Äußere Gegenstände der Willkür sind aber, wie gesagt, nicht angeboren, sondern müssen erworben werden. Die Möglichkeit a priori einer solchen nicht-empirischen also rechtlichen Erwerbungsart konstituiert das Privatrecht. Das Postulat ist nach Kant »ein Erlaubnisgesetz der reinen praktischen Vernunft«31. Ein solches Erlaubnisgesetz ist auf Handlungen bezogen, die Kant an anderer Stelle als »bloß erlaubt« bezeichnet.32 Solche Handlungen sind weder geboten noch verboten. Allerdings sind sie nicht, wie viele andere bloß erlaubte Handlungen, sittlich
26
Hruschka JZ 2004, 1085, 1088. Kant, MS, AA VI, § 6, S. 249. 28 Etwa Kant, MS, AA VI, S. 250. 29 Hruschka JZ 2004, 1085, 1089. Nach Brandt, Das Erlaubnisgesetz, in Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 233, ist das Postulat für die gesamte Konzeption der Kantischen Rechtslehre von fundamentaler Bedeutung. 30 Kant, MS, AA VI, § 2, S. 245. 31 Kant, MS, AA VI, S. 247. 32 Kant, MS, AA VI, S. 223. 27
I. Das Privatrecht in Kants Metaphysik der Sitten
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gleichgültig, sondern erfordern33 ein sittliches Gesetz, ein Erlaubnisgesetz (lex permisssiva) wie es das Postulat des Privatrechts darstellt.34 Es mag zunächst merkwürdig erscheinen, daß eine bloß erlaubte Handlung ein sittliches Gesetz erfordern soll.35 Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß dieses Erlaubnisgesetz in der Tat grundlegend für das gesamte Privatrecht ist.36 Dieses Gesetz räumt überhaupt erst die Rechtsmacht ein, äußere Gegenstände der Willkür als eigene zu haben. Dies leuchtet im Hinblick auf Rechtssätze des positiven Rechts unmittelbar ein. Ohne die Anerkennung von Wohnungseigentum z.B. ist es zwar nicht verboten oder geboten, »Wohnungseigentum« innezuhaben, es ist jedoch ohne ein entsprechendes »Erlaubnisgesetz« schlicht nicht möglich, von Wohnungseigentum überhaupt sinnvoll zu sprechen.37 Nun geht es Kant nicht um das positive Recht, sondern um die Prinzipien a priori der Rechtslehre, also um die »reine Rechtslehre«.38 Auch für die Einführung der »reinen« Institute des Privatrechts ist jedoch ein solches Erlaubnisgesetz notwendig: Ohne die Rechtsmacht, Eigentümer einer Sache zu sein, kann es keinen von empirischen Bedingungen unabhängigen Besitz von Sachen geben. Ohne die Rechtsmacht, andere durch meine Willkür zu einer Leistung zu bestimmen, kann es keine Verbindlichkeit aus Verträgen geben. Mit Hilfe dieser »Ermächtigungsnorm«39 werden damit die wesentlichen, a priori notwendigen, Institute des Privatrechts eingeführt. Die Rechtsmacht, die durch das Postulat in § 2 der Metaphysik der Sitten eingeführt wird, beinhaltet, daß ein »äußeres Mein«, also rechtlicher Besitz an Gegenständen der Sinnenwelt, begründet werden kann. Diese Erweiterung der Freiheit über das angeborene (innere) Mein und Dein (das angeborene Recht) hinaus hat ebenfalls einen positiven und einen negativen Aspekt. Dies kommt in der folgenden Formulierung zum Ausdruck:
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Im Sinne von: »stehen unter einem«. In der Einleitung, MS, AA VI, S. 223, stellt Kant nur diesen Zusammenhang klar. Das gemeinte Erlaubnisgesetz selbst führt er erst im Abschnitt Privatrecht ein, § 2, S. 245. 35 Eine abweichende Interpretation findet sich bei Brandt Fn. 29, S. 255ff., der das Erlaubnisgesetz deswegen für notwendig hält, weil die betreffende Handlung ansonsten verboten wäre (das Gesetz wirkt wie eine Rechtfertigungsnorm). Dagegen sind nach der hier vertretenen Interpretation die Handlungen, die dem Erlaubnisgesetz entsprechen, nicht verboten, wenn man das Erlaubnisgesetz hinwegdenkt: Sich etwa eines Gegenstandes zu bemächtigen, der herrenlos ist, ist offensichtlich nicht verboten. Es handelt sich um eine freigestellte Handlung. Allerdings ist es nicht möglich, ohne das Erlaubnisgesetz von »Eigentum« zu sprechen. Das Postulat dient also dazu, aus der Menge der indifferenten Handlungen einen gewissen Bereich für das Privatrecht begrifflich faßbar zu machen. 36 Für die Deutung des Postulats in § 2 als Ermächtigungsnorm eingehend Hruschka 23 Law and Philosophy 45ff. (2004). 37 Beispiel bei Hruschka 23 Law and Philosophy 45, 59 (2004). 38 Die von der »reinen Rechtslehre« Kelsens grundverschieden ist. 39 Hruschka JZ 2004, 1085, 1089. 34
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»[D]as äußere Meine ist dasjenige außer mir, an dessen mir beliebigem Gebrauch mich zu hindern, Läsion (Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinem Gesetze zusammen bestehen kann) sein würde.«40
Der negative Aspekt besteht darin, daß man vermag, »allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten«.41 Dies ist also die »Freiheit von« der nötigenden Willkür anderer im Hinblick auf das erworbene Mein und Dein. Der positive Aspekt der erweiterten äußeren Freiheit ist ebenfalls beschränkt auf den äußeren Gebrauch der Willkür und besteht in der Anwendung des allgemeinen Prinzips des Rechts auf das äußere Mein und Dein: Der Gebrauch der erweiterten äußeren Freiheit muß nach einem allgemeinen Gesetz mit dem Gebrauch der Freiheit anderer zusammen bestehen können.42 In der Kurzfassung lautet die Begründung des Postulats, das die Freiheit über das angeborene Freiheitsrecht hinaus erweitert: Das moralische Vermögen, einen äußeren Gegenstand der Willkür als das Meine zu haben, ist eine Forderung der reinen praktischen Vernunft, denn eine Maxime, wonach, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür herrenlos werden müßte, ist rechtswidrig. Die Ableitung des Postulats im einzelnen vollzieht Kant in vier Schritten:43 Zunächst führt er aus, daß der physische Gebrauch von Gegenständen der Willkür mit jedermanns (angeborener)44 äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmt.45 Der physische Gebrauch von Gegenständen stellt für sich genommen keine Beeinträchtigung des angeborenen Freiheitsrechts anderer dar.46 Er ist mit der negativen Freiheit anderer vereinbar. Die These von der Zulässigkeit des physischen Gebrauchs gilt ebenso für den positiven Aspekt der äuße40
Kant, MS, AA VI, S. 249. Kant, MS, AA VI, S. 247, 253. 42 Der Begriff der positiven äußeren Freiheit ist bei Kant selbst nicht zu finden. Er wird vorliegend in Anlehnung den Begriff der positiven inneren Freiheit gebildet. Wenn man dieser Begriffsbildung nicht folgt, ist jedenfalls in der Sache zu berücksichtigen, daß der Gebrauch der erweiterten Freiheit dem allgemeinen Rechtsgesetz unterworfen ist. Die innere Freiheit ist auf den inneren Gebrauch der Willkür bezogen und ist Gegenstand der Ethik. Die äußere Freiheit ist Gegenstand des Rechts. Sie setzt sich zusammen aus zwei Säulen, einmal dem angeborenen Freiheitsrecht (das innere Mein und Dein) und zweitens dem erweiterten Freiheitsrecht (das äußere Mein und Dein). 43 Kant, MS, AA VI, § 2, S. 246. Jeweils durch Spiegelstriche getrennt. Dazu Ludwig ARSP 1996, 250, 255. 44 An dieser Stelle muß Kant das angeborene Freiheitsrecht meinen, weil die erweiterte Freiheit gerade begründet werden soll. Vgl. Vorarbeiten, AA XXIII, S. 309–310. 45 Die Zulässigkeit von physischem Besitz von Gegenständen, die niemand anderes besitzt, ist bereits im angeborenen Freiheitsrecht enthalten. 46 Nicht selbstverständlich erscheint diese These im Hinblick auf die Willkür anderer Personen, die jedenfalls vom angeborenen Freiheitsrecht umfaßt ist. Allerdings stimmt die Willkür dann mit der der anderen Person überein, wenn diese anbietet, eine Leistung zu bewirken. Die physische Annahme dieser Leistung verletzt nicht das angeborene Freiheitsrecht der anderen Person. So auch: Gregor 41 Review of Metaphysics 757, 780 (1988). 41
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ren Freiheit: Wäre der Gebrauch verboten, dann würde sich die Freiheit des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines äußeren Gegenstandes derselben »berauben«. Dadurch würden die Gegenstände in praktischer Hinsicht »vernichtet«.47 Die Natur würde den Menschen entzogen, also herrenlos werden, was einen Widerspruch der angeborenen Freiheit mit sich selbst darstellte.48 Es kann daher nicht verboten sein, einen äußeren Gegenstand der Willkür, also etwas, das man physisch gebrauchen kann, zu gebrauchen. Ein Gebrauch der Willkür in Übereinstimmung mit der Willkür anderer wäre sonst gar nicht möglich.49 Zweitens muß die reine praktische Vernunft von den empirischen Bedingungen, von der Materie der Willkür, abstrahieren. Die Reichweite des Rechts kann nicht durch empirische Bestimmungen begrenzt werden.50 Ein absolutes Verbot des Gebrauchs von äußeren Gegenständen – wie auch immer sie beschaffen sein mögen – wäre ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst, wie bereits im ersten Schritt ausgeführt. Jeder Gegenstand kann somit einer Person gehören. Drittens ist es ausreichend, um sich etwas als einen Gegenstand meiner Willkür zu »denken«, daß es einem bewußt ist, daß man das physische Vermögen hat, von ihm beliebigen Gebrauch zu machen. Es ist nicht erforderlich, ihn tatsächlich physisch in seiner Gewalt zu haben.51 Dieser Schritt ist entscheidend, denn an dieser Stelle löst Kant den Begriff des Besitzes von der physischen Innehabung eines Gegenstands der Willkür: Besitz ist unter Abstraktion vom physischen Besitz vor aller Erfahrung denkbar. Das ist der rein rechtliche Besitz. Schließlich, also viertens, folgt, daß jeder Gegenstand meiner Willkür als objektiv mögliches äußeres Mein und Dein angesehen und behandelt werden kann. Die Möglichkeit eines solchen rechtlichen Besitzes hängt in der Schlußfolgerung nicht mehr davon ab, daß ich den Gegenstand tatsächlich physisch besitze (in meiner Gewalt habe), denn dies würde einen Akt der Willkür erfordern, von dem die reine praktische Vernunft abstrahiert.52 Wenn ich ihn rechtlich (intelligibel) besitze, so bin ich mir des physischen Vermögens bewußt, von ihm beliebigen Gebrauch machen zu können. Ich kann daher auch andere davon ausschließen, von ihm Gebrauch zu machen. Diese Verbindlichkeit hätten die anderen nicht, wenn ein äußeres Mein objektiv nicht möglich wäre, wenn es also eine Befugnis der reinen praktischen Vernunft nicht gäbe, den Besitz von Gegenständen der äußeren Welt zu begründen.
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Kant, MS, AA VI, S. 246. Vgl. Kant, Vorarbeiten, AA XXIII, S. 309f., 288f.; Kersting AZP 1981, 31, 35; Gregor 41 Review of Metaphysics 757, 775 (1988). 49 Vgl. Kant, Vorarbeiten, AA XXIII, S. 287. 50 Kersting AZP 1981, 31, 36f. 51 Kant, MS, AA VI, S. 246. 52 Kant, MS, AA VI, S. 246, 250. 48
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Die Zweckmäßigkeit der Idee des intelligiblen Besitzes liegt auf der Hand. Irgendeine Nutzung von äußeren Gegenständen der Willkür, die über den momentanen Gebrauch von Sachen hinausgeht, wäre sonst sinnlos: »Wer sät, könnte nicht damit rechnen zu ernten. Wer ein Haus baut, könnte nicht damit rechnen, es über den Augenblick hinaus bewohnen zu können.«53
Ohne Eigentum an Sachen wäre weder eine Bewirtschaftung des Bodens noch die Ansiedlung von Menschen in der uns vertrauten Form denkbar. Der Gebrauch äußerer Gegenstände der Willkür wäre auch stark beeinträchtigt, wenn es das Institut des Vertrages nicht gäbe. Wenn man zwar Sachen zum Eigentum haben könnte,54 aber das Institut des Vertrages nicht anerkannt wäre, wäre es nicht möglich, ohne Gewalt und kriegerische Auseinandersetzung den status quo55 zu verändern.56 Es gäbe mit anderen Worten weder Handel, noch könnte Geld den Fleiß der Menschen untereinander lohnend machen; der in Geld bemessene Nationalreichtum selbst existierte nicht.57 Die solchermaßen evidente Zweckmäßigkeit des intelligiblen Besitzes ist jedoch nicht Teil der Begründung des Postulats.58 Das Privatrecht wird in der reinen Rechtslehre nicht mit dem Hinweis auf dessen erstrebenswerten Folgen für die Glückseligkeit der Menschen gerechtfertigt. Es wäre in der Tat überraschend, wenn Kant an dieser Stelle die Einführung eines Prinzips a priori, eines formalen Gesetzes, mit pragmatischen Erwägungen und damit letztlich unter Hinweis auf die Materie der Willkür rechtfertigte.59 Das Postulat muß, wenn es a priori als Teil der reinen Rechtslehre gelten soll, unabhängig von Erfahrungen a posteriori eingeführt werden. Es mag sinnvoll sein, den Gang der in der entsprechenden Stelle der Metaphysik der Sitten äußerst gedrängten Argumentation noch einmal zu skizzieren: Der Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst, dessen Vermeidung das Postulat a priori begründet, bestünde darin, daß brauchbare Gegenstände »außerhalb der Möglichkeit des 53 So plastisch Hruschka JZ 2004, 1085, 1089. Kant selbst gibt das bereits erwähnte Beispiel des Apfels und das der Lagerstätte, die man beide auch ohne physische Innehabung zu dem Seinen rechnen können müsse, MS, AA VI, S. 248. 54 Einschließlich der Möglichkeit sie zu vererben; Kant, MS, AA VI, § 34, S. 293. 55 Der durch die zeitlich erste Bemächtigung nach dem Prioritätsprinzip, das Kant, MS, AA VI, § 14, S. 263, befürwortet, für immer festgelegt wäre. 56 S. die Begründung der Bindung an den Vertrag bei Hobbes, Leviathan, S. 71: »That men performe their Covenants made: without which, Covenants are in vain, and but Empty words; and the Right of all men to all things remaining, wee are still in the conditions of Warre.« 57 Dies sind für Kant zentrale Aspekte des Privatrechts; vgl. MS, AA VI, S. 286–287. 58 Anders naturgemäß die utilitaristische Begründung der Bindung an den Vertrag; etwa bei J.S. Mill, näher S. 113ff. Anders als Kant auch die teleologischen Theorien (§ 4, S. 89ff.), die das Privatrecht im Hinblick darauf einführen, daß es ein außerhalb des Rechts stehendes »Gutes« verwirklicht. S. etwa die Ableitung der Möglichkeit des Vertrages bei Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 303: »Now it is not difficult to establish that the practice or institution of promising-and-therefore-performing-or-accepting-the-justice-of-reproaches-etc. is greatly to the common good.« 59 Kersting AZP 1981, 31, 34f.; Unberath in Festschrift für Joachim Hruschka, S. 719, 726f.
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G e b r a u c h s gestellt werden«,60 also der physische Besitz verboten wird. Besitz muß daher a priori möglich sein. Da die (reine) praktische Vernunft von empirischen Bedingungen abstrahiert, folgt, daß dieser Besitz intelligibel ist. Wenn dagegen das Postulat bereits zu seiner Begründung des Argumentes bedürfte, daß der Gebrauch von Gegenständen der äußeren Willkür aufgrund des Fehlens von rein rechtlichem Eigentum beeinträchtigt wäre, so wäre die Herleitung des Postulats des Privatrechts zirkulär: Kant würde für die Begründung der Möglichkeit von intelligiblem Besitz diesen bereits voraussetzen.61 Freilich läßt sich die Richtigkeit dieser Sätze nicht (in der Erfahrung) beweisen. Vielmehr zeigt sich die Richtigkeit der Annahme des Postulats in unseren Akten der Willkür. Die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes äußerer Gegenstände der Willkür, eines Besitzes allein der Form der Willkür nach, ist Bedingung der Möglichkeit von Eigentum an konkreten Gegenständen in der phänomenalen Welt. Die vielschichtigen wechselseitigen Abhängigkeiten einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sind allesamt in dem moralische Vermögen zu intelligiblem Besitz, sei es im Hinblick auf die Substanz (Eigentum an Sachen) oder auf die Kausalität (einen anderen zur Leistung zu bestimmen), begründet, so wie wir die Sätze der Logik und Grammatik voraussetzen, wenn wir uns durch Sprache verständlich machen wollen.
3. Das Postulat des öffentlichen Rechts Das Privatrecht ist in der Rechtslehre Kants der Schlüssel für das Verständnis des öffentlichen Rechts. Im Abschnitt zum Privatrecht hat Kant aufgezeigt, daß rein rechtlicher Besitz möglich ist. Allerdings ist die Zuweisung von Rechtsmacht im (hypothetisch vorgestellten) vor-staatlichen Zustand nur provisorisch. Jeder Gegenstand kann einer Person gehören. Es ist jedoch nicht sicher gestellt, daß der Gegenstand der Person auch tatsächlich physisch zur Verfügung steht. Ohne Intervention Dritter hängt die physische Innehabung allein von der physischen Gewalt des einzelnen im Konfliktfall ab. Wenn die Person nicht anwesend ist, ist die Aufrechterhaltung des Besitzes von Boden ohnehin illusorisch. In diesem »Naturzustand« ist rechtlicher Besitz, wir würden von Eigentum bzw. Vertrag sprechen, zwar denkbar, aber in der Wirklichkeit nur provisorisch, vorübergehend.62 An dieser Stelle des Gedankenexperiments vollzieht Kant nun den Übergang zum öffentlichen Recht. Nur staatliche Macht vermag das strukturelle Defizit des Naturzustands zu beheben und den rechtlichen Besitz auch in der Wirklichkeit dauerhaft zu sichern:63 Etwas Äußeres peremptorisch (dauerhaft) als das Seine zu ha60
Kant, MS, AA VI, S. 246. Ludwig ARSP 1996, 250, 255. 62 S. zu dieser in der Rechtsphilosophie der Aufklärung verbreiteten Argumentationsmuster den Überblick bei H. Hofmann in Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 12ff. 63 S. zum Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand insbesondere Byrd/Hruschka ARSP 2005, 484ff. 61
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ben, ist nur im rechtlichen Zustand möglich. Dies ist bei Kant der Zustand der bürgerlichen Verfassung, also unter einer öffentlich-gesetzgebenden Gewalt.64 In der Anmaßung eines äußerlichen Gegenstandes einem anderen gegenüber ist daher zugleich »das Bekenntnis« enthalten, jenem anderen zur Anerkennung von dessen äußerem Seinen wechselseitig verbunden zu sein: »Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meiningen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten«.65
Diese für die Garantie des intelligiblen Besitzes notwendige »Reziprozität« der Verbindlichkeit ist nicht durch einen einseitigen Willen herstellbar, sondern setzt den Eintritt in einen rechtlichen Zustand voraus. Nur der kollektiv-allgemeine Wille vermag jedermann die Sicherung des Seinigen zu leisten. Aus dem Postulat des Privatrechts folgt sodann: »Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben, so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten«.66
Das daraus abgeleitete »Postulat des öffentlichen Rechts« lautet: »[D]u sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanders mit allen anderen, aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit übergehen«.67
Dem öffentlichen Recht kommt damit bei Kant eine vergleichsweise bescheidene, abgeleitete Funktion zu, nämlich der Sicherung der subjektiven Rechte, die bereits im Naturzustand a priori notwendig angenommen werden müssen.68 Das Naturrecht kann durch die statutarischen Gesetze nicht verändert oder gar aufgehoben werden. Als bürgerliche Verfassung betrachtet Kant nur den rechtlichen Zustand, durch den jedem das Seine »nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird«.69 Freilich ist das ein Ideal, ein Ideal des Rechtsstaats, das unter den Bedingungen der phänomenalen Welt genauso wenig notwendig verwirklicht wird, wie Menschen aus innerem Antrieb heraus notwendig frei handeln. Staaten entsprechen also immer nur mehr oder weniger, also nur zu einem gewissen Grad dem Ideal. Die Tatsache aber, daß das Ideal anzustreben ist, und der Staat zumindest seinem ursprünglich gedachten Zweck nach darauf ausgerichtet ist, die subjektiven Rechte des einzelnen zu schützen, unterscheidet ihn, 64
Kant, MS, AA VI, § 8, S. 255. Kant, MS, AA VI, S. 255–256. 66 Kant, MS, AA VI, S. 256. Kant selbst bezeichnet den zitierten Satz als »Folgesatz«. 67 Kant, MS, AA VI, § 42, S. 307. 68 von der Pfordten, Rechtsethik, S. 393f. hält aus diesem Grund die Philosophie Kants für unzureichend. 69 Kant, MS, AA VI, S. 256. 65
II. Das Vertragsrecht innerhalb des Privatrechts
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als Staat, von einer großen Räuberbande.70 Welche institutionellen Bedingungen Kant als wesentlich für den Rechtsstaat erachtet,71 und wie sich der Übergang im einzelnen gestaltet,72 ist jedoch keine tragende Erwägung für den Gedankengang meiner Arbeit. Es reicht festzustellen, daß Kant die Sicherung subjektiver Rechte durch die Ausübung von äußerem Zwang von einem richterlichen Erkenntnisakt abhängig macht.73 Das Gerichtswesen zu organisieren, ist damit zentrale Aufgabe des Staates und die Möglichkeit der Anrufung des Richters bei einer Rechtsverletzung der entscheidende Unterschied zwischen einer bürgerlichen Verfassung und dem Naturzustand.
II. Das Vertragsrecht innerhalb des Privatrechts Nach dem Postulat in § 2 der Rechtslehre ist ein nichtempirischer, rein rechtlicher Besitz von äußeren Gegenständen der Willkür möglich. Die reine praktische Vernunft abstrahiert von der Materie der Willkür. Das Postulat gilt daher für alle äußeren Gegenstände der Willkür. Kant unterscheidet diese nach drei Kategorien: Substanz, Kausalität und Gemeinschaft.74 Gemeint sind damit zunächst körperliche Sachen, Gegenstände im Raum (Substanz). Dem entspricht die Möglichkeit, diese nicht nur physisch sondern nichtempirisch, rechtlich zu »besitzen«, also zum Eigentum zu haben. Der erste Abschnitt des Zweiten Hauptstücks des Privatrechts handelt dementsprechend vom Sachenrecht.75 Es ist wichtig zu sehen, daß das Postulat des Privatrechts nicht auf das Eigentum an Sachen beschränkt ist, sondern im gleichen Maße auch für das Vertragsrecht zu gelten beansprucht: Gegenstand der Willkür kann auch die Leistung von etwas durch die Willkür eines anderen sein (Kausalität). Diese kann eine Person dann als »äußerlich Ihres« betrachten, wenn sie im nicht-empirischen »Besitz« der Willkür des anderen ist, diesen zur Leistung zu bestimmen. Der Gläubiger besitzt also die »Kausalität« (im Sinne von Wirkung) der Willkür des anderen, das Versprochene zu bewirken. Daher kann er das Versprechen des anderen zu dem Seinen rechnen, auch wenn er das Versprochene selbst noch nicht in seinem Besitz hat. Der zweite Abschnitt
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S. zu diesem Aspekt bereits S. 9f. Kant, MS, AA VI, §§ 43–52. 72 Kant, MS, AA VI, § 41, S. 305. 73 Kant, MS, AA VI, § 45, S. 313. Dazu näher Byrd/Hruschka ARSP 2005, 484, 492ff. S. auch Hegel, R, TW 7, § 219, S. 373: »Diese Erkenntnis und Verwirklichung des Rechts im besonderen Falle, ohne die subjektive Empfindung des besonderen Interesses, kommt einer öffentlichen Macht, dem Gerichte, zu.« 74 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Kant, MS, AA VI, § 4, S. 247f. 75 Kant, MS, AA VI, §§ 11ff. 71
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des Zweiten Hauptstücks des Privatrechts beschäftigt sich näher mit diesem »persönlichen Recht«, d.h. dem Vertragsrecht.76 Schließlich meint Kant, daß man auch den Zustand einer Person im Verhältnis auf eine andere nichtempirisch besitzen könne (Gemeinschaft). Diese rechtlichen Beziehungen (die als auf dingliche Art persönliche Rechte eingeführt werden)77 umfassen das Eherecht, das Elternrecht und das Hausherrenrecht. Damit sind die Gebiete des Privatrechts der reinen Rechtslehre im Wesentlichen beschrieben.
1. Das persönliche Recht Mit Hilfe des Postulats wird die Möglichkeit des »äußeren Mein und Dein«, also des nichtempirischen Besitzes von äußeren Gegenständen der Willkür, konstituiert. Anderen wird a priori eine Verbindlichkeit in Ansehung des äußeren Mein auferlegt, die sie sonst nicht hätten. Das Vertragsrecht ist damit Teil der erweiterten äußeren Freiheit.78 Das subjektive Recht aus Verträgen, das persönliche Recht, wird in gleicher Weise wie das Eigentum an Sachen eingeführt. Nur das Objekt des »äußeren Mein« ist unterschiedlich. Durch einen Vertrag wird nicht Substanz, also ein Gegenstand im Raum (das wäre das Versprochene) erworben, sondern nur die »Kausalität« der Willkür eines anderen, die versprochene Leistung zu bewirken (das Versprechen).79 Insofern ist der Schuldner selbst Teil der äußeren Welt und einem physischen Gebrauch zugänglich. Da die Vernunft sich nicht des Gebrauchs der Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben darf, ist das moralische80 Vermögen, einen anderen zur Leistung zu bestimmen, wenn dieser sich in einem Vertrag dazu verpflichtet hat, Teil des Postulats des Privatrechts. Ein intelligibeler Besitz des Versprechens anderer muß möglich sein. Das persönliche Recht ist wie das Sachenrecht in der reinen praktischen Vernunft begründet; eine Erweiterung der Freiheit über das angeborene Freiheitsrecht hinaus durch einen synthetischen Satz a priori. Das Sachenrecht, insbesondere der Erwerb von Grundeigentum, ist von primärer Bedeutung für die Privatrechtstheorie des Naturrechts jener Zeit und im einzelnen kontrovers. Es würde zu weit führen, auf die Besonderheiten von Kants 76
Kant, MS, AA VI, §§ 18ff., 31. Kant, MS, AA VI, Dritter Abschnitt, §§ 22ff. 78 Lübbe-Wolff in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 286, 297ff. verkürzt diesen Zusammenhang, wenn sie die Begründung der Möglichkeit des Erwerbs durch Vertrag auf § 19 der Rechtslehre beschränkt, also auf das dort erörterte (Schein-)Problem, daß die vertragsbegründenden Willenserklärungen nicht gleichzeitig erfolgen können. Die Begründung ist in dem Postulat des Privatrechts in § 2 passim gegeben. 79 Die Frage, ob Kant in diesem Zusammenhang das Trennungsprinzip (zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft) vorwegnimmt, vgl. insbesondere § 21, soll hier nicht erörtert werden; so Byrd in Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals, S. 111ff. (Vorlage für Savignys Ausarbeitung des Trennungsprinzips). 80 »Moralisch« wird hier nicht im Sinne der Tugendlehre verwendet, sondern im Sinne von intelligibel. 77
II. Das Vertragsrecht innerhalb des Privatrechts
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Theorie einzugehen.81 Vorliegend genügt es, die Kernpunkte des Sachenrechts hervorzuheben, um sie den Merkmalen des Vertragsrechts gegenüberzustellen. Jeder Mensch hat ein Recht da zu sein, wohin ihn die Natur oder der Zufall gesetzt hat,82 dies folgt schon aus dem Freiheitsrecht. Vor allen Rechtsakten, also »ursprünglich« oder a priori, besteht daher eine Gemeinschaft hinsichtlich des Bodens. Die Besitznehmung des Bodens durch Rechtsakte der Willkür beruht demgegenüber auf einer einseitigen Bemächtigung, also der Erwerbung durch einen einseitigen Akt der Willkür.83 Das Prinzip der zeitlich ersten Bemächtigung (Priorität) sichert die Übereinstimmung der einzelnen Akte mit der äußeren Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz.84 Die Erwerbung des Bodens erfolgt also zunächst ursprünglich gemeinschaftlich und sodann durch einseitige Bemächtigung nach dem Prioritätsprinzip. Der Vertrag als besondere Erwerbungsart unterscheidet sich von dem Erwerb von Eigentum in mehrfacher Hinsicht. In erster Linie ist die Erwerbung eines persönlichen Rechts »niemals ursprünglich und eigenmächtig«.85 Der besondere, einseitige Wille einer Person reicht nicht aus, um ein Versprechen zu erwerben. Die Erwerbungsart durch Vertrag erfordert den vereinigten Willen der Vertragsparteien: »Erwerbung durch die Tat eines anderen, zu der ich diesen nach Rechtsgesetzen bestimme, ist also jederzeit von dem Seinen des anderen abgeleitet, und diese Ableitung als rechtlicher Akt kann (...) allein durch Ü b e r t r a g u n g (translatio), welche nur durch einen gemeinschaftlichen Willen möglich ist [geschehen]«.86
Die Erwerbung (oder intelligible Besitznehmung) der Kausalität der Willkür einer anderen Person durch Vertrag beruht, abstrahiert man von den empirischen Bedingungen, auf einem »e i n z i g e n gemeinsamen Willen«.87 Ein Versprechen ohne Annehmung desselben begründet deswegen keine vertragliche Verpflichtung.88 Das Erfordernis eines übereinstimmenden Willens ist rechtshistorisch und rechtsvergleichend nicht selbstverständlich.89 Es ergibt sich bei Kant jedoch zwingend aus dem Gegenstand des Vertrages, der Inbesitznahme der Willkür ei-
81 Dazu und zu der breit geführten Diskussion dieses Themas im Vorfeld der Metaphysik der Sitten, Gregor 41 Review of Metaphysics 757, 782ff. (1988). 82 Kant, MS, AA VI, § 13, S. 262. 83 Kant, MS, AA VI, § 14, S. 263. 84 Kant, MS, AA VI, § 14, S. 263; § 10, S. 259. 85 Kant, MS, AA VI, § 18, S. 271. 86 Kant, MS, AA VI, S. 271. 87 Kant, MS, AA VI, § 19, S. 272–273; S. 260: Rechtsgrund der Erwerbung ist die »doppelseitige Willkür«. 88 Kant, MS, AA VI, S. 254, 271, passim. 89 Vgl. Zimmermann in Lorenz/Trunk/Eidenmüller/Wendehorst/Adolff (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, S. 467ff.; abweichend auch Reinach, Rechtsphänomenologie, S. 59.
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nes anderen:90 Die Erwerbung eines persönlichen Rechts ist ohne den entsprechenden Willen dessen, der Besitz an der Willkür des anderen erwirbt, nicht denkbar und wäre ohne die Zustimmung desjenigen, dessen Willkür in Besitz genommen wird, mit dem angeborenen Freiheitsrecht nicht vereinbar. Der empirische Vertragsschluß ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Wirksamkeit des Vertrages, also das Entstehen des persönlichen Rechts.91 Da die Willkür einer anderen Person nicht schon als solche Gegenstand meiner Willkür ist, müssen mit Hilfe des empirischen Vertragschlusses die physischen Personen als Vertragspartner identifiziert werden. Der Akt, der den intelligiblen Besitz der Willkür des anderen begründet, ist rein intellektuell. Es handelt sich um eine Abstraktion vom empirischen Vorgang des Vertragsschlusses durch Erklärung und Gegenerklärung. Das persönliche Recht wird rechtlich erst durch die Vereinigung des Willens der Kontrahenten erworben (hinreichende Bedingung). Erworben wird, um es nochmals zu betonen, aber nicht unmittelbar eine äußere Sache (das Versprochene), sondern nur »die Kausalität der Willkür des anderen in Ansehung einer mir versprochenen Leistung« (das Versprechen).92 Daraus folgt schließlich, daß anders als das Sachenrecht der Vertrag ein subjektives Recht nur zwischen Gläubiger und Schuldner begründet. Daher bezeichnet Kant dieses Recht als das persönliche Recht.93
2. Die Bindung an den Vertrag Die Bindung an den Vertrag ist nichts weiter als die Rechtspflicht, den Vertrag zu erfüllen.94 Dies ist eine auf eine äußere Handlung gerichtete Pflicht, die deswegen erzwungen werden kann. Die im Postulat des Privatrechts enthaltene Rechtsmacht, einen Vertrag zu schließen, verleiht einer Person die Befugnis, einer anderen Person eine Verbindlichkeit hinsichtlich der Leistung aufzuerlegen, die sie sonst, also in Anbetracht des angeborenen Freiheitsrechts, nicht hätte. Das Postulat des Privatrechts ermöglicht das persönliche Recht. In einem Vertrag wird die Verbindlichkeit zur Leistung auferlegt. Das ist das subjektive Recht des Promissars (des Akzeptanten oder Gläubigers) gegen den Promittenten (Schuldner).95 Durch den Vertrag erwirbt der Gläubiger das Versprechen: sein Hab und Gut ist erweitert um eine »aktive Obligation auf die Freiheit und das Vermögen des anderen«.96 90 Zu Unrecht vermißt daher Lübbe-Wolff Fn. 78, S. 291, eine Begründung dafür, daß ein Versprechen angenommen werden muß. 91 Scheffel in Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 311, 315. 92 Kant, MS, AA VI, § 20, S. 273, vgl. schon S. 248. 93 Ius ad rem im Gegensatz zum dinglichen Recht, ius in re: Kant, MS, AA VI, S. 362. 94 S. bereits Hobbes Fn. 56, S. 71 (dort das dritte Gesetz der Natur). 95 Kant, MS, AA VI, § 19, S. 272 (Terminologie bei Kant; sie ist heute nur noch im Englischen gebräuchlich: »promisee«, »promisor«). 96 Kant, MS, AA VI, S. 274.
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Die Bindung an ein »Versprechen«, wie wir sie in der Rechtslehre vorfinden, ist daher zu unterscheiden von dem Verbot, ein falsches Versprechen abzugeben. Letzteres ist ein Paradebeispiel für die Anwendung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.97 Zu fragen ist dem kategorischen Imperativ gemäß, ob die der Handlung zugrunde liegende Maxime zu einem allgemeinen Gesetz taugt. In der Grundlegung geht es um die Frage, ob man »in Verlegenheit« ein Versprechen geben darf, in der Absicht es nicht zu halten. Kants Antwort darauf ist bekanntlich, daß man das nicht tun dürfe, denn ein »allgemeines Gesetz zu lügen«, könne man nicht wollen – ein solches Gesetz würde »sich selbst zerstören«.98 Die Lüge setzt, um wirksam zu sein, einen also aus der Verlegenheit zu befreien, gerade voraus, daß man dem Versprechenden glaubt, daß er etwas verspricht und daß er dieses Versprechen erfüllen werde.99 Ein allgemeines Gesetz, das Lüge gebietet, könne es nicht geben, also solle man falsche Versprechen nicht abgeben. Wenn dies jemand dennoch tue, so bediente er sich des anderen Menschen bloß als Mittel.100 Diese Ausführungen sind für die Rechtslehre aus zwei Gründen von nur beschränktem Wert. Zwar mag die Anwendung des kategorischen Imperativs auf diese Weise eine Pflicht begründen, kein falsches Versprechen zu geben, damit ist jedoch nicht gezeigt, ob und warum der andere die Einhaltung des Versprechens einfordern kann, also ein persönliches Recht auf die Leistung hat.101 Das Versprechen als Teil des Vermögens des Promissars wird überhaupt erst mittels des Postulats des Privatrechts in der Rechtslehre eingeführt. Das Lügeverbot vermag Gleiches nicht zu leisten. Es vermag daher auch nicht, die Bindung an den Vertrag dem Promissar gegenüber zu rechtfertigen. Der zweite Grund ist folgender. Angenommen das Lügeverbot zeigt die moralische Fragwürdigkeit falscher Versprechen auf, es würde doch in der Vielzahl der Fälle, in denen sich der Promittent erst nach Vertragschluß entschließt, den Vertrag zu brechen, keine Aussage treffen.102 Es ist daher wenig überraschend, daß Kant in der Metaphysik der Sitten diese Argumente aus der Grundlegung, die das Verbot betreffen, kein falsches Versprechen abzugeben, nicht wieder aufgreift.103 97 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 402–403, 422, 429 (betrügerisches Darlehen). Dazu Joerden ARSP 1993, 247. 98 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 403. Vgl. auch die Formulierung des kategorischen Imperativs auf S. 421: »(...) handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« 99 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 422. 100 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 429–430. Vgl. die dritte Formel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung, AA IV, S. 429: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«. 101 Hruschka 23 Law and Philosophy 45, 64 (2004). 102 Fried, Contract as Promise, S. 9. 103 In der Passage zur Lüge in der Tugendlehre der MS vermeidet Kant den Begriff »Verspre-
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
Vielmehr begründet Kant die Bindung an den Vertrag aus der Natur des Vertrages selbst. Die Bindung an den Vertrag ist bereits eine Folge der Möglichkeit von Verträgen.104 Zweck und Rechtfertigung des Vertrages ist es, die Erwerbung der Kausalität der Willkür des anderen zu ermöglichen. Die Begründung für diese Erwerbungsart eines äußeren Gegenstandes der Willkür liegt im Postulat des Privatrechts.105 Dem Postulat gemäß ist es möglich, die Leistung eines anderen zu erwerben, dem anderen also mittels des Vertrages eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die er sonst nicht hätte. Dadurch erwirbt der Promissar unter Weglassung aller empirischen Bedingungen nach dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft106 das Versprechen des Promittenten, die Leistung zu erbringen.107 Das Versprechen befindet sich mit Vertragschluß im intelligiblen, also von empirischen Bedingungen unabhängigen, Besitz des Promissars.108 Die Leistung zu fordern, ist daher ein subjektives Recht (»aktive Obligation«). Folge davon, daß ich einen Gegenstand der Willkür intelligibel besitze, ist, daß anderen diesbezüglich eine Verbindlichkeit mir gegenüber auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten. Eine Verbindlichkeit wiederum ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.109 Daß ein (angenommenes) Versprechen gehalten werden soll, ist damit ein kategorischer Imperativ.110 Der Promittent ist verpflichtet, die Leistung zu erbringen. Dies würde in Frage gestellt, wenn man forderte, daß der Promittent an sein Versprechen nicht gebunden sei. Denn dann hätte der Promissar die Kausalität der Willkür des anderen gerade nicht erworben. Ein äußeres Mein und Dein wäre insofern rechtlich unmöglich. Die Konstanz der Bindung an den Vertrag (pacta sunt servanda),111 die Widerspruchsfreiheit der Handlungen des Promittenten in der Zeit ist daher von grundlegender Bedeutung für das Institut des Vertrages.112 In den Worten Kants: »[M]eine Habe und Besitz an dem Versprochenen [wird] nicht dadurch aufgehoben, daß der Versprechende zu einer Zeit sagt: diese Sache soll dein sein, eine Zeit hernach aber von ebenderselben Sache sagt: ich will jetzt, die Sache soll nicht dein sein. Denn es hat mit solchen intellektuellen Verhältnissen die Bewandtnis, als ob jener ohne eine Zeit zwischen bei-
chen«, AA VI, S. 429f. und betont, daß die Lüge in der Rechtslehre nur dann relevant sei, wenn sie das Recht anderer verletzt. 104 Byrd/Hruschka 81 Chicago-Kent L Rev 47, 72 (2006). 105 Kant, MS, AA VI, § 2, S. 246. 106 Kant, MS, AA VI, § 19, S. 273. 107 Kant, MS, AA VI, § 20, S. 273. 108 Byrd/Hruschka 81 Chicago-Kent L Rev 47, 61 (2006). 109 Kant, MS, AA VI, S. 222. 110 Kant, MS, AA VI, S. 273. S. auch die Interpretation bei Benson 87 Colum. L.Rev. 559, 565 (1987) 111 Kant, MS, AA VI, S. 219. 112 S. auch Joerden ARSP 1988, 307, 312, der dem Satz »pacta sunt servanda« eine dem Identitätssatz des logischen Diskurses vergleichbare Funktion zuschreibt.
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den Deklarationen seines Willens gesagt hätte: sie soll dein sein, und auch: sie soll nicht dein sein, was sich dann selbst widerspricht«.113
Jede andere Begründung der Möglichkeit, äußere Gegenstände der Willkür durch Vertrag zu erwerben, geht für Kant an der Sache vorbei. Daß Versprechen gehalten werden sollen, »begreift ein jeder von selbst«.114 Ein »Beweis« dieses kategorischen Imperativs ist freilich nicht möglich, so wie wir auch die Postulate der Mathematik oder Sätze der Logik nicht »beweisen« können.115 Denn dieser Verbindlichkeit liegt ein Gesetz der reinen, von allen empirischen Bedingungen abstrahierenden, praktischen Vernunft zugrunde, dessen Möglichkeit wir annehmen müssen, weil wir, so jedenfalls Kants These, das Postulat in unseren Handlungen immer schon voraussetzen. Kant verweist in einem Einschub auf die »mühseligen und doch immer vergeblichen Bestrebungen der Rechtsforscher (...) zur Beweisführung jener Möglichkeit«, nämlich sich durch Verträge zu binden.116 Diese Bemühungen sind vergeblich, weil ein auf Naturgesetze beschränkter Beweis nicht geführt werden kann. Die objektive Möglichkeit eines synthetischen Satzes a priori – von dem die Bindung an den Vertrag abgeleitet wird – aufzuzeigen (nicht zu beweisen), liegt Kant dagegen sehr wohl am Herzen. Mit der Wendung, »das begreift ein jeder von selbst«, ist gemeint, daß das Handeln nach kategorischen Imperativen für jeden leicht einsehbar ist, während die Anwendung von hypothetischen Imperativen kein eindeutiges Urteil erlaubt, sondern von der Erfahrung abhängt.117
3. Die Grenze des Vertragsrechts Abschließend ist erneut auf das eingangs bereits gestreifte Verhältnis von Rechtsund Tugendlehre einzugehen und hinsichtlich Verbindlichkeiten aus Verträgen zu präzisieren. Rechtspflichten können nur äußere Pflichten sein. Handlungen werden nach der rechtlichen Gesetzgebung bloß danach beurteilt, ob sie äußerlich mit dem Gesetz übereinstimmen, also gesetzmäßig sind. Kant spricht diesbezüglich von der Legalität der Handlung.118 Für diese ist es gleichgültig, aus wel113
Kant, MS, AA VI, S. 254. Kant, MS, AA VI, S. 273. 115 Kant gibt Beispiele aus der Geometrie; MS, AA VI, S. 273. So auch Hruschka ARSP 2002, 463, 469 (Vergleich mit den Regeln der Logik); Benson 87 Colum. L.Rev. 559, 563 (1987). Diese enge Bedeutung des Wortes »Beweis« im Sinne eines empirischen Beweises wird von LübbeWolff Fn. 78, S. 298f., übersehen. 116 Kant, MS, AA VI, S. 273. Der beispielhaft angeführte (im Übrigen von Kant durchaus geschätzte) Mendelssohn (Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, S. 29ff.) führt den Begriff des Vertrages auf empirische Zwecke (Glückseligkeit) zurück. Dazu Scheffel Fn. 91, S. 317ff. 117 Vgl. die entsprechende Passage zum falschen Versprechen in der Grundlegung, AA IV, S. 403: »Was ich also zu tun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit.« S. zu diesem Problem auch S. 108ff. und 144ff. 118 Kant, MS, AA VI, S. 219. 114
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cher Triebfeder die Handlung vorgenommen wird. Die äußere Handlung selbst kann erzwungen werden, wenn sie nach rechtlicher Gesetzgebung objektiv notwendig ist. Wenn es dagegen um die Moralität der Handlung geht, ist die Triebfeder der Handlung relevant. Das oberste Prinzip der Tugendlehre macht einen Zweck zur Pflicht: »Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.«119
Einen Zweck als Pflicht zu haben, ist nur durch freien Selbstzwang möglich. Dies ist der bereits erwähnte positive Begriff der (inneren) Freiheit, nämlich die Fähigkeit der Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein und ungeachtet aller sinnlichen Antriebe die Triebfeder der Handlung zu bestimmen. Die Erfüllung von Tugendpflichten kann daher nicht durch Gewalt erzwungen werden. Die ethische Gesetzgebung kann niemals eine äußere sein. Allerdings werden die Pflichten, die von einer äußeren, juridischen Gesetzgebung herrühren, in der Tugendlehre vollständig aufgenommen, und mit Triebfedern versehen. Tugendpflichten verknüpfen den subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür zu der Handlung mit der Vorstellung des Gesetzes.120 Die Idee der Pflicht aus der rechtlichen Gesetzgebung ist in der Tugendlehre die Triebfeder der Handlung. Es ist (Tugend-)Pflicht, sich die Idee der Pflicht zum Zweck der äußeren Handlung zu setzen, also »aus Pflicht« zu handeln. Sein Versprechen zu halten und einen Vertrag zu erfüllen, ist daher zunächst eine Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen werden darf.121 Die Gesetzgebung, daß Versprechen gehalten werden müssen, d.i. die Bindung an den Vertrag, betrifft die äußere Handlung und folgt aus der Rechtslehre.122 Jedoch fordert die Tugendlehre darüber hinaus, daß man den Vertrag erfüllt, weil dies Pflicht ist, und nicht etwa, weil man die zwangsweise Durchsetzung des Rechts befürchtet: »So gebietet die Ethik, daß ich eine in einem Vertrag getane Anheischigmachung, wenn mich der andere Teil gleich nicht dazu zwingen könnte, doch erfüllen müsse«.123
Die Ethik lehrt, fährt Kant fort, daß, wenn der äußere Zwang auch weggelassen wird, »die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei«.124 Zur Ethik und nicht zum Recht gehört daher die Achtung für das Gesetz. Wenn jemand den Grundsatz hochhält: »Handle pflichtmäßig aus Pflicht«125, wählt er die Achtung für das Recht zur Maxime seiner Handlungen. Er handelt verdienstlich, 119
Kant, MS, AA VI, S. 395. Kant, MS, AA VI, S. 218. 121 Kant, MS, AA VI, S. 220. 122 Vgl. auch Kant, MS, AA VI, S. 220: »Also nicht in der Ethik, sondern im Ius liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehalten werden müssen.« 123 Kant, MS, AA VI, S. 219. 124 Kant, MS, AA VI, S. 220. 125 Kant, MS, AA VI, S. 391. 120
III. Kant und seine Vorläufer
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denn er macht sich dadurch »das Recht der Menschheit« zum Zweck und tut mehr als seine »Schuldigkeit«,126 weil ein anderer die Erfüllung des Vertrages fordern kann, aber nicht, daß die Einhaltung des Vertrages aus Pflicht geschieht.127 Es versteht sich dabei von selbst: Mehr als seine Schuldigkeit zu tun, kann nicht nur nicht von anderen von mir verlangt werden, sondern ist kein Gegenstand der Rechtslehre und nach Kant einer äußeren Gesetzgebung überhaupt unzugänglich.
III. Kant und seine Vorläufer Die Metaphysik der Sitten ist ein Einschnitt in der Rechtsphilosophie.128 Der Grund dafür liegt in der methodischen Neuorientierung der Philosophie in der Kritik der reinen Vernunft. Kant vollzieht darin was er selbst als »kopernikanische« Wende bezeichnet.129 Die Abkehr von der herkömmlichen Methode, dem sog. »Dogmatismus«,130 hat wichtige Auswirkungen für die theoretische Philosophie und Umwälzungen in der praktischen Philosophie zur Folge gehabt. Während im vorkritischen Naturrecht Lehrsätze und Regeln noch unvermittelt von einer durch Gott geordneten Welt der Dinge an sich abgeleitet wurden,131 ist für Kant klar, daß ein Beweis, wie er für die Naturgesetze im eigentlichen Sinn gilt, für die praktische Philosophie nicht in Frage kommt. David Hume hatte bereits darauf hingewiesen, daß der Schluß vom Sein auf ein Sollen (die »Methode« des Dogmatismus) ein Fehlschluß ist.132 Dies ist der negative Aspekt der »kopernikanischen Tat« Kants: Durch Erfahrung bestätigte Erkenntnis ist nicht in Mathematik, Logik, oder anderen Aspekten der reinen theoretischen Vernunft und ebenso126
Kant, MS, AA VI, S. 390. Kant, MS, AA VI, S. 391. 128 Kiefner in Bühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, S. 3, 23 (»Das naturrechtliche System war in seinen Grundlagen zerstört, durch Kant.«); Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 249; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 40; von der Pfordten Fn. 68, S. 355ff. 129 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVII. Dazu etwa Kaulbach, Kant, S. 110ff. 130 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXIXff. 131 Wie sich etwa an der gleich im Anschluß erörterten Lehre von Grotius aufzeigen läßt. 132 Hume, A Treatise of Human Nature, 3.1.1., S. 302: »In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remark’d, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs, when of a sudden I am surpriz’d to find that instead of the usual copulations of propositions, is and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation of affirmation, reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it.« Dazu auch Fikentscher Fn. 128, S. 17ff., der die Neuausrichtung der Philosophie durch Kant und Hume an den Anfang der Methodenlehre des mitteleuropäischen Rechtskreises stellt. 127
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
wenig von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als den Gegenständen der reinen praktischen Vernunft möglich. Hume hatte als Konsequenz daraus Philosophie auf Erkenntnis a posteriori beschränkt. Den Empirismus Humes lehnt Kant als »Irrlehre« ab.133 Die Beschränkung der verifizierbaren Erkenntnis auf die (phänomenale) Welt der Erfahrungen hat neben dem erwähnten negativen auch einen positiven Aspekt: Erst sie ermöglicht es, den Standpunkt des Noumenalen in seiner »Reinheit«, also ungetrübt durch Urteile a posteriori, zu erfassen.134 Aus der Entdeckung der Verschiedenheit der noumenalen Welt zieht Kant somit anders als Hume und anders als viele nach Kant nicht die Folgerung, daß über die Kausalität aus Freiheit oder überhaupt das, was die »reine« Vernunft ausmacht, nichts mehr gesagt werden kann. Nur sind Sein und Sollen von nun an streng getrennt. Jede Disziplin hat ihre eigene Methode: »Man kann alle Philosophie, sofern sie auf Gründen der Erfahrung fußt, empirische, die aber, so lediglich aus Prinzipien a priori ihre Lehren vorträgt, reine Philosophie nennen. Die letztere, wenn sie bloß formal ist, heißt Logik; ist sie aber auf bestimmte Gegenstände des Verstandes eingeschränkt, so heißt sie Metaphysik. Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten. Die Physik wird also ihren empirischen, aber auch einen rationalen Teil haben; die Ethik gleichfalls, wiewohl hier der empirische Teil praktische Anthropologie, der rationale aber eigentlich Moral heißen könnte.«135
Eine damit zusammenhängende, wiederum kontroverse Konsequenz der Neuausrichtung ist die Verbannung der Erfahrung, also von Urteilen a posterori und damit jeglicher Glückseligkeitslehren, aus der (reinen) praktischen Philosophie.136 Der Großteil der Rechtsphilosophie Kants ist keine Neuschöpfung. Daher wäre eine Überbetonung der Zäsur irreführend. Kant ist fest verwurzelt in der Tradition seiner »Vorgänger« Achenwall, Pufendorf, Wolff und Grotius, Hobbes, Lokke und Rousseau um nur einige zu nennen. Die Unterscheidung von Natur- und Rechtszustand, das Problem der ersten Erwerbung des Bodens, die Einteilung der Rechte und Pflichten, die Staatsorganisation und vieles mehr sind Teil eines jahrhundertealten Diskurses. Die Rechtslehre von 1797 nimmt die naturrechtlichen Themen auf und gibt ihnen durch die verbesserte Methodik eine neue Wendung. Sie ist der einzigartige Kristallisationspunkt der praktischen, aus der Freiheit der Person abgeleiteten, Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In diesen 133
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, A 26. Dies führt Kant im Hinblick auf die Freiheit des Willens aus: Wenn man Erkenntnis nicht auf die Erfahrungswelt beschränkte, so könnte man nicht erklären, warum die naturgesetzliche Kausalität für menschliche Handlungen keine Gültigkeit haben sollte. Erst vom Standpunkt des Noumenalen aus, ist Freiheit des Willens denkbar. 135 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 387. 136 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Lehrsatz I, A 38; Lehrsatz II, A 40. Zu diesen § 5, § 6 unten. 134
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beiden Bedeutungen, Synthese der Tradition und geläuterte, moderne Methode, war die Philosophie Kants bereits nach ihrem Erscheinen sehr einflußreich. Um die Kontinuität naturrechtlichen Gedankengutes deutlich zu machen, ist also zunächst ein Schlaglicht auf die Zeit vor Kant zu werfen. Es wäre im Rahmen der vorliegenden Arbeit vermessen, zu versuchen, einen umfassenden Überblick zu geben, zumal keine historische These vertreten werden soll. Es ist dennoch sinnvoll, einzelne Aspekte des Privatrechts vor Kant herauszugreifen, um zu veranschaulichen, in welch starkem Maße die Themen und Streitfragen, die in Kants Rechtsphilosophie erörtert werden, mit der naturrechtlichen Tradition verwoben sind. Gleichzeitig tritt das Besondere der Kantischen Interpretation dieser Entwicklungslinie erst hervor, wenn man sie anderen Ansätzen gegenüberstellt. Dies wird für die Analyse der späteren Rezeption Kants in der Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts von nicht unerheblicher Bedeutung sein.
1. Hugo Grotius Hugo Grotius verfaßte mit »De iure belli ac pacis«, »Das Kriegs- und Friedensrecht«, 1625 eines der erfolgreichsten Bücher der Neuzeit.137 Der vorkritische Ansatz ist kennzeichnend für dieses Werk. Der tragende Grund seiner Naturrechtskonzeption ist das göttliche Leitbild für die Ordnung des Menschen:138 »Das natürliche Recht (ius naturale) ist ein dictatem rectae rationis, das anzeigt, ob einer Handlung entsprechend ihrer Übereinstimmung (convenientia) oder Nichtübereinstimmung (disconvenientia) mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit zukomme und ob eine derartige Handlung folglich von Gott, dem Urheber der Natur, geboten oder verboten wird.«139
Dem entspricht es, daß Grotius auch einen Beweis a posteriori der Sätze des Naturrechts für möglich hält, nämlich wenn eine Regel bei allen »gesitteten« Völkern als Teil des Naturrechts angenommen wird.140 Auf diese Weise fließt eine Fülle von Sätzen des positiven Rechts, also vornehmlich des römischen Rechts,141 in Grotius’ System des Naturrechts ein. Wenn auch dieser vorkritische Ansatz von Kant später aufgegeben werden wird, finden sich doch bereits einige der Lehrsätze der später allein auf die menschliche Vernunft gegründeten reinen Rechtslehre.
137 Speziell zum Privatrecht darin Brandt, Eigentumstheorien, S. 31ff.; Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, S. 34ff. 138 Diesselhorst Fn. 137, S. 40. 139 Grotius, De iure belli ac pacis, I, 1, 10, 1 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 33). 140 Grotius, De iure belli ac pacis, I, 1, 12, 1 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 33). 141 Diesselhorst Fn. 137, S. 43, passim.
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Grotius unterscheidet das angeborene Recht an der eigenen Person und das Eigentum als erworbenes Recht.142 Zweck des Staates ist jedem »das Seine« zu erhalten: »[D]ie Gesellschaft hat den Zweck, mit gemeinsamen Kräften und im Zusammenwirken jedem das Seine zu erhalten (ut suum cuique salvum sit). Dies würde offenbar auch dann stattfinden, wenn das Eigentum (dominium), wie man es jetzt versteht, nicht eingeführt wäre. Denn das Leben, die Glieder und die Freiheit (vita, membra, libertas) würden auch dann jedem zu eigen gehören, so daß sie nicht ohne Unrecht von einem anderen angegriffen werden könnten. Ebenso würde es das Recht des Besitzergreifenden sein (ius esset occupantis), die allen zu Gebote stehenden Dinge zu gebrauchen (...).«143
Die Einführung des Eigentums wird damit begründet, daß Gott dem menschlichen Geschlecht »das Recht auf die Dinge niederer Art« gegeben habe.144 Auch das Thema des »urspünglichen« Gesamtbesitzes, von dem durch weitere Rechtsakte das Privateigentum abgesondert wird, wird hier bereits erörtert. Grotius geht von einer historisch existierenden Gütergemeinschaft (communio) aus, die aufgelöst werden mußte, weil die Menschen nicht mehr in größter Einfachheit verharrten oder nicht mehr in starker Nächstenliebe gelebt hätten.145 Der Übergang erfolgte durch einen Vertrag (pactum), der auch stillschweigend geschlossen werden konnte und wodurch jeder das behalten durfte, was er in Besitz genommen hatte.146 Hauptaugenmerk des Privatrechts ist somit das Eigentum, jedoch ist auch für Grotius der Satz selbstverständlich, daß Verträge gehalten werden müssen.147 Der Staat selbst ist schließlich aus einem Vertrag seiner Bürger hervorgegangen. Vergleicht man diese grobe Skizze mit dem Kantischen System, so sieht man, daß einige Konstanten geblieben sind: Das angeborene Freiheitsrecht, das den (bloß) physischen Besitz von Gegenständen mit einschließt ebenso wie die Notwendigkeit der Begründung eines äußeren Mein und Dein als Erweiterung der Freiheit über das angeborene Recht hinaus. Des weiteren wird das Eigentum mit der Berufung des Menschen zur Herrschaft über die Natur gerechtfertigt (erinnert sei an Kants Ausspruch, daß eine Maxime wonach eine Sache herrenlos werden müßte, rechtswidrig ist). Die Notwendigkeit einer Begrenzung der Herrschaft wegen der Konflikte zwischen den Menschen wird ebenso thematisiert wie die Aufgabe des Staates zum Schutz der Rechte des einzelnen eingeführt. Das Problem der Absonderung des Privateigentums durch einen Rechtsakt, erfährt in concreto freilich eine andere Lösung. 142 Der Einstieg ist aus heutiger Sicht ungewöhnlich, denn Grotius beschreibt zunächst nur Kriegsgründe, die er aber von dem Unrecht, das einer natürlichen Person geschieht, ableitet. 143 Grotius, De iure belli ac pacis, I, 2, 1, 5 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 38–39). 144 Grotius, De iure belli ac pacis, II, 2, 2, 1 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 42). 145 Grotius, De iure belli ac pacis, II, 2, 2, 1–3 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 42ff.). 146 Grotius, De iure belli ac pacis, II, 2, 2, 3 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 44). 147 Grotius, De iure belli ac pacis, I, 2, 8 (Übersetzung nach Brandt Fn. 137, S. 39); Diesselhorst Fn. 137, S. 40.
III. Kant und seine Vorläufer
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2. Samuel Pufendorf Samuel Pufendorf ist vor allem wegen der Weiterentwicklung des Vertragsgedankens vorliegend von Interesse.148 Verträge sind Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und darüber hinaus konstituierend für das staatliche Gemeinwesen.149 Die Gründe für das Verlassen des Naturzustands und die Einzelheiten der Staatsgründung durch Vertrag150 sind an dieser Stelle nicht von Belang.151 Hervorzuheben ist dagegen die Fundierung von Versprechen und Vertrag im Konsens.152 Pufendorf betont, daß das gegebene Wort zu halten ist. Er belegt dies im einzelnen und setzt sich ausführlich mit der damals durchaus geläufigen Gegenansicht auseinander, die formfreie Verträge nicht schlechthin für bindend hält. Aus heutiger Sicht mag die Bindung an den Vertrag nicht als dringendes Problem erscheinen. Die argumentative Leistung wird erst deutlich, wenn man die vielfältigen Beschränkungen bedenkt, die das römische Recht vorsah:153 Nur bestimmte benannte Vertragstypen waren als Konsensualverträge (pacta nuda) ohne die Einhaltung besonderer Formerfordernisse einklagbar.154 Es fehlte im römischen Recht mit anderen Worten das theoretische Fundament für ein allumfassendes Verständnis des Vertrages. Pufendorf verteidigt sich gegen den Einwand des Widerspruchs zum römischen Recht damit, daß er die eingeschränkte Klagbarkeit auf die besonderen, pragmatischen Zwecke des Formenzwangs zurückführt und nicht etwa darauf, daß diese Verträge nach natürlichem Recht nicht bindend seien.155 Auch wenn diese Debatte, die bis in die Spätscholastik und mittelalterliche Autoren zurück verfolgt werden kann, wohl wenig Einfluß auf die Rechtsanwendung der damaligen Zeit hatte,156 so ist sie dennoch von großem Wert. Denn auf dieser Analyse konnten in der nächsten Stufe der Abstraktion von den römischen Quellen Kant und Savigny ein System des Vertragsrechts aufbauen. Die naturrechtliche Literatur hat auf diese Weise dazu beigetragen, daß das Vertragsrecht auf dem Kontinent recht bald, in Deutschland spätestens mit der Rechtsgeschäftslehre Savignys, seinen fragmentarischen Charakter verliert, während das englische Recht länger mit der Dominanz der Klageformen zu kämpfen hat, nämlich bis weit hinein in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. 148 Er war auch in England und Schottland einflußreich, s. etwa Behme, Samuel von Pufendorf, S. 183ff. 149 Vgl. insbes. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3.4ff.; 5.2ff. 150 Vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3.2.8. 151 Dazu Wydunkel in Geyer/Goerlich (Hrsg.), Pufendorf, S. 39, 43ff. 152 Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3.6.1f. 153 Darauf weist Wydunkel Fn. 151, S. 42 hin. So auch Lübbe-Wolff Fn. 78, S. 293f., die für das theoretische Fundament des Vertrages auf Kant verweist. 154 Näher Zimmermann, The Law of Obligations, S. 508ff. 155 Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3.5.9ff.; dazu Wydunkel Fn. 151, S. 43, der folgert, daß Pufendorf hier einen entscheidenden Schritt in Richtung Vertragsfreiheit geht. Vgl. jedoch sogleich im Text. 156 Näher Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, S. 41ff., 73ff.
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Allerdings ist Pufendorfs Vertragslehre dessen ungeachtet weitgehend teleologisch bestimmt. Wie Luig treffend zusammenfaßt: »Inhalt des Vertrages ist überhaupt mehr das, was gesollt ist, als das, was gewollt ist.«157
Dies hängt damit zusammen, daß Pufendorf seine Vertragslehre vor dem Hintergrund einer ethischen Pflichtenlehre entwickelt. Während Grotius, wie erläutert, im Rahmen der Erörterung der Kriegsgründe noch von verletzungsfähigen Rechtspositionen einzelner ausging, stellt Pufendorf das System vom subjektiven Recht auf die Pflicht um, deren Einhaltung nicht notwendigerweise von anderen Personen verlangt werden kann.158 Pufendorf unterscheidet Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegenüber anderen Menschen.159 Die Pflichten gegenüber anderen sind weiter unterteilt in Pflichten, andere nicht zu verletzen,160 die Pflicht zur Gleichbehandlung aller Menschen161 und schließlich der Pflicht der Menschlichkeit, also der Pflicht, anderen Menschen etwas »positiv Gutes« zu erweisen.162 Aus dieser letzten Unterkategorie von Pflicht wird der Schuldvertrag abgeleitet. Da nicht alle Menschen so gut seien, das, was anderen nützlich sein könnte, aus »bloßer Menschlichkeit« zu tun, seien Verträge zum Austausch von gegenseitigen Leistungen notwendig, deren Erzwingung staatlich garantiert ist.163 Da Verträge nur Konkretisierungen der Gemeinschaftspflichten sind, kann ihr Inhalt jederzeit an diesen gemessen werden.164 Diese Elemente der Vertragslehre werden bei Kant als materiale Zwecke in den Bereich der Ethik verwiesen.165 Kant entwickelt sein Privatrecht in Anlehnung an Grotius und im Kontrast zu Pufendorf mit Hilfe der angeborenen und erworbenen Rechte, während die Pflichten der Rechtslehre letztlich nur Ausdruck der Tatsache sind, daß Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Diese Rückbesinnung auf die Freiheit und das subjektive Recht als Raum der ungestörten Herrschaft des Willens der einzelnen Person ist der wesentliche Beitrag Kants. Dieser Aspekt sollte auch die Richtung der Diskussion im 19. Jahrhundert bestimmen. Während Hegel zwar den »freien Willen« als Grundlage des Naturrechts übernimmt, aber bei der Trennung von Recht und Ethik und der Aufgabe des Staates deutliche Veränderungen
157
Luig in Geyer/Goerlich (Hrsg.), Pufendorf, S. 85, 97. Luig Fn. 157, S. 92. 159 Pufendorf, De officio hominis et civis, 1.3.13. 160 Pufendorf, De officio hominis et civis, 1.6. 161 Pufendorf, De officio hominis et civis, 1.7. 162 Pufendorf, De officio hominis et civis, 1.8.1. 163 Pufendorf, De officio hominis et civis, 1.9.2. 164 Luig Fn. 157, S. 96ff. führt als Beispiel die Modalitäten der Leistung (1.16.1), die Irrtumsregelung (1.9.12), die Kontrolle der Gleichwertigkeit der Gegenleistung (1.15.3) und die gesetzliche Festlegung des Preises (1.14.5) an. 165 S. aber Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 161 (der die kantische Trennung von Recht und Ethik bereits bei Pufendorf zu erkennen meint). 158
IV. Zum Einfluß Kants auf die Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts
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vornimmt, folgt Savigny im wesentlichen der liberalen Grundkonzeption des Privatrechts Kants.
IV. Zum Einfluß Kants auf die Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts Im folgenden sollen wichtige Spuren der Rechtsphilosophie Kants in Schlüsseltexten des 19. Jahrhunderts aufgezeigt werden. Die damit einhergehende Reduktion wird mancher als Quellenferne bedauern. Doch geht es mir nicht um eine rechtshistorisch vollständige Rekonstruktion mit all ihren Facetten, sondern allein darum, auf die bemerkenswert weitreichende Rezeption der Kantischen Privatrechtstheorie gerade durch die Privatrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts hinzuweisen. Dies ist nicht zuletzt deswegen sinnvoll, weil die Ausführungen Kants zum Privatrecht in der Metaphysik der Sitten im Vergleich zu seiner übrigen Philosophie gewöhnlich weniger stark beachtet werden.
1. Die Anfänge der modernen Prozeßrechtsdogmatik Die Kantische Lehre ist in der zeitgenössischen Naturrechtstradition verwurzelt und in mancher Hinsicht dem römischen Recht verpflichtet. Sie verdient es aber besonders hervorgehoben zu werden, weil Kant es vermochte, die Argumente auf das Wesentliche zurück zu führen und vor allem in ein Gesamtsystem der praktischen Philosophie einzuordnen. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß seine verdichteten Formulierungen schlagwortartig (meist ohne Zitat) in dem jeweiligen »Allgemeinen Teil« der nachfolgenden Lehrbücher zur Dogmatik wiederkehren. Kurze Zeit nach Erscheinen der Metaphysik der Sitten übernehmen die wichtigen Werke zur Prozeßrechtsdogmatik von Grolman und Gönner zentrale Aussagen zur Funktion der Gerichte.166 Karl Grolman beginnt seine zivilprozessuale Abhandlung mit der Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft und entwickelt seine Theorie des Zivilprozesses ausgehend von folgender, Kantisch geprägter Erkenntnis der »philosophischen Rechtslehre«: »Es giebt keinen rechtlichen Zustand zwischen Menschen und Menschen, als im Staate, es giebt keinen Staat ohne positive Gesetze, und ohne daß, mit Verzichtleistung auf das Recht des eigenen Gerichts, ein öffentliches Richteramt constituiert würde.«167
Gegenstand des Zivilprozesses sei die »Herstellung der Integrität des Rechtsgebietes (des Mein und Dein) der Bürger«,168 oder anders:
166 167 168
Vgl. die umfassende Würdigung bei K.-W. Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, S. 41ff. Grolman, Theorie des gerichtlichen Verfahrens, S. 2f. Grolman Fn. 167, S. 8.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
»Der Endzweck eines jeden gerichtlichen Verfahrens ist: daß jeder bey seinem, ihm von dem Staate garantierten Rechte, durch die richterliche Hülfe geschützt werde.«169
Da jedoch jeder Bürger mit seinen Rechten »nach freier Willkür zu schalten befugt« sei, folge, daß der Staat nur dasjenige zu schützen habe, »was dieser auch wirklich als das Seine anerkennt«.170 Damit ist zugleich die Grundlage für die Verhandlungsmaxime und verwandte Grundsätze gelegt. Grolman orientiert sich also nicht nur an der Terminologie der Rechtslehre Kants, also etwa an der des rechtlichen Zustands oder des Schutzes von Mein und Dein, sondern folgt Kant auch in der Sache, wenn er den Zweck der Ausübung staatlicher Macht in dem Schutz subjektiver Rechte sieht und die für die Dogmatik relevanten Prinzipien von diesem Endzweck ableitet. Der kurze Zeit später schreibende Nikolaus Gönner übernimmt wiederum die meisten der theoretischen Passagen Grolmans, wie etwa die, die den Endzweck des gerichtlichen Verfahrens betreffen.171 Die naturrechtliche Verankerung tritt klar zum Vorschein, wenn es etwa im Hinblick auf die Mittel zur Erreichung dieses Endzwecks heißt: »Sie machen nothwendige Bedingungen zur Erreichung des Endzwecks aus, und können deshalb durch keine positive Gesetzgebung abgeändert werden.«
Auch bei Gönner gibt das allgemeine Prinzip nicht nur einen theoretischen Überbau ab, sondern bietet eine Grundlage für die Ableitung verfahrensbestimmender prozessualer Maximen. So führt er mit den Argumenten Grolmans die Verhandlungsmaxime ein172 und leitet von dem Endzweck des Verfahrens, dem Schutz subjektiver Rechte, – unter anderem – das Recht auf rechtliches Gehör als obersten Grundsatz »alles Prozesses« ab: »Jedes gerichtliche Verfahren kann nur zum Schutz des Seinen im Staate abzwecken, und dieser Schutz fordert, daß niemand ungehört verurteilt (...) werde.«173
Kants Rechtsphilosophie führt zu der Einsicht, daß es zentrale Aufgabe des Staates ist, das Gerichtswesen zu organisieren, denn die Möglichkeit der Anrufung des Richters bei einer Rechtsverletzung und der von der staatlichen Gerichtsbarkeit garantierte Rechtsschutz ist der entscheidende Unterschied zwischen einer bürgerlichen Verfassung und dem Naturzustand. Diese Theorie war (und ist es noch) daher ohne größere Zwischenschritte als Fundament zivilprozessualer Dogmatik geeignet. Dafür steht exemplarisch die Schule von Grolman und Gönner, die in Konzeption und Sprache am deutlichsten vom Naturrecht beeinflußt sind. Wie in § 7, unten, zu zeigen sein wird, läßt sich das Modell des subjektiven 169 170 171 172 173
Grolman Fn. 167, S. 98. Grolman Fn. 167, S. 103. Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses, Bd. 1, Teil VI, S. 93. Gönner Fn. 171, S. 99. Gönner Fn. 171, S. 95.
IV. Zum Einfluß Kants auf die Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts
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Rechtsschutzes der Rechtslehre Kants aber auch für das Verständnis und die Würdigung des heutigen positiven Rechts fruchtbar machen. Von zentraler Bedeutung für die Auswirkungen der Kantischen Philosophie des subjektiven Rechts sind darüber hinaus die Spuren, die Kant in dem seinerseits überragend einflußreichen System Savignys hinterlassen hat. Um den Einfluß Kants von dem anderer Richtungen zu unterscheiden, ist es jedoch zunächst zweckmäßig, auf die Rechtsphilosophie Hegels einzugehen, die man, etwas plakativ, als Hauptrivalin der Kantischen Lehre bezeichnen könnte.
2. Eigentum und freier Wille bei Hegel Für Georg Friedrich Wilhelm Hegel ist das Recht »positiv überhaupt«:174 Schon der Form nach ist die Rechtswissenschaft positiv, da sie sich mit der Gültigkeit von Recht befaßt; aber auch ihrem Inhalt nach, weil das Recht durch den Nationalcharakter eines Volkes geprägt werde, das sich wiederum stets nur auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe befinde. Hegel mahnt jedoch sogleich in einer Anmerkung, daß das »Naturrecht oder philosophische Recht« nicht als Gegensatz zum positiven Recht verstanden werden dürfe.175 Der geschichtliche Aspekt des Rechts diene seiner »Erklärung«, aber nicht mehr: So könne man ein Rechtsinstitut im Hinblick auf die historischen Umstände als konsequent erklären und doch könne dieses »unrechtlich und unvernünftig« sein; der Rechtsbegriff, der im Zentrum der Rechtsphilosophie steht (§ 1), würde durch das Erklären »gar nicht zur Sprache« kommen.176 Um folglich das Wesen des Rechts erfassen zu können, benötigt man beides, Geschichte und Philosophie. Hegel stellt sich damit bewußt in die Tradition des Naturrechts, wenn er auch den positiven Charakter des Rechts und daraus resultierend seine geschichtliche Entwicklung viel stärker herausarbeitet als Kant.177 Von der historischen Rechtsschule grenzt er sich aber ebenfalls ab. So kann er Gustav Hugos Versuch nicht viel abgewinnen, die »Vernünftigkeit« des römischen Rechts aufzuzeigen: letztlich bleibe dieser dem historisch zufälligen, dem bloßen »Erklären« verhaftet und »vergesse« anzugeben, »in welchem und ob in irgendeinem derselben [Zeiträume] das römische Recht den höchsten Forderungen der Vernunft Genüge geleistet habe«.178 Auch für Savignys Polemik gegen Thibaut von 1814 »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«, in der Savigny dem Naturrecht 174
Hegel, R, TW 7, § 2, S. 34. Hegel, R, TW 7, S. 35. S. auch § 1 II., oben. 176 Hegel, R, TW 7, S. 36. 177 Es ist daher zumindest mißverständlich von der »Aufhebung des Naturrechts« bei Hegel zu sprechen, so aber Seubold ARSP 1998, 326. Vgl. nur Hegel, R, TW 7, § 30, S. 83: »Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt (...)«. 178 Hegel, R, TW 7, S. 41, mit dem Hinweis, daß Sklaverei »usw.« auch sehr geringen Forderungen der Vernunft nicht Genüge leisten. 175
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
die Fähigkeit abgesprochen hatte, den Inhalt eines Gesetzbuches zu bestimmen, hat Hegel wenig Verständnis. Ohne Savigny ausdrücklich zu erwähnen, empört er sich: »Einer gebildeten Nation oder dem juristischen Stande derselben die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen (...) wäre einer der größten Schimpfe, der einer Nation oder jenem Stande angetan werden könnte.«179
Das Dasein des freien Willens ist das Recht.180 Hegel verwirft das allgemeine Prinzip des Rechts Kants, wonach die Willkür nur in der Weise ausgeübt werden dürfe, daß sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmt.181 Dies sei eine rein negative, äußerliche Bestimmung des Rechts, die den Charakter des »an und für sich seienden«, »vernünftigen« Willens und damit den »wahren Geist« des Rechts leugne. Nach Hegel bedeutet nämlich die Verwirklichung der Idee des Rechts wesentlich mehr als Kants »Formalismus«. Den »Stufengang« der Entwicklung des »an und für sich freien Willens« legt Hegel in § 33 dar:182 Der an und für sich freie Wille (der Rechtsbegriff) ist danach zunächst unmittelbar, auf die Persönlichkeit und das äußere Dasein bezogen. Damit bezeichnet Hegel das abstrakte oder formelle Recht: das Eigentum (§ 41) und den Vertrag (§ 72). Der Wille, soweit er subjektiv aus dem äußeren Dasein in sich reflektiert werde, sei Gegenstand der Moralität (§ 105). Die Vereinigung dieser beiden Elemente des Willens in der Sittlichkeit ist der dritte Aspekt des Rechts. Freiheit existiere hier sowohl als Substanz in der äußerlichen Welt als auch als subjektiver Wille in der Idee des Guten. Diese sittliche Substanz unterteilt Hegel in die Familie (§ 158), die bürgerliche Gesellschaft (§ 182) und schließlich den Staat (§ 257). Für Hegel gibt es danach keine für das Recht zu beachtende Grenze außer der Vernunft. Kants Bemühen um eine vom Recht unabhängige Sphäre des Gebrauchs der Willkür (die Tugendlehre) verwirft Hegel als formalistisch und negativ, das Wesen des Rechts verkennend. Das Recht ist in ganz umfassendem Sinn verstehen. Da die Triebfedern der Handlung den moralischen Gesetzen unterworfen sind, kann sie das Recht nicht absondern. Der freie Wille ist das Recht und damit alles was vernünftig ist. Der Staat schließt die Moralität des einzelnen in sich ein. Wenn man den Staat auf die Gewährleistung der Rechte des einzelnen, vornehmlich das Privateigentum und der persönlichen Freiheit beschränke, so verwechselte man, meint Hegel, den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft.183 179 Hegel, R, TW 7, § 211, S. 363. In den entsprechenden Passagen preist er die Vorzüge des Gesetzes im Vergleich zum Gewohnheitsrecht, das nur auf eine zufällige und subjektive Weise gewußt werde (dabei verweist er auf die »ungeheure Verwirrung« der englischen Rechtspflege). 180 Hegel, R, TW 7, § 4, S. 46, § 29, S. 80. Die Freiheit bezieht sich dabei auf die Möglichkeit, seine Neigungen zu bestimmen; vgl. etwa § 11, S. 62, § 15, S. 65. 181 Hegel, R, TW 7, § 29, S. 81: in drastischen Worten geißelt er die »Seichtigkeit« dieser Überlegung. 182 Hegel, R, TW 7, S. 87. 183 Hegel, R, TW 7, § 258, S. 399.
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Zwar sei es Zweck des Staates die »besonderen Interessen« zu erhalten, jedoch geht diese »konkrete Freiheit« der »persönlichen Einzelheit« »teils« in das Interesse der Allgemeinheit über und »teils« soll die tätige Förderung desselben für die besonderen Interessen »Endzweck« sein.184 Darin, daß das Recht nicht mehr auf die äußere Handlung, bei Kant die Legalität der Handlung, beschränkt ist, ist der Keim zu einem totalitären, wenn auch »vernunftgeleiteten«, Staat gelegt.185 Bei der Bestimmung der abstrakten Rechte, also des Privatrechts, lassen sich jedoch wichtige Übereinstimmungen mit Kant feststellen; dabei sollte aber nicht vergessen werden, daß die Kontinuität durch die eben skizzierte Staats- und Moralphilosophie Hegels grundsätzlich relativiert wird. Die These Kants, daß ein rein rechtlicher Besitz möglich ist, wird von Hegel zugespitzt: »Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft.«186
Das Eigentum an (unfreien) Sachen ist die äußere Sphäre der Freiheit. Die Person hat »das Recht«, in eine beliebige Sache »ihren Willen zu legen«, die dadurch die »meinige« wird.187 Beide Aspekte der kantischen Besitzlehre kehren hier also wieder: die Erweiterung der Freiheit der Person durch Bemächtigung der äußeren Welt und das Erlaubnisgesetz, das den Erwerb eines äußeren Mein und Dein gestattet.188 Das Vertragsrecht ist bei Hegel ein Zusatz zum Eigentumsrecht: Der Sinn von Verträgen liege darin, Eigentum nicht nur mittels des eigenen subjektiven Willens zu haben, sondern zusätzlich mittels eines anderen Willens.189 Dies ist angesichts der umfassenden Definition des Eigentums, die das gesamte äußere Dasein der Person umfaßt, naheliegend. Während Kant das Besondere der Obligation, die die Inbesitznahme einer anderen Person beinhaltet, im Unterschied zum Sachenrecht herausarbeitet, »versachlicht« Hegel die gesamte äußere Welt.190 Vertrag wird verstanden als Übertragung von Eigentum.191 Nur eine äußerste Grenze des Vertrages muß daher thematisiert werden, das Verbot der Veräußerung unveräußerlicher Güter, der Persönlichkeit überhaupt.192 Soweit eine Tätigkeit Gegenstand des Vertrages ist, dürfen nur einzelne Tätigkeiten zum in der Zeit beschränkten Gebrauch veräußert werden.193 Hegel übernimmt auch Kants Eintei184
Hegel, R, TW 7, § 260, S. 406f., § 270, S. 415. Zu der kontroversen Deutung von bürgerlichen Gesellschaft und Staat bei Hegel s. etwa Horstmann in Siep (Hrsg.), Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 193; Schädelbach, ebd. S. 243. 186 Hegel, R, TW 7, § 41, S. 102. 187 Hegel, R, TW 7, § 44, S. 106. 188 Zur Besitzergreifung Hegel, R, TW 7, § 52, S. 115, Abschnitt A, S. 119ff. 189 Hegel, R, TW 7, § 71, S. 152; § 72, S. 155. 190 Vgl. dazu Ritter in Siep (Hrsg.), Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 55, 70ff. 191 Womit er ein Vorläufer moderner »Transfertheorien« ist, näher § 3 II., unten. 192 Hegel, R, TW 7, § 66, S. 141; § 77, S. 160. 193 Hegel, R, TW 7, § 67, S. 144. 185
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lung der Vertragstypen mit der allerdings wichtigen Modifikation, daß beim Tauschvertrag, Leistung und Gegenleistung quantitativ gleich sein müßten.194 Der umfassende Eigentumsbegriff Hegels mit seiner Unterordnung des Vertrages bleiben hinter der kategorialen Unterscheidung Kants zwischen Substanz und Kausalität als Gegenständen der Willkür zurück. Savigny wird sich später in dieser Hinsicht für sein System, obwohl er im Übrigen die Positivität des Rechts und seine geschichtliche Dimension in ähnlich starker Weise betont wie Hegel, in erster Linie an der Metaphysik der Sitten orientieren, was freilich auch daran liegt, daß sein Staatsbegriff, wie sogleich zu zeigen sein wird, enger als der Hegels ist.
3. Positives Recht und Naturrecht bei Hugo Gustav Hugo ist, trotz seiner vielfältigen naturrechtskritischen Äußerungen,195 ein wichtiges Bindeglied zwischen Naturrecht und Pandektenwissenschaft. Er unterscheidet drei Teildisziplinen der Rechtswissenschaft nach den drei Fragen: »Was ist Rechtens?« – juristische Dogmatik; »Ist es vernünftig, daß es so sei?« – Philosophie des Rechts; und »Wie ist es so geworden?« – Rechtsgeschichte.196 Die Dogmatik, die das »Handwerksmäßige« der Jurisprudenz ausmache und deren Studium auch empirisch betrieben werden könne, hat das »positive Recht« zum Gegenstand. Dessen Wirklichkeit beruhe allein auf Tatsachen, zu denen jedenfalls nicht ein tatsächlich geschlossener Gesellschaftsvertrag gehöre.197 Das positive Recht rühre damit allein vom Zufall her; die Rezeption des römischen Rechts sei nur ein besonderer Anwendungsfall dieser Einsicht.198 Das positive Recht könne daher weder je vollständig noch im strengen Singe systematisch sein.199 Allein der »Wert« eines positiven Rechts sei mit Hilfe der Philosophie, der Lehre vom Naturrecht, zu bestimmen; dabei sollte die Philosophie des Privatrechts ein Hauptgegenstand des Naturrechts sein.200 In seiner eigenen Naturrechtlehre ist er von Kant beeinflußt201. Es genügt an dieser Stelle der Hinweis auf die später von Savigny übernommene Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Recht, die er in Anlehnung an die englischen Worte right und law entwickelt:202 Das subjektive Recht ist das »Verhältnis, vermöge welches nicht nur kein wider194 Hegel, R, TW 7, § 77, S. 160 (Rechtfertigung der laesio enormis); § 80, S. 165ff. (Vertragtypen). Ähnlicher Ansatz bei Gordley, S. 89ff. 195 S. nur Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, S. 9 (»Das NaturRecht war (...) eine mehr oder weniger vollständige Encyclopädie unseres positiven Rechts (...)«); vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 378ff. S. auch Hegels Reaktion, Text bei Fn. 178. 196 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 1, § 16, S. 15. 197 Hugo Fn. 196, Bd. 1, § 6, S. 5f. (unter Berufung auf Hume und Kant). 198 Hugo Fn. 196, Bd. 1, § 7, S. 6; § 8, S. 7. 199 Hugo Fn. 196, Bd. 1, § 9, S. 8; § 112, S. 81. 200 Hugo Fn. 196, Bd. 1, § 10, S. 8; § 115, S. 85. 201 S. Hugo Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 2; in seinem Lehrbuch des Naturrechts, Fn. 195, S. XII bekennt er sich als »Anhänger Kant’s«. 202 Hugo Fn. 196, Bd. 1, § 2, S. 2.
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stehender Zwang zu befürchten, sondern selbst ein begünstigender Zwang von Anderen zu hoffen ist«; das objektive Recht »ist die Lehre von den äußeren Zwangsverhältnissen als solchen, – von der Einschränkung der äußeren Freiheit durch die Freiheit Anderer, – von der juristischen Möglichkeit.«
4. Rechtsverhältnis und Rechtsinstitut bei Savigny Rechtsverhältnis, Rechtsinstitut und Rechtsquellenlehre sind die Eckpfeiler von Friedrich Carl von Savignys »System«. Die Darstellung sowie die Argumentation sind unverkennbar an die naturrechtliche Tradition angelehnt, von der sich Savigny hauptsächlich dadurch unterscheidet, daß er die historische Dimension des Rechts in den Vordergrund stellt und sich den vielfältigen Erscheinungsformen des positiven Rechts annimmt. Anhand von Savigny läßt sich dessen ungeachtet zeigen, wie einflußreich der Ansatz Kants zur Fundierung des Privat- und öffentlichen Rechts für das Privatrechtsverständnis des 19. Jahrhunderts war. Dieser wird, weitgehend unausgesprochen, den theoretischen Passagen des Systems zugrunde gelegt.203 Im einzelnen läßt sich eine unmittelbare Übereinstimmung zur Metaphysik der Sitten hinsichtlich einer ganzen Reihe grundlegender Elemente des Systems feststellen: der Funktion des Staates, insbesondere der Rolle des Richters und seiner Begrenzung auf den Schutz subjektiver Rechte, der Trennung von Recht und Ethik, der Einführung des Privatrechts als Erweiterung der Freiheit sowie der Begründung von Sachenrecht und Obligation, die Notwendigkeit allgemeiner Regeln zur Begrenzung der Freiheitssphären einzelner um nur einige zu nennen.204
203 Savigny hatte sich noch 1814 in der Streitschrift »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« strikt dagegen gewandt, daß »das Vernunftrecht« den Inhalt eines Gesetzbuches unabhängig vom Bestehenden bestimmen könnte; dies sei eine »völlig hohle Ansicht« (zitiert nach Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny, S. 81). Inwieweit Savigny im späteren »System« Kantische Thesen aufgreift, ist nicht zuletzt wegen der spärlichen Zitierweise umstritten: vgl. einerseits Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 18ff. (Unterschiede könnten grundsätzlicher nicht ausfallen); anderseits Kiefner Fn. 128, S. 3ff. (Savigny entfaltet sein System auf Kantischen Axiomen); Fikentscher Fn. 128, S 37ff.; Fezer Fn. 128, S. 248 m.w.N. 204 Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, S. 186, gelangt nach eingehender Würdigung der Quellen außerhalb des hier zugrunde gelegten Schlüsselwerkes (System des römischen Rechts) zu der Schlußfolgerung: »Denn insoweit, aber nicht weiter, also nur im reinen Privatrecht (...), begegneten sich beide [Savigny und Thibaut] als Kantianer. Hier herrschte Freiheit.« Das entspricht im Ergebnis der in der vorliegenden Untersuchung vertretenen These. Schon dem jungen Savigny war jedenfalls die Philosophie Kants gut bekannt, wie insbesondere die (ablehnenden) Stellungnahmen zur Tugendlehre und dem kategorischen Imperativ zeigen, vgl. die eingehende Würdigung bei D. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre, S. 73ff.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
a) Der Volksgeist als Quelle des positiven Rechts Die Begriffe »Rechtsverhältnis« und »Rechtsinstitut« müssen zunächst erläutert werden. Sie sind bei Savigny maßgeblich von der auf Hugo zurückgehenden Definition von subjektivem und objektivem Recht beeinflußt. Das »subjektive Recht« ist eine der einzelnen Person zustehende Macht, mittels ihres Willens über ein bestimmtes Gebiet zu herrschen.205 Das Rechtsverhältnis ist die Zusammenfassung von subjektiven Rechten, die zwischen bestimmten Personen bestehen. Das subjektive Recht ist eine besondere Seite des Rechtsverhältnisses und zugleich dessen konstituierendes Element. Rechtsverhältnisse entstehen, entwickeln sich und vergehen, was Savigny als die »organische Natur« des Rechtsverhältnisses bezeichnet. Die einzelnen Rechte werden von einer allgemeinen Regel beherrscht.206 Das »Recht im objektiven Sinn« ist die Summe dieser allgemeinen Regeln. Grundlage der allgemeinen Regel ist das Rechtsinstitut in ähnlicher Weise wie das Rechtsverhältnis für das subjektive Recht. Während die organische Natur der sich jederzeit wandelnden Rechtsverhältnisse evident ist, ist das Verständnis von Rechtsinstituten im »lebendigen Zusammenhang« das Spezifische der Savignyschen historischen Schule. Die einzelnen Rechtsinstitute sind durch ein System verbunden, wodurch das System selbst organischer Natur ist und sich also stetig fortentwickelt. Der tiefere Grund für die organische Natur des Systems liegt in Savignys Verständnis der Rechtsquellen, also der Entstehungsgründe der Rechtsinstitute.207 Anders als für die Naturrechtler ist nicht unmittelbar die Vernunft Quelle der allgemeinen Regeln. Für Savigny steht fest, daß in jedem Zustand, in dem das Recht gesucht werden kann, es einem schon als wirkliches Dasein entgegentritt, nämlich in Gestalt des »positiven« Rechts. Die Existenz dieses positiven Rechts erklärt Savigny nun jedoch anders als noch Hugo nicht aus der rein tatsächlichen Durchsetzungsmacht eines zufälligen Gesetzgebers, sondern er führt das positive Recht auf sein Subjekt zurück, auf das Volk, genauer: den Volksgeist. Quelle des positiven Rechts, das, was das positive Recht »erzeugt«, ist der »lebende und wirkende Volksgeist«. Der Volksgeist wiederum ist kein empirisches Phänomen, also insbesondere kein zufällig bestehender und nach außen tretender Mehrheitswille, sondern eine »unsichtbare« gemeinschaftliche Kraft, die in jedem Einzelnen »notwendig« das Bewußtsein von ein und demselben Recht schafft.208 Diese innere Notwendigkeit der gleichförmigen Anerkennung des für alle identischen positiven Rechts kommt am »bestimmtesten«, schreibt Savigny, in der These vom göttlichen Ursprung des Rechts zur Geltung.209 In dieser Fundierung des positiven 205 Savigny, System, Bd. 1, § 4, S. 6ff. An spätere Stelle bezeichnet er das subjektive Recht auch als »Recht an sich«, z.B. Savigny, System, Bd. 5, S. 6. 206 Savigny, System, Bd. 1, § 5, S. 9ff. 207 Savigny, System, Bd. 1, § 7, S. 13ff. 208 Savigny, System, Bd. 1, S. 14. Davon ausgehend ordnet Rückert Fn. 204, passim, im vorliegenden Kontext S. 310 und 320f., Savignys Philosophie als »objektiv-idealistisch« ein. 209 Savigny, System, Bd. 1, S. 15.
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Rechts im Volksgeist liegt daher, anders als man vielleicht vermuten könnte, gerade kein eindimensionaler Positivismus und keine Abkehr vom Vernunftrecht.210 Darin ist nur das Eingeständnis enthalten, daß es in der Geschichte unterschiedliche »Interpretationen« des Vernunftrechts gibt, die historischem Wandel unterliegen. Savigny selbst räumt ein, daß es »Manchen« – gemeint sind offenbar die Naturrechtler – beschränkt erscheinen möge, die Erzeugung des positiven Rechts dem »individuellen Volksgeist« und nicht dem »gemeinsamen Menschengeist« zuzuschreiben, doch liegt hierin, stellt Savigny ausdrücklich klar, gar kein Gegensatz: »Was in dem einzelnen Volk wirkt, ist nur der allgemeine Menschengeist, der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart.«211
Demgegenüber wirkt das Naturrecht mit seiner Ausrichtung auf die Erkenntnisse a priori zumindest auf den ersten Blick eigenartig starr und statisch.212 Hier ist also eine deutliche Akzentverschiebung durch die »Historischen Schule« zu vermerken. b) Die Aufgabe des Staates: Freiheitssicherung Die »leibliche Gestalt« dieser geistigen Volksgemeinschaft ist der Staat.213 Seine Entstehung ist ebenso als notwendig gedacht, wie die des Rechts überhaupt. Das Staatsrecht ist die organische Erscheinung des Volkes, das Privatrecht die Gesamtheit der Rechtsverhältnisse.214 Diese staatsfreie Definition des Privatrechts, begrenzt auf die Rechtsverhältnisse zwischen den Personen, das objektive Recht ausblendend, ist für die Zweckbestimmung des Staates von grundlegender Bedeutung. Erst durch Einführung des Richteramtes im Staat erhält das Privatrecht »Leben und Wirklichkeit«.215 Nicht, daß ein staatsfreier »Naturzustand«, in dem die Rechtsverhältnisse nur »unvollkommen« bestehen würden, im Leben der Völker tatsächlich existierte:216 Gemeint ist ein bloß gedachter Zustand in dem von dem Staat abstrahiert wird. Läßt man sich auf dieses Gedankenexperiment ein, so wird klar, daß der Schutz des subjektiven Rechts nur im Staat eine »regelmäßige Sicherheit« erhält.217 Denn ohne ihn bliebe die Rechtsverletzung ohne notwendigen Widerspruch und ihre Aufhebung vom Zufall abhängig. Nach Sa210 Den überpositiven Aspekt analysiert umfassend W. Wilhelm in Bühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, S. 123, 133ff. 211 Savigny, System, Bd. 1, § 8, S. 21. 212 Bei näherer Betrachtung geht auch Kant von einer allmählichen Annäherung an einen Idealzustand aus, vgl. nur Zum ewigen Frieden, AA VIII. 213 Savigny, System, Bd. 1, § 9, S. 22. 214 Savigny, System, Bd. 1, S. 22. 215 Savigny, System, Bd. 1, S. 23. 216 Savigny, System, Bd. 1, S. 24. 217 Savigny, System, Bd. 1, S. 24.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
vigny ist daher die »erste und unabweisliche Aufgabe«218 des Staates dem einzelnen, der in seinem (subjektiven) Recht verletzt wird, durch den Zivilprozeß Schutz gegen die Verletzung zu gewähren und das verletzte »Recht an sich« zu vertreten durch Anwendung der Regeln des Strafrechts.219 Die Nähe der politischen Philosophie Savignys zu Kantischen Ideen dürfte nach diesen Bemerkungen deutlich geworden sein.220 Savigny führt die Legitimation des Staates auf die Notwendigkeit des Schutzes subjektiver Rechte zurück. Er greift dabei die Argumentation vom Naturzustand her auf, wie wir sie im Naturrecht vorfinden, um darzulegen, daß der Sinn des Staates primär darin liegt, die subjektiven Rechte wirklich werden zu lassen. Die subjektiven Rechte, oder »Rechte an sich«, sind die »(...) nothwendigen Bedingungen des Zusammenlebens freyer Wesen. In dem durch die Rechtsregeln beherrschten Leben besteht die Rechtsordnung, welche mithin durch Freyheit hervorgebracht und erhalten wird.«221
»Hat das Recht«, um mit Kiefner zu sprechen, »(nur) die Aufgabe, die äußeren Bedingungen, Grenzen zu gewährleisten, innerhalb deren sich eine Person verwirklichen kann, dann kann es auf irgendwelche Zwecke im Recht nicht ankommen; so gesehen muß das Recht in der Tat ein selbständiges, zweckunabhängiges Dasein führen. Das reine Rechtsgebiet, das System des Privatrechts, ist also etwas Autonomes, in sich selbst Daseiendes begründet (...)«.222
Wie bei Kant wird der Schutz des subjektiven Rechts durch Ausspruch eines Gerichtshofs in einem besonderen Fall unter Anwendung einer allgemeinen Regel als »die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten«223 verstanden; erst durch die Tätigkeit des Richters erhalten die subjektiven Rechte »Wirklichkeit« (Savigny) bzw. »Notwendigkeit« (Kant).224 Die Übereinstimmung mit Kant geht jedoch noch weiter. Sie erfaßt die Grundzüge der Institute Eigentum und Vertrag. Bei Kant wurden Eigentum und Vertrag mit Hilfe des Postulats des Privatrechts225 eingeführt. Die Möglichkeit eines nicht-empirischen Besitzes von äußeren Gegenständen der Willkür bedeutete eine »Erweiterung der (äußeren) Freiheit« über das auf das angeborene Freiheits218
Savigny, System, Bd. 1, S. 25. Savigny, System, Bd. 1, S. 26. 220 Der Unterschied zwischen bloß provisorischem Bestand des subjektiven Rechts im Naturzustand und der peremptorischen Sicherung im Rechtszustand durch das Urteil des Richters war auch bei Kant das zentrale Argument für die Notwendigkeit staatlicher Machtausübung (Postulat des öffentlichen Rechts) und diente gleichzeitig der Begrenzung staatlicher Machtausübung. Oben S. 41ff. 221 Savigny, System, Bd. 5, § 204, S. 1. 222 Kiefner Fn. 128, S. 24. 223 Kant, MS, AA VI, S. 306. 224 Die zentrale Bedeutung des Prozeßrechts ist bereits bei Kant (und den Autoren, auf denen er aufbaut) vorgezeichnet. 225 Oben S. 35ff. 219
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recht hinaus. Die Konturen der Freiheit, des äußeren Mein und Dein, waren durch die allgemeine Gesetzgebung bestimmt, denn aufgrund der endlichen Fläche der Erde leben die Menschen in einer Gemeinschaft. Die Freiheit des einen muß daher mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmen. Savigny grenzt sich zunächst von den Ansätzen ab, die verlangen, daß man dem Staat gegenüber ein Stück seiner Freiheit aufgebe, um »das Übrige sicher zu retten«.226 Freiheit ist nur durch das Recht möglich, denn das Recht erst sichert die Freiheit. Der Mensch befinde sich in der äußeren Welt in ständiger räumlicher Berührung mit anderen Menschen.227 Um ihm als freiem Wesen einen sicheren Raum zu seiner freien Herrschaft zu gewähren, sei es notwendig, eine »unsichtbare Grenze« anzuerkennen.228 Diese Regel, wonach jedem einzelnen der Raum gesichert wird, in dem sich sein Willen frei entfalten kann229 und unabhängig von jedem anderen Willen herrscht,230 ist das Recht. An dieser Stelle greift Savigny damit auf das allgemeine Rechtsprinzip Kants zurück, um die wechselseitige Begrenzung der Freiheitsräume einzelner zu erklären. In der Anmaßung des Eigentums liegt nach Kant »(...) das Bekenntnis: jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Einhaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.«231
Savigny formuliert dasselbe Prinzip hinsichtlich der Begründung von Eigentum: »Jeder Mensch hat den Beruf zur Herrschaft über die unfreye Natur; denselben Beruf aber muß er eben so in jedem anderen Menschen anerkennen (...)«.232
c) Der Gegenstand des Privatrechts: unfreie Natur und fremde Person Nachdem Savigny auf diese Weise die Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein als eines Raums der uneingeschränkten Herrschaft eines individuellen Willens eingeführt hat, fragt er, auch hierin bis in die Einzelheiten hinein der Metaphysik der Sitten folgend, auf welche Gegenstände der äußeren Welt der Wille (bei Kant Willkür) einwirken könne.233 Auch Savigny beginnt mit der Darstellung des (einzig) angeborenen Rechts (das »Urrecht«), nämlich dem Recht an der eigenen Person. Zu dessen Schutz gegen fremde Einmischung diene zwar ein großer Teil des Strafrechts und aus dem 226
Savigny, System, Bd. 1, § 52, S. 332. Gemeint ist wohl Hobbes’ Leviathan. Savigny, System, Bd. 1, § 56, S. 368. 228 Savigny, System, Bd. 1, § 52, S. 331. 229 Savigny, System, Bd. 1, S. 332. 230 Savigny, System, Bd. 1, S. 333. 231 Kant, MS, AA VI, § 8, S. 255. 232 Savigny, System, Bd. 1, § 56, S. 367. Nörr Fn. 203, S. 24, tut Savigny daher Unrecht, wenn er ihm vorwirft, daß bei ihm die Freiheitsräume »nicht aufeinander bezogen« wären. 233 Savigny, System, Bd. 1, § 53, S. 334ff. 227
68
§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
Zivilrecht die »bedeutende Zahl von Rechten, welche auf den Schutz gegen Ehrverletzung, gegen Betrug, und gegen Gewalt abzwecken«234. Aus der weiteren Betrachtung schließt er das angeborene Recht jedoch aus, da es der Anerkennung durch das positive Recht nicht bedürfe, und konzentriert sich auf die unfreie Natur (bei Kant Substanz) und fremde Personen (bei Kant Kausalität) als Gegenstände möglicher Willensherrschaft.235 Diese bilden den Gegenstand des Privatrechts. Auf sie beziehen sich die »erworbenen Rechte«.236 Auch dieser Ausschluß des angeborenen Rechts aus der systematischen Ausarbeitung des Privatrechts folgt »deutlich«237 der Metaphysik der Sitten, in der Kant in dem Abschnitt Privatrecht ebenfalls nur die Erweiterung der Freiheit durch die erworbenen Rechte behandelt. Der Grund dafür ist wiederum ähnlich: Nur die erworbenen Rechte bedürfen der Anerkennung durch ein Erlaubnisgesetz (»der Gunst des Gesetzes«).238 Die unfreie Natur ist ein räumlich Begrenztes (die Sache). In seinem vollständigsten Gehalt ist das Recht an einer Sache Eigentum.239 Eine fremde Person kann dagegen nie vollständig Gegenstand unserer Herrschaft sein, denn dann wäre ihre Freiheit aufgehoben.240 Die Herrschaft kann sich nur auf einzelne Handlungen beziehen, die aus der Freiheit des Handelnden ausgeschieden und dem eigenen Willen unterworfen gedacht werden. Savigny bezeichnet diese Art der Herrschaft über eine andere Person als Obligation.241 Aus dieser partiellen Unterwerfung unter die Herrschaft des anderen folgt eine strikte Bindung an den Vertrag; d.h. die Gerichtsbarkeit kann zur Aufhebung der Rechtsverletzung angerufen werden, die in einer Nichtleistung besteht.242 Man kann Kiefner nur uneingeschränkt zustimmen, wenn er schließt: »Auch diese Begründung der Obligation ist unverwechselbar kantisch.«243
Wie bei Kant beinhaltet die axiomatische Einführung der (zu erwerbenden) Rechte eine »Erweiterung der Freiheit« über die natürlichen Grenzen der Person hin234
Savigny, System, Bd. 1, S. 336. Nach Fezer Fn. 128, S. 263ff., erkennt Savigny das angeborene Recht nicht an. Diese These ist mit Einschränkungen zu versehen: Savigny erkennt rechtliche Sanktionen, die den Schutz der Person selbst betreffen (etwa den Ehrenschutz), durchaus an, nur interessiert ihn das »Urrecht«, wie auch Kant, nicht als Gegenstand des Privatrechts, das sich mit den erworbenen Rechten befaßt. Die »Ökonomisierung des Rechts«, Fezer aaO.S. 268, ist im »System« in der Tat angelegt, aber m.E. nur eine Folge dieser Einteilung. 236 Savigny, System, Bd. 1, S. 335. 237 Kiefner Fn. 128, S. 10. 238 Kant, MS, AA VI, § 16, S. 267. Erst dieses räumt dem Einzelnen die Rechtsmacht ein, äußere Gegenstände der Willkür als äußeres Mein und Dein innezuhaben. 239 Savigny, System, Bd. 1, S. 338. 240 Savigny, System, Bd. 1, S. 338f. 241 Savigny, System, Bd. 1, S. 339. Ebenso Kant, der zusätzlich den Begriff »das persönliche Recht« verwendet. 242 Savigny, System, Bd. 5, § 204 und § 205. 243 Kiefner Fn. 128, S. 11. 235
IV. Zum Einfluß Kants auf die Privatrechtstheorie des 19. Jahrhunderts
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aus.244 Die Macht, die die erworbenen subjektiven Rechte gewähren, bestimmt den Bereich der Freiheit des einzelnen. Diese Orientierung an der äußeren Freiheit der Person, an ihren subjektiven Rechten, oder kurz: am Rechtsverhältnis, gibt den Rechtsinstituten Eigentum und Vertrag ihren Inhalt.245 Das objektive Recht wird somit von der Natur des subjektiven Rechts bestimmt. Diese Ableitung ist schon im Hinblick auf den Staatszweck, Sicherung der subjektiven Rechte durch Gerichtsurteil, folgerichtig. Savigny vollzieht, was nach den Ausführungen zum Staatszweck bereits klar sein dürfte, auch die Kantische Trennung von Recht und Ethik (bei Savigny »Sittlichkeit«) nach.246 Die sittliche oder unsittliche Ausübung der subjektiven Rechte liegt jenseits des Rechts. Hilfe gegen die harte Ausübung des Schuldrechts könnten allein die Armenhäuser bieten.247 Darin unterscheidet sich Savigny deutlich von teleologischen Auffassungen der Vertragsfreiheit wie sie uns etwa bei Pufendorf begegnet waren. Zwar ordnet auch Savigny das Recht in den größeren Zusammenhang christlicher Anschauungen ein, doch ist diese Deutung der Sittlichkeit für die Bestimmung der Grundsätze des Rechts, wie wir sie hier dargestellt haben, nicht relevant, denn Sittlichkeit zu erzwingen hat der Gesetzgeber »weder Macht noch Beruf«.248 Insofern dürfte auch der Vorwurf, Savigny würde in die vorkritische Phase des Naturrechts zurückfallen,249 nicht haltbar sein.250 Dieser Aspekt der Verbannung sittlicher Zwecke aus dem Bereich des Rechts unterscheidet Savigny schließlich, wie gesehen, auch von Hegel. Während Kant jedoch bei diesen Prinzipien a priori im wesentlichen stehen bleibt, beginnt für Savigny an dieser Stelle, nachdem er die Grundlagen gelegt hat, erst die eigentliche Arbeit: nämlich aus den Quellen des positiven Rechts ein mit diesem theoretischen Fundament zusammenstimmendes System zu bauen. Die Darstellung der theoretischen Annahmen wirkt demgegenüber gerafft, was darauf hindeutet, daß Savigny, die eben dargestellten Gedankengänge selbstverständlich erschienen sein müssen. Was nun die Ausgestaltung der einzelnen Rechtsin244 Savigny, System, Bd. 1, S. 339f., § 56, S. 367, 370. Savigny bezeichnet die Summe der solcherart erworbenen Rechte als Vermögen und die dazu gehörigen Rechtsinstitute als Vermögensrecht. Kiefner Fn. 128, S. 11, erblickt darin eine »konsequente Fortbildung« Kants. Das Familienrecht nimmt eine Sonderstellung ein, ebd. S. 340ff. und § 55. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Metaphysik der Sitten können hier auf sich beruhen. Zum Erbrecht Savigny, System, Bd. 1, § 57. 245 Savigny, System, Bd. 1, S. 370. 246 Nörrs Fn. 203, S. 23, Gegenüberstellung von »Sittlichkeit« bei Kant und Savigny verkürzt den Zusammenhang. Der »Sittlichkeit« bei Savigny entspricht bei Kant die »Ethik«. 247 Savigny, System, Bd. 1, S. 371. Zur erforderlichen Unterstützung der Armen ähnlich Kant, MS, AA VI, C, S. 325ff. Zu Unrecht sucht Nörr Fn. 203, S. 22, hierin einen Unterschied zu Kant. 248 Zitiert nach Kiefner Fn. 128, S. 9. 249 Vgl. Nörr Fn. 203, S. 20. 250 Zumal bei Savigny wie bei Kant die Sittlichkeit darin besteht, daß der Mensch nicht aus Neigung handelt, sondern aus reinem Pflichtgefühl, Savigny, System, Bd. III, S. 177. Weitere Nachweise bei Kiefner Fn. 128, S. 8.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants
stitute in den einzelnen Rechtsordnungen angeht, so muß Savigny gleich eingangs einräumen, daß hier »ein sehr freyer Spielraum für mannigfaltige Bestimmungen des positiven Rechts« besteht.251 Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Wenn der Spielraum des positiven Rechts so groß ist, wieso bedarf es dann theoretischer Erörterungen? Ihr Sinn erschließt sich jedoch, wenn man bedenkt, daß es für Savigny eine Fülle unterschiedlicher Spielarten, Konkretisierungen und Entwicklungsstufen der allgemeinen Menschenvernunft gibt. Entscheidend ist für Savigny die Rückführbarkeit der gegebenen Regeln des positiven Rechts auf allgemeine Grundsätze.252 In der Auswahl der Regeln des positiven Rechts und ihrer Einbindung in das System war er freilich, was ihm von manchen zum Vorwurf gereichte, durchaus selektiv und diskriminierend.253 Er mußte es sein, wenn man, wie er, theoretischen Annahmen eine argumentative und ordnende Kraft zubilligt. In dieser methodischen Hinsicht dient Savigny auch dem vorliegenden Werk als Vorbild.
251 Savigny, System, Bd. 1, S. 371ff. (insbesondere was die Abgrenzung zwischen Sachenrecht und Vertragsrecht angehe). 252 Für die Darstellung des Zusammenhangs zwischen den Grundlagen und einzelnen Teilen des Systems s. Kiefner Fn. 128, S. 13ff. 253 S. etwa Wieackers Diskussionsbeitrag in Bühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, S. 147: »Aus der Masse der Tradition wird nach einem dogmatischen Prinzip ausgewählt, das keineswegs selbst der Tradition angehört, und damit den Quellenstoff organisiert.« Wieacker bezeichnet diese planmäßige Auswahl der Quellenbelege als »erschütternd«, insofern sie der historischen Methode nicht genügt. Vgl. auch Fikentscher Fn. 128, S. 59f. (»eklektischer Historismus«), 68f.
§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien Kant hatte, wie gesehen, maßgeblichen Einfluß auf die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. In England dagegen hat er kaum direkten Einfluß gehabt.1 Um so bemerkenswerter ist es, daß Kant vor allem in der neueren angloamerikanischen Diskussion um die Grundlagen des Vertragsrechts wiederentdeckt wird. So wird die von ihm ausgehende Philosophie in der anglo-amerikanischen Diskussion als idealtypisches Beispiel einer »rights-based theory« des Privatrechts2 solchen Theorien gegenübergestellt, die die Funktion des Staates nicht in der Sicherung von subjektiven Rechten sehen, sondern in der Förderung eines außerhalb des Rechts stehenden Wertes.3 Im Vertragsrecht kam eine weitere Herausforderung hinzu: Im Laufe des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl derer stetig, die die Existenzberechtigung des Vertragsrechts als eigenständiges Gebiet des Privatrechts überhaupt anzweifelten.4 Gegen diese Bestrebungen der »Death of Contract« Schule setzt Charles Fried, der »neue Held der Willenstheorie«5, sein Contract as Promise. Später gesellten sich Barnett, Benson und andere hinzu, die alle in scharfer Abgrenzung zu den Vertragsskeptikern ihre Vertragstheorie zwar mit unterschiedlichen Akzenten, aber auf der Basis des Schutzes subjektiver Rechte entwickelten.
I. Vertrag und Versprechen Verträge bestehen aus mindestens einem Versprechen und einer Annahme des Versprechens. Wenn es gelänge, die Bindungswirkung, die von einem Verspre1
Vgl. für die Zeit von 1770–1870: Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract, S. 324ff. Vgl. etwa Weinrib 87 Colum L Rev 472 (1987): »In this sense, we are all Kant’s children.« 3 Zum Teil avanciert die Kantische Philosophie zur Hauptquelle der vorgeschlagenen Privatrechtstheorie, etwa Weinrib, The Idea of Private Law, Kap. 4, für seine als Legal Formalism bezeichnete Theorie, andere wiederum berufen sich eher nur unterstützend auf Kant, etwa Smith, Contract Theory, S. 162. 4 Näher S. 211ff. Einflußreich war der Aufsatz von Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 373 (1936); pointiert Gilmore, The Death of Contract; ebenfalls dieser Richtung angehörend Atiyah Fn. 1, S. 716ff. Pflichten aus Vertrag seien auf der Basis von Vertrauenshaftung und den Prinzipien von ungerechtfertigter Bereicherung zu erklären. Nicht die Selbstbestimmung der Parteien rechtfertige vertragliche Verbindlichkeit, sondern die durch das positive Recht auferlegte Pflicht nach Prinzipien der austeilenden Gerechtigkeit, Kronman 89 Yale L.J. 472 (1980). 5 Wie ihn Kronman (allerdings ironisch) nennt, 91 Yale L.J. 404 (1981). 2
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
chen ausgeht, auf den Vertrag zu übertragen, könnte man Verträge als Sonderform des Versprechens fundieren. Der bekannteste Vertreter dieser »promissory theory« ist Charles Fried. Er versteht seine 1981 veröffentlichte Theorie vertraglicher Verbindlichkeit als Fortführung Kantischer Philosophie und erklärt das moderne Vertragsrecht des common law auf ihrer Basis.6 Frieds Ausgangspunkt ist das »liberale Ideal«:7 Es ist von größter Wichtigkeit, daß die eigene Person und das Eigentum gegen die Willkür anderer gesichert ist. Von dieser gesicherten Basis aus vermögen Personen ihre Ziele zu verfolgen. Ungeachtet unserer Bewertung der Ziele anderer müssen wir doch stets ihr Eigentum wie auch sie selbst als Personen respektieren. Personen wie Sachen zu benutzen, würde unserer eigenen Würde als vernunftbegabten Personen Abbruch tun. Die anderen sind aber auch Teil der äußeren Welt. Uns den Zugang zu ihren Fähigkeiten und Vermögen zu verwehren, würde unsere Möglichkeiten der Nutzung der äußeren Welt enorm einschränken. Es war in den Augen Frieds eine ganz wesentliche »moralische Entdeckung«, daß freie Menschen sich aus freien Stücken gegenseitig bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützen können. Die Moralität (morality) schaffte eine von Furcht vor Strafe oder Kosten/Nutzen Kalkülen unabhängige Triebfeder für gegenseitige Unterstützung und Kooperation. Wenn Personen etwas tun, weil es richtig ist und nicht aus Furcht oder ähnlichen sinnlichen Antrieben, so schafft dies Vertrauen (trust); Versprechen (promise) verleiht Vertrauen seine klarste Kontur.8 Wenn wir ein Versprechen geben, dann legen wir die Möglichkeit in die Hände des anderen, sein Ziel durch unsere Kooperation zu erreichen.9 Wir schaffen ein »moralisches Vermögen« (moral power) für den anderen, sein Ziel durch unsere Leistung zu erreichen. Durch Versprechen verwandeln wir eine an sich neutrale Handlung in eine nunmehr gebotene Handlung.
1. Die Bindung an Versprechen Fried ist beizupflichten, wenn er feststellt, daß es ein über die Pflicht zu Wahrhaftigkeit hinausgehendes Prinzip geben muß, das die Bindung (commitment) an ein Versprechen rechtfertigt.10 Denn ein Versprechen schafft eine Bindung auch für den Fall, daß man zwar im Moment des Versprechens die Wahrheit über seine zukünftigen Absichten äußert, sich diese nachträglich aber, wenn der Zeitpunkt der Erfüllung kommt, geändert haben. Dieses Prinzip, das eine Bindung an Versprechen rechtfertigt, liegt für Fried darin, daß jeder, der ein Versprechen abgibt, das Institut des Versprechens bewußt einsetzt und dadurch Vertrauen in Anspruch 6 Fried, Contract as Promise, Kap. 2, S. 7ff.; s. auch 93 Harv. L.Rev. 1858 (1980). Zu Fried auch Unberath in Festschrift für Joachim Hruschka, S. 719, 732ff. 7 Fried, Fn. 6, S. 7f. 8 Fried, Fn. 6, S. 8. 9 Fried, Fn. 6, S. 8–9. 10 Fried, Fn. 6, S. 11.
I. Vertrag und Versprechen
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nimmt, das er durch die Nichteinhaltung des Versprechens enttäuschte. Das Versprechen muß also aus Respekt für die andere Person, der gegenüber das Versprechen abgeben wurde, gehalten werden. Im einzelnen arbeitet Fried dieses Argument in drei Schritten aus. Zunächst klärt er den Zweck des Versprechens überhaupt. Sodann begründet er, warum das individuelle Versprechen gehalten werden muß. Da schließlich Verträge ein Unterfall von Versprechen sind, müssen auch diese gehalten werden. Das Versprechen als Institut erfüllt einen ganz allgemeinen Zweck, auch wenn mit Hilfe von konkreten Versprechen »unendlich viele« Einzelzwecke verfolgt werden können.11 Von den konkreten einzelnen Zielen (»Optionen«) des einzelnen (der Materie der Willkür) muß abstrahiert werden. Dieser Zweck besteht darin, daß durch die Bindung an das Versprechen, die zukünftige Leistung des Promittenten »in die Hände« des Promissars »gelegt« wird.12 Nur das in Versprechen realisierte Bindungsvermögen ermöglicht Kooperation zwischen Personen zur gegenseitigen Unterstützung bei der Erreichung ihrer Ziele.13 Kooperation wäre ohne das Institut des Versprechens undenkbar. Durch die Möglichkeit, sich gegenseitig bei der Erreichung von Zielen zu unterstützen, werden die Handlungsmöglichkeiten des einzelnen erweitert.14 Eine Möglichkeit der Selbstbindung zu schaffen, stehe deswegen nicht im Widerspruch zur Autonomie des einzelnen; Kooperation ermöglicht es dem einzelnen, anspruchsvollere Ziele zu verwirklichen.15 Diese Rechtfertigung des Versprechens als Konvention begründet nach Fried jedoch nicht, und hierin liegt eine überraschende und letztlich in die Irre führende Wendung der Argumentation, warum im Einzelfall ein konkretes Versprechen gehalten werden müßte.16 Hierzu bedürfe es eines weiteren Argumentes. Nachdem Fried sowohl Sanktionen als auch Glückseligkeitslehren als Erklärungen der Bindung ablehnt, identifiziert er die bindende Kraft von Versprechen mit der »moralischen« Pflicht, Versprechen zu halten.17 Letztlich könne nur die Achtung vor der Autonomie des anderen (respect for individual autonomy) und Vertrauen (trust) erklären, warum individuelle Versprechen gehalten werden müssen. Wenn ich verspreche, so setze ich die Gültigkeit der Institution des Versprechens voraus. Der andere darf daher darauf vertrauen, daß ich das Versprechen halte. Wenn ich es nicht tue, mißbrauche ich das Vertrauen des anderen.18 Da Verträge ein Unterfall von Versprechen sind, sind auch Verträge bindend.19 Dieser letzte Schritt 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Fried, Fn. 6, S. 13. Fried, Fn. 6, S. 13. Fried, Fn. 6, S. 13. Fried, Fn. 6, S. 13. Fried, Fn. 6, S. 14. Fried, Fn. 6, S. 14. Fried, Fn. 6, S.S. 16–17. Fried, Fn. 6, S. 16. Fried, Fn. 6, S. 17.
74
§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
der Argumentation scheint für Fried selbstverständlich zu sein, denn er widmet ihm nicht mehr als zwei Sätze. Fried faßt seine Thesen wie folgt zusammen: »There exists a convention that defines the practice of promising and its entailments. This convention provides a way that a person may create expectation in others. By virtue of the Kantian principles of trust and respect, it is wrong to invoke that convention in order to make a promise, and then to break it.«20
2. Die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten Für Kant war es von zentraler Bedeutung, daß die Tugendlehre von der Rechtslehre »abgesondert« wird.21 Die Rechtslehre ist auf äußere Handlungen beschränkt, die nur die äußere (negative) Freiheit betreffen. Nur die äußere Übereinstimmung der Handlung mit der juridischen Gesetzgebung ist für die Legalität maßgeblich. Das subjektive Recht kann deswegen mit einer Befugnis zu zwingen verbunden sein. Die Tugendlehre betrifft die innere Freiheit (den positiven Begriff der Freiheit) und setzt die Fähigkeit zu freiem Selbstzwang voraus, also die Fähigkeit der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein. Die Moralität der Handlung beruht daher auf der Unabhängigkeit der Triebfeder von sinnlichen Antrieben. Äußerer Zwang ist, wenn es um die Moralität der Handlung geht, im Rechtsstaat nicht nur verboten, denn den darf nur die Legalität der Handlung interessieren, sondern auch völlig wirkungslos. Äußerer Zwang könnte doch nur die äußere Handlung bewirken. Die nötigende Willkür anderer verträgt sich nicht mit freiem Selbstzwang. Wegen dieser systembildenden Erwägungen ist es, wenn man die Autonomie als liberales Ideal – wie Fried – hochhält, notwenig, die Begründung von Rechts- und Tugendpflichten zu trennen. Die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten nimmt Fried jedoch nicht ausreichend ernst, denn er schließt von der Tugendpflicht auf die Rechtspflicht, einen Vertrag zu halten. In dieser Hinsicht ist Fried keine Fortsetzung Kantischer Philosophie, sondern stellt sie auf den Kopf. Versprechen wie Verträge sind zu halten, weil es unmoralisch wäre, es nicht zu tun. Wenn diese These zuträfe, bliebe von dem liberalen Ideal Frieds nicht viel übrig.22 Die Ethik gebietet, wie Kant betont, daß ich ein angenommenes Versprechen erfülle, wenn mich der andere Teil auch nicht dazu zwingen kann, es aus Pflicht zu tun.23 Frieds Versuch einer Begründung des Vertrages von der Warte der Tugendlehre aus kann daher auch nicht erklären, warum ein subjektives Recht auf die Leistung besteht.24 Frieds Hinweise auf die Sicherung von Kooperation wären je20
Fried, Fn. 6, S. 17. Kant, MS, AA VI, S. 383, 396, § XV, S. 406. 22 Vgl. für diesen Einwand auch Weinrib, The Idea of Private Law, S. 52. 23 Kant, MS, AA VI, S. 391. 24 Vgl. Weinrib Fn. 22, S. 52; Benson in Patterson (Hrsg.), Companion to Philosophy of Law, S. 24, 36. 21
II. Vertrag als Übertragung von subjektiven Rechten
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doch durchaus geeignet gewesen wären, die Bindung an den Vertrag auch im Einzelfall zu begründen: Kooperation ist in gesicherter Form erst durch Vertrag möglich. Wenn, wie Fried schreibt, durch das Versprechen die zukünftige Leistung »in die Hände des anderen gelegt wird«, bedeutet dies, daß durch das Versprechen ein subjektives Recht auf die Kooperation erworben wird. Die Willkür des anderen, die Leistung zu bewirken, ist – wie Fried zutreffend betont – Teil der äußeren Welt und kann daher als Teil meines Vermögens gedacht werden. Der »Fehler« Frieds liegt also darin, daß er seiner eigenen Begründung der »Konvention« des Vertrages nicht genügend traut, sondern meint, um eine individuelle Verpflichtung begründen zu können, müsse er auf die Moralität der Handlung, also auf die Triebfeder zur Handlung, Rekurs nehmen. Es ist dieser Überschuß an Begründung, der die Theorie Frieds letztlich erheblichen Einwänden aussetzt. Fremde Glückseligkeit und eigene Vollkommenheit, das sind bei Kant die Zwekke, die zugleich Pflichten sind.25 Frieds Theorie des Vertrages als Versprechen ist fragwürdig, weil sie verkennt, daß eigene Vollkommenheit zwar durchaus eine Forderung der Tugendlehre ist, in der Rechtslehre zur Begründung der Bindung an den Vertrag jedoch nicht taugt. Die juridische Gesetzgebung ist auf äußere Handlungen beschränkt und muß es sein, da sich Zwecke zu setzen, nur aus freiem Selbstzwang möglich ist. Nur äußere Handlungen können und dürfen – soweit sie dem allgemeinen Prinzip des Rechts zuwider sind – durch äußeren Zwang bewirkt werden. Bei wohlmeinender Interpretation geht es aber Fried nicht darum, eine bestimmte Gesinnung im Vertragsrecht staatlich zu sanktionieren, sondern um die Entwicklung eines Systems der Durchsetzung von subjektiven Rechten. Insofern bleibt er seinem »liberalen Ideal« durchaus treu. Subjektive Rechte werden grundsätzlich ungeachtet dessen gesichert, ob die Ziele, die mit Hilfe des Vertrages verfolgt werden, ihrem Inhalt nach gut oder mißbilligenswert sind.
II. Vertrag als Übertragung von subjektiven Rechten Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, sind alle Ansätze, die die Pflicht des Schuldners, sein Versprechen zu halten, ethisch begründen wollen, ungeeignet, das Wesen des Vertrages zu erfassen. Der Vertrag ist nach allen bisher vorgestellten Theorien (einschließlich der Frieds) eine besondere Erwerbungsart. Der Gläubiger erwirbt nicht originär, sondern abgeleitet vom Schuldner. Daher liegt es nahe, die Vertragstheorie an den Akt des Transfers anzuknüpfen und alle Elemente des Vertragsrechts im Hinblick auf den Transfer von Rechten zu deuten.26 Als Theorien, die das spezifisch Rechtliche der Bindung an den Vertrag erfassen 25
Kant, MS, AA VI, S. 385. Benson Fn. 24, S. 38 (»Transfer-Theorien« seien keineswegs neu, sondern ließen sich bis Grotius und Hobbes zurückverfolgen). 26
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
wollen, verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, zumal der Transfer – also der abgeleitete Erwerb – auch bei Kant im Mittelpunkt steht. Das Besondere der hier vorgestellten Theorien ist jedoch, daß sie den Vertrag nicht als Ursprung der Entstehung des subjektiven Rechts als persönlichem Recht sehen, sondern im Vertrag nur die Übertragung eines bereits bestehenden Rechtes erblicken. Diese Sichtweise ist, wie zu zeigen sein wird, zu eng und unterscheidet zudem nicht klar genug zwischen persönlichem Recht und Sachenrecht.
1. Barnetts Einwilligungsmodell Randy Barnett nennt seine Vertragstheorie »consent theory«. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß Verträge die Übertragung von Rechtspositionen (entitlements, insbesondere Eigentum) zum Gegenstand haben.27 Vertragsrecht ist daher die Summe der Regeln, die festlegen, unter welchen Bedingungen eine solche Übertragung rechtlich anerkannt wird.28 Seine Vertragstheorie ist Teil einer weit angelegten Naturrechtstheorie, die sich zwar nicht auf Kant stützt, aber, wie sogleich deutlich werden wird, einige Übereinstimmungen mit den Überlegungen in den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels aufweist. In einer Welt begrenzter Ressourcen wirkt sich potentiell jede Handlung einer Person auf die Situation einer anderen Person aus. Deswegen ist es notwendig, daß ein Verfahren im weitesten Sinne gefunden wird, die Ressourcen aufzuteilen.29 Denn nur wenn Personen ein eigener Herrschaftsbereich über Gegenstände ihrer Willkür eingeräumt wird, ist ein selbstbestimmtes Leben denkbar.30 Dieser Herrschaftsbereich, von dem andere notfalls auch durch Gewalt ausgeschlossen werden dürfen, wird durch die Sachenrechte (property rights) symbolisiert. Personen müssen in die Lage versetzt werden, ihre übertragbaren Rechte auf andere übertragen zu können, wenn sie dies wollen. Deshalb ist Vertragsfreiheit anzuerkennen.31 Das dingliche Recht besteht also darin, andere von der Anmaßung physischer Herrschaft über diesen Bereich ausschließen zu dürfen. Deswegen darf eine Übertragung dieser Rechtsposition nie gegen den Willen des Rechtsinhabers erfolgen, seine Zustimmung (consent) allein legitimiert den Übertragungsvorgang (daher consent theory).32 Für Barnett sind sowohl dingliche Rechte, zu denen er die Innehabung des eigenen Körpers wie auch den rechtlichen Besitz äußerer Gegenstände zählt, als auch vertragliche Rechte unerläßliche und zentrale Voraussetzung für den libera-
27 28 29 30 31 32
Barnett 86 Colum. L. Rev. 269, 295 (1986). Barnett 86 Colum. L. Rev. 269, 295 (1986). Barnett 86 Colum. L. Rev. 269, 294 (1986). Barnett, Moral Foundations of Libertarianism, S. 13. Barnett, Fn. 30, S. 14. Barnett 86 Colum. L. Rev. 269, 296ff. (1986).
II. Vertrag als Übertragung von subjektiven Rechten
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len33 Staat. Diese subjektiven Rechte (einschließlich des Eigentums und der Vertragsfreiheit) sind als Naturrechte (natural rights) staatlicher Machtausübung vorgeschaltet, legitimieren und begrenzen diese gleichermaßen:34 Aufgabe des Staates ist der effektive Schutz dieser Rechte und nicht mehr.35 In diesen systembildenden, klaren Thesen zeigt sich, daß Barnett in der Tradition liberaler Staatsphilosophie argumentiert. Auch wenn diese moderne Variante einer naturrechtlichen Vertragstheorie nicht unmittelbar an Kant anknüpft, sondern vornehmlich von John Locke, Lon Fuller und R. Nozick inspiriert ist, so sind doch zwei wichtige Gemeinsamkeiten festzustellen: die Ableitung staatlicher Gewalt vom Schutz subjektiver Rechte und die Definition dieser subjektiven Rechte als Zuweisung von Herrschaftsgewalt über physische Ressourcen. Barnetts Analyse des Vertragsrechts als Summe der Bedingungen, unter denen ein dingliches subjektives Recht übertragen werden kann, ist hilfreich, weil sie einen wichtigen Aspekt des Vertragsrechts betont und sie ist irreführend, weil sie das Vertragsrecht darauf beschränkt. Jeder erfüllte Vertrag resultiert in einer Veränderung der Zusammensetzung der Vermögen der Parteien, denn sonst hätten sie ihn nicht abgeschlossen. Mindestens eine der Parteien überträgt also eine Rechtsposition auf die andere. Wenn der Staat diese Übertragung gegen ihren Willen durchsetzt, so verletzt er das subjektive Recht dieser Person, die Rechtsposition auszuüben und andere von ihrem Nutzen auszuschließen. Die Zustimmung des Rechtsinhabers ist also ein wichtiger Aspekt der Übertragung von Rechtspositionen. Der Entzug von Rechtspositionen ohne Zustimmung ist stets rechtfertigungsbedürftig.36 Allerdings ist damit das Wesen des Vertrages nur unzureichend erfaßt. Denn dieses Modell unterscheidet nicht zwischen dem Eingriff in die Rechtssphäre des Schuldners mit seiner Einwilligung und dessen vertraglicher Verpflichtung. Durch den Vertrag werden nicht nur Rechte übertragen, sondern – und das ist das Wesensmerkmal des Vertrages – neue subjektive Rechte geschaffen.37 Die consent theory betont einseitig die Seite des Schuldners38 und reduziert den Vertrag auf sein Ergebnis, die Übertragung von Rechten. Der Vorzug von Kants Theorie des Vertrages ist, daß sie die rechtsbegründende Wirkung des Vertrages klar und umfassend beschreiben kann. Dementsprechend rückt auch der übereinstimmende Wille der Parteien (im Gegensatz zur einseitigen Zustimmung) in den Mittelpunkt der Überlegung. Barnetts Ablehnung der Willenstheorie, weil sie angeblich 33
Libertarian oder classical liberal im Sinne der amerikanischen Nomenklatur. Barnett, Fn. 30, S. 15. 35 Also etwa nicht die Erziehung der Bürger zu einem »moralisch richtigen« Leben u.ä.; Barnett, Fn. 30, S. 19. 36 Vgl. Nozick, Anarchy, State and Utopia, S. 168: »From the point of view of an entitlement theory, redistribution is a serious matter indeed, involving, as it does, the violation of people’s rights.« 37 So auch Smith Fn. 3, S. 101. 38 Benson Fn. 24, S. 38. 34
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
den subjektiven Willen für allein maßgeblich hält,39 führt ihn daher in eine Sackgasse. Richtigerweise ist die Frage der Auslegung des gemeinsamen Willens von seiner Relevanz für die Entstehung des persönlichen Rechts zu trennen. Inwieweit im Interesse der Rechtssicherheit auf die objektive Bedeutung einer Erklärung abzustellen ist, ist eine Frage, die sich in gleichem Maße für den übereinstimmenden Willen wie auch für Barnetts einseitige Zustimmung stellt.
2. Die Einheit des Vertragsrechts bei Benson Peter Bensons Theorie kann man vor diesem Hintergrund als ausgereifter und in seinen Schlußfolgerungen differenzierter bezeichnen. Auch er versucht zwar, seine Vertragstheorie ausschließlich auf den Transfer von Rechten zu gründen, jedoch ist für ihn der übereinstimmende Wille der Parteien der Grund für die Übertragung und nicht, wie noch bei Barnett, die einseitige Zustimmung des Schuldners.40 Zunächst ist aber ein Einwand gegen Bensons theoretische Fundierung seines Systems zu erheben. Während er ursprünglich eine normative Theorie nach der Naturrechtstradition entwickelte,41 ist er später42 dazu übergegangen, eine (im wesentlichen) interpretative Theorie zu formulieren. Nunmehr sieht er als die Aufgabe von Vertragstheorie an, die Grundannahmen des gegenwärtig geltenden Vertragsrechts explizit zu formulieren. Der Unterschied liegt vor allem in der Vorgehensweise; inhaltlich sind die Thesen gleich geblieben. Ausgangspunkt ist nun nicht mehr ein allgemeines normatives Prinzip, von dem die einzelnen Prinzipien und Regeln abgeleitet werden, sondern das positive Recht selbst, von dem auf das zugrunde liegende abstrakte Prinzip geschlossen wird. Die Theorie ist dennoch nicht deskriptiv, da sie voraussetzt, daß die vorgefundene Dogmatik als solche bei Anwendung eines Maßstabs der politischen Theorie pauschal normativ gerechtfertigt ist.43 Ein solches Vorgehen »immunisiert« die Theorie gewissermaßen gegen Einwände, da sie nicht vorzugeben behauptet, wie das Recht sein sollte, sondern nur darstellt, wie es (also das common law) ist. Dadurch verliert seine Theorie jedoch nicht ihren Wert für das vorliegende Unterfangen. Denn wie sogleich deutlich werden wird, sind seine Thesen immer noch klassische Thesen der Naturrechtstheorie.44 39
Barnett 86 Colum. L. Rev. 269, 273 (1986). Benson, The Unity of Contract Law, in Benson (Hrsg.), Theory of Contract, S. 118, 129. 41 Vgl. Benson 87 Colum. L.Rev. 559 (1987); ders., 10 Cardozo L.Rev. 1077 (1989). 42 Benson 33 Osgoode Hall L.J. 273 (1995). 43 Benson lehnt sich diesbezüglich an die spätere Philosophie von Rawls an; Fn. 40, S. 124; vgl. etwa Rawls 64 U. Chicago L. Rev. 765 (1993). 44 Versteht man dagegen die Theorie Bensons als eine interpretative Theorie, dazu S. 15ff., was, wie gesagt, die zuletzt von ihm vertretene Position ist, und ist seine Beschreibung des geltenden Rechts zutreffend, so kann die Schlußfolgerung abgeleitet werden, daß das heutige common law mit der Naturrechtstradition vereinbar ist. 40
II. Vertrag als Übertragung von subjektiven Rechten
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Dogmatischer Ausgangspunkt von Bensons Überlegungen ist die »Tatsache«, daß das common law den Gläubiger nach einem Vertragsbruch berechtigt, so gestellt zu werden, wie er bei Erfüllung gestanden hätte. Daraus leitet er die »Logik des Transfers von Eigentum« ab, die er als solitäres Prinzip für maßgeblich auch für die übrigen Regeln des Vertragsrechts hält.45 Die »Einheit des Vertragsrechts« wird so durch die Thesen zum abgeleiteten Erwerb konstituiert. Das Recht des Gläubigers, im Falle des Vertragsbruches das positive Interesse zu verlangen, ist damit für Benson die systembildende Zentralnorm des Vertragsrechts. Benson versteht seine Theorie vor allem als Gegenposition zur »Death of Contract« Schule46 und möchte mit seinem dem Naturrecht entliehenen Vertragsmodell erklären, warum der Gläubiger ein Recht auf die Leistung innehat, also an den Vertrag gebunden ist.47 In einem ersten Schritt untersucht Benson den Vertrag mit sofortigem Leistungsaustausch.48 Dabei übernimmt er von Kant die These, daß ein einziger gemeinschaftlicher Wille für den Vertrag konstituierend ist, wenn auch der Vertragschluß empirisch durch Erklärung und Gegenerklärung erfolgt. Aus der Metaphysik der Sitten stammt die Forderung der Kontinuität des abgeleiteten Erwerbs durch Vertrag. Der Gegenstand des Vertrages ist in keinem Moment herrenlos, sondern der Erwerb durch den Gläubiger erfolgt in dem Moment, in dem der Schuldner sein Eigentum zugunsten des Erwerbers aufgibt. Diese Prinzipien werden sodann auf den nicht unmittelbar erfüllten Vertrag übertragen.49 Kants Postulat des Privatrechts bemüht Benson, um zu begründen, daß Eigentum nicht von (tatsächlich ausgeübtem) physischen Besitz abhängt.50 Er weicht dann aber, bewußt, von Kant ab, indem er die These aufstellt, daß der Gläubiger bereits mit Vertragschluß gegenüber dem Schuldner Eigentümer des Vertragsgegenstandes wird.51 Der Schuldner überträgt im Vertrag ein bereits vorhandenes Recht – nämlich das Eigentum an dem Vertragsgegenstand – und schafft nicht erst ein subjektives Recht auf die Leistung. Dem Gläubiger gehört damit das Versprochene und nicht das Versprechen. Die Übergabe der Sache, also der eigentliche Akt der »Erfüllung«, ist dann lediglich ein unselbständiger Annex, der dem bereits bestehenden Eigentum des Gläubigers Rechnung trägt.52 Das Problem, daß ein Vertrag zu45
Benson Fn. 40, S. 127ff. So hatten Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 373 (1936) in einem einflußreichen Aufsatz, die These aufgestellt, bei Nichterfüllung des Vertrages nur das negative Interesse zu ersetzen sei. Näher S. 212. 47 Benson Fn. 40, S. 127. Wenn gezeigt werden kann, daß der Gläubiger vor dem Vertragsbruch bereits ein Recht auf das Versprochene einschließlich seines Wertes hatte, so fällt die Fullersche These in sich zusammen. 48 Benson Fn. 40, S. 128–131. 49 Benson Fn. 40, S. 132–137. 50 Benson Fn. 40, S. 132. 51 Benson Fn. 40, S. 136, dort Fn. 26. 52 Benson Fn. 40, S. 135. 46
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
nächst – auch im common law – nur ein subjektives Recht begründet, sieht freilich auch Benson. Er versucht den damit verbundenen Einwand, daß er nicht klar zwischen absoluten und relativen Rechten unterscheide, damit zu entkräften, daß er die Wirkung des durch den Vertrag sofort übertragenen »Eigentums« auf das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner beschränkt.53 Bensons Theorie des Vertrages ist eine Theorie des Schutzes subjektiver Rechte. Um zu begründen, warum der Gläubiger vor Vertragsbruch ein Recht auf die Leistung hat, hätte es allerdings ausgereicht, wenn Benson gezeigt hätte, daß der Gläubiger ein dem Eigentum strukturell vergleichbares Recht an dem Versprechen erwirbt. Der Erwerb des Versprochenen und der des Versprechens sind jedoch zwei zu trennende Vorgänge. Dies ist aus Sicht der deutschen Dogmatik selbstverständlich, die seit Savigny und Kant das Trennungsprinzip verinnerlicht hat. Im Hinblick auf das nicht zwischen dem schuldrechtlichen und dem dinglichen Vertrag unterscheidende common law mag hier für eine interpretative Theorie eine Falle verborgen sein.54 Wenn es um die ersten Prinzipien des Vertragsrechts geht, so sollte der Unterschied zwischen dem Sachenrecht und dem persönlichen Recht nicht ignoriert werden. Durch den Vertrag erwirbt der Gläubiger eben nicht unmittelbar einen äußeren Gegenstand im Raum (Substanz), sondern (lediglich) die Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken.55 Bewirkt er die Leistung sodann und überträgt das dingliche Recht, erfüllt er damit seine Verbindlichkeit gegenüber dem Gläubiger; bleibt sie aus, so hat der Gläubiger nach wie vor nur (immerhin) ein subjektives Recht auf die Leistung (oder deren Wert). Dieses Recht ist nur seiner Fundierung nach im Postulat des Privatrechts dem Eigentum an Sachen gleich, in allen anderen Beziehungen aber zu unterscheiden.
III. Vertrag als Gegenstand ausgleichender Gerechtigkeit Ernest Weinribs Theorie des Privatrechts greift auf Kants praktische Philosophie zurück. Kunstvoll gelingt es ihm, die überkommenen Begriffe der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit mit der Kantischen Begründung des subjektiven Rechts zu verknüpfen.56 Sein als »legal formalism« bezeichneter Ansatz will die 53
Benson Fn. 40, S. 134. Allerdings beruft sich Benson für seine Transfer-Theorie wohl mit Recht auf Hegel, was etwa in folgender Passage deutlich wird, R, TW 7, § 79, S. 162. »Die Stipulation des Vertrages hingegen ist schon selbst das Dasein meines Willensbeschlusses in dem Sinne, daß ich meine Sache hiermit veräußert, sie jetzt aufgehört habe, mein Eigentum zu sei, und daß ich sie bereits als Eigentum des anderen anerkenne.« 55 Es ist nur schwer vorstellbar, wie Bensons Theorie etwa auf Dienst- oder Werkverträge anzuwenden ist. Sie ist offensichtlich (zu einseitig) an Veräußerungsvorgängen orientiert. 56 Dies wird ermöglicht durch eine abstrakte Deutung der Gerechtigkeit bei Aristoteles, die allerdings keineswegs selbstverständlich ist. Wie im nächsten Kapitel erläutert werden wird, be54
III. Vertrag als Gegenstand ausgleichender Gerechtigkeit
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dem Recht immanenten Strukturen aufdecken.57 Die Regeln des Rechts werden nicht nach ihrem Wert für die Gesellschaft beurteilt, sondern danach, inwiefern sie ein internes, jeder Positivierung des Rechts vorangehendes Organisationsprinzip aufweisen. Der legal formalism sucht apriorische Erkenntnis, die sich nicht als rechtspolitischer Leitfaden begreift, sondern auf die dem Recht wesenseigenen Merkmale hinweist.58 Jede Bewertung des Rechts mit Hilfe eines inhaltlichen Maßstabs setzt voraus, das Recht zunächst seiner Form nach zu erkennen. Dabei geht es nicht etwa um die Erklärung der Bedeutung der Worte Vertrag, Versprechen usw., sondern darum zu klären, welche strukturellen Besonderheiten diese Institute als Institute des Privatrechts konstituieren. Mit Struktur sind dabei wiederum nur die internen Organisationsprinzipien gemeint, die ihrer Form nach jede Privatrechtsbeziehung bestimmen, zu welchem Zweck auch immer diese eingegangen wurde.
1. Ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit Die Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit geht auf das 5. Buch der Nikomachischen Ethik zurück.59 Diese »Aristotelische Entdekkung«60 ist in aller Kürze darzulegen, weil sie von einer Vielzahl der vorliegend erläuterten normativen Theorien in Bezug genommen wird (durch Kant und Gordley zum Beispiel) und nicht zuletzt, um ihre spezifische Interpretation durch Weinrib würdigen zu können.61 Ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit sind ein Teilaspekt der Gerechtigkeitslehre von Aristoteles. Der universale Aspekt der Gerechtigkeit ist die Achtung vor dem positiven Gesetz (»gesetzliche« Gerechtigkeit).62 Ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit sind die »partikuläre« Gerechtigkeit. Ihr Zweck ist die Achtung vor der Gleichheit. Das erste Kennzeichen dieser Form der Gerechtigkeit ist, daß sie das Verhältnis eines gründet Gordley mit denselben Stellen eine teleologische, also auf ein bestimmtes materiales Ziel ausgerichtete, Theorie des Privatrechts. Demgegenüber geht es Weinrib ausschließlich um die Form des Rechts. 57 Die Ausführungen beziehen sich auf Kap. 2 von Weinrib, The Idea of Private Law, S. 22ff. Diese Rationalität des Rechts zeigt sich in dem positiven Recht, wenn auch nicht in perfekter Weise. Die Form des Privatrechts besteht aus dem Charakter des Rechts, also seinen herausragenden Eigenschaften, der Art des Rechts, also der Besonderheit der Gattung des Privatrechts im Unterschied zu anderen Bereichen des Rechts, sowie schließlich der Rechtseinheit, die die Kohärenz der Ordnung zum Ausdruck bringt. Auf eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen wird verzichtet, da sie inhaltlich keine neuen Aspekte in die Diskussion einführen. Entscheidend ist nur zu sehen, daß es Weinrib darum geht, das Recht aus sich selbst heraus zu verstehen. 58 Weinrib, Fn. 57, S. 25. 59 Aristoteles, NE, Insb. Abschnitte V.5.–8., 1130b ff. 60 Eine aristotelische »Entdeckung«: Bien in Höffe (Hrsg.), Nicomachische Ethik, S. 135, 146. 61 Die Zahl der Aristoteles Interpretationen ist unübersehbar. An dieser Stelle genügt der Hinweis auf die teleologischen Theorien, näher S. 89ff., unten, die sich ebenfalls auf Aristoteles stützen, aber eine im Vergleich zu Weinrib grundverschiedene Theorie daraus entwickeln. 62 Dazu etwa Bien Fn. 59, S. 140ff.
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
Menschen zu einem anderen Menschen betrifft, also einen interpersonalen Maßstab zur Verfügung stellt. Da Aristoteles hier wie in Bezug auf die anderen Tugenden das Mittelmaß zwischen zwei Extremen als Maß ethischer Richtigkeit zugrundelegt, ergibt sich ein viergliedriger Gerechtigkeitsbegriff. Gleichheit ist ein Mittleres zwischen einem Zuviel und Zuwenig zweier Personen. Die zwei Grundformen der Gerechtigkeit als Gleichheit können nun metaphorisch-mathematisch formuliert werden. Die austeilende Gerechtigkeit, bei der es um die Verteilung von Geld oder sonstigen Werten auf Personen geht, beurteilt sich nach »geometrischer« Proportionalität.63 Wenn A und B zwei Personen sind und C und D ihre ihnen angemessene Berechtigung darstellen, so ist die Menge im Verhältnis C und D auf A und B aufzuteilen. Erhält A mehr als seinen Anteil C und damit B weniger als seinen Anteil D, so ist die Gleichheit verletzt und die Verteilung ungerecht. Wie die Angemessenheit des Anteils bestimmt wird, läßt Aristoteles hier unter Hinweis auf Meinungsverschiedenheiten der Vertreter des demokratischen, oligarchischen und aristokratischen Prinzips offen. Die ausgleichende Gerechtigkeit ist Ausdruck »arithmetischer« Proportionalität.64 Sie kommt zur Anwendung bei »vertraglichen Beziehungen« von Mensch zu Mensch, worunter einerseits die »freiwilligen«, also vertraglichen Beziehungen fallen, sowie die »unfreiwilligen«, also Straftaten.65 Zur Illustration wird auf eine Linie verwiesen, die in zwei ungleiche Teile geteilt ist. Die Mitte symbolisiert erneut die Gerechtigkeit als Gleichheit der beiden Teile der Linie. Wenn die Linie in zwei ungleiche Teile geteilt ist, liegt ein ungerechter Zustand vor. Die eine Seite ist »zu kurz« und die andere »zu lang«. An dieser Stelle bringt Aristoteles den Richter ins Spiel. Seine Aufgabe ist es, die Gerechtigkeit durch einen Ausgleich wieder herzustellen. Dieser erfolgt, in metaphorischer Ausdrucksweise, indem von der »zu langen« Linie »ein Stück gekürzt« wird und dieses eine Stück der »zu kurzen« Linie angefügt wird, so daß nunmehr beide Teile »gleich« lang sind. Wenn Baumeister A ein Haus C und Schumacher B ein Schuhzeug D austauschen, so muß der Baumeister vom Schuhmacher dessen Erzeugnis bekommen und er dem Schuhmacher zum Ausgleich das seinige geben.66 Leistet etwa der Baumeister nicht, so hat er zuviel und der Schuhmacher zuwenig. Der Ausgleich erfolgt durch den Richter, der vom Baumeister nimmt und dem Schuhmacher gibt, was ihm gebührt, und auf diese Weise die Gleichheit herstellt. 63
Aristoteles, NE, 1131a–1131b. Aristoteles, NE, 1131b–1133a. 65 Für unfreiwillige Vorgänge ist der Begriff der Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) nicht ohne weiteres passend. Daher wird hier der Begriff der ausgleichenden Gerechtigkeit vorgezogen (so etwa auch Bien Fn. 59, S. 150). Gleichbedeutend: regelnde, korrektive oder wiederherstellende Gerechtigkeit (iustitia correctiva) 66 Es gilt das gleiche Prinzip, wenn die Leistung der einen Person in einer Geldleistung besteht. 64
III. Vertrag als Gegenstand ausgleichender Gerechtigkeit
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Soweit dürfte die Darstellung der Gerechtigkeit als Gleichheit bei Aristoteles nicht grundsätzlich zweifelhaft sein. Weinrib meint nun, daß Aristoteles nicht nur, was nicht zweifelhaft ist, den Maßstab der Angemessenheit bei der austeilenden Gerechtigkeit, sondern auch den Maßstab der Gleichheit bei der ausgleichenden Gerechtigkeit offen läßt.67 Die ausgleichende Gerechtigkeit abstrahiere vom inhaltlichen Kriterium dafür, wie die Gleichheit zu bestimmen ist, in anderen Worten, wo die »Mitte der Linie« anzusiedeln ist. Die Gleichheit liegt rein formal darin, daß jeder das erhält, was ihm gebührt, was durch den Satz ergänzt wird, daß, wenn einer weniger erhält als ihm gebührt, der Richter aufgefordert ist, den Ausgleich durch Übertragung des überschüssigen Teils auszugleichen. Gegen diese Interpretation Weinribs bestehen Bedenken. So heißt es unter anderem bei Aristoteles mit Bezug auf den Kauf: Wenn beide Teile »das Ihre« erhalten, so ist die Gleichheit gewahrt. Wenn aber ein Teil »vorher und nachher«68 nicht das Gleiche hat, so ist für den einen ein Zuwachs (»Gewinn«) und für den anderen eine Einbuße (»Verlust«) herausgekommen, der durch den Richter auf besagte Weise ausgeglichen werden soll. Und in dem Beispiel von dem Haus, das gegen Schuhe ausgetauscht wird, wird gefordert, daß das Haus einer bestimmten Anzahl Schuhe in seinem Wert entsprechen muß, ansonsten, so scheint es, liege ein Zuviel oder Zuwenig vor.69 Daraus könnte man schließen, daß Aristoteles hier einen quantitativen Maßstab ansetzt und verlangt, daß die Parteien in ihrem Vermögen durch den Austauschvertrag nicht beeinträchtigt werden, sondern sich nur dessen Zusammensetzung verändert.70 Doch sind diese Einwände nur gegen Weinribs Aristoteles Interpretation (nicht gegen den Inhalt der Aussagen selbst) gerichtet und können daher vorliegend auf sich beruhen. Für die verbleibenden Anmerkungen wird daher der Weinribsche, abstrakte Begriff der Gleichheit zugrunde gelegt. Das abstrakte Ordnungsprinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit ist nach Weinrib bestimmend für die Form des Privatrechts.71 Entscheidend ist die Bipolarität der ausgleichenden Gerechtigkeit: Die Idee der Gleichheit verbindet einen bestimmten Gläubiger mit einem bestimmten Schuldner. Eine Verletzung der Gerechtigkeit bedeutet die Bereicherung der einen Partei auf Kosten der anderen. Die Bipolarität besteht also nicht nur hinsichtlich der beteiligten Personen, sondern auch hinsichtlich der Handlungen der Parteien. Es besteht eine Korrelation zwischen der Bereicherung (einem Zuviel) der einen Seite und dem Schaden (einem Zuwenig) der anderen. Ein Ausgleich der Ungerechtigkeit zwischen den Parteien kann daher nicht isoliert dadurch erfolgen, daß nur die Bereicherung der
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Weinrib, Fn. 57, S. 57, 61, 67. Aristoteles, NE, 1132b. Aristoteles, NE, 1133a. So in der Tat Gordley, dessen Theorie im nächsten Kapitel vorgestellt wird. Weinrib, Fn. 57, S. 63ff.
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
einen aufgehoben wird, oder nur der Schaden der anderen ersetzt wird, sondern allein dadurch, daß die Partei, die zuviel hat, an die Partei, die zuwenig hat, abgibt. Die Bipolarität des Ausgleichs erklärt, warum dieser bestimmte Kläger einen Anspruch gegen diesen bestimmten Beklagten hat. Der Ausgleich erfolgt durch den Richter, der die (gerechte) Mitte der Linie, die zwischen den beiden Parteien verläuft, bestimmt. Somit ist auch das gerichtliche Verfahren der Form nach auf die bipolare Beziehung zwischen den Parteien ausgerichtet. Die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit faßt die beiden Parteien einer wechselbezüglichen rechtlichen Beziehung zu einer normativen Einheit zusammen, genauso wie die Idee der austeilenden Gerechtigkeit die Mitglieder einer Gruppe als Anwärter auf einen auszuschüttenden Betrag als normative Einheit begreift.72 Beide Ideen sind gegenseitig unvereinbare Ordnungsprinzipien, gewissermaßen die Grundformen menschlicher Interaktion, sofern sie rechtlich relevant ist. Es widerspricht daher bereits der inneren Kohärenz des Rechts, wenn eine rechtliche Beziehung beiden Gerechtigkeitsideen zugleich untergeordnet wird.73 Die beiden Formen können nicht gemischt werden, denn das bipolare Element und das gruppenbildende Moment der anderen Gerechtigkeitsform sind exklusiv. Das bedeutet für das Privatrecht, daß die Bipolarität des Vertrages den Richter auf den Maßstab der ausgleichenden Gerechtigkeit festlegt. Der Ausgleich darf dann aufgrund der Form der rechtlichen Beziehung nicht nach einem kollektiven Verteilungsschlüssel erfolgen, sondern muß im Hinblick auf das »Zuviel« und »Zuwenig« anhand eines interpersonalen Maßstabs vorgenommen werden.
2. Gerechtigkeit und subjektives Recht Der Maßstab für die Bestimmung der Anteile an der Linie im arithmetischen Modell der ausgleichenden Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Betrachtet man die Bipolarität dieser normativen Einheit als bloße Form der rechtlichen Beziehung, dann abstrahiert man von jedem inhaltlichen Maßstab für die Gleichheit.74 Die Frage, wie die Mitte zu bestimmen ist, stellt sich freilich in aller Schärfe, wenn diese Theorie mehr besagen will, als daß jedem »das Seine« gebührt. Das Maß der Gleichheit entnimmt Weinrib nun der Kantischen Philosophie des subjektiven Rechts.75 Dabei stützt er sich darauf, daß substantielle Momente, wie der soziale Status und die Tugendhaftigkeit der Parteien, für die ausgleichende Gerechtigkeit unerheblich sind.76 Hier mag in der Tat eine Verbindungslinie zu Kants allgemei-
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Weinrib, Fn. 57, S. 72f., 75. Weinrib, Fn. 57, S. 73f. 74 Wie bereits erwähnt, ist zweifelhaft ob diese Abstraktion bereits bei Aristoteles zu finden ist, oder erst durch Weinrib vollzogen wird. 75 Weinrib, Fn. 57, S. 80ff. 76 Aristoteles, NE, 1132a2. 73
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nem Prinzip des Rechts zu sehen sein.77 Die bipolare Form der ausgleichenden Gerechtigkeit eignet sich als Schema, mit dem man den äußeren Gebrauch der Willkür erfassen kann. Die Gleichheit wird dann durch die Übereinstimmung des Gebrauchs der Willkür mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts bestimmt. Das allgemeine Prinzip des Rechts, Kants Konzeption des subjektiven Rechts, liefert den Maßstab für die Bestimmung des Mein und Dein. Formales Ordnungsprinzip dieser bipolaren Beziehung ist jedoch nach Weinrib die ausgleichende Gerechtigkeit. Kant selbst führt die ausgleichende Gerechtigkeit hinsichtlich der Modalität von subjektiven erworbenen Rechten ein:78 Die Möglichkeit des Besitzes von Gegenständen wird durch das Postulat des Privatrechts geschaffen. Das ist bei Kant Gegenstand der »beschützenden« Gerechtigkeit (iustitia tutatrix). Die Wirklichkeit der subjektiven Rechte besteht im tatsächlichen rechtlichen Besitzstand. Das ist die »wechselseitig erwerbende« Gerechtigkeit (iustitia commutativa). Die Notwendigkeit des Besitzstands ergibt sich schließlich aus dessen Sicherung durch den Ausspruch des Richters im rechtlichen Zustand. Das ist die »austeilende« Gerechtigkeit (iustitia distributiva). In bewußter Abkehr von der Aristotelischen Definition der austeilenden Gerechtigkeit79 ist diese Gerechtigkeitsform bei Kant mit der Rolle des Richters im rechtlichen Zustand gleichgesetzt. Die Sicherung des subjektiven Rechts durch den Richter, also die Durchsetzung der iustitia commutativa, entspricht aber durchaus der Rolle des Richters bei Aristoteles, der das arithmetische Gleichmaß zwischen den Parteien durch korrigierenden Ausgleich herstellen soll.80 Diese wenigen Bemerkungen dürften genügen, um zu zeigen, daß sich die Bipolarität der ausgleichenden Gerechtigkeit mit dem Schutz subjektiver Rechte nach Kantischer Tradition vereinbaren läßt. Auf Weinribs Darstellung der Kantischen Rechtslehre im einzelnen muß an dieser Stelle daher nicht näher eingegangen werden.81
3. Die Wechselseitigkeit von Recht und Pflicht Die ausgleichende, wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit geht dem rechtlichen Zustand vor. Im Zustand der bürgerlichen Verfassung erfolgt nur die Sicherung der Rechte durch einen Gerichtshof, nicht ihre Schaffung. Das subjektive Recht 77 Kant, MS, AA VI, S. 231: »Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«. 78 Kant, MS, AA VI, S. 305f. Dazu Weinrib, Fn. 57, S. 101f.; Byrd/Hruschka ARSP 2005, 484ff. 79 Kant, MS, AA VI, S. 237 (mit dem Hinweis darauf, daß man einem nicht geben kann, was man schon hat). 80 Kant verwendet ein ähnliches Bild, MS, AA VI, S. 233: Es gibt nur eine »einzige« Linie, die senkrechte, »die den Raum von beiden Seiten gleich abteilt, nach welcher Analogie auch die Rechtslehre das S e i n e einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmt wissen will (...)«. 81 Weinrib, Fn. 57, Kap. 4, S. 84ff.
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§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien
besteht darin, daß andere den äußeren Gebrauch ihrer Willkür auf das beschränken, was mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Das Privatrecht ist der Bereich der Schuldigkeit, also dessen, was man anderen zu tun schuldet. Dem Recht entspricht daher die Pflicht der anderen mir gegenüber, den Gebrauch der Willkür auf diese Weise einzuschränken. Zu ihrer Einhaltung dürfen sie, da es sich um eine Rechtspflicht handelt, gezwungen werden: »(...) wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Ve r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d.i. recht (...).«82
Das Recht beinhaltet daher eine Befugnis, andere zu zwingen, ihre Schuldigkeit zu tun. Die Pflicht ist aber nicht etwa eine zusätzliche und unabhängige Erwägung eigener Art, sondern ist in dem Begriff des subjektiven Rechts, also dem Recht, etwas von einer anderen Person zu verlangen, bereits angelegt. In den Worten Kants: »(...) das Recht darf nicht aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugnis dessen, der durch seine Willkür den anderen verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt gedacht werden, sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen.«83
Die Gleichheit innerhalb der ausgleichenden Gerechtigkeit, um Weinribs Argumentation wieder aufzunehmen, ist mit der Idee der Einheit von Recht und Pflicht folgendermaßen verknüpft: Die Rechtsverletzung geht mit einer Pflichtverletzung einher; beides wiederum ist gleichbedeutend mit einem Zustand der Ungleichheit. Zum Ausgleich dieser Ungerechtigkeit ist der Richter mit seiner Zwangsgewalt berufen. Der Einheit von Recht und Pflicht entspricht nach Weinrib die Korrelation von »Zuviel«, dem Zuwachs, und von »Zuwenig«, der Einbuße.84 Dafür führt er die Unterscheidung zwischen der faktischen und der normativen Bedeutung der Begriffe Zuwachs und Einbuße ein.85 In seiner faktischen Dimension wird der tatsächliche Zustand vor mit dem nach dem relevanten Ereignis verglichen. Ist das Vermögen geschrumpft, liegt eine faktische Einbuße vor, ist es gewachsen, ein faktischer Zuwachs. Normativ liegt eine Einbuße vor, wenn der
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Kant, MS, AA VI, § D, S. 231. Kant, MS, AA VI, § E, S. 232. 84 Weinrib, Fn. 57, Kap. 5, S. 114ff. Dort wird von »gain« and »loss« gesprochen. Eine Übersetzung mit »Bereicherung«, »Gewinn« bzw. »Verlust«, »Schaden« würde unerwünschte normative Konnotationen hervorrufen, während die Begriffe »Einbuße« und »Zuwachs« demgegenüber neutral erscheinen und deswegen hier vorgezogen werden. 85 Weinrib, Fn. 57, Kap. 5, S. 115. 83
III. Vertrag als Gegenstand ausgleichender Gerechtigkeit
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Zustand schlechter ist als er sein sollte; ein normativer Zuwachs besteht in einer Verbesserung des Zustands über das hinaus, wie er sein sollte.86 Ungerechtigkeit nach dem Maßstab der ausgleichenden Gerechtigkeit ist, bildlich ausgedrückt, »ein Zuviel« und gleichzeitig im Hinblick auf eine andere Person »ein Zuwenig«. »Zuviel« und »Zuwenig« ist dabei ausschließlich normativ und nicht faktisch zu verstehen.87 Der Grund dafür ist, daß die Gleichheit in dieser Formel von einer normativen Regel, dem allgemeinen Prinzip des Rechts, bestimmt wird.88 Der normative Zuwachs und die normative Einbuße drücken das aus, was den Beteiligten nach dem allgemeinen Prinzip des Rechts »gehört«: Die Rechtsverletzung (das Zuwenig) entspricht der Pflichtverletzung (das Zuviel). Die Korrelation von Einbuße und Zuwachs schließt also nicht aus, daß ein einseitiger faktischer Zuwachs oder eine einseitige faktische Einbuße ausgeglichen wird. Entscheidend ist allein die Einheit und Wechselbezüglichkeit von Recht und Pflicht. Die Korrelation von Zuwachs und Einbuße, die Einheit von Recht und Pflicht, ist für die Struktur des Privatrechts von zentraler Bedeutung. Dies führt Weinrib anhand des Bereicherungs-,89 Delikts-,90 und Vertragsrechts aus. Im Vertragsrecht besteht die Einheit von Recht und Pflicht in der vereinbarten Leistung.91 Der Verletzung der Pflicht des Schuldners (dem normativen »Zuviel«) 86
Weinrib, Fn. 57, S. 116. Auf die Schwierigkeit, die Begriffe in ihrer faktischen Bedeutung bei der Körperverletzung zu verwenden, weist Aristoteles hin, NE, 1132a10–14. 88 Weinrib, Fn. 57, Kap. 5, S. 117. 89 Weinrib, Fn. 57, S. 140ff. Für das Bereicherungsrecht unterscheidet Weinrib zwischen irrtümlichen, also rechtsgrundlosen Leistungen und Bereicherung, die auf einem Rechtseingriff beruht. Im ersteren Fall ist das Geleistete dem Gläubiger zugewiesen, da es keine rechtliche Verpflichtung gibt, andere zu bereichern. Falls der Schuldner die Bereicherung nicht herausgibt, verletzt er das Recht des Gläubigers. Normativer Zuwachs des Schuldners und normative Einbuße des Gläubigers entsprechen sich und sind auszugleichen. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die Verwertung fremden Eigentums. Auch hier korrespondiert der normativen Einbuße des Gläubigers ein normativer Zuwachs des Schuldners. Denn was die Pflichtwidrigkeit der Verwertung ausmacht stellt die Verletzung des Rechts des Gläubigers dar und umgekehrt. 90 Weinrib, Fn. 57, S. 134ff.; Kap. 6, S. 145ff.; Kap. 7, S. 171ff. Im Deliktsrecht geht es um die Ausgleichung einer faktischen Einbuße. Weinrib fordert, daß die Rechtsverletzung, also die normative Einbuße, in der Verletzung einer zu einem absoluten Recht verfestigten Rechtsposition (vgl. § 823 I BGB) besteht. Dieser Einbuße entspricht der normative Zuwachs des Schuldners symbolisiert durch die Pflichtverletzung. Der Ausgleich erfolgt durch Korrektur der faktischen Einbuße. Die Schadensersatzhaftung für Körperverletzungen als Ausdruck ausgleichender Gerechtigkeit zu verstehen, bereitet daher keine begrifflichen Schwierigkeiten. Der Pflichtverletzung des Schuldners korrespondiert die Rechtsverletzung des Gläubigers und nicht etwa die faktische Einbuße des Gläubigers einem faktischen Zuwachs des Schuldners. Freilich besteht der Ausgleich darin, daß vom Schuldner genommen wird und dem Gläubiger gegeben wird. Allerdings hängt dies mit dem Inhalt der verletzten Pflicht zusammen, nämlich eine Schädigung anderer zu vermeiden (neminem laedere). Der dennoch eingetretene Schaden ist daher so weit wie nur möglich auszugleichen. Dies wird in der Regel durch einen Geldbetrag geschehen, ohne daß der Schuldner einen entsprechenden faktischen Zuwachs durch die Pflichtverletzung erzielt haben müßte. 91 Weinrib, Fn. 57, S. 136ff. 87
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korrespondiert die Verletzung des Rechts des Gläubigers (das normative »Zuwenig«). Der Ausgleich erfolgt durch Anordnung der Leistungserbringung in specie und des Ersatzes des positiven Interesses. Der Inhalt der Pflicht bestimmt die Richtung des Ausgleichs.92 Der Gläubiger ist zu stellen, wie er stünde, wenn der Vertrag erfüllt worden wäre. Nach Weinrib geht es daher bei der vertraglichen Haftung wie im Deliktsrecht um den Ausgleich von faktischen Einbußen. Der Unterschied liegt im Ursprung des Rechts des Gläubigers. Im Deliktsrecht entsteht das Recht des Gläubigers unabhängig von Handlungen des Schuldners, während im Vertragsrecht das Recht des Gläubigers auf die Leistung durch beide Parteien erst geschaffen wird. Das Schadensrecht muß ebenfalls, wenn es Ausdruck ausgleichender Gerechtigkeit sein soll, aus der Bipolarität der rechtlichen Beziehung zu erklären sein. Dies ist etwa bei solchen Haftungsprinzipien nicht der Fall, die einseitig auf den Schuldner (etwa Strafschadensersatz oder Gewinnabschöpfung) abstellen. Dieser Gesichtpunkt wird im Rahmen der Untersuchung des Sekundäranspruchs wieder aufzugreifen sein.
92 Dies dürfte den Einwand von Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 104, widerlegen, daß Weinrib nicht erklären könne, in welcher Höhe der faktische Nachteil auszugleichen ist. Im einzelnen S. 285ff. und 338ff.
§ 4 Teleologische Theorien Der Kantischen Tradition zufolge ist es Aufgabe des Privatrechts, ein System subjektiver Rechte einzuführen, das nach dem Postulat des öffentlichen Rechts die Garantie der Rechte des Einzelnen und damit seiner Würde als Person beinhaltet. Die Grenze der Rechtsmacht liegt nach dem allgemeinen Rechtsprinzip darin, daß die Rechte anderer Personen nicht verletzt werden. Sofern die Rechte anderer nicht betroffen sind, ist die Materie der Willkür, die Richtung der Ausübung des Rechts für den staatlichen Schutz irrelevant.1 Das ist der klassisch-liberale Aspekt dieser Theorie subjektiver Rechte. Von diesem Standpunkt aus ist die inhaltliche Bestimmung des Willens durch den Staat ein grundsätzlich unzulässiger paternalistischer Eingriff in die Vertragsfreiheit oder das Eigentumsrecht.2 Eine solche Lenkung der Willensausübung ist dagegen eine zentrale Forderung der in diesem Kapitel vorzustellenden teleologischen Theorien. Ihr allgemeines Kennzeichen ist, daß der Staat nicht inhaltlich neutrale Autonomie gewähren soll, sondern die »autonome« Verfolgung »guter« Zwecke fördern und die »schlechter« verhindern sollte.3
I. Vertrag in der »aristotelischen Tradition« James Gordley hat eine vielbeachtete historisch-philosophische Theorie entwikkelt. Er beruft sich im wesentlichen auf die Autoren der »aristotelischen Tradition«. Hierzu zählt er die Vertreter der Spätscholastik des 16. Jahrhunderts, Domingo de Soto, Luis de Molina und Leonard Lessius, die im Anschluß an Thomas von Aquin eine in den Augen Gordleys gelungene Synthese der Tradition des römischen Rechts mit der Philosophie Aristoteles darstellen.4 Es ist ein integrativer Bestandteil seines Ansatzes, den Einfluß von Ideen in der Geschichte herauszuar1 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 77: »moral or social worth is irrelevant to corrective justice«. 2 Raz, Morality of Freedom, S. 422: »Paternalism has a bad name among some liberal thinkers.« 3 Bsp. Raz Fn. 2, S. 423: »Where the perfectionism advocated here goes beyond means-related paternalism is in sanctioning measures which encourage the adoption of valuable ends and discourage the pursuit of base ones.« 4 Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, Kap. 4, S. 69ff.
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§ 4 Teleologische Theorien
beiten. So zeigt er etwa die vielfältigen Bezüge zwischen der (späteren) Philosophie von Grotius und Pufendorf und der Spätscholastik auf.5 Es gelingt ihm, die zum Teil äußerst heterogenen Traditionen als einen zeitlosen Dialog zwischen Apologeten verschiedener Lehren über die richtige Lösung eines juristischen Problems darzustellen. Die Berufung auf die Spätscholastik dient dabei aber nicht als Hinweis auf eine Autorität; ihre prominente Rolle rührt allein daher, daß Gordley die Argumente dieser Schule als besonders überzeugend ansieht. Freilich ist eine Stärkung der Überzeugungskraft im Sinne einer Vermutung der Richtigkeit sicherlich beabsichtigt, wenn der nachhaltige Einfluß dieser Schule aufgezeigt wird.6 Weil Gordley aber nicht eine rein historische These vertritt, sondern auf die Kraft der Argumente verweist, ist sein Anliegen letzten Endes, eine universelle Jurisprudenz im Sinne Jherings anzustreben. Die in dieses Konzept passende Integration der Rechtsvergleichung sichert darüber hinaus, daß die Ergebnisse für eine Vielzahl von Rechtssystemen der Gegenwart, einschließlich des deutschen, auf das regelmäßig Bezug genommen wird, von unmittelbarem Interesse sind. Dies vorausgeschickt, soll es im folgenden allein um die Theorie Gordleys in seiner Darstellung gehen, nicht aber um deren Übereinstimmung mit den Ansichten der von ihm zitierten Autoren und der Philosophie von Aristoteles.7
1. Das gute Leben Die Grundfrage für Gordley ist die nach den für das Verständnis des Privatrechts notwendigen Annahmen.8 Seine Antwort ist kennzeichnend für die Grundhaltung der hier so genannten »teleologischen Theorien« von Privatrecht. Entscheidend für diese Theorien ist ein bestimmter Wert oder eine Kombination von Werten, denen das System untergeordnet wird. Dieser Wert ist der ordnende Gesichtpunkt des weitgespannten juristischen »Topoikataloges«. Bei Gordley ist dieser Schlüssel zur Systematisierung von Privatrecht der Wert, ein gutes Leben zu führen. Ein gutes Leben ist ein Leben, das das eigene Potential als menschliches Wesen verwirklicht.9 In Gordleys Worten: »There is, then, a life to be lived which is truly of value, and an ability to see what that life entails, although we can be mistaken.«10
Ein solches Leben zu führen, ist der ultimative Zweck, zu dem alle gut ausgewählten Handlungen ein Mittel oder konstituierende Bestandteile eines solchen Le5
Gordley Fn. 4, S. 121ff. Gordley Fn. 4, S. 134ff. 7 S. für eine abweichende Aristoteles Interpretation etwa S. 80ff. 8 Gordley 47 Am.J.Juris. 1, 2 (2002). 9 Gordley in Benson (Hrsg.), Theory of Contract Law, S. 265, 268. Eine ähnliche Theorie des »Guten« entwickelt Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 59ff. 10 Gordley 47 Am.J.Juris. 1, 22 (2002). 6
I. Vertrag in der »aristotelischen Tradition«
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bens sind.11 Dieser Wert wird letztlich mit Glückseligkeit (»human happiness«) gleichgesetzt, die darin bestehe, ein spezifisch menschliches Leben (»distinctly human life«) zu führen. Dazu gehöre, daß Menschen anders als Tiere nicht nur aus sinnlichen Antrieben heraus (»by appetite«) handeln können, sondern auch aus Vernunft (»reason and will«). Die Kunst, bestimmte Handlungen auszuwählen, die zu einem guten Leben gehören, erfordert eine besondere Tugend, nämlich die Klugheit (»prudence«). Weil der Mensch »ein soziales Tier« sei, sei Teil des eigenen guten Lebens, anderen zu helfen, ein solches zu führen. Ein kluger Mensch wird daher stets bemüht sein, die Handlungen zu wählen, die ein glückliches Leben für ihn selbst und andere ermöglichen.12 Zum Leben benötigt der Mensch äußere Güter, wodurch bei Gordley das Recht auf den Plan tritt. Die gerechte Verteilung der Güter sei der Zweck des Rechts.13 Die Aufgabe von distributiver Gerechtigkeit sei es, sicherzustellen, daß jede Person ausreichend vermögend ist, um sich die für sein Leben notwendigen Güter zu beschaffen. Dies sei jedoch nur ein Ideal, daß zudem in jeder Gesellschaft unterschiedlich ausgestaltet sein könne. In einer Demokratie würde zwar jedem ein gleicher Anteil zustehen, jedoch dürfe dies, wie Gordley betont, jedenfalls nicht durch staatliche Güterverteilung und Enteignung der Vermögenden erreicht werden. Ziel der kommutativen Gerechtigkeit sei es, dem Einzelnen zu ermöglichen, die Güter zu erwerben ohne den Anteil anderer an der Menge der Güter auf »unfaire Weise« zu verkleinern.14 Es gebe viele Ereignisse (»Unfälle«), die den Anteil des Einzelnen verändern, die nicht verhindert werden könnten. Andere dagegen beruhten auf der zurechenbaren (»voluntary«) Handlung einer Person. Diese Veränderungen des Anteils des einzelnen an der Menge der äußeren Güter könnten verhindert werden. Grundsätzlich sind solche Veränderungen der Anteile, die auf zurechenbaren Handlungen beruhen, unfair, denn sie widersprechen der kommutativen Gerechtigkeit, wonach jeder ein Recht darauf hat, daß sein Anteil an den Gütern erhalten bleibt. Dies sind, in wenigen Worten, die Eckpfeiler Gordleys Philosophie, aus der er die Grundzüge des gesamten Privatrechts, also der vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse (insbesondere ungerechtfertigte Bereicherung und Deliktsrecht) und des Sachenrechts entwikkelt.
11 Gordley 47 Am.J.Juris. 1 (2002) (»Living such a life is the ultimate end to which all well chosen actions are a means, either instrumentally or as constituent parts of such a life.«). Die folgenden Ausführungen beziehen sich ebenfalls auf diese Passage. 12 Diese Aspekte des »guten Lebens« bei Gordley erinnern an den »abgeschwächten« Utilitarismus von Mill, im einzelnen § 5 I.2. unten. 13 Gordley Fn. 9, S. 265, 310ff.; Gordley Fn. 4, S. 69ff. 14 Für die folgenden Ausführungen s. Gordley, Foundations of Private Law, Kap. 4, S. 287ff.
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§ 4 Teleologische Theorien
2. Vertrag und Fairneß Im Vertragsrecht folgt für Gordley aus seiner teleologischen Grundhaltung, daß die Willenstheorie nicht richtig sein kann.15 Ihre auch nach seiner Ansicht anzuerkennende Leistung bestand darin, Konsens der Parteien als notwendiges zentrales Merkmal des Vertrages herauszukristallisieren. Ihr Fehler lag aber darin, meint er, Konsens zugleich als hinreichende Bedingung des Vertrages einzuführen. Die Willenstheorie könne daher weder erklären, warum Gerichte manche Verträge oder einzelne Klauseln von Verträgen die Durchsetzung verweigern, noch die große Anzahl von Regeln des dispositiven Rechts, die die Parteien binden, wenn sie nicht eine anderweitige Bestimmung treffen. Die Willenstheorie könne die Regeln des dispositiven Rechts nicht erklären, weil ein diesbezüglicher Konsens nicht bestand. Demgegenüber hätte seine Theorie keine Schwierigkeiten diese Phänomene zu rechtfertigen. Unfaire Klauseln seien schon deswegen ungültig, weil Fairneß zum Begriff des Vertrages selbst gehöre.16 Die Bedeutung von Fairneß für den konkreten Fall ergebe sich wiederum aus der Aristotelischen Idee der Gleichheit (»equality«) und Liberalität (»liberality«). Ein Austauschvertrag sei ein Akt kommutativer Gerechtigkeit, bei dem der Wert der Leistung dem Wert der Gegenleistung quantitativ entsprechen sollte. Nur auf diese Weise werde der Anteil der jeweiligen Partei an der Summe der äußeren Güter erhalten. Weicht der Wert ab, sei der Anteil der einen Partei unfair verkleinert und der Vertrag dementsprechend ungültig. Der Wert der Leistungen sei über den Marktpreis zu bestimmen, der das finanzielle Leistungsvermögen einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt am überzeugendsten erfasse. Dies sei nach richtigem Verständnis der »gerechte Preis«. Die Lehre von der laesio enormis sei daher auch heute noch überzeugend. Während Gleichheit im umfassenden Sinn den Austauschvertrag bestimmt, ist die Tugend der »Liberalität« für Schenkungsverträge bestimmend.17 Entscheidend soll es hier auf die Qualität des Motivs des Schenkers ankommen. Was nun das dispositive Recht angeht, so ließe sich die Relevanz dieser Regeln neben Konsens für das Vertragsrecht mit Hilfe der kommutativen Gerechtigkeit rechtfertigen.18 Einzelne Bestimmungen des Vertrages können den Parteien Risiken zuweisen. Die Art der Risikotragung kann die jeweilige Partei entscheidend »ärmer« machen, falls sich die Gefahr verwirklichen sollte. Daher sei aus der Idee der Gleichheit heraus die Partei, die das Risiko trägt, durch Gestaltung des Preises entsprechend zu »entschädigen«. Wenn etwa in einem Vertrag die Haftung für eine latent fehlerhafte Ware ausgeschlossen werde und sich diese als tatsächlich mangelhaft herausstellt, so sei der Vertrag unfair, wenn der Preis von fehlerloser 15 16 17 18
Gordley 47 Am.J.Juris. 1, 16ff. (2002). Gordley 47 Am.J.Juris. 1, 17f. (2002) Gordley Fn. 9, S. 298ff. Gordley 47 Am.J.Juris. 1, 18ff. (2002).
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Ware vereinbart wurde. Denn die eine Partei habe nicht den Gegenwert ihrer Leistung (fehlerlose Ware) erhalten. Schon Molina habe aber eingeräumt, daß die Haftung durchaus ausgeschlossen werden könne, wenn gleichzeitig ein Abschlag beim Preis vorgenommen wurde. Dann sei dem Gebot der kommutativen Gerechtigkeit Genüge getan. Wenn nun die Parteien ihre Verträge jederzeit (wie Gordley formuliert:) »mit offenen Augen« abschließen würden, so würde der Inhalt von Verträgen diesem Maßstab der Gleichheit gemäß »fair« sein. Dies tun sie tatsächlich aber nicht. Vielmehr habe die Erfahrung gezeigt, daß Vertragsparteien ohne nähere Prüfung und Abwägung von scheinbaren Nebenbestimmungen eines Vertrages sich zu binden bereit sind. Deswegen sei es Aufgabe des dispositiven Rechts Regeln für einen fairen Ausgleich vorzusehen, auch wenn die Parteien in ihrem Vertrag nicht alle Eventualitäten bedacht und geregelt haben.
3. Autonomie und die »richtige« Wahl Gordley grenzt sich ganz bewußt von solchen Vertragtheorien ab, die Autonomie einen Wert an sich selbst zuschreiben.19 Einem Vertrag als Akt der Selbstbestimmung komme nicht schon deswegen ein Wert zu, weil er ein Akt der Selbstbestimmung ist. Dies sei auch nicht der Grund, warum Verträge bindend seien. Es komme darauf an, zu welchem Zweck der Vertrag dient, denn »[C]hoice is not all that matters. It matters that a person chooses rightly«.20
Nur die richtige Wahl verdiene daher uneingeschränkte Anerkennung – allein die Tatsache, daß eine Wahl freiwillig getroffen wurde, verlange diese nicht. Im Vertragsrecht gehe es durchaus darum, welchen Wert dasjenige hat, was die Parteien freiwillig gewählt haben, also um die Bewertung des konkreten Vertragszwecks vom Standpunkt kommutativer Gerechtigkeit.21 Alles, was ein gutes Leben fördert, ist ein guter Vertragszweck, was dem entgegensteht, ein schlechter. Auch Gordley muß aber eingestehen, daß man, wenn man allein diesen Ansatz verfolgt, kaum zu erklären vermag, warum die Wahl der Vertragsparteien vergleichsweise selten korrigiert werde.22 Der Relativierung der Autonomie steht jedoch über diese empirische Beobachtung hinaus ein prinzipieller Einwand entgegen: Wenn es im Grunde genommen nur darum ginge, stets die »richtige« Entscheidung zu treffen, wäre es doch am einfachsten, die Vertragsparteien an der Hand zu nehmen, und ihnen den »richtigen Weg« zu einem guten Leben aufzuzeigen. Konsens und Privatautonomie wären dann nichts weiter als eine unnötige Umleitung auf dem Weg zu dem Ziel des fairen Vertrages. Gordleys Rechtfertigung des Eingriffs in den Vertrag vermag also, in letzter Konsequenz, viel mehr zu 19 20 21 22
Gordley Fn. 9, S. 268ff. Gordley Fn. 9, S. 269. Gordley Fn. 9, S. 268. Gordley Fn. 9, S. 281.
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§ 4 Teleologische Theorien
leisten als bloße Korrektur und Ergänzung des Vertragsinhalts. Auch für ihn ist die Privatautonomie jedoch ein wichtiges Prinzip des Privatrechts, wenn auch, wie sogleich klar werden wird, nur eins unter mehreren. Daher bedarf das die Privatautonomie einschränkende Fairneßerfordernis seinerseits eine effektive Begrenzung. Als Gegengewicht führt Gordley, nachdem er die starke These von der Autonomie verworfen hat, eine abgeschwächte Form von Autonomie ein. Die Menschen seien nicht alle gleich, und ebensowenig seien es die Umstände. Folglich gebe es verschiedene Wege, die richtige Wahl zu treffen, von denen keiner der beste sei.23 Dies ist der erste Grund, warum die Parteien einen Spielraum bei der Festlegung des Vertragsinhalts haben. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob jenseits dieses engen Bereichs gleich guter Wahloptionen die Autonomie eine Rolle spielt. Gibt es, anders formuliert, Gründe, einen Vertrag aufrecht zu erhalten, auch wenn die darin getroffene Wahl eindeutig falsch ist? Auch diese Frage bejaht Gordley. Dies ist der zweite Grund, warum die Autonomie der Parteien nicht generell unerheblich ist. Die Tugend der Klugheit (»prudence«) sei eine jedem einzelnen Menschen zur Verfügung stehende Methode, um festzustellen, was zu einem guten Leben gehört. Es sei dementsprechend für die Menschen wesensbestimmend, daß sie durch die selbständige Ausübung dieser Tugend ihr Leben zu einem guten Leben machten.24 Daher würde der Einzelne kein einem menschlichen Wesen angemessenes Leben führen, wenn die richtigen Entscheidungen immer für ihn getroffen würden.25 Zudem sei es eine Forderung der Demokratie, daß (im Gegensatz zur Aristokratie) Entscheidungen von einem selbst getroffen werden sollten.26 Daraus folge, so Gordley, daß es Gründe gebe, die Entscheidung der Parteien auch dann zu respektieren, wenn die Entscheidung grundlegend falsch (»seriously wrong«) sei.27 Diese Argumentation versucht einen Ausgleich zwischen der Kontrolle der materiellen Richtigkeit einer Entscheidung und dem Bedürfnis nach eigenständiger Gestaltung des Lebens zu finden. Autonomie wird hier nicht als oberstes Prinzip eingeführt, sondern als ein Wert unter vielen, die es gilt, im Recht zu berücksichtigen. Die Begrenzung der Fairneßkontrolle erscheint aber äußerst vage. Fremdbestimmung ist erwünscht und zulässig, solange nicht alle Entscheidungen fremdbestimmt sind. Dem einzelnen muß ein nicht näher positiv definierter Spielraum zur »falschen Entscheidung« bleiben. Ab wann aber kippt die Fremdbestimmung um in ein menschenunwürdiges Leben? Wieviel Eigenständigkeit verträgt der Mensch? In welchem Umfang soll das Recht dem Einzelnen ein »gutes Leben« 23
Gordley Fn. 9, S. 269. Gordley Fn. 9, S. 269. 25 Gordley Fn. 9, S. 269, 281 (»If all of his choices were made for him, he would no longer be living a human life.«). 26 Gordley Fn. 9, S. 282. 27 Gordley Fn. 9, S. 281. 24
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aufzwingen? Wenn in einer Demokratie andere nicht für einen entscheiden sollen, warum darf die Entscheidung dann überhaupt je inhaltlich nachgeprüft werden? Diese Fragen erhalten keine präzisen Antworten. Gordley zählt lediglich einige Beispiele auf (Prostitution, Sklaverei, Drogen, sichere Arbeitsbedingungen);28 allgemeine Kriterien für zulässige Fremdbestimmung lassen sich indes aus diesen kaum ableiten. Zudem verwirft Gordley ausdrücklich solche Maßstäbe, die an Fehler im Willensbildungsprozeß (prozedurale Mängel) anknüpfen:29 Entscheidend sei nicht, dem Einzelnen zu verhelfen, das zu wählen, was er wirklich möchte, sondern objektiv richtig zu wählen, also das, was »einen Wert« für ein »gutes Leben« darstellt. Es kommt mit anderen Worten in erster Linie auf die materielle Richtigkeit des Inhalts der Entscheidung an. Für Austauschverträge zieht Gordley die Grenze damit dort, wo nach seiner Ansicht die Gleichheit zwischen den Parteien verletzt ist, wo also Leistung und Gegenleistung sich quantitativ nicht entsprechen. In diesen Grenzen ist jedenfalls Fremdbestimmung der Parteien zulässig und erwünscht. Autonomie wird nur dann respektiert, wenn sie dazu dient, ein für beide Seiten ausgeglichenes Ergebnis zu erzielen. Denn nur so würde der Anteil des Einzelnen an der gesamten Gütermenge erhalten und damit ein gerechtes Ergebnis erzielt. Es ist vor diesem Hintergrund nur folgerichtig, wenn Gordley, wie bereits angedeutet, die Doktrin der laesio enormis einem um prozedurale Elemente angereicherten Maßstab wie etwa § 138 II BGB vorzieht.30 Ebenfalls konsequent ist es, wenn er eine umfassende Kontrolle der nicht die Hauptleistung betreffenden Abreden (»auxiliary terms«)31 und ein dichtes Netz an Regeln des dispositiven Rechts32 fordert.
II. Perfektionistischer Liberalismus Einen auf den Schriften von Joseph Raz33 aufbauenden, umfassenden Entwurf einer werteorientierten Vertragstheorie hat Dori Kimel34 verfaßt. Kimels These ist, daß man den »Wert« (value) von Vertrag gerade in Abgrenzung zum Versprechen erkennen kann. Dabei geht es Kimel nach seiner Ansicht um den »intrinsischen« Wert von Versprechen und Vertrag. Sein Ansatz unterscheidet sich dadurch von dem der »Death of Contract« Schule, aber auch von dem utilitaristischer Theorien, die im Vertrag keinen Selbstzweck erkennen können. Dennoch hat seine 28
Gordley Fn. 9, S. 281, 283. Gordley Fn. 9, S. 283. 30 Gordley Fn. 9, S. 313ff. 31 Gordley Fn. 9, S. 318ff. 32 Gordley Fn. 9, S. 323ff. 33 Vor allem Raz Fn. 2, S. 369ff. 34 Kimel, From Promise to Contract. Dazu auch Unberath in Festschrift für Joachim Hruschka, S. 719, 740ff. 29
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§ 4 Teleologische Theorien
Theorie einen deutlichen teleologischen Zug, denn letztlich wird der Vertrag nur anerkannt, wenn er der Erfüllung anerkennenswerter anderer Ziele, Werte dient. Diese Forderung rührt von der Grundhaltung dieses »perfektionistischen Liberalismus« gegenüber staatlicher Machtausübung. Der Staat darf und soll darauf hinwirken, daß seine Bürger ein erfülltes Leben führen und daß die für richtig erkannten Werte in die Tat umgesetzt werden. Gleich anfangs muß jedoch betont werden, daß dieser Ansatz gerade nicht in umfassender staatlicher Bevormundung mündet, sondern erhebliche Freiräume schafft, in denen ein Spielraum bei der Wahl der persönlichen Werte besteht. Denn für Raz ist es eine zentrale Einsicht der Moralphilosophie, daß es unterschiedliche, ja sogar miteinander unvereinbare Werte geben kann, die dennoch vom Staat als gleichwertig anzuerkennen sind. Dies ist der liberale Kern dieser Theorie.35
1. Der intrinsische Wert von Versprechen und Vertrag Um den Wert der sozialen Praxis von Versprechen zu entdecken, untersucht Kimel, was die Nichteinhaltung eines Versprechens fragwürdig erscheinen läßt.36 Der Versprechende schaffe Vertrauen (trust) in seine Absicht, das Versprechen zu erfüllen. Versprechen müssen gehalten werden, weil ansonsten die Basis von Vertrauen und Achtung (respect) verloren geht und der andere zum bloßen Mittel herabgewürdigt wird.37 Insofern Versprechen Kooperation ermöglichen, sei dies »nur« ein instrumenteller Wert von Versprechen. Versprechen besäßen dagegen auch unabhängig davon, daß sie Kooperation ermöglichen, einen intrinsischen Wert, durch den sie zum Selbstzweck erhoben würden. Denn weil Versprechen in Respekt und Vertrauen gegründet seien, förderten (promote) und bekräftigten (reinforce) sie persönliche Beziehungen (personal relationships).38 Kimel denkt hier vor allem an die Freundschaft. Versprechen sind dazu besonders geeignet, weil ihre Erfüllung die Erwartung des anderen befriedigt und damit das in Anspruch genommene Vertrauen nicht enttäuscht. Kimel meint, daß hier die Motive des Versprechenden besonders klar zum Vorschein treten und daß eine solche »Transparenz« der Motive geeignet ist, dem anderen aufzuzeigen, daß man vertrauenswürdig ist.39 In solcher Förderung von persönlichen Beziehungen liegt sodann der intrinsische Wert von Versprechen.
35 S. nur Raz Fn. 2, S. 425: »its primary concern is the promotion and protection of positive freedom which is understood as the capacity for autonomy, consisting of the availability of an adequate range of options, and of the mental abilities necessary for an autonomous life«. 36 Kimel Fn. 34, S. 26ff. 37 Kimel Fn. 34, S. 27: »a rather extreme case of taking advantage, of using a person«. Kimel greift hier Argumente Frieds auf und beruft sich an dieser Stelle ausdrücklich auf Kant. 38 Kimel Fn. 34, S. 28, 66ff. 39 Kimel Fn. 34, S. 76 u.ö.
II. Perfektionistischer Liberalismus
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Auf ähnliche Weise setzt Kant für das Ideal der Freundschaft das »völlige Vertrauen zweier Personen« verbunden mit »beiderseitiger Achtung« voraus.40 Allerdings kann von der Erfüllung von Versprechen durch eine äußere Handlung nicht auf eine tugendhafte Gesinnung (die Achtung für den anderen) geschlossen werden. Ob der Versprechende aus freiem Selbstzwang handelt oder aus sinnlichen Antrieben, wird prinzipiell nie »beweisbar« sein, mag diejenige Person noch so oft und viel versprechen. So kann die Erfüllung des Versprechens dazu dienen, die Gunst des anderen zu erwerben, um etwa testamentarisch besonders bedacht zu werden, etc. Freilich sollten Versprechen auch in persönlichen Beziehung gehalten werden. Schon bei einmaliger Verletzung des gegenseitigen Vertrauens kann dieses »unwiederbringlich verloren« gehen.41 Freundschaft selbst hat einen Wert an sich, ebenso wie die Achtung, die sich darin zeigt, daß Versprechen gehalten werden. Nur ist die von Kimel behauptete Transparenz der Motive bei altruistischen Handlungen doch eine recht schmale Grundlage, in der der »Selbstzweck« und der »intrinsische« Wert von Versprechen verankert sein sollen. Versprechen dienen damit letztlich nur als Vehikel um die Lauterkeit der eigenen Motive zu belegen. Dieser Begründungszusammenhang zwischen Transparenz von Achtung und Versprechen ist für Kimel jedoch für die Abgrenzung von Versprechen und Vertrag wichtig. Denn, Verträge vermögen eine gleichermaßen starke Transparenz nicht zu erzeugen.42 Die Motive des anderen sind nur durch einen dichten »Schleier« zu erahnen.43 Weil die Erfüllung von Verträgen mit Zwang durchgesetzt werden kann, werde die Rolle des Vertrauens als Triebfeder der Vertragstreue »trivialisiert«.44 Der Zwangsmechanismus ist dem Begriff des Vertrages immanent: Unter idealen Bedingungen können sich die Vertragsparteien jederzeit darauf verlassen, daß die Erfüllung des Vertrages ungeachtet der Rechtschaffenheit des anderen gesichert ist.45 Wenn dem aber so ist, so besteht immer die Möglichkeit, daß der andere sein vertragliches Versprechen hält, nicht weil er mir oder dem Gesetz gegenüber Achtung entgegenbringt, sondern weil er die staatliche Durchsetzung fürchtet. Kimel leitet den Vertrag vom Versprechen ab, nur meint er, daß beim Normalfall des Vertrages – anders als beim Normalfall des Versprechens – Vertrauen keine Rolle spielt. Dies sei jedoch, suggeriert Kimel, kein Nachteil, sondern im Gegenteil der Vorzug von Verträgen. Man kann sich auf deren Erfüllung verlassen, ohne dem anderen persönlich zu vertrauen. Der »intrinsische« Wert des Vertrages sei also darin zu sehen, daß der Vertrag Distanz (detachment) zwischen den Vertragsparteien ermöglicht, und diese eine wertvolle 40 41 42 43 44 45
Kant, MS, AA VI, § 47, S. 471. Kant, MS, AA VI, S. 470. Kimel Fn. 34, S. 57ff. u.ö. Kimel Fn. 34, S. 74. Kimel Fn. 34, S. 57. Kimel Fn. 34, S. 64.
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§ 4 Teleologische Theorien
Alternative zu persönlichen Beziehungen darstellt.46 Vertragliche Beziehungen zwischen Fremden sind daher der Normalfall des Vertrages.47 Der Zwangsmechanismus ist unter Fremden ein Substitut des Vertrauens, das erforderlich ist, wenn ein Versprechen innerhalb einer persönlichen Beziehung gegeben wird. Demgegenüber sei die Ermöglichung von Kooperation eine rein »instrumentelle«, nachgeordnete Begründung des Wertes des Vertrages.48
2. Die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten Gegen Kimels Grundthese der fehlenden Transparenz bei Verträgen läßt sich bereits einwenden, daß es bei Verträgen genauso gut möglich sei, eine tugendhafte Gesinnung (also die Achtung des anderen) aus der Erfüllung des Vertrages abzuleiten, wie aus der Erfüllung eines Versprechens in einer persönlichen Beziehung nicht auf eine ethische Triebfeder spekuliert werden kann. Ob die Person jeweils frei von sinnlichen Antrieben war, ist in beiden Fällen gleich schwer zu ermitteln. Im Falle des Vertrages droht bei Nichterfüllung die Willkür anderer, im Falle des Versprechens besteht die Gefahr, daß der allgegenwärtige Selbsterhaltungstrieb und das angeborene Streben nach Glückseligkeit die Reinheit der Absicht, das Versprechen zu halten, verfälschen. Man muß darüber hinaus auch einwenden, daß Verträge sehr wohl auch persönliche Beziehungen fördern können.49 Und schließlich kann man auch zweifeln, inwiefern die proklamierte »Distanz« (detachment), die ja die intrinsische Begründung des Wertes des Vertrages abgeben soll, wirklich ein »Wert« sein kann, oder ob die Distanz nicht lediglich der Grund dafür ist, Zwang zur Sicherung des Vertrages anzudrohen. Die Welt wäre sicher besser dran, wenn alle – engelsgleich – pflichtgemäß aus Pflicht handeln würden. Distanz ist bei Kimel der (natürlich berechtigte) Ausdruck der Skepsis, daß dies nicht der Fall ist. Warum das etwas intrinsisch Gutes sein soll, bleibt jedoch zweifelhaft.50 Der zentrale Einwand gegen Kimels Argumentation ist jedoch grundlegender Art. Es ist für die Rechtfertigung des Vertrages völlig unerheblich, aus welchen Motiven er eingehalten wird. Es ist daher auch irrelevant, ob Verträge »im Normalfall« durch die Schaffung von gegenseitigem Vertrauen vermögen, Freundschaften oder sonstige persönliche Beziehungen zu fördern, oder ob sie dies nur ausnahmsweise tun. Es ist verfehlt, die fehlende Transparenz der Tugendhaftig46
Kimel Fn. 34, S. 79. Kimel weicht hier von Raz ab, der Verträge zwischen Fremden nur als einen Sonderfall von Versprechen ansieht; vgl. Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 928ff. (1982); ders. in Hacker/Raz (Hrsg.), Law, Morality and Society, S. 210. 48 Kimel Fn. 34, S. 28. 49 Vgl. für diesen Einwand Sheinman (2004) 24 OJLS 517, 529ff. 50 Ähnlich Sheinman (2004) 24 OJLS 517, 534 (Distanz besteht jederzeit zu einer Vielzahl von mir unbekannten Personen. Warum sollte diese Distanz wertvoll sein?). 47
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keit der Motive von Vertragspartnern zum Grundstein einer Vertragstheorie zu nehmen. Die Gesinnung sollte aus Sicht eines liberalen Verständnisses des Rechts unerheblich sein. Sie vermag auch bei Kimel nicht, eine positive Begründung des »Wertes« des Vertrages abzugeben. Der »Wert« des Vertrages besteht nur negativ in der Abwesenheit von Transparenz und der Schaffung von »Distanz«. Auch wenn damit Kimel zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, daß der Sinn des Vertrages darin liegt, daß es auf die Tugendhaftigkeit des jeweils anderen nicht ankommt, so ist doch der Ausgangspunkt der Untersuchung Kimels, die Frage nach der Transparenz der Motive, für eine Rechtfertigung eines Instituts des Privatrechts falsch. Ihm gelingt damit nur im Ergebnis eine von Tugendpflicht unabhängige Begründung der Rechtspflicht, den Vertrag einzuhalten. Der »Wert des Vertrages« liegt, um auf Kant zurück zu kommen, darin, daß er im Zustand der bürgerlichen Verfassung das äußere Mein und Dein im Hinblick auf die versprochene Leistung sichert. Die Einführung der dafür erforderlichen Rechtsmacht ist notwendig, weil ein Gesetz, das den Gebrauch der Willkür in Anbetracht äußerer Gegenstände verbieten würde, rechtswidrig wäre. Die Ermöglichung von Kooperation ist daher nicht, wie jedoch Kimel meint, lediglich ein »instrumenteller« Wert des Vertrages, sondern seine ureigenste Aufgabe. Die Möglichkeit von Verträgen ist damit, als Teil des Postulats des Privatrechts, in der reinen praktischen Vernunft begründet (was Kimel vermutlich als »intrinsischen Wert« bezeichnen würde). Die mit dem Vertrag verbundene Rechtsmacht betrifft äußere Gegenstände der Willkür und damit, wie das Recht überhaupt, äußere Handlungen. Die Rechte aus dem Vertrag können deswegen mit der Befugnis zu zwingen verbunden sein. Auch Kimel erkennt bei näherer Betrachtung diese Funktion des Vertrages an, wenn er schreibt, daß die durch den Vertrag ermöglichte Distanz eine »wertvolle Alternative« zur Nähe persönlicher Beziehungen ist. Denn damit nimmt er doch unausgesprochen an, daß es an sich selbst sinnvoll ist, außerhalb persönlicher Beziehung mit Zwang verbundene Verträge schließen zu können und damit Kooperation zu ermöglichen.
3. Welchen Wert hat Autonomie? Kimels im Untertitel programmatisch »towards a liberal theory of contract« genannter Entwurf basiert auf einer vornehmlich von Raz entwickelten politischen Theorie des perfektionistischen Liberalismus.51 Mit dem klassischen Liberalismus, wie er etwa der Metaphysik der Sitten zugrunde liegt, hat diese Variante wenig gemein. In der Tat grenzen sich die Vertreter des von ihnen als »perfektionistisch« bezeichneten Liberalismus sorgfältig von dem so genannten »individuali51 Es handelt sich dabei vordergründig um eine politische und nicht rechtsphilosophische Theorie, da Raz als Bedingung der Gültigkeit von Recht keine im weitesten Sinne ethischen Kriterien anerkennt und sich daher insofern als Positivist versteht. Vgl. Raz, The Authority of Law.
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stischen« Liberalismus ab. »Liberal« an dieser Theorie ist zunächst rein formal die Berufung auf das »harm principle«, wonach staatliche Zwangsgewalt nur gerechtfertigt ist, wenn sie dazu dient, Schaden abzuwenden.52 Allerdings ist der Begriff des Schadens umfassend und schließt »institutionellen« Schaden mit ein, während die klassische Variante dieses Prinzips bei JS Mill auf Schaden von Einzelpersonen beschränkt ist.53 Dies bedeutet nach Raz für das Vertragsrecht, daß die Durchsetzung mit Zwang von freiwillig eingegangenen Verpflichtungen kein legitimes Ziel sein kann. Denn dies würde bedeuten, daß man bloß moralischen Verpflichtungen rechtliche Verbindlichkeit geben würde.54 Der einzig legitime Zweck des Rechts liegt in der Förderung und dem Schutz der sozialen Praxis von freiwilligen Verpflichtungen.55 Entscheidend ist nach dieser Konzeption nicht die Sicherung von subjektiven Rechten, sondern die Förderung von Sitten, Gebräuchen und Handlungen, die von der Gesellschaft als wertvoll erachtet werden. Der Staat darf und soll sogar perfektionierend in das Leben des einzelnen eingreifen, wenn dies der Förderung dessen dient, was als Gut erkannt wurde.56 Diese Auffassung wirkt bis in die positivistisch konzipierte Rechtslehre hinein, denn jedes Rechtssystem erfüllt notwendigerweise, d.h. wenn es als ein solches gelten will, bestimmte »soziale Funktionen«, einschließlich der Leistung von staatlichen Diensten, Umverteilung von Gütern und der Förderung bzw. Verhinderung von bestimmten Verhaltensweisen.57 Im Lichte dieser Theorie ist es naheliegend, wie Kimel nach dem »Wert« (value) von Verträgen zu fragen. Nur wenn man die Praxis von Verträgen als solche für erstrebenswert hält, ist es gerechtfertigt, die Durchsetzung von vertraglichen Ansprüchen mit staatlicher Gewalt sicher zu stellen. Während Raz58 diesen Wert noch darin sieht, daß Versprechen wie Verträge persönliche Beziehungen fördern, beschränkt Kimel diesen Wert auf Versprechen und grenzt sie damit vom »Normalfall« des Vertrages ab. Die Praxis von Versprechen ist auch bei Kimel ein Wert, der daher an sich staatlicher Förderung fähig wäre. Warum dies dennoch nicht gefordert wird, liegt vermutlich darin begründet, daß Versprechen die Transparenz der Motive nur ermöglichen, wenn sie nicht mit Zwang durchgesetzt werden, die Frage bleibt aber letztlich offen. Der Wert von Verträgen liege demgegenüber darin, daß es auf diese Transparenz nicht ankommt. Die Unterscheidung von Versprechen und Vertrag ist damit ebenfalls nicht aus der Unterscheidung von Recht und Ethik, wie sie der »individualistische« Liberalismus vornehmen würde, geboren, sondern beruht allein darauf, welchen Wert diese Institute für die Gesellschaft haben. 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. Raz Fn. 33, Kap. 15; Kimel, Fn. 34, S. 103. Zum harm principle näher S. 215f. Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 937 (1982). Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 937 (1982). Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 937 (1982). Zu diesem Aspekt etwa auch Mona ARSP 2004, 355, 366. Raz, Fn. 51, S. 167. Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 930–931 (1982).
II. Perfektionistischer Liberalismus
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Privatautonomie, die nach Fried entscheidende »moralische Entdeckung« der Philosophie, wird auch von den Vertretern des perfektionistischen Pluralismus anerkannt – allerdings nur als ein »zutreffender Ausgangspunkt der Diskussion um die bindende Kraft von Versprechen und Verträgen«.59 Der »Wert« von persönlicher Autonomie steht, wie betont werden muß, auch für Raz und Kimel außer Frage. Autonomie bedeutet, daß man die Ziele, die man verfolgt und die persönlichen Beziehungen, die man eingeht, selbstverantwortlich bestimmen kann und daß diese nicht von außen aufgezwungen werden. Nur ist die Autonomie nicht der einzige Wert, der vom perfektionistischen Staat gefördert werden muß. Die Ermöglichung von Freiheit von der nötigenden Willkür anderer ist nur ein »Wert« von vielen erstrebenswerten Zielen, die sich ein Staat nach dieser Idee eines Pluralismus der Werte setzen sollte. So verwundert es nicht, daß die Bindung an den Vertrag, die für Kant noch synonym mit der Erwerbungsart durch Vertrag war, keine hervorgehobene Stellung innerhalb dieses Systems einnimmt. Sie wird durch ein (wenn auch eingeschränktes) »Recht«, seine Meinung zu ändern, konterkariert.60 Von dem Postulat des Privatrechts, nämlich daß intelligibeler Besitz von Versprechen möglich ist, bleibt damit nicht viel übrig. Die Verbindlichkeit aus Vertrag wird als »Einschränkung der Freiheit«, seine Meinung zu ändern, unter Berufung auf das »harm principle« grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei ist doch die Bindung an ein angenommenes Versprechen überhaupt erst die Rechtfertigung des Instituts des Vertrages; eine spätere Änderung des Willens bloß ein unbeachtlicher Selbstwiderspruch. Wenn die Bindung an den Vertrag nicht gesichert ist, ist das Recht nicht mehr mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Der Zweck der bürgerlichen Verfassung selbst ist gefährdet. Auch an dieser Stelle ist erkennbar, daß der perfektionistische Liberalismus Rechtsphilosophie (dort »politische Theorie« genannt) nicht als Theorie des subjektiven Rechts versteht. Autonomie ist also nur dann wertvoll, wenn sie zur Förderung des Guten (in pursuit of the good) ausgeübt wird.61 Ein autonomes Leben ist nur wertvoll, wenn es in der Ausübung wertvoller Aktivitäten und der Pflege wertvoller Beziehungen besteht, ansonsten ist es nicht wertvoll.62 Um ein Beispiel zu geben, das auch in der aktuellen Diskussion um Diskriminierungsverbote im Vertragsrecht als paradigmatisch gelten dürfte: Wenn Privatautonomie dazu dient, Rassismus Vorschub zu leisten, so verliert Autonomie ihren Wert.63 Deswegen sollte der Staat, wie Kimel betont, eine aktive Rolle in der Gestaltung des Vertragsrechts überneh59
Kimel Fn. 34, S. 126. Kimel Fn. 34, S. 113. Dabei geht es nicht, wie vielleicht klargestellt werden sollte, um einen fehlerhaft gebildeten Willen. 61 Kimel Fn. 34, S. 131, unter Berufung auf Raz Fn. 33, S. 378–381. 62 Kimel Fn. 34, S. 131 (»An autonomous life is valuable when spent in the (at least to some extent successful) pursuit of valuable activities and relationships, but not otherwise.«). 63 Beispiel bei Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 935 (1982). 60
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§ 4 Teleologische Theorien
men, um sicherzustellen, daß die Vertragsfreiheit dazu genutzt wird, das Wohlergehen der Staatsbürger zu fördern und einen positiven Beitrag zu leisten, daß sie ein wertvolles und erfolgreiches Leben führen.64 Die Anknüpfung an die freiwillig übernommene Verbindlichkeit ist damit nur ein Aspekt des Vertragsrechts innerhalb dieser Theorie, der anderen Aspekten auch nicht übergeordnet ist. Zwar mögen Verträge, so wie Autonomie überhaupt, einen Wert darstellen, doch nur insofern als sie der Verfolgung anderer wertvoller Ziele dienen. Beides, Vertrag und Autonomie sind damit letztlich nicht Selbstzweck sondern Mittel. Der Staat übernimmt die Rolle eines fürsorglichen Erziehers, der »perfektionierend« eingreift und darauf drängt und notfalls zu Zwang greift, daß die »richtigen« Entscheidungen getroffen werden und die Staatsbürger ein »wertvolles« Leben führen. Dies ist ganz bewußt eine Theorie eines paternalistischen Pluralismus. Sie ist in der Auffassung der Aufgabe von Recht der Theorie Gordleys recht nahe, wenn auch sein Wertesystem weniger pluralistisch offen. Fremde Glückseligkeit und eigene Vollkommenheit, das sind bei Kant die Zwecke, die zugleich Pflichten sind.65 Kant fährt fort: »Man kann diese nicht gegeneinander umtauschen und e i g e n e G l ü c k s e l i g k e i t einerseits mit f r e m d e r Vo l l k o m m e n h e i t andererseits zu Zwecken machen.«66
Fremde Vollkommenheit zu fördern, ist aber durchaus eine Forderung des perfektionistischen Liberalismus an den Staat. Der Staat soll durch den Eingriff in die Sphäre des einzelnen einen »positiven Beitrag« dazu leisten, daß die Bürger ein »wertvolles« und »erfolgreiches« Leben führen. Privatautonomie ebenso wie die dem subjektiven Recht korrespondierende Bindung an den Vertrag, die bei Kant das Wesenmerkmal vertraglicher Verbindlichkeit war, sind bei der perfektionistischen Theorie des Staates nur noch eine blasse »Ausgangsposition« in einer umfassenden Abwägung einer Vielzahl schützenswerter Ziele und Werte. Verträge sind dabei anzuerkennen, soweit sie mit der als »richtig« erkannten staatlichen Wertehierarchie harmonieren. Dies ist nicht die Sichtweise des »individualistischen« Liberalismus. Für diesen besteht die austeilende Gerechtigkeit im rechtlichen Zustand nicht in einer »Elementarlehre« staatlich erwünschter Zwecke, sondern darin, daß die subjektiven Rechte der Staatsbürger gesichert werden. Angesichts der Heterogenität und Vielzahl der die Vertragsfreiheit einschränkenden (statutarischen) Gesetze und angesichts des auf dem Kontinent ausgeprägten Paternalismus der Gerichte auf dem Gebiet des modernen Vertragsrechts67 ist die Herausforderung, die solche auf die Gesellschaft ausgerichteten Theorien wie der
64
Kimel Fn. 34, S. 135. MS, AA VI, S. 385. 66 MS, AA VI, S. 385 (Hervorhebung im Original). 67 S. etwa Limbach JuS 1985, 10, wo die Hoffnung ausgedrückt wird, daß ein individualistisches Verständnis des Vertrages bald »überwunden« werde. 65
III. Der Zweck im Recht
103
perfektionistische »Liberalismus« für den klassischen Liberalismus darstellen, kaum zu unterschätzen.
III. Der Zweck im Recht Rudolph von Jherings Werk ist, wie bereits mehrfach deutlich geworden ist, außerordentlich reichhaltig und es wäre vermessen, ihn auf einen Aspekt reduzieren zu wollen.68 Das Element seiner Theorie, das in der Ideengeschichte den größtmöglichen Einfluß ausgeübt hat, ist die Hinwendung zum Zweck im Recht in der späten Phase seines Schaffens. Die Differenzen zwischen der »Willenstheorie« Savignys und Windscheids und der »Interessentheorie« Jherings treten am deutlichsten hinsichtlich der Idee des subjektiven Rechts in Erscheinung: Für beide Richtungen ist das subjektive Recht der Grundbaustein des Privatrechts, nur ist es für letzteren mehr als bloß »formale« Rechtsmacht einer Person: Es erfüllt darüber hinaus den Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Es ist dies auch der Grund, warum Jherings Ansatz im vorliegenden Zusammenhang der teleologischen Theorien zu erörtern ist. Die zweite Phase seines Schaffens offenbart eine zunehmende Distanzierung von den Kernaussagen der historischen Rechtsschule.69 Savignys Theorie geht von den metaphysischen Anfangsgründen des Rechts aus.70 Diese bilden den Rahmen, der von römischem Recht und Geschichtsphilosophie ausgefüllt wird.71 Der Begriff des subjektiven Rechts ist inhaltlich nicht näher bestimmt: »Betrachten wir den Rechtszustand, so wie er uns im wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durchdringt, so erscheint uns darin zunächst die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unserer Einstimmung herrscht. Diese Macht nennen wir e i n R e c h t dieser Person, gleichbedeutend mit Befugnis: Manche nennen es das Recht im subjectiven Sinn.«72
Das Postulat des Privatrechts erfordert nicht mehr, als die Anerkennung der Möglichkeit über Gegenstände der äußeren Welt zu herrschen.73 Zu welchem Zweck eine Person diese Macht ausübt, liegt, soweit nicht die Rechte anderer Personen verletzt werden, jenseits des Erkenntnisinteresses der reinen praktischen Vernunft und auch jenseits der Rechtstheorie Savignys. 68 S. die umfassende Würdigung bei Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, Kap. 23, S. 101ff.; zum Begriff des subjektiven Rechts bei Jhering auch Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 221ff.; Wagner AcP 193 (1993), 319. 69 Zu dieser Wende etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 451. 70 Vgl. S. 63ff. 71 Am stärksten formalisiert ist dieser Ansatz in der sich an Savigny anschließenden Begriffsjurisprudenz Puchtas, dazu Fikentscher Fn. 68, Kap. 22, S. 90ff. 72 Savigny, System, Bd. I, S. 7. 73 Vgl. S. 43ff.
104
§ 4 Teleologische Theorien
Gegen diese vorgebliche »Inhaltslosigkeit« des subjektiven Rechts wendet sich Jhering in seiner Spätphase mit aller Entschiedenheit. In Der Zweck im Recht postuliert er: »daß der Zweck im Recht der Schöpfer des gesamten Rechts ist, daß es keinen Rechtssatz gibt, der nicht einem Zweck, d.i. einem praktischen Motive seinen Ursprung verdankt«.74
Dementsprechend ist die Idee des subjektiven Rechts um ein teleologisches, nämlich das »substantielle« Moment zu ergänzen:75 »Der Begriff des Rechts beruht auf der rechtlichen Sicherheit des Genusses, Rechte sind rechtlich geschützte Interessen.«76 »Das Recht ist nicht des Willens, sondern der Wille des Rechts wegen da.«77 Schließlich: »Kein Recht ist seiner selbst wegen oder des Willens wegen da, jedes Recht findet seine Zweckbestimmung und seine Rechtfertigung darin, daß es das Dasein oder Wohlsein fördert, kurz in dem Nutzen (...).«78
Jherings Erweiterung des Begriffs des subjektiven Rechts um das Interesse, dem die Ausübung der dadurch gewährten Rechtsmacht dienen soll, hat den Begriff des subjektiven Rechts bis in die heutige Zeit geprägt; Wille und Interesse sind seither die bestimmenden Elemente des Privatrechts.79 Der anhaltende Einfluß Jherings ist nicht zuletzt auf die Entstehung der sogenannten »Interessenjurisprudenz« zurückzuführen, die Einzelaspekte seiner Theorie aufgreift und verallgemeinert.80 Philipp Heck, der als Begründer dieser Richtung gilt, hat den Begriff des Interesses nicht zuletzt für das Schuldrecht eingeführt: »Durch die Hervorhebung der für die Interessenwirkung bezeichnenden Merkmale gewinnen wir den ›Interessenbegriff‹ der Obligation, man kann auch sagen den »materiellen« Begriff oder den ›Funktionsbegriff‹. Diese Interessenbegriffe treten bei dem Aufbau des Rechtssystems zurück, sind aber für die Rechtsanwendung sehr bedeutsam. Sie sind das Ergebnis einer ›funktionellen‹, auf die Lebenswirkung gerichteten Betrachtungsweise.«81
Jherings Einfluß geht jedoch weit über den deutschen Rechtskreis hinaus.82 Das teleologische Moment des Zweckes hat einer Fülle von Theorien Vorschub gelei74
Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. V. S. auch Wagner AcP 193 (1993), 319, 323; Fezer Fn. 68, S. 224. 76 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. III, S. 328. 77 Jhering Fn. 76, S. 331. 78 Jhering Fn. 76, S. 350. 79 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, Bd. 1, § 72, S. 428f.: »Das subjektive Recht ist b e g r i f f l i c h eine Rechtsmacht, die dem einzelnen durch die Rechtsordnung verliehen ist, seinem Z w e c k nach ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Interessen.« Darstellung der Entwicklung im einzelnen auf S. 167ff. 80 Näher Fikentscher Fn. 68, S. 373ff. 81 Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 2. 82 Im einzelnen Fikentscher Fn. 68, S. 268ff. Er hat vor allem dem Legal Realism entscheidende Impulse gegeben. In den Worten Roscoe Pounds, The Ideal Element in Law, S. 318, einem ihrer Hauptvertreter: »Thus far the achievement of juristic realism in all its forms has been to rouse 75
III. Der Zweck im Recht
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stet, die allesamt über die Rechtsregel hinaus materielle Elemente des Rechts für dessen Erfassung als maßgeblich ansehen, meist sind dies psychologische, soziologische oder allgemein empirische Aspekte.83 In vielerlei Hinsicht sind die in den vorherigen Abschnitten vorgestellten teleologischen Theorien mit dem Ansatz der »Interessentheorie« kompatibel. Es ließe sich sogar sagen, daß diese Theorien die »Interessentheorie« als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzen. Dies deutet jedoch bereits auf die Hauptschwierigkeit der Theorie Jherings hin. Wie Fikentscher treffend anmerkt, hat Jhering die eigentlich entscheidende Frage offengelassen: »Die das Recht steuernden Werte gewinnt Jhering aus einer Sammlung gesellschaftlicher Erfahrungen und ihrer Konstruktion zu einem System des menschlichen Rechts (...). Aber über diese verhältnismäßig inhaltsleere Bestimmung der Wertgewinnung kommt Jhering nicht hinaus.«84
Welche Zwecke in seiner teleologischen Theorie schützenswert sind, ist demgemäß weitgehend offen und der Entscheidung des jeweiligen Gesetzgebers vorbehalten.85 Freilich erklärt diese Offenheit seines teleologischen Ansatzes auch seine Durchschlagskraft. Jede Richtung, die den Rechtsbegriff soziologisch oder auf der Basis eines Wertesystems anreichern wollte, konnte, ja mußte sich auf Jhering berufen. Vom Standpunkt der vorliegenden Vertragstheorie läßt sich die »Interessentheorie« somit letztlich auf die Frage reduzieren, ob für den Rechtsbegriff neben den formalen Strukturen auch teleologische Momente zu berücksichtigen sind. Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, auch nur den Versuch einer Antwort für das Recht insgesamt zu geben. Für das Vertragsrecht befindet sich die Interessentheorie jedenfalls nicht notwendig im Widerspruch zu der Kantischen Tradition. Das materielle Element des Privatrechts wird von der reinen praktischen Philosophie nicht geleugnet, es liegt bloß jenseits ihres Erkenntnisinteresses.86 Weil die Rechtsanwendung im Vertragsrecht jedoch die Augen vor den materiellen Elementen der Willkür nicht verschließen kann und den konkreten Willen zugrunde legen muß, gehen in der Praxis des Vertragsrechts das formelle und das substantielle Momente eine notwendige Verbindung ein.87 Die reine praktische Philosophie und die Interessentheorie sind aber insofern unvereinbar, als sie eine Schnittmenge haben, insofern also die Interessentheorie die Vertragsfreiheit in American jurists and lawyers from what Kant called dogmatic slumber. In this it has carried on the work begun by Jhering.« 83 Jhering gilt im deutschsprachigen Raum als Begründer der Rechtssoziologie, Fikentscher Fn. 68, S. 387. 84 Fikentscher Fn. 68, S. 261. 85 Wagner AcP 193 (1993), 319, 326. 86 Welchem konkreten Zweck die Ausübung von Rechtsmacht dient, ist für die metaphysischen Anfangsgründe des Rechts irrelevant. 87 Diese These wird in § 6, S. 143ff., im einzelnen begründet.
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§ 4 Teleologische Theorien
Frage stellt. Jhering spricht dem Staat die Legitimation zu, bestimmte Zwecke zu fördern und andere zu verbieten. Im Lichte dieses paternalistischen Staatsbegriffs ist die »Interessentheorie« eine der Auffassung Gordleys oder des perfektionistischen Liberalismus durchaus vergleichbare teleologische Theorie, die mit einer liberalen Auffassung des Staates nur mit Einschränkungen zu vereinbaren ist.
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts Der Utilitarismus ist eine Strömung der praktischen Philosophie, die mit den angelsächsischen Autoren Jeremy Bentham, John Stuart Mill,1 und Henry Sidgwick in Verbindung gebracht wird.2 Oberstes Prinzip des Utilitarismus ist es, die Glückseligkeit (happiness) möglichst vieler zu steigern indem der Nutzen (utility) befördert wird. Der Utilitarismus geriet unter anderem hinsichtlich der Unbestimmtheit seines Nutzen-Maßstabs in die Kritik. Eines der Hauptprobleme des Utilitarismus ist die Schwierigkeit, interpersonelle Nutzenvergleiche vorzunehmen und einen Verteilungsschlüssel zwischen individueller und kollektiver Glückseligkeit zu finden: Auf wessen Wohlergehen kommt es an und wie mißt man »eine Einheit« Glück? Für dieses Problem meinte (und meint) man, mit dem Effizienzbegriff der ökonomischen Analyse eine Lösung gefunden zu haben. Die ökonomische Analyse des Rechts, deren Entstehung hundert Jahre nach den Schriften Mills datiert, ist ein Versuch, diesen Einwänden gegen den Utilitarismus zu begegnen und einen operablen Nutzenkalkül zu entwerfen. Vereinfacht gesagt, betrachtet man die Präferenzen der beteiligten Personen als Variablen mit beliebigem Inhalt und versucht daraus Modelle zu gewinnen. Was von allen vorgezogen wird, ist unabhängig davon, was vorgezogen wird, »gut« im Sinne von erstrebenswert. Die dabei für viele Aussagen der Theorie notwendige Prämisse von »Hyper-Rationalität« des homo oeconomicus ist freilich idealisierend. Die beiden Richtungen sind jedoch ungeachtet dieser unterschiedlichen Konstruktion des Grundbegriffs »utility« auf Engste miteinander verwandt: Sie nehmen beide Rekurs auf durch Erfahrung feststellbare Folgen einer Handlung. Sie nehmen beide in Kauf, daß Gewißheit über das Eintreten der Handlungsfolgen nur ex post feststellbar ist, also nach der Vornahme der Handlung; vor deren Vornahme ist nur eine Prognose möglich, die dann als Maßstab der Richtigkeit der Handlung genügen muß. Wenn der Maßstab der Richtigkeit einer einzelnen Handlung durch deren Folgen bedingt ist, so kann jene darüber hinaus niemals Selbstzweck sein, sondern ist stets nur Mittel zu einem weiteren Zweck, den beabsichtigten Folgen der Handlung. Im klassischen Utilitarismus ist dieser Endzweck die Vergrößerung des allumfassenden Nutzens und in der ökonomischen Analyse die Steigerung der Effizienz (efficiency); bei manchen Vertretern ist dies 1 2
Der die Urheberschaft für den Begriff reklamiert, Mill, Utilitarianism, S. 55. S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 174ff.
108
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
gleichbedeutend mit der Vergrößerung des in Geld meßbaren Vermögens (wealth maximation),3 bei anderen wiederum mit der Steigerung von gesellschaftlicher Wohlfahrt (welfare)4 ganz allgemein. Unabhängig davon, ob man der Grundthese folgt, daß die Richtigkeit einer Handlung anhand ihrer Folgen zu bestimmen ist, werfen sowohl der Utilitarismus als auch die ökonomische Analyse ein schwerwiegendes normtheoretisches Problem auf. Weil sie letztlich (nur) Zweckrationalität fordern, stehen sie in einem Spannungsverhältnis zum traditionellen Begriff der Rechtspflicht. Nach dem noch zu erläuternden traditionellen und in der täglichen Rechtsanwendung weitgehend unbestrittenen Verständnis gibt die Rechtspflicht vor, daß eine Handlung an und für sich und nicht lediglich hypothetisch durch ihre Folgen bedingt geboten ist. Diese Unbedingtheit der Rechtspflicht zu erklären, fällt dem Utilitarismus wie auch der ökonomischen Analyse nicht leicht. Letztlich gelingt dies nur einer Variante dieser Theorien, die unter dem Namen »Regelutilitarismus« bekannt ist. Im vorliegenden und dem nächsten Kapitel wird zu untersuchen sein, inwieweit sich empirische, konsequentialistische Ansätze der praktischen Philosophie als Theorie des Privatrechts, insbesondere des Vertragsrechts, eignen und – soweit dies im Rahmen eines Buches zur Vertragstheorie ausgeführt werden muß – gerechtfertigt sind.
I. Utilitarismus Es ist üblich5 und auch naheliegend, den Utilitarismus der Kantischen Philosophie und allen damit verwandten, deontologischen Ansätzen entgegenzusetzen.6 Das Unterscheidungsmerkmal kann man mit Höffe7 darin sehen, daß deontologische Regelsysteme allenfalls handlungsinterne Folgen berücksichtigen, der Utilitarismus dagegen empirisch feststellbare, externe Handlungsfolgen für den ethischen Maßstab (»richtig«, »gut«, »geboten« etc.) von Handlungen zugrunde legt. Daß auch eine deontologische Theorie die Folgen einer Handlung nicht ganz ausblenden kann, beruht auf dem Maßstab der Universalisierbarkeit, der für die Richtigkeit von Handlungen herangezogen wird. Wenn Kant fragt, ob eine Maxi3 S. etwa R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 105 (1979), wo er sich vom Utilitarismus abgrenzt. Posner hat seine Position jedoch mehrfach revidiert. S. zuletzt zu seiner als Pragmatism bezeichneten Theorie, ders. 71 U. Chi. L.Rev. 683, 684 (2004) (diese Theorie sei weder konsequentialistisch noch positivistisch, aber dennoch empirisch). Dazu Eidenmüller Fn. 2, S. 264ff. 4 S. etwa Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961 (2001) 5 S. nur Bernstein 64 Maryland L.R. 101, 109 (2005); Spector 79 Chi.-Kent L.Rev. 521 (2004); Menetrez 47 UCLA L.Rev. 859 (2000); R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 111 (1979). 6 Diese konträre Ausrichtung ist bereits bei den jeweiligen Schöpfern der jeweiligen Richtung selbst zu finden, die sich bewußt von der jeweils anderen Theorie abgrenzen; s. nur Mills Kritik an Kant, Fn. 1 , S. 97; und etwa die Auseinandersetzung mit dem Utilitaristen Garve bei Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 278ff. 7 Höffe in ders. (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 43.
I. Utilitarismus
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me zum »allgemeinen Gesetz« taugt, so verallgemeinert er die zum Begriff der Handlung selbst gehörenden Folgen. Da diese vor aller Erfahrung feststehen, kann man sie als »interne Handlungsfolgen« bezeichnen. Lügen, um ein berühmtes Beispiel aufzugreifen, taugt nicht zum allgemeinen Gesetz: Wenn es ein allgemeines Gesetz gäbe, daß Lügen geboten wäre, könnte der Lüge niemand Glauben schenken; die Lüge würde das ihrem Begriff selbst innewohnende Ziel der Täuschung anderer gar nicht erreichen können.8 Nach dem kategorischen Imperativ ist die Handlung daher verboten.9 Diese Schlußfolgerung ist vor aller Erfahrung möglich, denn diese Argumentation betrachtet nur die zum Begriff der Handlung selbst gehörenden Elemente und verbindet diese mit dem Gedanken der Verallgemeinerung. Es handelt sich nach Kant um ein »formelles Prinzip« a priori, das von den Zwecken, die a posteriori durch die Handlung bewirkt werden können (dem »materiellen Prinzip«), grundverschieden ist.10 Hypothetische Imperative, auf denen der Utilitarismus aufbaut, sind für Kant »Klugheitsregeln«, über deren Richtigkeit man selten Gewißheit hat. Denn vor der Handlung (vor aller Erfahrung) ist im besten Fall eine Prognose der Folgen möglich. Im Gegensatz zu der Prämisse eines hyper-(zweck)rationalen homo oeconomicus zeigt sich Kant skeptisch, inwieweit der Utilitarismus eine sichere Orientierung erlaubt. In einer Passage, die moderne Analysen von »bounded rationality« vorwegnimmt,11 betont Kant, daß Menschen eine Prognose der Folgen einer Handlung nur mit sehr großer Unsicherheit treffen könnten: »Der Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwinden und sich in der Zusammenfassung nicht zu betrügen.«12
Im Gegensatz dazu ist das Handeln nach einem kategorischen Imperativ von dieser prinzipiellen Unsicherheit nicht betroffen. Denn dieser Maßstab ist nach Kant allein die Allgemeinheit eines Gesetzes, die unabhängig von den mit der Handlung ex post bewirkten Zwecken ist.13 In diesem Sinne muß man Kants apodiktische Feststellung verstehen: »Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte.«14
8 Das ist keine empirische Spekulation, die zynisch wäre, sondern die Feststellung eines logischen Widerspruchs der durch die Verallgemeinerung entsteht. 9 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 402f. 10 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 400. 11 Dazu S. 133ff. 12 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 287. Die enorm hohe Komplexität bei gleichzeitige Unbestimmbarkeit mangels empirischer Daten einiger von der ökonomischen Analyse geforderten Regeln ist ein aktueller Beleg für diese Feststellung, s. § 11 II.3.a) unten. 13 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 421. 14 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 421.
110
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
Gleichwohl kann – freilich aus anderen Gründen – Unsicherheit über den Inhalt des kategorischen Imperativs bestehen.15 Die Gebote der reinen praktischen Vernunft und die Anwendung der verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs sind alles andere als selbstverständlich, was bereits Mill gegen Kant einwendete: »[T]here is as much difference of opinion, and as fierce discussion, about what is just, as about what is useful to society«.16
Allerdings ist diese Unsicherheit hinsichtlich kategorischer Imperative ganz anderer Natur als die Unsicherheit hinsichtlich hypothetischer Imperative. Erstere ist der »vernünftige« Zweifel in einem intellektuellen Diskurs,17 letztere dagegen fundamentaler Natur, da sie aus der Unfähigkeit des Menschen resultiert, den Lauf der Welt mit Sicherheit vorherzusagen. Diese Unsicherheit der hypothetischen Imperative ist von so großem Gewicht, daß sie sogar die Angemessenheit des Utilitarismus als Basis einer juristischen Theorie insgesamt zweifelhaft erscheinen läßt. Doch bevor diese längst auch von Vertretern des Utilitarismus eingeräumte Schwierigkeit untersucht werden soll, sind zunächst einige einflußreiche Theorien, die auf ein normatives Modell von hypothetischen Imperativen abzielen, vorzustellen. Dabei geht es wiederum nicht um Vollständigkeit, sondern darum, die typischen Merkmale dieser Theorien beispielhaft zu verdeutlichen.
1. Das Prinzip der Nützlichkeit bei Bentham Der Ausgangspunkt der Philosophie Benthams ist die für ihn unerschütterliche Einsicht, daß der Mensch der Herrschaft von Leid und Freude nicht entrinnen kann. Leid und Freude geben daher den Maßstab der Richtigkeit ab. Jeder, der dies leugne, unterliege einem Irrtum und komme letzten Endes nicht umhin, die Herrschaft des Strebens nach Glückseligkeit über die Antriebe des Menschen zu bestätigen.18 Eine Handlung ist dem Interesse eines Individuums förderlich, wenn sie »die Tendenz« aufweist (dazu »neigt«), zur Gesamtsumme seiner Freuden beizutragen oder die Gesamtsumme seiner Leiden zu vermindern.19 Eine Gemeinschaft besteht aus der Summe der Interessen der Glieder, aus der sie sich zu15 S. nur A. Kaufmann in Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 1, 61. 16 Mill Fn. 1, S. 99. Kant unterstellt er, S. 51f., daß jener bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs einen logischen Widerspruch der einzelnen verbotenen Maximen nicht nachgewiesen habe. Das einzige, was er zu zeigen vermochte, daß die Folgen solcher Handlungen nicht wünschenswert seien und daher von niemandem befürwortet werden könnten. 17 S. für das Verhältnis zwischen kategorischem Imperativ und Diskursethik, das zu vertiefen, den Rahmen des Buches sprengen würde, A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 277ff. 18 Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, Kap. I, 1., S. 55. 19 Bentham Fn. 18, Kap. I, 5., S. 57.
I. Utilitarismus
111
sammensetzt. Eine Handlung fördert das Interesse der Gemeinschaft, wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als die Tendenz, es zu vermindern.20 Bentham definiert das »Prinzip der Nützlichkeit« daher als jenes Prinzip, »(...) das schlechthin jede Handlung in dem Maß billigt oder mißbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu befördern oder zu verhindern«.21
Eine Handlung, die mit diesem Prinzip übereinstimmt, »soll« getan werden. Eine Handlung, die damit nicht übereinstimmt, ist freigestellt oder verboten. Eine andere Bedeutung von »Sollen«, also von Normativität allgemein, erkennt Bentham nicht an – darin ist er sehr klar.22 Um das Prinzip der Nützlichkeit anwenden zu können, muß Bentham zunächst einen Maßstab für die Beurteilung von Freude und Leid entwickeln. Als Quelle von Freude und Leid identifiziert er vier Ursachen: diese können physischen, politischen, moralischen und religiösen Ursprungs sein.23 Die Einzelheiten können vorliegend auf sich beruhen; bemerkenswert ist jedoch die Weite des Begriffs der Nützlichkeit. Ungeachtet dessen geht Bentham davon aus, daß der Wert einer Menge an Freude oder Leid gemessen werden kann.24 Zu diesem Zweck führt er weitere Variablen in das Nutzenkalkül zunächst im Hinblick auf eine einzelne Person ein: die Intensität, Dauer, Gewißheit, Nähe, Folgenträchtigkeit, Reinheit der Freude bzw. des Leids. Wenn es um die Bestimmung der Glückseligkeit innerhalb einer Gruppe von Personen geht, ist nach Bentham ein zusätzlicher Faktor zu berücksichtigen, nämlich das Ausmaß der Freude oder des Leids, also die Anzahl der Personen, auf die Freude oder Leid sich erstrecken oder die davon betroffen sind.25 Fügt man diese Variablen in das Prinzip der Nützlichkeit ein, so ließe sich jeweils berechnen, ob die Handlung vorgenommen werden soll oder nicht. Wenn nach Addition der Zahlen die Seite der Freude überwiegt, ist die Handlung in Bezug auf die Interessen einer einzelnen Person gut.26 Für das Prinzip der Nützlichkeit ist jedoch auf die Interessen der Gemeinschaft abzustellen. Zu diesem Zweck sind die Zahlen für jedes Individuum, die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, zu addieren; ebenso die Zahlen, die die schlechte Tendenz einer Handlung ausdrücken. Sodann ist Bilanz zu ziehen:
20 21 22 23 24 25 26
Bentham Fn. 18, Kap. I, 6., S. 57 Bentham Fn. 18, Kap. I, 2., S. 56. Bentham Fn. 18, Kap. I, 10., S. 58. Bentham Fn. 18, Kap. III, S. 74ff. und Kap. V, S. 82ff. Bentham Fn. 18, Kap. IV, S. 79ff. Bentham Fn. 18, Kap. IV, 4., S. 80. Bentham Fn. 18, Kap. IV, 5., S. 81.
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
»(...) befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der Handlung; befindet sie sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Gemeinschaft eine allgemein schlechte Tendenz«.27
Benthams System beinhaltet das utilitaristische Grundprinzip in besonders reiner Form. Entscheidend sind allein die durch die Handlung bewirkten Folgen, die durch Erfahrung feststellbar sind. Gut sind jene Handlungen, die das Glück befördern. Diese sollen vorgenommen werden. Um herauszufinden, welche Handlungen gut sind, ist Freude und Leid zu quantifizieren und zu bilanzieren. Überwiegen die Vorteile über die Nachteile, so ist die Handlung gut. Maßgeblich ist ausschließlich die Summe aller Einzelwerte in einer Gemeinschaft. Wenn dies richtig ist, so trifft auch folgende Aussage zu, die man als »Interpersonelles Saldierungsgebot«28 bezeichnen könnte: Auch dann, wenn die Bilanz einer einzelnen Person in hohem Maße negativ ist, ist die Handlung nach dem Prinzip der Nützlichkeit dennoch geboten, wenn der Nutzengewinn anderer Glieder der Gemeinschaft insgesamt höher als der Nutzenverlust des betroffenen Individuums ist. Diese Saldierungsthese hat wichtige Konsequenzen. Um ein drastisches Beispiel zu geben:29 Wenn es etwa der Fall sein sollte, daß die Gesamtbilanz einer Sklavenhaltergesellschaft30 positiv ist und sogar höher als einer Gesellschaft ohne Sklaven, so soll der Gesetzgeber, auf den das Prinzip der Nützlichkeit vor allem gemünzt ist, dieses System einführen. Nicht, daß dies Benthams Vorschlag wäre, aber er könnte der Schlußfolgerung gar nicht widersprechen. Denn gegen diese Schlußfolgerung ist innerhalb dieses Systems nur der Einwand zulässig, daß die Gesamtzahl des Leidens gerade entgegen der Prämisse des Beispiels überwiegt, was nur empirisch zu verifizieren wäre. Dieses System an hypothetischen Imperativen verkörpert also genau jene Glückseligkeitslehre, die Kant, der etwa zur gleichen Zeit schreibt, als Maßstab für das, was der Mensch nach moralischen Grundsätzen tun soll, grundlegend ablehnt.31
27
Bentham Fn. 18, Kap. IV, 5., S. 81. In der ökonomischen Analyse entspricht diesem Prinzip das Kaldor-Hicks-Kriterium von Effizienz, S. 124ff. Eidenmüller Fn. 2, S. 209, verwendet den Ausdruck »Aggregationsprinzip«. 29 S. darüber hinaus auch die Beispielsfälle etwa bei Eidenmüller Fn. 2, S. 210ff. 30 Beispiel auch bei Höffe Fn. 7, S. 45. 31 Nach Kant wäre dieses Problem anders zu lösen: Der Eingriff in das angeborene Freiheitsrecht der Sklaven ist durch den Hinweis auf die Glückseligkeit anderer nicht zu rechtfertigen. Sich die Glückseligkeit anderer zum Zweck zu machen, ist eine Forderung der Tugendlehre allein, also keine Rechtspflicht, MS, AA VI, S. 387. Diese Personen würden daher in den Worten der dritten Formel des kategorischen Imperativs bloß als Mittel verwendet: »vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle«, Grundlegung, AA IV, S. 433. 28
I. Utilitarismus
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2. Abschwächung des Utilitarismus durch Mill Mills Essay über den Utilitarismus ist das klassische Beispiel einer abgemilderten Form des Utilitarismus. Vordergründig geht es Mill darin darum, die Angriffe der »a priori Moralisten«, als deren herausragenden Vertreter er Kant sieht,32 gegen die Glückseligkeitslehre abzuwehren und Bentham dagegen in Schutz zu nehmen. Mill wendet auf spitzfindige Weise etwa den Einwand der Unbestimmtheit der (allgemeinen) Glückseligkeit gegen seinen Urheber, Kant. Dessen deontologische Begründung der Gerechtigkeit wähnt er in gleichen Umfang der Unsicherheit ausgesetzt, wie die Frage, was den Nutzen einer Gesellschaft oder des Einzelnen vergrößert.33 Nun ist bereits ausgeführt worden, daß diese Unsicherheit ihrer Art nach eine andere ist, denn sie betrifft nicht die Unsicherheit, die aus der Prognose der Zukunft erwächst. Wie sogleich ersichtlich werden wird, ist der Unterschied zwischen Mill und Kant dennoch nicht so groß, wie es zunächst den Anschein hat. Mill nimmt in dieser Verteidigungsschrift eine Reihe von Präzisierungen an der ursprünglichen These des Utilitarismus vor, die bei näherer Betrachtung doch erhebliche Modifikationen beinhalten und diese »milde« Form des Utilitarismus, unter der Hand, an das angebliche »Gegenmodell« der »reinen«, also apriorischen, praktischen Philosophie annähern. Das Prinzip der Nützlichkeit wird zwar nicht grundlegend in Frage gestellt, vielmehr geradezu für sakrosankt erklärt, aber dennoch schränkt Mill es in entscheidender Hinsicht ein. Dies liegt vor allem an der Art und Weise, in der Mill »Freude« und »Leid« definiert und in zweiter Linie daran, daß Mill ein früher Vorläufer dessen war, was später als »Regelutilitarismus« bekannt werden sollte. Bereits Bentham hatte, wie gesehen, die moralischen Anschauungen der Gesellschaft als Ursprung von Glückseligkeit anerkannt. Diesen Aspekt greift Mill auf und erhebt ihn zur Leitidee, der sich alles unterzuordnen hat. In einem ersten Schritt verteidigt Mill also den Utilitarismus gegen den Vorwurf, eine Theorie der niederen Gesinnungen darzustellen:34 Zweifelsohne sei die Glückseligkeit allein das oberste Ziel der Ethik. Das Vergnügen (pleasure) und die Abwesenheit von Leid (freedom from pain) seien die einzigen Zwecke, die um ihrer selbst willen angestrebt werden. Wenn jemand behauptete, daß der Utilitarismus wegen seiner Ausrichtung auf die Glückseligkeit der tierischen Lust freien Lauf gewähren würde, so verunglimpfte er die Natur des Menschen.35 Denn dieser Einwand unterstelle, daß der Mensch Befriedigung allein aus tierischen Neigungen verspüren könne und zu höheren Empfindungen nicht fähig sei. Dabei lehre doch die Erfahrung, daß noble Empfindungen dem Menschen mehr Genug-
32 33 34 35
Mill Fn. 1, S. 51. S. oben Fn. 16. Mill Fn. 1, S. 54ff. Mill Fn. 1, S. 55.
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
tuung und Zufriedenheit verschaffen als die Hingabe an animalische Antriebe.36 Moralische Gefühle (moral sentiments) und »intellektuelle« Freuden (mental pleasures) seien der »physischen« Freude weit überlegen. Diese Arten der Freude seien somit wertvoller und begehrenswerter als andere. Der Mensch wird als Wesen, das zu höheren Empfindungen fähig ist, sicherlich in größerem Ausmaß der Gefahr des Leidens ausgesetzt, doch er wird nie wirklich wünschen, auf den Rang eines Lebewesens von niedrigerem Rang herabzusinken: »It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied.«37
Darin liege die Würde (dignity), die der Mensch besitzt, die auch nicht dadurch in Frage gestellt werde, daß von manchen das niedere Vergnügen aus Charakterschwäche dem edlen vorgezogen wird. Denn die Empfindsamkeit für höhere Gefühle sei ein »zartes Pflänzchen«, das nur allzu leicht in einem feindlichen Umfeld aber auch mangels ständiger Pflege einzugehen drohe.38 Neben der Selbstsucht ist die Hauptursache eines unzufriedenstellenden Lebens der Mangel an intellektueller Kultur (mental cultivation).39 Die einzig wirksame Sanktion dieser utilitaristischen Ethik sei das subjektive Gefühl, das man Gewissen nenne.40 Ein Beweis dieser Prinzipien sei dementsprechend nur insofern möglich, als die Erfahrung lehre, daß das Streben nach Glückseligkeit die einzig wirksame Triebfeder sei.41 In einem zweiten Schritt wirft er den Kritikern des Utilitarismus vor, daß sie verkennen, daß es nicht um die Glückseligkeit des Einzelnen gehe, sondern aller Betroffenen.42 Zwischen dem eigenen Glück und dem anderer müsse der Utilitarist neutral bleiben. Diesen Gedanken drücke auch die goldene Regel aus, die daher ein Ideal des Utilitarismus darstelle.43 Das Streben nach allgemeiner Glückseligkeit wird somit zum zentralen Bestandteil der Motivation in der utilitaristischen Ethik. Dagegen sei der Einwand, daß es schwierig sei, den Weg dorthin zu erkennen, also die Folgen einer bestimmten Entscheidung für die allgemeine Glückseligkeit abzuschätzen, nicht zulässig:44 Denn die Menschheit verfügt hierzu über ihre gesamte bisherige Erfahrung, die sie gelehrt habe, welche Handlungen der Klugheit (prudence) entsprechen und welche nicht. Wenn denn diese Annahmen alle zum Utilitarismus gehören, also Tugend und Gerechtigkeit dem Menschen als subjektive Antriebe innewohnen und er deswegen nur glücklich sein kann, wenn er zuförderst diese höheren Neigungen befrie36 37 38 39 40 41 42 43 44
Mill Fn. 1, S. 56. Mill Fn. 1, S. 57. Mill Fn. 1, S. 58. Mill Fn. 1, S. 61. Mill Fn. 1, S. 75. Mill Fn. 1, S. 81ff. Mill Fn. 1, S. 59, 64ff. Mill Fn. 1, S. 64. Mill Fn. 1, S. 69.
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digt, so überrascht es nicht weiter, daß Mill daraus eine Theorie der Gerechtigkeit ableitet, die der deontologischen Philosophie Kants in ihren Forderungen kaum, wenn überhaupt nachsteht.45 Zwei Aspekte sind im vorliegenden Zusammenhang besonders erwähnenswert: zum einen das Prinzip, wonach es ungerecht sei, jemanden etwas zu entziehen, was ihm gehört, sei es seine persönliche Freiheit, Eigentum oder sonstige Güter,46 und zum anderen das Prinzip, wonach es ungerecht sei, jemanden eine Leistung vorzuenthalten, worauf er einen Anspruch hat.47 Daraus folgen die Rechtspflichten, das zu unterlassen, was andere in ihren Rechten verletzt und das zu tun, um berechtigte Ansprüche anderer zu erfüllen. Den Bereich des Rechts (justice) grenzt Mill folgerichtig danach ab, ob eine andere Person ein der Pflicht korrespondierendes Recht auf Einhaltung der Pflicht hat.48 Besteht ein solches Recht, handelt es sich bei der (korrespondierenden) Pflicht um eine Rechtspflicht. Die solcherart postulierten subjektiven Rechte bedürfen des Schutzes durch staatliche Zwangsgewalt.49 Besteht kein subjektives Recht, handelt es sich um eine bloße Tugendpflicht. Nicht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehend, sei etwa (wie bei Kant) die Pflicht, fremde Glückseligkeit zu fördern: Diese ist nicht einer bestimmten Person geschuldet.50 Was Mill trotz dieser vielfältigen Parallelen als Utilitaristen ausweist und von Kant unterscheidet ist, daß Mill den Ursprung dieser Prinzipien der Gerechtigkeit nicht in synthetischen Sätzen a priori legt,51 sondern aus der Erfahrung gewinnt.52 Diese lehre, daß der allgemeinen Glückseligkeit am besten gedient sei, wenn die (oben kurz skizzierten) Prinzipien der Gerechtigkeit hochgehalten werden. Allein diese sind dazu geeignet, den Frieden unter den Menschen dauerhaft zu sichern. Die strikte Durchsetzung des Verbots, andere Personen zu verletzen oder ihnen vorzuenthalten, was ihnen gehört, liege daher im unmittelbaren Interesse jedes Einzelnen. Die Garantie der subjektiven Rechte im Staat sei ein Ziel, das unter allen Interessen des Einzelnen am stärksten ausgeprägt sei, weil es mit seinem Fortkommen, ja sogar Überleben verknüpft ist. Es sei, schreibt Mill im Jahre 1861, vor diesem Hintergrund eine natürliche Entwicklung, daß Institutionen, die einstmals als unerläßlich galten, allmählich verworfen und sogar universell geächtet wurden, wie es etwa mit der Sklaverei geschehen sei, und mit der Unterscheidung nach Rasse oder Geschlecht zukünftig der Fall sein werde.53 Allerdings ist der Unterschied zu der Kantischen Tradition nicht mehr von grundlegender Natur. Denn nur die Rechtfertigung des Regelsystems selbst so45 46 47 48 49 50 51 52 53
Mill Fn. 1, S. 87ff. Mill Fn. 1, S. 88. Mill Fn. 1, S. 89. Mill Fn. 1, S. 94. Mill Fn. 1, S. 97. Mill Fn. 1, S. 95. Dazu S. 35ff. Mill Fn. 1, S. 103f. Mill Fn. 1, S. 106.
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wie der staatlichen Institutionen, die seiner Durchsetzung dienen, wird dem Nützlichkeitskalkül unterworfen, nicht mehr die einzelne Handlung selbst. Die Begründungen weichen also nur in ihrem Ursprung ab, einerseits die »Erfahrung der gesamten Menschheit«, andererseits die »reine praktische Vernunft«. Während Kant zur Rechtfertigung des Privatrechts auf (intuitiv erkannte) synthetische Sätze a priori aufbaut, ist Mill diese Herleitung offensichtlich ungenügend. Statt dessen vertraut er darauf, was ihn »die Erfahrung« gelehrt habe; und die besage nun mal, daß ein System subjektiver Rechte mit striktem staatlichem Schutz auf lange Sicht die Gesellschaft mehr nütze als alle Alternativen. Es liegt in der Konsequenz dieser Herleitung, daß Mill sich auf der Ebene der Bewertung einzelner Handlungen von Benthams radikalem Verrechnungsprinzip abwendet. Die Einhaltung der Regeln der Gerechtigkeit ist die Quelle der höchsten Freude und daher immer vorrangig. Diese Trennung der Bewertung einzelner Handlungen von der Rechtfertigung von Regeln ist ein wichtiger weiterer Unterschied zu Bentham.54 Die Unterscheidung zwischen dem sog. Handlungs-(Akt-) und Regelutilitarismus ist jedoch mit wissenschaftlicher Tiefe erst in der Zeit nach Mill herausgearbeitet worden.55
3. Handlungs- und Regelutilitarismus Die vielfältigen Schwierigkeiten, die das Benthamsche Prinzip der Nützlichkeit aufwirft, liegen auf der Hand.56 Probleme bereitet nicht nur die schwierige, um nicht zu sagen unmögliche Quantifizierbarkeit einzelner Variablen der Formel, sondern auch das interpersonelle Saldierungsgebot, wonach ein negativer Saldo einer Person durch einen Überschuß an Nutzen, der anderswo in der Gemeinschaft anfällt, aufgehoben werden könne. Das Prinzip der Nützlichkeit weist jedoch ein weiteres, strukturelles Defizit auf, das im folgenden näher untersucht werden muß. Das Defizit ist struktureller Natur, weil das Prinzip der Nützlichkeit in seiner radikalen Variante die Normativität von Rechtsregeln nicht erfassen kann. Nach diesem Prinzip kann es nie mehr als hypothetische Imperative, also bedingtes Sollen, geben; das sind Regeln, wonach ein bestimmtes Verhalten nur dann geboten ist, wenn bestimmte handlungsexterne Folgen daraufhin eintreten. Das Prinzip der Nützlichkeit in seiner Extremform gebietet in jedem Einzelfall eine umfassende Abwägung der externen Folgen der Handlung zu treffen und dem Ergebnis der Abwägung entsprechend zu handeln. Man kann den Handlungsutilitarismus dementsprechend als »atomistische Theorie« bezeichnen.57 Die Handlung ist nur Mittel zum Zweck und ihre Güte stets durch den Eintritt 54 Für die Deutung Mills als Regelutilitaristen vor allem Urmson 3 The Philosophical Quarterly 33 (1953). 55 Überblick etwa bei Höffe Fn. 7, S. 30; Mackie, Ethics, S. 125ff., 136ff. 56 Vgl. etwa die Zusammenstellung der Einwände bei Höffe Fn. 7, S. 41ff. 57 Nach Brandt in Höffe (Hrsg.) Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 188.
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der Folgen bedingt. Die Regel, die eine Handlung vorschreibt, verliert jegliche Gültigkeit, sobald feststeht, daß die Folgen nicht eintreten. Diese Regeln sind hypothetische Imperative. Ein solches System von hypothetischen Imperativen kann man daher als »einstufiges« bezeichnen.58 Die Gründe, die für die Einhaltung der Regeln sprechen, sind identisch mit den Gründen, die für die Vornahme der Handlung selbst sprechen. Regeln sind für diese Extremform des Utilitarismus immer nur Faustregeln.59 Als Faustregeln kommen freilich auch die allgemein anerkannten Regeln der Moral einer Gesellschaft in Betracht, einschließlich der rechtlich verbindlichen Regeln. An diese wird sich der extreme Utilitarist zum Beispiel halten, wenn er wenig Zeit hat und schnell handeln muß. Sie bieten ihm eine erste Orientierung. Denn eine umfassende Kosten/Nutzen Abwägung wird er in solchen Umständen nicht bewältigen können. Die traditionellen Regeln mögen dann einen Hinweis darauf geben, was den Gesamtnutzen wahrscheinlich in der großen Mehrzahl der Fälle am ehesten fördert: »Der extreme Utilitarist sieht Moralregeln also als Faustregeln und soziologische Fakten an, die zu berücksichtigen sind, wie auch Fakten anderer Art zu berücksichtigen sind, wenn man entscheidet, was zu tun ist. Aber an sich rechtfertigen sie die Handlung nicht.«60
Eine solche Theorie bezeichnet man gemeinhin als Akt- oder Handlungsutilitarismus. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Analyse der Bindung an den Vertrag unter Geltung eines extrem-utilitaristischen Prinzips von Interesse.61 In dem Modell von hypothetischen Imperativen erschöpft sich ein Versprechen in der Aussage, daß der Versprechende die Absicht hat, den Vertrag zu erfüllen, wenn dies dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht. Die Bindung ist hypothetisch bedingt durch die Nützlichkeit der Vertragsdurchführung.62 Die Gründe für die Einhaltung des Versprechens sind dann identisch mit den Gründen für die Vornahme der Handlung, die in der Erfüllung des Vertrages besteht. Bei diesem einstufigen Modell läßt sich zwischen der Selbstbindung durch Vertrag und einer bloßen Absichtserklärung, eine bestimmte Handlung vornehmen zu wollen, nicht unterscheiden. Denn die (spätere) Einhaltung des Vertrages hängt davon ab, daß sie auch (zu dem späteren Zeitpunkt der Erfüllung) tatsächlich insgesamt vorteilhaft ist.63 Nach dem extremen utilitaristischen Prinzip soll nur gehandelt werden, wenn die konkrete Handlung im Einzelfall vorteilhafte Konsequenzen hat. Der Abschluß des 58
Mackie Fn. 55, S. 136. Smart in Höffe (Hrsg.) Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 167, 171ff. 60 Smart Fn. 59, S. 173. 61 Dieses Problem behandelt Raz in Hacker/Raz (Hrsg.), Law, Morality and Society, S. 210ff. Eine erste ausführliche Erörterung bei Rawls in Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 135ff., auf der auch Raz aufbaut. 62 Dabei kann der dabei angewendete Maßstab der Nützlichkeit im Moment offenbleiben. 63 Rawls Fn. 61, S. 147. 59
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Vertrages und die Abgabe des Versprechens sind bei diesem Modell nicht mehr als eine Behauptung, daß es einen solchen (außerhalb des Versprechens angesiedelten) Grund gibt, die in dem Vertrag versprochene Handlung zu bewirken.64 Trifft diese Annahme der vorteilhaften Konsequenzen nicht zu, verliert das Versprechen jede Bedeutung. Die Existenz des Versprechens bzw. des Vertrages hat keine von der Nützlichkeit der darin versprochenen Handlung unabhängige Bedeutung. Für sich genommen bewirkt der Vertrag keinerlei Bindung. Die Bindung an den Vertrag ist eine bloße Faustregel. Rechtspflichten haben jedoch bei näherer Betrachtung einen anderen Inhalt. Rechtspflichten gebieten unbedingt65 und nicht (nur) hypothetisch. Rechtspflichten enthalten als solche einen hinreichenden Grund, die Handlung vorzunehmen.66 Alle Regeln, denen in einem Rechtsystem Geltung zugesprochen wird, weisen diese Eigenschaft auf.67 Der Grund, die Handlung y vorzunehmen und der Grund, der Rechtspflicht (der Regel) zu folgen, sind also voneinander unabhängig. Die Regel enthält einen selbständigen, hinreichenden Grund, y zu tun. Die Selbständigkeit dieses Grundes läßt sich mit Joseph Raz auch folgendermaßen formulieren:68 Die Regel gibt nicht nur einen Grund für y ab, sondern vor allem einen Grund, divergierende Gründe, die gegen y sprechen, zu ignorieren.69 Rechtspflichten enthalten solche »ausschließenden Gründe« (»exclusionary reasons«).70 Für Kant war dieser Zusammenhang selbstverständlich. Deshalb betonte er, daß ein Handeln nach kategorischen Imperativen eine schnelle Orientierung in der täglichen Praxis ermögliche: Schließlich müsse man nur die Rechtspflicht kennen und dann wäre die Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« sofort klar.71 Der Verdienst von Raz ist es, gezeigt zu haben, daß diese Eigenart Regeln überhaupt anhaftet, nach welchem obersten Prinzip auch immer man sie gewinnt. Regeln sind, wenn sie Rechtspflichten begründen sollen, immer Teil eines zweistufigen Systems von Gründen: Auf der ersten Ebene ist die Regel Grund für die darin vorgeschriebene Handlung und auf der zweiten Ebene sind die Gründe für die Regel angesiedelt. Der extreme Utilitarist dagegen verschmilzt beide Ebenen und muß somit ganz ohne den Begriff der (echten) Regel und somit auch ohne den der 64
Raz Fn. 61, S. 217. Das schließt freilich nicht aus, daß auch von Rechtspflichten (auf der zweiten Stufe der Normbegründung) gelegentlich Ausnahmen anzuerkennen sind. Die Regeln in einem zweistufigen Modell gelten selbstredend nur in ihrem Anwendungsbereich unbedingt. 66 Raz Fn. 61, S. 220f. 67 Raz, Practical Reason and Norms, S. 73ff. 68 Raz Fn. 67, S. 35ff. 69 Dieser bestimmte Erwägungen ausschließende Grund ist einer höheren Ordnung als die Gründe, die bei einer Abwägung des Für und Wider von y zu beachten wären. Im Hinblick auf diese Gründe der ersten Ordnung ist es ein Grund zweiter Ordnung. 70 Raz Fn. 67, S. 40. 71 Kant, Gemeinspruch, AA VIII, S. 286f. (depositum Beispiel). Das bedeutet nicht, daß nicht auch in einem System von Rechtspflichten Ausnahmen anzuerkennen wären, diese sind jedoch ebenfalls vor aller Erfahrung erkennbar. 65
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Rechtspflicht auskommen. Für ihn kann es nichts anderes als »Faustregeln« geben. Eine brauchbare Basis für eine juristische Theorie ist dies jedenfalls nicht.72 Um auf das Beispiel der Bindung an den Vertrag zurück zu kommen: Ein Versprechen ist die Erklärung einer Absicht, sich durch den Akt der Erklärung zu verpflichten, eine bestimmte Handlung y vorzunehmen. Nach dem Zwei-Ebenen-Modell schafft der Versprechende damit einen Grund, y vorzunehmen, auch wenn andere Gründe gegen die Vornahme von y sprechen.73 Selbst wenn das wohlverstandene Interesse des Schuldners dagegen spricht, y vorzunehmen, ist er dennoch dazu verpflichtet und hat deswegen einen hinreichenden Grund, y vorzunehmen. Das System hypothetischer Imperative des Handlungsutilitarismus ist damit nicht vereinbar.74 Denn nach dem Prinzip der Nützlichkeit sind die Gründe für die Vornahme einer Handlung ausschließlich aus der Vorteilhaftigkeit der Folgen der Handlung gewonnen. Ein regelutilitaristisches System (wie etwa das J.S. Mills) fügt sich dagegen ohne Bruchstelle in das Zwei-Ebenen-Modell ein und vermag Regeln als »exclusionary reasons« zu erklären.75 Der Unterschied zu einem deontologischen System liegt darin, daß auf der zweiten Ebene (auf der Ebene der Begründung der Regeln) folgenorientierte Argumente zugelassen werden. Der Unterschied zum »extremen« Utilitarismus ist darin begründet, daß normative Regeln, also unbedingte Rechtspflichten, anerkannt werden.76 In der treffenden Formulierung von Smart: »Allgemein gesprochen sind also Handlungen anhand von Regeln und Regeln anhand von Konsequenzen zu prüfen.«77
Die Richtigkeit einer Handlung wird nicht durch ihren relativen Nutzen bestimmt, sondern resultiert daraus, daß sie einer Regel entspricht. Der Nutzen von Regeln wiederum ergibt sich daraus, daß eine bestimmte Regel gilt, d.h. daß alle oder die meisten Handlungen, die zu der von der Regel erfaßten Klasse von Handlungen gehören, ausgeführt werden müssen.78 Die Regel gilt als Regel, also unbedingt, weil nur auf diese Weise der Gesamtnutzen gesteigert wird. Die Summe solcher Regeln fügen sich zu einem »idealen Moralkodex« zusammen, der deswegen »ideal« ist, weil unter seiner Geltung mindestens ebensoviel Gutes in der Gesellschaft hervorgebracht würde wie unter Geltung irgendeines anderen Moralkodex.79 Daß eine Regel den Nutzen im Einzelfall nicht steigert, vermag, um es noch einmal zu betonen, ihre Geltungskraft nicht zu schmälern.
72 73 74 75 76 77 78 79
Eidenmüller Fn. 2, S. 176. Raz Fn. 61, S. 218f. Rawls Fn. 61, S. 147. S. zu den Vorteilen des Regelutilitarismus auch Eidenmüller Fn. 2, S. 175ff. Mackie Fn. 55, S. 137. Smart Fn. 59, S. 168, der diesem Ansatz als Aktutilitarist jedoch gerade nicht folgt. Brandt Fn. 57, S. 193. Brandt Fn. 57, S. 197. S. auch Eidenmüller Fn. 2, S. 176.
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Einem solchen idealen Kodex würde, darin stimmen alle hier erörterten regelutilitaristischen Sichtweisen überein, die Regel angehören, daß Verträge zu erfüllen sind. Denn die Praxis der Versprechen ist für die Gesellschaft ganz allgemein von großem Nutzen. Es würde jedoch die Institution und die Praxis des Versprechens untergraben, wenn man die Bindung an den Vertrag verneinte und dem Vertragsschuldner im Einzelfall den Einwand gestattete, daß die Erfüllung seines Versprechens »auf das Ganze gesehen« keine günstigen Konsequenzen hätte.80 Selbst wenn der Bruch des Versprechens nicht bekannt werde und damit tatsächlich keine Auswirkungen auf die Praxis haben kann, so ist dennoch der Einwand, daß der Bruch des Versprechens im Einzelfall von Nutzen sei, unzulässig. Denn dabei würde die Unterscheidung zwischen der Rechtfertigung einer Praxis und der einer einzelnen Handlung aufgehoben.81 Es sei utilitaristisch von Vorteil, dem Versprechenden zu versagen, sich auf das utilitaristische Prinzip zu berufen, durch das die Praxis als solche gerechtfertigt ist.82 Wenn jemand, der ausdrücklich ein »Versprechen« abgibt und sich zugleich vorbehält, den Einzelfall abzuwägen, stellt er von diesem Standpunkt eine »absurde« Behauptung auf,83 da er die Bedeutung von Versprechen »nicht versteht«.84 Dem Regelutilitarismus wird von extremen Utilitaristen wie Smart »abergläubischer Regelkult« vorgeworfen.85 Letztlich werde er seinen eigenen Prämissen untreu. Smart wendet ein, daß der Regelutilitarismus auf einen extremen Utilitarismus hinausläuft, wenn man alle seine Implikationen ausspricht. Anhand von zwei Beispielen läßt sich das Problem verdeutlichen. Angenommen86 ein Kapitän verfügte über ein nautisches Jahrbuch, daß in 99% der Fälle eine korrekte Positionsbestimmung ermöglicht. Die Position könnte auch ohne das Jahrbuch zu 100% richtig berechnet werden, nur ist dies langwierig und umständlich. Sollte man das Jahrbuch als Regel auffassen, dürfte man dem Kapitän nicht gestatten, eine abweichende Bestimmung im Einzelfall zu treffen. Dies wäre jedoch contraintuitiv, sollte ein Kapitän die Berechnung einmal tatsächlich selbst vorgenommen haben und feststellen, daß das Jahrbuch falsch liegt. Oder betrachtet man den Fall des auf einer einsamen Insel verschiedenen Freundes, dem man versprochen hat, sein Vermögen nach seinem Ableben einem Renn-Club zuzuwenden:87 Wäre 80
Rawls Fn. 61, S. 148, 164f. Rawls Fn. 61, S. 150. 82 Rawls Fn. 61, S. 150. 83 Rawls Fn. 61, S. 164. 84 Rawls Fn. 61, S. 152. Ähnlich Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts, S. 49ff. 85 Smart Fn. 59, S. 174. Ähnlich die Argumentation bei Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism, passim, der zu zeigen sucht, daß in jedem Fall, in dem die Regel auf das Ganze gesehen nicht ein nützliches Ergebnis erzeugt, sie geändert werden müßte, so daß der Regelutilitarist jeden Einzelfall letztlich nach der Gesamtabwägung entscheiden, also in letzter Konsequenz für jeden Einzelfall auf der zweiten Ebene eine »Regel« aufstellen müßte; vom Aktutilitaristen könne er dann nicht mehr unterschieden werden. 86 Smart Fn. 59, S. 175. 87 Smart Fn. 59, S. 176. 81
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es nicht sinnvoll und auf das Ganze gesehen das Beste, das Versprechen im Geheimen zu brechen und das Geld einem Krankenhaus zu geben? Kann die Einsicht, daß die konkrete Handlung mehr Schaden als Nutzen bringt, unbeachtlich bleiben, wenn doch die Regeln selbst den Gesamtnutzen mehren sollen? Die Antwort des Regelutilitaristen ist zwar klar: Die Rechtfertigung der Regel ist eben eine andere als die Rechtfertigung der Handlung. Allerdings ist vor dem Hintergründe der Einwände von Lyons und Smart diese formale Trennung schwerer aufrechtzuerhalten als bei einem deontologischen System:88 Die Verbindlichkeit von Regeln ist ja selbst auch utilitaristisch begründet. Und wenn ein Bruch der Regel keine Auswirkung auf die Praxis der Regelbefolgung haben kann (weil er geheim ist, etc.), ist die Begründung der Trennung der beiden Ebenen der Rechtfertigung zumindest begründungsbedürftig. Der Regel-Utilitarismus läßt sich dennoch verteidigen:89 Es ist eine ebenfalls durch Erfahrung gewonnene Einsicht, daß Regeln als soziale Fakten und Handlungsanweisungen nur begrenzt komplex sein können, um effektiv befolgt zu werden. Die unbedingte Geltung der Regeln ist aber wiederum auf das Ganze gesehen für die Gesellschaft und das Individuum von großem Nutzen. Es folgt, daß unbedingte Regeln als allgemeine Handlungsanweisungen auch dann nützlich sind, wenn sie in einer Minderzahl von Fällen, ein auf das Ganze gesehen schlechtes Ergebnis hervorbringen.90 Es ist somit möglich, die Bindung an den Vertrag als exclusionary reason sowie generell (unbedingte) Rechtspflichten einzuführen. Der Regelutilitarismus ist daher ungeachtet der Einwände als Theorie des Vertragsrechts grundsätzlich geeignet.91 Das bedeutet, daß diese Theorie die Regeln des Vertragsrechts als unbedingte Imperative einführen kann und damit vom Standpunkt juristischer Regeln aus, das System des Privatrechts entfalten kann. Der Handlungsutilitarismus scheitert jedoch, wenn man den Maßstab der Geeignetheit zur juristischen Theorie an ihn anlegt. Er vermag nicht zu erklären, warum Regeln unbedingt92 Geltung beanspruchen. In der Tat wäre ein solcher Gel88 Vielleicht ist es daher nicht überraschend, daß sich Rawls später vom Utilitarismus »losgesagt« hat; Rawls, A Theory of Justice, S. 27 (dort jedoch mit anderer Begründung: sind die Menschen gleich, würden sie sich nicht auf ein Prinzip einigen, wonach einige einen geringeren Lebensstandard haben, damit die Summe der Vorteile der anderen größer ist). 89 Mackie Fn. 55, S. 138f., der jedoch den Utilitarismus aus dem davon unabhängigen Grund ablehnt, daß der Nutzenkalkül ein wenig hilfreicher »Mythos« sei. Den Einwand, daß der Regelutilitarismus letztlich vom Aktutilitarismus nicht zu unterscheiden sei, hält dagegen Atiyah, Promises, Morals and Law, S. 81, für bisher nicht widerlegt (aaO.S. 86: »rule utilitarianism thus seems to lead nowhere in the end«). 90 Die Ausnahmen zu der Regel müssen daher überschaubar sein und vorher abstrakt festgelegt werden. 91 Davon sind Einwände gegen einzelne Aussagen des Regelutilitarismus streng zu unterscheiden. S. zu den Bedenken gegen den Utilitarismus im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte Eidenmüller Fn. 2, S. 213ff. 92 Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die Frage, ob von einer Regel auf der zweiten Stufe Ausnahmen anzuerkennen sind, sondern um die Frage, ob eine Regel als solche, unabhängig von
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
tungsanspruch aus Sicht des extremen Utilitaristen geradezu absonderlich. Der Handlungsutilitarismus verzichtet darauf, den Wesenszug normativer Regel-Systeme zu erfassen. Dies mag aus Sicht extremer Utilitaristen nicht weiter von Bedeutung sein. Wenn man jedoch den Anspruch erhebt, eine rechtswissenschaftliche Theorie zu entwickeln, ist dieses Defizit fatal.93 Es ist eben nicht so, daß die Rechtsanwender Regeln als bloße Fingerzeige zu einer Nutzenmaximierung im Einzelfall verstehen, sondern die Richtigkeit einer Handlung danach beurteilen, ob sie mit einer vorgegebenen Regel übereinstimmt oder nicht. Wollte man anderes behaupten, müßte man unterstellen, daß die Richter insgeheim etwas anderes tun (nämlich den relativen Nutzen einer einzelnen Handlung bestimmen) als das, was sie vorgeben zu tun (nämlich einen Sachverhalt unter eine allgemeine Regel zu subsumieren).
II. Ökonomische Analyse des Rechts Die ökonomische Analyse des Rechts oder kurz »Law and Economics« ist eine relativ »junge« Disziplin.94 Zwar hat es immer schon Untersuchungen dazu gegeben, wie sich staatliche Eingriffe auf den Markt auswirken, etwa im Wettbewerbsrecht. Erst seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat man die ökonomische Analyse (oder »rational choice theory«) auf den gesamten Bereich der traditionellen Rechtswissenschaft erstreckt. Ob das Familienrecht war,95 Strafrecht, Deliktsrecht, oder eben auch Vertragsrecht, alles schien mit Hilfe des Instrumentariums der Wirtschaftswissenschaft ökonomisch erklärbar und erstmals auch aus empirischer Sicht kritisierbar zu sein.96 In der Selbstbeschränkung auf empirisch meßbare Aussagen werde der Anspruch der Rechtswissenschaft, Wissenschaft zu sein, nun erstmals nach Kriterien erfüllt, denen die anderen Wissenschaften von je her genügen mußten.97 Handfeste Empirie statt spekulative Gerechtigkeit war und ist das Motto dieser vornehmlich an US-amerikanischen Fakultäten sehr einflußreichen Bewegung.98 Auch in der deutschsprachigen Rechtsden Gründen, die für oder gegen die darin angeordnete Handlung sprechen, einen Grund für die Vornahme einer Handlung abgeben kann. Zu unterscheiden ist auch das ausdrücklich bedingte Versprechen, das ebenfalls einen Zustand der Gebundenheit erzeugt, der sich darin zeigt, daß der Versprechende es nicht mehr verhindern kann, daß durch den Eintritt der Bedinung eine Verbindlichkeit in seiner Person entsteht, Reinach Fn. 84, S. 51. 93 Aus diesem Grund ist der von Eidenmüller Fn. 2, S. 414ff. aufgestellte These, wonach die ökonomische Analyse des Rechts primär eine Gesetzgebungstheorie sein muß, uneingeschränkt zuzustimmen: Damit ist die Relevanz von Folgenanalysen von vornherein auf die Ebene der Normbegründung beschränkt. Das ist das zweistufige Normmodell des Regelutilitarismus. 94 Umfassende Darstellung bei Eidenmüller Fn. 2, Erster Teil, S. 17ff. 95 Extrembeispiel: der »Baby-Markt« von R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 138 (1979). 96 Überblick etwa bei Ulen in Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I., 0710, S. 790ff. 97 Ulen 79 Chi.-Kent L.Rev. 403, 404 (2004). 98 Vgl. nur R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 117 (1979), der Adepten der Kantischen Tradition
II. Ökonomische Analyse des Rechts
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wissenschaft mehrt sich die Zahl derer, die dieser Methode einen breiteren Wirkungsbereich sichern möchten.99 Die Überschneidungen mit dem Utilitarismus sind vielfältig. Auch die ökonomische Analyse des Rechts hält – als einer auf Handlungen bezogenen, praktischen Philosophie – ausschließlich die externen Folgen einer Handlung für die Bewertung einer Handlung für maßgeblich. Vor aller Erfahrung sind somit nur Hypothesen möglich, die durch den Lauf der Dinge stets widerlegbar sind. Die Unsicherheit, die aus der Schwierigkeit, die Zukunft zu prognostizieren, entsteht, trifft daher auf die ökonomische Analyse ebenfalls zu. Weiterhin sind einzelne Handlungen immer nur Mittel zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck. Erreicht die Handlung den Zweck oder fördert ihn, so ist die Handlung eine »gute« Handlung: sie ist ein geeignetes Mittel. Ebenso wie beim Utilitarismus sind die Handlungen daher stets gegen andere austauschbar, die eine ähnliche Wirkung erzielen. Nutzen ist immer nur relativer Nutzen; die Qualität einer Handlung ist immer nur relativ. Damit ist klar, daß es auch in der ökonomischen Analyse um Zweck-Rationalität geht. Wenn also von »rational choice« des homo oeconomicus gesprochen wird, oder von seiner hyper-, bzw. eingeschränkten Rationalität, dann ist stets nur das Vermögen gemeint, eine Mittel-Zweck Relation zu erkennen und diese Erkenntnis in der Wirklichkeit umzusetzen. Die ökonomische Analyse formuliert daher zunächst jedenfalls nur hypothetische Imperative, die erst in einem weiteren – regelutilitaristischen – Begründungsschritt zu einem System von Normen umgewandelt werden. Zunächst ist es möglich, die Folgen eines Systems von Rechtspflichten, die durch empirische Folgen unbedingte Geltung einfordern und staatlich durchgesetzt werden, empirisch zu bestimmen.100 Dieser Aspekt der ökonomischen Analyse ist als »positive Law and Economics« bekannt.101 Der Nutzen solcher Untersuchungen liegt auf der Hand. Gleichwohl wird der beschreibende/erklärende Diskurs für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert. Denn nach dem hier geteilten Verständnis von Rechtswissenschaft sind letztlich nur die normativen Ratschläge von Belang, die auf der Basis solcher empirischer Untersuchungen gegeben werden. Und in der Tat ist ein Großteil der Empfehlungen der ökonomischen Analyse präskriptiv und zielt auf normativ verbindliche Aussagen ab:102 Es sei ethisch geboten, eine bestimmte Handlung vorzunehmen, weil
vorwirft, sie neigten zu »moral squeamishness, or fanaticism«. Diese Skepsis gegenüber apriorischer Philosophie hatte bereits den Utilitarismus hervorgebracht. 99 Vgl. z.B. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung?; Eidenmüller Fn. 2, S. 490 (für die Rechtswissenschaft und Gesetzgebung). 100 Zum Beispiel zu untersuchen, ob die Einführung der Gurtpflicht, die Zahl der Verkehrstoten reduziert hat. 101 Vgl. etwa Brion in Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I., 0800, S. 1042ff. 102 Vgl. insbesondere Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961ff. (2001) (niemand könne ernst-
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
sie aufs Ganze gesehen, die beste ist; eine bestimmte Regel des Vertragsrechts sollte abgeschafft werden, weil sie negative Folgen zeitigt usw.103 Auch diesen präskriptiven Charakter hat die ökonomische Analyse mit dem Utilitarismus gemein. Der wesentliche Unterschied zum Utilitarismus liegt neben der verfeinerten Methode der Hypothesenbildung vor allem darin, wie der Zweck bestimmt wird, der menschlichen Handlungen zugrunde liegt.
1. Effizienz statt Glückseligkeit Es gehört zu den Kennzeichen des Utilitarismus, daß er nicht nur Nutzenmaximierung fordert, sondern auch den Versuch unternimmt, im einzelnen zu klassifizieren, was unter Nutzen zu verstehen ist und wie Leid und Freud zu gewichten sind. Beispielhaft dafür stehen die bereits erörterten Ansätze von Bentham und Mill. Diese Vorgehensweise weist den Vorzug der Vollständigkeit auf, bringt aber zugleich eine Reihe von schwerwiegenden Problemen mit sich. Denn wie soll Glück und Unglück eines Einzelnen in Recheneinheiten für das Prinzip der Nützlichkeit übersetzt werden?; Wie sollen interpersonelle Vergleiche hergestellt werden? usw.104 Die ökonomische Analyse des Rechts vermeidet zumindest einen Teil dieser Schwierigkeiten, indem sie einen offenen Begriff von Nutzen einführt:105 Was von Nutzen ist, entscheidet, vereinfacht gesagt, nicht der Philosoph im abgeschiedenen Kämmerlein, sondern jede Person für sich selbst, während der (umfassend verstandene) Marktmechanismus die interpersonelle Vergleichbarkeit in Geld herstellt. Die Präferenzen eines Individuums werden daher, wie sie auch sein mögen, hingenommen. Es liegt an jedem Einzelnen zu entscheiden, was er maximieren möchte. Aus Sicht des Utilitarismus, der einen inhaltlich bestimmten umfassenden Nutzenbegriff anstrebt, kann die ökonomische Analyse des Rechts nie mehr als ein Teilaspekt der praktischen Philosophie sein.106 Der Markt stellt dabei sicher, daß die Waren und Dienstleistungen zu der Person gelangen, die dazu bereit ist, am meisten dafür zu zahlen. Bei unterstellter Zweckrationalität der Beteiligten ist anzunehmen, daß diese Person einen größeren Nutzen ziehen wird, denn sie ist bereit, für die Befriedigung ihrer Präferenz mehr Geld auszugeben als die anderen Marktteilnehmer. Wenn der Markt der Schlüssel zur Bewertung und Vergrößerung von Nutzen ist, so ist der Vertrag, also der freiwillige Austausch von Leistungen, die kleinste Einheit dieser Nutzenhaft Fairneß Argumente gutheißen, wenn doch klar sei, daß dadurch die Wohlfahrt aller leiden müsse). 103 In unserem Beispiel könnte man die normative Forderung erheben, die Gurtpflicht beizubehalten, weil sie zu einer Verminderung der Zahl der Verkehrstoten geführt hat. 104 Eidenmüller Fn. 2, S. 189ff. 105 Parisi/Klick 79 Chi.-Kent L.Rev. 431, 449 (2004) (»giving greatest freedom to individual choice«). 106 Eidenmüller Fn. 2, S. 184 (ökonomische Analyse ist aus Sicht des Utilitarismus »unvollständig«).
II. Ökonomische Analyse des Rechts
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maximierung.107 Der freie Markt basiert auf dem Vertrag. Wenn zwei oder mehr Personen aus freien Stücken einen Vertrag schließen, so deswegen, weil die eine Partei die Leistung der anderen jeweils höher wertschätzt als den nominalen Wert der Gegenleistung. Der Vertrag dient also dazu, den Gewinn aus einem beiderseitig profitablen Unterfangen unter den Parteien aufzuteilen.108 Bei unterstellter Zweckrationalität der Vertragspartner vergrößert der Vertrag den Nutzen aller daran Beteiligten. Wenn die Parteien ihren Nutzen durch den Vertrag nicht maximieren würden, so die plausible Annahme, hätten sie den Vertrag nicht abgeschlossen.109 Weil der Vertrag den Nutzen der Parteien steigert, ist er effizient. Ob er den Nutzen der Parteien steigert, ist jedoch nicht getrennt von den im Vertrag zum Ausdruck gekommenen Präferenzen der Parteien zu bewerten. Der Vertrag ist effizient, weil beide Parteien den dadurch geschaffenen Zustand dem ohne Vertrag vorziehen. Dieser Effizienzmaßstab ist heute bekannt als das nach dem Ökonomen Vilfredo Pareto benannte »Pareto-Kriterium«.110 Vereinfacht besagt dieses Effizienz-Kriterium: Ein Zustand X ist danach einem Zustand Y vorzuziehen, wenn mindestens eine Person X vorzieht und keine Person Y vorzieht. Die Pareto-Effizienz eines freiwillig geschlossenen Vertrages liegt, was die daran Beteiligten betrifft, auf der Hand. Der Marktmechanismus soll also das in Geld meßbare Vermögen maximieren. Darauf ist der Begriff des Nutzens der ökonomischen Analyse beschränkt. Der Marktwert und die Verteilung knapper Ressourcen sind damit die zentralen Elemente der ökonomischen Analyse und ersetzen den schillernden und amorphen Glückseligkeitsbegriff des (frühen) Utilitarismus. Richard Posner, der der ökonomischen Analyse immer wieder entscheidende Impulse gegeben hat, formuliert diesen Zusammenhang auf prägnante Weise: »Wealth is the value in dollars or dollar equivalents (...) of everything in society. It is measured by what people are willing to pay for something or, if they already own it, what they demand in money to give it up. The only kind of preference that counts in a system of wealth maximisation is thus one that is backed up by money – in other words, that is registered in a market.«111
Darüber, ob die Mitglieder einer Gesellschaft deswegen »glücklicher« werden, worum es aber beim »Prinzip der Nützlichkeit« geht, ist nichts ausgesagt. Zwischen Glückseligkeit und Maximierung von in Märkten handelbaren Ressourcen besteht keine notwendige Verbindung. Was zunächst als ein Defizit erscheint, nämlich die Eindimensionalität dieser Nutzendefinition, hat den offensichtlichen 107 108 109 110 111
Craswell in Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III., 4000, S. 1, 18. S. etwa Schwartz/Scott 113 Yale L.J. 541, 544 (2003) Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, S. 293. Im einzelnen Schäfer/Ott Fn. 99, S. 24ff.; Eidenmüller Fn. 2, S. 48ff.; Mathis Fn. 99, S. 44ff. R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 119 (1979).
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
Vorzug der leichteren Bestimmbarkeit. Es ist einfacher, Präferenzen in einem Markt zu messen als darüber zu sinnen, welche Politik das subjektive Glück einer Gesellschaft vergrößert.112 Versteht man die Nutzenmaximierung durch den freien Markt als eine normative Forderung, so ist die Forderung nach einem liberalen Staat ohne weiteres daraus abzuleiten. Darin stimmen der klassische Liberalismus und die ökonomische Analyse überein. Es leuchtet ein: Die Marktteilnehmer selbst wissen über ihre Präferenzen am besten Bescheid. Gerichte und der Staat sollten sich daher zurückhalten mit Interventionen in das Marktgeschehen. Solche sind nur dann gerechtfertigt, wenn der Markt versagt oder eine Transaktion nicht freiwillig erfolgt ist.113 Für das Vertragsrecht bedeutet dies, daß Verträge möglichst unverfälscht durchzusetzen sind.114 Dem gesetzgeberischen wie dem gerichtlichen Paternalismus werden damit enge Grenzen gesteckt. Die ökonomische Analyse des Rechts kann bei Geltung dieser Lehrsätze in der Tat manche »moralische Monstrositäten« vermeiden, die dem Utilitarismus zur Last gelegt werden:115 Einen einzelnen gegen seinen Willen dem Wohle der Gesellschaft zu opfern, scheidet etwa für Richard Posner, wie er immer wieder betont, aus.116 Aus Sicht der Marktphilosophie sei aber nichts dagegen einzuwenden, daß sich jemand als Sklave verkauft oder daß ein Schuldner als Vertragstrafe vereinbart, sein Knie im Falle der Nichtleistung brechen zu lassen: der Markt ist grenzenlos; solange die Teilnehmer solche Versprechen nicht erpressen, sind sie allesamt nutzensteigernd.117 Freilich wäre es naiv anzunehmen, wie natürlich auch Posner einräumt,118 daß man durch Pareto-Effizienz allein den bestmöglichen Nutzen einer Gesellschaft bestimmen könnte: »In most current legal debates, however, none of the rules in question would leave everyone better off.«119
Verträge sowie das Ausnützen einer Rechtsposition wie Eigentum ganz allgemein sind in ihren Auswirkungen nicht auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt: es werden meistens auch Dritte betroffen. Zwar soll sich nach dem berühmten Coa-
112
R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 130 (1979), was im Übrigen auch nicht Aufgabe des Staates
sei. 113
Überblick bei Schwartz/Scott 113 Yale L.J. 541, 609ff. (2003). In diesem Sinne faßt E. Posner die normativen Implikationen der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts zusammen, ders. 112 Yale L.J. 829, 863 (2003). 115 Man könnte einwenden, nur um sie dann sogleich gegen andere einzutauschen, s. Text bei Fn. 117. 116 R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 116 (1979) u.ö. 117 R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 134ff. (1979). 118 R. Posner 8 J. Legal Stud. 103, 114 (1979). 119 Craswell 32 J. Legal Stud. 245, 273 (2003); s. auch R. Posner, Economic Analysis of Law, S. 14 (»few applications in the real world«). 114
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seschen Theorem120 die Zuweisung von Rechtspositionen auf die Effizienz des Ergebnisses nicht auswirken, weil die Beteiligten durch Verträge stets ein alle Interessen wahrendes Ergebnis erzielen können. Jedoch setzt das Theorem das Fehlen von sog. »Transaktionskosten« voraus. Da aber Reibungsverluste, wie noch erklärt werden wird, in der Realität in verschiedenster Form immer auftreten, ist nicht sichergestellt, daß Marktmechanismen allein zu einem effizienten Zustand führen werden. Während man also für die Beteiligten eines Vertrages noch die These aufstellen konnte, daß die Vertragsparteien den durch den Vertrag geschaffenen Zustand dem Zustand ohne Vertrag vorziehen, so ist für die Gesamtwohlfahrt einer Gesellschaft eine solche einfache Lösung nicht möglich. Die Frage, die sich daran anschließt, ist, was an Stelle des konsensfähigen aber nur begrenzt einsetzbaren Pareto-Kriteriums treten soll. Als alternativer Maßstab der Effizienz hat ein Kriterium an Einfluß gewonnen, das nach den Ökonomen Nicholas Kaldor und John Hicks: das »Kaldor-Hicks-Kriterium« benannt ist:121 Ein Zustand X ist gegenüber einem anderen Zustand Y vorzuziehen, wenn die Vorteile der Gewinner beim Zustand X so groß sind, daß sie die Verluste der Verlierer (also derer, die Zustand Y vorgezogen hätten) ausgleichen könnten und immer noch ein Restvorteil übrig bleibt. Daß die Verlierer tatsächlich entschädigt werden, wird nicht verlangt. Denn das wäre nur bei Anwendung des Pareto-Kriteriums erforderlich.122 Stellt man sich eine Gesellschaft vor, in der diese Effizienzformel angewendet wird, ist es viel schwerer als in der »heilen« Pareto-Welt zu begründen, daß die ökonomische Analyse die »moralischen Monstrositäten« des Utilitarismus vermeidet. Denn das Kaldor-Hicks Kriterium entspricht ziemlich genau dem von mir Bentham zugeschriebenen »Gebot der interpersonellen Saldierung«; es lautete:123 Auch dann, wenn die Bilanz einer einzelnen Person in hohem Maße negativ ist, ist die Handlung nach dem Prinzip der Nützlichkeit dennoch geboten, wenn der Nutzengewinn anderer Glieder der Gemeinschaft insgesamt höher ist als der Nutzenverlust des betroffenen Individuums. Freilich geht es beim Kaldor-Hicks »Test« nicht um die »Glücksbilanz« einer einzelnen Person sondern um deren in Marktwert meßbaren Vermögensbestandteile, am Prinzip aber, daß eine Person dem Wohl der Gesellschaft geopfert werden kann, ändert dies, zumal wenn der Markt unbegrenzt ist, nichts.124 Es ist da120 Entwickelt in Coase 3 J. of Law & Economics 1 (1960). Dazu Ulen Fn. 96, S. 810f.; Eidenmüller Fn. 99, S. 59ff. 121 Im einzelnen Schäfer/Ott Fn. 99, S. 31ff.; Eidenmüller Fn. 2, S. 51ff.; Mathis Fn. 99, S. 51ff. 122 Und auch hinreichend, wenn man unterstellt, daß eine Entschädigung in Geld als adäquater Ersatz akzeptiert wird. 123 S. 112. 124 Weicht man vom Pareto-Kriterium ab, wird es oft erforderlich sein, paternalistisch in die Vertragsfreiheit einzugreifen und die Parteien durch zwingendes Recht davor zu »bewahren«, einen »ineffizienten« Vertrag abzuschließen; s. etwa Ayres 112 Yale L.J. 881, 889 (2003). Diese For-
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
her nicht überraschend, daß das Kaldor-Hicks Kriterium (auch und gerade unter Ökonomen) nicht universell anerkannt ist,125 bzw. in seinen Auswirkungen erheblich begrenzt wird.126 Diese Überlegungen zeigen, daß die Maximierung des Nutzens auch in der ökonomischen Analyse nicht ohne Randunschärfen ist und durchaus schwere Quantifizierungsprobleme aufwirft, zumindest sobald mehr als zwei Personen im Spiel sind. Pauschale Aussagen zur Bestimmung der Effizienz sind jedoch, soweit sie über das Erfordernis der Marktbezogenheit hinausgehen, leicht irreführend. In der ökonomischen Theorie ist ein einheitlicher Effizienzmaßstab nicht allgemein anerkannt. Es ist somit immer für die jeweilige Theorie oder das jeweilige Modell herauszuarbeiten, wie die Effizienz bestimmt wurde. Eng verknüpft damit ist auch die Frage, welche Annahmen über die Präferenzen der Beteiligten gemacht werden. Denn obwohl diese Präferenzen scheinbar ohne jegliche Bewertung zu bestimmen sind, arbeiten die meisten Hypothesen, eben weil sie Hypothesen sind, mit idealisierenden Annahmen von Zweckrationalität (»Hyper-Rationalität«). Andere Autoren wiederum versuchen, die in der Realität zu beobachtenden Anomalien und Abweichungen von Hyper-Rationalität zu modellieren (»bounded rationality«).127 Schließlich sind einige Vertreter der ökonomischen Analyse der tatsächlichen Verteilung des Vermögens in einer Gesellschaft bei weitem nicht so neutral eingestellt wie etwa Posner.128 Hält man die Vermögensverteilung für relevant und vertraut nicht allein auf den Markt, benötigt man wiederum, ähnlich wie im Utilitarismus, inhaltliche Kriterien, um zwischen den tatsächlich existierenden Präferenzen in einer Gesellschaft differenzieren zu können. Ungeachtet aller dieser Schwierigkeiten, insofern ist Posner Recht zu geben, hat die ökonomische Analyse erstmals eine formelle Betrachtung und Modellierung von Zweckrationalität ermöglicht, also eine wissenschaftlich fundierte Anwendung eines jeweils im Einzelnen zu definierenden Prinzips der Nutzenmaximierung.129 Über die Geeignetheit dieser Methode zur Bewertung eines Systems derung wird jedoch überwiegend nicht geteilt, vgl. etwa Schwartz/Scott 113 Yale L.J. 541, 548, 618 (2003). 125 S. nur Craswell in Benson (Hrsg.), Theory of Contract Law, S. 19, 20. Auch die Verteidigung von welfare gegen fairness durch Kaplow/Shavell 114 Harv. L. Rev. 961 (2001) gewinnt ihren moralischen Appell gerade unter Hinweis auf Pareto-Effizienz. Zu bedenken ist auch, daß Ökonomen natürlich nicht zwingend Utilitaristen sind, viele sind es nicht. 126 Schäfer/Ott Fn. 99, S. 53, etwa begrenzen das Nutzenprinzip durch aus der Verfassung gewonnene Abwägungsverbote (nur dies könne »einen Konsenstest im Rahmen einer Sozialvertragsdebatte bestehen«). 127 S. etwa Ulen Fn. 96, S. 801ff.; Korobkin/Ulen 88 Cal. L. Rev. 1051 (2000). 128 Vgl. Brion Fn. 101, S. 1046 m.w.N. Die scheinbare »Neutralität« ist einer der Haupteinwänden von Duncan Kennedy in seiner Fundamentalkritik der ökonomischen Analyse des Rechts (33 Stanford L.R. 387, 423ff. (1981)). 129 Selbst Kennedy, der die ökonomische Analyse des Rechts für grundsätzlich unbestimmt und daher fragwürdig hält, räumt ihr insofern eine beschränkte heuristisch sinnvolle Funktion ein; ders. 33 Stanford L.R. 387, 444 (1981).
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von Rechtspflichten ist damit noch keine Aussage getroffen. Es ist im Gegenteil zu vermuten, daß die Struktur hypothetischer Imperative die gleichen Schwierigkeiten bereitet, normative Aussagen zu erklären und zu fundieren, wie sie hinsichtlich des Utilitarismus festgestellt wurden. Bevor jedoch der normative Stellenwert der ökonomischen Analyse untersucht werden kann, ist es sinnvoll, sich einen Überblick über die Ergebnisse der ökonomischen Analyse der Verträge (nicht nur des Vertragsrechts) zu verschaffen.
2. Ökonomie der Verträge Die Mikroökonomie schenkte Verträgen zunächst wenig Aufmerksamkeit. Es dominierte die Unternehmenstheorie (theory of the firm). Verträge wähnte man als rein juristische Konstrukte, jedenfalls seien sie aus ökonomischer Sicht unproblematisch. Aus den idealisierenden Prämissen der sogenannten Walrasischen Theorie folgte nämlich, daß Verträge vollständig und mit dem optimalen Inhalt abgeschlossen und uneingeschränkt durch Gerichte kontrolliert werden können. Eine nähere Beschäftigung mit ihnen erschien daher aus ökonomischer Sicht fruchtlos.130 Diese Modelle beruhten auf der Annahme von uneingeschränkter Rationalität der Akteure, vollständiger und symmetrischer Information der Parteien und perfekt funktionierenden und ebenfalls vollkommen informierten, externen Institutionen. Erst als man begann, diese Prämissen nicht mehr einfach hinzunehmen, war klar, daß Verträge ein sinnvoller Gegenstand der Mikroökonomie werden würden. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist auf diesem Gebiet eine reichhaltige Literatur entstanden, die sich in theoretischer Hinsicht mit der Bildung von Preisen bei Annahme von Transaktionskosten und Informationsasymmetrien und in empirischer Hinsicht mit Verträgen, die den Wettbewerb behinderten, beschäftigte – zunächst jedenfalls.131 Es würde zu weit führen, diese Entwicklung im einzelnen nachzuzeichnen. Eine Skizze ist dennoch vonnöten, um aufzuzeigen, inwiefern und mit welchem Ziel die ökonomische Theorie Aussagen zu Rechtsregeln, also dem Vertragsrecht, trifft. Ohne diesen interdisziplinären Hintergrund zumindest zu streifen, ist es nicht möglich, die Aussagen zur »Effizienz« von Vertragsregeln einzuordnen und zu kritisieren. Es muß gleich eingangs betont werden, daß die sogenannte »ökonomische Analyse« des Vertragsrechts nur ein Aspekt einer viel umfassenderen ökonomischen Theorie ist, die sich in erster Linie nicht mit juristischen Regeln befaßt, sondern mit der Frage, zu welchen Zwecken und/oder mit welchem Inhalt es (zweck-)rational für ein Unternehmen ist, einen Vertrag abzuschließen. Das Hauptziel der ökonomischen Analyse von Verträgen ist, mit den Methoden der Mikroökonomie zu klären, warum Verträge geschlossen werden und wel130 131
Williamson in Brousseau/Glachant (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 49, 50. Brousseau/Glachant in dies. (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 3, 4.
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
chen Inhalt diese haben (sollten). Die Liste der von der ökonomischen Analyse zu untersuchenden Fragen ist schier unerschöpflich und reicht von der günstigsten Dauer der Verträge bis hin zur der Frage, wie genau Vertragsbestimmungen sein sollten. Ein klassisches Beispiel ist die sogenannte »make-or-buy« Entscheidung: Ist es vorteilhafter, einen benötigten »Input« im Unternehmen selbst herstellen zu lassen (vertical integration, Unternehmensmodell), oder es auf dem Markt zu erwerben (Vertragsmodell)? Dieses Unterfangen hat einen theoretischen, oftmals stark formalisierten Teil, bei dem es um die Steigerung einer im Einzelnen jeweils unterschiedlich definierten Effizienz geht, und einen empirischen Teil, bei dem es zu untersuchen gilt, welche Verträge tatsächlich geschlossen werden und welche Auswirkungen sie auf die Ertragslage und das Schicksal des Unternehmens hatten. Empirische Untersuchungen zu Verträgen stoßen naturgemäß auf beträchtliche Hindernisse.132 Ursache der Schwierigkeit ist die Vertraulichkeit der Verträge, die dazu führt, daß umfassende statistische Materialien schlicht nicht vorhanden sind. Meistens können daher nur Fallstudien angestellt werden, deren Verallgemeinerbarkeit nicht selten zweifelhaft ist. In theoretischer Hinsicht haben sich drei Hauptrichtungen herauskristallisiert. Man versteht sie am besten als (lediglich) unterschiedliche Methoden zur Gewinnung von Erkenntnissen über die optimale Verwendung der Handlungsform Vertrag. Die Methoden werden vorliegend nur in den Grundzügen dargestellt, ihre vielfältigen Varianten ausgeblendet. Zudem ist eine Kombination verschiedener Methoden denkbar. In der Tat sind manchmal, gerade bei Studien zu primär juristischen Fragen, die Grenzlinien nicht klar gezogen. Da jedoch die Methoden nicht nur unterschiedliche Prämissen haben, sondern auch mit unterschiedlichen Effizienzbegriffen operieren, ist bei der kumulierten Anwendung allergrößte Vorsicht geboten. a) Incentive Theory An erster Stelle ist die Anreiztheorie (Incentive Theory)133 zu nennen. Diese geht davon aus, daß die Parteien uneingeschränkt rational und externe Institutionen perfekt sind. Die Parteien haben unbegrenzte Kalkulationsressourcen. Desgleichen ist die Information der Parteien und der Gerichte über zukünftige und geschehene Ereignisse vollkommen. Zwar ist der ex post zu beobachtende zukünftige Geschehensablauf ex ante nicht bekannt, es steht jedoch fest, mit welcher Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmte Ereignisse eintreten werden, die also damit ohne Ausnahme voraussehbar sind. Der entscheidende Unterschied zum traditionellen ökonomischen Modell liegt darin, daß zwar die Informationen 132 Überblick bei Masten/Saussier in Brousseau/Glachant (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 273ff. 133 Überblick bei Brousseau/Glachant Fn. 131, S. 8ff.
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vollkommen sind, aber nicht gleich auf die Parteien verteilt sind, jede Partei hat gewisse »private« Informationen (sogenannte »asymmetrische« Informationsverteilung). Die unter-informierte Partei wird unter Anleihe an Stellvertretungsterminologie, die für Juristen etwas irreführend ist, als principal bezeichnet, die andere Partei, die die »private« Information besitzt, als agent. Aus der Asymmetrie der Informationen können sich zwei jeweils unterschiedlich zu lösende Probleme ergeben. Wenn die Variable, über die der principal nur unzureichend informiert ist, vom agent während der Vertragsdurchführung manipuliert werden kann, besteht die Gefahr, daß der agent sie zuungunsten des principals beeinflussen wird. Dies wird als das »moral hazard« Problem bezeichnet.134 Dessen Interesse ist daher, durch Setzen geeigneter Anreize, den agent dazu zu bringen, sich den Interessen des principals konform zu verhalten. Die private Information bezieht sich hier also auf eine versteckte Handlung des agent. Ein Beispiel wäre etwa die Leistungsbereitschaft eines Arbeitnehmers. Diese ist vom Arbeitgeber schwer einzuschätzen, kann aber, vereinfacht gesagt, durch erfolgsabhängige Bezahlung (Bonus) im Sinne des Arbeitgebers beeinflußt werden. Ein weiteres Beispiel wären etwa gewisse Vorkehrungen, die ein Versicherungsnehmer zum Schutz gegen Diebstahl treffen oder eben auch unterlassen kann und die nicht objektiv überprüfbar sind. Auch hier wird der Versicherer Anreize setzen wollen, um den Versicherungsnehmer in seinem Sinne zu beeinflussen. Kann die Variable, über die vollständige Informationen bei einer Vertragspartei fehlen, dagegen nicht manipuliert werden (z.B. die Leistungsfähigkeit eines Bewerbers um einen Arbeitsplatz im Gegensatz zu seiner Leistungsbereitschaft), entsteht das sog. »adverse selection« Problem. In solchen Fällen muß der principal einen anders gearteten Anreiz setzen, um einem möglichst profitablen Vertrag abzuschließen: der agent kann, so die Annahme in diesen Fällen, die Variable nach Vertragschluß nicht verändern; folglich geht es nicht darum, sein Verhalten zu steuern. Die unter-informierte Partei wird dem agent statt dessen ein »Menu« von Verträgen mit unterschiedlich gestalteten Preisen und Leistungen anbieten (incentive price model).135 Dieser wird dann die für ihn günstigste Variante wählen, was dem principal den Schluß auf den Inhalt der privaten Information ermöglicht. Wenn die Information nicht manipuliert werden kann, so kann natürlich auch die Partei, die die Information besitzt, ein Interesse haben, diese Information dem Vertragspartner zu offenbaren, um eine höhere Gegenleistung zu erhalten. Hier handelt also der agent zuerst, indem er seine besondere Leistungsfähigkeit dem principal signalisiert (signaling model).136 Wenn etwa der Gebrauchtwarenhändler eine Garantie für seine Fahrzeuge anbietet, so kann man darin den Versuch se134 135 136
Salanié, The Economics of Contracts, S. 119ff. Salanié Fn. 134, S. 11ff. Salanié Fn. 134, S. 96ff.
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
hen, potentiellen Käufern, die weniger Informationen über den Zustand des Kaufgegenstandes haben, zu »signalisieren«, daß dieser von hoher Qualität ist. Die Incentive Theory konzentriert sich also auf Preisbestimmungen in Verträgen und schlägt zur Lösung des Problems einer (moderaten, auf nur eine Variable bezogenen) Informationsasymmetrie bis ins Detail ausgearbeitete Vertragsbestimmungen vor. Diese Modell-Verträge sind zum Teil äußerst komplex. In der Vertragspraxis kommen sie so gut wie nie tatsächlich vor. Aus Sicht dieser Theorie (die abgesehen von Informationsasymmetrie sonstige Transaktionskosten ausblendet) ist dies freilich überraschend und kann nicht erklärt werden. Denn diese Modelle unterstellen, daß es möglich ist, einen complete contract abzuschließen. b) Incomplete Contract Theory Die sog. »Theorie des unvollständigen Vertrages« (incomplete contract theory)137 geht ebenfalls von uneingeschränkter Rationalität aus. Sie nimmt im Unterschied zu der Anreiztheorie an, daß die vollständige Information sogar symmetrisch auf die Parteien verteilt ist. Die Abweichung vom traditionellen Modell liegt darin, daß die externen Institutionen (die Gerichte) nicht in der Lage sind, alle Variablen, die für die Vertragsdurchführung relevant sind, zu überprüfen.138 Über solche nicht überprüfbaren Variablen kann damit keine sinnvolle vertragliche Einigung getroffen werden. Aus diesem Grund der fehlenden gerichtlichen Überprüfbarkeit bestimmter Variablen sind Verträge notwendig unvollständig. Dennoch ist eine Koordination auch hinsichtlich dieser Variablen wünschenswert, da sonst unter anderem die Gefahr von Übervorteilung und Erpressung (holdups) entsteht. Die Gefahr wird deutlich, wenn man zwei Zeitpunkte unterscheidet. Im Zeitpunkt t1 investieren die Parteien in den (bereits geschlossenen) Vertrag. Der Umfang der Investition ist nicht überprüfbar. Überprüfbar ist nur der sich anschließende Handel zum Zeitpunkt t2. Ex ante und ex post können sich unterschiedliche Ergebnisse als effizient erweisen. Weil sich die Investition ex ante an dem zum späteren Zeitpunkt erzielbaren Handelsergebnis ausrichten wird, ist es sinnvoll, einen gerichtlich durchsetzbaren Rahmen für die späteren Verhandlungen festzulegen, der sicher stellt, daß ex ante jedenfalls in effizientem Umfang investiert wird. Dies wird unter anderem damit sicher gestellt, daß die Partei die investiert mit einem gewissen Mindestergebnis in t2 rechnen kann.139 Hauptaugenmerk die137
Überblick bei Brousseau/Glachant Fn. 131, S. 10ff.; lehrbuchartig Salanié Fn. 134, S. 193ff. Dies wird teilweise als Transaktionskosten definiert. Zu beachten ist jedoch der Unterschied in der Definition dieser Kosten in der Transaktionskostentheorie, vgl. nächster Unterabschnitt. 139 Beispiel einer solchen Argumentation bei E. Posner 112 Yale L.J. 829, 857 (2003): Dem Käufer wird das Recht eingeräumt, zum Zeitpunkt der Leistung ein Preisangebot zu unterbreiten. Da der Käufer damit rechnen muß, daß der Verkäufer nur dann annehmen wird, wenn das 138
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ser Methode ist somit die Entwicklung von Vertragsanpassungsklauseln, mit deren Hilfe das Problem der fehlenden Überprüfbarkeit der getätigten Investitionen überbrückt und die Gesamteffizienz des Vertrages gesteigert wird.140 c) Transaction Cost Theory Am einflußreichsten für die ökonomische Analyse des Rechts war die dritte Hauptrichtung, die Transaktionskostentheorie (transaction cost theory, nachfolgend TCT).141 Sie ist Teil einer grundlegenden Strömung in den Wirtschaftswissenschaften, der sog. »Neuen Institutionen Ökonomie« (New Institutional Economics). Dieser Theorie liegt die Einsicht zugrunde, daß das Wirtschaftsystem von den Institutionen des jeweiligen Landes maßgeblich bestimmt wird.142 Dazu gehört das Rechtssystem, die politische Ordnung, die Sozialsysteme usw. Der Transaktionskosten-Ansatz ist auf ökonomische Organisationsstrukturen (modes of governance) ausgerichtet und untersucht hauptsächlich den Vertrag als marktbezogene Handlungsform. Der zentrale Unterschied zu dem traditionellen Modell besteht jedoch darin, daß die Annahme von uneingeschränkter Rationalität der Akteure aufgegeben wird. Statt dessen geht die TCT davon aus, daß die (Zweck-)Rationalität stets unvollkommen ist (bounded rationality oder Simonsche Rationalität). Eine genaue Definition der Art und Weise, in der die Rationalität eingeschränkt ist, ist bisher nicht erfolgt.143 Erkenntnisse erwartet man sich von empirischen Studien anderer Disziplinen, wie etwa der Psychologie. Solche Studien haben etwa aufgezeigt, daß Personen zur Überschätzung ihrer Fähigkeiten neigen, einmal getätigte Investitionen dazu verleiten, weiter zu investieren, selbst wenn es kostengünstiger wäre, die getätigten Investitionen abzuschreiben (sunk cost Problem), usw.144 Die Auswirkungen dieser »Verhaltensanomalien« sind noch wenig geklärt. Es ist auch zweifelhaft, wie groß der Effekt auf Verträge zwischen Unternehmen ist. Einige Hindernisse sind jedoch von so grundlegender und offensichtlicher Natur, daß sie, trotz der schwierigen empirischen Nachprüfbarkeit, für die ökonomische Systembildung aus Sicht der Neuen Institutionellen Ökonomie berücksichtigt werden müssen: Die Parteien haben keine unbeschränkten Ressourcen zur Kalkulation des besten Ergebnisses, da ihre kognitiven Fähigkeiten und finanziellen Mittel begrenzt sind. Die Informationen, die den Parteien zur VerfüAngebot über seinen Kosten liegt und der Käufer ein solches Angebot nur abgeben wird, wenn sein Nutzen höher ist als die Kosten, erhält er einen Anreiz optimal zu investieren und seinen Nutzen zu erhöhen. 140 Der dabei erreichte Komplexitätsgrad wird von tatsächlich abgeschlossenen Verträgen praktisch nie erreicht, E. Posner 112 Yale L.J. 829, 859 (2003). 141 Überblick bei Brousseau/Glachant Fn. 131, S. 12ff.; Eidenmüller Fn. 2, S. 91ff. 142 Coase in Brousseau/Glachant (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 47 143 S. näher Eidenmüller JZ 2005, 216ff. 144 S. etwa Schäfer/Ott Fn. 99, S. 66ff.
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gung stehen, sind unvollständig und zudem asymmetrisch verteilt. Schließlich treffen diese Einschränkungen in gleicher Weise auf externe Institutionen, wie den Gesetzgeber oder Richter, zu. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, daß diese Form der Rationalität nur schwer zu überprüfen, modellieren oder formalisieren ist.145 Aus dem Vorhandensein dieser Hindernisse läßt sich jedoch ohne weiteres schließen, daß Verträge notgedrungen unvollständig sind.146 Sie sind unvollständig, weil sie nicht die best-mögliche, effizienteste Lösung darstellen und, was nicht gleichbedeutend ist, weil sie nicht für alle Eventualitäten Vorkehrungen treffen.147 Dies ist aus ökonomischer Sicht problematisch und bedarf daher näherer Untersuchung. In den Worten Williamsons: »Such incompleteness is of special concern where human actors are given to opportunism, hence will not reliably self-enforce all promises. Instead they will sometimes behave strategically – by sending false or misleading signals, by interpreting the data to their advantage, by costly repositioning, and by otherwise withholding best efforts to realize mutual gains.«148
TCT begreift den Vertrag oder die Transaktion als die Basiseinheit der ökonomischen Analyse. Der Vertrag in seiner ordnenden Funktion (governance) verkörpert die Lösung eines Konflikts, der, wenn er auftreten würde, die Realisierung eines wechselseitigen Profits vereiteln würde. Williamson folgert: »The concept of contract thus has a pervasive influence on the study of economic organisation.«149
Die wesentlichen Ordnungselemente des Vertrages bestehen nach Williamson in der Intensität der durch ihn gesetzten Anreize (incentives), administrativer Aspekte und nicht zuletzt in dem anwendbaren Vertragsrecht.150 TCT untersucht daher primär, wie sich die Verteilung zwischen den Parteien von Kontrollrechten, Rechten, den Vertrag durchzusetzen und überhaupt Entscheidungen zur Vertragsdurchführung zu treffen auf die Realisierung von wechselseitigem Nutzen auswirkt.151 Dabei werden Mechanismen der Sicherung untersucht, wie man also eine Partei vor opportunistischem Verhalten der anderen schützen und wie man Anreize zu effektiver Selbstbindung schaffen kann, welche Arten von außergerichtlichen Methoden zur Konfliktlösung geeignet sind, wie der institutionelle 145 Brousseau/Glachant Fn. 131, S. 28 (»major shortcoming«); E. Posner 112 Yale L.J. 829, 867 (2003) (»rationality assumptions are not good enough«). 146 Shavell Fn. 109, S. 292, 299f. 147 Die Unvollständigkeit ist hier von der Prämisse der bounded rationality abgeleitet und damit eine andere als die der Incomplete Contract Theory, die den Parteien im Gegensatz zum Gericht »Hyper-Rationalität« zuschreibt. 148 Williamson Fn. 130, S. 53. 149 Williamson Fn. 130, S. 55. 150 Williamson Fn. 130, S. 54. 151 Brousseau/Glachant Fn. 131, S. 15.
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Rahmen beschaffen sein muß, um die Durchsetzung von Verpflichtungen (commitments) glaubhaft zu garantieren usw. Die Grundannahme von TCT ist dabei, daß die Effizienz von alternativen Organisationsformen davon abhängt, welche Transaktionskosten beim jeweiligen Modell anfallen. Optimiert werden also die Transaktionskosten. Effizienz wird daraufhin bestimmt. Diese Ausrichtung auf die Kosten, die etwa durch das Verhandeln eines Vertrages und bei seiner Durchführung anfallen, wird jedoch zunehmend als zu einseitig kritisiert. Furubotn etwa fordert,152 daß sich die Analyse stärker als bisher auf das eigentliche Ziel eines Unternehmens ausrichten müsse, nämlich in ausreichendem Maße Profite zu erwirtschaften. Ausreichend sind die Gewinne, wenn sie das Überleben des Unternehmers ermöglichen. An diesem fundamentalen Ziel sind die Optimierungsprozesse im Unternehmen ausgerichtet. Effizienz ist daher immer nur relativ zur Effizienz anderer Teilnehmer am Marktgeschehen zu verstehen.153 Jeder Input, den ein Unternehmen benötigt, hat zwei Aspekte für die Gesamtwirtschaftlichkeit des Unternehmens: Erstens sind mit ihm zwangsläufig Transaktionskosten verbunden (etwa dem Aushandeln eines Vertrages). Zweitens beeinflußt der Input die Produktivität des Unternehmens.154 Es ist leicht ersichtlich, daß sich ein Unternehmen, wenn es die Gesamtsituation im Auge behält, auch dann für einen Input entscheiden wird, wenn er im Vergleich zu seiner Alternative zwar höhere Transaktionskosten zur Folge hat, aber einen im Vergleich noch höheren Gewinn für die Produktivität mit sich bringt. Die Optimierung der Transaktionskosten kann daher niemals Selbstzweck sein, sondern nur ein Unterziel auf dem Weg zur Steigerung der »Effizienz«, also der Erzielung von Gewinnen, die ein Überleben des Unternehmens sicher stellen. Eine Steigerung der Produktion kann auch aus einer geänderten Verteilung von Eigentums- und Teilhaberechten innerhalb des Unternehmens resultieren, selbst wenn diese im Nebeneffekt Transaktionskosten steigen lassen.155 Hinzu kommt der Einwand, daß TCT die für die Optimierung der Transaktionskosten anfallenden Kosten unterschätzt.156 Ausgehend von den Prämissen der Neuen Institutionen Ökonomie ist jede Entscheidungsfindung, weil sie nicht in einer fiktiven Welt erfolgt, schon an sich selbst kostspielig. Es besteht daher ein Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach Möglichkeiten, die Transaktionskosten zu senken, und den Kosten, die durch diese Suche selbst anfallen. Wenn der Wert der Optimierung unter dem des Aufwands zu seiner Erzielung bleibt, ist die Senkung der Transaktionskosten nicht effizient. Es sind daher in jedem Unternehmen schwierige und letztlich nie vollkommen nachprüfbare Entscheidungen zu treffen, welche Strategie zur Steigerung der Gewinne verfolgt wird. Die ideale 152 153 154 155 156
Furubotn in Brousseau/Glachant (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 72ff. Furubotn Fn. 152, S. 88ff. Furubotn Fn. 152, S. 76. Furubotn Fn. 152, S. 83ff. Furubotn Fn. 152, S. 78ff.
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Lösung bleibt in einem neo-institutionellen System dem Menschen verborgen. Dies selbst dann, wenn sie einmal zufällig tatsächlich verwirklicht werden sollte.157 Diese Einsichten lassen es zumindest zweifelhaft erscheinen, daß die Incentive Theory (Anreiztheorie) sowie die Incomplete Contract Theory (Theorie des unvollständigen Vertrages) mit ihren komplexen und sehr einzelfallabhängigen Vertragskonstruktionen einen durchschlagenden Erfolg in der Unternehmenspraxis erzielen werden. Dem Unternehmen stehen nun mal nicht unbegrenzte Kalkulationsressourcen und vollständige Informationen zur Verfügung. Unternehmen wenden vielmehr oft nur »Faustregeln« an, orientieren sich an überwiegend akzeptierten Praktiken oder den Handlungen anderer erfolgreicher Unternehmen im Markt, soweit diese nach außen wahrnehmbar sind. Um so wichtiger sind vor diesem Hintergrund die durch das Vertragsrecht verfolgten Ziele. Je genauer sich das Vertragsrecht dem Regelungsbedarf von Unternehmensverträgen annähert, desto weniger Aufwand ist von Unternehmensseite für die Vertragsgestaltung erforderlich, desto »unvollständiger« können diese Verträge dann sein, ohne daß dies im Regelfall zu dramatischen Effizienzverlusten führt. Wir kommen damit zu den Bedürfnissen, die ein Vertragsrecht aus ökonomischer Sicht erfüllen sollte.
3. Die Aufgabe des Vertragsrechts aus Sicht der Ökonomie Die traditionelle neo-klassische Ökonomie geht von der uneingeschränkten Durchsetzung von Verträgen aus. Davon abgesehen werden keine Forderungen an das Vertragsrecht herangetragen. Vertragsrecht und Vertragsgestaltung rücken erst in neueren ökonomischen Theorien in das Blickfeld. Von diesen Theorien des Vertrages konzentrieren sich die Anreiztheorie und die Theorie des unvollständigen Vertrages im Wesentlichen auf die Vertragsgestaltung. Die Parteien haben es in der Hand, die optimale Steigerung des wechselseitigen Gewinnes durch Setzen von gezielten Anreizen und komplexe Verhandlungsstrategie sicher zu stellen. Auch diese Theorie sieht also wie die traditionelle Theorie die Hauptfunktion des Vertragsrechts darin, die Einhaltung der Verträge zu garantieren und damit eine verläßliche Grundlage für die Dispositionen der Parteien zu schaffen. Es ist eine Prämisse dieser Modelle, daß die in den Verträgen verkörperte Selbstbindung der Parteien glaubhaft ist. Andernfalls verfehlt das komplexe Regelungsgefüge des (idealen) Vertrages sein Ziel. Der Vertrag taugt dann nicht als Basis, um die Aktionen der Parteien verläßlich vorauszuplanen und Ressourcen durch Vertrag effiziente zu verteilen.158 Soweit ein Gericht als externe Institution bestimmte, für 157
Furubotn Fn. 152, S. 91. Um das Beispiel der Bonuszahlung wieder aufzugreifen. Wenn der Arbeitnehmer nicht damit rechnen kann, daß der Arbeitgeber zur Auszahlung der vereinbarten Bonuszahlung gezwun158
II. Ökonomische Analyse des Rechts
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den Vertrag wichtige Variablen nicht überprüfen kann, ist dies den Parteien bewußt. Als rationale Akteure werden sie ex ante bereits bei Vertragsschluß dafür Vorsorge treffen. Auch insofern ist also die gerichtliche Sanktionierung des Vertrages zur Erreichung der von dieser ökonomischen Theorie modellierten Effizienzwirkungen unerläßlich. Die Forderung an das Vertragsrecht und die gerichtliche Praxis ist daher einfach: Die von den Parteien getroffene Vereinbarung ist ohne Ausnahme und inhaltlich uneingeschränkt durchzusetzen. Griffe ein Richter in die von den Parteien getroffene Abrede ein, so würde das gesamte, in der Regel subtile und komplexe Vertragsgefüge zusammen brechen. Schwerwiegend wäre es auch, wenn bestimmte vertragliche Pflichten gar nicht gerichtlich erzwungen werden könnten, denn dann wäre eine entsprechende Selbstbindung der Parteien nicht glaubhaft. Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und das Absehen von Inhaltskontrolle sind daher die notwendigen Bedingungen für das Gedeihen einer auf den Einzelfall abgestimmten Kautelarpraxis bei Unternehmensverträgen. TCT geht demgegenüber davon aus, daß die Parteien in der Realität nicht in der Lage sind, den optimalen, also vollständigen Vertrag zu schließen.159 Dies ist der Tatsache geschuldet, daß Verträge nicht in einem fiktiven Universum ohne Reibungsverluste sondern in einem von vielfältigen Transaktionskosten geprägten Umfeld geschlossen werden. Diese bestehen in der Asymmetrie von Informationen, deren Unvollständigkeit sowie dem Aufwand, der durch Informationssuche, Entscheidungsprozesse und Verhandlungen verursacht wird. Einigen dieser Einschränkungen unterliegen in gleichem Maße die Gerichte und der Gesetzgeber. Auch ihnen stehen nicht vollständige Informationen zur Verfügung und auch sie haben nicht unbegrenzte Kalkulationsressourcen. Vor diesem Hintergrund der Neuen Institutionen Ökonomie haben Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts eine Reihe von Funktionen identifiziert, die das Vertragsrecht im Hinblick auf Verträge zwischen Unternehmen aber auch darüber hinaus im Bereich der Verträge mit Verbrauchern erfüllen sollte.160 Einige wichtige seien hier gestreift. Primäre Aufgabe des Vertragsrechts ist es, die vertraglich übernommene Pflicht effektiv durchzusetzen.161 In dieser Hinsicht besteht also Einklang zwischen den verschiedenen ökonomischen Richtungen. Die Art und Weise der Durchsetzung ist jedoch im einzelnen umstritten.162 gen werden kann, hat er keinen Anlaß, seine Leistung zu steigern. Die Anreizwirkung des Vertrages geht verloren. 159 Shavell Fn. 146, S. 292, 299ff. 160 Überblick bei Schwartz in Brousseau/Glachant (Hrsg.), The Economics of Contract, S. 116ff.; Schwartz/Scott 113 Yale L.J. 541 (2003); Shavell Fn. 146, S. 294. 161 Schwartz Fn. 160, S. 120. 162 Schwartz Fn. 160, S. 118. Es wird etwa vorgeschlagen, Vertragsänderungen, die auf dem Ausnutzen von sunk cost Investitionen beruhen, nicht gelten zu lassen. Verträge, die auf Betrug beruhen, nicht durchzusetzen, ist eine weitere von der ökonomischen Analyse unterstützte (und wenig kontroverse) Regel des Vertragsrechts. Ein zentrales Thema ist schließlich etwa, ob Scha-
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
Ein zweiter Aufgabenkomplex bezieht sich auf die Erklärung selbst, also die Ermittlung der Intention der Parteien und der Standardisierung von Vertragsklauseln. Der Staat kann zunächst ein Vokabular zur Verfügung stellen, daß die Parteien verwenden können und dessen Bedeutung autoritativ festgelegt ist.163 Dies kann etwa in einem Gesetz geschehen, oder die Gerichte können sich an Handelsbräuchen orientieren. An der Effizienz dieser Vorgehensweise bestehen wenig Zweifel, da sie offensichtlich den Parteien Transaktionskosten ersparen kann. Gerichte müssen darüber hinaus Verträge im Einzelfall auslegen. Ziel dabei ist es, die Bedeutung der verwendeten Erklärungszeichen im konkreten Fall zu ermitteln. Hauptstreitpunkt ist dabei, ob Verträge möglichst wörtlich auszulegen sind, oder auch ein Beweis aus dem Gesamtumständen des Vertragschlusses zulässig sein soll.164 Die Regulierungszwecke des Vertragsrechts lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Zwei Mittel der Regulierung sind zu unterscheiden: Zum einen kann durch zwingendes Recht ein bestimmtes Regelungsziel verwirklicht werden.165 Diese können dem Schutz der Vertragsparteien selbst dienen (paternalistische Normen) oder nachteilige Folgen für vertragsfremde Dritte abzuwenden suchen (zur Vermeidung von Externalitäten). Zum anderen kann dispositives Recht (default rules) geschaffen werden, das also zur Anwendung kommt, wenn die Parteien keine abweichende Vereinbarung getroffen haben. Solche dispositiven Regeln haben zwar nur den Charakter eines Regelungs-»Vorschlags«, zwingen die Parteien jedoch zu einem opt-out, wenn sie den Vorschlag ablehnen. Sie können nach Schwartz166 weiter unterteilt werden in Regeln, die den erzielbaren Gesamtgewinn erhöhen, Regeln, die den Informationsfluß zwischen den Parteien lenken und schließlich Regeln, die der Fairneß zum Durchbruch verhelfen wollen. Dispositives Recht, das aus Gründen der Fairneß in die Vertragsbeziehung eingreift, wird von den Vertretern der ökonomischen Analyse oftmals abgelehnt, da diese Regeln im Einzelfall das Ergebnis der Anwendung der nutzenmaximierenden Regeln verschlechtern, also den Gesamtgewinn minimieren, können. Unternehmen, wenn sie zweckrational handelten, müßten in einem solchen Fall danach trachten, die »fairen« aber ineffizienten Regeln durch abweichende Vereinbarung zu umgehen, was unnötige Transaktionskosten verursache. Die Vertreter der ökonomischen Analyse zeigen sich allerdings auch bemerkenswert skeptisch, was die Schaffung von effizienzsteigerndem dispositivem Recht angeht. Die Notdensersatz oder Erfüllungszwang die effizientere Methode der Durchsetzung von Verträgen darstellt und in welcher Höhe Schadensersatz zu leisten ist. Dies wird zu vertiefen sein. Vgl. S. 229ff., 310ff. unten. 163 Schwartz Fn. 160, S. 121. 164 Schwartz Fn. 160, S. 121. 165 Ayres 112 Yale L.J. 881, 886ff. (2003), der der Auffassung ist, daß die ökonomische Analyse wesentlich zum Verständnis und zur Rechtfertigung solcher Eingriffe in die Vertragsfreiheit beigetragen habe. 166 Schwartz Fn. 160, S. 117ff.
II. Ökonomische Analyse des Rechts
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wendigkeit bestimmte modes of governance anzubieten (also Gesellschaftsformen, Insolvenzrecht usw.) steht dabei außer Frage. Problematisch seien dagegen Regeln, die für einzelne Sachfragen eine effiziente Lösung erzielen sollen.167 Da sowohl gesetzgeberische als auch gerichtliche Tätigkeit Zeit und Geld kosten, sei dies allenfalls dann gerechtfertigt, wenn die zu lösenden Probleme von hinreichender Allgemeinheit seien. Obwohl die Probleme im Wirtschaftsrecht oft allgemeiner Natur sind, seien es die Lösungen dieser Probleme in der Regel jedoch nicht. Das dispositive Recht müßte danach fast denselben Grad an Bestimmtheit erreichen, wie die Gesamtzahl der Verträge im Wirtschaftleben. Dies ist offensichtlich nicht praktikabel. Zurückhaltung sollte der Staat aus ähnlichen Erwägungen auch hinsichtlich von Regeln üben, die eine Asymmetrie von Informationen ausgleichen sollen.168 Schließlich beschäftigt sich die ökonomische Analyse mit der Frage, ob und wie sich die nachträgliche Änderung von Umständen, die für die Gewinnerwartungen der Parteien relevant sind – der Geschäftsgrundlage im weitesten Sinne – auf die ursprüngliche Vereinbarung auswirken sollte. Hier lassen sich Versuche unterscheiden, durch gerichtliche ex post Anpassung des Vertrages eine effizientere bzw. eine fairere Verteilung von Nutzen und Lasten zu erreichen. Gegen die Fairneß einer ex post Verteilung zeigen sich die Vertreter der ökonomischen Analyse wiederum zurückhaltend bis ablehnend, weil sie keine Prinzipien anerkennen, wonach eine solche nicht auf dem Vertrag selbst beruhende Güterumverteilung gerechtfertigt wäre. Aber auch die Steigerung der Effizienz durch ad hoc ex post Lösungen wird kritisch gesehen. Wenn die Parteien im Nachhinein vollständige Informationen haben, werden sie durch Verhandlungen das effiziente Ergebnis selbst erzielen. Wenn dies aufgrund von Informationsasymmetrie scheitert und der Fall vor Gericht kommt, ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, daß das Gericht ausreichende Informationen hat, um ex post zu einer effizienten Lösung zu gelangen.169
4. War die ökonomische Analyse des Vertragsrechts »erfolgreich«? Die ökonomische Analyse des Rechts dürfte in den Vereinigten Staaten mittlerweile die einflußreichste Theorie an juristischen Fakultäten geworden sein. Von Anfang an gab es heftige Kontroversen um die Berechtigung und den Erfolg dieser Methode. Bemerkenswert sind zunächst (und nur um diese soll es im vorlie167 Schwartz Fn. 160, S. 122f. Als Beispiel führt er die Regel aus dem Uniform Commercial Code an, wonach der Verkäufer für alle Gefahren haftet, die von einem Produkt ausgehen. Diese Regel werde regelmäßig ausgeschlossen und führe somit zur Verschwendung von Ressourcen. 168 Schwartz Fn. 160, S. 123. 169 Schwartz Fn. 160, S. 120; ähnlich Eidenmüller AcP 197 (1997), 80, 105ff., der auf die Maximen des Zivilverfahrens hinweist, die der Einbeziehung ökonomischer Erwägungen nicht förderlich seien.
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§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
genden Abschnitt gehen) die Untersuchungen, die versuchten, vom Standpunkt der ökonomischen Analyse aus aufzuzeigen, daß diese keine zufriedenstellende Analyse juristischer Probleme liefern konnte. Viel beachtet wurde etwa Duncan Kennedys subtil begründete These,170 daß das Kriterium der Effizienz zu unbestimmt sei, um es auf ein vollständiges System des Privatrechts anzuwenden. Vielmehr seien an zentralen Stellen genuin politische Entscheidungen über die Verteilung von Rechtsmacht (entitlements) zu treffen, die durch Effizienz Argumente nicht gelöst werden könnten. Erst danach könne die ökonomische Analyse mit dem Ziel eingesetzt werden, die aus diesen Grundentscheidungen sich ableitenden Folgen aufzuzeigen.171 In die gleiche Kerbe schlägt Anita Bernstein, wenn sie behauptet, daß sich die Erwartungen, die mit den drei zentralen Annahmen der ökonomischen Analyse verknüpft waren, nicht erfüllt haben:172 So sei der neoklassische Begriff der Rationalität viel zu weit entfernt von der Realität, um wirklich brauchbare Vorhersagen zu treffen oder Phänomene ex post zu erklären. Ähnlich schillernd und inhaltlich instabil sei die Forderung nach Effizienz oder Wohlfahrt (welfare) und letztlich auch die Definition des Marktes selbst. Der Grundsatz, daß die Gewinner einer bestimmten Maßnahme mehr gewinnen als die Verlierer verlieren sollten (Kaldor-Hicks Kriterium), sei für den Gesetzgeber letztlich ungeeignet.173 Für den Bereich des Vertragsrechts ist Eric Posner in einer Gesamtschau der letzten dreißig Jahre zu dem Schluß gekommen, daß die ökonomische Analyse »gescheitert« sei.174 Sowohl die einfacheren Modelle der Anfangszeit als auch die späteren komplexeren Analysen konnten Vertragsrecht nicht vorhersagen oder beruhten auf Variablen, deren Wert praktisch nie gemessen werden kann. Deshalb seien die Vorhersagen unbestimmt und die normativen Forderungen unplausibel. Posner untersucht sodann die Ergebnisse und Empfehlungen für die einzelnen Themen des Vertragsrechts (Leistungsstörungen, Irrtumsregelung, Auslegung usw.) und zeigt auf, daß sich die einzelnen Studien widersprechen, bzw. nur für eine eingeschränkte, unrealistisch enge Zahl von Rahmenbedingungen zutreffen. Schwerwiegend sei vor allem, daß der Widerspruch letztlich mangels verläßlicher empirischer Daten nicht aufgelöst werden könne.175 Diese empirische Basis fehlt wiederum deswegen, weil die Rationalitätsannahmen nicht ausgereift genug sind und daher die Realität nur unzureichend abbilden.176 Auf einzelne seiner Argumente wird im Rahmen der einzelnen Leistungsstörungen noch zurückzukehren sein. Die Frage, die sich hier an diese Beobachtungen anschließt, ist diese: Wenn 170 171 172 173 174 175 176
Kennedy 33 Stanford L.R. 387, 388 (1981). Kennedy 33 Stanford L.R. 387, 444 (1981). Bernstein 64 Maryland L.R. 101, 105ff. (2005). Bernstein 64 Maryland L.R. 101, 123 (2005). E. Posner 112 Yale L.J. 829, 830, 834 (2003). E. Posner 112 Yale L.J. 829, 839, 841, 853 u.ö. (2003). E. Posner 112 Yale L.J. 829, 867 (2003).
II. Ökonomische Analyse des Rechts
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diese »endogene« Kritik auch nur teilweise zutrifft, ist es dann nicht sinnlos, sich mit ökonomischer Analyse zu beschäftigen? Die Antwort hängt davon ab, welcher Maßstab an den »Erfolg« einer juristischen Theorie angelegt wird. Wenn etwa das Ziel verfolgt würde, aufzuzeigen, daß das Common Law als Gesamtsystem effizient sei,177 so wäre das Scheitern der ökonomischen Analyse in der Tat handgreiflich, denn ein solcher Nachweis läßt sich nicht führen. Ian Ayres verwehrt sich gegen solche Einwände zu Recht, wenn er geltend macht, daß es der ökonomischen Analyse nicht darum gehe, einen Mechanismus bereit zu stellen, mit dessen Hilfe man den Inhalt des geltenden Rechts vorhersagen könnte.178 Vielmehr habe die ökonomisch Analyse durchaus beachtliche Erfolge als normatives Programm erzielen können.179 Freilich seien die Zusammenhänge komplex, jedoch ließen sich mit Hilfe der ökonomischen Analyse klarere Schlußfolgerungen in konkreten Situationen ziehen als ohne sie, so daß Gesetzgeber gut beraten wären, diese Methode zu verwenden, auch wenn nicht alle empirischen Untersuchungen eindeutig seien.180 An dieser Kontroverse läßt sich ablesen, daß systemimmanente Einwände nur begrenzt tragfähig sind und die grundlegende Frage nach der Relevanz der Folgenbetrachtung nicht beantworten. Die Sinnfrage der ökonomischen Analyse des Rechts läßt sich nicht auf Kritik an Einzelaspekten der ökonomischen Modelle juristischer Phänomene reduzieren.181 Man stelle sich vor, Kenntnisse über Statik wären noch nicht ausgereift und Studien dazu widersprüchlich oder unbestimmt. Es ist unter diesen Umständen dennoch sinnvoll, das bruchstückhafte Wissen darüber beim Hausbau zu berücksichtigen und weiter in diese Richtung zu forschen. Für die ökonomische Analyse des Rechts ist die Folgenabschätzung und Effizienzsteigerung wie die Statik beim Hausbau. Intra-systematischen Einwände sind somit prinzipiell ungeeignet, die ökonomische Analyse des Rechts grundlegend in Frage zu stellen. Die Erwiderung Richard Craswells auf Posners Bilanz bringt dies in aller Klarheit zum Ausdruck: »On my view, the problem with disregarding economics (even partial economics) is that it throws away information about factors that really matter. That is, if we care at all about how many breaches occur, or whether buyers overpay for products, or about any of the ot-
177 Skeptisch bereits Rubin J. Legal Stud. 51 (1977), aber immerhin eine Tendenz zu Effizient feststellend. 178 Ayres 112 Yale L.J. 881 (2003). 179 Ayres 112 Yale L.J. 881, 885 (2003). 180 Ayres 112 Yale L.J. 881, 884 u.ö. (2003), wo er im Einzelnen ausführt, welche Empfehlungen der ökonomischen Analyse trotz Unsicherheiten im Detail tragfähig sind. 181 Dasselbe gilt in gleicher Weise für Kritik an deontologischen Ansätzen, die einzelne Aspekte oder Autoren herausgreifen und ihnen Unbestimmtheit der Aussagen oder Irrelevanz der Schlußfolgerungen vorwerfen. Für ein bekanntes Beispiel einer solchen Kritik s. Craswell 88 Mich.L. Rev. 489 (1989), der allerdings methodisch einwandfrei seine Schlußfolgerung der Unbestimmtheit auf die konkret untersuchten Theorien beschränkt.
142
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts
her factors that economics studies, then it behooves us to know as much as we can about those effects, rather than deliberately closing our eyes to them.«182
Die entscheidende Frage ist,183 ob die folgenorientierte Analyse oder eine deontologische »Basistheorie« normativ vorzugswürdig ist: Hält man die Untersuchung der Effizienz von Regeln für generell oder im Einzelfall wünschenswert, so ist ungeachtet der von Erik Posner monierten Defizite an dieser Methode festzuhalten. Es geht dann nicht um ein »Alles oder Nichts«, sondern um den stetigen Fortschritt im Kleinen durch hartnäckige Einzeluntersuchungen. Hält man die ökonomischen Auswirkungen des Vertragsrechts für den Schlüssel zu der Bewertung von Regeln, so ist zur Untersuchung dieser Folgen das Methodenarsenal der Ökonomie heranzuziehen. Dann ist in der Tat die Empirie ein »unerwarteter Gast« in der Fakultät der Rechtswissenschaft und wissenschaftlicher Fortschritt erstmals nach dem Maßstab der theoretisch-empirischen Erkenntnis meßbar.184 Die zweifellos bestehenden Schwierigkeiten sind dann als Herausforderungen zu begreifen, deren Lösung die Wissenschaftlichkeit des Rechts letztlich ausmachen wird.185 Steht man konsequentialistischen Theorien dagegen ausnahmslos ablehnend gegenüber, würden empirische Untersuchungen selbst dann sinnlos sein, wenn sie belastbare Ergebnisse zeitigten. Die Frage, welchen Maßstäben eine juristische Theorie genügen muß, meinte Erik Posner offen lassen zu können.186 Er ist deswegen den Nachweis seiner These, daß die ökonomische Analyse des Vertragsrechts gescheitert sei, schuldig geblieben.187 Im folgenden Kapitel muß daher die normative Reichweite der ökonomischen Analyse zumindest für das Vertragsrecht geklärt werden.
182 183
Craswell 112 Yale L.J. 903, 915 (2003). S. auch Kraus in Coleman/Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence, S. 687,
749ff. 184 Ulen 79 Chi.-Kent L.Rev. 403ff. (2004), der in der Annäherung an die traditionellen empirischen Wissenschaften den Charakter von Wissenschaftlichkeit des Rechts sieht. 185 Eidenmüller JZ 2005, 216 (»juristische Grundlagenforschung«). 186 E. Posner 112 Yale L.J. 829, 867 (2003). 187 So zu Recht Craswell 112 Yale L.J. 903ff. (2003).
§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht In den ersten Kapiteln dieser Arbeit wurde der Schutz subjektiver Rechte des Privatrechts als Eckpfeiler der vorliegend vertretenen Vertragstheorie vorgestellt. Gewissermaßen als Anti-These zu diesem deontologischen System wurde sodann die Extremform des Utilitarismus eingeführt. Dieses Gegenmodell wurde bereits wegen normtheoretischer Erwägungen als Grundlage einer Vertragstheorie verworfen. Lediglich den abgeschwächten Formen eines Regelutilitarismus konnte Geeignetheit als juristische Theorie attestiert werden. Die Bedeutung des Utilitarismus1 und der ökonomischen Analyse2 für das Vertragsrecht muß in diesem Kapitel abschließend untersucht werden. Der normative Stellenwert der Zweckrationalität bedarf jedoch in einem deontologischen System der besonderen Begründung. Die vorliegende Untersuchung zeigt den äußeren Rahmen einer solchen auf subjektiven Rechten und unbedingten Rechtspflichten aufbauenden Vertragstheorie auf, innerhalb dessen Mittel-Zweck Relationen, hypothetische Imperative, oder Klugheitsregeln Gültigkeit beanspruchen können. Inwiefern die ökonomische Analyse oder Zweckrationalität ganz generell normativ relevant ist, wird vorliegend vom Standpunkt der Kantisch/Savignyschen Tradition aus bestimmt. Die entscheidende Frage ist, ob folgenorientierte oder sonst teleologische Argumente für das Vertragsrecht relevant sind, ob zwischen der deontologischen These und der konsequentialistischen Antithese eine »Synthese« denkbar ist. Dabei kann es nicht darum gehen, folgenorientierte Argumente beliebig mit Fairneß-Topik zu kombinieren, sondern allein darum, den normativen Stellenwert der ökonomischen Analyse in einem im Ausgangspunkt deontologischen System von Regeln des Vertragsrechts nach allgemeinen Kriterien zu bestimmen. Sollte diese »Synthese« möglich sein, so wäre der Nachweis einer »hybriden« Vertragstheorie, wie sie in den einleitenden Passagen der vorliegenden Untersuchung in Aussicht gestellt wurde, nunmehr vollständig. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Die ökonomischen Analyse hat im Bereich des Vertragsrechts nur eingeschränkte normative Relevanz. Diese ist vermittelt durch die Interessen der Vertragsparteien. Diese Argumentation werde ich in fünf Stufen entwickeln.
1 2
Dazu S. 108ff. Dazu S. 122ff.
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
In einem ersten Schritt sind die Erkenntnisse der Untersuchung des ExtremUtilitarismus auf die ökonomische Analyse zu übertragen. Nur ein zweistufiges Modell der Normrechtfertigung hat normative Aussagekraft. Einstufige Modelle, die in jedem Einzelfall fragen, ob eine Handlung aufs Ganze gesehen vorteilhaft ist, eignen sich nicht als juristische Theorien. Zweitens, wenn man auf der Ebene der Rechtfertigung allgemeiner Regeln den Schutz (angeborener oder erworbener) subjektiver Rechte ernst nimmt, verbietet sich die interpersonelle Saldierung. Das Kaldor-Hicks Kriterium ist daher für die Rechtfertigung des Vertragsrechts ungeeignet. Wenn es, drittens, Personen grundsätzlich freisteht, Verträge mit beliebigem Inhalt zu schließen, so werden sie dies tun, wenn sie sich davon die Steigerung ihres Wohlstands oder ihrer Glückseligkeit versprechen: Die Motivation der Parteien kann durch hypothetische Imperative bestimmt sein, die einerseits der ökonomischen Analyse angehören oder ganz allgemein utilitaristischer Natur sind. Viertens ist im Rahmen der Auslegung der wirkliche oder objektiv zurechenbare Wille der Parteien zu erforschen. In diesem Rahmen kommt es auf die Intentionen der Parteien, wie sie aus den Umständen ersichtlich sind, an. Die Auslegung ist für die Rechtsanwendung im Einzelfall immer von Bedeutung. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber bemüht, die Interessenlage bei bestimmten, immer wieder vorkommenden Verträgen zu typisieren und verallgemeinernde Regeln zu schaffen, die den mutmaßlichen Willen der Parteien verkörpern sollen. Es folgt, schließlich, eine eingeschränkte normative Relevanz der Folgenbetrachtung für Rechtsanwendung und Gesetzgebung. Nicht weil der Gesetzgeber versuchen sollte, die Wohlfahrt den Parteien aufzuoktroyieren, sondern im Gegenteil, einen erkennbaren Willen der Parteien, diesen dienend, in typisierender Weise oder im Einzelfall Rechnung zu tragen und durch Anwendung folgenorientierter Methoden »zu Ende zu denken«.
I. Hypothetische Imperative und Rechtspflicht Die ökonomische Analyse des Rechts in ihrer radikalsten Form ist ausschließlich an dem Ergebnis eines Rechtsfalles interessiert. Ist dieses effizient, so sind die dabei angewendeten Regeln gute Regeln; ist ein anderes Ergebnis effizienter, so sind andere Regeln, die zu diesem Ergebnis führen, besser. Die Regeln selbst sind immer nur Mittel zum Zweck, ein effizientes Ergebnis zu sichern. Regeln sind kein Selbstzweck. Es bleibt immer möglich, gegen die Anwendung einer Regel einzuwenden, daß eine normwidrige Handlung auf das Ganze gesehen, die bessere Handlung sei und daher vorgenommen werden »soll«. Regeln kommen in diesem System nur als Faustregeln, als hypothetische Imperative vor. Der Grund für die Vornahme der Handlung y ist identisch mit dem Grund fur die Regel, die y vorschreibt. Wenn Gegengrunde in der Abwägung überwiegen, so entfällt die Rechtfertigung der Regel. In diesem einstufigen Modell von Regeln sind kategorische
I. Hypothetische Imperative und Rechtspflicht
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Imperative nicht denkbar. Die radikale Form der ökonomischen Analyse ist daher ebensowenig wie die Extremform des Utilitarismus (der Handlungsutilitarismus) in der Lage, normative Aussagen wie sie für ein Rechtssystem kennzeichnend sind, zu erklären oder zu rechtfertigen.3
1. Die Effizienz-Regel als einstufiges Modell Es mag sinnvoll sein, ein Beispiel für den schwachen normativen Status von Regeln in der »radikalen« Form der ökonomischen Analyse zu geben. Nach einer berühmten Analyse von Posner und Rosenfield,4 der etwa das Lehrbuch von Schäfer und Ott folgt,5 sind die Unmöglichkeitsregeln danach zu beurteilen, ob sie im Einzelfall sicherstellen, daß der »bessere Risikoträger« (»better risk bearer«) den Schaden erleidet. Wenn ein Ereignis durch angemessene Vorsorge nicht vermeidbar war und durch den Vertrag die Risikoverteilung nicht geregelt wurde, so soll der Schuldner nur dann haften, wenn er besser als der Gläubiger in der Lage ist, daß Risiko des Leistungshindernisses zu versichern (»cheapest insurer«).6 Dies sei in der Regel der Fall. Diese Regeln über Unmöglichkeit sind empirisch gerechtfertigt, wenn sie den Schaden dem »besseren Risikoträger« zuweisen. Sie sind es nicht, wenn die Folgenhypothese nicht zutrifft, was wiederum nur durch empirische Untersuchungen geprüft werden kann.7 Dem Schuldner steht es jedenfalls im Einzelfall frei, auf die Versicherbarkeit des Risikos durch den Gläubiger zu verweisen, und damit den Regeln über die Haftung die Grundlage zu entziehen.8 Das ist deswegen möglich, weil die Gründe für die Haftung mit den Gründen für die Regel, die die Haftung anordnet, identisch sind. Die Anordnung der Haftung wiederum ist hypothetisch bedingt durch die Steigerung der Effizienz der Ressourcenverteilung zwischen den Beteiligten. Der Einwand der Unmöglichkeit ebenso wie die Anordnung der Haftung wären nicht mehr als Faustregeln für ein effizientes Ergebnis. Die derzeit geltenden Haftungsregeln wären allemal falsch, weil sie auf die Versicherbarkeit des Risikos keine Rücksicht nehmen. Der Grundgedanke, der diese ökonomischen Analyse der Unmöglichkeitsregeln leitet, läßt sich allgemeiner so formulieren: Verträge sind durchzusetzen, wenn dies auf das Ganze gesehen effizient ist. Die Folgen der Vertragsdurchführung oder Nichtdurchführung sind somit der Grund, die Pflichten aus dem Ver3
S. 116ff. Vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 176. R. Posner/Rosenfield 6 J. of Legal Stud. 83 (1977). 5 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 407. 6 R. Posner/Rosenfield 6 J. of Legal Stud. 83, 90 (1977). Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 88 (1995), ebenfalls auf dem Boden einer Folgenbetrachtung argumentierend, wendet dagegen unter anderem ein, daß ohnehin Versicherungen das Risiko am besten beurteilen könnten und daher das Argument der Versicherbarkeit unschlüssig ist. 7 R. Posner/Rosenfield 6 J. of Legal Stud. 83, 117 (1977). 8 Posner/Rosenfield 6 J. of Legal Stud. 83, 90 (1977). 4
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
trag durchzusetzen. Versprechen sind folglich nicht mehr als Behauptungen, daß es einen Grund für die im Vertrag versprochene Handlung y gibt. Ob der Grund tatsachlich besteht, gleichgültig, ob zum Zeitpunkt des Versprechens oder zum späteren der Fälligkeit, entscheidet darüber, ob das Versprechen »bindend« ist. Das Versprechen enthält keinen davon unabhängigen Grund, y zu tun. Die »Effizienz-Regel« dieser radikalen Version der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts lautet: Ein Vertrag ist durchzusetzen, wenn dies effizient ist. Dies ist keine den Vertragsregeln des BGB vergleichbare Regel, weil sie einer höheren normtheoretischen Ebene, einer Metaebene, angehört. Sie enthält das (utilitaristische) Grundprinzip, daß Regeln nur Faustregeln sind und eine Bindung an Pflichten immer nur hypothetisch, also bedingt, ist. Sie enthält die Absage an Rechtspflichten und besagt nichts weiter, als daß das einstufige Regel-Modell praktischer Philosophie des extremen Utilitaristen maßgeblich ist. Dieses Modell und damit auch die Effizienz-Regel ist mit einem System von Rechtsnormen inkompatibel.9 Das einstufige Modell wird zuweilen mit dem Hinweis verteidigt, daß es ja die Parteien sind, die eine effiziente Güterverteilung »wollen« und daher sind sie es, die die Effizienz-Regel »wollen«.10 Das einstufige Modell von Versprechen wäre damit durch den Willen der Parteien gerechtfertigt. Dem ist jedoch nicht so: Den Privatrechtsubjekten steht es frei, Absichtserklärungen abzugeben, an die sie nur dann »gebunden« sind, wenn dies auf das Ganze gesehen von Nutzen ist. Niemand muß, außer in den engen Grenzen des Kontrahierungszwangs, einen Vertrag abschließen. Wenn eine Vertragspartei den Vertrag nur erfüllen möchte, wenn dies, auf das Ganze gesehen, von Nutzen ist, so hat sie aber, wie bereits im Hinblick auf den Handlungsutilitaristen erklärt wurde, schlicht nicht verstanden, was Versprechen und Vertrag bedeutet. Denn ein vertragliches Versprechen beinhaltet einen von dem Grund für die versprochene Handlung y unabhängigen Grund, y auszuführen. Verträgen ist eine unbedingte Bindung an die darin vereinbarte Leistung inhärent. Sie schaffen ausschließende Gründe (exclusionary reasons) für Handlungen. Der Vertrag ist zu erfüllen, nicht weil es Gründe für die versprochene Handlung gibt, sondern weil die Handlung versprochen wurde. Es ist daher ein Mißverständnis zu behaupten, die Parteien »wollten« die EffizienzRegel. Sie würden sich dann selbst widersprechen, wenn sie ein (vertragliches) Versprechen abgeben. Das einstufige Modell ist somit mit der traditionellen Auffassung des Vertrages nicht vereinbar. Diese Auffassung, daß die Bindung durch Verträge eine kategorische ist, ist nicht nur eine soziale Konvention, sondern in den Kodifikationen des Privatrechts und der Rechtsprechung der Gerichte in common law Ländern fest 9 10
S. auch Menetrez 47 UCLA L.Rev. 859, 880ff. (2000). R. Posner/Rosenfield 6 J. of Legal Stud. 83, 89 (1977).
I. Hypothetische Imperative und Rechtspflicht
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verwurzelt. Dies wird von den Vertretern der ökonomischen Analyse in der Regel auch zugestanden. So räumt Craswell etwa ein, daß die ökonomische Analyse des Rechts als »interpretative Theorie« wohl scheitern dürfte, denn sie könne die tatsächlich angeführten (dogmatischen) Gründe einer gerichtlichen Entscheidung nicht erklären.11 Ulen geht noch einen Schritt weiter, wenn er prophezeit, daß die Ausbildung der Juristen, die praktisch tätig sind, und die wissenschaftliche Erfassung des Rechts miteinander nichts mehr zu tun haben werden: Die Zeiten seien vorbei, in denen die Rechtswissenschaft sich mit der dogmatischen Behandlung von Rechtsfragen beschäftige.12 Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung haben dann keine Schnittmenge. Diese Entkoppelung des Rechts von seinen Antriebskräften, den unbedingten Imperativen, ist kennzeichnend für den extremen Utilitaristen wie die radikale Form der ökonomischen Analyse.
2. Zweistufige Regel-Modelle innerhalb der ökonomischen Analyse Freilich gibt es eine abgemilderte Form der ökonomischen Analyse die ähnlich wie die »schwache« Form des Utilitarismus diesen radikalen Bruch vermeidet. Wie der Regelutilitarismus läßt sich auch die ökonomische Analyse in ein zweistufiges Regel-Modell einbauen, in dem die Rechtfertigung von Regeln von den Gründen für eine regelkonforme Handlung zu trennen ist.13 Ein solches System brächte keinen Wechsel der Perspektive bei der Rechtsanwendung mit sich. Denn da die Regeln unbedingt gälten, blieben die von der »Effizienz-Regel« ausgelösten Dissonanzen, also die Diskrepanz zwischen »wissenschaftlicher« Erklärung und gerichtlicher Praxis, aus. Ausschließlich auf der Ebene der Rechtfertigung der Regeln würde man die Frage stellen, welcher »ideale« Moralkodex am besten in der Lage wäre, den Nutzen zu steigern, also eine effiziente Nutzenverteilung zu sichern. Auch wenn die Unterscheidung von Handlungs- und Regelutilitarismus in der ökonomischen Analyse des Rechts nicht in dem Maße thematisiert wird, wie dies für die Überwindung des Grabens zur traditionellen Dogmatik erforderlich wäre,14 so sind doch innerhalb dieser Strömung Ansätze erkennbar, die man als »regel-utilitaristisch« bezeichnen könnte. Law and Economics wird sich nie mit der Forderung nach Kohärenz in einem Regel-System zufrieden geben, wie dies manche »interpretative Theorien«15 tun. Aber gegen die Bewertung von Regeln von 11
Craswell 112 Yale L.J. 903, 922 (2003). Ulen 79 Chi.-Kent L.Rev. 403, 428f. (2004), mit Vorschlägen zu einer auch organisatorischen Trennung. 13 S. die Forderung Eidenmüllers Fn. 3, S. 414ff., ökonomische Analyse als Gesetzgebungstheorie zu verstehen. 14 Bei wohlwollender Interpretation kann man auch Craswell und Ulen als Regelutilitaristen ansehen. 15 Dazu S. 15ff. 12
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
einem außerhalb dieser Regeln belegenen Standpunkt ist normtheoretisch nichts einzuwenden, solange zwischen Bewertung der Regel und der regelkonformen Handlung unterschieden wird. Wenn auf der ersten Ebene Regeln als ausschließende Handlungsgründe16 anerkannt werden, ist die Art der Rechtfertigung dieser Regeln auf der zweiten Stufe logisch nicht zwingend vorgegeben. Insofern unterscheidet sich diese Form der ökonomischen Analyse nicht von einer sonstigen Theorie des Rechts, die das Recht anhand einer (vorpositiven) normativen Prämisse bewertet.17 Craswell selbst kann als Verfechter dieser Richtung angesehen werden.18 Die extreme Form der ökonomischen Analyse des Rechts postuliert, was oben als die »Effizienz-Regel« bezeichnet wurde: Verträge sind durchzusetzen, wenn der Leistungsaustausch effizient ist. Dies ist nach Craswell eine veraltete und kaum noch vertretene Ansicht innerhalb der ökonomischen Analyse: »Although some authors occasionally speak as though efficiency, as applied in contract law, meant nothing more than enforcing all contracts whose performance is still efficient – a theory that would indeed be starkly opposed to most other perspectives – most modern economic writers hold a theory that is much richer and more complex.«19
Vorzuziehen sei eine zweite Art von »ökonomischer« Vertragstheorie. Diese vollständigere Sichtweise von Verträgen berücksichtige, daß die Durchsetzung von Verträgen sich auf das ex ante Verhalten der Vertragspartner auswirkt. Craswell illustriert dies mit der Hobbesschen Überlegung, daß niemand bereit wäre, eine Vorleistung zu erbringen, wenn die Durchsetzung der Vertragspflichten unsicher ist.20 Kurzfristige Effizienzgewinne durch die Anwendung der Effizienz-Regel würden durch die negativen mittel- und langfristigen Auswirkungen zunichte gemacht, wenn man nicht berücksichtigte, daß Verträge in dem Moment ihres Abschlusses die Rechtsposition der Parteien veränderten.21 Erst wenn man die Durchsetzung von Versprechen als sicher in Aussicht stellt, unabhängig davon, ob der Leistungsaustausch als solcher im Einzelfall »effizient« ist, werden die Anreize zu einem insgesamt nutzensteigernden Verhalten der Marktteilnehmer gesetzt.22 Übersetzt man den Konflikt zwischen den beiden Ansichten, Effizienz-Regel versus Anreiztheorie, in normtheoretische Aussagen, so besagt Craswells These, daß ein zwei-stufiges Modell von Vertragsregeln (utilitaristisch) gerechtfertigt ist. Nur wenn die Parteien eine verläßliche Grundlage für Investitionen haben, ist ein effizientes Anreizsystem überhaupt denkbar. Eine verläßliche Grundlage wird 16 17 18 19 20 21 22
Raz, Practical Reason and Norms, S. 35ff. § 4 oben. Craswell in Benson (Hrsg.), Theory of Contract Law, S. 19. Craswell Fn. 18, S. 44. Craswell Fn. 18, S. 29. Craswell Fn. 18, S. 34. Craswell Fn. 18, S. 28ff.
I. Hypothetische Imperative und Rechtspflicht
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durch die Effzienz-Regel nicht geschaffen, sondern nur durch eine Bindung an den Vertrag, die ausschließende Gründe für Handlungen (Rechtspflicht) schafft. Dies ist somit eine regelutilitaristische Begründung der unbedingten Bindung an den Vertrag, vorbehaltlich natürlich von ebenfalls abstrakt festgelegten Ausnahmen, die aber klar definiert sind, und auch in deontologischen Theorien vorkommen.23 Ein Großteil der ökonomischen Literatur zu Verträgen geht in der Tat diesen Weg. Wie bereits erläutert,24 setzen die traditionelle ökonomische Theorie die strikte Durchsetzung von Verträgen ebenso voraus, wie eine Reihe neuerer Theorien (Incentive Theory, Theory of Incomplete Contracts). Die (kategorische) Bindung an den Vertrag ist erst von Vertretern der »Neuen Institutionen Ökonomie« (Transaction Cost Theory) überhaupt grundlegend in Zweifel gezogen worden. Innerhalb dieser Richtung steht nunmehr mit der auf Anreizen basierten ökonomischen Analyse des Vertrages ein im wesentlichen regelutilitaristisches Modell zur Verfügung. Um auf das Beispiel der Analyse der Unmöglichkeitsregeln zurück zu kommen: In einem solchen regelutilitaristischen Modell würde man diese als (unbedingte) Regeln damit rechtfertigen, daß sie (in der überwiegenden Zahl der Fälle) die Effizienz steigern. Sollte es im Einzelfall einmal anders sein, bliebe die Regel dennoch bindend. Denn, so müßte ein Regelutilitarist argumentieren, es sei insgesamt vorteilhaft, ein System von unbedingten Imperativen (und also wirklich bindenden Verträge) zu haben. In der Tat ist dies etwa die Position Gerhard Wagners, wenn er schreibt: »It is true that the impossibility defense cannot achieve its objective perfectly. It is not possible to excuse every promisor where performance is inefficient, precisely because of the two-sided efficiency problem and informational restraints discussed throughout this Essay.«25
Diese Passage führt die unbedingte Geltung der Unmöglichkeitsregel ein und rechtfertigt ihre unbedingte Natur, also die Tatsache, daß im Einzelfall ein ineffizientes Ergebnis in Kauf genommen wird, wiederum durch ein konsequentialistisches Argument. Freilich bleibt ein struktureller Unterschied zwischen deontologischen und konsequentialistischen Theorien auch bei Geltung dieser »schwachen« Form der ökonomischen Analyse bestehen. Anhand der zweistufigen Analyse der Unmöglichkeitsregeln läßt sich veranschaulichen, was generell für konsequentialistische Theorien gilt: die Austauschbarkeit der einzelnen Regel durch eine andere mit gleicher Wirkung. Keine Regel ist Selbstzweck. Nach Wagners Ansicht erfüllen die Regeln über Unmöglichkeit folgende ökonomische Funktion: Aus Sicht der ökonomischen Analyse kann es problematisch sein, wenn die Leistung oder de23 24 25
Wie etwa die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, s. § 313 BGB. S. 136ff. Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 94 (1995).
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
ren Surrogat (das positive Interesse) als sicher in Aussicht gestellt werden:26 Dies könnte nämlich den Gläubiger dazu veranlassen, ein zu hohes Niveau an Investitionen zu wählen. Angenommen, ein Maschinenhersteller verläßt sich auf einen Zulieferer, der speziell angepaßte Bauteile liefern soll, und baut eine (ineffizient) teure Produktionsstätte. Der Zulieferer fällt aus. Der Hersteller hätte auch eine weniger aufwendige und nicht auf den Zulieferer abgestimmte Produktionsstätte bauen können, allerdings hätte er dann auch einen geringeren Preis für seine Produkte erzielt, was der Effizienz wiederum abträglich wäre. Nach Wagners Ansicht führen die Unmöglichkeitsregeln dazu, daß der Hersteller ex ante ein effizientes Ausmaß an Investitionen trifft.27 Denn hiernach muß der Hersteller einplanen, daß in einem bestimmten Prozentsatz der Fälle die Investition nicht lohnt, wenn nämlich der Zulieferer aufgrund von Unmöglichkeit von jeder Haftung freigestellt ist, vorausgesetzt natürlich, der Gläubiger kennt die Wahrscheinlichkeit für unmöglichkeitsrelevante Ereignisse (etwa ein Blitzschlag, der das Lager des Lieferanten zerstört). Angenommen, diese ließe sich ermitteln und sie betrüge 1/6. Aus ökonomischer Sicht müßte der Hersteller damit ein Ausfallrisiko für seine Investition von 1/6 einkalkulieren, was dann, wenn die These Wagners zutrifft, insgesamt zu einem »effizienten« Niveau der Investitionen führt. Damit sind die Unmöglichkeitsregeln in der Tat eine »indirekte Methode«, wie Wagner formuliert,28 ein effizientes Ergebnis zu erzielen. Aber eben auch nicht mehr. Die Regel, um deren Bewertung es geht, ist Mittel zum Zweck. Sie ist daher beliebig austauschbar mit anderen »Regeln«, die ähnliche Effekte erzielen. In dem Beispiel vermag zwar die Folgenbetrachtung Wagners die Regeln über Unmöglichkeit zu rechtfertigen. Aber die Unmöglichkeitsregeln werden für das richtige Ergebnis nicht benötigt. Man könnte den beschriebenen, heilsam »abschreckenden« Effekt auf den Gläubiger auch dadurch erzielen, daß, was natürlich vorher publik gemacht werden müßte, der Richter vor seinem Urteil im Haftungsstreit einen Würfel wirft und, wenn dieser eine sechs zeigt, die Klage abweist.29 Am effizienten Ergebnis im Regelfall ändert das nichts und allein darauf käme es an.30
26 Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 65ff. (1995). Dies wird in § 11 II.3.a) unten näher erläutert. 27 Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 72ff. (1995). 28 Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 72 (1995). 29 Wagner (wie auch Posner) verweist noch auf eine andere Funktion der Unmöglichkeitsregeln, nämlich die Steuerung (über das Verschuldenserfordernis) eines effizienten Niveaus an Vorsichtsmaßnahmen gegen Leistungshindernisse; Wagner 27 Loyola U. of Chicago L.J. 55, 77ff. (1995). Insofern wäre die Regel nur durch ein Instrument ersetzbar, das gleichzeitig auch diese Funktion erfüllt. Es bleibt jedoch dabei, daß auch in dieser Hinsicht die Regeln austauschbar sind. 30 Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135, 1176 (2003): Es gibt keinerlei intrinsische Verbindung zwischen einer bestimmten Regel der Schadenshaftung und der Effizienz.
II. Die Ebene der Normrechtfertigung – Subjektive Rechte
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II. Die Ebene der Normrechtfertigung – Subjektive Rechte Wie bereits erläutert,31 werden von den meisten Verfechtern von konsequentialistischen zwei-stufigen Regel-Modellen die Kernelemente eines liberalen Vertragsrechts als nutzensteigernd angesehen und als allgemeine Prinzipien verteidigt. Sicherlich könnten andere Prinzipien deren Platz einnehmen, aber diesen wird nicht die gleiche die Wohlfahrt sichernde Funktion zuerkannt. Der Unterschied zwischen einer regelutilitaristischen Position zu der Kantischen Tradition32 ist daher, wie auch etwa im Vergleich zu Mill festgestellt wurde,33 nicht so grundlegend, wie es zunächst den Anschein hat. Kants Theorie des Privatrechts besagt nichts darüber, aus welchen Gründen und mit welchem (positiven) Inhalt Verträge zu schließen sind. Damit wiederum befassen sich exklusiv die ökonomischen Theorien. Eine Reihe wichtiger ökonomischen Theorien34 sind daher mit einem deontologischen Regelsystem nicht im Widerspruch, vielmehr setzen sie dieses voraus. Die deontologischen Theorien einerseits und die konsequentialistischen Theorien andererseits haben jeweils einen anderen Gegenstand. Nur die Transaktionskostentheorie überschneidet sich in ihrem Anwendungsfeld wesentlich mit deontologischen Theorien. Betrachtet man jedoch ihre Forderungen an das Vertragsrecht,35 so lassen sich bei regelutilitaristischer Interpretation vielfältige Übereinstimmungen feststellen. Nicht nur die grundsätzliche Bindung an den Vertrag und die Vertragsfreiheit sind Eckpfeiler dieser Theorien, sondern auch im einzelnen, etwa der Nichtanerkennung durch prozedurale Defekte hervorgebrachten Verträge, finden sich Parallelen. In einem freilich setzt die Philosophie subjektiver Rechte allen Effizienzüberlegungen eine Grenze. Nimmt man den Schutz (angeborener oder erworbener) Rechte ernst, ist es nicht zulässig, die subjektive Rechtsposition ohne den Willen des Rechtsinhabers zum Wohle anderer zu opfern.36 Sowohl das Kaldor-Hicks Kriterium als auch das interpersonelle Saldierungsgebot scheiden damit als Rechtfertigung von Regeln des Vertragsrechts aus. Im übrigen sind die vom Utilitarismus behaupteten Folgen der Zulassung von Vertragsfreiheit und generell eines (liberalen) Vertragsrechts für die Kantische Begründung dieser Institute unerheblich, wenn auch anzunehmen ist, daß sie wohlwollend zur Kenntnis genommen werden. Doch Vertragsfreiheit müßte es nach der reinen praktischen Philo31
S. 136ff. S. 32ff. 33 S. 113ff. 34 Incentive Theory, Incomplete Contract Theory. 35 S. 136ff. 36 S. auch Eidenmüller Fn. 3, S. 448, der auf die (verfassungsrechtliche) Grenze eines »schwerwiegenden Eingriff[s] in höchstpersönliche Rechtsgüter« verweist. Demgegenüber ist der vorliegende Ansatz für den Schutz des subjektiven Rechts aus Vertrag wohl enger; auch die Entziehung einer rein vermögensrechtlichen Position ist gegen den Willen des Rechtsinhabers grundsätzlich unzulässig, 32
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
sophie selbst dann geben, wenn sich aufzeigen ließe, daß eine bestimmte Form der Planwirtschaft und des staatlichen Dirigismus den Wohlstand der Bevölkerung (insgesamt) steigern würde. Aus Sicht der »Neuen Institutionen Ökonomie« fällt die Antwort nicht so eindeutig aus, jedenfalls wird ein freiheitseinschränkendes Rechtssystem als wenig effizient angesehen. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Zweistufige Regel-Modelle vermögen ein System von Regeln des Vertragsrechts zu rechtfertigen. Auf der ersten Stufe der Bewertung von Handlungen unterscheidet sich ein solches System nicht von einem deontologischen. Der Kantisch/Savignyschen Tradition zufolge scheiden konsequentialistische Argumente auf der Stufe der Rechtfertigung von Regeln zunächst jedenfalls aus, während sie für die ökonomische Analyse des Rechts allein maßgeblich sind. Dies bedeutet aber keineswegs, daß die ökonomische Analyse ein Irrweg im Vertragsrecht war. Denn der Ausschluß konsequentialistischer Überlegungen ist für das Vertragsrecht nur eingeschränkter Natur. Positiv formuliert bedeutet dies, daß auch aus Sicht der Kantisch/Savignyschen Tradition externen Folgen einer Handlung im Vertragsrecht durchaus normative Relevanz zukommen kann. Dies liegt daran, daß das formale Postulat des Privatrechts hinsichtlich der Materie der Willkür blind ist und daher der Ergänzung durch materielle Prinzipien, wie sie die ökonomische Analyse liefert, bedarf. Dieser Zusammenhang wird im verbleibenden Teil dieses Kapitels zu erläutern sein.
III. Die Motivation zum Abschluß eines Vertrages Die klassische Wirtschaftswissenschaft nahm an, daß Verträge ohne Reibungsverluste durchgesetzt werden. Erst mit der Erkenntnis, daß zumindest nicht in jeder Hinsicht optimale Bedingungen herrschen, begann die Auseinandersetzung mit dem Thema Vertrag. Ein Großteil dieser Bemühungen ökonomischer Analyse ist, wie gesehen, nicht darauf gerichtet, wie Regeln des Vertragsrechts aussehen sollten, sondern mit welchem Inhalt Parteien Verträge abschließen sollten, immer unter der Voraussetzung, daß der Satz pacta sunt servanda gilt. Zum Teil beschäftigen sich diese Modelle mit der Frage, ob der Abschluß eines Vertrages überhaupt sinnvoll ist (die »make or buy« Entscheidung). Jede einzelne dieser Fragestellungen fügt sich harmonisch in ein System von unbedingten Rechtspflichten ein, wie es etwa durch das Privatrecht der reinen praktischen Vernunft vorgegeben ist. Denn die hypothetischen Imperative, die hier durch die ökonomische Analyse modelliert werden, betreffen nur die Motivation, einen Vertrag abzuschließen. Darüber wiederum besagt die reine praktische Philosophie nichts, vielmehr nimmt Kant es als der Natur des Menschen zu eigen an, daß Menschen – wenn sie nicht aus Pflicht handeln – naturgemäß die Steigerung ihrer Glückseligkeit im Auge haben. Was also die Gründe für den Abschluß eines Vertrages angeht, ist die ökonomische Analyse in ihrem Geltungsanspruch in der Tat absolut. In dem Ma-
III. Die Motivation zum Abschluß eines Vertrages
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ße also, in dem Personen oder Zusammenschlüsse von Personen (Unternehmen im weitesten Sinne) ein Ziel verfolgen, daß man bei Anwendung der Methode der ökonomischen Analyse als Steigerung von Effizienz bezeichnen kann, bestimmen hypothetische Imperative oder Klugheitsregeln das Handeln der Beteiligten. Dabei handelt es sich, wie erläutert, insofern um »bloße« Faustregeln: Die Gründe für die Regel, die y vorschreibt, sind identisch mit denen für y, nämlich daß y die angestrebten Folgen bewirkt. Auch wenn nach Richard Posner der Markt letztlich unbegrenzt ist und alles ihm untergeordnet werden kann, so ist doch nicht zu leugnen, daß Menschen wichtige Ziele auch außerhalb des in Geld meßbaren Handelsverkehrs verfolgen. Die Materie des Familienrechts liefert nur ein Beispiel. Hier mag die ökonomische Analyse weniger oder gar nicht geeignet sein, das Verhalten der Beteiligten zu erklären, durch hypothetische Imperative zu leiten oder gar vorherzusagen.37 Unabhängig davon, wie man die weitergehenden normativen Forderungen des Utilitarismus beurteilt, bleibt hier neben der ökonomischen Theorie ein wichtiges Anwendungsfeld für mehr oder weniger differenzierte Glückseligkeitslehren. Die hierbei zur Anwendung kommenden Klugheitsregeln sind ihrer Struktur nach denen der ökonomischen Analyse gleich, nur haben sie einen anderen Endzweck vor Augen. Je nach Grundanschauung kann dann die ökonomische Analyse als Teiltheorie des Utilitarismus oder der Utilitarismus als Variante des ökonomischen Grundprinzips betrachtet werden. Für den Ausgangspunkt des Vertragsrechts ist dies einerlei. Denn nach dem Postulat des Privatrechts sind Verträge nur als Rechtsmacht von Personen eingeführt, sich die Welt der Erfahrung zu eigen zu machen. Über die Ausübung dieser Rechtsmacht in eine bestimmte Richtung, über die Materie der Willkür, kann und will dieses formale Prinzip nichts besagen.38 Eine apriorische Theorie ist in dieser Hinsicht notwendigerweise »blind«. Daraus folgen aus Sicht einer subjektiven Rechten verpflichteten Vertragstheorie zwei Einsichten: An der Gültigkeit der Erkenntnisse der ökonomischen Analyse und des Utilitarismus sind jedenfalls keine grundsätzlichen Zweifel angebracht, solange es um die Motivation zum Eintritt in eine Vertragsbeziehung geht. Unabhängig davon, ob man einen regelutilitaristischen oder einen deontologischen Ansatz der Normrechtfertigung für richtig hält, ist hinsichtlich der Motivation für Verträge die Relevanz von Folgenüberlegungen nicht bestreitbar. Steht die Relevanz der folgenbezogenen Methode somit für die Motivation der Parteien fest, bleibt noch zu bestimmen, inwiefern und nach welcher Methode das Vertragsrecht auf die konkreten Intentionen der Parteien Rücksicht nehmen muß.
37 38
Eidenmüller AcP 196 (1996), 80, 120. Dazu S. 35ff. Anders die teleologischen Theorien, S. 89ff. sowie der Utilitarismus, S. 108ff.
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
IV. Auslegung und dispositives Recht Auch wenn der Zusammenhang zwischen Parteiwillen und Vertragsdurchsetzung selbstverständlich ist, ist es dennoch sinnvoll, ihn in aller Kürze erneut herzuleiten. Darüber hinaus folgt aus der Maßgeblichkeit des Parteiwillens das Erfordernis und die Art und Weise der Auslegung und die Funktion des dispositiven Rechts.
1. Parteiwille und Vertragsdurchsetzung Der Vertrag dient nach dem Postulat des Privatrechts dazu, die Kausalität der Willkür einer anderen Person, die Leistung zu bewirken, in intelligiblen Besitz zu nehmen.39 Dazu ist das Einverständnis der anderen Partei unerläßlich, so daß ein Vertrag stets den vereinigten Willen der Vertragsparteien verkörpert. Sobald ein Vertrag geschlossen wurde, entsteht ein subjektives Recht auf die Leistung der einen Partei, der eine Pflicht der anderen Partei zur Leistung korrespondiert. Dieses subjektive Recht hat der Staat durchzusetzen. Eine regelutilitaristische Theorie des Vertragsrechts würde die Vertragsfreiheit unter Hinweis auf die günstigen Auswirkungen der Bindung an den Vertrag auf den Wohlstand und/oder den Nutzen einer Gesellschaft, also ihre Zweckmäßigkeit, rechtfertigen. Beide Lehren bauen das Vertragsrecht somit auf zwei Grundregeln auf: Erstens, Verträge sind bindend, pacta sunt servanda; zweitens, der Wille der Parteien ist für die Durchsetzung des Vertrages allein maßgeblich. Wird ein Richter mit einem vertraglichen Streitfall konfrontiert, ist es somit seine Aufgabe, den Willen der Parteien zu ermitteln und dem dadurch konstituierten vertraglichen subjektiven Recht den Charakter der Notwendigkeit zu geben, also es zwangsweise durchzusetzen. Besitzt der Richter vollständige Kenntnis des vereinigten Willens der Parteien, ist seine Aufgabe einfach. Den hohen Anspruch der Willenstheorie kann man etwa bei Bernhard Windscheid nachlesen: »Es wird der Wille erklärt, daß eine rechtliche Wirkung eintreten solle, und die Rechtsordnung läßt diese rechtliche Wirkung deswegen eintreten, weil sie vom Urheber des Rechtsgeschäftes gewollt ist.«40
Auch wenn diese Vorstellung der Möglichkeit eines ungetrübten gemeinsamen Willens der Parteien, der dem Vertrag zugrunde liegt, auf der Höhe der Willenstheorie im 19. Jahrhundert41 durchaus einflußreich war, so ist sie heutzutage einer realistischeren Einschätzung der Erkenntnismöglichkeiten eines Gerichts gewichen. Im anglo-amerikanischen Bereich war man seit jeher pragmatischer. Treffend ist Richter Learned Hands bekannter Ausspruch: 39 40 41
S. 46ff. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, § 69, S. 186f. S. nur Flume, Das Rechtsgeschäft, S. 440ff.
IV. Auslegung und dispositives Recht
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»A contract has, strictly speaking, nothing to do with personal, or individual, intent of the parties. A contract is an obligation attached by the mere force of law to certain acts of the parties, usually words, which ordinarily accompany and represent a known intent. If, however, it were proved by twenty bishops that either party, when he used the words, intended something else than the usual meaning which the law imposes upon them, he would still be held, unless there were some mutual mistake, or something else of the sort.«42
Die unrühmliche (aber heute weitgehend relativierte) parol evidence rule ist ein weiterer Eckpfeiler dieser objektivierten, formalen Methode der Auslegung.43 Die Unterschiede zwischen dem BGB und dem common law sind jedoch bei Weitem nicht so groß, wie es zunächst den Anschein haben mag.44 Für das Vertragsrecht ist es heute allgemeine Meinung, daß die zum Abschluß des Vertrages führenden Willenserklärungen grundsätzlich aus Sicht des »objektiven Empfängerhorizonts« auszulegen sind.45
2. Dispositives Recht der Vertragstypen Auch Kant stellt seinem formalen Prinzip der Vertragsfreiheit eine (vollständige) Einteilung der Vertragstypen zur Seite, soweit diese sich aus der Form der Willkür ergeben.46 Dies sind der Vertrag, der auf einseitigen Erwerb gerichtet ist (der »wohltätige« Vertrag), der Vertrag, der auf wechselseitigen Erwerb gerichtet ist (der »belästigende« Vertrag) und der Vertrag, der keinen Erwerb, dafür aber die Sicherung des Seinen bezweckt. Damit ist freilich der konkrete Inhalt dieser Verträge nicht bestimmt, dieser liegt, wie Kant klarstellt, jenseits des Erkenntnisinteresses der metaphysischen Rechtslehre.47 Jenseits dieser Grenze, im Hinblick
42
Hotchkiss v. National City Bank of New York, 200 F. 287, 293 (S.D.N.Y. 1911). Treitel, The Law of Contract, S. 192ff. 44 S. im einzelnen Markesinis/Unberath/Johnston, The German Law of Contract, S. 133ff. m.w.N. Das BGB hat bekanntlich an entscheidenden Stellen die Maßgeblichkeit einer objektiven Sichtweise des Parteiwillens den Vorzug gegeben. Zu nennen wären die Irrtumsregelung sowie vor allem das Erfordernis in § 157 BGB bei der Auslegung von Verträgen Rücksicht auf Treu und Glauben sowie die Verkehrssitte zu nehmen. 45 S. nur Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, § 28 Rn. 15ff.; Köhler, BGB Allgemeiner Teil, § 9 Rn. 7. Die objektive Auslegung ist jedoch nur dann vorzunehmen, wenn kein übereinstimmender wirklicher Wille der Parteien feststeht (s. die Regel falsa demonstratio non nocet). Ähnlich Art. 4.1 PICC; Art. 5:101 PECL; Art. 8 CISG. Rechtsvergleichender Überblick bei Kötz/Flessner, Europäisches Vertragsrecht I, § 7, S. 162ff. Für das Vertragsrecht schlägt Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, S. 285ff. eine Orientierung an dem Erwartungen des Gläubigers hinsichtlich der versprochenen Leistung vor. 46 Kant, MS, AA VI, § 31, S. 284ff. Die These, daß diese Verträge eine vollständige Erfassung der Verträge a priori darstellt, soll hier nicht näher untersucht werden. Zustimmend Byrd in Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals, S. 111ff. Hegel, R, TW 7, § 80, S. 165ff. folgt Kants Einteilung und führt sie ebenfalls auf die Natur des Vertrages selbst zurück und nicht auf »äußerliche Umstände«. 47 Kant, MS, AA VI, S. 286. 43
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auf die Materie der Willkür, liegt der Anwendungsbereich der konsequentialistischen Theorien. Nun ist es aber so, daß die Parteien nur bei Annahme von Hyper-(Zweck-)Rationalität einen Vertrag schließen, der ihre Interessen vollständig wiedergibt und alle für die Erreichung des Vetragszwecks relevanten Fragen darin regelt. Wie die Erfahrung lehrt, sind Verträge niemals von solcher Vollständigkeit. Die Beschränktheit der Voraussicht zukünftiger Ereignisse, um nur einen Faktor von vielen zu nennen, führt dazu, daß der Vertrag in irgendeiner Hinsicht immer unvollständig ist, selbst wenn dies nicht weiter auffallen sollte, weil die Umstände, die die Ambivalenz sichtbar machen würden, zufällig nicht eintreten. Die Transaktionskostentheorie enthält wertvolle Einsichten in die Gründe der Unvollständigkeit von Verträgen.48 Sie sollten aus rechtswissenschaftlicher Sicht nicht ignoriert werden, weil sie Auswirkungen auf die Ermittelbarkeit des »wirklichen Willens« der Parteien haben. Es ist, lehrt uns nicht erst die ökonomische Analyse, nicht realistisch anzunehmen, daß die Parteien für alle Eventualitäten eine ausdrückliche Vereinbarung treffen. Aus Zeit- und Kostengründen werden bei vielen Massengeschäften beim Vertragschluß nicht einmal Worte gewechselt. Dementsprechend liegt eine evident wichtige Funktion des Vertragsrechts darin, den Parteien Regelungsmodelle typischer und häufig anzutreffender Verträge zur Verfügung zu stellen. Wenn sich die Parteien des vom Gesetz zur Verfügung gestellten Instrumentariums bedienen, ist es legitim und universelle Praxis, den mutmaßlichen Parteiwillen zumindest ergänzend den vom Gesetz vorgesehenen Regeln zu entnehmen. Dabei geht es jedoch, wie betont werden muß, auch bei Anwendung des dispositiven Rechts nur um die Ermittlung des Willens der Parteien.49 Grundlage der damit geschaffenen subjektiven Rechte ist aber nicht etwa das Gesetz, sondern der Wille der Parteien, der vom Gesetz nur typisierend aufgegriffen wird.50 Die in einem Rechtssystem tatsächlich verwendeten Vertragstypen sind dabei nicht statisch festgelegt, sondern wandeln sich im Laufe der Zeit so wie sich auch Produktionsmethoden oder gesellschaftliche Strukturen im Laufe der Zeit ändern. Bestimmte Vertragstypen verlieren ihre praktische Relevanz, neue entstehen. Jeder Jurist ist mit diesem Phänomen vertraut. Auch daran erkennt man, daß ein Großteil dessen, was als dispositives Recht bezeichnet wird und im BGB im besonde-
48
S. etwa Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, S. 299ff. Im englischen Recht wird dieser Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Willen der Parteien deutlicher, weil das englische Recht hier den Begriff der »implied terms« verwendet, rechtsvergleichend dazu Markesinis/Unberath/Johnston Fn. 44, S. 138ff.; Schmidt-Kessel ZVglRWiss 1997, 101. 50 Ablehnend Oechsler Fn. 45, S. 291f. Sein Einwand gegen die Ableitung der Normen des Vertragsrechts von dem Parteiwillen trifft aber insofern zu, als es um den Kernbestand des Leistungsstörungsrechts geht, dazu S. 158ff. Diese sind jedoch nach dem vorliegend vertretenen Verständnis des Begriffs nicht »dispositiv«. 49
IV. Auslegung und dispositives Recht
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ren Schuldrecht anzutreffen ist, lediglich die Verkörperung typisierten (und gemutmaßten) Parteiwillens ist.
3. Auslegung im Einzelfall Die Bezugnahme der Parteien auf Vertragsmodelle ist freilich selbst auslegungsbedürftig und vor allem im Handelsverkehr selten allumfassend. Vielmehr werden die Parteien das gesetzliche Modell variieren oder sogar grundlegend umgestalten. Sowohl der deontologischen als auch der regelutilitaristischen Vertragstheorie gemäß, ist das Gericht im Streitfall aufgefordert, den Zuschnitt der subjektiven Rechte im gerichtlichen Verfahren festzulegen. Die Aufgabe des Richters ist es dann, im Einzelfall den Willen der Parteien durch Auslegung zu ermitteln. Dies wird nicht selten, wie bereits erläutert, objektiv, also anhand nach außen erkennbarer Umstände erfolgen müssen. Für die Ermittlung des Willens der Parteien ist die folgenorientierte Methode der ökonomischen Analyse (wie ganz allgemein des Utilitarismus) von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Denn um zu verstehen, worauf der Wille gerichtet ist, muß man die Materie der Willkür erkennen, deren Unterwerfung Zweck des Vertrages ist. Nur wenn man weiß, welchen Zweck die Parteien verfolgten, kann entschieden werden, ob etwa eine Leihe oder ein Darlehen vereinbart wurde. Erst die Kenntnis des von den Parteien ex ante verfolgten materiellen Zwecks ermöglicht es, mit Hilfe eines Systems von hypothetischen Imperativen zu entscheiden, ob der Vertrag eine vollständige Regelung enthält, oder lückenhaft ist, weil er etwa eine naheliegende Eventualität nicht bedacht hat. Bei wirtschaftlicher Zweckrichtung51 ist es daher immer notwendig, eine mehr oder weniger ausgereifte »ökonomische Analyse« der Motivation der Parteien anzustellen, um festzustellen, ob die Vereinbarung das intendierte Regelungsprogramm erfolgreich abbildet, oder »planwidrig« hinter diesem zurückbleibt. An die »planwidrige« Lücke knüpft nicht zuletzt die ergänzende Vertragsauslegung an, gemäß derer die Lücke dadurch zu füllen ist, daß der »hypothetische« Parteilwille »zu Ende gedacht« wird.52 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Der Vertrag beruht auf dem gemeinsamen Willen der Vertragsparteien, der jedoch oftmals nur unvollständig erklärt 51 Die ökonomischen Analyse als Methode der Auslegung vor allem im Handels- und Gesellschaftsrecht befürwortet Eidenmüller AcP 197 (1997), 80, 120; mahnt aber auch zur Vorsicht: Den Gerichten werden nicht selten die benötigten Informationen fehlen. 52 S. etwa Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 532ff.; BGHZ 23, 282; BGH NJW 1981, 2241; NJW 1998, 1219. Auch wenn die englischen Gerichte weit zurückhaltender sind, den Parteien eine bestimmte als vernünftig angesehene Absicht zu unterstellen, so finden der Art nach die gleichen Kriterien Anwendung. Die englischen Richter betonen, daß eine Auslegung, die dem Vertrag ein wirtschaftlich absurdes Ziel unterlegt, möglichst zu vermeiden ist. S. etwa Investors Compensation Scheme Ltd. v. West Bromwich Building Society (No. 1) [1998] 1 WLR 896, und Markesinis/ Unberath/Johnston Fn. 44, S. 135f. m.w.N.
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§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht
wird und nicht selten unter den Parteien streitig sein wird. Der Gesetzgeber und die Gerichte nehmen eine wichtige Entlastungsfunktion wahr, wenn sie den Parteien typisierende Regelungsmodelle zur Verfügung stellen. Besteht im Einzelfall dennoch Unsicherheit über den Inhalt der Vereinbarung, so ist es notwendig und unvermeidbar, den von den Parteien verfolgten Zweck, soweit möglich, zu rekonstruieren und daraus Schlußfolgerungen für den gemeinsamen Willen zu ziehen. Für beide Aufgaben, der Typisierung des mutmaßlichen Willens wie der Rekonstruktion eines idiosynkratischen Willens, ist daher eine folgenorientierte Methode der Rechtsgewinnung notwendig und zweckmäßig.53
4. Der anzuwendende Effizienzmaßstab Gewissermaßen als »Nebenprodukt« dieser Überlegungen läßt sich erneut die Ungeeignetheit des Kaldor-Hicks Kriteriums bzw. des Gebots der interpersonellen Saldierung aufzeigen:54 Die Motivation der Parteien ist bei unterstellter Zweckrationalität darauf gerichtet, durch den Vertrag das eigene Interesse (welcher Art auch immer) zu fördern. Der mutmaßliche Wille der Parteien ist mithin nie darauf gerichtet, das eigene Interesse oder den eigenen Nutzen zum Wohle anderer oder der Gesellschaft zurückzustellen. Die »Bilanz« der Vertragspartner soll nach dem mutmaßlichen Willen der Parteien positiv sein. Dies schließt die Anwendung des Kaldor-Hicks Kriteriums zur Bewertung von Regeln des Vertragsrechts aus, zumindest insoweit als diese Regeln eine Verkörperung des mutmaßlichen Parteiwillens darstellen sollen. Der zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens einzig angemessene Effizienzmaßstab ist das Pareto-Kriterium.55 Denn nur der gemeinsame Wille der Vertragsparteien ist hinreichend für eine vertragliche Bindung.56 Dies ist die Schnittstelle zwischen hypothetischen Imperativen und der durch Vertrag begründeten kategorischen Bindung an den Vertrag: Wenn beide Parteien eine Rechtsfolge intendieren, so gilt diese. Wenn, wie so oft mangels unmittelbarer Erkenntnismöglichkeit, der wirkliche Wille im Dunkeln bleibt und also der mutmaßliche Wille zugrunde gelegt werden muß, so ist dieser im Zweifel des Inhalts, den beide Parteien nach Klugheitsregeln anderen Inhalten vorziehen würden.
V. Die Reichweite des materiellen Prinzips Aus den soeben angestellten Schritten 1. bis 4. dieses Gedankenganges ergibt sich eine »qualifizierte« normative Relevanz der ökonomischen Analyse für das Ver53 54 55 56
Skeptisch bis ablehnend dagegen Oechsler Fn. 45, S. 136ff. S. auch die Einwände gegen das Kaldor-Hicks-Kriterium bei Oechsler Fn. 45, S. 137. So auch Shavell Fn. 48, S. 293, 301ff. S. 46ff.
V. Die Reichweite des materiellen Prinzips
159
tragsrecht. Das ist die Reichweite des materiellen Prinzips.57 Die ökonomische Analyse ist als Methode sinnvoll und in Teilbereichen unerläßlich für die Ermittlung des Parteiwillens. Zwar besteht eine Prärogative für den wirklichen Willen einer Partein,58 jedoch läßt sich dieser in der Regel nicht zweifelsfrei bestimmen und/oder die Parteien haben eine widersprüchliche oder lückenhafte Regelung getroffen. In solchen Fällen ist der mutmaßliche Wille entweder anhand des dispositiven Rechts festzulegen oder anhand der Interessen im Einzelfall59 zu bestimmen – auf beiden Ebenen spielen Zweckmäßigkeitsüberlegungen eine zentrale Rolle. Allerdings sind diejenigen Regeln des Vertragsrechts von der Folgenanalyse ausgenommen, die nicht Gegenstand einer abweichenden Vereinbarung sein können. Damit ist nicht etwa das zwingende Recht im herkömmlichen Sinn gemeint, sondern die Regeln des Vertragsrechts, die jeder Vertrag zu seiner Gültigkeit voraussetzt. Das sind also die Bedingungen der Möglichkeit eines Vertrages. Dies sind im Wesentlichen zwei Regelkomplexe: die Regeln, die die Bindung an den Vertrag bewirken und die den Kern des Leistungsstörungsrechts ausmachen, sowie die Zurechnungsregeln, anhand derer der Vertragschluß gemessen wird. Ein Vertrag, dem keine Bindungswirkung zukommt, wäre, wie bereits gezeigt, gar kein Vertrag, sondern, allenfalls, eine Absichtserklärung.60 Aus diesem Grund ist auch die Effizienz-Regel kein denkbarer Gegenstand für eine Vertragsvereinbarung.61 Dieser Zusammenhang wird für das Leistungsstörungsrecht fruchtbar zu machen sein. Um einen Extremfall zu nennen: Ein Vertrag, dessen Bruch nicht sanktioniert wird, ist kein Vertrag und begründet kein subjektives Recht, das es staatlicherseits zu schützen gelte. Bezeichnen Parteien eine solche »Abrede« dennoch als Vertrag, so irren sie schlicht über den Begriff Vertrag. Das Leistungsstörungsrecht ist deshalb, wie im einzelnen noch zu untersuchen sein wird, zumindest in seinem Kern nicht frei verfügbar.
57 Das »substantielle« Moment im Begriff des subjektiven Rechts, wie Jhering formuliert, dazu S. 103ff. 58 Vgl. § 133 BGB. 59 Vgl. § 157 BGB. 60 Vgl. S. 116ff. Regel-utilitaristische Theorien sehen eine ähnlich strenge Bindung vor. 61 Vgl. S. 144ff.
§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik Die bisherigen Kapitel haben eines bewiesen: Es gibt keinen Mangel an normativer Vertragstheorie im nicht-positivistischen Sinn. Der Reichtum an rechtsphilosophischen Ansätzen könnte leicht mehrere Bände füllen. Die Spanne reicht von deontologischen Theorien bis hin zu extrem konsequentialistischen Theorien. Eine Mittelstellung nehmen der Regelutilitarismus und teleologische Theorien ein. Ob diese Ansätze als »Naturrecht« zu bezeichnen sind oder nicht, ist unerheblich, doch in einem stimmen diese Theorien überein: Ihre Überzeugungskraft ist nicht davon abgeleitet, daß sie mehr oder weniger mit einem wirklich bestehenden Rechtssystem übereinstimmen. Darin unterscheiden sie sich von den »interpretativen Theorien«, die zumindest vorgeben, sich innerhalb der Wertungen einer vorgefundenen Ordnung positiven Rechts zu bewegen.1 Es bedeutete eine Verarmung der Rechtsphilosophie, wenn man diesen Reichtum an Theorie vom Recht gänzlich fernhalten wollte, und sich allein in den Dienst einer positivistischen Dogmatik stellte.2 Damit soll nicht die Geltung einer bestimmten Norm des positiven Rechts in Frage gestellt werden, sondern ihre Rückführbarkeit auf allgemeine Grundsätze als Qualitätsmerkmal wieder verstärkt bewußt gemacht werden.3 Im 19. Jahrhundert war dies selbstverständlicher als heute.4 Es sind nunmehr die Regeln des positiven Rechts zu untersuchen und ihre Vereinbarkeit mit Vertragstheorie zu prüfen. Wenn daraus farbenkräftige Aussagen der positiven oder negativen Kritik erwachsen, wird der Nutzen der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Recht vielleicht auch solche Vertreter des Faches einnehmen, die bisher allein dem positiven Recht verhaftet waren. Welches sind nun die »zentralen Erkenntnisse«, die bisher zu Tage gefördert wurden und an denen sich die Vertragsrechts-Dogmatik ausrichten sollte? Vertragsrecht beruht auf der Bindung an den Vertrag und der Vertragsfreiheit. Beide Grundannahmen sind je nach Theorie unterschiedlich weitgehenden Einschränkungen unterworfen. Im Ausgangspunkt besteht jedoch weitgehende Einigkeit, daß der Zweck des Vertrages darin besteht, ein subjektives Recht einer Person gegen eine andere zu begründen und dessen Inhalt jedenfalls zunächst im Belieben 1
Näher § 1 oben. S. auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 210. 3 S. bereits Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 198. 4 Auch für die Autoren der historischen Rechtsschule, die dem Naturrecht skeptisch gegenüberstanden, s. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 377ff. und S. 57ff. 2
I. Überpositive Grundlagen
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der Vertragsparteien steht. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Vertragstheorien, denen im ersten Teil Eignung als juristische Theorie attestiert wurde. Aufgabe des Staates ist es dementsprechend, der Selbst-Bindung Glaubhaftigkeit zu vermitteln. Das bedeutet: Das subjektive Recht ist notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Bereits aus diesen wenigen über-positiven Grundlagen ergeben sich wichtige Folgerungen für die juristische Dogmatik. Ein weiterer Zweck dieses Kapitels besteht darin, den Regelungsspielraum des positiven Rechts im Privatrecht im Hinblick auf den Schutz subjektiver Rechte aufzuzeigen. Das bereits in § 1 formulierte Leitmotiv der Einheit der theoretischen Grundlage in der Vielfalt der Systeme des positiven Rechts kommt dabei erstmalig in konkreter Gestalt zum Vorschein.
I. Überpositive Grundlagen Bei Savigny war die Quelle der Einsicht, daß das Privatrecht ein System subjektiver Rechte ist, noch deutlich erkennbar, nämlich das Naturrecht. Er verwendete die, erst nach Kant von Hugo eingeführte, Terminologie des »subjektiven Rechts«.5 Der Begriff ist durch die reine praktische Philosophie vorgegeben. Wie Windscheid treffend formulierte, war die Verankerung Savignys System im römischen Recht in gewisser Hinsicht fiktiv: »Man war fortwährend geneigt, das römische Recht gleichsam apriorisch zu construieren, und Alles, was man als an und für sich begründet ansah, in demselben ausgesprochen zu finden. Man frug zuerst: was ergibt sich aus der Natur der Sache? und war dann überzeugt, daß das auch im römischen Recht anzutreffen sei.«6
Privatrecht ist der Bereich des Rechts (im objektiven Sinn), der sich mit der Begründung und Durchsetzung von »subjektiven Rechten« befaßt. Das ist der Gegenstand der ausgleichenden (bei Kant austeilenden) Gerechtigkeit: der Schutz subjektiver Rechte durch den Staat.7 Subjektiv sind diese Rechte nach der hier verwendeten Definition gerade deswegen, weil der Staat sie nicht erst in der Phase der Durchsetzung schafft, sondern nur durch objektives Recht sichert. Der Schuldner schuldet die Erfüllung des Vertrages nicht dem Staat gegenüber, sondern seinem Gläubiger. Daher ist der Staat auch nicht Voraussetzung für die Entstehung des subjektiven Rechts. Wenn man die Aufgabe des Privatrechts dagegen nicht a priori bestimmte, so müßte sich die Einführung eines Systems von gegenseitigen vertraglichen Ansprüchen, die staatlich durchgesetzt werden, als »zweckmäßig« erweisen lassen, nämlich im Hinblick auf den Zweck, den man seiner konsequentialistischen 5 6 7
S. 63ff. Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 1. § 2 I. und § 3 oben.
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
Theorie zugrunde legt. Wie erläutert, hält etwa J.S. Mill einen solchen Nachweis im Hinblick auf die gesamte bisherige menschliche Erfahrung für möglich.8 Auch ein (Regel-)Utilitarist könnte also für das Vertragsrecht wie Savigny eine durch subjektive Rechte/Ansprüche bestimmte Struktur von Rechtsverhältnissen befürworten.9 Zu dem gleichen Ergebnis kommen die (teleologischen) Vertragstheorien, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, bestimmte Werte zu schützen oder zu »perfektionieren«:10 Weil der Staat eine gewisse Pluralität der Werte zulassen muß und persönliche Autonomie ein wichtiger Wert innerhalb dieser Theorie ist, ist es Personen gestattet, Rechtsbeziehungen untereinander einzugehen, die wiederum zu einem System von Ansprüchen im Privatrecht führen. Auch wenn der Eingriff durch Kontrolle des Inhalts dieser Rechtsbeziehungen stärker ausfallen mag, so ist doch auch bei dieser Theorie das Privatrecht ein System subjektiver Rechte und der Vertrag eine »wertvolle« Handlungsform von Personen. Die Konvergenz der Vertragstheorien ist im vorliegenden Kapitel besonders zu betonen, weil die Einführung eines Systems von Ansprüchen, also staatlich durchgesetzter subjektiver Rechte, unabhängig von der im einzelnen vertretenen Vertragstheorie, wichtige Implikationen für das Vertragsrecht hat.11 Folgende Begriffsebenen sind zu trennen und für die sorgfältige Erfassung nicht nur des Leistungsstörungsrechts von Bedeutung12.
1. Drei normative Ebenen subjektiver Rechte Auf der abstraktesten und höchsten Ebene sind die subjektiven Rechte als möglich gedacht. Auf dieser Ebene ist das Kantische Postulat des Privatrechts angesiedelt,13 bzw. der »ideale Moralkodex« der teleologischen Theorien. Durch Vertrag begründete subjektive Rechte werden auf dieser Ebene abstrakt als Möglichkeit eingeführt. Dasselbe gilt etwa für die Rechte, die aus dem Eigentum fließen. Die Möglichkeit des Vertrages präjudiziert nicht dessen Verwirklichung. Es ist eine Gesellschaft von Menschen denkbar, die aus welchen Gründen auch immer tatsächlich keine Verträge schließen, auch wenn sie es könnten. 8
S. 113ff. S. 136ff. 10 S. 95ff. 11 Ausgenommen bleiben die extremen Formen des Konsequentialismus weil sie bereits aus normtheoretischen Gründen als Theorie des Rechts ungeeignet sind, S. 116ff., 144ff. 12 Die Begriffsbildung folgt dabei den Kriterien, die für die hier vertretene theoretische Erfassung des Privatrechts als maßgeblich erachtet wurden. Je nach dem Ziel der Untersuchung lassen sich abweichende und für die jeweilige Zielsetzung fruchtbare Unterscheidungen herausarbeiten. Für ein solches abweichendes Drei-Stufen-Modell vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 164ff., der auf einer ersten Stufe Gründe für subjektive Rechte lokalisiert, auf der zweiten subjektive Rechte als rechtliche Positionen einführt, während – insoweit hier ähnlich – der dritten Ebene Fragen der Rechtsdurchsetzung zugewiesen werden. 13 S. 35ff. 9
I. Überpositive Grundlagen
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Auf der mittleren Ebene sind subjektive Rechte möglich und wirklich. Dieser Fall tritt ein, wenn zwei Parteien tatsächlich einen Vertrag schließen, oder auch eine Person Eigentümer eines tatsächlich existierenden Grundstücks ist. Sind solche Ereignisse (Rechtsakte) in der Welt der Erfahrung vorgefallen, so entstehen konkrete subjektive Rechte zwischen bestimmten Personen. Diese können persönliche Rechte sein, die nur zwischen den beteiligten Personen entstehen, oder auch Sachenrechte, die sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen richten. Es ist klar, daß solche Rechte tatsächlich nur entstehen können, wenn sie auch möglich sind. Die abstrakte Ebene, auf der die Möglichkeit dieser Rechte postuliert wird, wird somit von der konkreten Ebene vorausgesetzt. Die beiden Ebenen werden durch eine dritte Ebene ergänzt. Ohne diese wäre das System subjektiver Rechte unvollständig. Die dritte Ebene stellt in Kantischer Terminologie den Übergang vom Naturzustand zum Zustand der rechtlichen Verfassung dar, vom provisorischen zum peremptorischen Besitz von Gegenständen der äußeren Welt.14 Erst dadurch, daß der Richter die wirklich bestehenden Rechte anerkennt und diese mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden, erhalten sie den Charakter des Notwendigen. Dabei ist es Aufgabe des Richters, die bereits »vorher«, also auf den vorgelagerten Ebenen bestehenden Rechte durchzusetzen. Was man schon hat, kann einem nicht gegeben werden. Kant spricht in diesem Zusammenhang von drei verschiedenen »Zuständen«.15 Sie entsprechen den hier diskutierten Ebenen: »Man kann den ersteren und zweiten Zustand den des P r i v a t r e c h t s , den letzteren und dritten aber den des ö f f e n t l i c h e n R e c h t s nennen. Dieses enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist ebenfalls dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen.«16
Die Legitimation des Staates, des »öffentlichen Rechts« liegt somit darin, eine rechtliche Verfassung zu ermöglichen, in der die subjektiven Rechte seiner Bürger nicht bloß provisorischen Charakter haben, sondern deren Inhalt notwendig zur Geltung kommt. Während freilich kein Konsens darüber besteht, was, davon einmal abgesehen, der Staat zu tun berechtigt ist, besteht über die Grenzen der einzelnen normativen Theorien hinweg Einigkeit, daß der Schutz subjektiver Rechte eine Aufgabe des Staates ist. So wird die dritte Ebene für den Bereich des Vertragsrechts sowohl von teleologischen Theorien als auch von konsequentialistischen Theorien gefordert17. Für Kimel etwa liegt in dieser dritten Ebene das Wesensmerkmal des Ver14
§ 2 I.3. oben. S. die umfassende Interpretation bei Byrd/Hruschka ARSP 2005, 494ff. 16 Kant, MS, AA VI, S. 306. 17 Ebenso sieht die gängige heutige zivilprozessuale Dogmatik den Schutz subjektiver Rechte zumindest als einen Hauptzweck des Zivilprozesses an; vgl. nur Stein/Jonas-Brehm, ZPO, § 1 15
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
trages im Unterschied zu sonstigen Versprechen, sogar sein intrinsischer Wert soll darin begründet sein.18 Auch innerhalb der ökonomischen Analyse ist wohl unumstritten, daß sogenannte »self-enforcing mechanisms« nicht ausreichen, um eine ausreichend stabile Vertragsdurchsetzung sicherzustellen; diese Aufgabe fällt auch hier dem Staat zu.19
2. Naturrecht und positives Recht Die Trennlinie zwischen Naturrecht und positivem Recht20 verläuft quer zu diesen drei Ebenen. Keinesfalls läßt sich das »statutarische Recht« etwa auf die dritte Ebene beschränken, während den beiden anderen Ebenen nur vorrechtlicher Charakter zugeschrieben werden könnte. In jeweils unterschiedlicher Hinsicht sind alle drei Ebenen geprägt durch überpositive Grundsätze einerseits und andererseits positives Recht, oder allgemeiner: durch in der Welt der Erfahrung festgelegte Regelungen. Zunächst zu den überpositiven Aspekten der drei Ebenen: Auf der ersten Ebene sind die Bedingungen der Möglichkeit von Privatrecht a priori bestimmt worden, auf der zweiten Ebene ist die Bindung an den Vertrag überpositiv begründet und schließlich ist der (gedachte) Übergang vom Natur- zum Rechtszustand, also das öffentliche Recht, wie es das Gericht verkörpert, ebenfalls Ergebnis einer vom positiven Recht unabhängigen Überlegung: »Wenn unter Naturrecht nur das nicht-statutarische, mithin lediglich das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht verstanden wird, so wird nicht bloß die zwischen Personen in ihrem wechselseitigen Verkehr untereinander geltende G e r e c h t i g k e i t (iustitia commutativa), sondern auch die austeilende (iustitia distributiva), sowie sie nach ihrem Gesetze a priori erkannt werden kann, daß sie ihren Spruch (sententia) fällen müsse, gleichfalls zum Naturrecht gehören.«21
Die Naturrechtsterminologie ist heute zwar aus der Mode gekommen, der Sache nach ist der »ideale Moralkodex« eines Regelutilitaristen22 oder etwa der »intrinsische Wert« eines Vertrages23 bei den teleologischen Theorien nichts anderes: eine normative Forderung, die zum Gegenstand hat, wie ein Rechtssystem beschaf-
Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 2; demgegenüber die soziale Gestaltungsaufgabe des objektiven Rechts betonend E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, S. 31ff.; Pawlowski ZZP 80 (1967), 345ff. 18 S. 96ff. S. auch die Aussagen Gordleys, S. 93ff. 19 S. die Aufgabe des Staates aus Sicht der ökonomischen Analyse S. 136ff. 20 Zu der davon abweichenden Trennlinie zwischen Naturrecht und Positivismus vgl. S. 8ff. 21 Kant, MS, AA VI, S. 296–297. 22 S. 116ff. 23 S. 95ff.
I. Überpositive Grundlagen
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fen sein sollte.24 Diese Forderung darf freilich nicht mit dem Geltungsanspruch einer Norm in einem bestimmten wirklich bestehenden Rechtssystem verwechselt werden; Geltung kommt nur dem positiven, also empirisch wirklichen, Recht zu.25 Die praktische Philosophie beschreibt aber nur Bedingungen der Möglichkeit einer Gesellschaft, in der der Schutz subjektiver Rechte das Ziel des Staates ist. Ohne sein wirkliches Bestehen, also positives Recht, ist eine peremptorische Sicherung des Besitzes gerade nicht möglich. Daher folgt für Kant sogar eine Pflicht des Einzelnen, mit anderen in einen Rechtszustand zu treten, also einen Staat zu verwirklichen.26 Ein subjektives Recht »gilt« also nicht bereits deswegen, weil es a priori bestehen kann. Wenn der Staat ihm die Durchsetzung versagt, so fehlt ihm ein entscheidendes Moment zu seiner Vollständigkeit: die Notwendigkeit mit der es durchgesetzt wird. Andernfalls ist es nicht mit der Befugnis zu zwingen verbunden, die doch das Wesensmerkmal des subjektiven Rechts nach Kant ist. Statutarisches Recht ist also von größter Wichtigkeit. Ohne einen wirklich bestehenden Staat mit funktionierenden Gerichtshöfen ist das Verlassen eines Zustands der bloß provisorischen Rechte – um es drastischer mit Hobbes zu formulieren: des Zustands des Krieges aller gegen alle! illusorisch.27 In diesem Licht kann nun erneut das Verhältnis von Naturrecht zum positiven Recht betrachtet werden.28 Im Idealfall erläßt der Gesetzgeber statutarisches Recht, das dem für richtig befundenen genau entspricht, und das von der Exekutive und der Judikative, ohne es zu verfälschen, angewendet wird. Ein »Ideal«, um nicht zu sagen »Utopie«, ist dies schon deswegen, weil keine Einigkeit über den besten Inhalt der Gesetze besteht, der Gesetzgeber insoweit keine sichere Orientierung besitzt, und weiterhin deswegen, weil Gesetzgebung und Gesetzesanwendung unter Reibungsverlusten leiden.29 Hinzu kommt, daß, was bereits Savigny klar ausspricht30 und für Rechtsvergleicher selbstverständlich sein sollte, ein Spielraum für »vernünftiges« Recht besteht, innerhalb dessen sich das positive Recht bewegen kann. Die offensichtlich überragende Bedeutung des positiven Rechts sollte gleichwohl nicht zu dem Irrglauben verleiten, daß das positive Recht letzten Endes 24 Für den dem positiven Recht externen Standpunkt der ökonomischen Analyse gilt dies erst recht, S. 122ff. 25 Wie in dem Abschnitt zu dem Verhältnis von Naturrecht und Positivismus, S. 8ff., bereits gezeigt wurde. 26 Kant, MS, AA VI, § 42, S. 307. 27 Hobbes, Leviathan, Kap. 13, S. 62: »And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.« 28 S. auch Byrd/Hruschka ARSP 2005, 494, 497ff. 29 Die von der »Neuen Institutionen Ökonomie« und anderen Disziplinen wie der Psychologie oder Soziologie getroffenen Feststellungen zu den Einschränkungen menschlicher Tätigkeit und Rationalität lassen sich schwerlich ignorieren. 30 S. 64f.
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
doch völlig beliebig sei. Dem ist nicht so: Auf der ersten Ebene ist Aufgabe des positiven Rechts, die Möglichkeit von subjektiven Rechten durch die Schaffung von tatsächlich bestehender Rechtsmacht zu einer realen Möglichkeit werden zu lassen. Auf das Vertragsrecht bezogen, bedeutet dies die Einführung des Vertrages als staatlich anerkannter Handlungsform und die Garantie von Vertragsfreiheit.31 Auf das Sachenrecht bezogen bedeutet dies z.B. die Einführung der Rechtsmacht »Eigentum«.32 Beide Aspekte zusammengenommen ermöglichen schließlich den »freien Markt«, der wiederum für utilitaristische Theorien zentraler Bestandteil des »idealen Moralkodex« ist. Hinsichtlich der Anforderungen an den Inhalt des Vertrages bestehen freilich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Vertragstheorien. Auf diese muß nicht eingegangen werden, weil die Kontroverse gerade belegt, daß man dem positiven Recht hier eine vor-positive Funktion zuschreibt. Auf der zweiten Ebene gibt es keine vom Gesetzgeber herrührenden positiven Gesetze, doch es existieren hier die rechtlich relevanten konkreten Handlungen der Privatrechtssubjekte.33 Auf der dritten Ebene schließlich sind es Vorschriften des öffentlichen Rechts und des Prozeßrechts, die notwendig sind, um dem Satz: Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden, tatsächlich Geltung zu verleihen.34 Dieser Überblick über die Aufgaben des positiven Rechts wäre nicht vollständig, ohne den Hinweis darauf, daß die Ebenen nicht isoliert voneinander bestehen. Kennte man die Funktion der dritten Ebene nicht, wären manche Normen des positiven Rechts der ersten Ebene unverständlich. Der Gesetzgeber muß bei der Gestaltung der Rechtsmacht im einzelnen die Auswirkungen auf die dritte Ebene, die Ebene der Rechtsdurchsetzung, bedenken.35 Die Regeln des positiven Rechts der ersten Ebene sollen also durchaus Rücksicht darauf nehmen, wie eine Streitsache am »leichtesten« und »sichersten« vor einem Gerichtshof abgeurteilt werden kann. Zwischen den verschiedenen Ebenen des Schutzes subjektiver 31
Beides kommt in § 311 I BGB und Art. 2 I GG, wenn auch nur indirekt, zum Ausdruck. Wie es etwa u.a. in § 903 BGB und Art. 14 GG geschehen ist. 33 Die auf dieser Ebene in konkreten Verträgen getroffenen Regelungen kann man mit dem durch den Gesetzgeber geschaffenen positiven Recht auf den anderen Ebenen durchaus vergleichen. Wie groß der Spielraum der Privatrechtssubjekte tatsächlich ist, wird jedoch nicht auf dieser Ebene festgelegt, sondern durch Justierung der Rechtsmacht durch »Bürgerliche« Gesetzbücher und sonstiges positives Recht auf der ersten Ebene. 34 Für den Rechtszustand als solchen sind die Regeln der Staatsorganisation relevant, sowie generell das, was im modernen Verfassungsrecht als rechtsstaatliche Anforderung verstanden wird, etwa die Gewaltenteilung. Darüber hinaus gehören hierher das unmittelbar auf die Durchsetzung von subjektiven Rechten bezogene (objektive) Recht. Das positive Recht auf dieser Ebene läßt sich unterteilen in Vorschriften über die Erkenntnis der subjektiven Rechte (daher nicht zufällig »Erkenntnisverfahren« genannt) und Vorschriften über die Durchsetzung der erkannten (»titulierten«) Rechte im Zwangsvollstreckungsverfahren. 35 Dieser Zusammenhang ist nach Kant ebenfalls bereits a priori vorgegeben. Dies ist plausibel, denn ohne die gerichtliche Durchsetzung sind subjektive Rechte unvollständig. Kant, MS, AA VI, S. 302–303 (dort im Zusammenhang des Gutglaubenserwerbs und des Verkehrsschutzes); dazu Harke ARSP 2005, 459, 477ff. 32
II. Der Schutz subjektiver Rechte im deutschen Recht
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Rechte besteht also eine Wechselwirkung, die zu berücksichtigen, Aufgabe des Gesetzgebers ist.
II. Der Schutz subjektiver Rechte im deutschen Recht 1. Subjektives Recht und Anspruch Die Pandektenlehrbücher des 19. Jahrhunderts schufen, wie gesehen, ihre privatrechtlichen Systeme auf der Grundlage des römischen Rechts doch mit naturrechtlicher Prägung. Der wichtigste Oberbegriff dieser Systeme war der des subjektiven Rechts. Der Begriff »subjektives Recht« wurde zwar weder in der Zivilprozeßordnung, dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Handelsgesetzbuch verwendet. Die Lehrbuchliteratur, die in den ersten Jahrzehnten nach Inkrafttreten des BGB entstanden ist, knüpft jedoch nahtlos an diese Tradition an. Einige repräsentative Beispiele mögen an dieser Stelle genügen. Das Lehrbuch von Tuhrs aus dem Jahre 1910 eröffnet seine Abhandlung zum Allgemeinen Teil noch mit der Feststellung: »Der zentrale Begriff des Privatrechts und zugleich die letzte Abstraktion aus der Vielgestaltigkeit des Rechtslebens ist das Recht des Subjekts, das »subjektive Recht«, wie man es im Gegensatz zum objektiven Recht (der Rechtsnorm) zu nennen pflegt.«36
In ähnlicher Weise verfährt das Lehrbuch von Enneccerus (fortgeführt von Nipperdey), wenn es als Oberbegriff des Privatrechts dem »objektiven Recht« den von Jherings »Interessentheorie« beeinflußten37 »Begriff der subjektiven Rechte« an die Seite stellte und definiert: »Das subjektive Recht ist b e g r i f f l i c h eine Rechtsmacht, die dem einzelnen durch die Rechtsordnung verliehen ist, seinem Z w e c k nach ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Interessen.«38
Auch die maßgeblichen Schuldrechtslehrbücher dieser Zeit operieren wie selbstverständlich mit dem Begriff des subjektiven Rechts. Bei Heck etwa heißt es: »›Forderungsrecht‹ oder ›Anspruch‹ nennen wir das subjektive Recht einer Person, des Gläubigers, von einer anderen Person, dem Schuldner, eine Handlung, die Leistung zu verlangen (§§ 241, 194). Diesem Recht entspricht auf seiten des Schuldners eine Pflicht, die ›Schuld‹ oder ›Verbindlichkeit‹.«39
Es genügt schließlich anzumerken, daß selbst die Autoren, die sich von den naturrechtlichen Tendenzen der historischen Rechtsschule abwenden, diesen Bruch 36
v. Tuhr, Allgemeiner Teil, Bd. 1, S. 53. Näher zum subjektiven Recht bei Jhering und zur »Interessentheorie« S. 103ff. 38 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, Bd. 1, § 72, S. 428f. (Nicht ohne den Begriff »rechtsethisch«, aaO.S. 429, aufzuladen.) 39 Heck, Schuldrecht, S. 1. 37
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
ebenfalls innerhalb der überkommenen Terminologie vollziehen. In Umkehrung der Kantischen These behauptet etwa Leonhard: »Das subjektive Recht wird durch die objektiven Rechtssätze erst geschaffen und nicht etwa nur unterstützt.«40
Der Begriff »subjektives Recht« und vor allem die um ihn geführte theoretischnaturrechtliche Auseinandersetzung sind im Laufe der Zeit immer weiter verblaßt. Angesichts der hohen systematischen Durchdringung des Stoffes in der Pandektenliteratur, von der die hohe Qualität des BGB abgeleitet ist, war eine gewisse Stagnation allerdings auch zu erwarten. Medicus, um ein Beispiel zu geben, widmet dem Begriff des subjektiven Rechts zwar noch eine hervorgehobene Stellung, stellt aber lapidar fest, daß der Streit um die Fundierung des Begriffs im Willen allein oder zusätzlich im Interesse nicht viel Bedeutung hätte.41 Die gängigen Lehrbücher beschränken sich auf eine (kurze) Definition, meist im Sinne einer dem einzelnen durch das objektive Recht »erteilten« Rechtsmacht (teilweise unter Einbeziehung des Interessenschutzes),42 und fahren dann mit einer Klassifizierung der im BGB vorgesehenen Rechte fort.43 Subjektive Rechte, in dem hier gebrauchten engeren Sinne, sind in der Terminologie des BGB »Ansprüche«. Es ist nicht ganz unwichtig, dies vorliegend zu betonen, denn üblicherweise wird der Begriff »subjektives Recht« erheblich weiter verstanden. Darunter sollen etwa auch Gestaltungsrechte, Aufhebungsrechte, Einreden u.v.m. fallen.44 Anspruch ist das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Diese Legaldefinition in § 194 BGB reduziert die Rechtsverhältnisse des Privatrechts auf eine abstrakte Formel mit nur zwei Elementen: Das Rechtsverhältnis ist bipolar, denn es gibt einen Berechtigten und einen Verpflichteten, und es besteht zwischen den Privatrechtssubsubjekten und nicht zwischen diesen und dem Staat. Das Rechtsverhältnis existiert, wenn der Gläubiger gegen den Schuldner ein Recht hat, ein Tun oder Unterlassen zu verlangen, also der Schuldner dem Gläubiger gegenüber eine Pflicht hat, dasjenige zu tun oder zu unterlassen, was verlangt wird. Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden, wie es prägnant bei Kant heißt, und somit ist der »Anspruch« des Gläubigers konsequenterweise ein Zwangsrecht: Die im Bürgerlichen Gesetzbuch anerkannten Ansprüche sind von den Gerichten und staatlichen Organen im Erkenntnisverfahren nachzuvollziehen und im Zwangsvollstreckungsverfahren notfalls mit Gewalt durchzusetzen. 40
Leonhard, Allgemeines Schuldrecht, S. 12. Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 70. 42 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil, § 14. 43 Z.B. Brox, Allgemeiner Teil, Rn. 610; Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 280ff. (»Zuweisung einer Verhaltensberechtigung«); Köhler, Allgemeiner Teil, § 17 Rn. 5. 44 So zumindest Enneccerus/Nipperdey Fn. 38, S. 441ff. Ähnlich weit aus neuerer Zeit etwa Medicus Fn. 41, Rn. 62ff. 41
II. Der Schutz subjektiver Rechte im deutschen Recht
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Der Begriff des »Anspruchs« erfaßt genau den Aspekt, den Kant nach dem Postulat des Privatrechts für a priori maßgeblich hält, nämlich den des intelligiblen Besitzes von Gegenständen der Außenwelt – seien dies ein Ausschnitt aus der Willkür einer Person oder Sachen – und der daraus erwachsenden Verbindlichkeit gegenüber dem »Besitzer«. Bei Savigny hat das Sachenrecht die »faktische Herrschaft über Sachen« und das Obligationenrecht »die partielle Herrschaft über fremde Handlungen« zum Stoff.45 In diesem Sinne definiert auch von Tuhr noch, was er offenbar im Anschluß an Savigny als »Herrschaftsrechte« zu bezeichnen vorschlägt: »Die meisten und wichtigsten subjektiven Rechte gewähren eine Herrschaft über ein außerhalb des Subjekts stehendes Stück der Außenwelt: ein Objekt. Das Objekt kann sein eine Sache, eine Person, oder ein Geistesprodukt, dessen ausschließliche Benutzung dem Subjekt gewährleistet wird.«46
Der ganz entscheidende Gesichtspunkt ist hierbei, daß aus der Zuweisung der Herrschaft über einen Gegenstand der Außenwelt zu einer Person folgt, daß anderen Personen eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs dieser Gegenstände zu enthalten.47 Ein subjektives Recht kann nur zwischen Personen bestehen. Die Rede von den Herrschaftsrechten ist geblieben,48 doch wird der Begriff zuweilen zu wörtlich genommen.49 Auch vertragliche Ansprüche sind, da ist von Tuhr50 uneingeschränkt zuzustimmen, nichts anderes als Herrschaftsrechte, da sie, wie erläutert, den intelligibelen Besitz der Kausalität der Willkür des Schuldners begründen, die Leistung zu bewirken. Das Wort »Herrschaftsrecht« ist freilich unglücklich gewählt, weil es die völlige Herrschaft suggeriert,51 um die es selbstverständlich nicht geht. Argumente, die von der Gleichheit der Personen abgeleitet sind, und aufzuzeigen versuchen, daß die völlige Herrschaft einer Person über eine andere im Privatrecht heute nicht mehr hingenommen werden dürfe, gehen deshalb an der Sache vorbei.52 Alle anderen Arten von Rechten, d.h. die keine Herrschaftsrechte sind, sind jedenfalls keine subjektiven Rechte i.e.S.. Gestaltungsrechte verschaffen dem einzelnen zwar unzweifelhaft eine Rechtsmacht, aus ihr erwächst jedoch keine Pflicht, keine Person ist dadurch Schuldner. Ebenfalls ist es nicht der Staat, der das Recht erst durchsetzen müßte, sondern die Wirkung tritt von selbst ein: Der ange45
Savigny System Bd. 1, § 56, S. 367, 369. v. Tuhr Fn. 36, S. 62. Enneccerus/Nipperdey Fn. 38, S. 440 (»Beherrschungsrechte«). 47 Kant MS, AA VI, § 2, S. 247. 48 S. nur Brox Fn. 43, Rn. 623. 49 So wird gelegentlich der Eindruck erweckt, es würde ein Recht zwischen einer Person und einer Sache bestehen, was nicht nur a priori ausscheidet, sondern auch das BGB nicht vorsieht. 50 v. Tuhr Fn. 36, S. 62. 51 Brox Fn. 43, Rn. 623 z.B. verweist auf den »Schuldturm (!)« und »Leibeigenschaft«. 52 So aber Raisers Ablehnung des Begriffs Herrschaftsrecht im Zusammenhang der Personenrechte, JZ 1961, 465, 470. 46
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
fochtene Vertrag ist nichtig. Diese zweite Gruppe von Rechten gestattet dem Rechtsinhaber, durch seinen Willen den Bestand von Herrschaftsrechten unmittelbar zu verändern.53 Diese Rechte sind auf die subjektiven Rechte bezogene Hilfsrechte, die ihrer Funktion nach der dritten Ebene, der Ebene der Rechtsdurchsetzung, zuzuordnen sind.54 Die Einrede der Verjährung (§ 214 BGB) ist funktional ebenfalls der dritten Ebene zuzuordnen.55 Die Verankerung des Begriffs »Anspruch« im Herzen des Privatrechts prägt die Ausbildung der deutschen Juristen56 sowie Inhalt und Form von Entscheidungen der deutschen Zivilgerichte bis zum heutigen Tag. Dies ist zwangsläufige Folge der apriorischen oder sonst normativen Grundlagen des Privatrechts als eines Systems subjektiver Rechte.57 Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß die vorpositiven Grundlagen, wie sie im 19. Jahrhundert und davor gelegt wurden, das deutsche Privatrecht tiefgehend beeinflußt haben, wenn auch die Fundierung des Begriffs des subjektiven Rechts und seine ursprüngliche Bedeutung heutzutage verblaßt ist.
2. Für mehr Aktionendenken? Eugen Bucher sieht demgegenüber gerade in der Hinwendung zu naturrechtlichem Gedankengut und insbesondere in den naturrechtlichen Kodifikationen einen Rückschritt.58 Er beklagt, daß diese einem »normativen Denken«59 Vorschub geleistet haben, bei dem das Privatrecht nicht als ein System von Rechten, sondern als ein Geflecht von durch objektives Recht auferlegten Pflichten verstanden wird. Das Privatrecht könne entweder als Summe von Verhaltensnormen oder als Summe von Sanktionen aufgefaßt werden. Das Aktionendenken betrachte dabei die zweite Phase, in der die Rechtsordnung »das Stadium bloßer Behauptung rechtlicher Verhältnisse überwindend, zu deren verbindlicher Feststellung ge-
53
v. Tuhr Fn. 36, S. 62, bezeichnet sie deshalb als »sekundäre Rechte«. Sie gestatten einer Person die Rechtslage einseitig und unmittelbar zu ändern, ein Vorgang, der ebenso wie die anderen Selbsthilferechte (Notwehr, Notstand und Besitzschutz) engen Grenzen unterliegen muß. Die Anordnung der gerichtlichen Mitwirkung bei den Aufhebungsrechten im französischen Recht bestätigt diese Perspektive auf die Gestaltungsrechte. Dazu § 13 II. unten. Die liberalere Handhabung durch das BGB beruht dagegen auf der Auffassung, daß es sinnvoll sein kann, den Bestand bzw. die Fortdauer eines subjektiven Rechts in das Ermessen eines der Beteiligten zu stellen, ohne daß eine neutrale Instanz bemüht werden müßte. 55 Dies erklärt unter anderem, warum das common law diese Frage systematisch im Prozeßrecht verortet (limitation of actions), Bucher AcP 186 (1986), 1, 10. 56 Vgl. vor allem die Verteidigung der Idee des Anspruchs als »Rückgrat der zivilistischen Lehrmethode« durch Medicus AcP 174 (1974), 313. 57 Aus Sicht der Interessentheorie Schapp JuS 1992, 537, 538 (»durch die Aufgabe des Rechts vorgegeben«). 58 Bucher AcP 186 (1986), 1. 59 Bucher AcP 186 (1986), 1, 4ff. 54
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langt, dem Prozeß«.60 Es sei daher geboten, nach Tradition des römischen Rechts zu mehr »Aktionendenken« zurückzukehren. Dies sei zwar nur eine Änderung der Optik, sie würde aber den Blick wieder verstärkt auf das Wesentliche des Privatrechts lenken.61 Diese Forderung, das Recht als Summe von Sanktionen und nicht als Summe von Verhaltensregeln zu betrachten, ist nicht neu. Ihr vielleicht berühmtester Vertreter war Justice Oliver Wendell Holmes. Über Rechtstheorie bemerkte dieser, daß sie oft das Gespann vor das Pferd setze, indem sie Rechte und Pflichten unabhängig von den Sanktionen ihrer Verletzung analysiere.62 Um das Recht zu erfassen, müsse man dagegen die »Perspektive eines schlechten Menschen« einnehmen: »If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not as a good one, who finds his reason for his conduct, whether inside the law or outside of it, in the vaguer sanctions of conscience.«63
Es muß klargestellt werden, daß diese Sichtweise von Holmes nicht als Aufforderung zu einem platten Positivismus gemeint war. In der Tradition der deutschen historischen Schule, mit der er vertraut ist, hält er für ein vollständiges Erfassen des Rechts zusätzlich die Rechtsgeschichte und die Philosophie (sowie die Ökonomie) für notwendig: »Read the works of the great German jurists, and see how much more the world is governed to-day by Kant than by Bonaparte.«64
Die Kenntnis der Regeln des positiven Rechts ist vielmehr für die Durchsetzbarkeit von subjektiven Rechten allein entscheidend und diese ist wiederum für das allgemeine Verständnis des Rechts bedeutsam. Das Denken in Sanktionen sowie generell das, was mit Bucher schlagwortartig »Aktionendenken« genannt werden könnte, ist ein zentrales Moment des Rechts. Die Ebene der Rechtsdurchsetzung ist notwendiger Teil der überpositiven Grundlagen des Privatrechts. Und es mag auch sein, daß die Konzentration auf das, was heute als materielles Recht verstanden wird, in der jüngeren Vergangenheit den Blick eingeengt hat. Das Leistungsstörungsrecht, das Bucher nicht näher behandelt, ist in mancherlei Hinsicht ein Beispiel dafür. Um diese Verzerrungen zu vermeiden, wird in der vorliegenden Untersuchung neben der ersten Ebene der materiell-rechtlichen subjektiven Rechte auch die dritte Ebene ihrer Durchsetzung systematisch einbezogen.65 In der Sache mögen die Einwände Buchers al60 61 62 63 64 65
Bucher AcP 186 (1986), 1, 5. Bucher AcP 186 (1986), 1, 66ff. Holmes 10 Harv. L.Rev. 457, 458 (1897). S. dazu auch S. 225ff. Holmes 10 Harv. L.Rev. 457, 459 (1897). Holmes 10 Harv. L.Rev. 457, 478 (1897). Vgl. S. 253ff. u.ö.
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so zutreffend sein. Nur kann der vollständige Wechsel der Perspektive in mindestens ebenso starkem Ausmaß zu einer begrifflichen wie auch dogmatischen Verwirrung führen, wie das ausschließliche Untersuchen der Verhaltensnormen. Die überragende Bedeutung der actio im römischen Privatrecht66 hat eine geordnete systematische Erfassung der subjektiven Rechte sowie deren Schutz im Prozeß nicht unbedingt befördert. Der gesamte Rechtsstoff war unter aktionenrechtlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Bis tief in die Neuzeit hinein hat dieses aktionenrechtliche Denken die Juristen geprägt: Zunächst aus praktischen Gründen der Prozeßwirklichkeit, die sich dann auch dogmatisch, materiell-rechtlich verfestigten.67 Um auf die überpositiven Grundlagen zurück zu kommen: In einem solchen System wird die erste Ebene der Möglichkeit subjektiver Rechte vollständig überlagert. Subjektive Rechte sind von vornherein nur in den engen Grenzen einer sich stets wandelnden Prozeßpraxis erfaßbar. Dieses aktionenrechtliche Denken hat trotz seiner ungezählten sonstigen Vorzüge dazu geführt, daß das Privatrecht lange Zeit fragmentarisch und formalistisch war. Die Prärogative der dritten Ebene ist zudem sachlich deshalb verfehlt, weil sie den Begründungszusammenhang verkehrt. Subjektive Rechte werden nicht durch den Staat gewährt, denn man kann, um erneut Kant zu zitieren, einem nicht geben was man schon hat. Die Ebene der Rechtsdurchsetzung hat vielmehr einen grundsätzlich akzessorischen Charakter.68 Erst die historische Schule hat mit erheblicher Wirkung für die Praxis und geleitet durch die naturrechtlichen Vorarbeiten das Übergewicht der dritten Ebene stark abgemildert.69 Dadurch erst ist eine dogmatische Trennung der verschiedenen Ebenen des Schutzes subjektiver Rechte ermöglicht worden. Friedrich Carl von Savigny entwickelt sein System anhand eines abstrakten Begriffs des subjektiven Rechts bzw. des Rechtsverhältnisses und unterscheidet zwischen materiellrechtlichem Recht und seiner Durchsetzung im Prozeß. Dennoch hält er zumindest formal an diesem Zentralbegriff des römischen Rechts, der actio, fest. Er deutet ihn jedoch in ein materiell-rechtliches Klagrecht um.70 Dieses Klagrecht sei das durch die Verletzung eines Rechts erzeugte Recht auf gerichtlichen Schutz, also
66 Die Erteilung oder Versagung einer actio durch den Prätor hatte für den Schutz des Verletzten ganz entscheidende Folgen. Wurde sie versagt, war dies das Ende des Rechtsschutzes. Wurde sie erteilt, wurde nur der materiell-rechtliche Ausschnitt Gegenstand des Verfahrens, den die erteilte actio umfaßte. Und dennoch konnte bei Unterliegen grundsätzlich kein zweites Verfahren angestrengt werden, das auf denselben Lebenssachverhalt Bezug nahm. 67 Kaufmann JZ 1964, 482, 486. 68 Was jedoch Wechselwirkungen, wie erläutert, nicht ausschließt: Bei der Schaffung von materiellem Recht auf der ersten Ebene ist die Leichtigkeit und Sicherheit der späteren Durchsetzung durch staatliche Organe zu bedenken. 69 Kaufmann JZ 1964, 482, 487. 70 Kaufmann JZ 1964, 482, 488.
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die Aufhebung der Verletzung.71 Es ist schließlich Bernhard Windscheid, der dem Aktionendenken ein Ende bereitet.72 In seiner Schrift Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts stellt er eine handgreifliche Diskrepanz zwischen dem weit fortgeschrittenen materiell-rechtlichen Denken der ersten Ebene und dem künstlichen Festhalten an der Dominanz der dritten Ebene fest und fordert, aus dieser Einsicht Konsequenzen zu ziehen: »Diese actio ad exhibendum, diese petitio hereditatis, diese rei vindicatio und actio Publiciana, und wie sie alle heißen, wandeln wie Gespenster bei lichtem Tage umher. So lange sie nicht entfernt sind, kann in Deutschland an ein volksthümliches Recht nicht gedacht werden. Die Wissenschaft hat keine dringendere Aufgabe, als sie in das Grab zu legen, welches sie längst suchen. Sie muß das, was in der Sprache der Aktionen ausgedrückt ist, in die Sprache der Rechte übersetzen.«73
Diese späte, dafür nicht weniger dramatische Wendung hat den Boden für das moderne Prozeßrecht bereitet. Sobald das materiell-subjektive Recht von den Fesseln der Klageformeln gelöst wurde, konnte die Trennung von materiell-rechtlichem Anspruch und prozessualem Anspruch vollzogen, die allgemeine Leistungsklage eingeführt und nicht zuletzt der Satz iura novit curia begründet werden.74 Keine dieser dogmatischen Neuerungen erfolgte sofort, jedoch beruhen alle auf einer sorgfältigen Trennung der verschiedenen Ebenen des Schutzes subjektiver Rechte, die nicht zuletzt Windscheid mit seiner Absage an das Aktionendenken möglich gemacht hat. Wenn also gefordert würde, zum Aktionendenken gänzlich zurückzukehren, so wäre dies dogmatisch ein Rückschritt. Wenn dagegen lediglich gefordert würde, die Ebene der Rechtsdurchsetzung nicht zu vernachlässigen, so wäre dieser Forderung zweifelsohne zuzustimmen. Insofern mag eine zusätzliche »Prise« Aktionen- oder besser Sanktionendenken geeignet sein, die komplexe Balance der Ebenen wiederherzustellen. Denn genausowenig, wie die dritte Ebene Selbstzweck ist, sind die Rechte auf der ersten Ebene isoliert zu verstehen, sondern untrennbar mit dem Schicksal ihrer Durchsetzung verbunden. Die Mittel der Dogmatik des deutschen Rechts, die die Einheit der drei Ebenen des Schutzes subjektiver Rechte zum Ausdruck bringen, sind der materiell-rechtliche Begriff des Anspruchs und die Statthaftigkeit der allgemeinen Leistungsklage.75 Solange der Begriff des Anspruchs Ausbildung und Praxis leitet, ist die von Bucher beschworene Gefahr einer zunehmenden »Objektivierung« des Rechts zumindest keine ernsthafte Bedrohung der Privatrechtsdogmatik.
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Savigny, System, Bd. V, §§ 204, 205. S. dazu auch S. 196ff. Freilich ist er darin nicht ganz konsequent, s. Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozeß, S. 16ff. 73 Windscheid Fn. 6, S. 230. 74 Kaufmann JZ 1964, 482, 488. 75 S. dazu S. 241ff. 72
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III. Der Schutz subjektiver Rechte im englischen Recht 1. Die Abschaffung der forms of action Die Entwicklung im common law verläuft nicht ganz unähnlich der Entwicklung auf dem Kontinent. Das römische Recht war zwar nie geltendes Recht, daher ist dies auch nicht die Quelle aktionenrechtlichen Denkens. Jedoch findet die actio zwanglos eine Parallele in den forms of action, die erst nach und nach im 19. Jahrhundert abgeschafft wurden. Dies geschah durch den Gesetzgeber in mehreren Schritten; wichtig waren vor allem der Common Law Procedure Act 185276und der Judicature Act von 1873 (in Kraft getreten 1875)77. Die Dominanz des juristischen Handwerks durch die forms of action hat eine systematische Entwicklung der Regeln der ersten Ebene, also was das materielle subjektive Recht angeht, verhindert.78 Die Feststellung Maines: »So great is the ascendancy of the Law of Actions in the infancy of Courts of Justice, that substantive law has at first the look of being gradually secreted in the interstices of procedure; and the early lawyer can only see the law through the envelope of its technical forms.«79,
trifft in gleichem Maße auf das antike römische Recht wie auf das frühe englische Recht zu. So ist etwa die materiell-rechtlich grundlegende Unterscheidung zwischen vertraglichen und deliktischen Ansprüchen lange Zeit dogmatisch unterentwickelt, ja nicht existent, weil aus praktischen Gründen allein entscheidend ist, ob die technischen Voraussetzungen der ambivalenten action on the case bzw. assumpsit gegeben sind.80 Es verwundert daher wenig, wenn Maitland im Jahre 1909 in einer vielzitierten Studie, die in manchem an Windscheids bahnbrechender Analyse der actio erinnert, feststellt: »The forms of action we have buried, but they still rule us from their graves.«81
Die besondere Schwierigkeit des englischen Rechts, die Spuren für das moderne common law weltweit hinterlassen hat, war jedoch die institutionelle Spaltung der mit Privatrecht befaßten Gerichte in die common law Gerichte und den Court of 76 Keine spezifische form of action muß im writ erwähnt werden. Diese behalten aber Relevanz für das Verfahren im Übrigen. Dazu aus zeitgenössischer Sicht Selwyn, Abridgment of the Law of Nisi Prius, S. 362ff. 77 Die berühmte »Fusion« von law und equity; generelle Abschaffung der forms of action. 78 Ibbetson, Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 107, 147, 171. 79 Maine, Dissertations on Early Law and Custom, S. 389 80 Selbst im späten 19. Jahrhundert wird die Unterscheidung in der Praxis überwiegend anhand von nachrangigen technischen Gesichtpunkten, etwa des Kostenrechts, getroffen. Z.B. in Tattan v Great Western Railway Co (1860) 2 El & El 844; Fleming v Manchester, Sheffield, and Lincolnshire Railway Co (1878) 4 QBD 81. Weitere Beispiele bei Unberath, Transferred Loss, S. 95ff. 81 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 2.
III. Der Schutz subjektiver Rechte im englischen Recht
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Chancery, die erst 1875 beseitigte Trennung von law und equity. Dies führte nicht nur zu Besonderheiten bei den Voraussetzungen des Schutzes bestimmter subjektiver Rechte, sondern oft zu einer verwirrenden Verdoppelung des Rechtsschutzes, der doch jeweils eigene Prägung aufwies. Ein Beispiel ist die Regel, wonach specific performance, also der Erfüllungszwang, nur gewährt werden kann, wenn Schadensersatz in Geld (damages) inadäquat ist. Diese Regel, wie noch zu zeigen sein wird, ist weniger eine in der Sache angemessene Lösung eines Problems der ersten Ebene (also der materiell-rechtlichen Konstitution der subjektiven Rechte) als vielmehr Ausdruck einer historisch längst überholten Subsidiarität eines Gerichtszweigs (nämlich der chancery) gegenüber einem anderen.82 Selten führt eine dogmatische Schieflage nicht zu weiteren Verwicklungen. Wenn nun die Voraussetzungen des Erfüllungszwangs im Einzelfall nicht vorlagen oder die Anordnung der Erfüllung den Kläger nicht gänzlich schadlos stellte, so bestand ein praktisches Bedürfnis für den Court of Chancery zusätzlich oder isoliert Schadensersatz zuzusprechen. Also wurde mit dem Chancery Amendment Act 1858 (bekannt als Lord Cairns’ Act) eine entsprechende Ermächtigung geschaffen. Auch wenn das Gesetz längst aufgehoben ist, ist diese Form des Schadensersatzes heute noch eine anerkannte dogmatische Kategorie, die vielfältige Abgrenzungsschwierigkeiten zum regelmäßigen Anspruch auf common law damages aufwirft.83
2. Überblick über die Klagearten und das Vollstreckungsverfahren Der Schutz subjektiver Rechte ist bis heute im englischen Recht in vielerlei Hinsicht stärker von Aktionendenken geprägt als im deutschen Recht. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die moderne Dogmatik ganz beachtliche Erfolge bei der Systematisierung und Vereinfachung erzielt hat, die zunehmend Widerhall in der Praxis finden. Gleichwohl ist es für das Verständnis auch des modernen common law unerläßlich, einen knappen Überblick über die wichtigsten Klagearten und die damit verfolgbaren Rechtsschutzziele zu geben, eben weil sie auf die erste Ebene des Schutzes subjektiver Rechte zurückwirken und diese zum Teil erheblich einschränken. Im englischen Recht ist das materiell-rechtliche Recht, das das Begehren des Klägers stützt, nicht per se durch eine statthafte Klage geschützt. Das Verfahren ist in entscheidender Hinsicht davon bestimmt, ob für das Begehren des Klägers eine traditionelle Rechtsschutzmöglichkeit besteht und welche Voraussetzungen diese beinhaltet. Um das Beispiel von specific performance aufzugreifen: Der Gläubiger eines Anspruchs auf eine im Vertrag versprochene Leistung mag vertraglich dazu »berechtigt« sein, die Leistung zu verlangen, der Erfolg einer darauf abzielenden Klage hängt dagegen von der prozessualen Einordnung des Begeh82 83
Die Berechtigung der Regel ist streitig, s. näher S. 263ff. Bsp. Attorney General v. Blake [2001] 1 AC 268.
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
rens ab. Geht es um eine nicht in Geld ausgedrückte Leistungspflicht, so hängt der Erfolg der Klage vom Ermessen des Richters ab. Das Gericht wird abwägen, ob Schadensersatz ausreichend ist, ob das Urteil schwierig zu vollstrecken ist und einiges mehr. Das subjektive Recht wird somit in das Ermessen des Gerichts gestellt, wenn es sich um einen Fall von specific performance handelt. Diese Kategorie bedarf daher der sorgfältigen Abgrenzung. Von ihr hängen das Verfahren und damit der Schutz des subjektiven Rechts ab. Geht es dagegen um den Anspruch auf eine in Geld bezifferte Leistung aus dem Vertrag, etwa den Kaufpreis, so entfällt das Ermessen: Rechtsschutz ist regelmäßig ohne weiteres zu gewähren (award of an agreed sum). Der Unterschied ist wiederum historisch bedingt, da die remedies, die der equity entstammen, wie specific performance, auch heute noch grundsätzlich ins Ermessen des Gerichts gestellt werden, während die des common law, wie der award of an agreed sum, dieser Einschränkung nicht unterworfen sind. Im deutschen Recht würde die Statthaftigkeit der Leistungsklage eine nähere Differenzierung in prozessualer Hinsicht erübrigen. Im englischen Recht dagegen verschmelzen die erste und die dritte Ebene des Schutzes subjektiver Rechte, so daß bei der Erörterung der materiell-rechtlichen subjektiven Rechte die prozessuale Seite immer berücksichtigt werden muß, ja ihre Vernachlässigung ein völlig falsches Bild des englischen Rechts ergeben würde. Diese Zwitterstellung des englischen Denkens in remedies zeigt sich auch in der Darstellung des Rechts in wissenschaftlicher Literatur und Handbüchern.84 Der eigentlich geschützte Anspruch tritt in den Hintergrund, da die Erörterung seiner prozessualen Voraussetzungen den Blick auf das subjektive Recht verstellt. In jüngerer Zeit zeichnet sich jedoch ab, daß dogmatisch zunehmend zwischen materiell-rechtlichem Recht und prozessualer Durchsetzung getrennt wird.85 Ein originelles Beispiel ist die Arbeit von Zakrewski.86 Er schlägt vor, den Begriff »remedy« auf den prozessualen Aspekt des Schutzes subjektiver Rechte zu beschränken.87 Für das subjektive Recht im materiell-rechtlichen Sinne, also den »Anspruch«, wählt er die dafür exklusive Bezeichnung »substantive right«. Bei dieser Vorgehensweise können die remedies als prozessuales Abbild von materiellrechtlich bestehenden Rechten aufgefaßt werden.88 Diese strikte Trennung der ersten und der dritten Ebene des Schutzes subjektiver Rechte ermöglicht eine schärfere dogmatische Erfassung der subjektiven Rechte im englischen Recht. Darüber 84 Die Frage, welche judicial remedies für die Durchsetzung von Ansprüchen zur Verfügung stehen, nimmt breiten Raum auch und gerade in dem materiellen Recht gewidmeten Werken ein. S. nur Treitel, The Law of Contract, S. 926ff. (in einem Buch zum materiellen Recht); Burrows in Birks (Hrsg.), English Private Law, Bd. 2, S. 813ff. (im Teil »Lititgation«). 85 Für eine systematische Übersicht über den derzeitigen Stand der Dogmatik s. Burrows, Remedies for Torts and Breach of Contract. 86 Zakrewski, Remedies Reclassified. 87 Zakrewski Fn. 86, S. 43ff. Seiner Funktion nach würde der Begriff dann der deutschen Begrifflichkeit von der Statthaftigkeit einer Klage entsprechen. 88 Zakrewski Fn. 86, S. 103ff.
III. Der Schutz subjektiver Rechte im englischen Recht
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hinaus werden auf diese Weise »Abbildungsfehler« erkennbar, also Lücken im prozessualen Schutz der subjektiven Rechte. Diese sind nämlich unsichtbar, wenn das materielle Recht vom Prozeßrecht her konstruiert wird. Freilich ist anzumerken, daß die Verwendung der Begriffe »remedy« und »right« im englischen Recht keineswegs als gesichert gelten kann und insbesondere »remedy« auf allen Ebenen des Schutzes subjektiver Rechte auftaucht.89 Zudem ändert eine neue Klassifikation allein nichts daran, daß die subjektiven Rechte in das prozessuale Korsett mit all seinen Einschränkungen gezwungen werden. Für die Rechtsvergleichung ist eine begriffliche Trennung der verschiedenen Ebenen des Schutzes subjektiver Rechte dagegen äußerst hilfreich. An dieser Stelle genügt ein kursorischer Überblick über die wichtigsten judicial remedies;90 soweit dies aus rechtsvergleichender Sicht veranlaßt ist, werden einzelne Aspekte an späterer Stelle näher besprochen. Zunächst sind die dem common law entstammenden Rechte zu nennen. Mit einem award of an agreed sum können vertragliche Leistungspflichten durchgesetzt werden, die auf einen bestimmten Geldbetrag gerichtet sind. Dies ist die häufigste Klage bei Rechtsstreitigkeiten vertraglicher Natur.91 Dem common law entstammt weiterhin das immens wichtige remedy damages. Darunter sind vertragliche oder außervertragliche Schadensersatzansprüche zu fassen, soweit sie auf einen Ausgleich in Geld gehen.92 Der equity zugeordnet sind die folgenden Rechte: Der Rechtsbehelf mit dem größten Anwendungsbereich ist die injunction. Das ist die gerichtliche Anordnung an den Beklagten, etwas zu tun, zu dulden oder zu unterlassen.93 Ein Sonderfall ist specific performance, die für vertragliche Leistungspflichten spezielle Regeln vorsieht.94 Eine letzte Kategorie wird von den Rechten gebildet, die auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (statutory remedies). Die umfassendste Klage aus diesem Bereich ist die Feststel89
Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Zakrewski Fn. 86, S. 23ff., selbst. Vgl. etwa Burrows Fn. 84, S. 817; Zakrewski Fn. 86, S. 103ff. 91 Ausnahmsweise kann der Betrag vom Gericht festzulegen sein (quantum meruit award). Dies ist etwa bei einem Freistellungsanspruch der Fall, oder wenn (zulässigerweise) eine angemessene Gegenleistung geschuldet ist. Schadensersatz fällt nicht darunter mit der Ausnahme von liquidated damages, also einer im Voraus vereinbarten Schadenssumme, die bei Vertragsbruch fällig wird. Für eine Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung bestehen in Anlehnung an die traditionellen forms of action ganz unterschiedliche remedies (money had and received, quantum meruit usw.). 92 Man unterscheidet traditionell zwischen special damages (das sind bereits entstandene Vemögensschäden), general damages (Nichtvermögensschäden) und damages für zukünftige Schäden. 93 Wenn die injunction auf ein Tun gerichtet ist, spricht man von einer mandatory injunction. Ein Beispiel ist die Pflicht eines trustee, dem beneficiary des trusts Eigentum zu verschaffen. Soweit ein Unterlassen des Beklagten in Rede steht, handelt es sich generell um eine prohibitory injunction. Dem trust Recht entstammen weitere funktionell ähnliche Rechte: order for the execution of a trust und order for a common account. Wenn equitable duties verletzt werden, kann darüber hinaus equitable compensation erlangt werden. 94 Für Zahlungspflichten besteht sie parallel zu dem award of an agreed sum. 90
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik
lungsklage (declaration). Die übrigen Rechtsschutzmöglichkeiten stellen sich als punktuelle Ergänzungen des modernen common law dar.95 Abschließend ist auf die Grundzüge der Vollstreckung des englischen Rechts, dem insoweit Modellcharakter für das common law insgesamt zukommt, einzugehen,96 weil sie in mancher Hinsicht von denen des deutschen Zwangsvollstrekkungsrechts abweichen. Soweit eine Verurteilung zu einer Geldzahlung erfolgt,97 kann der Gläubiger in das bewegliche oder unbewegliche Vermögen des Schuldners vollstrecken, und auch seine Forderungen gegen Dritte einziehen;98 insoweit bestehen noch keine grundlegenden Unterschiede zum deutschen Recht. Wenn die Verurteilung auf die Vornahme einer Handlung abzielt, die nicht in der Zahlung von Geld besteht, bestehen jedoch erhebliche Unterschiede zu der ZPO.99 Es gelten folgende Regeln: Leistet der Schuldner einer injunction oder einem order for specific performance nicht Folge, ist der Schuldner eines contempt of court schuldig.100 Das Gericht kann aus diesem Grund je nach dem Grad der Vorwerfbarkeit der Verletzung der order zu folgenden Zwangsmaßnahmen greifen: Es kann erstens anordnen, daß Eigentum des Schuldners bis zur Erfüllung der Anordnung sequestriert wird; es kann aber auch dem Schuldner ein in der Höhe nicht begrenztes Zwangsgeld auferlegen und schließlich in den Grenzten der Debtors Acts 1869/1878 den Schuldner zu bis zu zwei Jahren Gefängnis verurteilen. Weil dieses Verfahren das Ansehen der Rechtsordnung als solcher schützen soll, ist die Anordnung der Zwangsmittel unabhängig von einem Antrag des Gläubigers.101 Daneben besteht in bestimmten Fällen noch die Möglichkeit, direkt auf das Vermögen des Schuldners zuzugreifen. Dies betrifft die Fälle, in denen Besitz an unbeweglichem Vermögen eingeräumt werden soll (writ of possession) oder die Herausgabe bestimmter beweglicher Sachen geschuldet ist (writ of specific delivery).102 Das englische Recht kennt auch die Ersatzvornahme.103
95 Der Torts (Interference with Goods) Act 1977 etwa räumt dem Gericht ein Ermessen ein, die Herausgabe von beweglichen Sachen, Wertersatz und/oder Schadensersatz anzuordnen, wenn ein rechtswidriger Eingriff (wrongful interference) in ein dingliches Recht an den Sachen erfolgt ist. In equity wurzelt die bereits erwähnte, Text bei Fn. 83, Befugnis des High Court gemäß section 50 des Supreme Court Act 1981 Schadensersatz in Geld zusätzlich zur oder anstelle der Anordnung von specific performance oder einer injunction zu gewähren. Diese wird traditionell als »damages under Lord Cairn’s Act« bezeichnet, obwohl dieser Act längst aufgehoben ist. Den statutory remedies gehören schließlich auch die Gestaltungsklagen an. 96 Überblick etwa bei Andrews, English Civil Procedure, S. 919ff. 97 Z.B. award of an agreed sum, damages. 98 Geregelt in Civil Procedure Rules (CPR) Part 70, Practice Direction 70, rule 70.2. Die Möglichkeit, Zwangshaft (committal) für eine Geldschuld anzuordnen, ist bereits seit den Debtors Acts 1869/1878 stark eingeschränkt. 99 S. zu der Vollstreckung nach deutschem Recht S. 253ff. 100 Contempt of Court Act 1981; CPR Schedule 1, RSC Order 52. 101 CPR Schedule 1, RSC Order 52, rule 5. 102 CPR Schedule 1, RSC Order 45, rule 3 und 4. 103 Soweit die Handlung auch von einer dritten Person vorgenommen werden kann, kann dem
III. Der Schutz subjektiver Rechte im englischen Recht
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Das Zwangsvollstreckungsverfahren des common law zeichnet sich somit dadurch aus, daß die Nichtbefolgung der Anordnungen des Gerichts als Gefahr für die Rechtsordnung allgemein aufgefaßt wird. Aus dieser quasi-strafrechtlichen Einordnung der Nichterfüllung einer titulierten Forderung folgen Befugnisse, einschneidende Zwangsmittel und strafähnliche Sanktionen anzuordnen. Auf die Auswirkungen der contempt of court Regeln wird bei der Erörterung der Gewährung von subjektiven Rechten auf der ersten Ebene zurückzukommen sein.
Gläubiger gestattet werden, die Handlung vorzunehmen und die Kosten gegen den Schuldner vollstrecken zu lassen; CPR Schedule 1, RSC Order 45, rule 8.
Zweiter Teil
Leistungsstörungsrecht
§ 8 Grundlagen des Leistungsstörungsrechts Im zweiten Teil der Arbeit werden die abstrakten Grundsätze, wie sie im ersten Teil entwickelt wurden, auf die Vertragsverletzung und ihre Folgen übertragen. Zunächst wird die Reichweite des vertraglichen subjektiven Rechts zu bestimmen sein. Sodann sind die drei möglichen Reaktionen auf eine Vertragsverletzung zu erläutern: Primär- und Sekundäranspruch sowie die Vertragsaufhebung. Zu dem Begriff »Vertragsverletzung« ist eine einleitende Bemerkung erforderlich: Er dient vorliegend als vom positiven Recht unabhängige und daher neutrale Formel, mit der jedes Abweichen der Realität von einem schuldvertraglichen Versprechen einer Leistung erfaßt wird. Maßstab der Vertragsmäßigkeit ist der Zustand, der eintreten würde, wenn der Vertrag vollständig erfüllt würde.1 Weder soll damit eine nähere Aussage über die Haftungsvoraussetzungen getroffen werden, noch an die Begriffe der Rechts- bzw. Pflichtverletzung angeknüpft werden, die weiter und in mancher Hinsicht enger zu fassen sind. Der Begriff ist daher auch nicht etwa vom Standpunkt des common law2 oder dem Einheitskaufrecht3 näher zu bestimmen. Der »Vertragsverletzung« nahe verwandt sind die Begriffe »Vertragswidrigkeit«, den die Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf verwendet,4 und »Nichterfüllung«, der sich jedoch in der Schuldrechtsreform nicht durchgesetzt hat.5 Der Begriff »Leistungsstörung« schließlich ist nur dann gleichbedeutend mit »Vertragsverletzung«, wenn man ihn auf die Störung des Leistungsinteresses beschränkt.6
1 Im deutschen Recht, wenn die Vertragspflichten durch Bewirken der Leistung erlöschen (§ 362 BGB). 2 Im anglo-amerikanischen Recht ist die Redeweise vom »breach of contract«, »Vertragsbruch« üblich. 3 S. etwa Art. 25 CISG. 4 Art. 2 Richtlinie 1999/44/EG. Dazu Unberath ZEuP 2005, 5, 9ff. m.w.N. Der Begriff der Vertragswidrigkeit könnte ein Keim eines zukünftigen europäischen Begriffs der Leistungsstörung sein, mit dessen Hilfe der dogmatische Graben zwischen den verschiedenen Rechtstraditionen überwunden werden kann. 5 So der damalige Vorschlag von Canaris JZ 2001, 499, 512. S. auch U. Hubers Vorschlag in seinem Gutachten zur Reform des Leistungsstörungsrechts, S. 699. Den Begriff »Nichterfüllung« (»non-performance«) legen auch Art. 9:301 und 9:501 PECL zugrunde (in der Übersetzung von Bar/Zimmermann). 6 Nimmt man diese Beschränkung nicht vor, wäre freilich der Begriff »Störung des Schuldverhältnisses«, wie von Schur, Leistung und Sorgfalt, S. 42ff., vorgeschlagen, vorzugswürdig.
I. Überpositive Grundlagen
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I. Überpositive Grundlagen Nach dem Postulat des Privatrechts kann der Gläubiger durch den Vertragschluß die Kausalität der Willkür des Schuldners erwerben, die versprochene Leistung zu bewirken.7 Die Bindung an den Vertrag bedeutet: Dem Gläubiger gehört als Teil der Sinnenwelt ein Ausschnitt aus der Person des Schuldners.8 Insofern der Schuldner Teil der äußeren Welt ist, kann er Gegenstand der Willkür anderer Personen sein. Durch den gemeinsamen Willen der Vertragsparteien bringt der Schuldner einen Teil seiner selbst, nämlich die Kausalität seiner Willkür, die Leistung zu bewirken, in den intelligibelen Besitz des Gläubigers. Durch den Vertrag wird ein »äußeres Mein« des Gläubigers begründet. Daraus erwächst dem Gläubiger das Recht, die versprochene Leistung vom Schuldner zu fordern. Das ist das durch den Vertrag begründete subjektive Recht. Das ist die erste normative Ebene der Möglichkeit des Rechts. Auf der zweiten Ebene wird die Frage beantwortet, ob die nach der ersten Ebene rechtlich relevanten Handlungen (Rechtsakte) tatsächlich erfolgt sind. Ohne die wirkliche Begründung des äußeren Seinen des Gläubigers auf der zweiten Ebene, hätte der Schuldner keine Verbindlichkeit, die Leistung zu bewirken. Vertrag ist danach dasjenige Rechtsgeschäft, wodurch dem Schuldner eine Verbindlichkeit erwächst, die Leistung zu bewirken, die er sonst, ohne Vornahme des Rechtsaktes, nicht hätte. Auf der dritten Ebene schließlich ist der Staat dazu aufgefordert, die vertraglichen subjektiven Rechte im Streitfall durchzusetzen: Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Ohne dessen Durchsetzung wäre das aus Vertrag entstandene subjektive Recht nicht peremptorisch gesichert und bestünde nur provisorisch im Naturzustand. Der herkömmliche »Sammelbegriff«9 der Leistungs-»Störung« ist klug gewählt, deutet er doch auf das zentrale gemeinsame Merkmal dieser Regeln des positiven Rechts hin: Die Realität bleibt hinter der Projektion des subjektiven Rechts der ersten und zweiten Ebene zurück: Darin liegt eine Störung des Rechtsverhältnisses. Der intelligible Besitz der Willkür des Schuldners wird nicht durch Erbringen der Leistung verwirklicht, sondern der Willkür des Gläubigers entzogen. Die dritte Ebene, die Ebene des Schutzes des subjektiven Rechts, erfordert ein staatliches Eingreifen durch Zwang, um, soweit wie möglich, das wirkliche subjektive Recht durchzusetzen und damit notwendig werden zu lassen. Als der Leistungsstörung synonymer Oberbegriff ist daher auch der Begriff der »Nichterfüllung« geeignet:10 In ihm wird das Moment der Vertragsverletzung auf das 7
Näher S. 35ff., 43ff. Der von Savigny geprägte und später von Tuhr aufgegriffene Begriff des »Herrschaftsrechts«, § 7 II. oben, ist, um diesen Zusammenhang auszudrücken, sehr treffend, wenn er auch zum Teil mißverstanden wird, wenn nämlich eine vollständige Herrschaft im Sinne von Leibeigenschaft oder Sklaverei unterstellt wird. 9 U. Huber, Leistungsstörungen, Bd. I, S. 2f., dort auch zur Begriffsgeschichte. 10 S. Fn. 5. 8
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§ 8 Grundlagen des Leistungsstörungsrechts
Ausbleiben der Leistung reduziert. Mehr ist nicht erforderlich, um die Frage nach dem Schutz des subjektiven Rechts aufzuwerfen. Vor dem Hintergrund dieser vorpositiven Einsichten sind nun die dogmatischen Begriffe des positiven Rechts zu würdigen. Soweit das positive Recht mit einer Erkenntnis vorpositiver Art nicht übereinstimmt, muß dies in den Grenzen der (noch) zulässigen Auslegung von Gesetzen hingenommen werden.
II. Folgerungen für die Reichweite des vertraglichen Rechts Der Schuldvertrag ist ein Anwendungsfall des Postulats des Privatrechts, einer Erweiterung der Freiheit über das »innere Mein und Dein« hinaus. Das bedeutet: Der Vertrag gehört wie die Sachenrechte zu der Kategorie von Rechten, die nicht angeboren sind, sondern erworben werden müssen, das ist das »äußere Mein und Dein«. Durch den Vertrag nimmt der Schuldner eine Verbindlichkeit auf sich (nämlich die Leistung zu bewirken), die er sonst nicht hätte. Gerade darum wird der Vertrag geschlossen. Dies ist an sich eine geradezu triviale Feststellung und doch werden aus ihr nicht immer die naheliegenden Schlußfolgerungen gezogen. Um diese vorzubereiten, muß zunächst die Abgrenzung der subjektiven Rechte und die Art ihres Schutzes in Erinnerung gerufen werden.
1. Die Prinzipien »neminem laede« und »pacta sunt servanda« Die Einteilung der Rechte erfolgt nach Art ihrer Entstehung. Sachenrecht und persönliches Recht gehören zu den erworbenen Rechten. Entsteht ein Sachenrecht, wird allen anderen eine Verbindlichkeit auferlegt, während, wenn ein persönliches Recht entsteht, eine Verbindlichkeit nur den Versprechenden trifft. Inhalt der Verbindlichkeit ist im ersteren Fall, das Eigentum nicht zu beeinträchtigen. Beim Vertrag geht sie dahin, das zu tun, was man versprochen hat. Persönliches Recht und Sachenrecht sind erworbene Rechte, d.h. zu ihrer Begründung sind rechtliche Akte erforderlich. Hinsichtlich dieser Rechte sind, wie erläutert, drei normative Ebenen zu unterscheiden: die der Möglichkeit des Rechts, der Vornahme in der äußeren Welt eines darauf gerichteten Rechtsaktes, und die des Schutzes des Rechts. In naturrechtlicher Terminologie umfassen die erworbenen Rechte das, was als das »äußere Mein und Dein« bezeichnet werden kann.11 Von diesem unterschieden ist das angeborene, »innere« Mein und Dein. Ein solches angeborenes Recht ist nach Kant nur das Freiheitsrecht: Es beinhaltet das Recht von der nötigenden Willkür anderer unabhängig zu sein, sofern diese Freiheit mit der Freiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen be-
11
S. 35ff.
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stehen kann.12 Das Recht umfaßt den Schutz der Person, soweit sie in der äußeren Welt in Erscheinung tritt sowie den aktuellen physischen Besitz von Sachen. Eingriffe in die körperliche Integrität, das Leben oder den unmittelbaren Besitz sind danach grundsätzlich »wider-rechtlich«. Auch dieses angeborene Recht ist ein Zwangsrecht, also ein subjektives Recht. Dieses Recht kommt jeder Person unabhängig von allen rechtlichen Akten zu. Dies bedeutet, daß diesem Recht zwar ebenfalls drei normative Ebenen zugeordnet sind, die zweite Ebene aber einen völlig anderen Inhalt als bei den erworbenen Rechten hat: Die erste Ebene umfaßt wie bei den erworbenen Rechten die Möglichkeit des Rechts, die allerdings nicht an Rechtsakte geknüpft ist, sondern an die bloße Existenz einer Person. Die zweite Ebene enthält somit nichts weiter außer der Tatsache der Existenz einer bestimmten Person. Dies ist kein Rechtsakt, sondern eine Frage des Bestehens oder Nichtbestehens einer Tatsache in der Welt. Mit der Existenz der Person steht das (provisorische) Bestehen des Rechts fest. Auf der dritten Ebene ist schließlich der Schutz des subjektiven Rechts angesiedelt. Die Grundsätze, die bereits im Hinblick auf die dritte Ebene der erworbenen Rechte erörtert wurden, gelten hier entsprechend. Nur der staatliche Schutz vermag die provisorische Geltung des Rechts im Naturzustand in eine peremptorische zu verwandeln. Die beiden Arten der Rechte (angeborenes, erworbene) grenzen nach der Kantischen Auffassung den gesamten Bereich des Rechts ein. Die lex iuridica besteht in dem Satz: Tue niemandem Unrecht (neminem laede).13 Diese Aussage bedeutet, wenn man sie in die Terminologie der subjektiven Rechte überträgt, jedoch nichts anderes als: Erfülle die aus den Rechten anderer erwachsenden Verbindlichkeiten. Werden die angeborenen oder erworbenen Rechte anderer gewahrt, geschieht niemandem Unrecht. Werden diese Rechte verletzt, geschieht der Person des Rechtsinhabers Unrecht. Das Prinzip ist daher von vornherein auf die zwei ersten normativen Ebenen der Möglichkeit und Wirklichkeit subjektiver Rechte beschränkt und erfaßt alle subjektiven Rechte. Aus diesem Grund ist das vertragliche subjektive Recht nur ein Anwendungsfall der lex iuridica. Die Bindung an den Vertrag wird auch bei Kant mit der traditionellen Formel: pacta sunt servanda bezeichnet. Diese ist damit das speziell auf das persönliche Recht bezogene, von dem allgemeinen neminem laede abgeleitete Prinzip. Das Prinzip neminem laede geht bei Kant dem positiven Recht voraus. Das ist nicht zuletzt daraus ersichtlich, daß es in dem von ihm angeführten Gedankenexperiment, in dem die Welt nicht als endliche Fläche vorgestellt wird und kein Staat existiert, ebenfalls gilt.14 Da die Welt aber eine endliche ist und die Menschen sich daher nicht wie in dem Gedankenexperiment aus dem Weg gehen können, sondern wie die Erfahrung zeigt, ständig interagieren und Konflikte austragen, 12 13 14
Kant, MS, AA VI, S. 237. Kant, MS, AA VI, A., S. 236. Kant, MS, AA VI, A., S. 236.
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muß die lex iuridica (also neminem laede) durch ein weiteres Prinzip ergänzt werden: »Tr i t t in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert werden kann (lex iustitiae).«15
Die lex iustitiae verlangt den bereits wiederholt erörterten Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht16 und enthält die Pflicht eines jeden, mit anderen in einen rechtlichen Zustand (Staat) einzutreten. Der Grund dafür ist, daß nur im rechtlichen Zustand die subjektiven Rechte notwendigen Charakter erhalten. Denn nur der Staat kann die Rechte, oder anders ausgedrückt: »das Mein und Dein«, durch Anwendung von Zwang sichern. Erst durch die lex iustitiae wird die normative Ebene des Schutzes subjektiver Rechte entfaltet. Das Prinzip neminem laede bedeutet bei Kant also nicht mehr, als daß es subjektive Rechte gibt und diese die äußeren Rechtspflichten von Personen untereinander determinieren. Das Prinzip besagt zunächst nichts darüber, was geschieht, wenn es verletzt wird. Aus ihm lassen sich daher unmittelbar keine Regeln und Grundsätze des Schutzes subjektiver Rechte ableiten. Die Verletzung der Rechte wird erst auf der dritten Ebene des Schutzes subjektiver Rechte relevant. Diese ist Gegenstand eines zusätzlichen Prinzips, der lex iustitiae. Die Kombination dieser Prinzipien17 führt zu einem vollständigen Begriff des objektiven Rechts. Wie der Schutz der Rechte im Staat beschaffen ist, folgt nicht aus dem Prinzip neminem laede, sondern aus den Regeln der dritten Ebene des Schutzes der Rechte. Kant selbst diskutiert fast ausschließlich den strafrechtlichen Schutz subjektiver Rechte,18 der angesichts der Eingriffsintensität, die das Strafrecht voraussetzt, der wichtigste Anwendungsfall der Prinzipien der dritten Ebene ist. All dies muß an dieser Stelle nicht zuletzt deswegen ausgeführt werden, weil das Prinzip neminem laede häufig, was natürlich zulässig ist, mit dem allgemeinen Gedanken des Ausgleichs einer Rechtsverletzung durch Schadensersatz in Verbindung gebracht wird.19 So leitet etwa Eduard Picker aus diesem Prinzip, das er allgemein als eines der Schadensvermeidung ansieht, allgemeine Grundsätze der Haftung innerhalb von »Sonderverbindungen« ab.20 An der Berechtigung der Versuche, die gegenwärtige Dogmatik des Haftungsrechts neu zu ordnen, soll nicht gezweifelt werden, nur ist das bei diesem Ansatz gewählte Ausgangsprinzip streng von der viel weiteren lex iuridica bei Kant zu unterscheiden: Das Gebot neminem laede ist nicht nur auf das Vermeiden von »Schaden« gerichtet, sondern 15
Kant, MS, AA VI, A., S. 237. Dazu S. 41ff. 17 Die »innere Rechtspflicht«, ein ehrbarer Mensch zu sein (Kant, MS, AA VI, A., S. 236), muß an dieser Stelle vernachlässigt werden. 18 Kant, MS, AA VI, E., S. 331ff. 19 Insbesondere im Deliktsrecht, s. die rechtsvergleichende Darstellung bei Rohe AcP 201 (2001), 117, 122. 20 Picker AcP 183 (1983), 369, 460ff.; ders. JZ 1987, 1041, 1048. 16
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auf die Wahrung der Rechte einer Person ganz allgemein und unabhängig davon, ob die Verletzung zu einem Schaden führen könnte; auch das auf die Leistung selbst gerichtete subjektive Recht ist davon erfaßt. Die Regeln der Schadenshaftung greifen erst bei Verletzung des Rechts ein, also der Verletzung des Gebots neminem laede. Welche Reaktion der Staat eintreten läßt, bestimmt sich dann zunächst nach der davon zu unterscheidenden lex iustitiae.
2. Was ist »rechtsgeschäftlich«, was »gesetzlich«? Von Picker stammt auch der an das Prinzip neminem laede anknüpfende Vorschlag, den Schadensausgleich als gesetzlich angeordnete, allgemeine Haftungsordnung zu verstehen, die unabhängig von der Art des verletzten Rechts nur an das Vorhandensein einer Sonderverbindung anknüpft.21 Dabei soll insbesondere auch die Schadensersatzhaftung bei Vertragsverletzung »gesetzlicher« Natur und »rechtsgeschäftlich« nicht mehr erklärbar sein.22 Es ist unverkennbar, daß sich nicht zuletzt aus rechtsvergleichender Sicht allgemeine Prinzipien des Schadensrechts formulieren lassen, die vom Haftungsgrund weitgehend unabhängig sind.23 Die Analyse Pickers wäre auch zutreffend, wenn die Regeln der Schadenshaftung der dritten normativen Ebene, der des Schutzes subjektiver Rechte, angehörten.24 Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Haftungsregeln bei Vertragsverletzung sind nach der hier entwickelten Systematik auf der ersten Ebene der Möglichkeit subjektiver Rechte einzuordnen. Erfüllt der Schuldner sein Versprechen nicht, so ist zunächst der Schutz dieses subjektiven Rechts durch den Staat erforderlich. Der Schadensersatz wegen Vertragsverletzung bezweckt, einen Zustand zu schaffen, der dem Zustand bei Leistung wertmäßig entspricht. Schon begrifflich ist ein Zustand, der dem durch die Leistung zu schaffenden nur gleichkommt, vom Zustand der bei tatsächlich erfolgter Leistung besteht, zu unterscheiden. Ein darauf gerichtetes Recht kann, insofern ist Picker zuzustimmen, nicht unmittelbar aus dem Recht zur Leistung abgeleitet werden. Das Recht auf das Substitut der Leistung ist jedoch ein auf das Recht auf die Leistung bezogenes weiteres subjektives Recht: Die Haftung erfüllt 21 Picker AcP 183 (1983), 369, 393ff. ihm folgend Katzenstein Jura 2004, 584, 585. Die Analyse der vertraglichen Haftung als nicht-rechtsgeschäftlich begründeter Prinzipien ist letztlich von dem Ziel geleitet, eine gesetzliche Haftung für reine Vermögensschäden zu begründen. Ob eine solche Haftung auf anderer Grundlage begründet werden kann, muß hier offenbleiben. Die von Picker vorgeschlagene generelle Abtrennung der Schadenshaftung von der rechtsgeschäftlichen Grundlage ist vom vorliegend vertretenen Standpunkt aber abzulehnen. 22 Picker AcP 183 (1983), 369, 397. 23 Jansen JZ 2005, 160. Das BGB selbst enthält in den §§ 249ff. BGB gemeinsame Regeln für die Schadenshaftung sowohl für vertragliche als auch gesetzliche Schuldverhältnisse. 24 Dieser Schutz ist nur im Staat durch positives Recht und seiner Anwendung durch den Richter denkbar. Solche »gesetzlichen Schutzmechanismen« wären dann derselben normativen Ebene zuzuweisen, wie strafrechtliche Sanktionen auch.
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den vom Zweck der Erfüllung abgeleiteten Zweck der Schaffung eines erfüllungsähnlichen Zustands. Dieser Zusammenhang, insbesondere die Rechtfertigung der Haftung, wird im nächsten Abschnitt25 zu vertiefen sein. An dieser Stelle genügt die Feststellung, daß die Quelle des Rechts auf das Substitut der Leistung der Schuldvertrag ist. Dieses im Hinblick auf die Leistung akzessorische subjektive Recht auf das Substitut der Leistung ist ebenso vertraglicher Natur wie das Recht auf die Erfüllung selbst. »Gesetzlich« an dem Recht auf Schadensersatz ist freilich seine Gewährung auf der ersten normativen Ebene durch das positive Recht. Jedoch ist, wie bereits erläutert,26 eine solche positivrechtliche Abbildung eines vorpositiv begründeten subjektiven Rechts in gleichem Maße für das Recht auf die Leistung selbst erforderlich. Die Positivität des Rechts ist in seiner Natur angelegt: Nur im wirklich bestehenden Staat kann es seine Bestimmung verwirklichen.27 Sicher, auch das Recht auf Herstellung eines erfüllungsgleichen Zustands bedarf notfalls der gerichtlichen Durchsetzung. Dies führt jedoch ebensowenig zu einer Qualifikation als gesetzlicher Anspruch wie das Bestehen der entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeit für das Recht auf die Leistung. Generell gilt daher: Weder die Normen des positiven Rechts der ersten Ebene (des materiellen Rechts) noch der Schutz des Rechts durch das Gericht (auf der dritten Ebene) verwandeln den Anspruch aus Vertrag in einen »gesetzlichen«. Es ist also festzuhalten: Soweit eine Haftung für Vertragsverletzung angeordnet wird, ist das damit verbundene subjektive Recht vertraglicher Natur, sein Schutz durch die Gerichte dagegen »gesetzlicher«, also (ausschließlich) staatlicher Natur.
3. Leistungsinteresse und Schutzinteresse Gemäß dem Prinzip neminem laede der ersten Ebene kann jede Person Anspruch darauf erheben, daß ihre Rechte nicht beeinträchtigt werden. Mit dem Begriff des subjektiven Rechts ist nichts anderes ausgedrückt, als daß eine Person von einer anderen ein Tun oder Unterlassen verlangen kann und daß letzterer der ersteren gegenüber eine entsprechende Verbindlichkeit erwächst. Der Inhalt der Ansprüche, die Richtung des subjektiven Rechts, ist durch das Prinzip »tue niemandem unrecht« nicht vorgegeben. Für das subjektive Recht aus Vertrag läßt sich das subjektive Recht mit Hilfe der traditionellen Formel pacta sunt servanda erfassen. Denn diese drückt die Bindung an das Versprechen aus, die zwischen den Vertragsparteien besteht. Die aus dem Vertrag fließende Verbindlichkeit ist eine, die ohne den Vertrag nicht bestünde. Der Schuldvertrag ist die Rechtsmacht, ein per25
S. 200ff. S. 164ff. 27 Dementsprechend wird, um ein Beispiel zu geben, ein Gericht ein Urteil, daß auf Zahlung eines Kaufpreises gerichtet ist, mit § 433 II BGB begründen, wo doch klar ist, daß damit der Anspruch nicht zum »gesetzlichen« wird. 26
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sönliches Recht durch Rechtsakt zu schaffen. Seine Folge ist, daß das Versprechen des Schuldners zum »äußeren Hab und Gut« des Gläubigers gehört und dieser daher im intelligibelen Besitz der Willkür des Schuldners ist, ihn zur Leistung zu bestimmen.28 Das durch den Rechtsakt Vertrag begründete subjektive Recht ist somit auf Erfüllung des Vertrages gerichtet. Ist man mit Rudolph von Jhering der Auffassung, daß das subjektive Recht als Zweck den Schutz eines Interesses beinhaltet, so kann man das subjektive vertragliche Recht als dem »Leistungsinteresse« dienend beschreiben und die darauf bezogenen Pflichten »Leistungspflichten« nennen.29 Dem Leistungsinteresse unterzuordnen ist, wie angedeutet, zusätzlich das Recht auf Schadensersatz, also auf wertmäßigen Ausgleich,30 was mit dem heute üblichen Begriff des positiven Interesses ausgedrückt wird.31 Im common law dürfte Fuller und Perdues Formulierung des Leistungsinteresses am gebräuchlichsten sein (»expectation interest«); sie lautet: »[W]e may seek to give the promisee the value of the expectancy which the promise created. We may in a suit for specific performance actually compel the defendant to render the promised performance to the plaintiff, or, in a suit for damages, we may make the defendant pay the money value of this performance. Here our object is to put the plaintiff in as good a position as he would have occupied had the defendant performed his promise.«32
In neuerer Zeit hat sich der Begriff »performance interest« durchgesetzt, der jedoch im wesentlichen gleichbedeutend ist.33 Die Materie der Willkür, der weitest mögliche Gegenstand der Leistungspflichten, ist nicht a priori eingeschränkt: Es kann etwa davon abstrahiert werden, ob und welcher Erfolg im Vertrag als geschuldet vereinbart wird, oder ob nur eine Tätigkeit geschuldet ist ohne eine darüber hinausgehende Wirkung.34 Das subjektive Recht kann auf ein positives Tun gerichtet sein, oder auch auf ein Unterlassen. Entscheidend ist für die Reichweite des vertraglichen subjektiven Rechts allein, ob der Schuldner in dem Vertrag eine Verbindlichkeit gegenüber dem Gläubiger übernimmt, die er ohne den Vertrag nicht hätte. Welche Rechte bestehen also auch ohne vertragliche Begründung? Und wenn sie allgemein bestehen, können sie dennoch Gegenstand des Vertrages werden? Die allgemein bestehenden Rechte sind zunächst die subjektiven Rechte, die aus dem angeborenen Freiheitsrecht folgen, wie etwa das Recht auf körperliche 28
Kant, MS, AA VI, S. 248. Erstmals wohl Heinrich Stoll AcP 136 (1932), 257, 287f. 30 Stoll bezeichnet die Haftung des Schuldners bei Vereitelung des Gläubigerinteresses als Haftung für das »Erfüllungsinteresse« und bei bloßer Beeinträchtigung als Haftung für das »Ausgleichsinteresse«, Stoll AcP 136 (1932), 257, 292f. 31 Der Begriff geht wohl auf Jhering JherJb. 4 (1861), 1, 16 zurück. Näher S. 331ff. 32 Fuller/Perdue (1936) 46 Yale L.J. 52, 53. 33 Im Anschluß an Friedman (1995) 111 L.Q.R. 628. 34 Stoll AcP 136 (1932), 257, 288. 29
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Integrität. Ohne den Rechtsakt des Vertrages bestehen weiterhin die aus dem Familienrecht und dem Sachenrecht stammenden Rechte. Das erworbene Recht des Eigentums an Sachen verpflichtet von sich aus jedermann, die Sache nicht ohne den Willen des Eigentümers zu nutzen und die betreffende Sache nicht zu beschädigen oder zu zerstören. All diese Rechte bestehen, ohne daß sie vertraglich begründet werden müßten. Man kann sie aus diesem Grund im Unterschied zu den vertraglichen Rechten als »gesetzliche« bezeichnen. Die Gegenüberstellung ist jedoch wiederum ungenau und mißverständlich: Einerseits bedürfen die vertraglichen Rechte, wie erklärt, nicht weniger der Stützung durch das positive Recht und seine Anwendung als die anderen Rechte auch. Andererseits verläuft die Grenze zwischen den Rechten, die eines Rechtsaktes bedürfen (»Rechtsgeschäftslehre«), und derer, die dessen nicht bedürfen (»gesetzlich«), quer zu dieser Gruppenbildung: es besteht eben ein grundlegender Unterschied zwischen dem Sachenrecht als erworbenem Recht und dem angeborenen Recht. Unabhängig von Verträgen bestehen somit all jene Verbindlichkeiten, die dem angeborenen Recht und den nach Prinzipien des Sachen- und Familienrechts erworbenen Rechten korrespondieren.35 Auch nach dem gegenwärtigen Stand der Dogmatik ist nicht zweifelhaft, daß diese Rechte unabhängig vom Vertrag bestehen. Die Kontroverse geht vielmehr darum, ob sie dessen ungeachtet zumindest auch als vertraglich angesehen werden können.36 Diesen Aspekt vertraglicher Haftung kann man treffend als das »Schutzinteresse«37 bezeichnen und die darauf abzielenden Pflichten »Schutzpflichten« nennen.38 Während es zunächst keine explizite Grundlage für die Regel gab, daß die Parteien vertraglich dazu gehalten sind, sich bei Durchführung des Vertrages jeder schädigenden Einwirkung auf Personen und Sachen der anderen Partei zu enthalten,39 steht nunmehr mit § 241 II BGB eine entsprechende Vorschrift zur Verfügung. Vor allem aus Sicht der Rechtsvergleichung sind an der Berechtigung dieses extensiven Verständnisses des Vertragsrechts regelmäßig Zweifel angemeldet worden.40 Doch sind Versuche
35 Nur der Vollständigkeit halber sei auf folgendes hingewiesen: Werden diese allgemein bestehenden Pflichten abgeändert, etwa durch einen Haftungsausschluß, so ist diese Abänderung vertraglicher Natur, denn dadurch entstehen zwischen den Beteiligten Rechte und Pflichten, die ohne den Rechtsakt Vertrag so nicht bestünden. 36 § 241 II BGB gibt darauf nunmehr eine eindeutige Antwort: auch Rechte, die nur der Erhaltung der Person oder des Eigentums dienen und auch ohne Vertrag bestünden, können Gegenstand eines Vertrages sein. Dies entspricht der bisherigen Praxis, die zudem längst dazu übergegangen war, solche Pflichten regelmäßig als Nebenpflichten den vertraglichen, auf die Leistung gerichteten Pflichten, zur Seite zu stellen. Eine ähnliche Funktion erfüllt der Begriff des Mangelfolgeschadens. 37 Heute üblicher: »Integritätsinteresse« oder »Erhaltungsinteresse«, s. etwa Staudinger-Otto § 280 Rn. A 5. 38 Stoll AcP 136 (1932), 257, 289. 39 Stoll AcP 136 (1932), 257, 288 berief sich dafür noch auf Treu und Glauben (§ 242 BGB). 40 Markesinis/Unberath, The German Law of Torts, S. 52ff., 291ff., 703ff. m.w.N.; von Bar
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nicht ausgeblieben, diese dogmatische Besonderheit des deutschen Rechts theoretisch zu untermauern.41 Die herkömmliche Begründung dieser Einbeziehung des Rechtsgüterschutzes in das Vertragsrecht wird üblicherweise in folgendem Argument gesehen: Die Schutzpflichten sind als vertragliche Pflichten einzuordnen, denn erst die Existenz des Schuldverhältnisses schaffe »besondere Einwirkungsmöglichkeiten auf den anderen und seine Rechtsgüter«.42 Ohne den Vertrag hätte also der Schuldner gar nicht die Möglichkeit gehabt, auf die Rechtsgüter des anderen einzuwirken.43 Die zunächst zu beantwortende Frage ist, ob es sich dabei um eine faktische oder rechtliche Möglichkeit handelt: Eine rechtliche Möglichkeit der Einwirkung könnte nur in einer Befugnis zum Eingriff bestehen. Diese besteht zwar im Rahmen der vertraglichen zugelassenen Nutzung, aber offensichtlich nicht darüber hinaus: Der Eingriff in die Rechtsgüter des Gläubigers wird als rechtswidrig angesehen, gleich ob die Haftung vertraglich oder deliktisch begründet wird. Nur weil es besonders leicht ist, in die Sphäre des Gläubigers verletzend einzugreifen, geht dieser des allgemeinen Schutzes durch die nicht-vertraglichen subjektiven Rechte nicht verlustig.44 Alles andere wäre widersprüchlich.45 Eine solche bloß tatsächliche Besonderheit des allgemeinen Rechtsgüterschutzes verändert nicht die Zuordnung von Rechten und Pflichten a priori.46 Der Inhalt der vertraglichen Pflicht ist mit dem der deliktischen identisch: Auch in der sicherlich besonderen faktischen Situation bei der Durchführung eines Vertrages ist der Schuldner nicht-vertraglich verpflichtet, die Rechtsgüter des Gläubigers nicht zu verletzen. Wenn JuS 1982, 637; vom Standpunkt der gegenwärtigen deutschen Dogmatik auch Katzenstein Jura 2004, 584, 586. 41 Auch von Stoll selbst, wie gesehen. Zuletzt etwa Schur Fn. 6, S. 207ff. (freilich unter Beschränkung auf den Schutz absoluter Rechtsgüter). 42 Schur Fn. 6, S. 265. So bereits Stoll AcP 136 (1932), 257, 288 m.w.N. 43 Ein seltenes Beispiel für derart motivierte Regelungen der ersten Fassung des BGB ist § 618 BGB, der dem Dienstberechtigten gewisse Schutzmaßnahmen unter anderem hinsichtlich des Arbeitsplatzes des Dienstverpflichteten auferlegt. Die Pflichten sind vertraglicher Natur, doch zieht § 618 III BGB den richtigen Schluß aus ihrem Charakter als allgemeine Rechtspflicht hinsichtlich des angeborenen Rechts (Leben und Gesundheit) und erklärt die Vorschriften §§ 842– 846 aus dem Deliktsrecht für anwendbar. 44 Als Kontrollüberlegung muß man sich die Situation eines wegen Anfechtung unwirksamen Vertrages vor Augen halten: Die aufgrund des zunächst wirksamen Vertrages geschaffene besondere Einwirkungsmöglichkeit hebt die nicht-vertraglichen Rechte des Gläubigers zu keinem Zeitpunkt auf, so daß diese nicht erst durch die Anfechtung wieder aufleben, sondern jederzeit fort bestehen. 45 Die deutsche Dogmatik erkennt dies bereits dadurch an, daß der vertragliche Anspruch neben einem etwaigen deliktischen Anspruch besteht. So auch das englische Recht: Henderson v Merrett Syndicates Ltd [1995] 2 AC 145, (mit rechtsvergleichenden Ausführungen zum deutschen und französischen Recht). 46 Die Berufung auf die faktisch erhöhte Eingriffsgefahr ist zudem wenig konsequent, weil es eine Vielzahl anderer vergleichbarer Situationen gibt, in denen keine besondere zusätzliche Schutzpflicht der allgemeinen zur Seite gestellt wird. Man denke nur an das Zusammenleben in einer Familie.
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dem aber so ist, so ist es nicht denkbar, daß der Vertrag eine Verbindlichkeit des Schuldners begründet, die er ohne den Vertrag nicht hätte. Folglich ist das Integritätsinteresse nicht als genuin vertragliches Interesse anzuerkennen. In der ursprünglichen Fassung des BGB spielte das Schutzinteresse für die vertragliche Haftung zunächst keine besondere Rolle.47 Bereits kurz nach seinem Inkrafttreten »entdeckte« jedoch Staub unter anderem wegen der stiefmütterlichen Behandlung der Schutzpflichten eine »Lücke« im Schuldvertragsrecht des BGB.48 Zur Behebung des in seinen Augen bestehenden Defizits, postulierte er eine außergesetzliche Schadenshaftung: die allseits bekannte Haftung aus »positiver Vertragsverletzung«.49 Aus der vorangehenden Analyse des Vertragszeckes folgt jedoch, daß eine Lücke, was das Schutzinteresse angeht, gar nicht erst vorhanden war. Denn vom Standpunkt der vorpositiven Systematik der subjektiven Rechte, besteht kein Anlaß, eine Haftung zum Schutz der sonstigen Rechtsgüter des Gläubigers schuldvertraglich zu begründen.50 Es liegt außerhalb der Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung, die Entwicklung des Leistungsstörungsrechts bis zu der Reform des Schuldrechts nachzuzeichnen.51 Es genügt die Feststellung, daß Schutzpflichten schon recht bald nach Inkrafttreten des BGB als umfassende und regelmäßig bestehende schuldvertragliche Nebenpflichten anerkannt wurden. Eine solche vom vorpositiven Verständnis abweichende Verwendung des Begriffes »Vertrag« durch das positive Recht ist ohne weiteres, insbesondere ohne Verstoß gegen Denkgesetze, möglich. Darüber hinaus gibt es pragmatische Gründe für eine ausweitende Vertragsdefinition im deutschen Recht.52 47 Das Leistungsstörungsrecht enthielt im wesentlichen detaillierte Regelungen zur Unmöglichkeit und dem Verzug, sowie einige wenige Schadensersatzvorschriften im Besonderen Teil. 48 Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, 1904. 49 Diese Lehre setzte sich alsbald in Lehre und Praxis durch. S. etwa Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 118, der die Thesen Staubs als »bahnbrechend« und die Haftung für positive Vertragsverletzung als »herrschende Meinung« bezeichnet. Der Schutz des Integritätsinteresses wurde damit (auch) vertraglich gewährleistet. Für die vorvertragliche Haftung s. RGZ 78, 239; BGHZ 66, 51. 50 Eine solche Lücke ist von diesem Standpunkt aus allenfalls dann denkbar, wenn das Leistungsinteresse nicht zureichend erfaßt wäre. Und auch in dieser Hinsicht bejahte Staub eine Lücke, da nach seiner Auffassung keine allgemeine Haftung bei Verletzung der Leistungspflicht im BGB zu finden war. Dies ist jedoch, wie Huber Fn. 9, S. 80ff. ausgeführt hat, auf ein Mißverständnis des § 276 BGB a.F. zurückzuführen. So war bereits das Ziel des Beitrags von Stoll in AcP 136 (1932), 257, die Rechtsfolge der Haftung unmittelbar § 276 BGB a.F. zu entnehmen. Der Vorschlag fand freilich nie genügend Anhänger. 51 Dazu etwa Huber Fn. 9, S. 62ff.; Schur Fn. 6, S. 7ff. 52 Es genügt, zwei kurz zu nennen, die an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt worden sind; Markesinis/Unberath Fn. 40, S. 52ff. Es ist dies zum einen die Haftung für Erfüllungsgehilfen in § 278 BGB, die wesentlich strenger ist als die deliktische Haftung für Verrichtungsgehilfen in § 831 BGB. Zum anderen ist dies der Ausschluß der Haftung für reine Vermögensschäden im § 823 I BGB bei gleichzeitig bestehenden strengen Anforderungen an die Haftung in § 826 BGB. Es ist nicht mein Anliegen an dieser Stelle, die Berechtigung der Kritik an den Grenzen des deutschen Deliktsrechts zu erörtern. Im Bereich des Deliktsrechts ist die Haftung im common law generell etwas strenger, wenngleich auch hier Verschärfungen phasenweise Haftungserleichterun-
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Wenn etwa das deutsche Deliktsrecht, dem die Aufgabe zufällt, die aus dem angeborenen und dem Sachen-Recht erwachsenden Rechtspositionen zu schützen, tatsächlich hinter dem gebotenen Schutzniveau zurückbliebe, so ist es naheliegend und auch geboten, sich der sonstigen Möglichkeiten des positiven Rechts zu bedienen, um das Schutzniveau auf anderem Wege herzustellen. Jedes Rechtssystem kennt solche dogmatischen »Ausweichbewegungen«. Soweit dies durch die Methodenlehre abgesichert ist und deshalb insbesondere das Gewaltenteilungsprinzip nicht verletzt wird, ist gegen dieses Vorgehen grundsätzlich nichts einzuwenden. Freilich ist auch für die Dogmatik viel an Klarheit gewonnen, wenn die Regeln des positiven Rechts auch in systematisch befriedigender Weise angewendet werden. Eine solche Verbesserung der Dogmatik ist im deutschen Recht bereits de lege lata53 durch den Ausbau der (außer-vertraglichen) Vertrauenshaftung als dritter Spur neben Vertrag und Delikt zu gewinnen.54 Wo die Begrifflichkeit des positiven Rechts lediglich dunkel ist, mögen die überpositiven Grundlagen die Zusammenhänge erhellen. Das Mindeste, was dadurch geleistet werden kann, ist eine Vereinfachung der Rechtsregeln und Lehrsätze, das Höchste ist der Fortschritt bei der Erfassung der Aufgabe des Rechts, der sich in einem insgesamt besseren Schutzniveau niederschlägt. Der zufällige Begriffskontext des positiven Rechts ist zwar hinzunehmen, aber nur vom vorpositiven Standpunkt aus kann geklärt werden, welchen Zweck, ein Instrument des positiven Rechts seiner »sachlogischen Struktur« nach erfüllt. Ein Beispiel dieser Art ist die extensive Deutung des Vertragsrechts auf Kosten der außer-vertraglichen Haftung im deutschen Recht: Bei der vorpositiven Bestimmung der Reichweite des Vertrages ist festzuhalten, daß der Vertrag regelmäßig nicht dem Schutz der unabhängig von der Leistung bestehenden Güter des Gläubigers zu dienen bestimmt wurde. Die Parteien haben, kurz gesagt, den Vertrag nicht abgeschlossen, um Schutzpflichten zu begründen, sondern um die Leistung zu erhalten. Aus diesem Grund werden die Schutzpflichten oder Sorgfaltspflichten nicht Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung sein.55 gen folgen und umgekehrt, Markesinis/Unberath Fn. 40, S. 291ff. Strenger ist sie, weil sie ähnlich dem § 278 BGB im Deliktsrecht vicarious liability anordnet und weil in bestimmten Grenzen, reine Vermögensschäden ersetzbar sind. Der Druck, das Vertragsrecht auf Schutzpflichten auszuweiten, ist im englischen Recht weit geringer als im deutschen, weil das Deliktsrecht in höherem Maße das Bedürfnis nach umfassendem Rechtsschutz befriedigt. Aus rechtsvergleichender Sicht ist bemerkenswert, daß gerade die Fallgruppen, in denen das englische Recht ausnahmsweise eine deliktische Haftung für reine Vermögensschäden anerkennt, auch im deutschen Recht unter dem Stichwort der Expertenhaftung einen wichtige Rolle innerhalb der vertraglichen Schutzpflichten einnehmen. 53 S. jetzt § 311 II und III BGB. 54 Im einzelnen s. Canaris in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. I, S. 129, 171ff.; eine ökonomische Analyse bei Eidenmüller in ARSP Beiheft 74, 2000, S. 117ff. 55 Schon bei Canaris JZ 1965, 475, 478, ist die Forderung nach einer »scharfen« Trennung des »Schutzverhältnisses« vom »Leistungsverhältnis« nachzulesen.
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III. Folgerungen für das Leistungsstörungsrecht Scheidet man die Schutzpflichten aus der weiteren Betrachtung aus, so tritt das Wesen des Schuldvertrages besonders klar zum Vorschein. Das Motiv für das Eingehen des Vertrages ist die Begründung der Leistungspflicht. Das Fortbestehen des Vertrages äußert sich in dem fortwährenden Bestehen einmaliger oder fortlaufender Leistungspflichten der Parteien. Sind die Leistungspflichten schließlich erfüllt, erlischt das Rechtsverhältnis. Wenn das im Vertrag angelegte Leistungsprogramm ungestört abläuft, nimmt die Rechtsordnung von dem Vertrag keine Notiz und auch zwischen den Parteien wird der Vertrag alsbald nach seiner Erfüllung Geschichte. Wenn jedoch die Leistung ausbleibt oder ein Teil der Leistung in welcher Hinsicht auch immer nicht mit dem Vertrag übereinstimmt und also der Vertrag verletzt wird, so ist das erworbene persönliche Recht des Gläubigers gefährdet. Ruft der Gläubiger nunmehr die Rechtsordnung auf, sein Recht zu schützen, so sind die Gerichte gefordert, dem wirklich bestehenden subjektiven Recht einen notwendigen Charakter zu verleihen und es mit Zwang durchzusetzen. Das macht die Natur des Vertrages als Quelle rechtlicher Verbindlichkeit aus. Auf welche Weise der Gläubiger »zu seinem Recht kommt«, ist Gegenstand des Leistungsstörungsrechts sowie dem darauf ausgerichteten gerichtlichen Prozeßrechts, dem Erkenntnisverfahren und der Zwangsvollstreckung. Es sind nur zwei Wege denkbar, auf denen die Rechtsordnung das subjektive Recht des Gläubigers auf die Leistung, die Leistungspflicht des Schuldners, durchsetzen kann: die Leistung unter Zwang und insofern die Verletzung dadurch nicht aufgehoben ist, die Gewährung eines Substituts der Leistung. Die Erzwingung der Leistung kann durch den Gläubiger mit oder ohne Mitwirkung der Gerichte und sonstiger staatlicher Organe erfolgen und sie kann unmittelbar auf die Leistung oder nur mittelbar auf die Leistung aber unmittelbar auf die Person des Schuldners gerichtet sein. Neben oder statt des auf die Durchsetzung der Leistungspflicht bezogenen Zwanges kann die Rechtsordnung dem Gläubiger ein subjektives Recht auf die Herstellung, wo dies möglich ist, eines erfüllungsähnlichen Zustands gewähren. In diesem Fall erhält der Gläubiger nicht, was ihm geschuldet war. Darin unterscheidet sich dieser Weg grundlegend von der zwangsweisen Durchsetzung der Leistungspflicht. Wie noch zu zeigen sein wird, ist dieses abgeleitete subjektive Recht eine Reaktion auf eine zurechenbare Verletzung der Leistungspflicht. Dieses weitere subjektive Recht des Gläubigers gegen den Schuldner bedarf in gleicher Weise wie das subjektive Recht auf die Leistung selbst des Schutzes durch die Gerichte, wenn der Anspruch nicht erfüllt wird. Bleibt die Leistung aus, ist schließlich daran zu denken, dem Gläubiger, der seinerseits eine Leistung erbringen muß, den Ausstieg aus dem Vertrag zu ermöglichen. Wenn eine solche Aufhebung des Vertrages erfolgt, so erlischt das subjektive Recht auf die Leistung für die Zukunft. Hinsichtlich bereits erbrachter Leistungen stellt sich dann die Frage der Rückabwicklung.
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1. Der Leistungszwang Das Wesen des Schuldvertrags besteht darin, daß ein subjektives Recht auf die darin vereinbarte Leistung begründet wird. Dieses subjektive Recht ist in der Terminologie des BGB ein Anspruch.56 Dieses Recht ist ein Zwangsrecht. Ihm entspricht auf Seiten des Schuldners eine Pflicht, die Leistung zu erbringen, das ist die Leistungspflicht. Wenn das Recht auf der zweiten normativen Ebene wirklich durch Rechtsakt in der äußeren Welt begründet wurde, so ist es nach den Regeln der dritten Ebene, des Schutzes des Rechts, zwangsweise, also regelmäßig unter Mitwirkung der Gerichte durchzusetzen. Dem Schutz des Rechts dient somit der Leistungszwang sowie all jene sonstigen strafrechtlichen Sanktionen, die eine mißbräuchliche Verwendung der Handlungsform des Vertrages betreffen.57 Das Recht auf die Leistung und der Leistungszwang wird in den §§ 9, 10 unten näher behandelt. An dieser Stelle sollen nur erste Folgerungen aus den überpositiven Grundlagen für die Dogmatik des Leistungszwanges gezogen werden. a) Arten des Zwangs Die Fälle des Leistungszwangs sind nach der Zwangswirkung zu unterscheiden. Der Zwang kann darauf gerichtet sein, die Leistungspflicht unmittelbar durchzusetzen und den Zustand, der bei Leistung bestehen würde, durch Zwang zu bewirken.58 Zweitens kann durch indirekten Zwang, also Beugemittel, versucht werden, den Schuldner zur Erbringung der Leistung zu veranlassen. Beide Arten der Ausübung staatlichen Zwangs sind aus Gründen zur Verhältnismäßigkeit zu beschränken und nicht zuletzt deshalb auch nur begrenzt effektiv.59 Nicht immer ist die zwangsweise Durchsetzung der Leistungspflicht von der Mitwirkung der Gerichte abhängig. Ausnahmsweise wird dem Gläubiger gestattet, sich unmittelbar Befriedigung zu verschaffen.60 Auch indirekte Zwangsmittel können zumin56
S. 167ff. Das Beispiel des Eingehungsbetruges (§ 263 StGB) mag an dieser Stelle genügen. Zeitweilig war das Strafrecht sogar das primäre Rechtsschutzmittel bei Vertragsbruch, der dementsprechend als strafbare Handlung eingestuft wurde. Dazu S. 221ff. 58 Paradigmatisch ist die Vollstreckung einer Geldschuld. Ein weiteres Beispiel ist die Verurteilung zur Leistung bei einer Stückschuld und deren (erfolgreiche) Vollstreckung: Der Gerichtsvollzieher holt den Gegenstand vom Schuldner und übergibt ihn dem Gläubiger. Auch die Fiktion der Abgabe einer Willenserklärung nach § 894 ZPO ist nichts anderes als die unmittelbare zwangsweise Durchsetzung der Leistungspflicht, denn die Leistung wird gegen den Willen des Schuldners bewirkt. 59 So sind Beugemittel im deutschen Recht nur sehr eingeschränkt zulässig; im Wesentlichen bestehen sie, wenn eine unvertretbare Handlung vorgenommen werden soll, und auch dieser eingeschränkte Bereich ist weiter begrenzt durch den Ausschluß der Erzwingung bestimmter Arten von Handlungen in § 888 III ZPO. Im englischen Recht sind Zwangsmittel zwar auch bei vertretbaren und sonstigen Handlungen zulässig, dafür wird der Leistungszwang nur unter engeren Bedingungen gewährt als im deutschen Recht. 60 Etwa durch Selbsthilfe (§ 229 BGB) oder Aufrechnung (§ 387 BGB). Wegen dieser Funk57
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dest nach deutschem Verständnis unabhängig von der Anordnung durch ein Gericht sein.61 Alle Arten des Zwanges sind dadurch begründet, daß das subjektive Recht auf die Leistung ein Zwangsrecht ist. Der Zwang auf der dritten normativen Ebene ist nur die logische Folge der Gewährung des Rechts auf den beiden vorgelagerten Ebenen. Der Zwang verändert das Recht nicht, er dient nur seinem Schutz. Durch den Leistungszwang wird das subjektive Recht notwendig. Das solchermaßen gesicherte subjektive Recht ist peremptorisch im Zustand einer bürgerlichen Verfassung. Diesen zu garantieren, darin liegt die Aufgabe des Staates. Aus der Analyse des Rechts auf die Leistung als subjektives (Zwangs)-Recht ergeben sich zwei wichtige Schlußfolgerungen: Erstens ist der Leistungszwang auf die unmittelbare Durchsetzung des subjektiven Rechts aus Vertrag gerichtet; zweitens ist der Grund der Nichtleistung für die Anordnung des Leistungszwangs unerheblich, sofern die Leistung möglich ist. Beide Schlußfolgerungen bedürfen der näheren Erörterung. Doch zunächst ist auf eine mißverständliche Verwendung des Begriffs Zwangsrecht einzugehen. b) Für weniger Aktionendenken Die Regeln und Rechtsinstitute der dritten Ebene, die darauf ausgerichtet sind, die Leistungspflicht durchzusetzen, begründen keine neuen materiell-rechtlichen subjektiven Rechte, sondern sind in ihrem Bestand und ihrer Tragweite auf das subjektive Recht, die Leistung zu fordern, bezogen. Dies ist keine selbstverständliche Aussage, war es doch Savigny, der dem subjektiven Recht aus Vertrag noch ein materiell-rechtliches »Klagrecht« zur Seite stellte, das erst den Schutz des ersteren durch die Befugnis zur Anrufung der Gerichte ermöglichte.62 Das Bestehen der Rechte »an sich« (also die Möglichkeit der Rechte auf der ersten normativen Ebene) ist nach seiner Auffassung die notwendige Bedingung des Zusammenlebens »freier Wesen«.63 Da Rechte jederzeit verletzt werden können, bestehe das Bedürfnis nach Rechtsinstituten, die man als »Schutzanstalten« für die Rechtsordnung bezeichnen könne:64 die Gerichtsbarkeit, das Strafrecht, und das auf die tion der Aufrechnung ist es nicht überraschend, daß sie in anderen Rechtsordnungen der Mitwirkungen durch ein Gericht bedarf bzw. als ein Institut des Prozeßrechts angesehen wird. S. rechtsvergleichend Zimmermann in Beuthien/Fuchs/Roth/Schiemann/Wacke (Hrsg.), Festschrift für Dieter Medicus, S. 708. 61 Von den Parteien können Vertragsstrafen im Voraus vereinbart werden (§ 339 BGB). Der Schuldner kann dann lediglich die Herabsetzung der Höhe der Strafe durch ein Gericht beantragen (§ 343 BGB). Die Vertragsstrafe ist dagegen im common law nicht zugelassen, was nicht aus einer Differenz über das Bestehen subjektiver Rechte (erste normative Ebene) herrührt, sondern in einem abweichenden Verständnis der Funktion des Staates beim Schutz der subjektiven Rechte begründet ist. 62 Savigny, System, Bd. 5, § 204, S. 1ff., insbesondere S. 5. 63 Savigny Fn. 62, S. 1. 64 Savigny Fn. 62, S. 1.
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»Herstellung des gestörten Rechtszustands abzweckenden Formen, als Inhalt des Prozeßrechts«65. Als Zwischenglied zwischen dem letzteren Institut und dem subjektiven Recht setzte Savigny sodann das Klagrecht ein. Es bedeute, ein Recht »in der besonderen Beziehung auf die Verletzung betrachten«, also »im Zustand seiner Vertheidigung«.66 Dies sei ein neues materiell-rechtliches Rechtsverhältnis, das auf die Aufhebung der Verletzung gerichtet sei.67 Dieser Analyse folgt aus der neueren Literatur etwa Johann Braun.68 Auch er differenziert zwischen der isoliert vorgestellten Forderung als Rechtsgut, das es zu schützen gelte, und dem Leistungsanspruch als Mittel des Schutzes. Letzterer sei die Forderung »im Verteidigungszustand«.69 Die Annahme eines materiell-rechtlichen Klagrechts als Zwischenglied zwischen Leistungsanspruch und Schutz des subjektiven Rechts ist jedoch überflüssig und zumindest mißverständlich. Savignys Anliegen wurde bereits erläutert:70 Sein System allgemeiner subjektiver Rechte war ein Gegenentwurf zum fragmentarischen Aktionendenken seiner Zeit. Er konnte jedoch das Kernstück der klassischen römischen Dogmatik, die actio, nicht vollends preisgeben und räumte ihr in seinem System den Platz eines materiell-rechtlichen Klagrechts ein. Bereits Windscheid erkannte, daß das Klagrecht damit ein unselbständiger Annex des subjektiven Rechts herabgestuft wurde und der Begriff daher am besten ganz aufgegeben werden sollte.71 Das »Klagrecht« enthält keine über das subjektive Recht hinausgehende Befugnis des Gläubigers und ist daher überflüssig. Denn bereits die Existenz des subjektiven Rechts enthält, wie wiederholt betont wurde, die Befugnis, Zwang auszuüben. Dies ist das entscheidende Merkmal des subjektiven Rechts des Gläubigers und der damit korrespondierenden äußeren Rechtspflicht des Schuldners. Das »Klagrecht« ist nur eine irreführende Bezeichnung des Zusammenhangs zwischen erster, zweiter und dritter normativen Ebene subjektiver Rechte: Wenn auf der ersten Ebene ein mögliches subjektives Recht auf der zweiten Ebene wirklich begründet wurde, so hat der Gläubiger die Befugnis, sein Recht auch gegen den Willen des Schuldners durchzusetzen.72 Die Bezeichnung »Klagrecht« ist irreführend, weil Savigny damit an eine »Rechtsverletzung« durch den Schuldner anknüpft, die durch die Klage wieder »aufgehoben« werden solle. Daran ist richtig, daß der Schutz des Anspruchs auf 65
Savigny Fn. 62, S. 2. Savigny Fn. 62, S. 2. 67 Savigny Fn. 62, S. 5f. 68 Braun AcP 205 (2005), 127, 135ff. 69 Braun AcP 205 (2005), 127, 137. 70 S. 170ff. 71 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 230ff. 72 In ähnlicher Weise für das englische Recht Zakrewski, Remedies Reclassified, S. 55: Die »remedies«, die er prozessual einordnet und die die materiell-rechtlichen Ansprüche verwirklichen, »replizieren« lediglich das subjektive Recht. Der gerichtliche Schutz ist damit bereits in dem materiellen Recht selbst angelegt. 66
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die Leistung nur dann erforderlich wird, wenn der Schuldner nicht leistet. Zwang ist bereits begrifflich nur dann erforderlich, wenn der Wille des Schuldners entgegensteht. Die Begrifflichkeit der Rechts-»Verletzung« erweckt aber die Vorstellung, daß der Schutz des Rechts auf die Leistung einen dem Schuldner »vorwerfbaren« Sachverhalt erfordert. Die Fundierung des Klagrechts in der »Rechtsverletzung« verdeckt den Unterschied zwischen der Durchsetzung des Anspruchs auf die Leistung, der keine Zurechnung der Nichtleistung erfordert, und der Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs, der eine solche Zurechnung voraussetzt.73 Für die Aktivierung des Schutzes des Rechts auf die Leistung genügt jedenfalls das schlichte Ausbleiben von Leistung. Wenn der Vertrag ein subjektives Recht auf die Leistung als Zwangsrecht begründet, so ist Zwang auszuüben, wenn die Leistung nicht erfolgt. Die Gründe, warum die Leistung nicht erfolgt, sind mit einer sogleich zu erörternden Ausnahme unerheblich und insoweit von den Gerichten nicht nachzuprüfen.74 c) Das dualistische System Der einzige Grund des Ausbleibens der Leistung, der für das vertragliche subjektive Recht erheblich ist, ist die Unmöglichkeit. Warum in Fällen der Unmöglichkeit das subjektive Recht nicht zur Geltung kommt, ist jedoch nicht so offensichtlich, wie man angesichts des Konsenses hinsichtlich des Ergebnisses, nämlich des Ausschlusses des Leistungszwangs, vermutet könnte. Die Schwierigkeit entsteht deswegen, weil die Unmöglichkeit im Leistungsstörungsrecht in zweierlei Hinsicht relevant ist. Sie ist einerseits hinsichtlich der Existenz oder Nicht-Existenz der Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken (ontologische Aspekt), andererseits für die Frage, ob das Ausbleiben der Leistung dem Schuldner zuzurechnen ist (Zurechnungsaspekt), relevant. Die Unmöglichkeit der Leistung ist ein Umstand, der geeignet ist, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen die Zurechnung75 der Nichtleistung auszuschließen. Denn wenn die Leistung dem Schuldner nicht möglich war, so hatte der Schuldner keine Alternative zur Nichtleistung und hat daher nicht freiwillig gehandelt. Ein Vorwurf kann ihm nur gemacht werden, wenn er für die Unmöglich73 Wie bereits Windscheid Fn. 71, S. 2, bemerkte: »Man brauchte nicht manches Blatt im Corpus Juris umzudeuten, um von Actionen zu lesen, die eine Rechtsv e r l e t z u n g nicht voraussetzen.« Freilich kann man bereits das schlichte Ausbleiben der Leistung als »Rechtsverletzung« definieren. In der Tat hat nunmehr der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform mit dem Begriff der »Pflichtverletzung« auf Schuldnerseite eine ähnlich weite Terminologie eingeführt, die allein auf das objektive Ausbleiben der Leistung abstellt. Dazu S. 323f. 74 Das Gericht stellt mit dem Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses lediglich sicher, daß es nicht mit Klagen konfrontiert wird, in denen der Schutz des Rechts keines oder zumindest nicht des begehrten Schutzes bedarf, weil eine Gefährdung nach Lage der Dinge von vornherein ausscheidet. 75 Ausführlich zur Zurechnung S. 294ff.
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keit selbst verantwortlich ist. Diese Argumentation kann jedoch für die Leistungspflicht keine Rolle spielen. Denn nach dem Gesagten muß das Ausbleiben der Leistung dem Schuldner nicht zurechenbar sein, um den Schutz des subjektiven Rechts zu begründen. Sofern das subjektive Recht besteht, ist es zwangsweise durchzusetzen. Sein Bestehen aber ist in keiner Weise von einem Zurechnungsurteil bezüglich des Ausbleibens der Leistung abhängig, sondern hängt nur vom wirksamen Bestehen des Vertrages ab. Daß die Unmöglichkeit für die Durchsetzung der Leistungspflicht, ja für das Bestehen der Leistungspflicht selbst, relevant ist, liegt also nicht in dem Zurechnungsaspekt der Unmöglichkeit. Vielmehr ist die die Leistungspflicht ausschließende Kraft der Unmöglichkeit ontologisch begründet. Dies folgt wiederum aus den überpositiven Grundlagen der Bindung an den Vertrag, also der Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Rechte auf der ersten Ebene. Ein Recht ist nach dem Postulat des Privatrechts auf die Herrschaft über Gegenstände der äußeren Welt gerichtet. Wenn der Gegenstand der Willkür, den das Recht in den intelligibelen Besitz des Gläubigers bringen soll, nicht existent ist, so kann kein Recht daran entstehen, bzw. ein bereits entstandenes Recht erlischt. Der Schuldvertrag begründet den intelligibelen Besitz der Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken. Ist die Erbringung der Leistung dem Schuldner unmöglich, so besteht auch kein auf die Leistung gerichtetes subjektives Recht. Ein Sachenrecht an einer nicht-existenten Sache kann nicht bestellt werden. Der Ausschnitt der Handlungen einer Person kann nicht beherrscht werden, wenn er nicht existiert. Die Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken, kann nicht dem Gläubiger gehören, wenn der Schuldner gerade nicht auf diese Weise kausal werden kann. Aus diesen ontologischen, also auf die Existenz von Gegenständen in der äußeren Welt gerichteten Überlegungen folgt, daß die Unmöglichkeit der Leistung das subjektive Recht auf die Leistung ausschließt.76 Entscheidend ist dabei, daß es gerade dem Schuldner unmöglich ist, die Leistung zu erbringen, denn es ist allein sein Vermögen zur Leistung, das durch den Vertrag dem Gläubiger zur Verfügung gestellt wird. Aus diesen vorpositiven Überlegungen ergibt sich ein »dualistisches System« der Unmöglichkeitsregeln.77 Dieses ist in dem Unterschied zwischen dem ontologischen Aspekt und dem Zurechnungsaspekt der Unmöglichkeitsregeln begründet. In ontologischer Hinsicht führt das Vorliegen von Unmöglichkeit zum Erlö76 Der systematisch naheliegende Ort für die Unmöglichkeitsregeln ist daher das materielle Recht und nicht das Prozeßrecht, wie das common law aber als Nachwirkung der forms of action zu denken geneigt ist (als Ausschlußgrund für specific performance im Erkenntnisverfahren). Noch weitergehender Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, S. 241 (die Unmöglichkeit festzustellen, gehöre ins Vollstreckungsverfahren). 77 Der Begriff »dualistisches System« wurde, um die Parallelität zwischen vorpositiver Systematik und derzeit geltendem deutschen Recht bereits an dieser frühen Stelle zu betonen, von MünchKommBGB-Ernst § 275 Rn. 1 und Canaris JZ 2004, 214, 224, übernommen. S. näher S. 271ff.
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schen des subjektiven Rechts auf die Leistung. Damit ist und kann keine Aussage über die Zurechenbarkeit der Nichtleistung getroffen sein. Der Ausschluß der Leistungspflicht nach Vertragspflicht präjudiziert daher nicht den Anspruch auf Schadensersatz wegen zurechenbarer Nichtleistung.78 Dies schon deswegen, weil die Unmöglichkeit für die Leistungspflicht gar keine Relevanz als Zurechnungselement besitzt.79 d) Die Leistungspflicht: Ein Zwischenergebnis Die Befugnis zur Leistung zu zwingen, ergibt sich unmittelbar aus dem subjektiven Recht. Sie ist daher an keine weiteren Voraussetzungen gebunden. Der Zwang erfolgt grundsätzlich nur durch staatliche Organe, insbesondere die Gerichte. Die Schutzmaßnahmen, die zur Durchsetzung des nach den ersten beiden normativen Ebenen wirklich bestehenden subjektiven Rechts getroffen werden, gehören der dritten Ebene an. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen in der Einschätzung dessen, unter welchen Bedingungen staatlicher Zwang zur Durchsetzung der Leistungspflicht ausgeübt werden darf. Ein Klagrecht auf gerichtlichen Schutz bei Verletzung des Rechts, das das subjektive Recht ergänzt, ist eine überflüssige und auch dogmatisch überholte Konstruktion. Die Zurechenbarkeit der Vertragsverletzung ist nicht Voraussetzung des Leistungszwangs. Das subjektive Recht auf die Leistung setzt jedoch das Vermögen des Schuldners zur Leistung als Bedingung seiner Möglichkeit voraus.
2. Die Gewährung eines Substituts der Leistung Der Leistungszwang ist aus mindestens drei Gründen kein vollkommenes Mittel zum Schutz des subjektiven Rechts auf die Leistung. Er ist in vielerlei Hinsicht 78
Für die Auswirkungen auf die Haftung wegen anfänglicher Unmöglichkeit, vgl. S. 353ff. Diese sachlogische Struktur ist nunmehr, als Ergebnis der Schuldrechtsreform, unmittelbar in der Dogmatik abgebildet. § 275 I-III BGB schließen nur die Leistungspflicht aus. Es ist dafür nicht erforderlich zu prüfen, ob die Unmöglichkeit zu vertreten war. Über das Bestehen eines Anspruchs auf Schadensersatz ist damit keine Aussage getroffen (§ 275 IV BGB). Demgegenüber sprach § 275 I BGB a.F. eine Befreiung des Schuldners nur bei nicht zu vertretender Unmöglichkeit aus. Die h.M. hatte sich bekanntlich über die Intention der Verfasser des BGB hinweggesetzt, MünchKommBGB-Ernst § 275 Rn. 4 m.w.N. Was die Zeit vorher angeht, wurde wohl überwiegend vertreten, daß, wenn der Schuldner nicht befreit wird, er (nur) auf Schadensersatz haftet und nicht auf Erbringung der Leistung. So Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 2, § 264, S. 57; anders aus neuerer Zeit, etwa Jakobs, s. Fn. 76. Als Grenze der Vollstreckung des Anspruchs auf die Leistung genügt jedoch auch bei diesem abweichenden Ausgangspunkt die Unmöglichkeit in ihrem ontologischen Aspekt. Daraus ergibt sich, daß die Unmöglichkeit nur scheinbar in der gleichen Bedeutung für den Ausschluß der Leistungspflicht und den der Schadensersatzpflicht verwendet wurde. Die gegenwärtige Regelung in § 275 BGB schafft demgegenüber größere Klarheit über die systematischen Zusammenhänge. 79
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sogar ein völlig unzureichendes Instrument. Der erste Grund für die beschränkte Wirkung des Leistungszwangs liegt darin, daß der Zwang erst mit Verzögerung einsetzt. Das liegt in der Natur des staatlichen Zwanges. Das Gericht muß sich erst vergewissern, ob und mit welchem Inhalt das subjektive Recht auf die Leistung besteht. Nur ausnahmsweise ist vorbeugender oder einstweiliger Rechtsschutz80 zu erlangen. Bis zur Anordnung der Erfüllung und deren Vollstreckung können Schäden eintreten, die durch die Leistung nicht mehr zu beheben sind. Zweitens muß bedacht werden, daß der staatliche Zwang keineswegs den sicheren Erfolg verspricht, sondern vielfältigen Beschränkungen unterliegt. Schließlich versagt der Leistungszwang vollständig, wo der Schuldner zur Leistung nicht vermögend ist: Die Unmöglichkeit schließt bereits das subjektive Recht aus, das der Leistungszwang durchsetzen soll. Der Schutz des subjektiven Rechts auf die Leistung wäre daher in bedenklicher Weise unvollkommen, wenn eine Rechtsordnung nur den Leistungszwang anordnete. Wenn der Gläubiger wegen Ausbleibens der Leistung einen Nachteil erleidet, stellt sich daher die Frage, wie der Schutz des Leistungsinteresses dennoch verwirklicht werden kann. Die Leistung selbst kann bei dieser Alternative zum Leistungszwang freilich nicht mehr in Rede stehen. Es kann also nicht darum gehen, die Zwangsmittel oder das Erkenntnisverfahren zu ändern. Notwendig ist vielmehr ein Rückbesinnen auf die erste normative Ebene, die der Möglichkeit subjektiver Rechte. Nur wenn es möglich ist, auf dieser Ebene weitere subjektive Rechte neben dem Recht auf die Leistung zu begründen, ist eine Vervollständigung des Schutzes des vertraglichen subjektiven Rechts denkbar. a) Surrogat und wertmäßiger Ausgleich Es sind zwei Arten von Gegenständen der äußeren Welt denkbar, die an die Stelle der Leistung treten können und deren Gewährung das Gläubigerinteresse am Erhalt der Leistung annähernd verwirklicht: Zum ersten ist dies ein Surrogat, das der Schuldner für die untergegangene Leistung erhält, wie etwa eine Versicherungszahlung. Zum anderen kann eine Geldleistung des Schuldners den Zustand herstellen, der bestünde, wenn ordnungsgemäß geleistet worden wäre. Ein solches Substitut der Leistungspflicht ist denknotwendig nur eine Annäherung an die Leistung. Es ist daher von vornherein die Gefahr einer Überkompensation oder einer Unterkompensation des Gläubigers gegeben. Nur im Idealfall befriedigt der Schadensersatz oder das Surrogat das Leistungsinteresse des Gläubigers in identischem Umfang wie die Erfüllung der Leistungspflicht selbst.81 Rechte, die darauf abzielen, dem Gläubiger ein Substitut der Leistung zu gewähren, sind 80 Der zudem grundsätzlich nur die spätere Befriedigung sichert, s. nur Stein/Jonas-Grunsky Vorbem. vor § 935 Rn. 31. 81 Wenn der Gläubiger das Substitut in Anspruch nimmt, so geht sein Recht, die Leistung selbst zu verlangen, unter.
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vom Zweck des subjektiven Rechts auf die Leistung abgeleitet. Sie sind daher ebenso vertraglicher Natur wie das Recht auf die Leistung selbst. An welche Voraussetzungen ist nun ein solches Recht auf ein Substitut der Leistung zu knüpfen? Lassen sich auch diesbezüglich Schlußfolgerungen aus den überpositiven Grundlagen ziehen? Hinsichtlich des Anspruchs auf das unmittelbar als Ersatz für den geschuldeten Gegenstand Empfangene ist die Regelung des § 285 BGB einleuchtend: Das Empfangene tritt an die Stelle der Leistung aufgrund desselben Umstands, der die Leistung unmöglich werden lies. Dieses Surrogat soll der Gläubiger verlangen können. Die Unmöglichkeit der Leistung hat zwar das Recht auf die Leistung beseitigt, doch tritt das Surrogat an die Stelle des Leistungsgegenstandes und kann somit nach denselben Grundsätzen verlangt werden. Hierfür ist also eine Rechtsverletzung im engeren Sinn, die ein vorwerfbares Nichtleisten des Schuldners voraussetzt, nicht erforderlich. Der Leistungsgegenstand wird gewissermaßen mit Willen des Gläubigers ausgetauscht.82 Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf wertmäßigen Ausgleich der Nachteile einer Vertragsverletzung bedürfen dagegen einer differenzierteren Untersuchung.83 Anders als bei der Surrogatsherausgabe wandelt sich bei der Schadensersatzhaftung der Schuldinhalt grundlegend um. Es wird im Vergleich zur Leistung ein anderer Gegenstand der Willkür geschuldet: Soweit dies durch Geld möglich ist, soll der Schuldner den Zustand herstellen, der bestünde, wenn er geleistet hätte. Dieser Schuldinhalt zielt auf Abwendung oder Abmilderung der Folgen einer Vertragsverletzung ab. Das ursprüngliche Recht auf die Leistung reicht nur soweit die Leistung selbst betroffen ist. Es begründet insbesondere keinen Besitz der Kausalität der Willkür des Schuldners, die Folgen des Ausbleibens der Leistung auszugleichen. Es ist daher ein über das Ausbleiben der Leistung hinausgehendes Argument notwendig, den Schuldner zur Leistung von Schadensersatz zu verpflichten. Dieses Argument liefert die zurechenbare Vertragsverletzung. Denn dann kann für die Haftung auf Ausgleich der Schäden an ein Fehlverhalten des Schuldners, die Vertragsverletzung, angeknüpft werden, für das er als moralischer Urheber verantwortlich gemacht werden kann. Wenn die Vertragsverletzung dem Schuldner nicht zurechenbar ist, gibt es keinen Grund, ihn für die Folgen einstehen zu lassen. Während Kant den Anspruch auf Ersatz von Schäden durch Ausbleiben der Leistung nicht erörtert, hat Hegel diese notwendige Erweiterung der Ansprüche des Vertragsgläubigers näher begründet.84 Seine naturrechtlichen Ausführungen 82
Das Problem des commodum ex negotiatione wird auf S. 338ff. erläutert. Bekanntlich sehen das deutsche Recht und das common law unterschiedliche Haftungsvoraussetzungen vor. Zugespitzt gesagt, verlangt das deutsche Recht im Ausgangspunkt Verschulden des Schuldners (§§ 280 I 2, 276 BGB), während das common law eine »Garantiehaftung« des Schuldners begründet. Im einzelnen S. 323ff. 84 Hegel, R TW 7, §§ 82, 90ff. 83
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stützen die vorgehende Argumentation und es ist daher hilfreich, sie nachzuvollziehen: Der freie Wille eines Menschen kann als solcher nicht bezwungen werden, doch kann ihm insofern Gewalt angetan werden, als der Wille sich in eine äußerliche Sache legt.85 Diese Gewalt gegen ein Dasein, worin ein Wille gelegt ist, ist unrechtlich.86 Dies bezeichnet Hegel als den »ersten Zwang«. Ein solcher erster Zwang ist auch die Verletzung eines Vertrages durch Nichtleistung des Geschuldeten.87 Ebenso wie bei Kant ist das Recht bei Hegel ein Zwangsrecht.88 Dem Zwang muß, wenn sich das Recht behaupten soll, ein zweiter Zwang folgen, der »ein Aufheben eines ersten Zwanges« ist.89 Das Recht stellt sich durch das Negieren seiner Negation wieder her.90 Hegel erörtert hier wie Kant hauptsächlich das Strafrecht. Zusätzlich aber verweist Hegel auf die »zivile Genugtuung«:91 Wenn die Rechtsverletzung in der Zufügung von »Schaden an irgendeiner Weise des Eigentums oder Vermögens« besteht, so soll diese, soweit dies durch »Ersatz« möglich ist, aufgehoben werden. Das Entscheidende an dieser Ableitung ist, daß die Anordnung des Schadensersatzes auf die Aufhebung eines Unrechts abzielt. Denn die Feststellung, daß Unrecht begangen wurde, setzt wie im Strafrecht so auch bei der zivilen »Genugtuung« ein Zurechnungsurteil über die Verletzung voraus.92 Wenn man Weinribs Kombination der Kantischen Rechtslehre mit dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit (corrective justice) für richtig hält, wofür einige Gründe genannt worden sind,93 so ergibt sich die Rechtfertigung der Schadensersatzhaftung ebenfalls aus dem Gedanken des Ausgleichs eines Unrechts. Weinrib geht vom Postulat des Privatrechts aus und nimmt daher ein nicht instrumentell begründetes subjektives Recht auf die Leistung an. Wenn nun dieses Recht verletzt wird, so ist es ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit, diese Verletzung soweit möglich aufzuheben.94 Das Unrecht, das durch die Regeln der ausgleichenden Gerechtigkeit aufgehoben werden soll, besteht darin, daß der Schuldner dem Gläubiger etwas vorenthält, was ihm »gehört«, also in der Nichtleistung. Der Schuldner erhält dadurch einen unrechtmäßigen Vorteil, während der Gläubiger einen damit korrespondierenden Nachteil, nämlich die Beeinträchtigung seines Rechts auf die Leistung, erleidet. Die Aufhebung der Verletzung besteht nun darin, den Schuldner zu verpflichten, dem Gläubiger den Wert seines Leistungsinteresses zu ersetzen. Dadurch wird dem Schuldner das genommen, 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Dem entspricht der intelligible Besitz bei Kant. Hegel, R TW 7, § 92, S. 179. Hegel, R TW 7, § 93, S. 179. Hegel, R TW 7, § 94, S. 180. Hegel, R TW 7, § 93, S. 179. Hegel, R TW 7, § 82, S. 172. Hegel, R TW 7, § 98, S. 186. Näher § 11 I.3. unten. S. 80ff. Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 59ff. (2003).
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und dem Gläubiger gegeben, was dem Gläubiger wertmäßig gehört.95 Nach Weinrib ist somit die Haftung auf Schadensersatz ein subjektives materielles Recht des Gläubigers gegen den Schuldner, die Aufhebung der Verletzung der Leistungspflicht zu verlangen, ihm also »den Wert des Vertrages« zu erstatten. b) Primär- und Sekundäranspruch Im deutschen Recht wie im englischen Recht haben sich die Begriffe Primär- und Sekundäranspruch eingebürgert.96 Unter Primäranspruch wird dabei herkömmlicherweise der Anspruch auf die Leistung selbst verstanden, einschließlich einer möglichen nachträglichen »Nachbesserung« der Leistung durch Nacherfüllung, während der Sekundäranspruch den wertmäßigen Ausgleich der Folgen der Vertragsverletzung erfassen soll. Diese Begrifflichkeit ist natürlich in gewisser Weise beliebig. Jedoch bringt sie bei genauerer Betrachtung all das zum Vorschein, was in den bisherigen Abschnitten zum Verhältnis von Leistungszwang und wertmäßigem Ausgleich gesagt wurde. Sie ist daher vorzüglich dazu geeignet, die überpositiven Grundlagen des Leistungsstörungsrechts in die Dogmatik des positiven Rechts einfließen zu lassen.97 Zunächst ist klarzustellen, in welcher Hinsicht es keinen Sinn ergibt, von Primär- und Sekundäransprüchen zu sprechen: Ein zeitlicher Zusammenhang kann nicht gemeint sein, denn er würde etwa Fälle des vorzeitigen Vertragsbruchs98 nicht erfassen. Auch ist es nicht so, daß denknotwendig eine Rangfolge der Ansprüche, was ihre Geltendmachung durch den Gläubiger betrifft, angenommen werden müßte. Diese müßte ja dann derart bestehen, daß der Gläubiger zunächst den »Primär«- und sodann den »Sekundär«-Anspruch geltend machen müßte. Dies ist in der Tat in eingeschränktem Umfang im Hinblick auf das Nachfristerfordernis in § 281 BGB der Fall. Eine solche Rangfolge der Ansprüche ist aus rechtsvergleichender Sicht aber gerade zweifelhaft: im common law jedenfalls ist die Rangfolge der Ansprüche genau umgekehrt (der Primäranspruch wird nur gewährt, wenn der Sekundäranspruch nicht ausreichend ist). Und dennoch verwendet auch das englische Recht die Begriffe der Sache und der Bezeichnung nach in der gleichen Weise wie das deutsche Recht. Der Zusammenhang, der mit der Bezeichnung ausgedrückt wird, ist vielmehr ein anderer.
95 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 70 (2003); ähnlich im Ergebnis bei abweichendem Ausgangspunkt Gordley, S. 89ff. 96 S. etwa Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 10 und 29. Zum common law vgl. Text bei Fn. 102, unten. 97 Die Übereinstimmung zu der Dogmatik des common law ist um so bemerkenswerter, als es zunächst den Anschein hat, daß dieses von ganz anderen Prämissen der Haftung ausgeht. 98 Das sind Fälle, in denen bereits vor Fälligkeit der Leistungspflicht fest steht, daß Schadensersatzansprüche bestehen. Dazu Lorenz, Karlsruher Forum, S. 85; Treitel, The Law of Contract, S. 857ff.
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Der Anspruch auf wertmäßige Herstellung des Zustands, der bestünde, wenn die Leistung ordnungsgemäß erbracht wurde, ist ein subjektives vertragliches Recht, das auf das Recht auf die Leistung selbst bezogen ist: Der Anspruch auf Schadensersatz wird bei zurechenbarer Verletzung des Rechts auf die Leistung gewährt. Der Anspruch soll die Rechtsverletzung durch wertmäßigen Ausgleich aufheben. Um diesen Zusammenhang auszudrücken, ist die Terminologie von Primär- und Sekundäranspruch sinnvoll und zutreffend: Der Primäranspruch ist das Recht auf die Leistung selbst. Der Sekundäranspruch entsteht, wenn dieses, insofern primäre, Recht zurechenbar nicht erfüllt wird. Er ist auf die Herstellung eines erfüllungsgleichen Zustands durch Geldleistung gerichtet. Der Anspruch auf Schadensersatz ist mithin »sekundär« im Bezug auf das Recht auf die Leistung, er setzt die Verletzung dieses Rechts voraus. Als erstes dürfte die Unterscheidung in dieser spezifischen Bedeutung (Sekundärrecht entsteht bei Verletzung des Primärrechts) bei Max Rheinstein zu finden sein: »[Die] Lehre, daß Inhalt des Vertrages die vereinbarte Leistung ist, muß dazu führen, diese Pflicht zur primären des Vertrages zu erklären, deren Verletzung eine sekundäre Pflicht zum Schadensersatz entstehen läßt.«99
Die hier vorgeschlagene Terminologie ist freilich nicht selbstverständlich. Jan Schapp100 etwa führt die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärpflichten zunächst ebenfalls auf das Verhältnis von Recht und Unrecht zurück. Sekundärpflichten entstünden, wenn Primärpflichten verletzt werden. Hinsichtlich der Erfüllung eines Vertrages könne aber nur bei freiwilliger Erfüllung die darauf bezogene Pflicht als Primärpflicht bezeichnet werden. Wenn er nicht freiwillig erfüllt werde, gründe das Zivilrecht den Erfüllungsanspruch als »Sekundärpflicht«.101 Diese Begriffsbildung ist von der vorliegend vorgeschlagenen grundverschieden. Sie ist dem Einwand ausgesetzt, daß sie die Durchsetzung des Primäranspruchs auf der dritten normativen Ebene mit der Gewährung eines Anspruchs auf Schadensersatz auf der ersten Ebene mit demselben Begriff der Sekundärpflicht zu erfassen sucht. Überzeugender erscheint es deshalb, nur die Gewährung eines auf die Verletzung des Primäranspruchs bezogenen eigenständigen Anspruchs (materiell-rechtlicher Art) als Sekundäranspruch zu bezeichnen. Auch das englische Recht unterscheidet in dieser Weise zwischen den Ansprüchen wegen Vertragsverletzung. »Primary rights« sind die substantive rights, die unabhängig von einer Rechtsverletzung bestehen, während »secondary rights« ei-
99 Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, S. 240f. Sie findet sich in ähnlicher Form bei vielen späteren Autoren wieder. S. etwa Raiser JZ 1961, 465, 466 (in rudimentärer Form); auf Rheinstein Bezug nehmend Jakobs Fn. 76, S. 163ff. 100 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 21–27. 101 Schapp Fn. 100, S. 25.
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ne solche, und zwar des jeweiligen »primary right« voraussetzen.102 Es handelt sich bei der Gewährung von Schadensersatz durch Gerichtsurteil nicht etwa um eine »transformierende« Durchsetzung des subjektiven Rechts auf die Leistung, sondern um die Gewährung eines weiteren subjektiven Rechts materiell-rechtlicher Art (substantive right), das seinerseits der gerichtlichen Durchsetzung fähig ist.103 Das englische Recht ist freilich auf der dritten Ebene des Schutzes der Rechte weniger einheitlich als das deutsche Recht mit der Leistungsklage. Dies ist eine späte Folge der forms of action. Hier ist es daher möglich und in gewissen Grenzen auch sinnvoll, zwischen den einzelnen Klagearten zu unterscheiden.104 Es bestehen nämlich, wie gesehen, Unterschiede in der Art des gerichtlichen Schutzes.105 Daher ist es im englischen anders als im (gegenwärtigen) deutschen Recht erforderlich, nicht nur auf der ersten normativen Ebene zwischen dem Primärund dem Sekundäranspruch zu differenzieren, sondern parallel dazu auf der dritten Ebene zwischen specific performance und damages.106 Das Entscheidende an dieser Analyse des englischen Rechts ist jedoch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Primär- und Sekundäranspruch als subjektive Rechte. Das Sekundärrecht setzt die Verletzung des Primärrechts voraus: Es entsteht aus einem »wrong«.107 Ein wrong kann aber nur vorliegen, wenn die Vertragsverletzung zurechenbar ist. Wenn der Schuldner nicht als moralischer Urherber der Verletzung anzusehen ist, ist die Begründung eines auf ein Fehlverhalten gestützten Anspruchs nicht möglich. Obwohl das englische Recht zumindest scheinbar auf das Verschuldenserfordernis für die Schadenshaftung verzichtet, deutet die kardinale Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrecht im englischen sowie im deutschen Recht vielmehr auf eine im Kern gleiche Systematik des Vertragsrechts hin.108 Der Sache nach geht das common law nämlich ebenfalls von einer zurechenbaren Vertragsverletzung aus, wenn es Schadensersatz zuspricht. Augenfällig ist dies bei auf die Leistung von Diensten gerichteten Verträgen, wo reasonable care Haftungsstan102 Zakrewski Fn. 72, S. 13ff., 81ff.; so bereits Unberath, Transferred Loss, S. 28. Aus der Rspr. Photo Production Ltd. v. Securicor Transport Ltd. [1980] A.C. 827, 844 (Lord Wilberforce), 848 (Lord Diplock); Alfred McAlpine Construction Ltd. v. Panatown Ltd. [2001] 1 A.C. 518, 534 (Lord Clyde), 595 (Lord Millett); Attorney General v. Blake [2001] 1 A.C. 268, 297f. (Lord Hobhouse). 103 So die zutreffende Analyse von Zakrewski Fn. 72, S. 166. Die Durchsetzung der Rechte sei jeweils schlicht »replizierend«. 104 Etwa specific remedies, die der Durchsetzung von Primäransprüchen dienen, von substitutionary remedies zu unterscheiden, die der Durchsetzung von Sekundäransprüchen dienen. Zakrewski Fn. 72, S. 103ff. 105 § 7 III. oben. Soweit es um eine Rechtsschutzform aus dem Bereich der equity geht, spricht das englische Recht dem Richter immer noch Ermessen zu. 106 S. etwa McKendrick, Contract Law, S. 434ff. (»obtaining an adequate remedy«); Burrows in Birks (Hrsg.), English Private Law, Bd. 2, S. 813 (»judicial remedies«). 107 S. nur Treitel Fn. 98, S. 926: »A breach of contract is a civil wrong.« 108 Im einzelnen S. 331ff.
III. Folgerungen für das Leistungsstörungsrecht
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dard ist. Was die übrigen Vertragstypen angeht, tritt das Erfordernis der Zurechenbarkeit jedoch nur selten zum Vorschein. Der Grund dafür ist, daß der Zurechnungsakt keine positive Voraussetzung der Gewährung von Schadensersatz ist. Es ist vielmehr so, daß bestimmte Gründe, die die Zurechnung ausschließen, vom Schuldner ausnahmsweise zu seiner Verteidigung vorgebracht werden können.109 c) Der Schadensersatz wegen Vertragsverletzung: Ein Zwischenergebnis Der Anspruch auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung ist ein materiellrechtliches subjektives Recht vertraglicher Natur, das von dem Anspruch auf die Leistung zu unterscheiden ist. Dies ist begrifflich bereits dadurch vorgegeben, daß der Schadensersatzanspruch auf wertmäßigen Ausgleich gerichtet ist. Der Anspruch folgt nicht unmittelbar aus der Bindung an den Vertrag. Er entsteht, wenn und weil das Recht, die Leistung zu verlangen, zurechenbar verletzt worden ist. Ein im weitesten Sinne vorwerfbares Fehlverhalten ist somit der Grund dafür, den Schuldner zu verpflichten, den Zustand herzustellen, der wertmäßig bestünde, wenn geleistet worden wäre. Daher ist der Schadensersatz bezogen auf den Anspruch auf die Leistung ein Sekundäranspruch. Obwohl sowohl Primärals auch Sekundäranspruch im deutschen Recht grundlegend anders ausgestaltet sind als im common law, liegen beiden Rechtsordnungen vom Standpunkt einer vorpositiven Systematik aus dieselben Prinzipien zugrunde. In diesem Erkenntnisgewinn zeigt sich die Leistungskraft theoretischer Erkenntnis nicht nur für die Dogmatik sondern gerade auch für die Rechtsvergleichung.
3. Lösung vom Vertrag wegen Vertragsverletzung Der Primär- und der Sekundäranspruch sind auf Befriedigung des Gläubigerinteresses an der Leistung gerichtet: der Primäranspruch durch Verwirklichung der Bindung an den Vertrag und dem daraus resultierenden Leistungszwang, der Sekundäranspruch durch Aufhebung des Zustands, der in der Verletzung des Primäranspruchs seine Ursache hat. Beide Rechte dienen damit der Verwirklichung des Vertragsgegenstands. Das nunmehr abschließend zu erörternde »Recht« des Gläubigers ist dieser Zielrichtung entgegengesetzt. Dem Gläubiger wird aufgrund einer Vertragsverletzung gestattet, sich von dem Vertrag loszusagen. Dieses Recht beseitigt also zumindest teilweise die Bindung an den Vertrag und bringt die Leistungspflichten zum Erlöschen. An dieser Stelle sollen wiederum 109 Um ein Beispiel zu geben: Es macht in der Sache keinen Unterschied, ob die Schließung des Suez-Kanals auf den Einwand von frustration hin beachtlich wird, oder von vornherein bei der Zurechnung der Vertragsverletzung im Rahmen des Verschuldens berücksichtigt wird. S. den Fall The Eugenia [1964] 2 Q.B. 226, wo der Einwand aber scheiterte, weil der Schuldner das betreffende Risiko vertraglich übernommen hatte.
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nur einige wesentliche Eigenschaften dieses Rechtsinstituts genannt und ein Ausblick auf seine Fundierung gegeben werden, soweit diese sich aus den vorpositiven Grundlagen ergibt.110 Zweck des Rücktrittsrechts ist es, dem Gläubiger bei Gefährdung seines Leistungsinteresses zu gestatten, von der Pflicht die Gegenleistung zu erbringen, freizukommen. Damit wird der Gegenseitigkeit von Leistung und Gegenleistung Rechnung getragen.111 Wenn ein Vertrag verletzt wird, ein Schuldner also nicht vollständig leistet, so enthält, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, weder der Erfüllungszwang noch der Anspruch auf Schadensersatz eine »Garantie« dafür, daß das Leistungsinteresse des Gläubigers vollständig geschützt wird: Selbst wenn der Leistungszwang praktisch durchgeführt werden kann und selbst wenn das Ausbleiben der Leistung dem Schuldner zugerechnet werden kann, so besteht immer noch die Gefahr, daß der Leistungszwang zu spät greift und der Schadensersatz zu einer Unterkompensation des Gläubigers führt. Unter diesen Umständen erscheint es gerechtfertigt, dem Gläubiger bei Vertragsverletzung zu gestatten, sich vom Vertrag loszusagen und sein Leistungsinteresse anderweitig zu befriedigen: »to walk away from the deal and seek satisfaction elsewhere«112. Das gilt erst recht, wenn wie beim Kündigungsrecht eine langfristige Bindung mit wiederkehrenden Pflichten in Rede steht. Das Recht, sich bei Vertragsverletzung vom Vertrag zu lösen, beruht damit auf dem Eingeständnis, daß der Schutz des subjektiven Rechts aus Vertrag nicht vollkommen ist und es auch nicht sein kann.113 Dies ist im wesentlichen ein »Selbsthilferecht« des Gläubigers.114 Seine Rechtfertigung ist insofern pragmatisch, als sie auf der Erkenntnis beruht, daß der Rechtsschutz durch den Staat unvollkommen ist. Es ist sodann aber eine Folgerung aus den vorpositiven Grundlagen des Vertrages, daß die Loslösung vom Vertrag gestattet wird. Denn wenn die Gerichte einen solchen Rechtsschutz nur eingeschränkt garantieren können, so ist es 110 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung wird in § 13 wieder aufgegriffen. Im deutschen Recht kann der Gläubiger bei einer Vertragsverletzung des Schuldners unter bestimmten Voraussetzungen vom Vertrag zurücktreten oder kündigen; geregelt in §§ 323, 346ff. (Rücktritt) und 314, 543, 569, 626 BGB sowie weiteren Vorschriften. Darüber hinaus kann die Gegenleistung nach § 320 BGB vorläufig zurück gehalten werden. Im Fall der Unmöglichkeit sieht § 326 I BGB das regelmäßige Entfallen der Gegenleistungspflicht vor. Im englischen Recht wird dem Gläubiger zum Teil unter erheblich abweichenden Voraussetzungen ein Gestaltungsrecht eingeräumt (termination, notice). Das CISG kennt ebenfalls ein Gestaltungsrecht des Gläubigers zur Vertragsaufhebung. Das französische Recht dagegen behält die Auflösung der Bindung an den Vertrag grundsätzlich dem Richter vor. 111 Im einzelnen S. 361ff. 112 So die plastische Formulierung von McKendrick in Birks (Hrsg.), English Private Law, Bd. 2, [10.45]. 113 Diese Einsicht in die Wirkungsweise des gerichtlichen Schutzes wurde nicht zuletzt von der »Neuen Institutionen Ökonomie« gefördert; dazu S. 133ff. 114 Es nimmt daher nicht wunder, daß manche Rechtsordnungen nur den Gerichten gestatten, das vertragliche Band zu lösen.
III. Folgerungen für das Leistungsstörungsrecht
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nicht gerechtfertigt, den Gläubiger der Leistung unter allen Umständen seinerseits zur Leistung verpflichtet zu halten. Der Gläubiger wird diesen Schritt zur Vertragsaufhebung ergreifen, wenn er sein Leistungsinteresse gefährdet sieht. Dann sollte ihm das Recht nicht aufbürden, sehenden Auges das Risiko durch Erbringen der eigenen Leistung oder durch Belassen der eigenen Leistung beim Schuldner noch weiter zu vergrößern. Sind bereits Leistungen ausgetauscht, so sind diese, soweit dies durchführbar ist, zurück zu erstatten. Diese Rückabwicklung ist jedoch bereits an der Grenze des Vertragsrechts angesiedelt und unterliegt, was den Inhalt dieser Restitutionsansprüche angeht, nicht mehr den Prinzipien des Vertragsrechts, sondern denen der ungerechtfertigten Bereicherung im weitesten Sinn.
§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen Untersucht man Primäransprüche rechtsvergleichend, fällt als erstes auf, daß hier eine scheinbar gewaltige Kluft zwischen dem Recht auf dem Kontinent und dem common law besteht.1 Aufgrund der Dominanz des Denkens in forms of action haben sich im common law erst spät allgemeine Regeln vertraglicher und deliktischer Haftung herausgebildet.2 Die Entwicklung einer klaren Dogmatik der Primäransprüche wurde durch die unselige Trennung von law und equity zusätzlich erschwert. Der Unterschiede sind in der Praxis, wie schon Rabel bemerkte,3 letztlich nicht so groß, wie es zunächst scheint.4 Eine ganze Reihe anglo-amerikanischer Juristen baut gegenwärtig an dieser Brücke zum civil law und fordert eine stärkere Ausrichtung auf das »performance interest« und eine liberalere Anwendung der Regeln des Leistungszwangs.5 Die Konvergenz der Systeme kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Grundregeln von civil law und common law antagonistisch gegenüber stehen:6 Das eine System sieht den Primäranspruch auf der Ebene des materiellen Rechts als selbstverständliche Regel, das andere als begründungsbedürftige Ausnahme an. Welches nun der überzeugendere Ansatz ist, läßt sich nur mit Hilfe der Vertragstheorie klären. In diesem Kapitel werden daher die überpositiven Grundlagen des Primäranspruchs näher erläutert und im nächsten Kapitel auf die Dogmatik des Primäranspruchs angewendet. Es werden im wesentlichen zwei Thesen für die Primäransprüche ablehnende Sichtweise vorgetragen. Specific performance sei abzulehnen, weil sie einen unangemessenen Eingriff in die Freiheitsrechte des Schuldners bedeutet. Das zweite Argument läuft darauf hinaus, daß Primäransprüche ökonomisch nicht sinnvoll 1 S. etwa Herman ZfRV 2005, 94 und die dort zitierte Aussage des US-Delegierten John Honnold bei den Verhandlungen zum Entwurf der Wiener Kaufrechtskonvention, aaO.S. 104: »Jemand, der im Common law aufgewachsen ist, reibt sich verwundert die Augen, wenn er das Beharren des Zivilrechts auf einem wenig nützlichen Rechtsbehelf (specific performance) sieht, während ein Abkömmling des Civil law von einer Haltung bestürzt sein muß, welche die Unverletzlichkeit der Verpflichtung zu untergraben scheint.« 2 Rheinstein, Die Struktur des Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, S. 138ff., 232ff. und vgl. oben S. 174ff. 3 Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. 1, S. 376. 4 Näher S. 263ff. 5 S. etwa Burrows, Judicial Remedies, in Birks (Hrsg.), English Private Law, Bd. 2, [18.184] (»trend in favour of specific performance«). Näher S. 264f. 6 Vgl. auch Rabel Fn. 3, S. 376 (die Verschiedenheit der Ausgangspunkte bedinge »äußerst weitgehende Verschiedenheit im systematischen Aufbau«).
I. Deontologische und teleologische Argumente
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seien. Dementsprechend ist das Kapitel in einen deontologisch-teleologischen und einen ökonomischen Teil unterteilt.
I. Deontologische und teleologische Argumente Im anglo-amerikanischen Recht ist die These weit verbreitet, daß die Anordnung von Leistungszwang in der Regel unangemessen in die Freiheitsrechte und persönliche Autonomie des Schuldners eingreift.7 Dieser Einwand, daß die staatliche Erzwingung der Erfüllung des Primäranspruchs unangemessen in die Rechte des Schuldners eingreift, kann in einer schwachen und in einer starken Form erhoben werden. In der schwachen Form richtet er sich nicht gegen den Eingriff als solchen, sondern lediglich gegen die Art und Weise, in welches der Leistungszwang durchgeführt wird. In der starken Form wird die Ausübung von Zwang zur Durchsetzung der versprochenen Leistung als grundsätzlich zweifelhaft angesehen. Es wäre aus Sicht des gegenwärtigen deutschen Rechts voreilig, die Einwände pauschal damit abzustreiten, daß der Primäranspruch »das Rückgrat der Obligation«8 ist. Denn auch das deutsche Recht erkennt weitgehende Ausnahmen von der Vollstreckung an (etwa in § 888 III ZPO). Zudem ist in bestimmten Fällen auf der Ebene der Vollstreckung mit den Vorschriften zur Ersatzvornahme eine Umwandlung der Leistungspflicht in eine Geldleistungspflicht vorgesehen, was ebenfalls zumindest begründungsbedürftig ist.9 Es ist hilfreich, für die weitere Untersuchung zwischen dem Einwand in seiner starken und seiner schwachen Form zu trennen. Denn letztlich steht hinter dem Einwand in seiner starken Form eine restriktive Auffassung des Vertrages. In seiner Extremform lautet er: Es ist zwar richtig, daß durch den Vertrag Rechte entstehen und es ist auch richtig, daß der Schuldner eine bestimmte Leistung versprochen hat, jedoch darf der Staat den Schuldner nicht zur Leistung zwingen. Die (scheinbare) Erfüllungsfeindlichkeit des englischen Rechts hat Vertragstheorien Vorschub geleistet, die die Existenz von Verträgen im wesentlichen als bloße Anknüpfungspunkte deliktischer (»gesetzlicher«) Vertrauenshaftung ansehen. Roscoe Pound hat diese Skepsis gegenüber der Fähigkeit des »Willens« sich selbst zu binden auf gewohnt elegante Weise formuliert: »If we explain more and explain it more completely by saying that the ultimate thing in the theory of liability is justifiable reliance under the conditions of civilized society than by saying that it is free will, we shall have done all that we may hope to do by any theory.«10
7
S. nur Treitel, The Law of Contract, S. 1019; Smith, Contract Theory, S. 400ff. Rabel Fn. 3, S. 375. 9 Näher S. 253ff. 10 Pound, An Introduction to the Philosophy of Law, S. 106. 8
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
1. Der grundsätzliche Einwand gegen den Leistungszwang Gut zehn Jahre nach Pounds Vortrag an der Yale Universität wird von einem Professor aus Duke und seinem Studenten die erste umfassende Gegentheorie zu dem durch die Willenstheorie geprägten traditionellen Verständnis der Bindung an den Vertrag formuliert, deren zentrale These lautet: Das Verlangen der Leistung oder auch nur des Substituts der Leistung ist kein legitimes Ansinnen des Gläubigers.11 Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand, Grant Gilmore nämlich, daraus folgerte: Der Vertrag ist tot – darüber zu diskutieren lohne nicht einmal mehr!12 Was ist dem entgegenzusetzen? Beruht die Tradition des civil law auf einem fundamentalen Mißverständnis der Natur des Vertrages? Das Gegenteil ist der Fall. Primäransprüche sind mit einer liberalen Theorie vereinbar. Mehr noch, sie sind eine (grundsätzlich) adäquate Reaktion auf die Nichterfüllung des Vertrages. a) Die Vertrauenstheorie Ist es nicht merkwürdig, wenn das Recht das Leistungsinteresse des Gläubigers durch Anordnung von Leistungszwang oder Schadensersatz für das positive Interesse befriedigt?13 Diese rhetorische Frage, die für das common law erstmals 1936 in aller Radikalität gestellt wird, markiert nach Benson den Beginn des theoretischen Interesses an den Grundlagen des Vertragsrechts im anglo-amerikanischen Rechtskreis:14 Tatsächlich nehmen fast alle späteren Entwürfe darin ihren Ausgangspunkt. Die Frage zu stellen, hieß bei Fuller und Perdue Abschied von Selbstverständlichem zu nehmen. Das Privatrecht sei nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit auf den Ausgleich von tatsächlich eingetretenen Schäden gerichtet. Allein durch die Nichterfüllung des Vertrages erleide der Gläubiger aber keinen Vermögensschaden. Erst wenn er auf den Vertrag vertraut und Vermögensdispositionen trifft, die sein Vermögen im Vergleich zum Zustand ohne Vertrag schmälern, sei ein realer Schaden eingetreten. Aus Gründen ausgleichender Gerechtigkeit (»corrective justice«) sei daher nur der Vertrauensschaden zu ersetzen.15 Für den Schutz des Leistungsinteresses durch Leistungszwang oder Schadensersatz lasse sich letztlich keine prinzipielle Rechtfertigung finden: »[T]he promisee who has actually relied on the promise, even though he may not thereby have enriched the promisor, certainly presents a more pressing case for relief than the 11
Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52 (1936). Gilmore, The Death of Contract, S. 1. 13 Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 56ff. (1936). 14 Benson, The Theory of Contract Law, S. 1; Craswell 67 Univ. Chicago L.Rev. 99 (2000), bezeichnet den Aufsatz als »towering classic«. Die Unterscheidung zwischen reliance interest and expectation interest, für die der Aufsatz heutzutage hauptsächlich zitiert wird, ist von Jherings Unterschiedung von positivem und negativem Interesse in JherJb. 4 (1861), 1, 16, mitbeeinflußt, der auch als Quelle (»pioneering article«) angeführt wird, Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 85. 15 Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 85 (1936). 12
I. Deontologische und teleologische Argumente
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promisee who merely demands satisfaction for his disappointment in not getting what was promised him. In passing from compensation for change of position to compensation for loss of expectancy we pass, to use Aristotle’s terms again, from the realm of corrective justice to that of distributive justice. The law no longer seeks merely to heal a disturbed status quo, but to bring into being a new situation. It ceases to act defensively or restoratively, and assumes a more active role.«16
Die Tatsache, daß das common law zumindest das positive Interesse als regelmäßig ersatzfähig ansieht, führten sie auf die Überlegung zurück, daß das positive Interesse im Großteil der Fälle eine brauchbare Annäherung an das negative Interesse darstelle. Weil das positive Interesse von den Gerichten erheblich leichter zu bestimmen sei als das negative Interesse, »erkläre« sich die Praxis der Gerichte, grundsätzlich das positive Interesse zuzusprechen, damit durch ein bloß pragmatisches Vorgehen.17 Aus heutiger deutscher Sicht mag uns diese Fundierung des Vertrages im Vertrauensprinzip fremd erscheinen.18 Doch ist daran zu erinnern, daß nicht nur die Willenstheorie Savignys und Windscheids das anglo-amerikanische Recht in seiner Blütezeit geprägt hat,19 nein, auch Fuller entwickelt seine Gegenthesen auf der Basis der Theorien von Autoren wie Siegmund Schlossmann20 und Jhering.21 Der Gedanke des Schutzes von Vertrauen ist im 19. Jahrhundert durchaus auch in der deutschsprachigen Literatur verbreitet, freilich nur vereinzelt als Grundlage des Vertrages.22 In Franz Hofmann findet sich ein früher Vorläufer dieser auf den Vertrauensschutz abstellenden Vertragstheorie: »Der ethische Grund des Vertragsrechts nun ist die f i d e s . Es ist unsittlich, das berechtigte, von uns selbst absichtlich hervorgerufene Vertrauen eines Anderen zu täuschen (...): n i c h t m e i n Wo r t verbindet mich, wenn dadurch niemand zu einem Vertrauen bestimmt wurde (...).«23
16
Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 55 (1936). Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 373ff. (1936); ähnlich Cooter/Eisenberg 73 Cal. L.Rev. 1432, 1476 (1985). 18 Hinsichtlich der außer-vertraglichen Haftung ist die Vertrauenshaftung dagegen im deutschen Recht anerkannt, s. Canaris in Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, S. 129. 19 Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract, S. 683 (»It is to them that we owe much of the still living tendency to formulate rules and doctrines in terms of the will theory.« Er bezieht sich dabei auf Polock und Anson, die bei Pothier und Savigny »beträchtliche Anleihen« gemacht haben); Reimann, Historische Schule und Common Law, S. 139f., zeichnet nach, wie die »Will Theory« Savignys zur (zunächst) herrschenden Doktrin des common law wurde. 20 Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 56ff. (1936). 21 Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 85 (1936), für den Ersatz des Vertrauensschadens stützen sie sich auf Jherings Theorie der Haftung für culpa in contrahendo in JherJb. 4 (1861), 1ff. 22 Überblick bei Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 229ff. 23 Hofmann, Entstehungsgründe der Obligationen, S. 66. Auf S. 103ff. diskutiert Hofmann frühere Vertreter (Ferguson, Garve) der »Vertrauenstheorie«. 17
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
Die verwandte Läsionstheorie besagt in der Darstellung Hofmanns: Die Nichtleistung führt, nur weil und insofern sie eine Läsion im Sinne einer Vermögensbeschädigung ist, zur Haftung des Schuldners. Und nur eine Vermögensdisposition im Vertrauen auf den Vertrag, kann zu einem Schaden führen – darin ist Hofmann wie Fuller konsequent.24 Nach der Läsionstheorie ist Grundlage der Ansprüche wegen Nichterfüllung, einschließlich des Anspruchs auf Erfüllung,25 das Prinzip, daß jemand, der einen anderen verletzt, zur Wiederausgleichung des Schadens verpflichtet ist. Es ist von da nur noch ein kleiner, wenn auch kein zwingender Schritt, vertragliche Ansprüche generell auf die Fälle zu beschränken, in denen der Gläubiger seine Position im (berechtigten) Vertrauen auf den Vertrag verändert oder ein sonstiger vom Willen der Parteien unabhängiger Grund der Haftung besteht. Wenn also nach der Willenstheorie der Schuldner haftete, weil er sich selbst gebunden hatte, so sieht die Vertrauenstheorie seine Haftung darin begründet, daß der Schuldner eine Erwartung hervorgerufen hat, und den Verlust, den andere im berechtigten Vertrauen darauf erleiden, nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit zu ersetzen habe. b) Der Vertrag als Anerkenntnis außer-vertraglicher Schuld Viele hielten den Trend weg von der Willenstheorie für richtig. Pound und Gilmore wurden schon genannt. Aus neuerer Zeit ist es vor allem der Name Atiyahs, dessen skeptische Haltung gegenüber dem Leistungsinteresse insbesondere und Verträgen als Quelle von Pflichten generell (zeitweilig) großen Einfluß gewann. In seiner beeindruckenden historischen Gesamtschau der Rechtsentwicklung in England sieht er nach den Lehren des ökonomischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts die Zeit in den ausklingenden siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts reif für eine »neue Vertragstheorie«, die das Vertragsrecht den angrenzenden Bereichen des Schuldrechts annähert:26 »Niemand«, sagt er, leite die Bindung an den Vertrag noch von einer stillschweigend vorausgesetzten Regel ab, daß Verträge zu halten seien.27 Nach seiner Ansicht ist die Bindung an den Vertrag nichts anderes als eine bloß beweisrechtliche Technik, eine Haftung, die aus außer-vertraglichen Gründen besteht, justitiabel zu machen. Verträge seien lediglich Zugeständnisse einer Haftung, die bereits vorher besteht.28 Alle Verträge seien in Wahrheit bloße Schuldanerkenntnisse.29 24 Hofmann Fn. 23, S. 105f., 109 (im übrigen grenzt er sich von der »verwandten Läsionstheorie« jedoch ab). 25 Schlossmann, Der Vertrag, § 39. 26 Atiyah Fn. 19, S. 778 27 Atiyah Fn. 19, S. 731. 28 Atiyah, Promises, Morals, and Law, S. 184ff. (»promises as admissions«). 29 Atiyah Fn. 28, S. 185.
I. Deontologische und teleologische Argumente
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Die beweisrechtliche Einkleidung seines Argumentes soll, ähnlich wie der Hinweis auf die schwierige Bestimmbarkeit des negativen Interesses bei Fuller, erklären, warum die Gerichte in der Praxis aus Verträgen überhaupt eine Haftung des Schuldners ableiten. Der Gedanke Fullers, daß das Vertragsrecht in Wahrheit einen anderen Zweck erfüllt, als es den Anschein hat, wird hier konsequent auf die Spitze getrieben. Denn wenn die Haftung das Ziel hat, hervorgerufenes Vertrauen zu schützen, so ist der Vertrag nur noch das äußere Anzeichen, der Anlaß des Vertrauens als »Rechtsscheintatbestand«. Grund der Haftung ist daher stets das Gesetz und nicht der Wille der Parteien.30 Anders als Fuller entkoppelt Atiyah den Vertrag vollständig von seinem bindenden Charakter und erweitert gleichzeitig die Gründe gesetzlicher Haftung, die bei »Versprechen« eine Rolle spielen, über das Vertrauensinteresse hinaus. c) Der Schutz »der Praxis« des Vertrages und das »harm principle« Auch Joseph Raz steht dem Leistungszwang ablehnend gegenüber. Nach der von ihm begründeten Theorie des perfektionistischen Liberalismus ist für die Ausübung staatlichen Zwangs entscheidend, welche Werte in der Gesellschaft damit geschützt werden.31 Dabei geht es nicht so sehr um den punktuellen Eingriff des Staates, sondern um die Schaffung von Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich »wertvolle« Praktiken herausbilden können.32 Persönliche Autonomie ist einer der zentralen Werte, die der Staat anerkennen muß.33 Verträge sind daher ebenfalls eine zu schützende Praxis in der Gesellschaft.34 Die Ablehnung des Leistungszwanges durch Raz ist daher zumindest nicht selbstverständlich und in einem anderen vom perfektionistischen Liberalismus anerkannten Prinzip, dem »harm principle«, begründet.35 Nach diesem Prinzip ist der paternalistische Eingriff grundsätzlich ausgeschlossen.36 Nur die Vertrauenstheorie sei mit diesem liberalen Staatsverständnis vereinbar. Raz stellt fest: 30 Atiyah Fn. 28, S. 185. Austauschverträge seien letztlich nur eine Sammlung von Aussagen tatsächlicher Art, daß die eine Partei eine bestimmte Leistung erbringen wird, wenn die andere eine bestimmte andere Leistung erbringt, aaO.S. 191. 31 Raz, The Morality of Freedom, S. 395ff., 411ff., 420ff. (»value pluralism«). 32 Raz Fn. 31, S. 425. 33 Raz Fn. 31, S. 395, 407ff. 34 Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 936ff. 35 Begründet wurde es von Mill, On Liberty, S. 1ff. (»the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others«). Nach diesem Axiom angelsächsischer liberaler Tradition liegt die Legitimation der Ausübung von Zwang durch den Staat gegen seine Bürger darin, daß durch den Zwang Schaden von anderen abgewendet wird. Die Abwendung von Schäden Dritter ist, darin liegt die spezifisch liberale Bedeutung des Axioms, die einzige Rechtfertigung des Staates. Insbesondere darf die moralische Vollkommenheit oder Glückseligkeit des Normunterworfenen selbst nicht der Grund der Gewalt sein. 36 Raz Fn. 31, S. 412ff., selbst modifiziert das harm principle, so daß »perfektionistische« Eingriffe des Staates durchaus zulässig sind.
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
»It follows from the harm principle that enforcing voluntary obligations is not in itself a proper goal for contract law.«37
Die Argumentation erschließt sich erst, wenn man sich auf die teleologische Perspektive einläßt. Betrachtet man Verträge von einem teleologischen Standpunkt aus, so ist die Praxis der Verträge schützenswert. Personen sollen Versprechen abgeben können und dies auch tatsächlich tun. Das Recht darf aber dabei nicht weiter gehen, als die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen dies möglich ist. Aus dem harm principle folgt zunächst, daß Schäden auszugleichen sind, wenn Versprechen gebrochen werden. Der Schutz der Praxis verlangt daher den Ausgleich der Schäden, aber eben nach Raz auch nicht mehr. Dabei sei nur der Schaden zu ersetzen, der auf dem enttäuschten Vertrauen beruht. Ein weitergehender Zwang würde die persönliche Autonomie des Versprechenden verletzen. Er mag moralisch zum Einhalten des Versprechens verpflichtet sein, der Staat dürfe sich jedoch aufgrund des harm principles darauf nicht stützen. Weil es daher für den Schutz der Praxis ausreichend ist, den Eintritt des Vertrauensschadens zu ersetzen, ist der Leistungszwang abzulehnen.38 Auch aus Sicht dieser teleologischen Theorie des Vertrages sind somit das Leistungsinteresse und insbesondere der Leistungszwang kein notwendiges Element des Vertragsrechts, sondern Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen, die nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden können.39 d) Fazit Wenn die ausschließliche Aufgabe des Rechts in der Wiederherstellung eines gestörten status quo gesehen wird, wenn dem Willen der Parteien als solchem jegliche Kraft abgesprochen wird, Bindung zu erzeugen, so ist das Leistungsinteresse des Gläubigers in der Tat suspekt. Denn da sich die Vermögenslage des Gläubigers allein aufgrund der Nichterfüllung nicht verschlechtert und die Nichterfüllung als solche keinen gesetzlichen Haftungsgrund verwirklicht, bleibt nach dieser Auffassung für die Bindung an das Versprechen allenfalls eine Tugendpflicht übrig, das zu tun, was man verspricht. Dies sollte aber nicht rechtlich sanktioniert werden. Das Leistungsinteresse zu schützen, kann dann nicht aus dem Vertrag selbst heraus, sondern nur instrumentell zu rechtfertigen sein, etwa im Hinblick 37
Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 937. Raz 95 Harv. L.Rev. 916, 937 (der Leistungszwang nur für den Fall anerkennt, daß dies der einzige Weg ist, einen Vertrauensschaden zu vermeiden). 39 Ähnlich argumentiert Kimel, From Promise to Contract, S. 104ff., ein Schüler von Raz: Aus dem harm principle folge, daß staatlicher Schutz nur dann eingreifen könne, wenn mehr als nur ein Fehlverhalten vorliegt, es muß ein Schaden eingetreten sein. Aus diesem Grund sei specific performance nur zu gewähren, wenn der Schadensersatz den Gläubiger unterkompensiere, da Schadensersatz das mildere Mittel sei. Allerdings gesteht Kimel zu, daß das positive Interesse ersetzt werden sollte, aaO.S. 106ff. 38
I. Deontologische und teleologische Argumente
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auf den Schutz des Vertrauens (Fuller/Atiyah/Raz) oder den Ausgleich einer Bereicherung (Atiyah). Primäransprüche sind bei dieser Betrachtung kaum zu rechtfertigen. Vielmehr ist der Leistungszwang von diesem vertragsskeptischen Standpunkt ein ungerechtfertigter Eingriff in die Freiheitssphäre des Schuldners.
2. Die Widerlegung des Einwands Je schwächer die Bindung an den Vertrag ausgestaltet ist, desto schwieriger fällt die Begründung des Anspruchs auf das positive Interesse und desto ungeheuerlicher erscheint die Vorstellung, den Schuldner zur Leistung zu bestimmen. Umgekehrt zeigt sich im Schutz des Leistungsinteresses gerade die Stärke der vertraglichen Bindung. Am äußersten negativen Ende der Skala ist Atiyah, der dem Vertrag gar keine verpflichtende Wirkung mehr zuschreibt. Eine Verpflichtung zwar schwacher aber immerhin vertraglicher Natur nehmen die Vertreter der Vertrauenstheorie an, aber diese reicht schwerlich aus, um den Leistungszwang zu begründen. Wenn kein Schaden durch das getäuschte Vertrauen entstanden ist, so läßt sich ein Eingriff in das angeborene Freiheitsrecht des Schuldners, von der nötigenden Willkür anderer unabhängig zu sein, nicht rechtfertigen. Ein solcher Zwang wäre, wenn die Prämisse zuträfe, auch nach dem allgemeinen Rechtsgesetz Kants nicht zu begründen. Die Widerlegung des starken Einwands erfolgt in zwei Schritten, wobei die Leugnung des Rechts aus Vertrag im ersten und die Vertrauenstheorie im zweiten Schritt behandelt wird. a) Die Bindung an das vertragliche Versprechen Für die nunmehr zu erhebenden Einwände gegen die Prämisse der schwachen Bindung an den Vertrag ist das Fundament bereits im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gelegt worden.40 Nicht nur konstruktiv dogmatisch erscheint Atiyahs Lehre nicht haltbar. Indem sie dem Vertrag jede eigenständige Legitimation abspricht, bedeutet sie einen geradezu bedenklichen Kahlschlag der erworbenen subjektiven Rechte. Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation ist das Postulat des Privatrechts aus Kants Metaphysik der Sitten.41 Das Postulat besagt, daß ein nicht-empirischer Besitz von Gegenständen der Willkür möglich ist. Von diesem Standpunkt aus sind Eigentumsrechte und Vertragsrechte gleich.42 Die vertragliche Forderung verkörpert den Besitz der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken. Mit Vertragsschluß gehört das Versprechen der Leistung dem Gläubiger, dieser kann die Leistung vom Schuldner verlangen.43 40
In § 2 und § 3 oben. S. 33ff. 42 In diesem Sinne auch L. Smith in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 221. 43 S. auch Fried, From Promise to Contract, S. 19 (»There is reliance because the promise is 41
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
Nach dem Postulat des Privatrechts ist es daher auf der ersten normativen Ebene möglich, Rechte durch Vertrag, also durch übereinstimmenden Willen der Parteien, zu begründen. Andernfalls würde sich der Wille der Herrschaft über äußere Gegenstände der Willkür berauben, ohne daß dies vom allgemeinen Rechtsgesetz verlangt würde. Denn auch Personen sind Teil der äußeren Welt und insofern denkbarer Gegenstand des intelligiblen Besitzes, ohne daß dies einen Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst bedeutete.44 Der Gläubiger darf Besitz von äußeren Gegenständen der Willkür ergreifen, es sei denn, dies würde die Rechte anderer verletzen. Daraus folgt für die Herrschaft über einen Ausschnitt einer Person, daß, da deren angeborenes Freiheitsrecht betroffen ist, diese ihre Einwilligung erteilen muß, um zum Schuldner zu werden. Ein persönliches Recht entsteht nur, wenn der gemeinsame Wille der Parteien darauf gerichtet ist.45 Es ist daher a priori nur und ausschließlich der vereinigte Willen der Parteien, der das Recht entstehen läßt und seinen Inhalt bestimmt. Das ist die Kernaussage der Willenstheorie Savignys46 und nicht das zu enge heutige Verständnis.47 Sie ist auch an dieser Weggabelung erneut als richtungsweisend zu verteidigen. Aus ihr folgt, daß ein subjektives Recht auf die Leistung möglich ist. Wie es bei Windscheid heißt: »[D]er Gläubiger [hat] kraft des Forderungsrechts ein an den Schuldner gerichtetes rechtliches Gebot, dahin gehend, daß dieser ihm eine gewisse Leistung mache«.48
Somit ist jedenfalls die »death of contract« Schule widerlegt, die die Möglichkeit solcher Rechte abstreitet. b) Rechtfertigung des Leistungszwangs Die Theorien, die ein Recht auf die Leistung aus Vertrag für begründbar halten, das Leistungsrecht aber auf den Ausgleich des Vertrauensschadens beschränken, binding, and not the other way round.«; aaO.S. 20f.: »If we decline to take seriously the assumption of an obligation because we do not take seriously the promisor’s prior conception of the good that led him to assume it, to that extent we do not take him seriously as a person.«) 44 Kant, MS, AA VI, S. 246, 259, 271. 45 Kant, MS, AA VI, S. 273. 46 Savigny, System Bd. III, § 140, S. 309: »Vertrag ist die Vereinigung mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung wodurch ihre Rechtsverhältnisse bestimmt werden.«; Willenserklärungen sind freie Handlungen von Personen, die auf die Entstehung oder Auflösung von Rechtsverhältnissen (den Erwerb von Rechten) gerichtet sind, aaO. § 104, S. 1ff. 47 Es ist üblich geworden, die »Willenstheorie« auf die Frage zu reduzieren, ob die Übereinstimmung des inneren Willens für die Wirksamkeit des Vertrages entscheidend ist, oder der erklärte Wille (»Erklärungstheorie«), s. etwa Köhler, BGB Allgemeiner Teil, § 7 Rn. 1. Dies ist nur ein, und nicht der überzeugendste Aspekt der Savignyschen Vertragstheorie. Im übrigen teilte die Erklärungstheorie die Prämisse der Willenstheorie, daß die Bindung an den Vertrag aus dem Willen der Parteien folge, sie ermittelte ihn lediglich anders, s. näher Flume, Das Rechtsgeschäft, S. 54ff. 48 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 2 , § 262, S. 50.
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können erst in einem zweiten Schritt zu Fall gebracht werden. Wiederum erweist sich die Unterscheidung von subjektivem Recht und staatlicher Reaktion auf die Nichterfüllung als fruchtbar. Dieser zweite Schritt besteht in dem ebenfalls durch eine Überlegung a priori geforderten Übergang vom Naturzustand in den Zustand einer bürgerlichen Verfassung (Postulat des öffentlichen Rechts).49 Das subjektive Recht auf die Leistung ist ein Zwangsrecht. Wenn mögliche (erste Ebene) subjektive Rechte tatsächlich begründet werden (zweite Ebene), so sind diese auf der Ebene des Schutzes der Rechte mit staatlichem Zwang durchzusetzen. Die dritte Ebene kann das Recht aber weder schmälern noch erweitern, sondern einzig und allein sichern. Es kann, wenn es also um den staatlichen Zwang geht, die Basis des Rechts und sein Inhalt nicht ausgetauscht werden. Es ist aus diesem Grund nicht erforderlich,50 daß ein über das Ausbleiben der Leistung hinausgehendes Moment der Störung oder gar Schädigung hinzukommen muß, damit der Schutz des Rechts gerechtfertigt werden kann. Wenn man von der ausgleichenden Gerechtigkeit ausgeht,51 so kommt es immer nur darauf an, worin man die Störung des Gleichgewichts zwischen den Parteien sieht. Begründet man ein Recht auf die Leistung, das in dem Moment des Vertragschlusses »Eigentum« des Gläubigers wird, so ist die Vorenthaltung der Leistung einem Diebstahl durchaus ähnlich.52 Zweck des Staates ist, das subjektive Recht des Gläubigers zu schützen. Dies ist die Meßlatte, an der Primär- und Sekundäransprüche gemessen werden können. Jedes Weniger an Schutz bedarf der Rechtfertigung. Die Vertrauenstheorie versagt als deskriptive Theorie zudem in den Fällen, in denen auch das common law den Leistungszwang regelmäßig anordnet, nämlich, wenn es um die Durchsetzung einer Geldschuld geht.53 Diese Art staatlicher Zwangsausübung kann nur vor dem Hintergrund des Leistungsinteresses des Gläubigers und damit dem subjektiven Recht auf die Leistung erklärt und gerechtfertigt werden. Nach der Vertrauenstheorie wäre darüber hinaus nicht unmittelbar einleuchtend, warum das Recht dem Gläubiger ein Selbsthilferecht auf Befriedigung seiner Forderung zuspricht. Ein Beispiel dafür ist die Aufrechnung, denn sie verschafft dem Gläubiger unmittelbar Befriedigung. Erneut ist die Rechtfertigung dieser Institute des Privatrechts sofort einsichtig, wenn man vom subjektiven Recht auf die Leistung ausgeht, das durch den Vertrag begründet wird.
49 50
Kant, MS, AA VI, S. 307. Dazu S. 162ff. Wie von der Läsionstheorie und den Autoren, die sich auf das harm principle stützen, gefor-
dert. 51
S. 80ff. Smith Fn. 42, S. 230. So auch Craswell 67 Univ. Chicago L.R. 99, 122 (2000), der freilich selbst eine utilitaristische Theorie vertritt, die die Bindung an den Vertrag nur anerkennt, wenn dies ökonomisch sinnvoll ist. Näher dazu im zweiten Teil des Kapitels. 53 S. 179ff. 52
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Auch die These Raz’, daß der Schutz der Praxis des Vertrages das Leistungsinteresse ignorieren könnte, steht im Widerspruch zu seiner eigenen Analyse der Pflicht, einen Vertrag zu erfüllen:54 Völlig zutreffend weist er darauf hin, daß die dem Versprechen entwachsende Pflicht zu einem »unbedingten Gehorsam« verbindet. Wer dies anders sehe, »verstehe« schlicht nicht, was ein Vertrag sei. Nimmt man diese Aussagen ernst, so erscheint es wenig konsequent, den Schutz der Praxis des Vertrages durch den Ausgleich des negativen Interesses erzielen zu wollen. Wenn die Praxis gerade darin besteht, unbedingte Leistungspflichten zu schaffen, so ist bereits durch die Nichtbefolgung der Pflicht eine Läsion eingetreten. Zudem bleibt selbst bei dieser instrumentellen Sichtweise des Vertrages unklar, warum sich jemand dieser Handlungsform bedienen sollte, wo der Staat genau jenen Aspekt des Vertrages nicht durchsetzt, der sein Wesen ausmacht. Die Läsionstheorie sowie die Vertrauenstheorie scheitern an dieser Hürde des Schutzes subjektiver Rechte. Sie wandeln den Anspruch auf die Leistung unter der Hand um in einen Anspruch, durch den Vertrag nicht zu vermögensschädigenden Dispositionen veranlaßt zu werden. Dieses subjektive Recht ist von dem Recht, den Schuldner zur Leistung zu bestimmen, um dessen Schutz es doch auf der dritten Ebene zunächst gehen muß, grundverschieden. Es mag sein, daß es ein solches Recht auf nicht-vertraglicher Grundlage geben mag, den Besitz der Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken, kann es nicht erfassen. Die Gewährung der Rechtsmacht, einen Vertrag abzuschließen, geschieht daher bei der Läsions- und Vertrauenstheorie nur vordergründig. In Wahrheit wird das Recht auf die Leistung der Bedeutungslosigkeit preisgegeben, da ihm der Schutz entzogen wird. Das Wesen des Leistungsstörungsrechts wurde im vorherigen Kapitel in den Leistungspflichten gesehen und deswegen die Schutzpflichten aus der weiteren Untersuchung ausgeschlossen. Auch auf dem Umweg über die Vertrauenstheorie sind die Schutzpflichten nicht auf vertraglicher Grundlage erklärbar. Der Leistungszwang ist eine Ableitung aus dem Postulat des Privatrechts in Verbindung mit dem Postulat des öffentlichen Rechts. Hierin stimmt Mills harm principle mit der kantischen Philosophie vollkommen überein. Gegen den Willen einer Person darf der Staat keinerlei Gewalt ausüben, es sei denn, damit wird der Eintritt eines Schadens anderer verhindert. Hält man ein Recht auf die Leistung aus Vertrag für durch den Willen der Parteien begründbar,55 so ist dies ein subjektives Recht, das durch Vorenthaltung der Leistung (im weitesten Sinn) verletzt wird. Darin ist ohne weiteres ein »Schaden« (»harm«) Dritter zu sehen, der den staatlichen Zwang grundsätzlich rechtfertigt.
54 55
Dazu S. 116ff. Wie dies auch Mill annimmt, S. 113ff.
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3. Das rechte Maß des Leistungszwangs Ist der Leistungszwang grundsätzlich geboten, so muß das Rechtssystem die Aufgabe bewältigen, wie der Schuldner zur Leistung zu bestimmen ist. Wenn jemand eine vertragliche Verbindlichkeit nicht erfüllt, so erscheint uns heutzutage eine strafrechtliche Sanktion, die lediglich an das Ausbleiben der Leistung anknüpft, nicht als angemessen.56 Darüber hinaus läßt es die ZPO nicht zu, daß der Schuldner durch der Vollstreckung völlig mittellos wird und damit auf staatliche Fürsorge angewiesen ist.57 Zudem werden bestimmte Tätigkeiten und Bedürfnisse des Schuldners generell unter Schutz gestellt, so daß der Gläubiger deren Sachsubstrat nicht entziehen darf, und schließlich für bestimmte Bereiche die Zwangsvollstreckung ganz ausgeschlossen.58 All dies illustriert, daß der Leistungszwang vielfältigen Beschränkungen unterliegt. Der Grund dafür liegt darin, daß staatlicher Zwang nach allgemeinen Prinzipien des öffentlichen Rechts nicht ohne Ansehen des Grades des Unrechts sowie der Praktikabilität erfolgen darf. Der Zwang muß erstens geeignet und erforderlich sein, den Schuldner zur Leistung zu bestimmen und er muß zweitens eine angemessene Reaktion auf das dem Gläubiger widerfahrene und vom Schuldner ausgehende Unrecht sein.59 Die Moderation des Zwangs ist eine Forderung der Vernunft. Daß die staatliche Sanktion das rechte Maß nicht überschreiten darf, ist auch für Kant eine Selbstverständlichkeit, die er allerdings nur für das Strafrecht näher ausführt.60 Diese Einschränkungen der staatlichen Gewaltausübung gelten erst recht für das geringere Übel der bloßen Vertragsverletzung. Es ist nach diesen Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit des Zwangs auch klar, daß seine Rechtfertigung nicht ausschließlich deontologischen Prinzipien folgt, sondern im Einzelnen pragmatische, also konsequentialistische Argumente eine erheblich Rolle spielen werden. Sinn des Leistungszwangs ist es, die Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken, durch Ausüben von Zwang herbeizuführen. Ob die gewünschte Wirkung durch den Zwang eintritt, ist eine Frage des Eintritts oder Nichteintritts bestimmter Kausalverläufe in der Welt der Erfahrung. Insbesondere für die Frage der Geeignetheit des Leistungszwangs sind Folgen-
56
Dies war nicht immer so, s. Text bei Fn. 62, unten. Näher S. 253ff. 58 S. §§ 811, 888 III ZPO. 59 Es ist dies nicht der Ort, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit herzuleiten oder im einzelnen zu untersuchen. Es genügt die Feststellung, daß die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Ausübung staatlicher Gewalt sich unmittelbar aus der Bindung der staatlichen Organe an die Grundrechte und dem Rechtsstaatsprinzip ergibt. S. etwa BVerfG NJW 1999, 1577; NJW 1995, 3048; NJW 1982, 1379. S. zu seiner Geltung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, Pache NVwZ 1999, 1033. 60 Kant, MS, AA VI, S. 331ff. Die einzelnen Aspekte seiner kontroversen Ausführungen zum Zweck der Strafe und zu dem richtigen Maß des staatlichen Einschreitens sind hier nicht von Belang. 57
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
überlegungen allein maßgeblich. Um Beispiele zu geben:61 Ob es möglich ist, eine Betriebspflicht für ein Ladengeschäft mit Zwang durchzusetzen, ist nicht a priori meßbar. Genauso wenig ist es a priori möglich, zu entscheiden, ob eine Gattungsschuld durch Leistungszwang durchgesetzt werden kann, oder ob das späte Endurteil nicht doch an der Realität des Marktes vorbei geht. Es ist daher in der Tat ein Fortschritt zu einem »zivileren« Zustand des Staates, daß man heutzutage nicht mehr wie im Mittelalter jeden Vertragsbruch als Verbrechen ansieht und ihn bestraft, sondern weit mildere Formen des Zwanges eintreten läßt und im übrigen, soweit dieser Schutz Lücken aufweist, auf das Schuldprinzip der Römer zurückgreift und eine bloß wertmäßige Entschädigung anordnet.62 In der Fortgeltung der Regeln des contempt of court im englischen Recht finden sich dagegen Reste eines noch um die tatsächliche Geltung und Anerkennung ringenden Gerichtssystems. Sie sind aus heutiger Sicht fragwürdig geworden. Immerhin wird aber der Grad der Vorwerfbarkeit der Nichtbefolgung der gerichtlichen Anordnung bei Erlaß dieser quasi-strafrechtlichen Sanktionen (Geldstrafe und Gefängnis) berücksichtigt – sicherlich das Mindeste, was man für solch drastischen Eingriffe in die Rechte des Schuldners verlangen kann.63 Eine Darstellung des Leistungszwangs im einzelnen ist dem nächsten Kapitel vorbehalten. Das vielleicht wenig überraschende Ergebnis sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen: Die Unterschiede zwischen common law und civil law liegen nicht so sehr, aber auch, in der Ausgestaltung des Zwanges im einzelnen, sondern vor allem darin, wem die Entscheidung über die Ausübung von Leistungszwang zugewiesen wird: nämlich dem Gläubiger im civil law und den Gerichten im common law. Daß die Unterschiede gering ausfallen, ist bereits deswegen zu erwarten, weil die englischen Gerichte im Laufe der Jahrhunderte Leistungszwang immer dann anordnen konnten, wenn der Sekundäranspruch allein nicht ausreichte. Somit wird in den Fällen ein solcher Leistungszwang möglich sein, in denen ein besonderes Bedürfnis danach besteht.
4. Leistungszwang und Unmöglichkeit In dem Schuldvertrag begründen die Parteien ein subjektives Recht auf die vereinbarte Leistung. Die dem Recht des einen korrespondiere Leistungspflicht des anderen ist der Schlüssel zum Verständnis des Vertrages als Akt der freiwilligen Selbstbindung, wie es die Willenstheorie postuliert. Der Gläubiger erwirbt durch den Vertragsschluß das Versprechen der Leistung als aktive Obligation. Er ist da61
Näher dazu S. 253ff. und 263ff. So die These von Ernst, Rechtshistorische Begründung der Mora, S. 19ff. (mit einer Darstellung des alt-deutschen Privatstrafensystem). Zu den pönalen Momenten im mittelalterlichen Recht und der zunehmenden Trennung von Straf- und Privatrecht umfassend Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, S. 13ff., 50ff. 63 Näher S. 175ff. 62
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her berechtigt, den Schuldner zur Leistung zu bestimmen. Auf der Ebene des Schutzes des Rechts ist grundsätzlich die Ausübung von staatlichem Zwang zur Durchsetzung des Rechts nicht nur gestattet, sondern entsprechend der überpositiven Aufgabe des Staates sogar geboten. Allerdings ist, was als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, die Ausübung staatlichen Zwangs dem Gebot der Verhältnismäßigkeit unterworfen. So ließe sich der bisherige Gedankengang des Kapitels zusammenfassen. Bereits im vorherigen Kapitel wurden weitere Schlußfolgerungen aus den überpositiven Grundlagen für den Primäranspruch gezogen.64 Diese sind nunmehr erneut aufzugreifen. Das Recht des Gläubigers, die Leistung zu fordern, entsteht unbedingt mit Vertragschluß. Bei Nichtleistung gebieten die Regeln der dritten Ebene den Schutz des subjektiven Rechts durch Leistungszwang. Davon erfaßt sind alle Mittel, die darauf abzielen, die Leistung selbst im Gegensatz etwa zu einem Leistungssubstitut zu bewirken. Daraus folgt, daß bereits das bloße Ausbleiben der Leistung Rechtfertigung genug für den Leistungszwang ist. Es ist insbesondere nicht erforderlich, um den Primäranspruch zur Entstehung zu bringen, daß das Ausbleiben der Leistung eine zurechenbare Vertragsverletzung des Schuldners darstellt: Wird der Primäranspruch freiwillig erfüllt, erlischt er. Wird er nicht freiwillig erfüllt, darf er vom Gläubiger mit Zwang durchgesetzt werden, ob der Schuldner für das Ausbleiben der Leistung verantwortlich gemacht werden kann oder nicht. Der Anspruch wandelt sich dabei auch nicht etwa in einen Sekundäranspruch um, mit dem eine Rechtsverletzung ausgeglichen werden soll. Eine Grenze ist jedoch für den Primäranspruch unüberwindbar. Es ist dies die Grenze der faktischen Unmöglichkeit der Leistung durch den Schuldner. Nach dem Postulat des Privatrechts ist es möglich, die Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken, rein rechtlich zu besitzen. Ein solcher Besitz kann aber auf der zweiten normativen Ebene wirklich nur begründet werden, wenn die Leistung möglich ist. Genausowenig wie es ein angeborenes Recht einer nicht-existenten Person geben kann, genausowenig wie es Eigentum an einer nicht vorhandenen Sache geben kann, genausowenig kann einem die Kausalität der Willkür gehören, die nicht existiert. Da die Möglichkeit der Ausübung der Willkür als Herrschaft über einen Ausschnitt einer anderen Person bereits auf der ersten Ebene der Möglichkeit des Rechts a priori vorausgesetzt wird, ist das Recht auf die Leistung durch die Unmöglichkeit a priori begrenzt. Dies ist das, was im vorigen Kapitel65 als der »ontologische« Aspekt der Unmöglichkeit bezeichnet wurde. Der ontologische Aspekt ist zu unterscheiden von dem Zurechnungsaspekt der Unmöglichkeit, der, um es noch einmal zu betonen, für den Primäranspruch kei-
64 65
S. 195ff. S. 198f.
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
ne Rolle spielt. Dieses »dualistische System«66 wie es auch in § 275 IV BGB explizit zum Ausdruck kommt, wird allzuoft nicht in seiner vollen Tragweite erfaßt. Der Grund dafür, daß der Schuldner von der Leistungspflicht »befreit« wird, liegt nicht darin, daß ihm die Unmöglichkeit der Leistung nicht zugerechnet werden könnte, sondern darin, daß ein Recht der Herrschaft über Willkür, die nicht existiert, nicht bestehen kann. Wenn der in diesem Zusammenhang gebräuchliche Lehrsatz »Sollen impliziert Können«67 in dieser ausschließlich ontologischen Weise verstanden wird, ist ihm zuzustimmen. Der Satz ist aber, genau wie die Unmöglichkeitsregeln selbst, ambivalent. Denn er kann auch einen Zurechnungsgedanken nahelegen. Dann wäre die Aussage allerdings abzulehnen. Zwar ist es richtig, daß das Fehlen einer Alternative zur Nichtleistung, also das fehlende Können, den Schuldner grundsätzlich von dem Vertretenmüssen der Nichtleistung befreit. Aber eben nur grundsätzlich. Es sind sehr wohl Fälle denkbar und auch vom Gesetz in § 283 BGB ins Auge gefaßt, in denen dem Schuldner die alternativlose Nichtleistung zum Vorwurf gemacht, also zugerechnet wird, dann nämlich, wenn der Schuldner für die Alternativlosigkeit verantwortlich gemacht werden kann, wenn er also die Unmöglichkeit »verschuldet« hat. Solche Fälle einer »actio libera in causa«68 sind immer mitzubedenken, wenn der Satz »Sollen impliziert Können« im Hinblick auf die Zurechnung einer Handlung verwendet wird. In dieser Hinsicht hat der Satz aber keine Bedeutung für den Primäranspruch. Dies zeigt sich daran, daß der Leistungszwang (im engeren Sinn, der unmittelbaren tatsächlichen Durchsetzung des Rechts auf die Leistung) von keinem hier untersuchten Rechtssystem angeordnet wird, wenn die Leistung zwar unmöglich ist, der Schuldner aber für die Unmöglichkeit der Leistung verantwortlich ist.69 Die Unmöglichkeit für den Primäranspruch ist hier allein in ontologischer Hinsicht von Bedeutung. Das Recht auf die Leistung gelangt bereits auf den ersten beiden normativen Ebenen nicht zur Entstehung, bzw. geht bei Auftreten der Unmöglichkeit unter. Wer dagegen die Unmöglichkeit in ihrer zurechnungsausschließenden Funktion für den Primäranspruch für relevant hält, kann den Ausschluß der Leistungspflicht nicht erklären, wenn der Schuldner für die Unmöglichkeit verantwortlich ist. Als Zwischenergebnis ist für den Primäranspruch festzuhalten: Der Primäranspruch kann grundsätzlich mit Leistungszwang durchgesetzt werden. Dabei ist 66
MünchKommBGB-Ernst § 275 Rn. 1; Canaris JZ 2004, 214, 224. S. nur Zimmermann, The New German Law of Obligations, S. 44. 68 Näher S. 298f. 69 Vgl. in dieser Hinsicht als Restatement: Art. 9:102 II lit. (a) PECL und Art. 7.2.2. lit. (a) PICC. Selbst für H.H. Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, S. 240ff., der das Recht auf die Leistung auf materiell-rechtlicher Ebene nicht ausschließen wollte, wenn zu vertretende Unmöglichkeit vorlag, war völlig selbstverständlich, daß die fehlende Realisierbarkeit der Leistung für die Zwangsvollstreckung beachtlich ist. Dies ist, wie erläutert, jedoch nur die dritte Ebene ein und desselben subjektiven Rechts und bedeutet daher keine grundsätzliche Abweichung von der hier vertretenen Vertragsauffassung. 67
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die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren. In Fällen faktischer Unmöglichkeit besteht kein subjektives Recht auf die Leistung. Auf Zurechnungsaspekte kommt es bei der Gewährung des Primäranspruchs nicht an. Das ist die Essenz des Primäranspruchs von der Perspektive einer deontologisch/teleologischen Argumentation, wie sie vorliegend für richtig befunden wurde.
5. Disjunktive Obligation als Primäranspruch Bevor die konsequentialistisch/ökonomische Sichtweise auf den Primäranspruch eingeführt und abgegrenzt wird, ist eine letzte allgemeine Klarstellung vonnöten. Der abweichende Ansatz des common law wird nicht selten darauf zurück geführt, daß Verträge einen grundlegend anderen Inhalt haben als bisher unterstellt: Verträge seien nicht darauf gerichtet, eine Pflicht zur Leistung in natura zu normieren, sondern darauf, daß der Schuldner leiste oder zahle, d.h. zu leisten oder bei Nicht-Leistung das positive Interesse zu ersetzen.70 Das Leistungsinteresse des Gläubigers wird dabei anders als bei den Theorien, die im ersten Teil dieses Kapitels erörtert wurden, nicht in Frage gestellt. Diese Auffassung richtet sich auch nicht gegen den Primäranspruch oder den Leistungszwang als solchen. Vielmehr wird der Inhalt der Leistungspflicht abweichend bestimmt. Wenn diese Behauptung zuträfe, dann wären in der Tat sowohl die zunächst versprochene Leistung als auch der Schadensersatz dem Primäranspruch zuzuordnen.71 Der Schuldner könnte also nach seiner Wahl entweder die Leistung in natura erbringen oder den Gläubiger wertmäßig so stellen, wie dieser bei Leistung in natura stehen würde. Ein Gericht, das Schadensersatz anordnet, würde danach den Primäranspruch zwangsweise durchsetzen.72 Die Praxis der common law Gerichte, Schadensersatz zu gewähren, würde dann als Durchsetzung eines verkappten Primäranspruchs zu verstehen sein. Zum besseren Verständnis der These von der disjunktiven Obligation ist es hilfreich, ihren normativen Gehalt zu präzisieren. In einem berühmten Aufsatz haben Calabresi und Melamed die Unterscheidung von »property« und »liability rules« in die theoretische Diskussion eingeführt.73 Wenn das Recht ein bestimmtes Interesse einer Person schützen wolle, so könne dies auf zwei Arten gesche70 Statt vieler Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 477f., 501. Näher zu den Vertretern dieser Sichtweise aus dem Bereich des common law: Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, S. 158, 243ff.; Neufang, Erfüllungzwang als »remedy« bei Nichterfüllung, S. 255ff. (insbesondere auch zur Vereinbarkeit dieser Sichtweise mit dem positiven Recht). 71 Sie kann, im Anschluß an S. Smith Fn. 7, S. 400; Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 320ff., abgekürzt als die Auffassung des Vertrages als »disjunktive Obligation« bezeichnet werden. 72 Smith Fn. 7, S. 400. 73 Calabresi/Melamed 85 Harv. L.Rev. 1089 (1972). Sie ist heute im englischsprachigen Raum weithin gebräuchlich.
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
hen. Einmal durch die Schaffung einer property rule, einer »Eigentumsregel«, oder einer liability rule, also einer »Haftungsregel«.74 Eine Eigentumsregel berechtige den dadurch Geschützten dazu, der Entziehung der Rechtsposition durch eine andere Person zu widersprechen.75 Diese andere Person kann daher die Rechtsposition nur durch Vertrag »abkaufen«. Eine Haftungsregel dagegen würde der anderen Person den Eingriff in die Rechtsposition gestatten, freilich gegen das Aufbürden einer Schadensersatzpflicht, oder besser Entschädigungspflicht.76 Überprüft man, wie der vertragliche Primäranspruch und der Sekundäranspruch in dieses System einzuordnen sind, so fällt auf, daß die von Calabresi und Melamed vorgeschlagene Differenzierung unvollständig ist.77 Die disjunktive Obligation (Leistung oder Schadensersatz) läßt sich zwar mühelos als Haftungsregel einordnen: Dem Schuldner ist es gestattet, nicht zu leisten, wenn er den Gläubiger schadlos stellt. Doch beruht die These auf der Annahme, daß die Parteien eine solche Obligation vereinbart haben. Es ist daher zumindest denkbar, daß der Inhalt des Vertrages die Nichtleistung nicht gestattet. Dieser Fall kann jedoch nicht mehr mit der Haftungsregel erklärt werden, denn die Nichtleistung erfolgt ohne eine entsprechende Befugnis des Schuldners. Es bleibt also die Einordnung einer solchen Abrede als Eigentumsregel möglich: Der Gläubiger kann der Nichtleistung widersprechen, bzw. die Leistung erzwingen. Der Schuldner muß sich aus der Leistungspflicht »freikaufen«. Die Analyse als Eigentumsrecht ist aber ebenfalls unzureichend. Der Leistungszwang des Gläubigers kommt nicht selten zu spät oder ist gänzlich ineffektiv. Das Recht ordnet daher zusätzlich Schadensersatz wegen Vertragsverletzung an, das ist der Sekundäranspruch. Dieser Sekundäranspruch ist aber selbst streng von einer Haftungsregel im bisher diskutierten Sinne zu unterscheiden, denn der Sekundäranspruch enthält nicht die Befugnis, die Leistung nicht zu erbringen, sondern setzt voraus, daß die Nichtleistung eine Verletzung des Vertrages beinhaltet. Es ist also ein weiterer dritter Fall von dem Schutz eines Interesses durch Haftungsregel und Eigentumsregel zu unterscheiden: – Das Recht kann ein Interesse allein durch eine Haftungsregel schützen. Dann ist ein Eingriff in die Position gegen Entschädigung statthaft. – Das Recht kann ein Interesse allein durch eine Eigentumsregel schützen. Dann ist der Eingriff nicht statthaft und kann durch Zwang verhindert werden. 74 Calabresi/Melamed 85 Harv. L.Rev. 1089, 1106ff. (1972). Die Entscheidung, welcher der Regeln der Vorzug zu geben sei, sollte nach Calabresi und Melamed auf der Basis der relativen Effizienz der Regeln getroffen werden, aaO.S. 1115ff. für das Beispiel des Immissionsschutzes. An dieser Stelle geht es nur um die normativen Implikationen von Haftungsregeln gehen. 75 Ein Beispiel im deutschen Recht ist § 1004 BGB. 76 Ein Beispiel einer solchen Regel wäre § 904 und § 906 II 2 BGB. 77 Vgl. für dieses Argument Coleman/Kraus 95 Yale L.J. 1335 (1986), die es für den Kontext des Deliktsrecht ausarbeiten.
I. Deontologische und teleologische Argumente
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– In der Regel aber schützt das Recht ein Interesse sowohl durch eine Eigentumsregel (Primäranspruch) als auch durch die Anordnung von Schadensersatz bei »wider-rechtlichem« Eingriff, also einer Verletzung des Primärrechts (Sekundäranspruch).78 Dem Schuldner steht es bei dieser Variante nicht frei, die Leistung zu verweigern und statt dessen Schadensersatz zu leisten. Wenn er dennoch nicht leistet, ist er gleichwohl zum Schadensersatz verpflichtet. Die Sichtweise, die den Vertrag als disjunktive Obligation analysiert, ignoriert die eben herausgearbeitete Unterscheidung zwischen einer Haftungsregel und einem Sekundäranspruch. Bei oberflächlicher Betrachtung des common law könnte man angesichts der Feindlichkeit gegenüber dem Leistungszwang zu der Auffassung gelangen, daß das Leistungsinteresse des Gläubigers nur durch eine Haftungsregel geschützt ist. Diese Behauptung wird häufig O.W. Holmes zugeschrieben,79 doch geht sie wohl auf ein Mißverständnis seiner Argumentation zurück.80 Holmes hatte, soviel steht fest, tatsächlich behauptet, daß die Bindung an den Vertrag im common law darin bestehe, zu leisten oder bei Nichtleistung zu Schadensersatz verurteilt zu werden, wobei er hinzufügte: »und nichts weiter«.81 Dieser Zusatz sollte jedoch keine Aussage über den Inhalt von Verträgen treffen, sondern die »bad man perspective« verdeutlichen:82 Wenn man das Recht als ein System von Sanktionen versteht, wozu Holmes an besagter Stelle dringend auffordert, so ist nach den Regeln des common law (also nicht der equity) die Nichtleistung in der Regel »nur« mit der »Sanktion« des Schadensersatzes versehen.83 Das apodiktische »und nichts weiter« soll dabei klarstellen, daß etwaige darüber hinausgehende moralische Pflichten, den Vertrag zu erfüllen, für die Perspektive des Juristen keinerlei Rolle spielen dürfen.84 Dagegen ließe sich einwenden, daß das Recht den Primäranspruch in diesem Fall besser schützen sollte, weil in ihm, wie gezeigt,85 das Wesen des Vertrages, nämlich die Bindung an das Versprechen, zum Ausdruck kommt.86 Bei näherer Betrachtung des common law ist aber ungeachtet dessen durchaus offensichtlich, daß es die Unterscheidung von Primär- und Sekundäranspruch
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Coleman/Kraus 95 Yale L.J. 1335, 1348ff. (1986). S. etwa Friedmann 18 J. of Legal Stud. 1 (1989); Kimel Fn. 39, S. 91; Rheinstein Fn. 70, S. 245ff. mit einer Übersetzung relevanter Passagen; s. auch Neufang Fn. 70, S. 255ff. 80 Perillo 68 Fordham L.Rev. 1085 (2000); L. Smith Fn. 42, S. 224. 81 Holmes 10 Harv. L.Rev. 457, 462 (1897) (»The duty to keep a contract at common law means a prediction that you must pay damages if you do not keep it – and nothing else.«) 82 L. Smith Fn. 42, S. 224. Näher zu dem damit verbundenen Denken in »Aktionen« § 7 II.2. oben. 83 Gegen dieses Denken in »Sanktionen« etwa Zakrzeweski, Remedies Reclassified, S. 56ff. 84 Perillo 68 Fordham L.Rev. 1085, 1089 (2000); L. Smith Fn. 42, S. 222ff. 85 Das wurde oben bereits erörtert, unter I.2. 86 S. für dieses Argument vor allem Finnis Fn. 71, S. 325. 79
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kennt87 und den Sekundäranspruch auf eine Verletzung des Primäranspruchs, auf ein »wrong«,88 zurückführt.89 Die Sichtweise der disjunktiven Obligation ist also in deskriptiver Hinsicht falsch. Das common law sieht als Sanktion der Vertragsverletzung mehr vor als bloß eine Haftungsregel. Nur einige Argumente seien genannt. So ist die absichtliche Verleitung zum Vertragsbruch durch einen Dritten ein Delikt, also eine unerlaubte Handlung.90 Wenn ein Vertrag absichtlich opportunistisch verletzt wird, so besteht unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, Strafschadensersatz zu erlangen.91 Schließlich zeigen die Fälle, in denen der Leistungszwang angeordnet wird,92 daß das common law ebenso wie das civil law auf der Unterscheidung von Primär- und Sekundäranspruch aufbaut. Der Leistungszwang wird in der gerichtlichen Praxis nicht etwa mit dem Argument verweigert, daß es dem Schuldner freistehe, nicht zu leisten, sondern mit davon unabhängigen Überlegungen zur Angemessenheit und Effektivität des Leistungszwangs. Kurz: Das anglo-amerikanische Recht analysiert die Vertragsverletzung nicht als Haftungsregel und damit die Leistungspflicht nicht als disjunktive Obligation. Die Sichtweise der disjunktiven Obligation könnte schließlich als These über den tatsächlichen Willen der Parteien in der Mehrzahl der Fälle aufgefaßt werden. Die erste Schwierigkeit ist, daß Verträge bereits ihrem Wortlaut nach eine solche Auslegung nicht stützen. Denn darin ist in aller Regel bloß die Leistung vereinbart.93 Als pauschale Vermutung des mutmaßlichen Parteiwillens ist die These von der disjunktiven Obligation ebenfalls unplausibel. Die Parteien legen in dem Schuldvertrag die jeweilig zu erbringenden Leistungen fest. Wie bereits erläutert,94 schließen die Parteien den Vertrag ab, um die Leistung zu erhalten. Es wäre daher prima facie begründungsbedürftig, wenn die Parteien einander gestatteten, die Leistung nicht zu erbringen. Wenn sie sich letzten Endes mit Schadensersatz abfinden, so doch nur, um den Schaden aus der Vertragsverletzung möglichst ge87 Dies weist Rheinstein Fn. 70, S. 241f. bereits für die Autoren des 19. Jahrhunderts (Anson, Pollock, Holland) nach. 88 S. etwa die Analyse von Zakrzeweski Fn. 83, S. 13f.; Treitel Fn. 7, S. 926: »A breach of contract is a civil wrong.« 89 Näher S. 207. 90 S. näher Weir, Economic Torts, S. 28ff., zu dem berühmten Fall Lumley v. Gye 2 El.&Bl. 216 (1853), in dem Herr Gye Schadensersatz dafür leisten mußte, daß er die Sängerin Frau Wagner dazu gebracht hatte, in Covent Garden aufzutreten, statt für Herrn Lumley, mit dem sie aber einen entsprechenden Vertrag hatte. In Lumley v. Wagner Deg. M.&G. 604 (1852), hatte Herr Lumley Frau Wagner untersagen lassen, andernorts aufzutreten. Zu diesem Fall näher § 10 I.2. unten. Zum U.S.-Recht: Varadarajan 111 Yale L.J. 735 (2001). 91 Friedmann 18 J. of Legal Stud. 1, 19 (1989) m.w.N. 92 S. 263ff. 93 Selbst wenn ein pauschalierter Schadensersatz vereinbart ist, bedeutet dies keineswegs die Befugnis zum Vertragsbruch (Haftungsregel), sondern stellt nur eine vertragliche Regelung des Sekundäranspruchs dar. Besonders deutlich wird die Verfehltheit der Analyse als Haftungsregel, wenn die Parteien eine Vertragsstrafe vereinbaren. 94 S. 116ff.
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs
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ring zu halten. Dessen ungeachtet kann ein Vertrag nach den Umständen des Einzelfalles eine disjunktive Obligation enthalten.95 Im allgemeinen aber dürfte klar sein, daß Verträge nicht disjunktive Obligationen enthalten. Deswegen ist die Haftungsregel für die Analyse der Vertragsverletzung ungeeignet. Die Unterscheidung von Primär- und Sekundäranspruch hat dagegen erneut ihre Stichhaltigkeit bewiesen.
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, daß die ökonomische Analyse eine zentrale Annahme mit der liberalen Vertragsauffassung teilt: Die Parteien sind die besten Hüter ihrer Interessen. Daraus folgt der Lehrsatz: Der Effizienz ist am besten gedient, wenn Verträge eins zu eins notfalls zwangsweise durchgesetzt werden. Dies spricht für Primäransprüche und dem daraus folgenden Leistungszwang. Es folgt ein Aber – zumindest bei einigen Varianten der konsequentialistischen Theorie.96 Der Lehrsatz, die Parteien wüßten selbst am besten, was sie wollen, treffe nur unter Idealbedingungen zu, die so gut wie nie in der Realität vorlägen. Transaktionskosten und Marktversagen erschwerten es den Parteien, einen Vertrag zu schließen, der ihre Interessen optimal verwirklicht. Dies sei praktisch nie der Fall. Aus diesem Grund dürfe, ja solle der Staat paternalistisch eingreifen und mit Hilfe des Rechts versuchen, den optimalen Vertrag nachzuahmen, den die Parteien unter idealen Bedingungen geschlossen hätten.97 Wenn sich nun zeigen ließe, daß die von den Parteien tatsächlich getroffene Vereinbarung ineffizient ist, so wäre es von diesem Standpunkt aus folgerichtig, den Schuldner von seiner ineffizienten Pflicht zur Leistung zu befreien und ihn statt dessen nur zum Schadensersatz zu verpflichten. Der Primäranspruch erscheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft, weil er die Parteien angesichts der Transaktionskosten einer Neuverhandlung zu einem ineffizienten Leistungsaustausch zwinge.98 Letztlich sei der Primäranspruch nur effizient, wenn der Vertrag selbst schon effizient sei. Da dies nicht zwingend der Fall sei, sei auf das Ganze gesehen nur eine Haftungsregel effizient, die es dem Schuldner faktisch ermöglicht, den ineffizienten Vertrag zu brechen.99 Im folgenden ist zunächst die Reichweite der Effizienz-Argumente erneut zu be95 Etwa wenn der Vertrag nur eine Spekulation bezüglich der Preisentwicklung ist. Dann geht es nicht in erster Linie um die Leistung selbst, sondern um eine »Wette« auf den Preis der Leistung. 96 S. 133ff. Etwa bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 459ff. 97 S. 136ff.; s. auch Schäfer/Ott Fn. 96, S. 403. 98 S. etwa Posner, Economic Analysis of Law, § 4.8, S. 131f.; Yorio 82 Columbia L.Rev. 1365, 1397ff. (1982); Muris Duke L.J. 1053, 1062ff. (1982). 99 Zusätzlich zu den in Fn. 98 Genannten etwa Barnes 6 Southern California Interdisciplinary L.J. 397 (1998); Standen 73 Washington Univ. L.Q. 145, 171 (1995) (Leistungszwang sei »market diminishing«).
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
stimmen, um sodann in einem zweiten Schritt die Implikationen der Vertragsbruchtheorie zu untersuchen.
1. Der Anwendungsbereich der ökonomischen Analyse Zuweilen werden common law als von ökonomischen Prinzipien geprägtes Fallrecht einerseits und civil law als von strenger »Moralität« bestimmtes Pflichtdenken andererseits gegenübergestellt.100 Wie zu zeigen sein wird, ist diese Gegenüberstellung eine Überzeichnung des gegenwärtigen Stands der Forschung. Vor allem aber ist die von vornherein begrenzte Reichweite konsequentialistischer Argumente im Leistungsstörungsrecht zu beachten. Die in § 6 vorgenommene Abgrenzung der Reichweite materieller und formaler Elemente im Vertragsrecht kommt hier das erste Mal zur Geltung. Diese komplexe Schnittstelle der vorliegend vertretenen hybriden Vertragstheorie muß an dieser Stelle in groben Zügen in Erinnerung gerufen werden: a) Bindung an den Vertrag als Ausgangspunkt In einem ersten Schritt sind die deontologischen Grundlagen des Vertrages zu betonen. Die überpositiven Bedingungen der Möglichkeit des Schuldvertrages sind durch den Schutz subjektiver Rechte bestimmt.101 Darauf ist nicht nur die Tradition des BGB zurück zu führen, sondern auch das common law beruht auf dieser Philosophie der subjektiven Rechte. Sie ist dort nur stärker von Aktionendenken verdeckt als das mittlerweile im deutschen Recht der Fall ist.102 Die Analyse der Vertragsverletzung in Primär- und Sekundäransprüche103 mit allen davon implizierten Regeln ist auf dieser Stufe der Untersuchung durch folgenorientierte Argumente nicht mehr relativierbar oder gar widerlegbar. Die These, daß ein Vertrag nicht bindend ist, wenn das Ergebnis seiner Durchführung ineffizient ist, ist mit der Bindung an den Vertrag nicht vereinbar. Darüber hinaus ist diese »EffizienzRegel« wie jede andere Form des Extrem-Utilitarismus als Aussage einer juristischen Theorie ungeeignet, weil sie die normative Bedeutung eines Versprechens in einem Vertrag schlicht verkennt.104 Diese Aussage wird denn auch heutzutage innerhalb der ökonomischen Analyse kaum noch vertreten.105 Vielmehr dürfte die Einschätzung Craswells zutreffen, daß sich die meisten Vertreter der ökono100 S. etwa Herman ZfRV 2005, 94 (»pacta sunt servanda« einereits, »freier Markt« andererseits); Spector 79 Chi.-Kent L.Rev. 521, 539 (2004): »Fairness and autonomy are more important values in civil law, given the philosophical roots of civil codes and civilian legal science.« 101 S. 151ff. 102 S. 174ff. 103 S. 204ff. 104 S. 116ff., 145ff. S. etwa auch Menetrez 47 UCLA L.Rev. 859, 881 (2000). 105 S. bereits MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 950 (1982) (»The simple-efficient-breach analysis is fallacious.«).
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs
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mischen Analyse darum bemühen, die Anreize, die eine bestimme Regel des Vertragsrechts, sei dies nun der Erfüllungszwang oder andere Regeln, für zukünftiges Verhalten schafft, zu erfassen.106 Vor diesem Hintergrund wird es dann möglich, bestimmte Regeln des (dispositiven) Vertragsrechts auf ihre Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen Willen der Parteien zu überprüfen, ohne die Bindung an den Vertrag grundsätzlich zur Disposition zu stellen.107 b) Relevanz der Folgenanalyse Der zweite Schritt besteht in der Erkenntnis, daß die ökonomische Analyse oder utilitaristische Abwägungen ganz generell eine durchaus sinnvolle Ergänzung des deontologisch/teleologischen Vertragsverständnisses sein kann.108 Dafür lassen sich im wesentlichen zwei Gesichtpunkte anführen: Bereits bei der Gewährung der Rechte auf der ersten Ebene ist die Justitiabilität des Rechtsschutzes auf der dritten Ebene zu berücksichtigen. Denn auch die Gerichte sind nicht allwissend und vor allem auch zeitlich und finanziell nicht in der Lage, den wahren Sachverhalt einer Streitigkeit mit letzter Gewißheit aufzuklären. Die Einfachheit und Sicherheit des Rechtsschutzes ist daher in aller (a priori) Interesse. Darüber hinaus sagen die formalen Regeln, die a priori gerechtfertigt sind, per se nichts darüber aus, aus welchen (materiellen) Gründen Verträge geschlossen werden. Auf der Ebene der wirklich abgeschlossenen Verträge können die vielfältigen Hindernisse auf dem Weg zu einer vollständigen Willensbildung, wie sie die »Neue Institutionen Ökonomie« beschreibt, nicht ignoriert werden. Sowohl die Unzulänglichkeiten auf der zweiten Ebene des subjektiven Rechts, die Ebene seiner wirklichen Konstitution durch die Parteien, als auch die Unzulänglichkeiten des Schutzes der dritten Ebene sind materieller Natur (auf die Materie der Willkür bezogen), also im einzelnen nur a posteriori feststellbar. Dies bedeutet, daß uns die Erfahrung lehrt, daß Verträge ihr Ziel in aller Regel nur unvollkommen erfassen. Es ist daher, und darin besteht der dritte Schritt dieser hybriden Vertragstheorie,109 Aufgabe des Staates für wiederkehrende typische Situationen, verläßliche dispositive Regeln über den Vertraginhalt bereit zu stellen und im Einzelfall den Willen der Parteien objektiv nach Treu und Glauben auszulegen sowie notfalls, wenn der Vertrag eine Lücke enthält, zu ergänzen. Jede einzelne der drei Funktionen des Vertragsrechts können nur erfüllt werden, wenn eine zutreffende Analyse 106
Craswell in Benson (Hrsg.), Theory of Contract Law, S. 44. S. 147ff. Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135, 1139, 1177ff. (2003), betont, daß der ökonomische Analyse durch und durch konsequentialistisch ist (»instrumental all the way down«) und Übereinstimmung mit der Theorie ausgleichender Gerechtigkeit daher nur zufällig sind. Demgegenüber kommt die Folgenanalyse vorliegend nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen zur Geltung, nämlich nur insoweit als sie einen regelmäßigen Willen der Parteien in konkreten Szenarien erkennen läßt. 108 S. 152f. 109 S. 154ff. 107
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
der beabsichtigten Konsequenzen und der dazu eingesetzten Mittel erfolgt. Das Instrumentarium dafür bieten die konsequentialistischen Theorien. Die ökonomische Analyse als Unterfall dieser Methode vermag die Motivation der Parteien in einem wirtschaftlichen Kontext zu erfassen. Der dabei anzuwendende Effizienzmaßstab ist der der Pareto-Effizienz.110 Denn nur wenn beide Parteien, den durch eine neue Regel zu schaffenden Zustand dem Zustand ohne diese Regel vorziehen, läßt sich ein entsprechender mutmaßlicher gemeinsamer Parteiwille feststellen. Das Kaldor-Hicks Kriterium mit dem davon implizierten interpersonellen Saldierungsgebot ist dagegen ungeeignet.
2. Die Theorie des »efficient breach« Die Literatur zum Thema, welche remedies bei Vertragsverletzung am effizientesten sind, ist fast unüberschaubar.111 Die sicherlich bekannteste ökonomische Theorie zum Leistungsstörungsrecht ist die Theorie des efficient breach. Die Theorie des Vertragsbruches ist auch an dieser Stelle besonders hervorzuheben, weil sie nur Sekundäransprüche zuläßt und den Leistungszwang für ineffizient hält. a) Effizienz und Widerrechtlichkeit der Vertragsverletzung Die »efficient breach« Theorie führt den Widerspruch zwischen dem Anspruch der ökonomischen Analyse und dem traditionellen juristischen Begriffsverständnis bereits im Namen. Den Widerspruch zu der deontologischen Analyse der vertraglichen Pflichten würde die Theorie nur vermeiden, wenn sie die Vertragsverletzung für gestattet halten würde. Denn dann wäre sie nichts anderes als die oben (unter I.5.) erörterte These der disjunktiven Obligation: Der Vertrag enthielte danach nur die Pflicht zu leisten oder Schadensersatz zu zahlen. Dies wäre eine Haftungsregel112 und die Unterscheidung von Primäransprüchen und bei ihrer Verletzung entstehender Sekundäransprüche wäre hinfällig. Zumindest in ihren Ursprüngen wurde die Vertragsbruchtheorie aber nicht in dieser Weise verstanden. Es wurde einerseits betont, daß die Verletzung des Vertrages widerrechtlich sei, jedoch sei gerade dies vom externen Standpunkt der ökonomischen Analyse unbeachtlich.113 Nach dieser Theorie könne der Vertragsbruch effizient, wenn die Nichterfüllung effizienter als die Vertragstreue ist. Diese Extremform der Vertragsbruchtheorie fällt mit der bereits erwähnten extrem-utilitaristischen »Effi110 111 112
S. 158. Überblick etwa bei Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135ff. (2003). Als Haftungsregel würde sie die Nichtleistung gestatten. Der »Vertragsbruch« wäre kei-
ner. 113 Für den externen Standpunkt der ökonomischen Analyse s. etwa Mahoney, in Bouckaert/ Boudewijn/De Geest/Gerrit (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. III., S. 117ff.
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs
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zienz-Regel« zusammen.114 Sie ist daher aus den oben erläuterten Gründen als Aussage einer juristischen Theorie abzulehnen: Sie verkennt den normativen Aussagegehalt eines vertraglichen Versprechens. Die Parteien, die eine solche Sichtweise ernsthaft einnähmen, schlössen gar keinen Vertrag ab. Sie würden allenfalls Absichtsbekundungen abgeben. Primäransprüche wären auf dieser Basis sicherlich nicht gerechtfertigt, aber schon deswegen nicht, weil die Parteien gar keinen Vertrag abgeschlossen haben. Wenn die Parteien aber einen Vertrag abschließen, greift die vertragliche Bindung ein und die Leistungen sind dann, soweit sie tatsächlich erbracht werden können, nach kategorischen Imperativen zu erbringen. Bei Ausbleiben der Leistung tritt Leistungszwang ein. All dies ist im Begriff des Vertrages bereits a priori angelegt. Es fällt daher nicht ganz leicht, dennoch einen Ansatzpunkt für die Ablehnung des Primäranspruchs aus ökonomischen Gründen zu erkennen, zumindest soweit die ökonomischen Argumente auch vom Standpunkt der hier vertretenen Vertragstheorie anzuerkennen wären. Soweit die wirtschaftlichen Interessen den Grund dafür bestimmen, warum und mit welchem Inhalt der Vertrag geschlossen wurde, ist das ökonomische Modell mit seiner Annahme der Zweckrationalität ein Indikator für die Interessen der Parteien. Die Interessen der Parteien sind aber auch für ein apriorisches Modell ein wichtiger Bestandteil des Systems von Vertragsregeln. Vor diesem Hintergrund sollte es immerhin Anlaß zur Besorgnis geben, wenn das einhellige Urteil der ökonomischen Analyse lauten würde, daß Primäransprüche ineffizient sind. Denn dann hätten die Parteien sie, wenn sie ungehindert einen vollständigen Vertrag hätten schließen können, explizit ausgeschlossen. Dies würde bedeuten, daß wenn diese Interessenlage der Parteien tatsächlich besteht, der gewollte Vertragsinhalt in der disjunktiven Obligation bestünde, zu leisten oder Schadensersatz zu zahlen. Für einen Primäranspruch, der allein auf die Leistung in natura gerichtet wäre, bestünde kein Raum. Diese disjunktive Sichtweise ist, wie bereits im vorherigen Abschnitt erläutert, zwar mit einer deontologischen Vertragstheorie vereinbar, nur ist sie in tatsächlicher Hinsicht prima vista unplausibel und entspricht in ihrer allgemeinen Formulierung weder dem Verständnis der Vertragsverletzung auf dem Kontinent noch im common law. Um das Ergebnis einer Überprüfung dieser These anhand der ökonomischen Untersuchungen vorweg zu nehmen: Weder ist das Urteil der ökonomischen Analyse über die Effizienz von Primäransprüche eindeutig, noch vermögen die zweifelsohne existierenden Fälle von ineffizienten Ergebnissen ein Abweichen von den apriorischen Prinzipien des Vertragsrechts zu rechtfertigen. Allenfalls in einer eng begrenzten Untergruppe erscheint es gerechtfertigt, im Hinblick auf ökonomische Erwägungen und den Willen der Parteien den Erfüllungsanspruch einzuschränken: Das sind die Fälle der unverhältnismäßigen Kostensteigerung bei konstant bleibendem Leistungsinteresse. 114
S. 145f.
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
b) »Bessere« Angebote Dritter Betrachten wir zunächst die klassische Konstellation in der auch heute noch die Theorie des effizienten Vertragsbruches am meisten diskutiert wird. Nehmen wir an,115 Porthos kauft von Athos ein Grundstück für 1 Million. Aramis bietet vor Erfüllung dieses Vertrages für dasselbe Grundstück einen höheren Preis, sagen wir 1,2 Millionen. Wenn der Preis höher ist, als der Betrag, den das Grundstück für Porthos wert ist, könnte Athos mit Aramis abschließen, Porthos den Nichterfüllungsschaden ersetzen und immer noch einen Gewinn machen. Also, wenn das Grundstück für Porthos nur 1,1 Millionen wert ist, erzielt Athos bei einem Vertragsbruch immer noch 100.000 Gewinn. Nimmt man an, daß der, der den höheren Preis für eine Sache anbietet, den höherwertigen Nutzen ziehen wird, und nehmen wir weiter an, daß keine weiteren Kosten entstehen, so scheint der Vertragsbruch effizient.116 Athos zu zwingen, an Porthos zu übereignen wäre dann ineffizient. Allerdings ist diese Schlußfolgerung nicht plausibel, selbst wenn keine weiteren Kosten entstehen. Denn es gibt andere Wege als den Vertragsbruch, wie das Grundstück zu dem Super-Nutzer Aramis gelangen kann. Porthos kann schließlich das Grundstück seinerseits an Aramis verkaufen. Oder, wenn aus welchen Gründen auch immer, Aramis das Grundstück nur von Athos erwerben kann, so kann doch Athos sich aus dem Vertrag mit Porthos’ Einverständnis freikaufen. Dies ist nichts weiter als eine Folgerung aus dem Coaseschen Theorem, daß die Zuweisung von rechtlichen Positionen bei Abwesenheit von Transaktionskosten keine Auswirkungen auf die Effizienz des Ergebnisses hat.117 In der Realität müssen natürlich die zunächst ausgeblendeten Transaktionskosten berücksichtigt werden. Zu bedenken ist, daß es im Verhältnis zwischen Porthos und Athos wegen des Vertragsbruches und der Notwendigkeit der Schadensermittlung oft zu einem gerichtlichen Verfahren kommen wird.118 Bei Vertragsbruch fallen weiterhin die Kosten der Transaktion zwischen Athos und Aramis an. Daher ist es keineswegs ausgemacht, wie aber etwa Posner annimmt,119 daß die Kosten bei Vertragsbruch geringer sind als die Kosten, die zusätzlich durch den Weiterverkauf von Porthos an Aramis entstehen würden. Das Gegenteil ist plausibel.120 Zuerst den Vertrag verletzen, dann über den Schaden verhandeln, dürfte 115 Abgewandelt nach einem Beispiel von Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 118f. (1981) und MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 948 (1982). S. auch die Darstellung des Problems bei Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135ff. (2003); Posner Fn. 98, S. 133; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 370ff. 116 So in der Tat etwa Posner Fn. 98, S. 133. 117 S. 133ff. 118 Auch das sind zu berücksichtigende Transaktionskosten, näher Ulen 83 Michigan L. Rev. 341, 383ff. (1984); MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 958 (1982). 119 Posner Fn. 98, S. 133. 120 Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 369, 380 (1984); Schwartz 89 Yale L.J. 271, 277 (1979).
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs
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eine der teuersten Formen der Kommunikation sein.121 Hinzu kommt, daß auch die ökonomische Analyse schwer meßbare Folgen eines Vertragsbruches mit in ihr Kalkül einbezieht. Es ist eine Tatsache, daß der Vertragsbruch auch im kaufmännischen Verkehr als ein Zeichen von Unzuverlässigkeit gewertet wird. Der opportunistische Vertragsbruch hat für den Verkäufer und manchmal auch für den Abnehmer, wenn er daraufhin selber vertragsbrüchig werden muß, schlechte Folgen für die Reputation.122 Reputation ist von größtem Wert, aber eine Bewertung ist größtenteils unmöglich.123 Dieser Faktor spielt nur dann keine Rolle, wenn der Vertragsbruch heimlich geschieht oder der Verkäufer ohnehin nicht beabsichtigt, weitere Geschäfte dieser Art zu tätigen. Die negative Bewertung der Unzuverlässigkeit bei der Vertragserfüllung rührt auch daher, daß der Schadensersatz keinen vollständigen Schutz des Leistungsinteresses bietet.124 Er deckt etwa bestimmte Kosten bereits prinzipiell nicht ab: z.B. die Kosten der Vertragsvorbereitung.125 Schadensersatz ist zudem im Gegensatz zu Primäransprüchen an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, wie etwa die Kausalität oder den Beweis des entgangenen Gewinns. Deswegen besteht immer die Gefahr, daß der Schadensersatz die tatsächlichen Kosten des Vertragsbruches unterschreitet. Sollte dies der Fall sein, so könnte der Schuldner durch den Vertragsbruch diese Kosten externalisieren.126 Es käme also wegen der Existenz von Transaktionskosten auch dann zum Vertragsbruch, wenn er nicht effizient ist.127 Primäransprüche sichern damit daher die Effizienz eher, als das sie sie beeinträchtigen.128 Anthony Kronman hat in einer der ersten Analysen der Effizienz von specific performance die These vertreten, daß die Einschränkung auf »unique goods« im anglo-amerikanischen Recht ökonomisch sinnvoll ist.129 Zunächst sind seine Argumente für specific performance in diesen Fällen durchaus plausibel. Er arbeitet heraus, daß in den Fällen, in denen die Sachen »einzigartig« sind, einem Gericht die Bestimmung des positiven Interesses des Gläubigers schwer fallen wird und daher ein erhebliches Risiko der Unterkompensation durch Schadensersatz besteht.130 Wenn es sich dagegen um auf dem Markt leicht erwerbbare Ware handelt, könne eher angenommen werden, daß der Geldbetrag, der dem Marktwert der 121
MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 968f. (1982). Zu diesem Aspekt etwa Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 347ff. (1984); MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 958 (1982). 123 Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 355 (1984). (»The strongest market force is reputation.«) 124 Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 365ff. (1984); Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 132, 138 (1981); Schwartz 89 Yale L.J. 271, 275f. (1979). 125 Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 372ff. (1984); MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 958 (1982). 126 Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 361ff. (1984); MacNeil 68 Virginia L.Rev. 947, 960 (1982). 127 Erst durch den Zwang des Schuldners, sich freikaufen zu müssen, wird ersichtlich, welchen Wert der Gläubiger der Leistung beimißt, Ulen 83 Michigan L.Rev. 341, 366 (1984); Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 137 (1981). 128 In diesem Sinne denn auch die in Fn. 126 und 127 genannten Autoren. 129 Kronmann 45 Univ. of Chicago L.Rev. 351 (1978). 130 Kronmann 45 Univ. of Chicago L.Rev. 351, 360ff. (1978). 122
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Ware entspricht, das positive Interesse des Gläubigers befriedigt.131 Weiterhin nimmt er an, daß die Kosten einer Regel, die Leistungszwang zuläßt, für den Schuldner, um so höher sind, je leichter sich die Ware auf dem Markt erhalten läßt, weil in diesen Fällen, die Chance, daß ein besseres Angebot gemacht wird als das des Gläubigers besonders groß sei.132 Da in diesen Fällen auch der Gläubiger ein schwächeres Interesse an der Leistung selbst habe, würden die Parteien für diese Fälle eine disjunktive Obligation vereinbaren.133 Demgegenüber weist Schwartz zu Recht darauf hin, daß diese Sichtweise zu vereinfachend ist:134 Die Interessen der Parteien sind auch im Fall von marktüblicher Ware kontext-abhängig und nicht verallgemeinerbar: Schließlich kann bei einem besseren Angebot Dritter auch der Gläubiger selbst die Ware weiterverkaufen.135 Da zudem Schadensersatz sein Ziel der vollständigen Kompensation selten erreiche und ohnehin die Parteien die besseren Informationen über die Schwierigkeiten der Leistung und das Leistungsinteresse besitzen als die Gerichte, sei specific performance als allgemeiner Rechtsbehelf vorzugswürdig.136 Dem kann im Hinblick auf die bereits erwähnten zusätzlichen, schwer meßbaren Kosten der Nichterfüllung zugestimmt werden. Damit steht fest: Es ist falsch zu behaupten, daß Vertragsparteien, wenn sie einen idealen Vertrag abschließen, den Schuldner dazu berechtigen würden, vom Vertrag zurückzutreten, wenn dies »effizient« ist. Es ist nicht anzunehmen, daß ein Gläubiger sich diesen Ungewißheiten regelmäßig aussetzen wollte. Daher ist die Zustimmung zur Nichterfüllung auch nicht zu vermuten. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß dies im Einzelfall ineffizient ist, verbietet es sich, den Gütertransfer ohne die Einwilligung des Gläubigers zu befürworten. Diese Variante der Theorie des »efficient breach« liefert damit auch kein Argument gegen Primäransprüche. c) Steigerung der Produktionskosten Die Fälle unverhältnismäßiger, also ineffizient hoher, Produktionskosten sind ein weiterer wichtiger Anwendungsfall der »Vertragsbruchtheorie«. Diese Variante betrachtet allein das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner und betrifft Fälle der Leistungserschwerung ohne gleichzeitigen Anstieg des Leistungsinter131
Kronmann 45 Univ. of Chicago L.Rev. 351, 362 (1978). Kronmann 45 Univ. of Chicago L.Rev. 351, 368 (1978). 133 Kronmann 45 Univ. of Chicago L.Rev. 351, 369 (1978). 134 Schwartz 89 Yale L.J. 271, 284 (1979). 135 Shavell Fn. 115, S. 374, zeigt auf, daß es bei dieser Art von Verträgen für den Gesamtwert des Vertrages keinen Unterschied macht, wer die Gelegenheit erhält, an den Außenstehenden zu verkaufen. 136 Schwartz 89 Yale L.J. 271, 277 (1979); so auch Shavell Fn. 115, S. 377, der zu dem Schluß kommt, daß specific performance der von beiden Parteien bevorzugte Rechtsbehelf ist, wenn die Gefahr einer Unterkompensation durch Schadensersatz besteht. Schadensersatz allein würde den Gewinn für beide Parteien schmälern. 132
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esses. Betrachten wir z.B. einen Vertrag, bei dem der Vertragsgegenstand noch herzustellen ist, und nehmen an, daß der Wert der Leistung für den Besteller konstant ist.137 Die Herstellungskosten des Unternehmers sind dagegen variabel. Sind die Kosten höher als der Wert der Leistung für den Besteller, so erscheint der Vertragsbruch effizient. Der Unternehmer steht dann jedenfalls besser, wenn er den Vertrag bricht und den Besteller entschädigt, als wenn er den Vertrag erfüllt. Nimmt man ferner an, um Effizienz nach dem Pareto Maßstab zu begründen, daß es für den Besteller keinen Unterschied macht, ob er Schadensersatz oder die Leistung selbst erhält, so scheint es ineffizient, den Unternehmer zur Leistung zu zwingen. Wenn das Leistungsinteresse des Bestellers dagegen nicht konstant ist, sondern proportional mit den Produktionskosten steigt, ist der Primäranspruch auch bei gestiegenen Produktionskosten jedenfalls nicht als ineffizient anzusehen: Die Ineffizienz resultiert ja daraus, daß die Kosten den Wert der Leistung für den Gläubiger übersteigen, was bei gleichzeitigem Anstieg beider Variablen per se nicht der Fall sein kann.138 Aus ökonomischer Sicht ist daher nur der Fall problematisch, daß das Leistungsinteresse des Gläubigers konstant bleibt, während die Kosten des Schuldners »außer Kontrolle geraten«. Allerdings sind auch hier Zwang oder Vertragsbruch nicht die einzigen Alternativen. Der Unternehmer kann sich von der Erfüllungspflicht freikaufen.139 Auf ein entsprechendes Angebot wird der Besteller eingehen, denn dadurch erhält er seinen Schaden ersetzt und zusätzlich einen Bonus im Vergleich zur Erfüllung. Man würde auf diese Weise erst erfahren, wieviel die Erfüllung dem Besteller tatsächlich wert ist. Der Verkäufer wird diesen Bonus anbieten, solange Schaden und Bonus geringer sind als die Herstellungskosten. Auch hier bestehen Transaktionskosten, die das Ergebnis in Richtung Vertragsbruch neigen,140 jedoch ist man auch bei dieser Konstellation weit davon entfernt, Primäransprüche pauschal als ineffizient zu brandmarken. Empirische Studien über einen Kostenvergleich fehlen. Es läßt sich bei Abstraktion von den Transaktionskosten aber immerhin zeigen, daß ein zweckrationaler Unternehmer bereit sein müßte, die Leistung zu einem niedrigeren Preis anzubieten, wenn ihm gestattet wird, bei Überwiegen der Kosten die Leistung gegen Schadensersatz zu verweigern. Der zu verteilende Kuchen wird größer. Wenn dagegen der Unternehmer auch dann produzieren muß,
137 S. die Bsp. aus der U.S. Rechtsprechung etwa bei Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 134ff. (1981), und aus der englischen Rechtsprechung Tito v. Waddell (No. 2) [1977] Ch. 106; Ruxley Electronics and Construction Ltd v. Forsyth [1996] A.C. 344. 138 Shavell Fn. 115, S. 341. 139 S. etwa Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 134ff. (1981), der aus diesem Grund auch für diese Fälle die Effizienz von specific performance bejaht. 140 S. zu der Gefahr des »Anpassungsmißbrauchs« und dem darin liegenden Erpressungspotential bei der Neuverhandlung Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 70ff. m.w.N.
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§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
wenn die Kosten den Wert der Leistung übersteigen, sinkt die Rentabilität des Vertrages. Das läßt sich anhand einer Modellrechnung der Auswirkungen der Kostensteigerung bei gleichem Leistungsinteresse illustrieren.141 Angenommen, die Produktionskosten betragen 20 mit einer Wahrscheinlichkeit von 80% und 200 mit einer Wahrscheinlichkeit von 20%. Das Leistungsinteresse des Bestellers B beträgt 100. Betrachten wir nun zunächst den Wert des Vertrages für die Beteiligten, den Werkunternehmer U und den Besteller B, wenn der Preis der Leistung 80 beträgt und U in jedem Fall leisten muß. 1. Variante Wert für U = 80% × (80–20) + 20% × (80–200)= 48 – 24 = 24. Wert für B = 100 – 80 = 20. Nehmen wir weiterhin an, daß U bei einem Anstieg der Kosten auf 200 nicht leisten muß und daß der Preis 65 beträgt. Der Wert des Vertrages ermittelt sich wie folgt: 2. Variante Wert für U = 80% × (65–20) = Wert für B = 80% × (100–65) =
36. 28.
Schließlich betrachten wir die gleiche Situation bei gleichem Preis von 65, nur muß diesmal U das positive Interesse ersetzen, wenn er bei einer Kostensteigerung auf 200 nicht leistet: 3. Variante Wert für U = 80% × (65–20) + 20% × (100–65) = 36 – 7 = 29. Wert für B = 80% × (100–65) + 20% × (100–65) = 35. An dieser beispielhaften Kalkulation läßt sich unmittelbar einsehen, daß in den Varianten 2. und 3., in denen der Unternehmer von seiner Leistungspflicht bei hohen Kosten freigestellt wird, der Wert des Vertrages für U deutlich höher ist als bei der 1. Variante. Und dies obwohl in den Varianten 2. und 3. der Preis ein deutlich geringerer ist als in der Variante 1. Dies bedeutet, daß U die Leistung zu einem niedrigeren Preis anbieten kann, wenn er bei exorbitant hohen Kosten von der Leistungspflicht befreit wird. Die für die Verallgemeinerung der Interessen entscheidende Frage ist dann, ob auch der Besteller B ein wirtschaftliches Interesse hätte, sich auf diese Befreiung von der Leistungspflicht einzulassen; ob er also, unter idealen Bedingungen einem solchen Ausschluß der Leistungspflicht zustimmen würde.142 Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Aufgrund des niedri141 142
Nach Shavell Fn. 115, S. 340ff. Shavell Fn. 115, S. 345.
II. Die ökonomische Analyse des Primäranspruchs
239
geren Preises und des dadurch erhöhten Werts des Vertrages in den Varianten 2. und 3., wird B sich einer solchen Regelung nicht verschließen. Allerdings wird er, und das ist auch aus dieser Kalkulation zu ersehen, einem solchen Leistungsverweigerungsrecht vor allem (aber nicht nur) bei gleichzeitiger strikter Schadensersatzpflicht des Unternehmers zustimmen. Dann ist der Wert des Vertrages für ihn am höchsten.143 Dies ist also ein Beispiel für den Fall, daß die Parteien des Vertrages tatsächlich ein Interesse daran haben, für Ausnahmesituationen die Leistungspflicht in eine disjunktive Obligation zu verwandeln.144 Wenn die Produktionskosten unverhältnismäßig ansteigen, so soll der Schuldner gegen Leistung des positiven Interesses ein Leistungsverweigerungsrecht zukommen. Für diese Ausnahmefälle entspricht daher eine bloße Haftungsregel den idealtypischen Interessen der Parteien am ehesten. Hier wäre daher zu vermuten, daß ein zweckrationaler Besteller für den es keinen Unterschied macht, ob er die Leistung oder Schadensersatz erhält, ein Interesse an der Vereinbarung eines Leistungsverweigerungsrechts hätte. Diese Annahme ist problematisch, weil wie gesehen zweifelhaft ist, ob Schadensersatz wirklich alle Kosten des Bestellers erfaßt.145 Zu bedenken ist auch, daß dem Unternehmer und zuweilen dem Gericht das Leistungsinteresse des Bestellers unbekannt sein wird.146 Die Bestimmung des positiven Interesses ist dann mit Unsicherheit behaftet, so daß es zu einer Überkompensation oder Unterkompensation des Gläubigers kommen kann. In beiden Fällen sind die Effizienzberechnungen hinfällig, so daß auch die Unterstellungen hinsichtlich des mutmaßlichen Parteiwillens zweifelhaft erscheinen. Hinzu kommt die Gefahr, daß der Unternehmer seine Kosten künstlich aufbläht, weil er den Vertrag aus anderen Gründen bereut (moral hazard). Ein weitgehendes Leistungsverweigerungsrecht würde daher die Gefahr ineffizienter Nichterfüllung heraufbeschwören und die Kosten des Vertragsbruches externalisieren. Es kann daher allenfalls angenommen werden, daß die Parteien ein solches Leistungsverweigerungsrecht für Extremfälle in den Vertrag hineinschreiben. Vorschriften, die den Schuldner berechtigen, die Leistung wegen Unverhältnismäßigkeit der Kosten zu verweigern, wie etwa § 275 II oder § 635 III BGB, sind mit einem ökonomischen Modell erklärbar.147 Gleichzeitig widerlegen sie den Einwand, daß Primäransprüche notwendig ineffizient sind. Primäransprüche sind bei ausschließlich in Markteinheiten meßbarer Motivation der Parteien regelmäßig effizient, wenn sich die Parteien bei ihrer Kalkulation bei Eintritt in den 143 Die Schadensersatzpflicht des U ist von diesem Standpunkt aus, der »Preis«, den der Unternehmer für die Befreiung von der Leistungspflicht zu zahlen hat. 144 Shavell Fn. 115, S. 345. 145 S. Text bei Fn. 124 oben. 146 Aus diesem Grund sind Schäfer/Ott Fn. 96, S. 463, gegenüber der Festlegung einer »festen Opfergrenze« bei wirtschaftlicher Unmöglichkeit skeptisch. 147 Näher S. 277ff.
240
§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen
Vertrag nicht verschätzt haben. Wenn sich die Kosten der Herstellung anders entwickeln als erwartet, kann immer noch ein effizientes Ergebnis entweder durch Neuverhandeln erreicht werden oder durch die Gewährung eines Leistungsverweigerungsrechts. Der mutmaßliche Parteiwille geht dahin, daß die Partei in diesem Fall nicht leisten muß. Allerdings ist dies, wie gesehen, keineswegs eine zwingende Folgerung. Denn die Partei, die nicht leisten möchte, kann sich schließlich auch von der Leistungspflicht »freikaufen«. Ob eine Regel, wonach in diesem Fall ein Leistungsverweigerungsrecht besteht, effizienter ist, oder eine Regel, wonach die Leistungspflicht ungeschmälert fortbesteht, läßt sich mangels belastbarer empirischer Daten über die Transaktionskosten der Neuverhandlung nicht feststellen. Hier besteht daher ein Spielraum für den Gesetzgeber. Abschließend ist auf eine weitere mögliche Rechtfertigung der »wirtschaftlichen Unmöglichkeit« einzugehen, weil sie ebenfalls im weitesten Sinne auf der Förderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt beruht. Eine Basis für ein Leistungsverweigerungsrecht aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit der Kosten könnte auch in dem Notstandsgedanken gesehen werden.148 Danach wird dem Schuldner gestattet, in die Sphäre des Gläubigers einzugreifen (ihm sein Recht auf die Leistung zu entziehen), wenn das Interesse des Schuldners an der Erhaltung des gefährdeten Interesses wesentlich höherwertiger ist als das Leistungsinteresse.149 Ein solches Vorgehen könnte man deswegen als effizient ansehen, weil das höherwertige Rechtsgut gerettet wird. Die Kosten des Schuldners sind höher als das Leistungsinteresse des Gläubigers. Dies wäre nach dem Kaldor-Hicks Kriterium effizient, selbst wenn der Schuldner nicht das positive Interesse des Gläubigers ersetzen müßte, bzw. Schadensersatz zwar zu leisten wäre, dieser aber unterkompensierend wäre. Allerdings ist die im Text vorgeschlagene Rechtfertigung des Leistungsverweigerungsrechts schon deswegen vorzugswürdig, weil sie auf dem mutmaßlichen Willen der Parteien und gerade nicht auf dem interpersonellen Saldierungsgebot150 aufbaut. Dies ist die äußerste Grenze innerhalb deren materielle Erwägungen, Erfahrungs- oder Klugheitsregeln in einem dem Schutz subjektiver Rechte verpflichteten Theorie zum Tragen kommen können.
148 So etwa Lehmann Jb. für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, 1874, 215, 224ff., der das Eingriffsrecht mit einer strikten Entschädigungspflicht verknüpft. 149 Dieses Prinzip liegt etwa § 904 S. 1 BGB und § 34 S. 1 StGB zugrunde. 150 Dazu S. 124ff.
§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik Im vorliegenden Kapitel sind aus den überpositiven Grundlagen Argumente zu gewinnen für (oder auch gegen) die Güte und Überzeugungskraft der geltenden Regeln des positiven Rechts. Insbesondere dort, wo die »richtige« Anwendung der Regeln kontrovers ist, wird sich zeigen, ob aus der Arbeit an den Grundlagen auch im Umgang mit Fällen aus der Praxis Gewinn gezogen werden kann. Das Kapitel beginnt mit der Dogmatik des Primäranspruchs im deutschen Recht, erörtert sodann Alternativen dazu, und untersucht schließlich die Grenzen des Primäranspruchs, soweit sie spezifische Probleme aufwerfen. Ziel der Erörterung ist dabei jedoch nicht, eine umfassende Detailstudie der einzelnen Institute des Vertragsrechts anzufertigen, sondern Sachprobleme der gegenwärtigen Dogmatik exemplarisch im Lichte der Vertragstheorie einer Lösung zuzuführen.
I. Der Primäranspruch im deutschen Recht Läßt man einige Einsichten des vorigen Kapitels Revue passieren, so ließe sich in aller Kürze sagen: Das Versprechen der Leistung »gehört« dem Gläubiger. Der Schuldner darf notfalls gezwungen werden, seine Willkür zur Bewirkung der Leistung einzusetzen. Es kommt solange nicht auf Zurechnung an, solange die Leistung tatsächlich möglich ist und begehrt wird. Die Möglichkeit der Erfüllung bestimmt die Reichweite des Primäranspruchs. Die Dogmatik des deutschen Rechts harmoniert mit diesen Forderungen der Vertragstheorie, wie in Grundzügen bereits erläutert wurde.1 Der Primäranspruch wird auf der Ebene des materiellen Rechts regelmäßig gewährt. § 241 I BGB normiert gemeinsam mit § 311 I BGB, daß der Gläubiger kraft des Schuldvertrages dazu berechtigt ist, die Leistung vom Schuldner zu verlangen. Der Anspruch unterliegt keinen Einschränkungen, insbesondere setzt die Geltendmachung des Anspruchs eine zurechenbare Vertragsverletzung nicht voraus.2 Grundsätzlich entscheidet allein der Gläubiger, ob er den Primäranspruch geltend macht. Zu diesem Zweck steht ihm die Leistungsklage zur Verfügung, die wiederum ihrerseits keine zusätzlichen Einschränkungen 1
S. 195ff. S. 207, 217ff. Anders insoweit MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 24f., der die Zurechnung auch für den Primäranspruch (»in Randbereichen«) für maßgeblich hält. 2
242
§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
des subjektiven Rechts auf die Leistung vorsieht. Obsiegt der Gläubiger im Prozeß, kann er schließlich auf ein ausdifferenziertes Instrumentarium der Vollstrekkung des titulierten Anspruchs auf die Leistung zurückgreifen.
1. Die materiell-rechtliche Ebene Die erste Feststellung, die sich vor allem aus Sicht des common law aufdrängt, ist, daß das deutsche Recht für die Gewährung des Primäranspruchs nicht danach differenziert, ob es um den Anspruch auf die Leistung oder eine in Geld bemessene Gegenleistung geht. Auch fehlt jede weitere Einschränkung des Leistungszwangs auf materiell-rechtlicher Ebene.3 § 241 I BGB ist daher eine Vorschrift, die geradezu lehrbuchartig mit den überpositiven Grundlagen übereinstimmt. Im besonderen Schuldrecht finden sich Spezialnormen, die den Primäranspruch hinsichtlich der Vervollständigung der Leistung präzisieren.4 Daß der Primäranspruch umfassend gewährt wird, verhindert zumindest im Ausgangspunkt den opportunistischen Vertragsbruch.5 Bessere Angebote Dritter können, solange der Gläubiger den Primäranspruch durchsetzen kann, ihre verführerische Wirkung nicht entfalten. Effektiv verhindert der Primäranspruch den Vertragsbruch, ob effizient oder nicht, allerdings nur, wenn man eine strikte Durchsetzung durch staatliche Organe (oder durch Selbsthilfe) unterstellt. Wie noch zu zeigen sein wird, ist der Schutz des Primäranspruchs auf der dritten normativen Ebene weder vollständig noch besonders wirkungsvoll, so daß dem opportunistischen Schuldner durchaus Gelegenheit gegeben ist, den Primäranspruch zu unterlaufen. In dogmatischer Hinsicht ist der Primäranspruch nicht zuletzt durch die Schuldrechtsreform im Aufwind.6 Dort wurde sowohl der Anwendungsbereich des Leistungszwangs erweitert als auch der Primäranspruch den anderen Rechten des Gläubigers bei Vertragsverletzung in §§ 281, 314, 323 BGB vorgeschaltet. Beide Aspekte der Reform stoßen, um das Ergebnis vorweg zu nehmen, nicht auf Widerspruch von seiten der hier vertretenen Vertragstheorie. Bedenken bestehen vor allem im Hinblick darauf, daß gegenwärtig eine Tendenz besteht, den (nur eingeschränkt begründbaren) Vorrang des Primäranspruchs auf Kosten des Schutzes des Leistungsinteresses zu überhöhen. Die Problematik läßt sich anhand von drei Themenfeldern veranschaulichen. Zunächst ist auf den Ausgangspunkt des deutschen Rechts, die Nachfrist, einzugehen, sodann der »Vorrang« des Primäranspruchs vor den weiteren Rechten des Gläubigers bei Vertragsverletzung zu untersuchen und schließlich exemplarisch die Schwierigkeiten der Nacherfüllung beim Stückkauf zu erörtern. Die Grenze der Leistungspflicht wird gesondert am Ende des Kapitels behandelt. 3 4 5 6
Zumindest was den Schuldvertrag angeht. Anders etwa beim Verlöbnis nach § 1297 I BGB. So etwa in §§ 439, 535 I 2, 635 BGB. S. 234ff. Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 34, 77; Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 56.
I. Der Primäranspruch im deutschen Recht
243
a) Das Nachfrist-Modell Dem Primäranspruch wird im deutschen allgemeinen Schuldrecht vor allem durch das Nachfrist-Modell eine tragende Rolle zugewiesen.7 Der Gläubiger muß, um die Rechte Rücktritt, Minderung und Schadensersatz geltend machen zu können, dem Schuldner zunächst eine Nachfrist zur Erbringen der Leistung setzen.8 Auf dem Gedanken des Schuldnerschutzes beruht auch das auf das römische Recht9 zurückgehende Erfordernis der Mahnung in § 286 I BGB für die Begründung der Verzugshaftung.10 Dem Schuldner soll vor Augen geführt werden, daß er nunmehr schadensersatzpflichtig ist, wenn er die Leistung weiterhin schuldig bleibt.11 Sinn der Nachfrist ist es, wie es üblicherweise heißt, dem Schuldner Gelegenheit zu geben, eine bereits begonnene Leistungshandlung zu vollenden.12 Die Rücksicht auf den Schuldner geht nicht so weit, daß er etwa erst ab der Fristsetzung mit der Leistungsvorbereitung beginnen dürfte. Doch sind dies nur graduelle Unterschiede der Milde, die man dem Schuldner auf dem Kontinent traditionell entgegenzubringen bereit ist. Auch eine etwas strengere Handhabung der Fristlänge würde nichts daran ändern, daß der Schuldner bei diesem Modell erheblich günstiger dasteht als im common law. Dort gilt der Grundsatz: »The debtor must seek his creditor.«13 ohne Einschränkungen auch für die Haftung des Schuldners.14 Der Schuldner muß den Gläubiger suchen und nicht etwa umgekehrt der Gläubiger durch Fristsetzung oder Mahnung den Schuldner. Das kennzeichnende Moment des Nachfrist-Modells ist also nicht, daß der Gläubiger auf dem Primäranspruch bestehen kann. Dies ist selbstverständliche Folge der Gewährung des Primäranspruchs. Das Spezifische des Nachfrist-Modells ist, daß der Gläubiger bei Vertragsverletzung zunächst nur den Primäranspruch verfolgen kann. Der Nachfrist Ansatz war vor der Schuldrechtsreform für gegenseitige Verträge vorgesehen. Nunmehr gilt das Erfordernis der Nachfrist für das Recht auf Schadensersatz aus § 281 BGB auch für einseitige Leistungspflichten.15 Das ebenfalls vom erfolglosen Ablauf einer vom Gläubiger gesetzten Nachfrist abhängige Rücktrittsrecht des § 323 BGB ist dagegen auf gegenseitige Verträge beschränkt. Das Institut der Nachfrist gilt als »besonders geglückte Regelung des BGB«.16 7
Zu den historischen Wurzeln Huber, Leistungsstörungsrecht, Bd. 2, S. 323ff. m.w.N. Dies ergibt sich aus §§ 281 I, 323 I BGB. Auch die Kündigung ist regelmäßig durch eine Frist zur Abhilfe oder Abmahnung bedingt (s. etwa § 543 III 1 BGB). 9 Dazu etwa Mommsen, Mora, S. 35ff.; Zimmermann, The Law of Obligations, S. 792f. 10 Zu der Warnfunktion der Mahnung Wahl, Schuldnerverzug, S. 189ff.; Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 744ff. 11 Huber, Leistungsstörungsrecht, Bd. 1, S. 412. 12 Staudinger-Otto § 323 Rn. B 63. 13 Treitel, The Law of Contract, S. 753. 14 S. etwa Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. 1, S. 271. 15 MünchKommBGB-Emmerich § 281 Rn. 10. 16 Huber Fn. 7, S. 328. 8
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
Wenn Huber dem Nachfrist-Modell »Nachahmung« auf internationaler Ebene attestiert, so ist zu differenzieren. Es wurde in eingeschränkter Form für die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung eines gegenseitigen Vertrages sowohl im CISG17 als auch in den PECL18 übernommen. Für den Sekundäranspruch ist das Setzen einer Nachfrist grundsätzlich nicht erforderlich.19 Das Erfordernis der Mahnung ist beiden Regelwerken unbekannt.20 Für die Differenzierung zwischen dem Recht auf Vertragsaufhebung und dem Recht auf Schadensersatz gibt es stichhaltige Gründe. b) Nachfrist und Vertragsaufhebung Wenn der Schuldner nicht leistet, so kann der Gläubiger sein Recht auf die Leistung durchsetzen oder das positive Interesse geltend machen. Darüber hinaus kann er beim gegenseitigen Vertrag ein Interesse daran haben, seinerseits nicht leisten zu müssen. Der Primär- und Sekundäranspruch setzen die Bindung an den Vertrag gegenüber dem Schuldner durch. Wird das Leistungsinteresse des Gläubigers vollständig befriedigt, gibt es keinen Grund, ihn von der Pflicht, die Gegenleistung zu erbringen, zu befreien. Allerdings ist diese Befriedigung nicht sicher. Deshalb, wie in § 13 näher auszuführen sein wird, sieht das Recht bei Gefährdung des Gläubigerinteresses Mechanismen vor, die Bindung des Gläubigers an den Vertrag bei Vertragsverletzung zu schwächen oder ganz aufzuheben. Der Rücktritt ist ein solcher Mechanismus. Das Nachfrist-Modell ist die spezifisch deutsche Antwort auf die Frage, wann eine solche Gefährdung des Gläubigerinteresses vorliegt.21 Das Rücktrittsrecht wie die Vertragsaufhebung generell hat daher zum Ziel, die Bindung des Gläubigers an den Vertrag aufzuheben. Die Einschränkung des Rücktrittsrechts dient folglich dem Grundsatz pacta sunt servanda, denn sie stärkt die Bindung des Gläubigers an den Vertrag. Wenn § 323 I BGB daher vom Gläubiger verlangt, grundsätzlich erst eine Nachfrist zur Leistung zu
17
Art. 49 I lit. b, 64 I lit. b CISG (nur für den Fall des vollständigen Ausbleibens der Leistung). Für das Recht auf Vertragsaufhebung, wenn keine wesentliche Nichterfüllung vorliegt (Art. 9:301 II, 8:106 III PECL). Ungeachtet dessen kann der Gläubiger mit den Folgen des Art. 8:106 PECL eine Nachfrist setzen. Insofern würde die Nachfrist ausdrücklich unter Bezugnahme auf das deutsche Recht eingeführt: von Bar/Zimmermann, Grundregeln, Anmerkung zu Art. 8:106, S. 456. 19 Für das CISG ergibt sich dies aus Art. 74, 45 I lit. b, 61 I lit. b CISG, s. etwa Staudinger-Magnus Art. 74 CISG Rn. 8. Art. 9:501 PECL setzt ebenfalls nicht das Setzen einer Nachfrist voraus. Allerdings kann etwa nach der Ansicht von Schlechtriem, UN-Kaufrecht, Rn. 309 m.w.N., Ersatz des Erfüllungsinteresses hinsichtlich der ganzen Leistung nur verlangt werden, wenn die Voraussetzungen für die Vertragsaufhebung vorliegen. Vgl. Art. 75f. CISG, die die Folgen der Kombination von Vertragsaufhebung und Schadensersatz regeln. 20 von Bar/Zimmermann Fn. 19, S. 451 für die PECL; Schlechtriem Fn. 19, Rn. 286 für das CISG. 21 Zu den Alternativen näher S. 373ff. 18
I. Der Primäranspruch im deutschen Recht
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setzen, so ist dies mit der Bindung an den Vertrag zu rechtfertigen.22 Ob gerade der Nachfrist-Ansatz am besten geeignet ist, die Interessen bei der Vertragsaufhebung zum Ausgleich zu bringen, wird im Abschnitt zur Vertragsaufhebung23 zu klären sein. An dieser Stelle genügt der Hinweis, daß hinsichtlich der Vertragsaufhebung (einschließlich der Minderung) das Nachfrist-Modell eine plausible Rechtfertigung der Einschränkung der Bindung des Gläubigers an den Vertrag enthält. c) Nachfrist, Mahnung und Schadensersatz Das deutsche Recht unterwirft den Sekundäranspruch ebenfalls dem Erfordernis, daß der Gläubiger grundsätzlich zunächst den Primäranspruch geltend machen muß. Diese Parallelität ist nicht selbstverständlich. Die Rechtfertigung des Nachfrist-Modells bzw. der Mahnung ist hinsichtlich des Sekundäranspruchs eine grundlegend andere als die hinsichtlich der Vertragsaufhebung. Es ist, anders als bei der Vertragsaufhebung, a priori im Regelfall kein hinreichendes Interesse des Schuldners erkennbar, das es erfordern würde, dem Schuldner durch das Setzen einer Nachfrist Gelegenheit zu geben, eine ausgebliebene Leistung (in natura) nachzuholen. Das Versprechen der Leistung gehört dem Gläubiger. Dennoch mutet ihm das Gesetz Milde gegenüber dem Schuldner zu. Der Hinweis darauf, daß dieser Schuldnerschutz aus Gründen der »Fairneß« geboten ist, ist zwar geläufig,24 doch müßte zunächst erläutert werden, warum eine solche Privilegierung des Schuldners, eine Schonung über das hinaus, was er versprochen hat, »fair« ist. Der Schuldner hat sich zur Leistung zur vertraglichen Leistungszeit verpflichtet; sein Interesse daran, zu spät zu leisten ist kein legitimes Ansinnen. Der Primäranspruch besteht ab Fälligkeit a priori ungeschmälert. Deshalb bedeutet bereits das schlichte Nichtleisten eine Vertragsverletzung. Die Mäßigung bei der Durchsetzung des wertmäßigen Ausgleichs des Gläubigerinteresses wird durch die zivilprozessualen Regeln der Verhältnismäßigkeit sicher gestellt.25 Das Nachfrist-Modell und das Erfordernis der Mahnung dienen, anders als beim Rücktritt, auch nicht der Durchsetzung des Prinzips pacta sunt servanda. Der Primäranspruch dient zwar der Verwirklichung der Bindung des Schuldners an den Vertrag. Das Bestehen auf der Nachfrist gegen den Willen des Gläubigers ist allerdings durch das überpositive Prinzip von pacta sunt servanda – zumindest nach dem vorliegend vertretenen Verständnis dieses Grundsatzes – nicht gefor-
22 Dieser Gesichtpunkt stand denn auch bei der Neuregelung im Vordergrund, s. Canaris JZ 2001, 499, 510. 23 S. 366ff. 24 In diese Richtung argumentierend etwa Huber Fn. 11, S. 29ff. 25 Dazu S. 253ff.
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
dert. Demgegenüber wendet Lorenz26 ein, daß das Nachfristmodell auch in dieser Hinsicht, also bezüglich des Sekundäranspruchs, die Bindung an den Vertrag und damit das Prinzip pacta sunt servanda stärke. Zwar sei der Schuldner vertragsbrüchig, doch könne sich der Gläubiger ebenfalls nicht ohne weiteres auf ein Recht zum sofortigen Schadensausgleich berufen. Schließlich entspreche der vertraglichen Vereinbarung unmittelbar nur der Austausch der vereinbarten Leistungen selbst. Somit würden die Parteien durch das Nachfristmodell, zunächst jedenfalls, an dem vertraglich intendierten Regelungsziel festgehalten. Dieser Einwand beruht auf einem Verständnis der Bindung an den Vertrag das weiter ist, als dasjenige, das vorliegend vertreten wird: Das subjektive Recht, das im Primäranspruch verkörpert ist und um dessen Durchsetzung es geht, ist das erworbene Recht des Gläubigers. Es steht damit grundsätzlich zu seiner freien Disposition. Der Primäranspruch enthält daher a priori eine Befugnis des Gläubigers, den Schuldner zur Leistung zu zwingen. Das Nachfrist-Modell wandelt die Befugnis in eine Obliegenheit des Gläubigers um, deren Nichtbeachtung den völligen Ausschluß des Sekundäranspruchs bedeutet. Ähnliches gilt für die Mahnung: Ohne daß der Schuldner vom Gläubiger auf die Vertragsverletzung »hingewiesen« wird, entsteht die Haftung auf den Verzögerungsschaden gar nicht erst. Die vertragstheoretische Rechtfertigung dieser Besonderheiten des deutschen positiven Rechts bedarf also weiterer Überlegungen. Der Eingriff in die Rechtsmacht des Gläubigers, frei über das Schicksal der Leistung zu entscheiden, läßt sich auf eine pragmatische Überlegung stützen: Durch die Nachfrist werden die Parteien zunächst zur Kooperation gezwungen, zumindest einen Versuch zu unternehmen, den Vertrag zu retten, bevor der Gläubiger den wertmäßigen Ausgleich seines Leistungsinteresses durch gerichtlichen Schutz begehrt.27 Dies mag zweckmäßig sein und auch den Parteien auf das Ganze gesehen nützlich sein. Zweifellos ist es geeignet, die Gerichte zu entlasten und Transaktionskosten zu vermeiden, die bei allzu schneidigem Gläubigerrecht anfallen könnten. Freilich hätte die allgemeine Schadensminderungsobliegenheit in § 254 II BGB ausgereicht, um den Gläubiger dazu anzuhalten, Schäden, die durch Kooperation mit dem Schuldner vermeidbar wären, auch tatsächlich durch Gewährung einer Nachfrist oder durch eine (Er-)Mahnung zu vermeiden.28 Es muß aber betont werden: Der generelle Ausschluß des Sekundäranspruchs bei Fehlen dieser Voraussetzungen ist nicht durch den Grundsatz pacta sunt servanda geboten, denn dieser besagt lediglich, daß der Gläubiger, wenn er denn diesen Weg gehen will, die Leistung vom Schuldner begehren kann. Bestätigt wird die pragmatische Rechtfertigung des Nachfrist-Modells und der Mahnung durch die Art und Weise, in der die Ausnahmen dazu in §§ 281 II, 286 II 26 27 28
Vgl. etwa Lorenz NW 2006, 1175. So etwa Huber Fn. 11, S. 47f. Dies ist der Ansatz etwa des U.S.-Rechts. Dazu S. 251.
I. Der Primäranspruch im deutschen Recht
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und auch 323 II BGB normiert sind.29 Es macht in praktischer Hinsicht keinen Sinn, darauf zu bestehen, daß der Gläubiger die Leistung fordern muß, wenn etwa der Schuldner diese »endgültig und ernsthaft« verweigert. Desgleichen ist die instrumentelle Beschränkung des Schadensersatzes jedenfalls dann nicht mehr hinnehmbar, wenn dem Gläubiger ausnahmsweise,30 wenn sein Vertrauen in den Schuldner zerstört ist, nicht zugemutet werden kann, mit dem Schuldner weiterhin zu kooperieren.31 Das Gesetz ist hier etwas irreführend, wenn es in §§ 281 II, 286 II Nr. 4 BGB auf die Abwägung der »beiderseitigen« Interessen abstellt. Um das Interesse des Schuldners kann es nicht gehen, denn sein Begehren, verspätet zu leisten, ist wie erläutert im Hinblick auf den Sekundäranspruch nicht schutzwürdig.32 Aus diesen Überlegungen zur Fundierung des Nachfrist-Modells lassen sich also zumindest Auslegungsrichtlinien für die Handhabung der Ausnahmen gewinnen: Im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes sind an das Vorliegen der Ausnahmen in der Praxis keine allzu strengen Anforderungen zu stellen.33 Das Beharren der Reformkommission auf dem Erfordernis, daß eine Frist tatsächlich vom Gläubiger gesetzt werden muß,34 erscheint demgegenüber vor dem Hintergrund der schwachen Rechtfertigung des Nachfrist-Modells für § 281 BGB zweifelhaft.35 Die Alternative wäre gewesen, eine Frist angemessener Länge von Gesetzes wegen laufen zu lassen. Auch diese Forderung nach dem »Setzen« der Frist zeigt aber die pragmatische Natur der Einschränkung der Gläubigerrechte auf. Denn wenn den Parteien durch das Verfahren der Frist-Setzung vor Augen geführt wird, daß noch eine Chance zur Rettung des Vertrages besteht, erhöht sich prima facie die Wahrscheinlichkeit, daß die Leistung tatsächlich noch erfolgt. Wenn die Frist insgeheim abläuft, ist die Gefahr eines »beiläufigen« Vertragsscheiterns höher. d) Verhältnis von Vertragsaufhebung und Sekundäranspruch Das Ergebnis der Überlegungen zur Einschränkung des Sekundäranspruchs ist, daß diese Einschränkungen anders als bei der Vertragsaufhebung nur schwach ge29
Überblick bei Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, § 16 Rn. 31ff.; § 18 Rn. 37ff. Das BGB geht also davon aus, daß die Kooperation grundsätzlich zumutbar ist. 31 Staudinger-Otto § 281 Rn. B 122 m.w.N. 32 Im Hinblick auf den Rücktritt besteht dagegen ein schutzwürdiges Interesse des Schuldners, die entsprechende Formulierung in § 323 II Nr. 3 BGB daher gerechtfertigt. 33 Es ist daher auch zu begrüßen, daß die Rechtsprechung, was die Länge der Frist angeht, bereits frühzeitig keine übertriebene Strenge an den Tag gelegt hat, sondern diese kurzerhand selbst verlängert, wenn der Gläubiger die »richtige« Länge verfehlt, N. bei Staudinger-Otto § 281 Rn. B 69. 34 Canaris (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung 2002, S. 374f. zu § 323 KonDiskE. 35 Hinsichtlich § 323 BGB ist das Erfordernis der Fristsetzung vor dem Hintergrund der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zweifelhaft, näher Unberath ZEuP 2005, 5, 28ff. 30
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
rechtfertigt sind. Wenn der Sekundäranspruch im Einzelfall die Wirkung der Vertragsaufhebung hätte, würde jedoch die starke Rechtfertigung des Nachfristmodells auch für den Sekundäranspruch eingreifen.36 Dies ist jedoch nicht der Fall: »Nunmehr ist die Berechtigung, Schadensersatz statt der Leistung zu verlangen, ausschließlich in § 281 (sowie §§ 282, 283) geregelt und damit in Vorschriften, die ihrer systematischen Stellung und ihrem Wortlaut nach keinerlei Rechtsfolge hinsichtlich der Gegenleistungspflicht enthalten.«37
Damit folgt aus der Geltendmachung des Schadensersatzes nicht die Aufhebung der Bindung des Gläubigers an den Vertrag. Der Gläubiger kann Schadensersatz statt der ganzen Leistung verlangen, ohne daß dies die Vertragsaufhebung bedeuten würde. Wenn der Sekundäranspruch hinsichtlich des Substituts der ganzen Leistung geltend gemacht wird, ohne daß der Gläubiger vom Vertrag zurücktritt, so bleibt er zur Erbringung der Gegenleistung verpflichtet, was auch bisher als sogenannte »Austausch- bzw. Surrogationsmethode«38 anerkannt war.39 Die Leistung kann der Gläubiger gemäß § 281 IV BGB dann nicht mehr verlangen, er muß selbst aber die Gegenleistung erbringen.40 Erklärt der Gläubiger den Rücktritt und verlangt Schadensersatz, so ist dieser nach der sogenannten »Differenzmethode« zu berechnen.41 Wird Schadensersatz nach der Differenzmethode verlangt, muß der Gläubiger daher zurücktreten. Nach der Gegenansicht soll ein »freies Wahlrecht« zwischen Differenzmethode (ohne die Notwenigkeit eines Rücktritts) und Surrogationsmethode bestehen.42 Dann hätte das Begehren von Schadensersatz nach der Differenzmethode eine der Vertragsaufhebung vergleichbare Wirkung, nämlich die Befreiung des Gläubigers von der Pflicht, die Gegenleistung zu erbringen. Ein solches Vorgehen würde jedoch die grundsätzlich verschiedenen Wertungen für den Sekundäranspruch und den Rücktritt ver-
36
So in der Tat Grundmann AcP 204 (2004), 569, 586f. MünchKommBGB-Ernst § 325 Rn. 8; ebenso Soergel-Gsell § 325 Rn. 18. 38 Für freie Wahl zwischen Differenz- und Surrogationsmethode auch MünchKommBGBEmmerich Vor § 281 Rn. 28. 39 MünchKommBGB-Ernst § 325 Rn. 11. Für ein solches Recht des Gläubigers bei noch nicht erbrachter Gegenleistung auch Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 5, 82. 40 Daß der Gläubiger bei Gleichartigkeit der Leistungen durch Aufrechnung nach § 387 BGB ein dem Rücktritt ähnliches Ergebnis erzielen kann, ist allein Folge dessen, daß die Aufrechnung als Selbsthilferecht hinsichtlich der Gegenforderung zugelassen wird. Freilich wird der Gläubiger in diesen Fällen den Rücktritt vorziehen, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen, denn die Aufrechnung greift nur bei noch nicht erbrachter Gegenleistung. 41 MünchKommBGB-Ernst § 325 Rn. 7. Auch MünchKommBGB-Emmerich Vor § 281 Rn. 26, geht davon aus, daß, wenn der Schadensersatz des Gläubigers nach der Differenzmethode berechnet wird, die Befreiung von der Pflicht die Gegenleistung zu erbringen aus dem Rücktritt folgt. 42 So etwa Staudinger-Otto § 325 Rn. 27; wohl auch MünchKommBGB-Emmerich Vor § 281 Rn. 28. 37
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mengen und ist nunmehr, nach den Verbesserungen des Rücktrittsrechts durch die Schuldrechtsreform,43 auch dogmatisch nicht mehr naheliegend. e) Unbedingter Vorrang des Primäranspruchs? Das Nachfrist-Modell hat noch weitere Implikationen. Über die Schnittstellen der §§ 437, 637 BGB gilt die Vorschaltung des Primäranspruchs in §§ 281 I, 323 I BGB auch für die Fälle der Schlechtleistung. In diesen Fällen muß also dem Schuldner Gelegenheit zur Nacherfüllung gegeben werden. Für den Gläubiger bedeutet dies, daß er zunächst den Primäranspruch geltend machen muß. Es steht ihm grundsätzlich nicht frei, auf die Durchsetzung des Primäranspruchs zu verzichten und sofort auf weitere Rechte zurück zu greifen, um sein Leistungsinteresse zu befriedigen. Darin ist die Sprache des Gesetzes eindeutig. Mehr noch, wenn der Gläubiger dies dennoch tut, so geht er das Risiko ein, sämtlicher Rechte verlustig zu gehen. Betrachten wir das Beispiel44 eines Käufers, der die erforderliche Reparatur einer mangelhaften Kaufsache von einem Dritten vornehmen läßt, und nunmehr die dafür angefallenen Kosten vom Schuldner verlangt.45 Hinsichtlich der auf § 323 BGB basierenden Rechte (Rücktritt und Minderung) ordnet § 323 VI BGB an, daß der Gläubiger diese Rechte verliert, wenn er den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, überwiegend verantwortlich ist. Der Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigt, ist die Unmöglichkeit der Nacherfüllung gemäß § 326 V BGB, die Kaufsache ist bereits vertragsgemäß.46 Für diesen Umstand ist der Käufer, der »voreilig« den Mangel durch Dritte beheben läßt, aber selbst verantwortlich. Rücktritt und Minderung scheiden daher aus. Da die Nacherfüllung unmöglich geworden ist, wäre § 283 BGB die Anspruchsgrundlage für den Schadensersatz statt der Leistung. Wiederum ist aber wegen des Umgehens der Fristsetzung der Käufer für die Unmöglichkeit der Reparatur »verantwortlich« zu machen. Nach erstem Anschein kann der Gläubiger keine Rechte wegen der Vertragsverletzung geltend machen. Dies ist in der Tat auch das Ergebnis der höchstrichterlichen Klärung der Frage.47 Die Fragwürdigkeit des Ergebnisses liegt auf der Hand, wenn man sich den Regelungszweck des Nachfrist-Modells vergegenwärtigt: Ob der Gläubiger den Primäranspruch oder den Sekundäranspruch geltend macht, ist a priori eine ihm
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Dazu S. 366ff. Für einen Überblick der Fallgruppen, in denen sich das Problem der »voreiligen Selbstvornahme« stellt Herresthal/Riehm NJW 2005, 1457. 45 Lorenz NJW 2003, 1417. 46 Lorenz NJW 2003, 1417; a.A. etwa Gsell ZIP 2005, 922, 923. 47 BGH NJW 2005, 1348 m.w.N. zum ausufernden Schriftum; zustimmend etwa Sutschet JZ 2005, 574; bestätigt in BGH NJW 2005, 3211. So bereits Dauner-Lieb/Dötsch ZGS 2003, 250. 44
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zugewiesene Entscheidung.48 Aus Gründen der Zweckmäßigkeit, nämlich der Vermeidung von überflüssigen Transaktionskosten, wird dem Gläubiger auferlegt, zunächst den Primäranspruch geltend zu machen, damit der Schuldner Gelegenheit erhält, die Störung zu beseitigen.49 Was den Rücktritt angeht, ist diese Einschränkungen mit dem Prinzip pacta sunt servanda vereinbar und der Ausschluß des Rechts bei voreiliger Selbstvornahme gerechtfertigt. Bezüglich des Sekundäranspruchs, ist die Einschränkung jedoch bloß pragmatisch gerechtfertigt. Wenn der Gläubiger vorzieht, mit dem Schuldner nicht weiter zu kooperieren und die Selbstvornahmekosten als Schadensersatz verlangt, so wäre dieses Verlangen ohne das Nachfrist-Modell begründet.50 Beraubt man dem Gläubiger dieses Rechts wegen seines Beharrens auf einer ihm a priori zustehenden Rechtsposition zur Gänze, so wird das Nachfrist-Modell formalistisch verabsolutiert. Dadurch werden die Regeln des Privatrechts zu Strafsanktionen für gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten51 und wohlerworbene subjektive Rechte diesen instrumentell-präventiven Erwägungen zuliebe geopfert.52 Freilich ist dieses Ergebnis dogmatisch keineswegs zwingend und der Hinweis des BGH auf den abschließenden Charakter der Verweisungsnormen des besonderen Schuldrechts (im konkreten Fall § 437 BGB)53 ein Zeugnis der Hilflosigkeit angesichts der scheinbar eindeutigen Implikationen des Nachfrist-Modells.54 Der BGH hätte dem »voreiligen« Käufer dasjenige zusprechen müssen, was der Verkäufer durch die Selbstvornahme der Nacherfüllung an Aufwendungen erspart hat. Diese Lösung ist methodisch zulässig und teleologisch sinnvoll. Sie ist in § 326 II 2 BGB als allgemeiner Grundsatz vorgesehen.55 Damit ist auch der instrumentellen Zielrichtung der Nachfrist genüge getan, denn der Gläubiger wird schlechter gestellt, als er es wäre, wenn er dem Schuldner eine weitere Chance gegeben hätte.56 Ein »Recht« des Schuldners zu postulieren, eine zweite Chance zu erhalten, das verletzt werden könne,57 verkennt, daß der Schuldner nicht darin
48 Vgl. auch Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht AT, Rn. 459, die die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Rechtsbehelfe des Gläubigers betonen. 49 Der Schuldner hat also nicht etwa ein »Recht« auf eine zweite Andienung, Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 5, 114ff. 50 Vorausgesetzt, der Schuldner begeht eine zurechenbare Pflichtverletzung und vorbehaltlich von § 254 II BGB. 51 Hier dem möglichst späten Anrufen der Gerichte. 52 Bydlinski ZGS 2005, 129, 130; Lorenz NJW 2005, 1321, 1323. 53 BGH NJW 2005, 1348, 1350. 54 Lorenz NJW 2005, 1321, 1322. 55 Im einzelnen Lorenz NJW 2003, 1417. Für Heranziehung des bereicherungsrechtlichen Grundgedankens von § 326 II 2 BGB Gsell ZIP 2005, 922, 925ff. m.w.N. 56 Er erhält Ersatz nur in Höhe der ersparten Aufwendungen und nicht die tatsächlichen Kosten der Selbstvornahme. 57 So aber etwa Staudinger-Matusche-Beckmann § 439 Rn. 4; Kandler, Kauf und Nacherfüllung, S. 634ff.
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Schutz verdient, verspätet zu leisten.58 Allenfalls ist das Interesse des Schuldners daran schützenswert, daß der Gläubiger den durch die Vertragsverletzung entstehenden Schaden gering hält.59 Auf diesen Aspekt ist nunmehr einzugehen; er gilt andernorts als der allein maßgebliche. Das common law, dem das Nachfrist-Modell fremd ist, nimmt den Schutz subjektiver Rechte (in dieser Hinsicht) ernst. Es hat eine alternative Lösung der »voreiligen Selbstvornahme« zu bieten: die Schadensminderungsobliegenheit des Gläubigers.60 Ausgangspunkt ist, daß, wenn ein Vertrag verletzt wird, der Gläubiger regelmäßig nicht dazu gehalten ist, mit dem Schuldner weiter zu kooperieren.61 Diese Regel entspricht der hier bevorzugten Ansicht und liegt etwa § 249 II BGB zugrunde. Ausnahmsweise kann es aber doch naheliegen, daß der Gläubiger weiterhin mit dem Schuldner kooperiert, insbesondere, wenn dieser das Leistungsinteresse des Gläubigers zu geringeren Kosten befriedigen kann. Hält sich der Gläubiger in einem solchen Fall nicht an den Schuldner, so verliert er seine Rechte aber nur in der Höhe, in der er den Schaden durch Kooperation mit dem Schuldner hätte vermeiden können.62 Das Gericht kann im Einzelfall prüfen, ob der Gläubiger den Schaden hätte gering halten können und sollen. Der entscheidende Vorteil aber ist, daß man den Gläubiger nicht dazu zwingt, mit dem Schuldner zu kooperieren, wenn er dies nicht wünscht. Er muß bei dieser ObliegenheitsLösung allenfalls den »Preis« eines Abschlags auf die Schadenssumme zahlen. Diese alternative Lösung ist zwar aus Sicht der Vertragstheorie überzeugender, aber mit dem deutschen Recht nicht vereinbar: Dieses mutet es dem Gläubiger in der Regel zu, mit dem Schuldner weiterhin zu kooperieren. Das Nachfrist-Modell würde, wenn man die Rechte des »voreiligen« Gläubigers nur ausnahmsweise schmälern würde, wie dies im common law der Fall ist, weitgehend in Frage gestellt. Dogmatisch de lege lata im deutschen Recht bietet sich jedoch, wie erläutert, der Weg über § 326 II 2 BGB an.
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Vgl. auch Lorenz NJW 2005, 1321, 1322 (Obliegenheit des Käufers); s. auch Fn. 49, oben. Vgl. § 254 II BGB; bei Anwendung des § 326 II 2 BGB besteht diese Gefahr von vornherein nicht. 60 Hillman 47 Colorado L.Rev. 553 (1976). 61 Canadian Indus. Alcohol Co. v. Dunbar Molasses Co., 258 N.Y. 194, 200–201, 179 N.E. 383, 385 (1932) (»The plaintiff replied in substance that it had no longer any faith in the defendant’s readiness or ability to live up to its engagements, and did not wish to add another contract to the one already broken. The law did not charge it with a duty to make such an experiment again.«). W-V Enterprises, Inc. v. Federal Sav. & Loan Ins. Corp., 234 Kan. 354, 367, 673 P2d 1112, 1122 (1983) (»there is no obligation to mitigate damages if the mitigation involves dealing with the defaulting party«). 62 Das entspricht im Ergebnis der Regelung des § 326 II 2 BGB. 59
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f) Nacherfüllung beim Stückkauf Die Nacherfüllung beim Stückkauf wurde durch die Schuldrechtsreform in § 439 BGB eingeführt.63 Am Beispiel dieses Anspruchs lassen sich weitere Konsequenzen der überpositiven Grundlagen für die Dogmatik des Primäranspruchs aufzeigen. Es ist vom Standpunkt der Vertragstheorie zu begrüßen, daß der Nacherfüllungsanspruch für den Stückkauf besteht. Denn der Anspruch auf die Leistung verwirklicht die Bindung des Schuldners an den Vertrag. Wenn die Leistung ausbleibt, ist der Gläubiger ohne weiteres berechtigt, den Primäranspruch geltend zu machen. Es gibt keinen Grund a priori danach zu differenzieren, in welcher Hinsicht die Leistung nicht erbracht wurde. Dies ist nunmehr auch hinsichtlich der Schlechtleistung beim Stückkauf der Fall. Die Reichweite des Anspruchs auf Nacherfüllung aus § 439 BGB ist für den Stückkauf allerdings unsicher. Definitionsgemäß besteht der Stückkauf in einem Kaufvertrag über eine spezifische, also nicht der Gattung nach bestimmten Sache (§ 243 I BGB). Wenn eine bestimmte Sache Gegenstand des Kaufvertrages ist, so ist das Leistungsinteresse des Gläubigers definitionsgemäß auf diesen Gegenstand beschränkt. Eine andere Sache als die spezifisch vereinbarte hat keinerlei Berührungspunkte mit dem konkret abgeschlossenen Kaufvertrag, sei sie dem Kaufgegenstand noch so ähnlich. Der Käufer hat sie nicht gekauft und allein der Wille der Parteien bestimmt den Gegenstand des Vertrages. Dennoch wird die Frage, ob »beim Stückkauf« die Nacherfüllung durch Lieferung einer anderen Sache als der vereinbarten64 erfolgen könne, kontrovers diskutiert.65 Die Fragestellung erstaunt, denn wenn tatsächlich ein Stückkauf, so wie er eben definiert wurde, geschlossen wurde, so kann der Primäranspruch niemals auf die Lieferung einer anderen Sache als der geschuldeten gerichtet sein.66 Die Nacherfüllung kann dann nicht in der Lieferung einer anderen Sache bestehen. Alles andere hieße, den Willen der Parteien ignorieren67 und die Gerichte dazu aufzufordern, »sehenden Auges« den Leistungsgegenstand auszutauschen. Ein solches Ansinnen würde den Schutz des subjektiven Rechts aus Vertrag in Zweifel ziehen.
63 Sie ist im Anwendungsbereich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf auch europarechtlich vorgegeben. Zum Hintergrund Westermann JZ 2001, 530, 536f. 64 Für den Fall des sogenannten »Identitätsaliuds« verwirklicht die Lieferung der eigentlich geschuldeten Sache im Wege der Nachlieferung die Parteivereinbarung. Sie ist daher zulässig. S. etwa P. Huber NJW 2002, 1004, 1006; Lorenz JuS 2003, 36. 65 Für die Nachlieferung auch beim »Stückkauf« etwa Oechsler NJW 2004, 1825, 1829; LG Ellwangen NJW 2003, 517; dagegen etwa P. Huber NJW 2002, 1004, 1006; Ackermann JZ 2002, 378, 379; Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, Rn. 505. Die Unterscheidung zwischen Stück- und Gattungskauf für irrelevant hält etwa Canaris JZ 2003, 831; OLG Braunschweig NJW 2003, 1053. Überblick über den Meinungsstand bei Gruber JZ 2005, 707, der konstatiert, daß die erstgenannte Ansicht »herrschend« ist. 66 Es ist den Parteien natürlich freigestellt, den Vertrag nachträglich zu ändern. 67 P. Huber NJW 2002, 1004, 1006; Ackermann JZ 2002, 378, 379.
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Dieser paternalistischer Eingriff ist auch durch die Richtlinie nicht geboten.68 Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 1999/44/EG lautet schlicht: »Gebrauchte Güter können aufgrund ihrer Eigenart im allgemeinen nicht ersetzt werden. Bei diesen Gütern hat der Verbraucher deshalb in der Regel keinen Anspruch auf Ersatzlieferung.«
Daraus kann abgeleitet werden, was nicht zweifelhaft ist, daß beim Kauf eines gebrauchten Gutes ein Anspruch auf Ersatzlieferung möglich ist. Daraus kann nicht abgeleitet werden, daß den Kaufvertragsparteien eine andere als die geschuldete Sache aufgedrängt werden soll. Diese Passage setzt voraus, daß die Parteien die Güter als ersetzbar ansehen.69 Die Begriffe Stück- und Gattungsschuld sind der Richtlinie zwar fremd,70 doch tritt an deren Stelle das Kriterium der »Ersetzbarkeit« nach dem Inhalt des Vertrages.71 Bei näherer Analyse offenbart sich also, daß lediglich in den Fällen, in denen in dem Vertrag eine austauschbare Leistung vereinbart wurde und es den Parteien nicht darauf ankommt, die konkrete Sache zu erhalten, sondern eine Sache, die eine bestimmte Eigenschaft oder Funktion aufweist, die Nachlieferung zugelassen werden soll. In der Sache ist dies die Differenzierung zwischen Stückschuld, es wird nur ein Gegenstand geschuldet, und Gattungsschuld, es wird ein nach abstrakten Merkmalen bezeichneter, daher ersetzbarer Gegenstand, geschuldet. Ist der Wille der Parteien auf die einzelne Sache beschränkt, scheidet die Nachlieferung aus. Entscheidend ist somit die Auslegung des Vertrages im Einzelfall. Der Primäranspruch und ein solcher ist der Nacherfüllungsanspruch wird ausschließlich durch den Inhalt des Vertrages festgelegt. Wenn man »Stückkauf« als Kauf über einen bestimmten Gegenstand definiert, dient die »Nacherfüllung« durch Lieferung einer anderen Sache, sei sie vergleichbar oder nicht, nicht mehr der Durchsetzung des Primäranspruchs. Mit dem Vertragsgedanken wäre dies jedenfalls nicht zu rechtfertigen.
2. Der Leistungszwang in der Vollstreckung Das subjektive Recht, das der Primäranspruch verkörpert, ist ein Recht des Gläubigers gegen den Schuldner, diesen zur Leistung zu bestimmen, notfalls zwangsweise. Es ist die Aufgabe des Staates, des öffentlichen Rechts im allgemeinen, diesen Zwang sicherzustellen. Der Leistungszwang verändert also nicht den Primäranspruch, sondern sichert ihn lediglich. Der Zwang ist im subjektiven Recht selbst angelegt.72 Wenn der Schuldner zur Leistung gezwungen wird, so verwirk68
Dies befürchtend Gruber JZ 2005, 707. Zur Maßgeblichkeit der Idee der Vertragsfreiheit für den Begriff der Vertragswidrigkeit in der Richtlinie Unberath ZEuP 2005, 5, 9ff. 70 Darauf stellt Canaris JZ 2003, 831, 834, ab. 71 Canaris JZ 2003, 831, 835. 72 Dazu S. 43ff., 162ff. 69
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licht sich die Herrschaft des Gläubigers über einen Ausschnitt aus der Person des Schuldners, nämlich dessen Kausalität, die Leistung zu bewirken. Dieses subjektive Recht erhält dadurch notwendigen Charakter. Voraussetzung für seine zwangsweise Durchsetzung ist, daß ein Gericht sich von seinem Bestehen überzeugt hat, davon also, daß das subjektive Recht auf der zweiten Ebene auch wirklich erworben wurde. Das deutsche Zivilprozeßrecht stellt dem Schuldner dafür in erster Linie die Leistungsklage zur Verfügung, deren Zweck somit darin besteht, einen Anspruch im Sinne des § 194 BGB (das subjektive Recht) durchzusetzen.73 Das war zusammengefaßt das Ergebnis der Analyse des Primäranspruchs mit Hilfe der drei normativen Ebenen der subjektiven Rechte. Ist der Anspruch einmal tituliert und liegen die sonstigen formellen Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung nach den §§ 704ff., 750 ZPO vor, kann der Leistungszwang einsetzen. Im vorherigen Kapitel zu den überpositiven Grundlagen des Primäranspruchs wurde jedoch bereits ausgeführt, daß der staatliche Zwang dem Gebot der Verhältnismäßigkeit unterliegt.74 Dies ist gegenwärtiges, keinerlei grundsätzlichen Zweifeln ausgesetzten Verfassungsrecht.75 Den Schuldner an den Pranger zu stellen, weil die Bauleistung mangelhaft ist, verbietet sich, selbst wenn man sich davon eine generalpräventive Wirkung versprechen könnte. Der Leistungszwang muß das rechte Maß einhalten. Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgt weiterhin, daß der Leistungszwang grundsätzlich pragmatischen Erwägungen unterliegt. Bereits die Frage der Geeignetheit des Zwangs wirft die Frage nach der Mittel-Zweck-Relation auf, die nur mit Hilfe hypothetischer Imperative beantwortet werden kann. Der Anordnung von Leistungszwang geht stets die in die Zukunft gerichtete und nur a posteriori verifizierbare Prognose voraus, daß das Zwangsmittel (im weiteren Sinn) die Befriedigung des Gläubigerinteresses bewirken wird. Des weiteren sind für die Frage, ob es ein milderes ebenfalls geeignetes Mittel gibt, ebenfalls pragmatische Überlegungen maßgeblich. Auf der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit, der Angemessenheit im engeren Sinn, sind schließlich wieder allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien relevant, die auf die Schutzwürdigkeit der betroffenen (grundrechtlichen) Rechtsposition des Schuldners abstellen.
73 Schilken, Zivilprozeßrecht, Rn. 179. Dem gleichen Ziel wenn auch nur mittelbar dient die Feststellungsklage (§ 256 ZPO), mit der eine Klärung der wirklich bestehenden Rechtsverhältnisse (auf der zweiten Ebene) erreicht werden kann. Nur die Leistungsklage ermöglicht die Zwangsvollstreckung, denn die Feststellungsklage führt nicht zu einem Vollstreckungstitel. Da damit nur die Leistungsklage das Rechtsschutzziel (auf der dritten normativen Ebene) umfassend verwirklicht, ist die Feststellungsklage grundsätzlich subsidiär, Schilken aaO. Rn. 186. 74 Das in einer Vielzahl von Vorschriften zum Schuldnerschutz konkretisiert ist: z.B. §§ 721, 765a, 811, 850, 888 III ZPO.S. insbesondere die bei § 765a ZPO zu treffende Abwägung, Stein/ Jonas-Münzberg § 765a Rn. 5ff. 75 S. etwa zum Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG: BVerfG FamRZ 2005, 1972; NJW 1998, 295; BVerfGE 52, 214.
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Das deutsche Recht bietet für diese Sachprobleme eine differenzierte Lösung an. Das achte Buch der ZPO unterscheidet danach, ob die Vollstreckung wegen einer Geldforderung erfolgt (§§ 803ff. ZPO) oder auf die Erwirkung der Herausgabe von Sachen und zur Erwirkung von Handlungen und Unterlassungen gerichtet ist (§§ 883ff. ZPO). Der Schutz des Rechts durch staatlichen Zwang erfolgt ungeachtet des materiell-rechtlichen Substrats des subjektiven Rechts. Es ist Aufgabe des Erkenntnisverfahrens, festzustellen, ob das subjektive Recht besteht. Wenn es besteht, ist es ungeachtet seines Ursprungs zwangsweise durchzusetzen. Die materiell-rechtliche Begründetheit des Rechts kann dann grundsätzlich nur hinsichtlich von Umständen relevant sein, die erst nach Abschluß des Verfahrens entstanden sind.76 a) Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen Das angeborene Freiheitsrecht des Schuldners am wenigsten tangierend ist der Leistungszwang wegen der Vollstreckung einer Geldforderung. Aus diesem Grund läßt ihn, soviel ist bereits deutlich geworden, auch das common law regelmäßig zu. Diese Art der Vollstreckung richtet sich gegen das gesamte Vermögen des Schuldners,77 also seine erworbenen Rechte. Dazu gehören die Sachenrechte sowie die persönlichen Rechte, etwa Forderungen aus Vertrag gegen Dritte. Die Vollstreckung in das unbewegliche Vermögen wird besonderen Vorschriften unterworfen.78 Das deutsche Recht unterscheidet daher hinsichtlich der Vollstrekkung zunächst danach, ob das bewegliche (§§ 803ff. ZPO) oder das unbewegliche Vermögen des Schuldners (§§ 864ff. ZPO, ZVG) betroffen ist. In zweiter Linie (innerhalb des beweglichen Vermögens) differenziert das deutsche Recht danach, ob die Vollstreckung in eine körperliche Sache des Schuldners (§§ 808ff. ZPO), eine Geldforderung (§§ 829ff. ZPO), einen Herausgabeanspruch (§§ 846ff. ZPO) oder in ein sonstiges Vermögensrecht (§§ 857ff. ZPO) erfolgt. Es ist hier nicht erforderlich, die Details dieser ausdifferenzierten, in vielerlei Hinsicht subtilen Regelung darzustellen.79 Nur die allgemeinen Einsichten in die Natur des Leistungszwangs, die durch die Vorschriften zur Vollstreckung wegen Geldforderungen gewonnen werden können, sind hier von Interesse. Die Vollstreckung in das Vermögen des Schuldners ist grundsätzlich geeignet, das subjektive Recht auf Geldleistung zu befriedigen. Solange der Schuldner vermögend ist, ist dieses Verfahren ein verhältnismäßiger Eingriff in die die Rechte des Schuldners. Die Alternative wäre, indirekten Zwang auszuüben, also den Schuldner durch Anwendung von Beugemitteln (Zwangsgeld und Zwangshaft) dazu zu bringen, den Primäranspruch des Gläubigers zu erfüllen. Diese Ein76 77 78 79
Darauf beruht § 767 ZPO. Stein/Jonas-Münzberg vor § 803 Rn. 11. Im einzelnen Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rn. 851ff. S. etwa Brox/Walker Fn. 78, Rn. 205ff., 500f., 700, 716ff., 734ff.
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schränkung der Rechte des Schuldners wäre eine Überreaktion des Staates auf das Ausbleiben der Leistung, denn die Vollstreckung unmittelbar in das Vermögen ist das offensichtlich mildere Mittel, den gewünschten Erfolg der Leistung zu bewirken. Ein Eingriff in die persönliche Freiheit des Schuldners ist also weder angemessen noch erforderlich für eine erfolgreiche Vollstreckung. In einer Hinsicht muß der Staat allerdings auch bei diesem Vorgehen notfalls in das angeborene Recht des Schuldners eingreifen. Da das Vermögen des Schuldners dem Gläubiger nicht bekannt ist, muß diesem eine Möglichkeit gegeben werden, von einem scheinbar vermögenslosen Schuldner Auskunft über den Verbleib seines Vermögens zu erlangen. Unter diesen und vergleichbaren Umständen ordnet daher § 807 ZPO die Pflicht zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung an.80 Falsche Angaben sind damit strafbewehrt.81 Dieser indirekte strafrechtliche Schutz des subjektiven Rechts des Gläubigers ist verhältnismäßig, weil dem Schuldner zugemutet werden kann, die Wahrheit über sein Vermögen zu sagen, und dies der einzige Weg ist, wie der Gläubiger effektiv gegen das Vermögen des Schuldners vorgehen kann. b) Existenzsicherung und Insolvenz Aber auch die Vollstreckung in das Vermögen des Schuldners unterliegt einer Grenze. Die Grenze wird durch das für die Erhaltung der Existenz des Schuldners notwendige Vermögen und die zu ihrem Erhalt notwendigen Sachmittel gebildet.82 Diese Einschränkung des Gläubigerinteresses folgt ebenfalls aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit: Es wäre ein unangemessener Eingriff in das angeborenen Recht des Schuldners, wenn er aufgrund des Leistungszwangs verhungern müßte:83 Die Herbeiführung des Todes ist selbstverständlich keine angemessene Reaktion des Leistungszwangs.84 Nun ist zwar im Sozialstaat die Gefahr des Verhungerns gebannt, jedoch ergibt sich aus dieser Überlegung zwangsläufig, daß der Gläubiger das Risiko tragen muß, daß er seine Forderung aufgrund der Grenze des Existenzminimums nicht befriedigen kann. Wenn der Schuldner keine natürliche Person ist, sondern Gesellschaftsvermögen im weitesten Sinne betroffen ist, so ist diese Grenze des Existenzminimums nicht beachtlich. Solche rein juri80
Im einzelnen Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1127ff. Nach § 156 StGB. 82 Brox/Walker Fn. 78, Rn. 277 (es muß jedem Menschen »ein Existenzminimum, das er zur eigenverantwortlichen Führung eines menschendwürdigen Lebens benötigt, gewährleistet werden«). Diese Grenze konkretisieren hinsichtlich beweglichen Vermögens §§ 811 ZPO, 850ff. ZPO. Im einzelnen Brox/Walker aaO., Rn. 278ff., 540ff. 83 Noch 1931 schrieben Planiol und Ripert, daß der Schuldner zur Erfüllung der Leistungspflicht seine gesamte Arbeitskraft einsetzen müsse, und dabei in Kauf nehmen muß, seine Gesundheit oder sein Leben zu gefährden, Laithier in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 103. 84 S. aber etwa das Recht der Zwölftafeln (451 v. Chr.), Becker, Insolvenzrecht, Rn. 40. 81
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stische Entitäten haben kein angeborenes Recht. Wenn das Vermögen einer juristischen Person oder Gesamthandsvermögen betroffen ist und die Forderungen der Gläubiger nicht mehr erfüllt werden können, so ist der Untergang der Gesellschaft nahe. Ist die finanzielle Schieflage ernst genug, greift das Insolvenzrecht ein. Gründe für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind nach §§ 17–19 InsO drohende oder aktuelle Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung.85 Die Auflösung der Gesellschaft ist Folge der Insolvenz.86 Der paradigmatische Regelungsgehalt des Insolvenzrechts ist die Abwicklung und Auflösung der Gesellschaft. Diese Zielrichtung des Insolvenzverfahrens kann auf Privatpersonen nicht ohne weiteres übertragen werden. Denn diese sind, wie erläutert, vor Existenzgefährdung bereits umfassend in der Einzelvollstreckung geschützt. Wenn die Existenz jedoch nicht beendet wird, besteht auch kein Bedarf, einen geordneten Untergang zu sichern. §§ 286ff. InsO sehen dennoch eine »Restschuldbefreiung« für natürliche Personen vor, wenn sie sich »redlich« verhalten (§ 1 S. 2 InsO).87 Die Restschuldbefreiung bewirkt, daß die natürliche Person die subjektiven Rechte des Gläubigers entwerten kann, ohne daß dies zum Schutz ihrer Existenz notwendig wäre. Mit dem Schutz subjektiver Rechte läßt sich dieses Abschneiden der Gläubigerrechte offensichtlich nicht rechtfertigen,88 was nicht ausschließt, daß die Einschränkung durch andere Erwägungen gestützt werden kann.89 Die Einschränkung illustriert allemal den Gestaltungsspielraum des Staates auf der dritten normativen Ebene subjektiver Rechte bei der Rechtsdurchsetzung.90 Das Insolvenzrecht deutet auf ein weiteres allgemeines Problem des Leistungszwangs hin. Der Mangel an ausreichendem Vermögen wirft noch in einer ganz anderen Richtung Probleme auf. In der Regel werden mehrere Gläubiger betroffen sein. Es stellt sich dann regelmäßig die Frage nach der Rangfolge der Befriedigung der Gläubigerinteressen. Für die Haftung in der Einzelvollstreckung gilt das Prioritätsprinzip.91 Die Befriedigung der nachrangigen Gläubiger ist damit nicht 85
Im Einzelnen: Becker Fn. 84, Rn. 414ff. Becker Fn. 84, Rn. 1523. Regelmäßig (§ 1 S. 1 Alt. 1 InsO) durch Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse, §§ 148–173 InsO. Die Sanierung ist in § 1 S. 1 Alt. 2 InsO vorgesehen. Kritisch zu den Bestrebungen bei drohender Insolvenz auch (meist großen) Gesellschaften eine Fortdauer ihrer Existenz zu ermöglichen, Becker aaO., Rn. 172ff. 87 Näher Becker Fn. 84, Rn. 53, 1541ff. 88 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften im Hinblick auf Art. 14 GG s. die Vorlagen nach Art. 100 GG des AG München (NZI 2002, 676; ZIP 2003, 177; ZVI 2003, 546), die vom BVerfG aus formellen Gründen als nicht substantiiert zurückgewiesen wurden (NZI 2003, 162; NZI 2004, 222). 89 S. etwa MünchKommInsO-Ehricke Vor §§ 286–303 Rn. 1ff. zu den im Wesentlichen ökonomischen Argumenten dafür, dem redlichen Schuldner einen »neuen Start« zu gestatten und einem rechtsvergleichenden Überblick. 90 Den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der »Austarierung« von Schuldner- und Gläubigerschutz unterstreicht BVerfG NZI 2004, 222, 223. 91 Näher zu seiner Rechtfertigung Gaul ZZP 1999, 135, 151ff. 86
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ausgeschlossen, denn die Existenz des Schuldners bleibt erhalten und damit auch die Möglichkeit, daß er in Zukunft erfüllt. In der Insolvenz steht dagegen das Ende der Existenz des Schuldners fest und damit auch die Begrenzung der Mittel, die zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung stehen. Hier ist es daher gerechtfertigt, eine abweichende Rangfolge anzuwenden und die Gläubiger grundsätzlich92 gleich zu behandeln, also anteilsmäßig zu befriedigen.93 c) Zwangsvollstreckung zur Herausgabe von Sachen Soweit die Leistung nicht in der Zahlung von Geld besteht, sondern in einem sonstigen positiven Tun oder Unterlassen, kann sich der staatliche Zwang grundsätzlich nicht auf die Verwertung des Vermögens des Schuldners beschränken, sondern muß, um das subjektive Recht des Gläubigers zu verwirklichen, danach trachten, die Leistung so wie geschuldet zu erwirken.94 Es muß daher nach der Art der begehrten Leistung differenziert werden. Noch verhältnismäßig einfach gestaltet sich die Vollstreckung wegen der Herausgabe von Sachen. Auch hier ist die erste Unterscheidung danach getroffen, ob es sich um eine bewegliche Sache handelt oder um ein Grundstück. Im Falle eines Grundstücks hat der Gerichtsvollzieher dessen Räumung zu bewirken und dem Gläubiger den Besitz daran einzuräumen (§ 885 ZPO). Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sieht das Gesetz bei Wohnraum gewisse Schutzmechanismen vor, die verhindern sollen, daß der Leistungszwang die Existenz des Schuldners oder seine Gesundheit95 gefährdet, und ihm Zeit für einen Umzug verschaffen sollen. Diesen Schutz des Schuldners bezwecken die §§ 721, 794a ZPO durch die Einführung von Räumungsfristen bei Wohnraum; § 765a ZPO gibt dem Schuldner darüber hinaus in besonderen Härtefällen das Recht, die Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen zu beantragen. Im Falle sonstiger Sachen ist die Herausgabe bestimmter beweglicher Sachen ohne Zweifel der Hauptanwendungsfall des Leistungszwangs (§ 883 ZPO). Er erfolgt dadurch, daß der Gerichtsvollzieher die Sache dem Schuldners wegnimmt und sie dem Gläubiger übergibt.96 An der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme 92 Ausnahmen von der Gleichordnung enthalten etwa die Vorschriften zur Aussonderung §§ 47f. InsO und Absonderung §§ 49ff., 165ff. InsO. 93 Becker Fn. 84, 38ff., 210ff. 94 § 893 ZPO stellt klar, daß der Leistungstitel und die Möglichkeit des Leistungszwangs den Gläubiger nicht daran hindert, den Sekundäranspruch (also Schadensersatz in Geld) in einem neuen Erkenntnisverfahren geltend zu machen und durchzusetzen, soweit dessen Voraussetzungen nach materiellem Recht gegeben sind, näher Gsell JZ 2004, 110ff. 95 Bsp.: Die Zwangsvollstreckung aus einem Räumungsurteil gegen einen konkret suizidgefährdeten, 99 jährigen Schuldner wurde in BVerfG NJW 1998, 295, aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 2, 20 III GG) für geboten gehalten. Ähnlich BVerfG FamRZ 2005, 1972. Weitere Bsp. bei Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1482. 96 Wird die Sache nicht vorgefunden, kann der Gläubiger gemäß § 883 II ZPO den Antrag auf eidesstattliche Versicherung stellen.
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bestehen keine Zweifel.97 Die Vollstreckung der Herausgabe vertretbarer Sachen ist ebenfalls in der ZPO geregelt, § 884 ZPO. Auch hier nimmt der Gerichtsvollzieher vom Schuldner und gibt dem Gläubiger.98 Die Ersatzvornahme, etwa in Form eines Deckungsgeschäfts, ist gemäß § 887 III ZPO ausgeschlossen.99 Ebenso scheiden Beugemittel aus. Praktische Bedeutung hat diese Form der Zwangsvollstreckung daher kaum, weil vertretbare Sache regelmäßig am Markt zu beschaffen sind, und kaum je ein Gläubiger das langwierige Erkenntnisverfahren abwarten wird, nur um danach den Gerichtsvollzieher, mit ungewissem Erfolg, in das Lager des Schuldners schicken zu können.100 Diese Vorgehensweise ist nur sinnvoll, wenn die Sachen am Markt nicht leicht erhältlich sind, wie etwa Wertpapiere (Aktien).101 d) Zwangsvollstreckung vertretbarer Handlungen Soweit die Zwangsvollstreckung nicht wegen einer Geldforderung erfolgt und auch nicht die Herausgabe einer Sache zum Gegenstand hat, sind die Vorschriften über die Zwangsvollstreckung von sonstigen Handlungen anwendbar. Das deutsche Recht differenziert innerhalb dieser Gruppe erneut. Soweit die Leistung in einer vertretbaren Handlung besteht, gilt § 887 ZPO. Eine vertretbare Handlung liegt vor, wenn ein Dritter den gleichen rechtlichen oder wirtschaftlichen Erfolg bewirken kann und sie daher nicht durch den Schuldner persönlich vorgenommen werden muß.102 Ein häufiges Beispiel aus der Praxis ist die Vornahme von Nachbesserungsmaßnahmen an einer Bauleistung:103 Der werkvertragliche Nacherfüllungsanspruch aus § 635 BGB wird über die Vorschriften der Zwangsvollstreckung vertretbarer Handlungen vollstreckt. Daß die Vornahme der Nachbesserung eine vertretbare Handlung ist, läßt sich bereits daran ersehen, daß das materielle Recht dem Gläubiger einen Anspruch auf Aufwendungsersatz für die Kosten der Nachbesserung einräumt, § 637 BGB.
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Zur Durchführung der Vollstreckung: Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1048ff. Näher Jahnke ZZP 1980, 43, 45ff. 99 Zwar ist für Fälle, in denen der Herausgabe einer Sache eine weitere Handlung vorausgeht, anerkannt, daß diese nach § 887 ZPO vollstreckt werden kann, jedoch setzt dies voraus, daß die Handlung eine selbständige und titulierte Pflicht darstellt; MünchKommZPO-Schilken § 883 Rn. 10; Stein/Jonas-Brehm § 883 Rn. 4ff., § 884 Rn. 2 m.w.N. Die Beschaffungspflicht ist bei Gattungsschulden aber in aller Regel lediglich eine unselbständige Vorbereitungshandlung. 100 Rabel Fn. 14, S. 376. Den Aspekt des Kostenintensität und Dauer des Leistungszwangs betonen etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 482; Lando/Rose Internat. Rev. of Law and Economics 24 (2004), 473, 481. 101 Bsp. BGH NJW 2004, 3340 (sammelverwahrte Aktien). 102 Zur Abgrenzung näher Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1066; Stein/Jonas-Brehm § 887 Rn. 6ff. Entscheidend ist, ob nach dem Rechtsverhältnis, das dem titulierten Anspruch zugrunde liegt, der Gläubiger darauf bestehen kann, daß der Schuldner die Leistung persönlich vornimmt. 103 Bsp. BGH NJW 1993, 1394; NJW 1984, 1679 m.w.N. 98
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Der Grund für die gesonderte Behandlung der vertretbaren Handlungen ist wiederum das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Wenn die geschuldete Handlung durch eine dritte Person vorgenommen werden kann, so ist dies der geringere Eingriff in die Sphäre des Schuldners als wenn Beugemittel auf ihn angewendet werden.104 Die dritte Person wird freilich nur dazu bereit sein, die Handlung vorzunehmen, wenn sie dafür angemessen entlohnt wird. Doch auch dies verändert das Abwägungsergebnis nicht. Die Kosten dieser »Ersatzvornahme« werden nämlich wiederum nach den Regeln über die Vollstreckung wegen einer Geldforderung vollstreckt.105 Die Vollstreckung richtet sich dann gegen das Vermögen des Schuldners. Dies ist nach wie vor der geringere Eingriff im Vergleich zur Anwendung von Zwangsmitteln gegen den Schuldner persönlich. Gegen die Ersatzvornahme ließe sich allenfalls einwenden, daß sie nicht geeignet sei, den Leistungszwang zu bewirken. Schließlich bestehe die Schuld in der Vornahme einer Handlung, während die Ersatzvornahme diese Schuld in eine Geldschuld »umwandle«. Verbirgt sich dahinter nicht ein Austauschen des Schuldgrundes, ein Umwandeln des Primäranspruchs in einen verdeckten Sekundäranspruch?106 Dies wäre schon deswegen bedenklich, weil der Sekundäranspruch anders als der Primäranspruch eine Zurechnung der Vertragsverletzung erfordert. Zudem wäre es systematisch der falsche Ort für die Gewährung des Sekundäranspruchs, der ja, das sei in Erinnerung gerufen, materiell-rechtlicher Natur ist, während die Vorschriften über die Ersatzvornahme auf der dritten Ebene, der des Schutzes des subjektiven Rechts auf die Leistung, angesiedelt sind. Die Ersatzvornahme ist jedoch, obwohl sie den Anschein erweckt, einen wertmäßigen Ausgleich der Vertragsverletzung zu bezwecken, kein verkappter Sekundäranspruch. Die Ersatzvornahme ist durchaus ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung des Primäranspruchs: Für den Leistungszwang ist der Vollstreckungserfolg entscheidend. Wenn eine Handlung auch von einem Dritten vorgenommen werden kann, so ist es aus Sicht des Gläubigers grundsätzlich unerheblich, wer die Handlung vornimmt, der Schuldner selbst oder ein Dritter. Entscheidend ist dabei, daß der geschuldete Erfolg eintritt. Darauf zielt der Ermächtigungsbeschluß zur Selbstvornahme ab.107 Die Umwandlung in eine Geldzahlung ist nur Mittel zu diesem Zweck, die Leistung in natura zu erhalten.108 Sie ist ein milderes Mittel als 104 Zwang wird gegen den Schuldner selbst nur angewendet, wenn er gegen die Maßnahmen der Ersatzvornahme Widerstand leistet; dieser darf nach § 892 ZPO gebrochen werden. 105 Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1075. 106 So wohl Lando/Rose Internat. Rev. of Law and Economics 24 (2004), 473, 478. 107 Die Kosten der Ersatzvornahme können als Vollstreckungskosten dementsprechend nur geltend gemacht werden, wenn der Gläubiger zur Ersatzvornahme ermächtigt wurde, Stein/Jonas-Brehm § 887 Rn. 49. 108 Deswegen muß, anders als die Grundregel beim Schadensersatz, der Schuldner einen etwaigen Vorschuß auch für die Ersatzvornahme verwenden, bzw. die geltend gemachten Kosten müssen auch tatsächlich für die Ersatzvornahme verwendet worden sein, wenn sie als Kosten der Zwangsvollstreckung des Primäranspruchs eingetrieben werden sollen. Folgerichtig ist der nicht
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die Anwendung von Beugemitteln. Weil die Ersatzvornahme somit der Durchsetzung des Primäranspruchs dient, setzt sie konsequenterweise auch eine zurechenbare Rechtsverletzung nicht voraus. e) Zwangsvollstreckung nicht vertretbarer Handlungen Besteht die geschuldete Handlung weder in der Leistung einer Geldzahlung, noch in der Herausgabe einer Sache, noch in einer vertretbaren Handlung, dann finden die Regeln über die Vollstreckung wegen einer nicht vertretbaren Handlung Anwendung, wie sie in § 888 ZPO normiert sind. Eine Umwandlung in Geld scheidet hier aus, da der Schuldner die Leistung persönlich zu erbringen hat. Das einzige und daher mildeste Mittel zur Durchsetzung eines Primäranspruchs, der auf eine solche Handlung gerichtet ist, ist die Anwendung von Beugemitteln (Zwangsgeld und Zwangshaft als Zwangsmittel, § 888 I ZPO).109 Speziell in § 890 ZPO geregelt, aber den gleichen Grundsätzen unterstellt (Ordnungsgeld und Ordnungshaft), ist die Erzwingung von Unterlassungen und Duldungen. Denn hier muß wiederum der Schuldner persönlich unterlassen oder dulden.110 Auch die Abgabe einer Willenserklärung ist eine unvertretbare Handlung. Doch würde es dem Rechtsystem nicht gut anstehen, den Schuldner mit Zwangsmitteln zu überziehen, wenn es die gewünschte Leistung selbst eintreten lassen kann. Die Fiktion des § 894 ZPO ist damit das mildere Mittel. Der Zwang gegen die Person des Schuldners zur Erwirkung von unvertretbaren Handlungen unterliegt engen Grenzen. So ist das Zwangsgeld der Höhe nach in § 888 I 2 ZPO erheblich begrenzt. Zwangshaft ist die ultima ratio.111 Des weiteren wird der Anwendungsbereich der Zwangsvollstreckung in § 888 III ZPO weiter eingegrenzt: Soweit die unvertretbare Handlung in der Leistung von Diensten aus einem Dienstvertrag besteht, ist diese Vollstreckungsmethode nicht zulässig.112 Der darauf gerichtete Primäranspruch des Gläubigers findet insoweit seine Grenze in der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Die zwangsweise Leistung von Diensten wird als unangemessener Eingriff in das angeborene Recht des Schuldners angesehen.113 Der pauschale Ausschluß bedeutet, daß das subjektive Recht des Gläubigers in einem solchen Fall letztlich nicht geschützt wird und da-
verwendete Betrag des Vorschusses an den Schuldner aufgrund von § 812 BGB zurück zu zahlen, Stein/Jonas-Brehm § 883 Rn. 51. 109 Zu den Zwangsmitteln Stein/Jonas-Brehm § 888 Rn. 26ff., 29ff. 110 Bsp. bei Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1092ff. 111 Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1087. 112 Das Eingehen der Ehe sowie Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft sind ebenfalls ausgenommen. 113 Der gleiche Grundsatz gilt im englischen Recht: Treitel Fn. 13, S. 1029. Zu weiteren Fällen, in denen der Leistungszwang wegen Verstoß gegen Grundrechte abzulehnen ist Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1082.
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mit auch der opportunistische Vertragsbruch »toleriert« wird.114 Der Gläubiger mag dies in vielen Fällen verschmerzen können, weil ohnehin die Gefahr besteht, daß die erzwungene Dienstleistung nicht die erwünschte Qualität aufweist.115 Der Maler, der ein Porträt anfertigen soll, könnte dazu geneigt sein, eine lieblose Pflichtübung daraus zu machen, ebenso etwa der Autor, den man zum Abfassen einer Novelle zwingen wollte. Der Staat hat in diesem Bereich angesichts der Zweifel an der Geeignetheit des Leistungszwanges zur Bewirkung des gewünschten Erfolges sicherlich einen Regelungsspielraum. Doch muß die Geeignetheit des Zwangs nicht notwendig zu verneinen sein.116 Der ausnahmslose Ausschluß der Zwangsvollstreckung ist im Lichte der Aufgabe des Staates, die subjektiven Rechte zu schützen, keineswegs selbstverständlich. Das Bewirken der Leistung durch die Kausalität der Willkür des Schuldners ist der unmittelbare Ausdruck der Bindung an den Vertrag (pacta sunt servanda). Soweit die Leistung von Diensten aus einem Dienstvertrag im Einzelfall nicht als unvertretbare Handlung angesehen werden muß, sollte daher die Möglichkeit der Ersatzvornahme zur Durchsetzung des subjektiven Rechts zugelassen werden.117 Insgesamt ist daher festzustellen, daß der Bereich der unvertretbaren Handlungen, in dem die Leistung durch Anwendung von Zwangsmitteln gegen den Schuldner bewirkt wird, doch recht schmal ist, zumal die Anwendung von Beugemitteln auf § 888 ZPO begrenzt ist.118 Praktisch wichtige Anwendungsfälle zu § 888 I ZPO sind eher selten. Zu nennen sind vor allem die Durchsetzung eines Auskunftsanspruchs119 sowie etwa die Durchsetzung einer mietvertraglichen Betriebspflicht für ein Ladenlokal, die unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten im nächsten Abschnitt näher auszuführen sein wird. 114
Huber Fn. 11, S. 53. Darauf weist McKendrick, Contract Law, S. 454, etwa hin. 116 Insbesondere wenn die Leistung das Renommee des Schuldners beeinflußt und von Dritten wahrnehmbar ist, wird der Schuldner versuchen, eine gute Leistung zu erbringen. Aus dem englischen Recht ist das Beispiel einer Opernsängerin übermittelt, der in dem viel besprochenen Fall Lumley v. Wagner (1852) 1 Deg.M. & G. 604, verboten wurde, andernorts (nämlich auf der attraktiveren Bühne von Covent Garden) aufzutreten. Anders das deutsche Recht: § 890 ZPO kann nicht dazu eingesetzt werden, die Leistung von Diensten andernorts zu verbieten (RGZ 72, 293). Die Regel, daß durch eine Unterlassensvollstreckung (injunction), der Schuldner nicht indirekt zur Leistung der Dienste verpflichtet wird, kennt zwar auch das englische Recht, Treitel Fn. 13, S. 1042ff., doch ist es eher bereit, die vertragliche Pflicht aus einem Dienstvertrag ausnahmsweise auf diesem Weg durchzusetzen. In Warner Bros. Pictures Inc. v. Nelson [1937] 1 K.B. 209, z.B. wurde einer Schauspielerin, die sich verpflichtet hatte, für einen bestimmten Zeitraum nur für die Kläger aufzutreten, verboten, für andere Auftraggeber zu spielen. Die stärker auf den Einzelfall bezogene englische Praxis sieht hinsichtlich der Leistung von Diensten damit einen strengeren Leistungszwang vor als das deutsche Recht mit dem pauschalen Ausschluß in § 888 III ZPO. 117 Brox/Walker Fn. 78, Rn. 1066; Stein/Jonas-Brehm § 888 Rn. 40f. jeweils m.w.N. 118 Stein/Jonas-Brehm § 888 Rn. 1. 119 Bsp. OLG Bremen JZ 2000, 314. Überblick über die Fallgruppen etwa bei Stein/JonasBrehm § 888 Rn. 5; Zöller-Stöber § 888 Rn. 3. 115
II. Alternative Lösungen
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II. Alternative Lösungen Während auf dem Kontinent der Primäranspruch grundsätzlich auf der Ebene des Schutzes des subjektiven Rechts umfassend durchgesetzt werden kann,120 ist dies im common law wie bereits angedeutet, nur mit Einschränkungen der Fall. Für die voranschreitende Vereinheitlichung des Vertragsrechts insgesamt, wie auch für sektorales Einheitsrecht, stellt dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Die Integration des Leistungszwangs in das englische Recht anläßlich der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ist nur mit Mühe als gelungen zu bezeichnen; naheliegender ist schon die Schlußfolgerung, das das Ziel der »Harmonisierung« der Vertragsrechte in diesem Punkt verfehlt wurde.121 Es besteht daher hinreichend Anlaß, sich näher mit dem Leistungszwang im common law zu befassen und dabei die bisherigen Versuche von Kompromißlösungen in den Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, den UNIDROIT Prinzipien und vor allem im CISG in die Betrachtung einzubeziehen.
1. Specific Performance Bereits in § 7 mußte ein Überblick über die wichtigsten Rechtsschutzmöglichkeiten im englischen Recht gegeben werden, weil das »Aktionendenken« im englischen Recht viel stärker ausgeprägt ist als im deutschen Recht und damit eine klare Erfassung der subjektiven Rechte im englischen Recht bereits frühzeitig die dritte normative Ebene, die des Schutzes des Rechts durch Zwangsausübung, berücksichtigen muß. Berücksichtigt man die dritte Ebene, so tritt zutage, daß das common law dem Primäranspruch nicht grundsätzlich die zwangsweise Durchsetzung versagt. Denn wenn die Gegenleistung in Geld bemessen ist, ist die action for an agreed sum, statthaft und der Gläubiger kann nach Obsiegen im Prozeß ohne weiteres die Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderung in das Vermögen des Schuldners betreiben. Hier bestehen keine grundsätzlichen Unterschiede zum Recht auf dem Kontinent. Der Leistungszwang wird also, was den in der Praxis häufigsten Fall der Klagen wegen Vertragsverletzung angeht, wie auf dem Kontinent angeordnet und zwangsweise durchgesetzt. Im Übrigen wird der Leistungszwang dagegen in der Tat nur ausnahmsweise angeordnet. Hier besteht damit ein Unterschied zum Recht auf dem Kontinent, der auf die Gewährung und Rechtfertigung des Primäranspruchs auf der Ebene des materiellen Rechts ausstrahlt.122
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Für Frankreich etwa Laithier Fn. 83, S. 108ff.; für Spanien Herman ZfRV 2005, 94ff. Arnold/Unberath ZEuP 2004, 366, 384f. Dazu bereits S. 174ff., 211ff.
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a) Voraussetzungen und Folgen des Leistungszwangs Der Unterschied hat historische Wurzeln. Vor den common law Gerichten konnte die Erfüllung einer nicht auf Geld gerichteten Forderung nicht eingeklagt werden. Dies war nur subsidiär in equity vor dem Court of Chancery möglich. Auch nach der organisatorischen Verschmelzung der beiden Rechtszweige wirkt dieser Zuständigkeitskonflikt nach. Der dogmatische Ausgangspunkt ist heute noch, daß specific performance nur dann zu gewähren ist, wenn Schadensersatz inadäquat ist.123 Die Anordnung steht, hier zeigt sich die Wurzel in der equity, im Ermessen des Gerichts.124 Die Gründe für die Zurückhaltung der englischen Gerichte den Leistungszwang bei nicht auf Geld gerichteten Primäransprüchen anzuordnen, dürften heutzutage nicht mehr nur historisch erklärbar sein. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß der Leistungszwang im englischen Recht generell die Anwendung der Regeln des contempt of court nach sich zieht125 einschließlich der Möglichkeit, quasi-strafrechtliche Sanktionen zu erlassen. Die Anordnung des Leistungszwangs hat daher, was gelegentlich übersehen wird, schwerwiegendere Konsequenzen als die Zwangsvollstreckung nach der ZPO. In diesem Licht werden erst die Mahnungen englischer Autoren verständlich, daß der Leistungszwang die persönliche Freiheit des Schuldners gefährde.126 Im englischen Recht ist dies viel eher der Fall als im deutschen Recht, das die Zwangsmittel, wie erläutert, auf einen kleinen Ausschnitt aus den zur Vollstreckung anstehenden Handlungen einschränkt und auch dort wiederum stark relativiert. Es ist also das Verhältnismäßigkeitsprinzip das auch im englischen Recht, oder dort sogar eher als im deutschen Recht, zur Zurückhaltung bei der Anordnung von Leistungszwang anhält. Weiterhin ist zu betonen, daß die Zahl derer, die eine Ausweitung der Ausnahmetatbestände des Leistungszwangs befürworten oder die Subsidiarität der specific performance grundsätzlich anzweifeln, in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat.127 Damit stimmt die Praxis der Gerichte überein, die Regel von der vorrangigen Adäquanz des Schadensersatzes zunehmend durch andere Regeln zu überlagern: Die Regel wird zwar immer noch in den Entscheidungen erwähnt,
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Treitel Fn. 13, S. 1020 (»traditional view«). Zu den Grenzen der Ausübung näher Zakrzewski, Remedies Reclassified, S. 91ff. 125 Näher dazu, § 7 III.2. oben. 126 Etwa Kimel, From Promise to Contract, S. 96; Treitel Fn. 13, S. 1019 (»drastic character of the remedy«). 127 S. etwa McKendrick Fn. 115, S. 454; L. Smith in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 221, 226ff.; Friedmann (1995) 111 L.Q.R. 628 (England); Schwartz 89 Yale L.J. 271 (1979); Linzer 81 Columbia L.Rev. 111 (1981); Walt 26 Tex. Int’l L.J. 211 (1991); Varadarajan 111 Yale L.J. 735 (2001) (U.S.A.). Dagegen hält aber etwa Burrows, Remedies for Torts and Breach of Contract, S. 475, an der Regel fest, daß specific performance nur zu gewähren ist, wenn Schadensersatz inadäquat ist (im Hinblick auf die Schadensminderungsobliegenheit). 124
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doch vermag sie das Ergebnis der Entscheidung nicht immer, oder vielleicht sogar selten,128 zu erklären. Zu erinnern ist schließlich auch daran, daß der Leistungszwang eben nicht per se ausscheidet, sondern nur in das Ermessen des Gerichts gestellt ist. Diese haben ausreichend Spielraum, im Einzelfall das subjektive Recht durchzusetzen, wenn es denn nach Ansicht der Richter einem dringenden Bedürfnis entspricht.129 Es ist daher zu vermuten, daß eine Konvergenz der Systeme eintreten wird. Wie bereits angedeutet, haben die pragmatischen englischen Richter im Laufe der Jahrhunderte in den Fällen Leistungszwang angeordnet, in denen der Gläubiger besonders auf die Durchsetzung des Primäranspruchs angewiesen war. Das dürften genau die Fälle sein, in denen auch im deutschen Recht die Durchsetzung des Primäranspruchs tatsächlich begehrt wird.130 Denn üblicherweise werden, zumindest im kaufmännischen Bereich, die Parteien die schnelle Abwicklung des Vertrages durch Leistung von Schadensersatz und einem Deckungsgeschäft der langwierigen Durchsetzung des Primäranspruches vorziehen.131 Dies schon deswegen, weil, wie erläutert, die Durchsetzung eines nicht auf Geld gerichteten Primäranspruchs alles andere als gewiß ist. Um die Haltung des common law zu verdeutlichen und die heute maßgeblichen Gründe für die Anordnung des Leistungszwanges zu erhellen, werden im Folgenden die Durchsetzung einer nicht vertretbaren Handlung und die Durchsetzung der Lieferpflicht von Sachen etwas näher untersucht.132 b) Leistungszwang bei einer unvertretbaren Handlung Die wichtigste Entscheidungen der englischen Gerichte der letzten Jahre zu specific performance betraf die Durchsetzung einer unvertretbaren Handlung. Es ist daher mit dieser Thematik zu beginnen. In dem vom House of Lords entschiedenen Fall133 hatten die Beklagten ihren Safeways Supermarkt im Hillsborough Shopping Centre geschlossen. Er war einer Restrukturierung der Unternehmensgruppe zum Opfer gefallen und hatte im Vorjahr einen Verlust von 70.000 Pfund 128 Laycock 103 Harv. L. Rev. 687 (1990), geht für das US-amerikanische Recht in einer umfangreichen Studie davon aus, daß die Regel, wonach specific performance nur zu gewähren sei, wenn Schadensersatz nicht ausreichend ist, in der Praxis keinerlei Bedeutung mehr zukomme. 129 So schon Rabel Fn. 14, S. 270. 130 So etwa auch die Vermutung von Lord Hoffmann in Co-operative Insurance Society Ltd. v. Argyll Stores (Holdings) Ltd. [1998] A.C. 1, 16. 131 Etwa Rabel Fn. 14, S. 378 (»rasche Abwicklung« im Handelsverkehr); Lando/Rose Internat. Rev. of Law and Economics 24 (2004), 473, 481ff. 132 S. die umfassende Darstellung bei Burrows Fn. 127, S. 456ff. Für weitere rechtsvergleichende Ausführungen Markesinis/Unberath/Johnston, The German Law of Contract, S. 392ff. m.w.N. Aus der deutschen Literatur: Neufang, Erfüllungszwang als »remedy« bei Nichterfüllung. Zur historischen Entwicklung: Rheinstein, Die Struktur des Schuldverhältnisses im angloamerikanischen Recht, S. 138ff., 232ff. 133 Co-operative Insurance Society Ltd. v. Argyll Stores (Holdings) Ltd. [1998] A.C. 1.
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erwirtschaftet. Der Markt war ein Kundenmagnet für das Einkaufszentrum. Der Betreiber des Einkaufszentrums beantragte daher, den Beklagten zu verurteilen, das Geschäft fortzuführen. Der Mietvertrag sah nämlich vor, daß der Supermarkt bis 2014 zu den üblichen Öffnungszeiten betrieben werden müsse. Der Court of Appeal hielt specific performance für angemessen, das House of Lords lehnte sie ab. Lord Hoffmann, dem die anderen Richter im Ergebnis folgten, begründete dies vor allem mit folgenden nicht näher gewichteten Argumenten:134 Der Zwang zum Betreiben eines verlustträchtigen Ladenlokals führe zur Verschwendung von Ressourcen. Es könne nicht im öffentlichen Interesse sein, zwei feindliche Parteien zur Kooperation zu zwingen. Ein solches Urteil würde eine ständige aber wenig effektive Überwachung durch die Gerichte verlangen. Die Entscheidung illustriert die verwirrende Fülle der angewendeten Kriterien. Sie zeigt auch, daß für die Erzwingung einer Handlung die Adäquanz von Schadensersatz nicht ausschlaggebend ist. Auf die Angemessenheit des Schadensersatzes ging Lord Hoffmann erst gar nicht ein. Doch gerade in einem Fall wie diesem wird es schwierig sein, die Beeinträchtigung des Gläubigers in Geld zu messen.135 So wundert es nicht, daß sowohl schottische136 als auch einige deutsche Gerich137 te in vergleichbaren Fällen der Durchsetzung einer miet- oder pachtvertraglichen Betriebspflicht zu einem anderen Ergebnis kamen. Allerdings ist die Frage im deutschen Recht streitig. Viele Gerichte lehnen den Leistungszwang ebenfalls ab.138 Der Hinweis darauf, daß die Betreibung eines Ladenlokals nicht ausschließlich vom Willen des Schuldners i.S.d. § 888 I ZPO abhänge,139 vermag jedoch nicht zu überzeugen, da die tatsächliche Möglichkeit, das Ladenlokal mit Waren auszustatten und offen zu halten, nicht zweifelhaft ist. Der Schlüssel zur Lösung dieser Fälle ist, ob das Betreiben des Ladenlokals ohne unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Verlust erfolgen kann,140 bzw. nur unter erheblichen sonstigen persönlichen Opfern erbracht werden kann.141 Diesen Aspekt hebt auch die Entscheidung des House of Lords zu Recht hervor. Daher ist die Lösung des Problems auf der Ebene der Zwangsvollstreckung verfehlt. Denn entweder läßt sich in solchen Fällen ein Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners begründen142 134
Co-operative Insurance Society Ltd. v. Argyll Stores (Holdings) Ltd. [1998] A.C. 1, 12ff. Etwa McKendrick Fn. 115, S. 452; Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 131f. (1981) mit einem Beispiel aus dem U.S.-Recht. 136 Highland and Universal Properties Ltd. v. Safeway Properties Ltd. 2000 S.L.T. 414. 137 Etwa LG Mainz NJW-RR 2001, 637 (Betrieb einer Postfiliale, einstweilige Verfügung); OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 648 (Wäschegeschäft, einstweiliger Rechtsschutz); OLG Celle NJW-RR 1996, 585 (Filiale einer Parfümeriekette). 138 Etwa OLG Naumburg NJW-RR 1998, 873; OLG Hamm NJW 1973, 1135. 139 OLG Naumburg NJW-RR 1998, 873, 874; OLG Hamm NJW 1973, 1135. 140 Bedenklich daher OLG Celle NJW-RR 1996, 585: »Erst recht sind die Gewinnerwartungen der Schuldnerin kein entscheidendes Kriterium«. 141 Etwa OLGR Celle 2002, 257 (Unzumutbarkeit wegen Krankheit des Pächters). 142 Dazu näher S. 277ff. im deutschen Recht § 275 II, III BGB. 135
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oder das subjektive Recht ist durchzusetzen.143 Die Konsequenz aus der fehlenden Durchsetzbarkeit wäre, wenn der Schadensersatz den Gläubiger unterkompensiert, daß die vereinbarte Betriebspflicht in der Praxis ohne juristische Sanktion bliebe. Die anderen von Lord Hoffmann angeführten instrumentellen Gründe haben demgegenüber weniger Gewicht und könnten von einem deutschen Richter, der keine Ermessensentscheidung trifft, ohnehin nicht zur Begründung herangezogen werden: Der Leistungszwang ist immer ein Zwang zur Kooperation verfeindeter Parteien und die Schwierigkeit bei der Überwachung des Leistungszwanges mögen nicht so gravierend sein, den Schutz des subjektiven Rechts zur Gänze zu versagen. c) Durchsetzung des Anspruchs auf Herausgabe von Sachen Die Durchsetzung von Lieferpflichten von Sachen ist im common law traditionell an die Möglichkeit, ein Substitut am Markt zu besorgen, gekoppelt. Ist ein Dekkungsgeschäft möglich, scheidet der Primäranspruch aus.144 Specific performance wird daher gewährt bei einzigartigen Sachen (unique goods).145 Das Kriterium des Deckungsgeschäfts ist jedoch in der Anwendung durch die Gerichte wenig scharf und führt zu Unsicherheit bei der Rechtsanwendung. Unter den Gerichten ist streitig, ob es bei Gattungsschulden ausreicht, daß die Ersatzbeschaffung zwar möglich aber schwierig ist, und wie groß die Hindernisse sein müssen: Eine erhebliche Zahl von amerikanischen Gerichten ordnet specific performance bereits dann an, wenn das Deckungsgeschäft schwierig durchzuführen ist,146 z.B. weil die Güter auf dem lokalen Markt knapp sind.147 Hier finden sich somit Anwendungsbeispiele zu der Durchsetzung des Anspruchs aus einer Gattungsschuld, die im deutschen Recht fehlen. Der Grund dafür ist, daß die Anordnung von specific performance wegen der contempt of court Regeln wesentlich strenger ist, als die in § 884 ZPO vorgesehene Befugnis des Gerichtsvollziehers, die Sachen vom Schuldner zu holen. Wenn die Güter knapp sind, wird nichts zu holen sein. Dagegen muß der amerikanische Schuldner um seine Freiheit bangen, wenn er seine Schuld nicht erfüllt. Es wird die Güter daher zu hohem Preis beschaffen werden. 143 Schließlich kann sich der Ladenbetreiber von der Pflicht, das Geschäft offen zu halten, vom Vermieter freikaufen. 144 S. nur Treitel Fn. 13, S. 1020. 145 So auch section 2–716(1) Uniform Commercial Code; erfaßt sind etwa Kunstwerke. Weitere Bsp. bei Treitel Fn. 13, S. 1022f. Unbewegliches Vermögen wird pauschal als »einzigartig« eingestuft. 146 Z.B. Campbell Soup Co. v. Wentz 172 F.2d 80 (3d Cir. 1948); Heidner v. Hewitt Chevrolet 166 Kan. 11, 14, 199 P.2d 481, 483 (1949). Dagegen etwa Klein v. Pepsico 845 F.2d 76, 80 (4th Cir. 1988). 147 Überblick bei Walt 26 Tex. Int’l L.J. 211, 224ff. (1991); Linzer 81 Columbia L.Rev. 111, 129f. (1981). Im englischen Recht s. Sky Petroleum Ltd. v. VIP Petroleum Ltd. [1974] 1 W.L.R. 576 (Erdölkrise).
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Wie bereits im Hinblick auf die Durchsetzung des Leistungszwangs bei der Erbringung von Diensten148 ist auch in dieser Hinsicht die Praxis des common law bei der Gewährung des Leistungszwangs im Einzelfall strenger als im deutschen Recht. d) Fazit Das anglo-amerikanische Recht ist flexibel und gewährt einen Primäranspruch fast durchweg, wenn ein Bedürfnis danach besteht. Das deutsche Recht kommt dagegen weitgehend ohne Einschränkungen aus, ohne daß dies in der Praxis gravierende Unterschiede zur Folge hätte. Die Ergebnisse stimmen auch weitgehend überein, wenn die Leistung in der Bewirkung einer Handlung besteht. Zu denken ist hier an das Verbot, die Leistung von Diensten aus einem Dienstvertrag zu erzwingen, wo das englische Recht im Einzelfall sogar weiter geht als das deutsche. Dies trifft auch auf die Durchsetzung der Lieferpflicht bei Gattungsschulden zu. Wichtig für den Gleichlauf ist die Transformationsnorm des § 887 ZPO für vertretbare Handlungen. Diese bewirkt, daß der Primäranspruch bei vertretbaren Handlungen durch Vollstreckung in das Vermögen befriedigt wird. Für die Bewirkung einer Leistungshandlung mit Hilfe von Zwangsmitteln bleibt damit nur der schmale Bereich des § 888 I ZPO. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit erfolgt die Durchsetzung von Primäransprüchen durch Zwangsmittel im deutschen Recht insgesamt seltener als im englischen Recht.
2. Der Ansatz der Grundregeln und des CISG Jeder Versuch einer Vereinheitlichung des Vertragsrechts steht vor dem Dilemma, wie die unterschiedlichen Grundregeln des common law und des civil law hinsichtlich der Durchsetzung eines nicht auf Geld gerichteten Primäranspruchs versöhnt werden können. Der Primäranspruch ist vom Standpunkt der hier vertretenen Vertragstheorie der zentrale aus dem Vertrag entstehende Anspruch. Er verkörpert wie kein anderer das Wesen der vertraglichen Bindung. Darauf verweisen auch die Befürworter von specific performance in England: »A developed theory of contract shows that the plaintiff’s right to performance is a patrimonial entitlement, just like owning an estate in land. If that is so, the ›law of remedies‹ should not undercut it by giving the defendant the option to expropriate the plaintiff’s patrimonial entitlement.«149
Zwar stimmen die Ergebnisse der Entscheidungen auf dem Kontinent und in England in vielerlei Hinsicht, wenn auch nicht vollständig überein, doch sind keine Anzeichen dafür ersichtlich, daß das englische Recht seine Zurückhaltung ge148 149
Oben Fn. 116. Smith Fn. 127, S. 230. S. auch die weiteren in Fn. 127 genannten.
II. Alternative Lösungen
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genüber specific performance aufgeben könnte.150 Um den Grund dafür besser zu verstehen, ist es notwendig, sich die Aspekte zu vergegenwärtigen, in denen das Recht auf dem Kontinent nicht mit dem englischen Recht übereinstimmt. Was ins Auge sticht, ist der enorme Aufwand, mit dem das common law an der traditionellen Regel festhält und die Abgrenzung immer wieder im Einzelfall aufs Neue vornehmen muß. Die Entscheidung, ob Leistungszwang anzuordnen ist, wird dem Gläubiger entzogen und dem Gericht übertragen. Das Gericht wiederum hat den Einzelfall zu würdigen und trifft eine Ermessensentscheidung. Diese erfolgt nach umfassender Abwägung der vielschichtigen und zahlreichen Argumente für und gegen den Leistungszwang. Dabei darf und soll das Gericht auch pragmatische Überlegungen anstellen, wie das Leistungsinteresse des Gläubigers am besten zu befriedigen ist. Ganz anders das deutsche System. Die Entscheidung, ob die Geltendmachung des Primäranspruchs praktisch sinnvoll ist, wird (in den Grenzen des § 275 BGB) im deutschen Recht dem Gläubiger überlassen. Das deutsche Recht ist zudem stärker formalisiert.151 Die Geeignetheit des Leistungszwangs und der hierfür zugelassenen Mittel sind im Einzelnen für die verschiedenen Arten der zu vollstreckenden Handlungen abstrakt im Voraus festgelegt mit kaum oder wenig Spielraum für das Vollstreckungsgericht. Zudem sind Beugemittel nicht generell zugelassen. Wenn sich etwa herausstellt, daß die geschuldeten Sachen beim Schuldner nicht vorhanden sind, also der von § 884 ZPO vorgeschriebene Weg sein Ziel verfehlt, kann der Gläubiger nicht das Gericht auffordern, nunmehr Zwangsmittel gegen den Gläubiger einzusetzen. Der Leistungszwang ist im deutschen Recht schwächer ausgestattet als im englischen Recht. Denn dort steht dem Gläubiger, wenn specific performance angeordnet wird, neben der Vollstreckung in das Vermögen das scharfe Schwert des contempt of court zur Verfügung. Dieses jeweils unterschiedliche Verständnis der Aufgabe des Richters bei der Anordnung von Leistungszwang deutet auf eine tiefer liegende Differenz über die Angemessenheit staatlichen Zwangs ganz allgemein und die Rolle der Gerichte bei der Durchsetzung des subjektiven Rechts hin. Im englischen Recht zeigt sich nicht zuletzt bei dieser Streitfrage die Haltung, daß eine solche Rechtsdurchsetzung den wirklich dringlichen Fällen vorbehalten bleiben soll und daß, wenn das Gericht sich zum Einschreiten entschließt, dies mit aller Konsequenz erfolgen muß. Dagegen erscheint das differenzierte deutsche System liberaler, in dem es dem Gläubiger mehr Macht über das Verfahren einräumt. Zugleich ist es wegen 150 Kennzeichnend ist die Haltung von Sir Roy Goode, der sich gegen die Einführung des Leistungszwanges als bindendes Recht für England ausgesprochen hat, obwohl er als Mitglied der Lando-Kommission dem Primäranspruch als (einem Restatement ähnliche) Grundregel zugestimmt hatte (Stellungnahme zu KOM(2001) 398). Selbst Smith Fn. 127, S. 232, spricht von einem »lengthy process«. 151 S. zu den Auswirkungen der formalen Trennung von Erkenntnis- und Vollstreckungsinstanz etwa Gaul ZZP 1999, 135, 145f.
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
der Formalisierung des Verfahrens besser für eine massenhafte Durchsetzung subjektiver Rechte geeignet. Dieser Vorzug wird aber durch den Nachteil eines insgesamt schwächeren Schutzniveaus erkauft. Zweifelsohne wird in dieser Akzentverschiebung nicht zuletzt deutlich, daß der liberale Staat einen Spielraum bei der Wahl der Mittel der Rechtsdurchsetzung hat. Die Unterschiede mögen daher, was die Ergebnisse der Gerichtsentscheidungen angeht, noch so gering sein, es bleibt die unterschiedliche Perspektive auf die Funktion der Gerichte und des Rechtsschutzes generell. Schon Rabel war daher überzeugt, daß sich die entgegengesetzten Grundauffassungen nicht »ausrotten« oder »verschmelzen« ließen.152 Damit hatte er aus den genannten Gründen wohl recht. Seine Schlußfolgerung war, daß man die englische und amerikanische Zustimmung zu Einheitsrecht nur erreichen könne, wenn man eine Kollisionsregel aufnimmt, wie wir sie heute fast wortgleich in Art. 28 CISG finden.153 Diese Vorschrift läßt den common law Systemen die Freiheit, Primäransprüchen die Durchsetzung zu verweigern, ohne daß dies die grundsätzliche Gewährung des Primäranspruch auf materiell-rechtlicher Ebene ausschließt.154 Diese Lösung ist auch heute noch überzeugend. Demgegenüber verfolgen die Lando-Grundregeln und die UNIDROIT-Prinzipien einen anderen Ansatz, nämlich den der Verschmelzung. Sie schlagen vor, am Leistungszwang grundsätzlich festhalten, schränken aber das subjektive Recht auf die Leistung in abstrakter Weise155 in Anlehnung an Kriterien des common law ein:156 Der Primäranspruch auf Lieferung von Waren wird etwa davon abhängig gemacht, ob eine Ersatzbeschaffung am »vernünftigerweise« Markt möglich ist. Gerade dieses Kriterium hat im common law keine klaren Konturen und befördert daher Rechtsunsicherheit. Durch einen solchen Kompromiß wird nicht viel gewonnen. Es ist zudem nicht gerechtfertigt, dem Gläubiger die Entscheidung darüber, ob er den Primäranspruch geltend macht, auf materiell-rechtlicher Ebene zu entziehen. Die spezifisch prozessualen Aspekte des Leistungszwangs sind von den Grundregeln zum Vertragsrecht ohne Not auf die materiell152 Rabel RabelsZ 9 (1935), 69. S. auch Rabel Fn. 14, S. 377 (»ein Verzicht auf das Grundprinzip würde die tiefsten Wurzeln der Systeme stark treffen«). 153 S. Staudinger-Magnus Art. 28 Rn. 3ff. zur Entstehungsgeschichte des Art. 28 CISG. 154 Der Primäranspruch wird im CISG umfassend gewährt, für die Rechte des Käufers s. Art. 46, 47 CISG. Art. 28 CISG will seiner Funktion nach nur die prozessuale Durchsetzung des Anspruchs regeln, so etwa Staudinger-Magnus Art. 28 Rn. 10 m.w.N. auch zur Gegenansicht. 155 Also ohne dem Richter ein Ermessen zu gewähren, von Bar/Zimmermann Fn. 19, S. 479; Unidroit Principles 2004, Kommentar zu Art. 7.2.2, S. 210. 156 Nach Art. 9:102 (2) lit. (c) PECL ist das Recht auf Erfüllung ausgeschlossen, wenn sie in der Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen von persönlichem Charakter besteht oder von einer persönlichen Beziehung abhängig ist. Ähnlich Art. 7.2.2. lit. (d) PICC. Nach Art. 9:102 (2) lit. (d) PECL ist das Recht auf Erfüllung ausgeschlossen, die benachteiligte Partei die Ware vernünftigerweise aus einer anderen Quelle erhalten kann. Ähnlich Art. 7.2.2. lit. (c) PICC, der jedoch allgemeiner davon spricht, ob die Leistung (»performance«) vernünftigerweise aus einer anderen Quelle erhalten werden kann.
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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rechtliche Ebene vorgezogen worden. Umgekehrt dürfte die Vorstellung nach dem Modell des common law, dem Gläubiger zusätzlich Beugemittel auf der Ebene der Zwangsvollstreckung zuzusprechen, auf dem Kontinent auf Befremden stoßen.157 Wiederum bestätigt sich die Überlegenheit der kollisionsrechtlichen Entschärfung der Differenz durch eine Vorschrift wie Art. 28 CISG.
III. Die Grenze der Leistungspflicht Aus den überpositiven Grundlagen des Schuldvertrages ergeben sich für die Grenze der Primärleistungspflicht sowohl Schlußfolgerungen, die auf Überlegungen a priori über das Wesen des Vertrages beruhen, als auch Empfehlungen, die von Klugheitsregeln (Erfahrungssätzen) abgeleitet sind und die einen regelmäßigen mutmaßlichen Parteiwillen erkennen lassen.158 Diese sind nunmehr aufzugreifen und anhand gegenwärtiger Dogmatik mit Leben zu erfüllen.
1. Unmöglichkeit Aus den theoretischen Prämissen des Vertrages folgt, was bereits in § 8 als das »dualistische System« der Unmöglichkeitsregeln bezeichnet wurde.159 Der Schuldvertrag begründet das Recht des Gläubigers, den Schuldner zur Leistung zu bestimmen. Es beinhaltet die Herrschaft des Gläubigers über einen Ausschnitt aus der Person des Schuldners, nämlich der Kausalität seiner Willkür, die Leistung zu bewirken. Aus dieser Analyse folgt, daß ein subjektives Recht bereits auf der ersten normativen Ebene nicht zur Entstehung gelangt oder untergeht, wenn die Leistung faktisch nicht möglich ist. Der Schuldner muß in der Lage sein, die Leistung zu bewirken. Nur dann kann der Gläubiger über diesen Ausschnitt der Willkür des Schuldners Herrschaft erlangen. Das ist der ontologische Aspekt der Unmöglichkeit. An sich ist dies eine naheliegende Schlußfolgerung für den Bestand des subjektiven Rechts aus Vertrag. Die Schwierigkeit besteht nur darin, den zweiten Aspekt der Unmöglichkeit, den der Zurechnung, davon sorgfältig zu trennen. Der Primäranspruch besteht deswegen nicht, weil das Substrat der Willkür, auf das das Recht gerichtet ist, nicht existiert. Der Zurechnungsaspekt, nämlich daß der Schuldner zur Nichtleistung keine Alternative hatte, ihm also, vorbehaltlich des Verschuldens hinsichtlich der Unmöglichkeit, die Nichtleistung ordentlich nicht zugerechnet werden kann, ist demgegenüber für den Primäranspruch irrelevant. Die Dogmatik des deutschen Rechts bringt diese Zusammenhänge seit der Schuldrechtsreform gera157 158 159
Rabel Fn. 14, S. 377 (»unübertragbar«). S. 222ff., 236ff. S. 198ff. und MünchKommBGB-Ernst § 275 Rn. 1; Canaris JZ 2004, 214, 224.
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
dezu lehrbuchhaft auch im Gesetzestext zum Ausdruck. Gemäß § 275 IV BGB hat der Ausschluß des Primäranspruchs wegen Unmöglichkeit keine präjudizielle Wirkung für Sekundäransprüche. Diese Vorschrift geht davon aus, daß die Unmöglichkeit in zwei voneinander zu unterscheidenden Funktionen für die Haftung wegen Vertragsverletzung maßgeblich ist.160 a) Die Funktion des Parteiwillens Aus den vorstehenden Überlegungen ist die Reichweite der Befreiung wegen Unmöglichkeit zu bestimmen. Die Unmöglichkeit in ihrer ontologischen Bedeutung ist auf die faktische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Leistung beschränkt. Denn nur dann, wenn der Schuldner die Leistung nicht erbringen kann, ist es sinnlos, von dem Besitz der darauf gerichteten Willkür des Schuldners zu sprechen. Ist die Leistung durch den Schuldner möglich, besteht das Recht des Gläubigers. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Leistung unter angenehmen oder erschwerten, leichten oder ruinösen Bedingungen durch den Schuldner erbracht werden kann. Auch geht es hierbei nicht um die Vorwerfbarkeit (Zurechung) der Nichtleistung, sondern nur darum, ob das Recht auf die Leistung besteht. Wenn der Schuldner zur Leistung vermögend ist, kann der Gläubiger dies verlangen. Deswegen wurde der Vertrag geschlossen. Das ist der Primäranspruch. Unerheblich ist daher auch, ob ein Dritter die Leistung bewirken kann, oder ob die Unmöglichkeit vor oder nach Vertragschluß eintritt. Der allein entscheidende Gesichtspunkt ist, ob die Kausalität der Willkür des Schuldners existiert, die Leistung zu bewirken. Diese Ergebnisse stimmen grundsätzlich mit der gegenwärtigen Auslegung des § 275 I BGB überein.161 Diese Vorschrift ist für subjektive wie objektive, anfängliche wie nachträgliche Unmöglichkeit maßgeblich.162 Aus der Abstufung in § 275 I, II, III BGB und den speziellen Leistungsverweigerungsrechten in §§ 439 III, 635 III BGB folgt, daß in § 275 I BGB nur die faktische (einschließlich der rechtli160 Daß die Unmöglichkeit auf zwei verschiedene Weisen relevant ist, wurde durch § 275 I BGB a.F. dagegen eher verdeckt, wenn auch der Sache nach kein Unterschied bestand, denn bei zu vertretender Unmöglichkeit hat selbst die Auffassung, die am Wortlaut der Vorschrift festhielt, (richtigerweise) keinen Leistungszwang eintreten lassen, sondern zum Schadensersatz verpflichtet. S. nur Huber Fn. 11, S. 101. 161 S. etwa die Ausführungen zur tatsächlichen und rechtlichen Unmöglichkeit bei Staudinger-Otto § 275 Rn. 7ff., 31ff., 55ff.; Bamberger/Roth-Unberath § 275 Rn. 21ff. und Looschelders, Schudlrecht AT, Rn. 456ff. S. auch Art. 7.2.2. lit. (a) PICC und Art. 9:102 II lit. (a) PECL. 162 § 275 BGB-KE war dagegen allein am Inhalt des Vertrages orientiert: Der Schuldner sollte die Leistung verweigern können, wenn sie Anstrengungen erforderte, zu denen er nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses nicht verpflichtet war; s. Abschlußbericht 1992, S. 117ff. Die Unmöglichkeit sollte ihre zentrale Rolle, die sie nach Ansicht der Kommission im damaligen Schuldrecht einnahm, »verlieren«, aaO.S. 120. Zu den Veränderungen des § 275 n.F. im Vergleich zum Entwurf der ersten Kommission und der Wiedereinführung der Unmöglichkeitsregeln Canaris JZ 2001, 499ff.
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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chen) Unmöglichkeit erfaßt werden soll. Es macht daher keinen Unterschied, ob der Schuldner zur Bewirkung der Leistung Hindernisse überwinden muß. Solange sie überwindbar sind, besteht der Primäranspruch fort, ob der Schuldner für die Hindernisse verantwortlich ist oder nicht.163 Der zentrale Aspekt der Rechtfertigung der Unmöglichkeitsregeln in ontologischer Hinsicht ist die Möglichkeit, die versprochene Leistung zu bewirken. Dieser Zusammenhang wird bereits durch das Postulat des Privatrechts begründet, nach dem der Vertrag als diejenige Rechtsmacht eingeführt wurde, mit der der intelligible Besitz der Willkür des Schuldners erworben wird.164 Diese Fundierung der Unmöglichkeitsregeln widerspricht nicht etwa der Privatautonomie,165 sondern, im Gegenteil, verwirklicht die Bindung an den Vertrag und damit den Willen der Parteien.166 Die genaue Bestimmung des Ausschnitts aus der Willkür der Person des Schuldners muß freilich der Frage nach der Existenz dieses Ausschnitts vorausgehen.167 Dies ist eine zwingende Folgerung aus den vorpositiven Grundlagen. Die Maßgeblichkeit des Vertragsinhalts für die Bestimmung der Grenze der Leistungspflicht (die Unmöglichkeit) kann mit § 275 I BGB ohne weiteres in Einklang gebracht werden. Nach dieser Vorschrift ist entscheidend, ob »die Leistung« unmöglich ist, was sich beim Schuldvertrag wiederum allein aus der Parteivereinbarung ergibt. Die Anwendung der Unmöglichkeitsregeln setzt folglich eine sorgfältige Auslegung des Schuldvertrages voraus. An dieser Stelle ist es sinnvoll, Beispiele für den Zusammenhang mit dem Inhalt des Vertrages zu geben. Ein nicht nur für die Ebene des Leistungszwangs sondern auch für die Unmöglichkeit relevanter Aspekt der Leistungspflicht ist die Frage, ob der Schuldner eine vertretbare Handlung schuldet oder nicht, also ob die Leistung »in Person« zu erbringen ist, wie § 267 I 1 BGB formuliert. Wenn ein Mäzen sein Portrait von einem von ihm verehrten Maler verewigt haben möchte, so ist der tragische Verlust des Armes dieses Schuldners gleichbedeutend mit Unmöglichkeit, denn Dritte kann der Maler nicht zur Erfüllung des Vertrages einsetzen. Dies wäre keine Erfüllung des Vertrages.168
163 MünchKommBGB-Ernst § 275 Rn. 5, bezeichnet dies als eine »ausgesprochen strenge(n) Auffassung vom Fortbestand der Leistungspflicht«. 164 Dazu § 2 II.2. oben. 165 So aber Picker JZ 2003, 1035, 1042. 166 Lorenz, Neues Leistungsstörungs- und Kaufrecht: Eine Zwischenbilanz, S. 10; Bamberger/Roth-Unberath § 275 Rn. 44. Ähnlich Canaris JZ 2004, 214, 221, 223. 167 Im Ausgangspunkt ist Lobinger, Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, S. 139ff., daher uneingeschränkt zuzustimmen. Inwiefern seine Analyse des regelmäßigen Parteiwillens im einzelnen zutrifft, kann an dieser Stelle offenbleiben, da keine umfassende Bestandsaufnahme der typischen Verträge und des materiellen Elementes des Vertragsrechts (S. 154ff. oben) angestrebt wird. Anzumerken ist aber, daß der Parteiwille auch ohne Korrektur des § 275 BGB für diese Vorschrift bereits de lege lata maßgeblich ist. 168 Die Erfüllung durch Dritte ist etwa nach §§ 664, 713, 691 BGB regelmäßig ausgeschlossen. Bei Arbeitsverträgen muß der Arbeitnehmer ebenfalls grundsätzlich in Person leisten. Kann der
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
Anders gestaltet ist die Gattungsschuld. Hier verspricht der Schuldner bestimmte, nur der Gattung nach bestimmte und in der Regel frei auf dem Markt erhältliche Sachen zu liefern. Der Schuldner bleibt solange zur Leistung verpflichtet, wie die Waren aus der vereinbarten Bezugsquelle erhältlich sind.169 Für die Frage der Unmöglichkeit ist es daher unerheblich, ob der Schuldner bereits Ware für den Schuldner erworben hatte, die aber zerstört wurde, er muß den Aufwand der Beschaffung erneut betreiben.170 Wie erläutert, ist der Leistungszwang nach § 884 ZPO allerdings sehr schwach ausgeprägt: insbesondere kann er bereits durch Nicht-Beschaffung der Ware vom Schuldner unterlaufen werden.171 Wenn der Verkäufer dagegen die Bezugsquelle auf ein bestimmtes Lager einschränkt und dieses abbrennt, so wird er dadurch frei, denn nur die Waren aus diesem Lager waren geschuldet. In ähnlicher Weise wird man beim Werkvertrag zu differenzieren haben, bei dem den Unternehmer ebenfalls grundsätzlich ein »Herstellungsrisiko« trifft.172 Die Erhältlichkeit der Leistung auf dem Markt schließt somit die Unmöglichkeit der Leistung durch den Schuldner aus. Unterläßt der Schuldner die Herstellung, kann der Gläubiger Leistungszwang erwirken und nach § 887 ZPO die Mittel zur Ersatzvornahme vollstrecken. Entscheidend für das Vorliegen von Unmöglichkeit ist in all diesen Beispielen die genaue Abgrenzung der Leistung nach der Parteivereinbarung. Der Inhalt eines konkreten Vertrages kann a priori nicht bestimmt werden. Er ist stets vom konkreten Willen der Parteien, wie er in der Welt der Erfahrung geäußert wird, abhängig. Das ist das materielle Element des Vertragsrechts (oben § 6).173 Die Auslegung ist die Aufgabe der Gerichte im Einzelfall, die von der Seite der Wissenschaft nur insoweit unterstützt werden kann, als diese regelmäßig vorhandene Parteiinteressen identifizieren kann. Die gleiche Funktion erfüllen Vorschriften des dispositiven Rechts, die eine bestimmte typisierte Richtung des Parteiwillens vorgeben. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung kann daher nicht sein, apodiktische Feststellungen darüber zu treffen, wann im einzelnen bei bestimmten Verträgen oder Vertragstypen die Leistung unmöglich ist, sondern lediglich die Instrumente für die Analyse zur Verfügung zu stellen. Um die Relevanz dieses
Arbeitnehmer nicht leisten, weil er dienstunfähig krank ist, entfällt die Leistungspflicht während dieser Zeit wegen Unmöglichkeit (absolute Fixschuld), Staudinger-Otto § 275 Rn. 10. 169 Staudinger-Otto § 275 Rn. 15; Bamberger/Roth-Unberath § 275 Rn. 46; Canaris in Festschrift für Wolfgang Wiegand, S. 179, 191ff. (marktbezogene, produktionsbezogene und vorrastbezogene Gattungsschuld). 170 Es sei denn die Schuld hatte sich bereits auf die zerstörten Sachen konkretisiert, § 243 II BGB. Canaris Fn. 169, S. 188, bezeichnet dies treffend als das »Wiederbeschaffungsrisiko« des Gattungsschuldners. Ähnlich U. Huber in Festschrift für Peter Schlechtriem, S. 521, 531. 171 Das »pflicht«widrige Unterlassen der Beschaffung spielt aber für die Schadensersatzhaftung eine entscheidende Rolle. Das wird im nächsten Kapitel näher ausgeführt. 172 Huber Fn. 170, S. 553. 173 S. 152ff.
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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Ansatzes für die Lösung konkreter Probleme aufzuzeigen, ist abschließend auf eine kontroverse Fallgruppe einzugehen. b) Die Kontroverse um die Stückschuld Es ist nicht erst seit der Schuldrechtsreform streitig, wann subjektive Unmöglichkeit (insbesondere bei der Stückschuld) eintritt. Die Frage, ob der Verlust der tatsächlichen oder rechtlichen Verfügungsgewalt über den geschuldeten Gegenstand zur faktischen Unmöglichkeit führt, ist seit jeher streitig.174 Scheidet eine Befreiung nach § 275 I BGB n.F. aus, kann wegen der Höhe der (Wieder-)Beschaffungskosten nach § 275 II BGB der Schuldner berechtigt sein, die Leistung zu verweigern. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, daß nach der historischen Auslegung Unvermögen des Schuldners grundsätzlich nicht bereits dann anzunehmen ist, wenn der Schuldner die Dispositionsmöglichkeit über den geschuldeten Gegenstand verliert; auch die Wiederbeschaffung muß rechtlich oder faktisch ausscheiden.175 Die Frage, wie weitreichend die Leistungspflicht des Verkäufers bei der Stückschuld ist, haben vor allem Picker und Lobinger176 für das neue Schuldrecht erneut aufgeworfen. Von Picker stammt folgendes Beispiel:177 Der Verkäufer V verkauft ein gebrauchtes Cabrio an einen Käufer K. Der Pkw wird ohne V’s Verschulden gestohlen und nach Murmansk verbracht. Die Rückführungskosten sind hoch. Picker geht davon aus, daß nach § 275 I BGB der Schuldner durch den Verlust der Verfügungsgewalt nicht unvermögend wird.178 Deshalb bürde ihm das Gesetz § 275 II BGB Wiederbeschaffungskosten auf, die den Kaufpreis übersteigen können, da die Vorschrift ein grobes Mißverhältnis der Kosten voraussetze, und dies obwohl der Schuldner das Leistungshindernis nicht zu vertreten hat.179 Diese Lösung hält er jedoch für mit der Privatautonomie unvereinbar.180 174 Überblick über den Meinungsstand vor der Reform etwa bei Brehm JZ 1987, 1089, der sich entgegen der damaligen »neuen Lehre« auf den Standpunkt stellt, daß bei Verlust der faktischen Disposition über den geschuldeten Gegenstand die Möglichkeit, ein Leistungshindernis zu überwinden und ihn etwa zurück zu erwerben, das Unvermögen nicht ausschließt. So auch Huber Fn. 7, S. 840. Anders etwa Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, S. 253ff.: Kann der Schuldner das Leistungshindernis überwinden, etwa indem er die Sache zurück erwirbt, so liegt kein Unvermögen vor, sondern es kann allenfalls gefragt werden, ob die Überwindung der Leistungserschwerung dem Schuldner zugemutet werden kann. 175 S. nur Gsell JZ 2004, 110, 118; Canaris JZ 2001, 499; Bundestags-Drucksache 14/6040, S. 129. Aus der Rechtsprechung vor der Reform etwa BGHZ 141, 179, 181f. 176 Lobinger Fn. 167, passim. 177 Picker JZ 2003, 1035, 1036. 178 Picker JZ 2003, 1035, 1036. 179 Picker JZ 2003, 1035, 1036ff. 180 Picker JZ 2003, 1035, 1038ff. Ebenso etwa AnwK-Dauner-Lieb § 275 Rn. 23, 25. Lobinger Fn. 167, S. 249ff., 361, schlägt vor, die Vorschrift des § 275 I BGB, die er insofern für mißlungen hält, »entgegen ihrem Wortlaut« nicht anzuwenden, wenn das Leistungshindernis überwindbar und vom Schuldner zu vertreten ist und der Aufwand für die Überwindung nicht unverhältnis-
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
Wie zu zeigen sein wird, liegt der Schlüssel zur Lösung dagegen nicht, wie es aber einer verbreiteten Meinung entspricht,181 bei § 275 II BGB sondern bei der wortlautgetreuen Anwendung des § 275 I BGB. Der Verlust der faktischen Dispositionsmöglichkeit über den geschuldeten Gegenstand begründet, nach der engen Auffassung von Unvermögen, für sich genommen nicht die Unmöglichkeit der Leistung. In dem Murmansk Beispiel steht fest, daß die Rückführung des Wagens möglich ist, wenn man unterstellt, daß sich die Schuld darauf erstreckt. Diese Unterstellung ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Die Vorschrift des § 275 I BGB ist nicht bloße »Naturalistik«, eine »Banalität«, die nichts entscheidet, wie Picker suggeriert.182 Im Gegenteil, erst die Verbindung des ontologischen Aspekts der Unmöglichkeit mit dem Parteiwillen erhellt den Grund, warum der Schuldner von der Leistung befreit wird. Voraussetzung dafür, den Primäranspruch ungeschmälert bestehen zu lassen, ist, daß der Schuldner genau die Leistung versprochen hat, die noch möglich ist. Die Auslegung des Vertrages im Einzelfall bestimmt darüber, was der Schuldner zu leisten hat.183 Bei der Gattungsschuld ist es, wie bereits ausgeführt, offensichtlicher, daß der Schuldner seine Leistungspflichten eingrenzen kann. Auch bei der Stückschuld ist eine nähere Eingrenzung nach dem Parteiwillen zumindest denkbar.184 Es steht den Parteien frei zu vereinbaren, was Picker als »Platz- oder Abgabegeschäft« bezeichnet und vom »Beschaffungsgeschäft« abgrenzt:185 Wenn »offensichtlich« ist, daß der Verkäufer nach dem Parteiwillen nicht auf Erfüllung haften sollte, wenn er die faktische Disposition über den Wagen durch Diebstahl und Transport nach Mumansk verliert, dann ist die Leistung in ihrem Inhalt von vornherein beschränkt. Der Käufer erwirbt dann die Kausalität der Willkür des Verkäufers, das sich in der Verfügungsgewalt des Verkäufers befindliche Cabrio zu leisten. Wenn es sich nicht in der Verfügungsgewalt des Verkäufers befindet, sondern in Murmansk, so ist diese Leistung nach § 275 I BGB unmöglich.186 Die Frage nach den Kosten der Beschaffung würde sich dann nicht stellen. Der Verkäufer
mäßig i.S.v. § 251 II BGB ist. Nach § 275 II BGB soll der Schuldner ein nachträgliches Leistungshindernis mit einem über die Vereinbarung hinausgehenden Aufwand erst dann bewirken müssen, wenn er das Hindernis zu vertreten hat, aaO.S. 256ff., 362. Eine solch weitgehende Umgestaltung der Vorschrift ist methodisch sehr zweifelhaft. Sie ist jedenfalls nicht erforderlich, wenn die Unmöglichkeit in ihrer Funktion als Begrenzung des Primäranspruchs am Parteiwillen ausgerichtet wird. S. zu den Grenzen der Rechtsfortbildung näher S. 8ff. sowie S. 354ff. 181 In seiner Entgegnung verortet Canaris JZ 2004, 214, 220ff. das Problem ebenfalls bei § 275 II BGB. 182 Picker JZ 2003, 1035, 1042. 183 Staudinger-Otto § 275 Rn. 72, der jedoch diesen Aspekt im Hinblick auf § 275 II BGB betont. 184 So wohl auch Canaris Fn. 169, S. 246. 185 Picker JZ 2003, 1035, 1036. Gegenbeispiel wäre der Verkauf einer Sache, die, was beiden Parteien bewußt ist, einem Dritten gehört (vgl. Canaris Fn. 169, S. 246). 186 So bereits Lorenz Fn. 166, S. 10.
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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verliert aber regelmäßig seinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises nach § 326 I 1 BGB. Von Sonja Meier stammt ein weiteres instruktives Beispiel.187 V verkauft vor seinem Tod ein Gemälde an K. Sein Erbe E weiß schuldlos nichts davon und veräußert es an X. Wenn nun E nicht wegen Unmöglichkeit der Leistung befreit würde, so haftete er, wendet Meier ein, für ein Leistungshindernis, das er nicht zu verantworten habe.188 Um der Haftung zu entgehen, müßte er letztlich das Gemälde zu einem höheren Preis von X zurückerwerben als den, zu dem er es ihm verkauft hat. In dem Beispiel verliert der Schuldner also die rechtliche Dispositionsbefugnis über den geschuldeten Gegenstand, kann sie aber wiedererlangen.189 In diesem Fall kann die Leistungspflicht anders als im Murmansk-Beispiel nicht eingeschränkt werden. Der Grund dafür ist wiederum allein der Wille der Parteien: Der spätere Verkauf ist kein Leistungshindernis, das die Leistungspflicht per se aufhebt. Der Gläubiger wird sich, wie im Hinblick auf die Theorie des efficient breach ausgeführt wurde,190 regelmäßig nicht auf die Einschränkung einlassen wollen, daß der Schuldner die Sache an Dritte statt an ihn verkaufen kann. Daher besteht in diesem Fall eine ungeschmälerte Leistungspflicht des Erben. Die Haftung des Verkäufers würde auch unmittelbar einleuchten, wenn der Erbfall nicht einen Wechsel in der Person des Schuldners bewirkt hätte. Der intuitive Appell dieses Falles beruht daher nicht auf den Unmöglichkeitsregeln, sondern, so wäre zumindest zu vermuten, auf dem Unbehagen hinsichtlich der Fiktion des Eintritts des Erben in die Position des Schuldners, wie sie in § 1967 BGB angeordnet wird, und den sich daraus ergebenden Konsequenzen.
2. Unverhältnismäßigkeit § 275 II BGB räumt dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht ein, wenn die Kosten der Leistung außer Verhältnis zum Gläubigerinteresse stehen.191 Zusätzlich sollen noch der Inhalt des Schuldverhältnisses und Treu und Glauben zu beachten sein, sowie ein etwaiges Vertretenmüssen des Leistungshindernisses durch den Schuldner. § 275 II BGB verstößt nicht gegen die Privatautonomie. Wenn es eine überzeugende überpositive Rechtfertigung dieser Vorschrift gibt, dann ist es die Privatautonomie.192 Diese vielleicht auf den ersten Blick überraschende Feststellung, dürfte verständlich werden, wenn einige Ergebnisse der 187
Meier Jura 2002, 118, 128; s. auch Zimmermann, The New German Law of Obligations,
S. 48. 188
Meier Jura 2002, 118, 130; Zimmermann Fn. 187, S. 48. Entscheidend ist allein, ob der Dritte bereit ist, den Gegenstand zu veräußern. 190 S. 234ff. 191 Vgl. Art. 7.2.2. lit. (b) PICC (»performance unreasonably burdensome«) und Art. 9:102 II lit. (b) PECL (»unangemessene Anstengungen oder Kosten«). 192 Daneben tritt der ebenfalls relevante Notstandsgedanke zurück. 189
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
Erörterung der Grundlagen des Primäranspruchs in Erinnerung gerufen werden.193 a) Die Funktion des dispositiven Rechts Eine wichtige Aufgabe des Gesetzgebers ist es, für typische Situation des Rechtsverkehrs dispositives Recht zur Verfügung zu stellen. Dies schafft Rechtssicherheit und, wenn die dispositive Regel gut ist, hilft diese Dienstleistung des Gesetzgebers den Parteien, Transaktionskosten zu sparen: Die Parteien müssen das Sachproblem nicht selbst regeln.194 Um die typischen Interessen der Parteien zu erfassen und die geeigneten Mittel zu ihrer Durchsetzung zu erkennen, sind konsequentialistische Methoden gefragt. In einem von wirtschaftlichen Interessen dominierten Umfeld, kann mit Hilfe der ökonomischen Analyse der mutmaßliche Parteiwillen in bestimmten typischen Szenarien ermittelt werden. Dies kann relativ genau, formalisiert geschehen. Allerdings sind für solche mathematischen Modelle eine Fülle von Annahmen tatsächlicher Art notwendig, die eine präzise Anwendung in der Praxis nahezu unmöglich erscheinen lassen, wenn man berücksichtigt, daß Informationen von den Parteien manipuliert werden können, und die Erkenntnisfähigkeit von Gerichten realistischerweise begrenzt ist. Dennoch läßt sich mit Hilfe dieser Modelle immerhin die Richtung angeben, in der sich der mutmaßliche Parteiwille in typisierten Szenarien bewegen wird. Darauf können dann Vorschriften des dispositiven Rechts aufbauen. b) Der mutmaßliche Parteiwille bei Steigerung der Produktionskosten Für das Problem der Steigerung der Kosten der Produktion bzw. generell der Kosten der Beschaffung des Leistungsgegenstandes wurde gezeigt, daß beide Parteien, Gläubiger wie Schuldner, ein Interesse daran haben können, dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht einzuräumen, wenn diese Kosten über ein gewisses Niveau steigen, das in der Regel bei dem Leistungsinteresse des Gläubigers anzusetzen ist.195 Der Grund dafür ist, daß der zwischen den Parteien zu verteilende Kuchen größer wird. Der Vertrag ist dann für beide Seiten rentabler. Diese Schlußfolgerung war jedoch, wie alle solche Schlußfolgerungen, mit einer Reihe von Einschränkungen versehen. Eine zentrale Annahme war, daß dem Gericht das Leistungsinteresse des Gläubigers bekannt ist und das Gericht erkennen 193
S. 229ff. Wenn die dispositive Regel schlecht ist, also die typischen Interessen nicht erfaßt, dann vergrößert sie die Transaktionskosten, weil die Parteien von der Regel abweichen müssen und die Gerichte Zeit und Geld dafür aufwenden werden, nachzuprüfen, ob die Abweichung zulässig war. Daher ist der Rat der Vertreter der ökonomischen Analyse eher, daß der Gesetzgeber sich möglichst zurück halten sollte, S. 136ff. 195 S. 236ff. 194
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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kann, ob es für den Gläubiger keinen Unterschied macht, ob er die Leistung selbst oder Schadensersatz (das positive Interesse) erhält. Weiterhin wurde das Gläubigerinteresse konstant gesetzt. Schließlich wurde festgestellt, daß das Leistungsverweigerungsrecht unter idealen Bedingungen nur bei gleichzeitiger strikter Entschädigungspflicht des Schuldners eingeräumt würde. Letztlich konnte, mangels ausreichender empirischer Daten, nicht entschieden werden, ob es effizienter ist, die Parteien auf eine Neuverhandlung bei Eintritt des Leistungshindernisses zu verweisen, oder ein Leistungsverweigerungsrecht als Regel einzuführen. c) Folgerungen für die Dogmatik der §§ 275 II, 439 III, 635 III BGB Im Lichte dieser Ergebnisse wird ersichtlich, daß dem Gesetzgeber insofern ein Spielraum einzuräumen ist, ob er ein solches Leistungsverweigerungsrecht regelmäßig vorsieht. Zweitens folgt daraus für die dogmatische Einordnung einer solchen Vorschrift: Wenn der Gesetzgeber ein solches Verweigerungsrecht des Schuldners vorsieht, wie dies etwa in § 275 II BGB geschehen ist, so beruht diese Regelung auf dem mutmaßlichen Parteiwillen. Es ist daher konsequent, wenn in § 275 II 1 BGB der Inhalt des Schuldverhältnisses und Treu und Glauben (Auslegung) für maßgeblich erklärt werden. Es ist angesichts der Unsicherheiten bei der Ermittlung des mutmaßlichen Parteiwillens auch eine geradezu unerläßliche Vorsichtsmaßnahme, die Bindung an den Vertrag nicht allzu großzügig zu lockern und ein grobes Mißverhältnis der Kosten zum Leistungsinteresse zu verlangen. Schließlich ist § 275 II BGB aufgrund seiner Stellung im allgemeinen Schuldrecht auf eine unvorstellbar große Vielfalt von Situationen anwendbar. Es ist daher insgesamt ratsam, die Vorschrift auf Extremfälle zu beschränken und stets den Interessen der Parteien im Einzelfall den Vorrang zu geben.196 Der Unterschied im Anwendungsbereich erklärt auch die Abstufung zwischen § 275 II BGB und den Vorschriften des besonderen Schuldrechts, § 439 III BGB und § 635 III BGB. Letztere lassen bereits ein einfaches Überwiegen der Kosten über das Leistungsinteresse grundsätzlich genügen. Der Grund liegt in der Schärfe, mit der die (wirtschaftlichen) Interessen der Parteien wahrgenommen werden: Je genauer die Interessen der Parteien typisiert werden können, desto eher kann eine maßgeschneiderte Lösung im dispositiven Recht gefunden werden. Für die Szenarien der Nacherfüllung beim Kauf und Werkvertrag ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Regel angemessen und dürfte den vermutlichen Parteiwillen am besten widerspiegelt. Daher ist eine Annäherung an die Effizienzprognose durchaus naheliegend. Freilich bestehen auch hier viele der Unsicherheiten des Modells fort, so daß eine zurückhaltende Handhabung erfolgen sollte. Entscheidend muß das Leistungsinteresse des Gläubigers sein und damit die Frage, ob es aus seiner Sicht unerheblich ist, ob er die Leistung selbst oder Schadenser196
Zu dieser Regelungsabsicht Canaris JZ 2001, 499, 502.
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
satz erhält. Im Zweifel sollte ein Gericht davor Abstand nehmen, die Bindung an den Vertrag wegen eines Leistungshindernisses aufzulösen.197 Feste Wertgrenzen der Unverhältnismäßigkeit198 gehen daher an der Sache vorbei, wenn sie nicht auf einem ökonomisch begründeten und ausgeführten Modell für den mutmaßlichen Parteiwillen beruhen.199 Pauschale Grenzen lassen sich für § 275 II BGB angesichts der Vielzahl der erfaßten Situationen ohnehin nicht sinnvoll entwickeln.200 Es wird Aufgabe der Gerichte sein, durch sorgfältige Ermittlung der Interessen der Parteien im Einzelfall das Leistungsverweigerungsrecht nicht zum Vorwand der Aushöhlung des Grundsatzes von pacta sunt servanda werden zu lassen. Die bisherige restriktive Praxis sollte also fortgeführt werden.201 Zwei weitere Aspekte der neuen Regelungen in § 275 II BGB sind im Lichte die theoretischen Erkenntnisse des vorherigen Kapitels aufzugreifen. Für den Primäranspruch ist die Zurechnung grundsätzlich nicht von Belang. Daher ist der Verweis in § 275 II 2 BGB auf das Vertretenmüssen nicht selbstverständlich.202 Allerdings wird auch dieser Aspekt durch eine Folgenüberlegung erhellt. Es entspricht zwar dem mutmaßlichen Willen des Gläubigers, daß der Schuldner bei hohen Kosten entlastet wird. Der Gläubiger wird einer solchen Entlastung aber skeptisch gegenüber stehen, wenn der Schuldner selbst für sie verantwortlich ist, etwa wenn dieser den Leistungsgegenstand opportunistisch an einen Dritten veräußert hat. Andernfalls könnte der Schuldner seine Leistungspflicht manipulie197 Die bisherige Praxis ist mit diesen Prinzipien im Einklang. Z.B. BGH NJW-RR 2006, 304 (zu § 633 II 3 BGB a.F. B.I.2.: »Hat der Besteller objektiv ein berechtigtes Interesse an einer ordnungsgemäßen Erfüllung des Vertrags, kann ihm der Unternehmer regelmäßig die Nachbesserung wegen hoher Kosten der Mängelbeseitigung nicht verweigern. Ohne Bedeutung für die erforderliche Abwägung sind das Preis-Leistungsverhältnis und das Verhältnis des Nachbesserungsaufwands zu den zugehörigen Vertragspreisen.«); BGH NJW 2005, 2852 (zu §§ 275 II, 439 III BGB). Weitere Bsp. bei Palandt-Sprau § 635 Rn. 10. 198 Solche schlagen für § 439 III BGB etwa Bitter/Meidt ZIP 2001, 2114, 2121 vor (150% des Wertes der Sache im mangelfreiem Zustand oder 200% des Mangelunwerts). 199 Der Vorschlag, den Kaufpreis als pauschale Obergrenze der Nacherfüllungsaufwendungen beim Stückkauf anzusehen, ist aus ähnlichen Erwägungen nicht stichhaltig (so aber Ackermann JZ 2002, 378, 382; Huber Fn. 170, 566 für nicht zu vertretende Leistungshindernisse; dagegen mit dem Hinweis auf die anderslautenden europarechtlichen Vorgaben Canaris JZ 2004, 214, 218ff.). Der Bezug zur Steigerung von Pareto-Effizienz (mutmaßlicher Parteiwille) wird zumindest nicht ausdrücklich ausgeführt. Der Kaufpreis wäre dafür auch nicht der geeignete Ansatzpunkt. Wenn man dem Verkäufer gestattete, vom Vertrag bereits dann freizukommen, wenn seine Kosten den Kaufpreis übersteigen, könnte er die Kosten des Vertragsbruchs teilweise auf den Käufer abwälzen, was ineffizient wäre. Für die Effizienz der Durchführung des Vertrages ist nämlich das Verhältnis der Kosten zum Leistungsinteresse des Gläubigers maßgeblich, das höher liegen müßte als der Kaufpreis, denn sonst hätte der Käufer die Sache nicht gekauft. Die Bindung an den Vertrag ist daher auch beim Stückkauf nicht über die in § 275 II BGB und § 439 III BGB vorgesehene Abwägung hinaus aufzulockern. 200 Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 5, 22f. 201 Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 5, 11f. 202 Für ganz entscheidend hält diese Differenzierung nach dem Vertretenmüssen des Leistungshindernisses etwa Huber Fn. 170, 556ff.
III. Die Grenze der Leistungspflicht
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ren. Aus diesen Gründen ist § 275 II 2 BGB als weitere Einschränkung des Leistungsverweigerungsrechts berechtigt. Der zweite Aspekt betrifft die Frage, ob die Haftung des Schuldners, wenn er sich auf das Leistungsverweigerungsrecht beruft, von Verschulden abhängig ist. Wenn die Erkenntnisse des vorherigen Kapitels tragen, wäre an eine verschuldensunabhängige Entschädigungspflicht des Schuldners zu denken, denn eine solche läge sowohl im Hinblick auf den mutmaßlichen Parteiwillen203 als auch auf den Notstandsgedanken204 nahe. Eine solche ist jedoch de lege lata nicht zu begründen. Sie ist weder in § 275 II BGB noch in §§ 439 III, 635 III BGB vorgesehen und läßt sich auch sonst nicht herleiten. Insbesondere läßt sie sich nicht darauf stützen, daß der Schuldner, wenn er sich auf sein Leistungsverweigerungsrecht beruft, den Grund der Befreiung »vorsätzlich« selbst herbeiführt:205 Ein erlaubtes Verhalten206 kann dem Schuldner nicht »zur Schuld« zugerechnet werden.207 Die Einredekonstruktion sollte dem Schuldner zudem lediglich die Option geben, die Leistung trotz des Hindernisses zu erbringen.208 Entscheidend ist somit für die Haftung des Schuldners nach § 283 BGB, ob er die Umstände, die das Leistungshindernis begründen, zu vertreten hatte.209 Abschließend ist noch eine Bemerkung zur Schadenshöhe veranlaßt. Dem Gläubiger können nicht die Kosten der Vornahme der Leistung durch Dritte ersetzt werden, denn dies wäre ein Widerspruch zum Grund der Befreiung. Diese Kosten sind ungeachtet dessen unverhältnismäßig, ob sie beim Schuldner unmittelbar oder bei einem Dritten anfallen und der Schuldner sie ersetzen müßte. Der Schuldner haftet gemäß § 251 II 1 BGB nur auf Wertdifferenz.210 d) Abgrenzung zur Störung der Geschäftsgrundlage In § 313 BGB ist vorgesehen, daß bei einer Störung der Geschäftsgrundlage Ansprüche auf Anpassung oder Aufhebung des Vertrages gewährt werden können. Dies betrifft Fälle in denen die Parteien von einem wesentlich anderen Geschehensablauf ausgingen als der tatsächlich eingetretene. Der maßgebliche Gesichts203 Für diesen Fall ist das Einverständnis des Gläubigers mit der Nichtleistung zu vermuten, s. § 9 III.2.c). oben. 204 Vgl. § 904 S. 2 BGB. 205 So bereits Lorenz/Riehm Fn. 65, Rn. 536. 206 Die Erhebung der Einrede wird dem Schuldner durch § 275 II BGB gestattet. 207 Dazu näher S. 294ff. Zur Schuld zugerechnet wird nur ein dem Recht widerstreitendes Verhalten. 208 Canaris JZ 2001, 499, 504. 209 S. nur MünchKommBGB-Ernst § 283 Rn. 26; Lorenz/Riehm Fn. 65, Rn. 536. 210 Dies hatte bereits Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 5. Aufl., Bd. 2, § 264, S. 59, artikuliert: »Ist dem Schuldner die Erfüllung nur mit unverhältnismäßigen Opfern möglich, so braucht er dem Gläubiger nicht das Interesse, sondern nur den wahren Sachwert leisten.« Vgl. BGH NJW-RR 2005, 1039 (dort wurde Unverhältnismäßigkeit im Ergebnis aber verneint); Ruxley Electronics and Construction Ltd v. Forsyth [1996] A.C. 344.
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§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik
punkt zur Beurteilung der Wesentlichkeit der Umstände liegt in der Auslegung des Vertrages.211 Insbesondere ist maßgeblich, ob eine der Parteien das Risiko der eingetretenen Entwicklung im Vertrag übernommen hat.212 Diese Fragen sind der in der vorliegenden Untersuchung der adäquaten Reaktion des Staates auf eine Vertragsverletzung vorgelagert. An dieser Stelle muß jedoch § 275 II BGB von § 313 BGB abgegrenzt werden. Wie das ökonomische Modell gezeigt hat, ist der mutmaßliche Wille, wie er in § 275 II BGB zum Ausdruck kommt, auf die Fallgruppen beschränkt, in denen das Leistungsinteresse des Gläubigers konstant ist.213 Wenn es mit dem Ansteigen der Kosten der Leistung mit ansteigt, ist eine Befreiung des Schuldners daher nur unter dem Gesichtspunkt des § 313 BGB zu erwägen. Das entspricht auch dem Ergebnis der historischen Auslegung der Vorschrift.214
3. Persönliche Unzumutbarkeit Abschließend ist das Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 III BGB in die bisherige Systematik einzuordnen. Ein häufiges Beispiel ist das des Vaters, der den Dienstvertrag nicht erfüllen kann, weil er sein Kind zum Arzt bringen muß. Für diese Fälle fällt es schwer, ein utilitaristisches oder gar ökonomisches Modell zu entwickeln, das einen eindeutigen Parteiwillen erkennen ließe. Zum einen sind die Gründe der persönlichen Verhinderung heterogen, zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse schwer oder kaum im Voraus bestimmbar. Für die Rechtfertigung dieses Leistungsverweigerungsrechts ist zunächst zu betonen, daß es keinen in dem Verantwortungsbereich des Gläubigers liegenden Grund gibt, ihm das Recht auf die Leistung zu entziehen. Die Rechtfertigung kann allenfalls darin liegen, daß das gegenüber dem Interesse des Gläubigers höherwertige Interesse des Schuldners auch gegen den Willen des Gläubigers gerettet werden soll; das ist der Notstandsgedanke.215 Auch in diesem Fall besteht de lege lata wie bei § 275 II BGB keine strikte Entschädigungspflicht des Schuldners: Das Vertretenmüssen des Schuldners bezieht sich auf die Umstände, die das Leistungsverweigerungsrecht begründen.216
211
MünchKommBGB-Roth § 313 Rn. 35. So trägt beispielsweise regelmäßig der Mieter das Risiko, daß er die Mietsache nutzen kann, wie sich aus § 537 BGB entnehmen läßt. Weitere Beispiele bei Bamberger/Roth-Unberath § 313 Rn. 65ff. 213 Die Erfüllung des Vertrages ist dann nämlich nicht prima facie ineffizient, weil die Kosten das Leistungsinteresse des Gläubigers nicht übersteigen. 214 Dazu Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 5, 14. 215 S. 240. 216 S. oben Text bei Fn. 205. Anders etwa § 904 S. 2 BGB. 212
§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen An der Bedeutung, die das positive Recht dem Sekundäranspruch einräumt, läßt sich nach Horst Heinrich Jakobs der jeweilige Entwicklungsstand eines Rechtsystems erkennen: »Daß auf Leistung geklagt werden kann mit der Folge einer dementsprechenden Verurteilung und Vollstreckung, ist historisch gesehen alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Vor der Schuld als einer realisierbaren rechtlichen Verpflichtung steht historisch die Haftung wegen Nichterfüllung, und aus dieser Sicht kann man daher auch sagen, daß gerade die Haftung das Primäre, die Verpflichtung zur Leistung dagegen das Sekundäre, das erst später Hinzugetretene ist.«1
Für Jakobs war daher das BGB mit seinen auf die Leistungspflicht bezogenen, differenzierten Unmöglichkeitsregeln im Vergleich zum common law das fortschrittlichere Rechtssystem. Während im deutschen Recht die Leistung das Primäre sei, sei dies im common law gerade umgekehrt, hier sei der Schadensersatz wegen Nichtleistung das Primäre.2 Diese Analyse hat einiges für sich und dürfte einer auf dem Kontinent verbreiteten Einschätzung entsprechen. Sie birgt jedoch, wenn man aus ihr mehr ableiten möchte, als die an sich wertfreie Feststellung, daß die Anordnung des Leistungszwangs sich im Laufe der Zeit allmählich als regelmäßige Folge der Vertragsverletzung durchgesetzt hat, die Gefahr von Mißverständnissen und Verzerrungen. Die Schlußfolgerung Jakobs geht zunächst historisch insofern zu weit, als sie vernachlässigt, daß die auf Geld gerichtete Leistungspflicht immer schon zwangsweise durchzusetzen war.3 Was die sonstigen Leistungspflichten angeht, so ist zwar richtig, daß der Leistungszwang im englischen Recht keine Selbstverständlichkeit ist, aber dies trifft für die Fallgruppen, in denen der Leistungszwang im englischen Recht abgelehnt wird, auch für das deutsche Recht zu.4 Die deskriptiv-historische Gegenüberstellung der beiden Systeme hinsichtlich des Leistungszwangs ist daher mit Vorbehalten zu versehen. Strikt abzulehnen ist die Gegenüberstellung aber, wenn sie als normative aufgefaßt würde: Die Zuspitzung auf antagonistische Grundregeln (damages einerseits und Leistungszwang andererseits als Primäranspruch) ist für die Analyse der Ver1 2 3 4
Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, S. 169. Jakobs Fn. 1, S. 170. S. 263ff. S. 253ff.
284
§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
tragsverletzung verfehlt. Um diese zentrale Einsicht der vorherigen Kapitel nicht untergehen zu lassen, ist es sinnvoll, sich die möglichen Reaktionen des Staates auf die Vertragsverletzung erneut zu vergegenwärtigen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die normativen Implikationen des Sekundäranspruchs genauer erfassen. Der Schuldvertrag begründet ein subjektives Recht des Gläubigers auf die versprochene Leistung. Dies ist ein subjektives Recht, also ein Zwangsrecht, das bei Ausbleiben der Leistung durch Selbsthilfe oder staatlichen Zwang durchgesetzt werden kann. Der Leistungszwang ist eine »property rule«: Dem Schuldner ist nicht gestattet, in das Recht auf die Leistung des Gläubigers ohne seine Zustimmung einzugreifen. Falls der Schuldner einen Eingriff dennoch versuchen sollte, stehen dem Gläubiger Zwangsmittel zur Verfügung, um dies zu vereiteln. Alternativ zu diesem Ansatz ließe sich eine abgeschwächte Form des Schutzes denken, bei dem der Gläubiger durch eine »liability rule« geschützt wird. Danach darf der Schuldner in die Rechtsposition des Gläubigers gegen dessen Willen eingreifen; der Gläubiger muß dies dulden. Allerdings ist der Schuldner gehalten, den Gläubiger zu entschädigen, wenn er ihm die Leistung vorenthält. Wie erläutert, liegt diese Analyse der Sichtweite des Vertrages als »disjunktive Obligation« zugrunde: Der Schuldner hat die Wahl zu leisten oder bei Nicht-Leistung zu entschädigen.5 Wenn man die von Jakobs vorgenommene Gegenüberstellung nun normativ verstünde, würde man dem civil law den property rule Ansatz zuschreiben und dem common law die disjunktive Sichtweise (liability rule) unterstellen.6 Diese Analyse wäre, wie durch die rechtsvergleichende Untersuchung des Primäranspruchs deutlich geworden sein dürfte, fundamental unzutreffend. Nicht nur das deutsche Recht, auch das englische Recht erkennt den Anspruch auf die Leistung als Primäranspruch an. Die Unterschiede beim Leistungszwang, sind gradueller Natur und auf eine unterschiedliche Auffassung der Funktion der Gerichte bei der Rechtsdurchsetzung (die dritte Ebene) zurückzuführen. Beide Systeme nehmen auf der ersten normativen Ebene ihren Ausgangspunkt in einer property rule.7 Die Sichtweise der disjunktiven Obligation ist für das common law nicht zutreffend. Allerdings ist die Analyse der Haftung wegen Vertragsverletzung als property rule für beide Systeme nicht vollständig, denn sie vermag den Sekundäranspruch des Gläubigers auf der ersten normativen Ebene nicht zu erklären.8 Der Sekundäranspruch ist durch die property rule nicht erklärbar, denn der Schadensersatzanspruch dient nicht der zwangsweisen Durchsetzung des Anspruchs auf Erfüllung, sondern ist ein zusätzliches subjektives Recht, das auf der ersten normativen 5
S. 225ff. Jakobs Fn. 1, S. 171, selbst ging wohl (unter Berufung auf Holmes) davon aus, daß im englischen Recht der Sache nach eine »liability rule« gilt. 7 Zu den drei normativen Ebenen S. 161ff. 8 S. 207, 225f. 6
I. Deontologische und teleologische Argumente
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Ebene, der des materiellen Vertragsrechts, gewährt wird. Der Sekundäranspruch ist zwar auf wertmäßigen Schadensausgleich gerichtet, darf aber wiederum nicht mit der liability rule verwechselt werden. Der Schuldner hat nicht die Wahl zu leisten oder zu zahlen, sondern er muß leisten. Der Sekundäranspruch setzt vielmehr die wider-rechtlich Nichtleistung des Schuldners voraus: also die Verletzung des Primäranspruchs. Weil er eine Rechtsverletzung voraussetzt, ist der Sekundäranspruch im Hinblick auf das verletzte Recht, den Primäranspruch, »sekundär« und der Primäranspruch »primär«.9 Diese Analyse hat weitreichende Implikationen, von denen die, die den Anspruch auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung betreffen, in diesem Kapitel näher ausgeführt werden müssen. Wiederum ist nach den formalen und materiellen Elementen des Vertragsrechts zu trennen und zuerst die dogmatisch-teleologische Rechtfertigung des Anspruchs und sodann seine ökonomische Bedeutung zu erläutern.
I. Deontologische und teleologische Argumente In der grundsätzlichen Gewährung eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung ist man sich über die Grenzen der Rechtssysteme hinweg weitgehend einig.10 Auch historisch war, wie eingangs angedeutet, die Haftung auf Schadensersatz stets der unproblematischere Aspekt der Haftung bei Vertragsverletzung. Dies ist jedoch weniger selbstverständlich als es zunächst scheint. Denn der Vertrag muß hinsichtlich eines Anspruchs auf Schadensersatz keine Vereinbarung enthalten. Was ist also der Grund dafür, daß der Anspruch auf Schadensersatz für unproblematisch gehalten wurde, während der Anspruch auf die Leistung, der ja nur realisiert, was im Vertrag vereinbart wurde, von den Gerichten nur zurückhaltend durchgesetzt wurde? Der Grund ist der gleiche, wie der für die Differenzierung zwischen dem Anspruch auf eine Geldzahlung und einer sonstigen Leistung: Geldforderung können in der Regel ohne praktische Schwierigkeiten und auf angemessene Weise vollstreckt werden.11 Beide Ansprüche haben sich daher im Laufe der Zeit als selbstverständliche Reaktion des Staa9
S. 204ff. S. in dieser Hinsicht als Restatement: Art. 9:501 PECL und Art. 7.4.1. PICC. Selbst die vertragsskeptischen Vertragstheorien, § 9 I.1. oben, sehen in dem Vertrag immerhin einen Anknüpfungspunkt für eine Schadensersatzpflicht (etwa einen Rechtsscheintatbestand, der eine Vertrauenshaftung begründet, bzw. die Anerkennung einer Schuld, die in der Leistung von Schadensersatz besteht). Die Vertrauenstheorie geht sogar so weit, die Gewährung des positiven Interesses als geschuldet anzusehen, freilich nur weil es leichter ermittelbar sei als das negative Interesse. Lediglich aus Sicht des perfektionistischen Liberalismus wurde der Vertrauensschaden als einzig gerechtfertigte Haftungsform angesehen. 11 Die Regeln für die Vollstreckung sind sowohl im deutschen Recht als auch im common law für den Primäranspruch auf die in Geld bemessene Leistung und den Sekundäranspruch auf Schadensersatz identisch, dazu S. 175ff., 253ff. 10
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§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
tes auf eine Vertragsverletzung ins Bewußtsein der Gerichte und der Wissenschaftler durchgesetzt. Es ist aber dennoch erstaunlich, daß die überpositiven Grundlagen des Anspruchs auf Schadensersatz bei Vertragsverletzung im Vergleich zu der Literatur des 19. Jahrhunderts oder im Vergleich zur Bedeutung der Leistungspflichten und ihren Grenzen relativ selten erörtert werden. Denn, wie gesagt, der Vertrag muß kein Wort dazu enthalten und dennoch ist der Schadensersatz die »regelmäßige« Sanktion der Vertragsverletzung.12 Die bereits erwähnte Studie Eduard Pickers13 zielt auf die Entwicklung gemeinsamer Grundlagen der Schadensersatzhaftung ab. An den allgemeinen Prinzipien der Schadensersatzhaftung und an der Nützlichkeit ihrer einheitlichen Erfassung kann nicht gezweifelt werden.14 Allerdings muß stets beachtet werden, daß der Sekundäranspruch wegen Vertragsverletzung in jeder sinnvollen Verwendung des Wortes »vertraglicher« und nicht »gesetzlicher« Natur ist.15 Das Wesen des Sekundäranspruchs wegen Vertragsverletzung kann nur erfaßt werden, wenn von seiner Wurzel im Vertrag gerade nicht abstrahiert wird.16 Eine erste Einordnung des Anspruchs auf wertmäßigen Ausgleich ist bereits in § 8 erfolgt. An dieser Stelle sind diese ersten Prinzipien wieder aufzugreifen und zu einem System von Regeln fortzuentwickeln, von dem man sich ein vertieftes Verständnis der Dogmatik erhoffen kann. Besondere Erörterung bedürfen zunächst die Rechtfertigung der Haftung sowie ihre daraus abgeleitete Zielrichtung.
1. Rechtfertigung des Sekundäranspruchs In einem ersten Schritt ist zu betonen, worin die Begründung der Haftung auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nicht bestehen kann: nämlich in der Bindung an den Vertrag allein.17 Durch den Schuldvertrag wird ein subjektives Recht auf die Leistung begründet. Dieses Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Wenn man dieser Aussage der hier vertretenen Vertragstheorie zustimmt, dann sind der Primäranspruch und der ihm folgende Leistungszwang mit der Bindung an den Vertrag identisch. Man mag diese Bindung deontologisch, teleologisch oder regelutilitaristisch begründen, ihre Reichweite bleibt gleich. Aus 12 Die ökonomische Literatur ist allerdings reich an Studien zum Schadensersatz, s. schon S. 232ff. 13 Picker AcP 183 (1983), 369. 14 Systemübergreifende Darstellung etwa bei Jansen JZ 2005, 160. Das BGB selbst enthält in §§ 249ff. BGB gemeinsame Vorschriften für die vertragliche und außer-vertragliche Schadenshaftung. 15 Näher S. 184ff. 16 Im Deliktsrecht wird die Auseinandersetzung um die richtige Fundierung des Anspruchs intensiver geführt. Doch läßt sich diese Diskussion aus den gleichen Gründen nicht ohne weiteres auf die Haftung wegen Vertragsverletzung übertragen, aus denen diese Haftung eben keine »gesetzliche« ist. Aus Sicht einer Theorie der subjektiven Rechte s. etwa Weinrib, The Idea of Private Law. Aus der deutschen Literatur umfassend Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts. 17 S. 187ff.
I. Deontologische und teleologische Argumente
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ihr folgt ausschließlich der Anspruch auf die Leistung selbst. Der Schadensersatzanspruch wegen Vertragsverletzung ist kein Anspruch auf die Leistung selbst.18 Zweck des Schadensersatzes ist die Schaffung eines erfüllungsähnlichen Zustands.19 Die Bindung an den Vertrag, das Prinzip pacta sunt servanda, kann daher den Sekundäranspruch nicht rechtfertigen: Der Gläubiger erwirbt nicht bereits durch Vertragschluß die Kausalität der Willkür des Schuldners, Schadensersatz zu leisten. Es muß ein Mehr an Begründung hinzukommen, um den Sekundäranspruch zu rechtfertigen. Worin ist also das »rechtsethische« Fundament des Anspruchs auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung zu sehen? Die Haftung auf wertmäßigen Ausgleich ist zwar nicht aus der Bindung an den Vertrag abgeleitet, aber ihr Zweck besteht ebenfalls in der Befriedigung des Leistungsinteresses.20 Der Primäranspruch ist für den Schutz des Gläubigers gegen die Vertragsverletzung nicht ausreichend. Zwang kann erst einsetzen, wenn der Schuldner die Leistung vorenthält.21 Da der Staat dem Rechtsschutzbegehren des Gläubigers nicht sofort Glauben schenken darf, sondern erst im Erkenntisverfahren überprüfen muß, ob das Recht des Gläubigers wirklich besteht, kann der Leistungszwang zumindest die Verzögerung der Leistung nicht vermeiden. Leistungszwang versagt ganz, wenn der Schuldner zur Leistung unvermögend ist, denn dies ist eine Grenze a priori des Primäranspruchs. Schließlich ist der Leistungszwang auf der dritten normativen Ebene lückenhaft und oft wenig effektiv. Wenn es also nur den Primäranspruch gäbe und damit nur eine property rule zum Schutz des Leistungsinteresses, dann bliebe die Verletzung des subjektiven Recht des Gläubigers auf die Leistung in all diesen Hinsichten ohne Sanktion. Auf widerrechtlichen Zwang muß Gegen-Zwang erfolgen. Reicht dieser nicht aus, muß die Verletzung durch Ausgleich ihrer Folgen aufgehoben werden.22 Dies ist ein bloß wertmäßiger Ausgleich der Folgen der Verletzung. Da der Leistungszwang a priori begrenzt ist, ist die Aufhebung der Vertragsverletzung durch Ausgleich ein Gebot der praktischen Vernunft, ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit.23 Grund der Haftung ist die Verletzung des Primäranspruchs, also ein Fehlverhalten des Schuldners, ein »wrong«. Durch die Anordnung der Haftung ist dem Schuldner zu nehmen und dem Gläubiger zu geben, was dem Gläubiger wertmäßig gehört.24 Wenn die Leistung ausbleibt, so besteht der Aus18
Ausgenommen die Fälle einer disjunktiven Obligation, dazu S. 225ff. Zwar wird dies von der Vertrauenstheorie bestritten, doch ist bei ihrer Lösung, die Differenz zur Leistung noch offensichtlicher: Es soll der Schaden ersetzt werden, der dadurch eintritt, daß auf den Vertrag vertraut wurde. Dies ist offensichtlich etwas anderes als die Leistung selbst. 20 S. bereits S. 200ff. 21 Dies steht erst mit Fälligkeit fest, wenn man vom anticipatory breach einmal absieht. 22 Hegel, R TW 7, § 98, S. 186. Näher S. 204ff. 23 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 70 (2003). 24 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 59ff. (2003) unter Berufung auf Kant, der diese Haftung jedoch nicht explizit anspricht. 19
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§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
gleich darin, dem Gläubiger ein wertmäßiges Substitut der Leistung zuzusprechen. Das Recht kann als »Sekundäranspruch« bezeichnet werden, weil es auf der (zurechenbaren) Verletzung des Primäranspruchs beruht. Aus dieser Fundierung des Schadensersatzanspruchs ergeben sich Folgerungen für die Richtung des Schadensersatzes und für seine Voraussetzungen im Einzelnen.
2. Zielrichtung der Haftung: Ausgleich a) Das positive Interesse Der Primäranspruch ist auf die Leistung gerichtet, der Sekundäranspruch auf die Schaffung eines erfüllungsähnlichen Zustands, auf einen wertmäßigen Ausgleich der Vertragverletzung. Das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit erfordert es, die Rechtsverletzung aufzuheben. Dadurch wird das Unrecht zwar nicht aus der Welt geschafft, aber »aufgehoben« durch wertmäßigen Ausgleich. Das Ziel der Haftung ist vom Zweck der Leistung abgeleitet, weil die Haftung die in der Nichtleistung bestehende Rechtsverletzung aufheben soll. Deswegen ist der Gläubiger so zu stellen, wie er stünde, wenn die Leistung erbracht worden wäre. Der Schuldner hat also den Zustand herzustellen, der bestünde, wenn er das Recht nicht verletzt hätte. Er muß also dem Gläubiger den »Wert des Vertrages« geben.25 Das ist das positive Interesse.26 Es versteht sich daher von selbst, daß die Leistung selbst insoweit nicht mehr verlangt werden kann, als dem Gläubiger ein Substitut der Leistung zugesprochen wird.27 Freilich wird es unter den Bedingung der Welt der Erfahrung kaum möglich sein, einen exakt erfüllungsgleichen Zustand zu schaffen.28 Es besteht, da das Recht auf Schadensersatz seinerseits der Durchsetzung durch Zwang bedarf, immer die Gefahr der Über- oder Unterkompensation des Gläubigers. Staatlichem Zwang muß, wie hinsichtlich des Rechts auf die Leistung auch, ein Erkenntnisakt des Gerichts vorausgehen, daß der Sekundäranspruch auf der zweiten normativen Ebene wirklich besteht und in welchem Umfang eine Verletzung eingetreten ist. Dies ist mit Schwierigkeiten behaftet; einerseits sind die Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts notwendig begrenzt, andererseits ist selbst bei Kenntnis der 25 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 70 (2003); Fried, Contract as Promise, S. 19 (»What a promise is worth«). 26 Es ist enger als das Leistungsinteresse, da dieses sowohl das positive Interesse als auch die Leistung selbst erfaßt. Die Unterscheidung von »positivem« und »negativem« Interesse geht auf Jhering zurück, der sie »der Kürze wegen« in seiner berühmten Unterscuhung zur culpa in contrahendo in JherJb. 4 (1861), 1, 16 im bis heute gebräuchlichen Sinne einführt. S. zu der parallelen Unterscheidung von reliance und expectation interest S. 212ff. 27 Auch bei dem Schaden, der wegen Verzögerung der Leistung eintritt, verhalten sich die Dinge nicht anders: Nur ist hier das Leistungsverlangen aussichtslos, weil der Zeitablauf nicht rückgängig gemacht werden kann, das Substitut somit ohne Alternative der Leistung ist. 28 S. 234ff.; s. auch Fried Fn. 25, S. 21ff.
I. Deontologische und teleologische Argumente
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Verletzung ein wertmäßiger Ausgleich nicht immer möglich.29 Ist ein immaterielles Interesse verletzt, also ein Interesse, das nicht in Marktpreise umgerechnet werden kann, so ist ein Ausgleich in Geld allenfalls annäherungsweise möglich.30 Allerdings ist der Ausgleich in diesen Fällen nicht per se auszuschließen. Entscheidend ist allein, ob mit Geld ein Zustand geschaffen werden kann, der, wenn auch unzureichend und lückenhaft, dem Zustand des Gläubigers bei Leistung ähnlich ist. Dabei ist besonders darauf zu achten, daß keine dem Ausgleichsprinzip fremde Argumente in die Bestimmung des Schadens einfließen. Von der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes zu trennen sind vor allem das negative Interesse, die Gewinnabschöpfung und der Strafschadensersatz. b) Das negative Interesse Die Aufhebung einer Rechtsverletzung durch Ausgleich war die einzige vorliegend anerkannte Rechtfertigung der Pflicht, Schadensersatz wegen Vertragsverletzung zu leisten. Das ist auch die Bedeutung, in der der Begriff »Sekundäranspruch« bei Vertragsverletzung verwendet wurde: Ausgleich der Verletzung des Primäranspruchs. Aus dieser Verankerung des Sekundäranspruchs in der ausgleichenden Gerechtigkeit folgt die Richtung des Ausgleichs auf das positive Interesse. Das negative Interesse wurde durch die Vertrauenstheorie31 als Gegenmodell in die Diskussion eingeführt.32 Sie wurde bereits im Hinblick auf den Primäranspruch erörtert, weil sie das Leistungsinteresse des Gläubigers umfassend negiert. Hier kann auf die dortigen Gegenargumente verwiesen werden.33 Betont werden muß an dieser Stelle aber, daß die Vertrauenstheorie die Fundierung des Sekundäranspruchs in der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht in Zweifel zieht. Vielmehr bekräftigt sie diese Grundlage der Haftung und stellt lediglich in Abrede, daß bereits durch das Ausbleiben der Leistung eine Rechtsverletzung eintreten könne. Nur enttäuschtes Vertrauen sei als Rechtsverletzung anzuerkennen. Dementsprechend ist, von diesem Ausgangspunkt folgerichtig, »nur« das negative Interesse, der Vertrauensschaden, ersatzfähig: Im (berechtigten) Vertrauen auf den Vertrag disponiert der Gläubiger über sein Vermögen. Der Schuldner muß den Gläubiger daher so stellen, wie er stünde, wenn der Vertrag nicht geschlossen worden wäre: 29 Die Schwierigkeiten werden im deutschen Recht noch dadurch vergrößert, daß die Haftung für verlorene Chancen nicht anerkannt ist, was zumindest in Fällen der Dienstleisterhaftung bei unklaren Kausalverläufen zu erwägen wäre; s. umfassend Mäsch, Chance und Schaden, S. 143ff. 30 S. zu § 284 BGB S. 350ff. 31 Die Vertrauenstheorie geht im anglo-amerikanischen Recht auf einen berühmten Aufsatz von Fuller und Perdue zurück. Näher S. 212ff. 32 In der Folgezeit wurde der Schutz des negativen Interesses vor allem von der ökonomischen Analyse umfassend analysiert. Dazu S. 316ff. 33 S. 217ff.
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§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
»We may award damages to the plaintiff for the purpose of undoing the harm which his reliance on the defendant’s promise has caused him. Our object is to put him in as good a position as he was in before the promise was made. The interest protected in this case may be called the reliance interest.«34
Dieser Ansatz ist nach der hier vertretenen Vertragstheorie schon deswegen abzulehnen, weil er die Bindung an den Vertrag verkennt. Der Gläubiger hat ein Zwangsrecht auf die Leistung. Die Nichtleistung selbst stellt daher eine Rechtsverletzung dar, die ausgleichsfähig ist und die nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit aufgehoben werden muß.35 Während die Vertrauenstheorie die Rechtsverletzung anders bestimmt, versuchen die beiden im folgenden zu erörternden Ansätze bei Anerkennung der Nichtleistung als Rechtsverletzung die Schadenshaftung über das positive Interesse hinaus zu erweitern. c) Gewinnabschöpfung Nach dem Gedanken des wertmäßigen Ausgleichs ist ein dem Gläubiger durch die Nichtleistung entgangener Gewinn auszugleichen, weil dieser ihn bei Erhalt der Leistung erzielt hätte. Vorliegend geht es um eine Gewinnabschöpfung ganz anderer Art. Die Frage ist, ob ein Gewinn, den der Schuldner einseitig aus einer Vertragsverletzung erzielt, den also der Gläubiger nicht hätte erzielen können, dem Gläubiger zugesprochen werden kann.36 Nach der efficient breach Theorie soll der Schuldner den Vertrag nicht zu erfüllen, wenn er ein »besseres« Angebot von dritter Seite erhält.37 Dieses opportunistische Verhalten des Schuldners soll aus instrumentellen, also vertrags-externen Gründen geboten sein, um die Effizienz der Güterverteilung in einer Gesellschaft zu erhöhen.38 Die Vertragsbruchtheorie wurde insofern bereits zurück gewiesen. An dieser Stelle muß sie wieder in Erinnerung gerufen werden, denn als Gegenreaktion dazu sind Versuche zu beobachten, dem opportunistischen Vertragbruch dadurch einen Riegel vorzuschieben, daß dem Gläubiger ein Anspruch auf den 34
Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 52, 53 (1936). S. 217ff. und Fried Fn. 25, S. 19 (»a reliance standard excuses me from the very obligation I chose to assume«). 36 Im englischen Recht ist diese Möglichkeit insbesondere durch den Fall Attorney-General v. Blake [2001] 1 A.C. 268, in die Diskussion geraten. In diesem Fall hatte ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter unter Verstoß gegen vertragliche Geheimhaltungspflichten seine Autobiographie veröffentlicht. Obwohl der Staat keinen Schaden nachweisen konnte, sprach ihm die Mehrheit des House of Lords den aus der Verletzung des Dienstvertrages resultierenden Gewinn zu. Näher Treitel, The Law of Contract, S. 930ff., Edelman, Gain-Based Damages; neuere Entscheidungen lassen keinen klaren Trend erkennen, s. McKendrick, Contract Law, S. 415f. Grundsätzlich ablehnend dagegen die U.S.-Gerichte, s. Farnsworth, Contracts, § 12.20 S. 824ff. m.w.N. 37 S. 234ff. 38 Nach dem Motto: Der, der mehr zahlt, wird einen größeren Nutzen von der Leistung haben. 35
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durch den Vertragsbruch einseitig beim Schuldner entstandenen Gewinn eingeräumt wird. Diese »Gewinnabschöpfung« ist sicherlich besser geeignet, den Vertragsbruch zu verhindern, als der langwierige und oft ineffektive Leistungszwang. Er raubt dem besseren Angebot von dritter Seite seine verführerische Wirkung. Wenn der Schuldner den Gewinn abführen werden muß, wird er es unterlassen, ihn zu erzielen, zumindest wenn man unterstellt, daß er zweck-rational handelt. In Adras Building Material v. Harlow & Jones39 wurde der Schuldner, der vertragsbrüchig war, weil er bei steigenden Preisen einen höheren Gewinn durch Verkauf von Stahl an einen Dritten erzielen konnte, vom obersten Gerichtshof Israels in der Tat zur Abführung des Gewinns an den Gläubiger verurteilt. Die Begründung von Richter Barak verdient hervorgehoben zu werden: »Der ökonomische Ansatz verleiht den Faktoren nicht ausreichend Gewicht, die nicht in ökonomischen Einheiten bemessen werden können. Das Vertragsrecht soll nicht nur die ökonomische Effizienz erhöhen, sondern auch eine Gesellschaft ermöglichen, in der andere wertvolle Ziele erreicht werden. Verträge sind da, um erfüllt zu werden, ob Schadensersatz geleistet wird oder nicht, und wir sollten die Bürger ermutigen, ihre Versprechen zu halten. Versprechen zu halten, ist die Grundlage unseres Lebens als Gesellschaft und Nation.«40
Diese Begründung der Gewinnabschöpfung enthält deutliche teleologische Elemente. Ohne Zweifel besteht eine moralische Pflicht, Versprechen zu halten. Die innere Rechtspflicht, rechtstreu und ein ehrbarer Mensch zu sein, ist jedoch nicht mit äußerem Zwang sondern nur durch freien Selbstzwang zu verwirklichen. Der äußere Zwang ist auf die äußeren Rechtspflichten beschränkt.41 Der Staat soll das subjektive Recht auf die Leistung durchsetzen und wo dies begehrt wird, die Verletzung dieses Rechts durch wertmäßigen Ausgleich aufheben. Aber mehr darf er nicht tun, um die Rechtstreue seiner Bürger zu befördern. Dieses liberale Verständnis der Aufgabe des Staates schließt eine instrumentelle Begründung des Schadensersatzes aus. Schadensersatz ist nicht zu leisten, um eine bessere Gesellschaft zu ermöglichen, sondern um dem Gläubiger zu geben, was der Schuldner ihm vorenthält. Die Gewinnabschöpfung ist davon nicht erfaßt. Wenn der vertragsbrüchige Schuldner einen Gewinn erzielt, so mag eine staatliche Sanktion angemessen sein, die ausgleichende Gerechtigkeit rechtfertigt die Gewinnabschöpfung jedenfalls nicht:42 Es mag außer-vertragliche Gründe geben, dem Schuldner den Gewinn zu entziehen, es gibt jedoch keine Gründe, den Gewinn dem Gläubiger zuzusprechen.43 Der Gewinn ist nicht »auf Kosten« des 39
Übersetzt in 3 Restitution L.Rev. 235 (1995), dazu Friedmann (1988) 104 L.Q.R. 383. Zitat nach Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 75 (2003). 41 S. 49f. 42 Für dieses Argument Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 73ff. (2003). 43 S. auch H. Roth, in Jayme/Laufs/Misera/Reinhart/Serick (Hrsg.), Festschrift für Hubert Niederländer, S. 363, 371: »Eine Gewinnabschöpfung durch den Gläubiger liefe letztlich auf die Zuerkennung einer heute abgelehnten Vertragsstrafe hinaus.« 40
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§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
Gläubigers erzielt worden. Anders verhielte es sich nur, wenn jemand aus einer dem Gläubiger gehörenden Sache Nutzungen44 zieht. Hier gehören dem Gläubiger auch die aus der Sache erzielten Vorteile und er kann daher mit der Sache auch den daraus erzielten Gewinn verlangen. Im Falle des persönlichen Rechts erwirbt der Gläubiger aber nur das Versprechen, nicht das Versprochene.45 Den Gewinn erzielt der Schuldner nicht aus dem Versprechen, denn er verkauft nicht etwa sein Versprechen der Leistung an den Gläubiger, sondern aus dem Versprochenen selbst.46 Die Nichtleistung ist eine Rechtsverletzung, deren Ausgleich darin besteht, den Gläubiger so zu stellen, wie er bei Leistung stünde. Nur wenn er selbst einen Gewinn gemacht hätte, der aufgrund der Nichtleistung ausfällt, entzieht der Schuldner dem Gläubiger etwas widerrechtlich.47 Eine instrumentell begründete, darüber hinausgehende Gewinnabschöpfung bei Vertragsverletzung ist mit der hier vertretenen Vertragstheorie nicht vereinbar. d) Strafschadensersatz Der Strafschadensersatz geht über das positive Interesse hinaus. Dies wirft bereits ähnlich wie bei der Gewinnabschöpfung eine begriffliche Schwierigkeit auf. Es fällt schwer, den Strafschadensersatz (punitive damages) überhaupt als »Schadensersatz« aufzufassen. Denn Schadensersatz soll einen Schaden ausgleichen, der beim Gläubiger aufgetreten ist. Bei der Bemessung des Strafschadensersatzes wird aber auf die Beeinträchtigung des Gläubigers allenfalls mittelbar Rücksicht genommen. Maßgeblich ist vornehmlich der Grad der Vorwerfbarkeit der Vertragsverletzung. Das deutsche Recht ist dem Sanktionsgedanken im Schadensersatzrecht gegenüber bekanntlich zurückhaltend.48 Nur wenige Rechtssysteme sehen überhaupt Strafschadensersatz bei Vertragsverletzung vor.49 Zu erwähnen ist 44
Vgl. § 100 BGB. S. 43ff. Dies ist bei Geltung des Trennungsprinzips im positiven Recht besonders augenscheinlich. 46 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 77 (2003). 47 In dem Beispiel des Verkaufs an einen Dritten bei steigenden Marktpreisen hätte diese Rechtfertigung des Schadensersatzes zwar ebenfalls bedeutet, daß der Gläubiger die Differenz zwischen Vertragspreis und höherem Marktpreis erhalten hätte. Dies wäre aber deswegen der Fall, weil der Schuldner den Gläubiger um die Möglichkeit gebracht hat, diesen Gewinn selbst zu realisieren. 48 S. nur Lange/Schiemann, Schadensersatz, S. 12f.; Motive Bd. 2, S. 17. Es läßt aber immerhin in §§ 339ff. BGB die Vertragsstrafe zu, die im common law wiederum unzulässig ist, s. § 8 III.1.a) oben. Doch haben beide Rechtsinstitute eines gemeinsam: Sie wollen die Vertragsverletzung durch präventive Wirkung von Strafe verhindern. Für das Schmerzensgeld, das nunmehr nach § 253 II BGB auch bei Vertragsverletzungen zu gewähren ist, ist in der Dogmatik streitig, inwiefern, es als Strafe oder Entschädigung aufzufassen ist, s. m.w.N. Lange/Schiemann Fn. 48, S. 435ff.; Markesinis/Unberath, The German Law of Torts, S. 915ff., und Motive Bd. 2, S. 802. 49 Die Position der Gerichte in den U.S.A. ist für das Vertragsrecht im Ausgangspunkt ablehnend, nur manche Gerichte sind bereit, bei »deliktsähnlichen« Vertragsverletzungen Strafscha45
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etwa, daß die kanadischen Gerichte nach anfänglicher Zurückhaltung punitive damages als remedy bei Vertragsbruch anerkannt haben; in Whiten v. Pilot Insurance Co.50 wurde solcher Strafschadensersatz in Kanada erstmalig zugesprochen. In diesem Fall hatte eine Versicherung unter Berufung auf abwegige Einwände die Auszahlung einer Versicherungssumme aus einer Brandversicherung verzögert. Die zynische Absicht war, die Versicherungsnehmerin in eine finanzielle Notlage zu bringen, die sie zwingen würde, einen für sie ungünstigen Vergleich abzuschließen. Das oberste Gericht Kanadas sprach der Versicherungsnehmerin eine Million Dollar als Strafschadensersatz zu. Auf die ausgleichende Gerechtigkeit kann ein solcher Strafschadensersatz nicht gestützt werden:51 Zwar mag wie in den Fällen der Gewinnabschöpfung das Verhalten des Schuldners aus sonstigen außervertraglichen Gründen sanktionswürdig sein, doch besteht jedenfalls keine Veranlassung, eine nach präventiven Gesichtspunkten bestimmte Strafe dem Gläubiger zuzusprechen. Dies ist nicht gerechtfertigt. Die Strafe dient nicht der Aufhebung der Vertragsverletzung durch Ausgleich des Wertes des Vertrages, sondern geht definitionsgemäß darüber hinaus. Wird sie dem Gläubiger zugesprochen, dann erhält dieser mehr als der Schuldner ihm widerrechtlich vorenthalten hat.52 Strafschadensersatz ist daher nach der hier vertretenen Vertragstheorie kein Institut des Vertragsrechts.53 Zu erinnern ist aber daran, daß die Gerichte sich um eine Aufhebung der Rechtsverletzung durch umfassenden Ausgleich bemühen müssen. Wenn also in dem Beispiel der zynischen Versicherung die späte Leistung eine drastische Verarmung der Versicherungsnehmerin zur Folge hatte, so ist dies selbstverständlich beim Ausmaß der Verletzung zu berücksichtigen und, soweit möglich, in Geld auszugleichen. Die Richtung des Ausgleichs ist somit durch das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit vorbestimmt. Seine Voraussetzung ergibt sich aus dem Erfordernis der Rechtsverletzung.
densersatz zu gewähren, s. Farnsworth Fn. 36, § 12.8 S. 761 m.w.N. Im englischen Recht sind punitive damages für Vertragsverletzungen nicht anerkannt, Treitel Fn. 36, S. 935 m.w.N. 50 (2002) 209 D.L.R. (4th) 257 (S.C.C.). 51 Ob der Strafschadensersatz verfassungsrechtlich zulässig ist, soll hier nicht erörtert werden, ablehnend etwa BGH NJW 1992, 3096, 3102ff. S. auch den Einwand von Lord Reid in Cassel & Co. Ltd. v. Broome [1972] A.C. 1027, 1087: »To allow pure punishment in this way contravenes almost every principle which has been evolved for the protection of offenders.« 52 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 84ff. (2003). 53 S. aber etwa Smith, Contract Theory, S. 420 (für den es ein »Rätsel« ist, warum die Gerichte Strafschadensersatz nicht zusprechen); Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, S. 369ff. (der sich für diese Art des »Schadensersatzes« de lege lata und ferenda einsetzt).
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3. Zurechnung der Rechtsverletzung Der Leistungszwang ist die Konsequenz daraus, daß das Recht auf die Leistung ein subjektives Recht des Gläubigers ist; der Primäranspruch setzt keine Rechtsverletzung voraus.54 Der Sekundäranspruch hingegen setzt die Verletzung des Primäranspruchs voraus. Er ist auf die Aufhebung eines Unrechts gerichtet. Ein Unrecht liegt nur dann vor, wenn die Nichterfüllung dem Schuldner zugerechnet werden kann. Die Zurechnung der Vertragsverletzung ist somit die zentrale und einzige Voraussetzung des Sekundäranspruchs.55 Die subtil differenzierten Regelungen des BGB zum »Verschulden« haben die Aufmerksamkeit der deutschen Rechtswissenschaft auf das positive Recht und seine Verästelungen gelenkt. Die Wurzeln des BGB, aus denen es die Kraft schöpft, immer wieder zu ergrünen, sind dabei nur noch selten Gegenstand der Erörterung. Es ist daher nicht abwertend gemeint, wenn festgestellt wird, daß der Stand der Diskussion im 19. Jahrhundert was die Zurechnung anbelangt, in mancherlei Hinsicht reicher war als die heutige Literatur. Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts blickten auf eine lange und ausgefeilte naturrechtliche Diskussion über Zurechnungsregeln zurück.56 Die naturrechtliche Zurechnungsdiskussion über imputatio findet über die culpa des römischen Rechts Eingang in die Pandektenliteratur. Dabei wird die Idee der Haftung aufgrund von culpa zu Recht als ein Fortschritt im Vergleich zum altdeutschen Privatstrafensystem angesehen.57 Das »Verschuldensprinzip« hat hier seinen Ausgang und wird von Jhering bis Windscheid in all seinen Implikationen verteidigt und weiter ausgebaut. Diese Wechselwirkungen nachzuzeichnen, liegt jenseits der vorliegenden Themenstellung. Es ist aber zum Verständnis des Verschuldensprinzips hilfreich, zumindest aufzuzeigen, was es ursprünglich leisten sollte. a) Was ist Zurechnung? Wenn man die Pandektenliteratur auf diese Fragestellung hin untersucht, stößt man auf Johann Christian Hasse und seine Studie zur Culpa des römischen Rechts: 54
Huber, Leistungsstörungen, Bd. 1, S. 529. S. 200ff. Vgl. etwa Deutsch AcP 202 (2002) 881, 902: »Die Zurechnung zum Willen für sorgfaltswidriges Verhalten bringt also das ethische Fundament der Haftung zum Ausdruck. Die persönliche Verantwortung ist der Grund, die fremde Verletzung zu vermeiden und den daraus entstehenden Schaden zu übernehmen.« 56 Hugo Grotius, Joachim Georg Daries, Christian Wolff, Gottfried Achenwall, Samuel Pufendorf um nur die wichtigsten Vertreter der Naturrechtslehre zu nennen. Sie ist nicht zuletzt über Thomas von Aquin und die Spätscholastik von Aristotelischen Gedankengut beeinflußt. Dazu Hruschka Rechtstheorie 1991, 449; ders. in de Wall/Germann (Hrsg.), Festschrift für Christoph Link, S. 687ff. 57 S. 221ff. 55
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»Zurechnung (imputatio) findet nämlich Statt, wenn jemand als moralische Ursache einer rechtswidrigen Handlung angesehen wird, so daß er die rechtlichen Folgen derselben tragen muß. Schuld (culpa) und Zurechnung gehen Hand in Hand; jene bezeichnet nämlich in der Bedeutung, worin wir das Wort jetzt zu nehmen haben, dasjenige in dem Handelnden, was ihn zur moralischen Ursache der Handlung machte und daher bewirkte, daß sie ihm zugerechnet werden kann; daher diese Ausdrücke im Ganzen denselben Sinn hervorbringen und es so oft für in culpa est heißt: ei imputatur.«58
Das Verschmelzen von culpa und Zurechnung als Ausdruck zweier unterschiedlicher Traditionen fällt erst auf, wenn die Stelle Kants Definition der Zurechnung gegenüberstellt wird: »Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung die alsdann Ta t (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser Tat bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iuridica s. valida), sonst aber nur eine beurteilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde.«59
Es dürfte offensichtlich sein, daß die Kantische Formel, die wiederum nur ein Destillat auf dem Höhepunkt der naturrechtlichen Literatur ist, Hasse bei der Formulierung seines Begriffes geleitet hat.60 Dafür, wann ein Verhalten zugerechnet werden kann, müssen Maßstäbe gefunden werden, die von den Regeln, die festlegen, welche Rechte bestehen, abzugrenzen sind. Daß ein Anspruch auf die Leistung besteht, besagt nichts darüber, aus welchen Gründen die Leistung ausgeblieben ist. Ob der Schuldner »Urheber« der Nichtleistung ist, wissen wir erst nachdem wir untersucht haben, ob er überhaupt »frei« handeln konnte. Dies führt uns zu der grundlegenden Unterscheidung zwischen den Regeln, die festlegen, wann ein Verhalten verboten, geboten oder erlaubt ist, und den Regeln, die festlegen, wann ein Verhalten zugerechnet werden kann, d.h. wann jemand überhaupt als Urheber einer (freien) Handlung angesehen werden kann. Das ist die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Zurechnungsregeln.61 Der Sekundäranspruch setzt die Verletzung des Primäranspruchs voraus. Dies bedeutet, daß auf der ersten Ebene ein subjektives Recht auf Schadensersatz als möglich vorgestellt wird, das entsteht, wenn der Schuldner das Recht des Gläubigers verletzt. Ob der Sekundäranspruch entsteht, hängt damit davon ab, ob der Richter den Schuldner auf der zweiten Ebene als tatsächlichen Urheber der Verletzung »überführt«, die Verletzung ihm also als Tat zurechnet. Bereits die Fest58 Hasse, Die Culpa des römischen Rechts, § 13, S. 63. Ähnlich Mommsen, Die Lehre von der Mora, S. 13: »Die Mora des Schuldners involvirt (...) nicht bloß eine Rechtsverletzung; sie setzt überdies eine Zurechnung zur Schuld voraus.« 59 Kant, MS, AA VI, S. 227. 60 Allerdings gibt Hasse die Metaphysik der Sitten nicht als Quelle an. 61 Dazu grundlegend Hruschka Rechtstheorie 1991, 449ff. Die Unterscheidung wird auch von Hasse und Mommsen an den bei Fn. 58 zitierten Passagen vorausgesetzt.
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stellung, daß ein Verhalten widerrechtlich war, setzt die Anwendung von Zurechnungsregeln voraus, weil wir sonst gar nicht wüßten, ob der Täter dem Gesetz durch eine freie Handlung zuwider gehandelt hat. Für Wolff war dieser Zusammenhang selbstverständlich: »Aus der Anwendung eines Gesetzes auf eine Tat erhellt, daß die Tat ein Ereignis ist, das zugerechnet werden kann.«62
Die Unterscheidung von Verhaltens- und Zurechnungsregeln ist für das Verständnis des Sekundäranspruchs von grundlegender Bedeutung. Verhaltensregeln bestimmen, was eine Person tun sollte oder tun darf. Zurechnungsregeln legen fest, wann eine Person für einen bestimmten wirklichen Zustand der äußeren Welt oder ein wirkliches Ereignis »verantwortlich« gemacht werden kann. Die Zurechnungsregeln sind dabei unabhängig davon, ob das, was zuzurechnen ist, gut, schlecht oder neutral ist. Die Zurechnungsregeln treffen hinsichtlich der deontologischen Qualität (geboten, verboten, erlaubt) des Zurechnungsgegenstandes keinerlei Aussage. Es kann daher, wie Kant schreibt, ein Gericht im Hinblick auf eine Gesetzesverletzung ein Zurechnungsurteil fällen, aber auch jeder beliebige Beobachter beliebige Ereignisse zurechnen.63 Die Zurechnung von neutralem, also erlaubtem, normkonformen Verhalten ist denkbar, wenn es auch keine praktische Veranlassung dazu gibt. Wenn jemand etwas Gutes tut, dann tut er mehr als das Gesetz von ihm verlangt, und wir rechnen es ihm »zum Verdienst« zu; wenn jemand etwas gegen das Gesetz tut, dann rechnen wir es ihm »zur Schuld« zu.64 Die Gründe der Zurechnung sind dabei die gleichen. Wenn zum Beispiel eine Person faktisch keine Alternative zu seinem positiven Tun hatte, sondern durch nackte Gewalt (vis absoluta) dazu bestimmt wurde, dann schließt das die Zurechnung bei überobligationsmäßigem Verhalten zum Verdienst und bei rechtswidrigen Verhalten zur Schuld aus. Der Satz »Sollen impliziert Können« wird hier in seiner Bedeutung für die Zurechnung menschlichen Verhaltens relevant. Es ist also festzuhalten: Zurechnung setzt die Anwendung von Zurechnungsregeln auf ein Verhalten, das Verhaltensregeln unterliegt, voraus. Zur Schuld zuzurechnen ist ein Verhalten, wenn der Schuldner als moralischer Urheber einer widerrechtlichen Handlung angesehen werden kann. Das ist das »Verschuldensprinzip« nach seiner ursprünglichen Funktion. b) Wann kommt es auf Zurechnung an? Friedrich Mommsens geht in seiner Untersuchung zur Lehre von der Mora der Frage nach der Reichweite des Zurechnungserfordernisses nach: 62 Zitiert nach der Übersetzung von Hruschka des § 598 der Philosophia Practica Universalis (Rechtstheorie 1991, 449, 453). 63 Kant, MS, AA VI, S. 227. 64 Kant, MS, AA VI, S. 227.
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»Ist es, wenn ein dem Recht widerstreitender Zustand vorliegt, zur Begründung eines rechtlichen Zwanges immer nötig, daß die Entstehung dieses Zustands auf die Culpa einer Person als Ursache zurückgeführt werden kann? Erst durch die Beantwortung dieser Frage kann eine klare Einsicht, welche die Zurechnung für das Recht hat, gewonnen werden.«65
Mommsen unterscheidet zwei Arten des Zwangs. Die eine Art ist auf Herausgabe eines widerrechtlichen Habens gerichtet, dafür komme die Lehre von der Zurechnung nicht in Betracht.66 Dazu zählt er die Durchsetzung des Rechts des Gläubigers auf Erfüllung, bei der sich jede Verletzung als »Nichterfüllung« darstelle.67 Die zweite Art von Zwang sei der Entschädigungszwang.68 Dieser setze eine Zurechnung voraus. Daher sei der Schuldner nur dann für die Unmöglichkeit zu Schadensersatz verpflichtet, wenn sie in einem ihm »zuzurechnenden Verschulden« ihren Grund habe.69 Mit dem Wissen um die Funktion der Zurechnung kann nun etwas schärfer formuliert werden, warum der Primäranspruch keine Zurechnung voraussetzt, der Sekundäranspruch hingegen schon. Der entscheidende Gedanke findet sich auch etwa bereits bei Max Ernst: »Die Rechtsidee, daß man für alle zurechenbaren (absichtlichen oder unabsichtlichen) und daher verschuldeten Verletzungen einer obliegenden kontraktlichen Verbindlichkeit einzustehen habe, mußte in ihrer Anwendung auf die Rechtsverhältnisse notwendig auch zu der negativen Konsequenz führen: daß ohne diese Pflichtverletzung auch Niemand zur Verantwortlichkeit d.h. zum Ersatz irgend eines Schadens verpflichtet werden könne.«70
Der Sekundäranspruch ist ein subjektives Recht des Gläubigers gegen den Schuldner auf Aufhebung einer Rechtsverletzung, nämlich der Verletzung der dem Schuldner auferlegten vertraglichen Verbindlichkeit zu leisten. Diese Aufhebung erfolgt nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit durch wertmäßigen Ausgleich der durch die Nichterfüllung eingetretenen Schäden. Der Anspruch auf Schadensersatz setzt daher voraus, daß der Schuldner für die Nichterfüllung verantwortlich gemacht werden kann. Da Gegenstand der Zurechnung ein widerrechtliches Verhalten des Schuldners ist, handelt es sich um eine Zurechnung zur Schuld.71 Die Durchsetzung des Primäranspruchs setzt dagegen ein solches Zurechnungsurteil nicht voraus.72 Dieser ist ein subjektives Recht, das bereits durch den Vertragschluß begründet wird, und das daher ab Fälligkeit lediglich seiner Durch65
Mommsen Fn. 58, S. 14. Mommsen Fn. 58, S. 15. 67 Mommsen Fn. 58, S. 17. 68 Mommsen Fn. 58, S. 16. 69 Mommsen Fn. 58, S. 19. Eine über den Hinweis auf das römische Recht hinausgehende Begründung gibt Mommsen freilich nicht. 70 Ernst, Rechtshistorische Begründung der Mora, S. 34f. 71 Dies ist auch heute noch weitgehend anerkannt, s. nur Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 12: »Verschulden setzt Rechtswidrigkeit voraus.« 72 Anders aber MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 24f. 66
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setzung harrt. Diese erste Art des Zwanges, die Mommsen identifiziert, ist in der Tat auf ein widerrechtliches Haben gerichtet, nämlich die Kausalität der Willkür, die Leistung zu bewirken. Die Durchsetzung dieses Herrschaftsrechts ist bereits im Recht selbst angelegt, sonst wäre es kein subjektives Recht. Der Staat muß es durchsetzen, wenn es wirklich besteht. Der Sekundäranspruch ist dagegen nicht bereits mit dem Vertragsschluß begründet. Er setzt voraus, daß der Schuldner das Recht des Gläubigers verletzt, daß der Schuldner eines widerrechtlichen Verhaltens »schuldig« wird. Der Schadensersatzanspruch beruht auf dem Gedanken der Aufhebung eines Unrechts. Der Richter muß, wenn er nun ein solches Unrecht feststellen will, die Nichterfüllung dem Schuldner zur Schuld zurechnen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Zurechnung ist neutral im Hinblick auf den Zurechnungsgegenstand. Dieser wird durch die Verhaltensregeln festgelegt. Wenn ein Verhalten als ein dem Recht widerstreitender Zustand durch den Richter festgestellt werden soll, kommt es auf die Zurechnung zur Schuld an. Der Sekundäranspruch setzt die Verletzung des Primäranspruchs voraus. Die Rechtsverletzung muß also zur Schuld zurechenbar sein, damit der Sekundäranspruch besteht: Der Schuldner muß als moralischer Urheber der Handlung angesehen werden können. Die Feststellung, daß der konkrete Schuldner den Vertrag verletzt hat, setzt eine Zurechnung der Nichtleistung zur Schuld voraus. c) Der Gegenstand der Zurechnung bei einer Vertragsverletzung Der Ausgangspunkt der Zurechnung ist stets die Frage, nach dem Ereignis, das einer Person zugerechnet werden soll. Dieses ist den Verhaltensregeln zu entnehmen, dem das fragliche Verhalten unterliegt. Im Falle der Vertragsverletzung ist das vollständige oder teilweise Ausbleiben der Leistung ein dem Recht widerstreitendes Verhalten. Die Zurechnung ist also eine Zurechnung zur Schuld. Das Ereignis kann in einem positiven Tun oder in einem Unterlassen liegen. Das hängt davon ab, was im Vertrag als Leistung vereinbart wurde. Als erstes ist also festzulegen, ob der Schuldner die Vornahme einer Handlung oder deren Unterlassung zuzurechnen ist. In den allermeisten Fällen wird der Vertrag zur Vornahme einer Handlung verpflichten, so daß es um die Zurechnung einer Unterlassung geht. Dies bedeutet, daß zu fragen ist, ob der Schuldner die Leistung hätte bewirken können, ob er also hypothetisch kausal für den Eintritt der Leistung hätte werden können.73 Um ein Beispiel zu geben: Ist der Unternehmer dafür verantwortlich, daß er das von ihm versprochene Haus nicht, zu spät, oder mangelhaft gebaut hat? Die Antwort darauf geben die Zurechnungsregeln.74 73 Wie auf S. 43ff. ausgeführt, begründet der Schuldvertrag den Besitz des Gläubigers der Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken. 74 Die Zurechnungsfähigkeit ist ebenfalls eine wesentliche Voraussetzung der Zurechnung. Sie wird für die nachfolgende Untersuchung unterstellt. S. etwa Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 105ff.
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Es ist hilfreich, zwischen der ersten und zweiten Stufe der Zurechnung und zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung zu unterscheiden.75 Während die hier vorgeschlagene Differenzierung der Zurechnungsgründe ungewöhnlich sein mag, so ist sie doch der Sache nach in der gegenwärtigen Dogmatik längst anerkannt. Um dies zu illustrieren, werden im Vorgriff auf das nächste Kapitel zur Dogmatik des Sekundäranspruchs bereits in diesen Passagen Hinweise auf das geltende Recht zu geben sein. d) Die ordentliche Zurechnung (actio libera) Eine Person ist »moralischer Urheber« einer Handlung, wenn sie freiwillig gehandelt hat. Im Recht wird die Freiheit negativ bestimmt. Wie bereits bei Aristoteles zu lesen ist: »Als unfreiwillig gilt also, was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht.«76
Dies sind bis heute die beiden Gründe, die die ordentliche Zurechnung ausschließen. Gleich anfangs muß betont werden, daß eine Zurechnung ausnahmsweise auch dann erfolgen kann, wenn Zwang und Unwissenheit zwar vorliegt, aber der Schuldner für den Zwang oder die Unwissenheit verantwortlich ist.77 Doch zunächst ist die ordentliche Zurechnung zu erläutern. Auf einer ersten Stufe der Zurechnung ist zu fragen, ob der Schuldner eine Alternative zu seiner Begehung oder Unterlassung hatte (Sollen impliziert Können).78 Wenn der Unternehmer im Beispiel an einen Baum gefesselt ist (vis absoluta), so hat er keine Alternative zur Unterlassung des Hausbaus. Die Leistung ist ihm unmöglich. Die faktische Unmöglichkeit ist also, was den Sekundäranspruch angeht, ein Gesichtspunkt der die Zurechnung auf der ersten Stufe (zunächst jedenfalls)79 ausschließt. Ein weiterer Grund, der die Zurechnung auf der ersten 75 Die Unterscheidung zwischen Zurechnung erster und zweiter Stufe sowie zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung übernehme ich von Hruschka Rechtstheorie 1991, 449, 452ff. (dort auch zu ihren naturrechtlichen Quellen). Zu beachten ist aber, daß die strafrechtliche Terminologie von der hier verwendeten abweicht. Im Strafrecht wird für gewöhnlich nur das, was hier als Zurechnung zweiter Stufe bezeichnet wird, als Zurechnung »zur Schuld« angesehen, während die Zurechnung zur Schuld im Zivilrecht umfassender verstanden wird. Dieses abweichende Begriffsverständnis läßt sich sowohl unter Hinweis auf Kant als auch den Pandektenquellen erklären und rechtfertigen, s. Text bei Fn. 58, oben. 76 Aristoteles, NE, III.3., 1111a. Zu einer Interpretation dieses weiten Freiwilligkeitsbegriffs s. etwa Rapp in Höffe (Hrsg.), Die Nikomachische Ethik, S. 109ff. 77 Auch das hatte Aristoteles bereits herausgearbeitet, s. unten Text bei Fn. 86. 78 Dieser Zusammenhang wird oft dadurch verdeckt, daß sofort nach dem Verschulden hinsichtlich des Leistungshindernisses gefragt wird; statt aller Huber Fn. 54, S. 666: Leistungshindernisse schließen das Verschulden aus, es sei denn, daß der Schuldner diese verschuldet). Die Frage nach der Verantwortlichkeit hinsichtlich des Leistungshindernisses setzt bereits voraus, daß das Leistungshindernis an sich die Zurechnung ausschließen würde. 79 Es besteht die Möglichkeit, daß der Schuldner für sein Unvermögen verantwortlich zu ma-
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Stufe ausschließt, ist ein Irrtum über tatsächliche Umstände.80 Wenn der Unternehmer im Beispiel das Haus auf dem Grundstück um zehn Meter versetzt baut, weil er einen Irrtum bei der Übertragung der Planung unterliegt, so schließt dies ebenfalls (zunächst)81 die Zurechnung aus. Liegen keine die Zurechnung ausschließenden Gründe vor, kann der Schuldner die Vornahme oder Unterlassung einer Handlung auf der ersten Stufe zugerechnet werden. Auf der zweiten Stufe erfolgt die Zurechnung, wenn der Schuldner ein Motiv für die Vornahme der Handlung hat und nicht unter dem Eindruck eines Gegenmotivs steht. Ein Motiv für die Vornahme der Handlung ist die Kenntnis darum, daß sie geboten war (oder verboten). Hier sind also die Fälle des Rechtsirrtums einzuordnen.82 Denkt der Unternehmer, er sei zur Verweigerung der Leistung berechtigt, so schließt dies (zunächst) die Zurechnung zur Schuld aus. Desgleichen wird man den Unternehmer »entschuldigen«, wenn er um sein Leben besorgt ist, weil ihn jemand mit dem Tode bedroht, wenn er das Haus baut (vis compulsiva). Dieser entschuldigende Notstand schließt ebenfalls (zunächst) die Zurechnung aus.83 Liegen nun weder die Zurechnung zur Schuld ausschließende Gründe der ersten oder zweiten Stufe vor, so kann die Vornahme oder Unterlassung der Handlung ordentlich zugerechnet werden. Es handelt sich dann um eine »freie«, »freiwillige« Handlung, eine actio libera. e) Die außerordentlich Zurechnung (actio libera in causa) Für das Zivilrecht wichtiger als die Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Stufe der Zurechnung ist die Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung.84 Oft wird überhaupt nur die außerordentliche Zurechnung als Fragestellung der Zurechnung gesehen. Dies liegt daran, daß diese Art der Zurechnung im Zivilrecht überwiegend vorkommt. Zu denken ist nur an das Deliktsrecht, wo die »fahrlässige« Verletzung den Hauptanteil der Fälle ausmacht. Nun mag man sich fragen, wozu die Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung dienen soll, wenn sie so selten in der chen ist, dann kann ihm die Nichtleistung zugerechnet werden. Dies ist der sorgfältig zu trennende Gesichtspunkt der außerordentlichen Zurechnung, dazu sogleich. 80 S. etwa Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 53; Huber Fn. 54, S. 708. Die Frage der Vermeidbarkeit des Irrtums ist wiederum erst für die außerordentliche Zurechnung relevant. 81 Wiederum vorbehaltlich der außerordentlichen Zurechnung. 82 Nach der sogenannten »Vorsatztheorie« schließen sie die Zurechnung zu Schuld grundsätzlich aus. S. näher Huber Fn. 54, S. 667, 705ff.; Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 54f. Die Frage der Vermeidbarkeit des Irrtums ist die Frage nach der außerordentlichen Zurechnung. 83 Im Zivilrecht eher selten, s. aber § 35 I 1 StGB. 84 Zu den historischen Wurzeln der Unterscheidung im Naturrecht Hruschka Rechtstheorie 1991, 449, 456ff.; zu den Wurzeln bei Aristoteles, Hruschka. Fn. 56, S. 689ff. Zur Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung s. auch Joerden, Logik im Recht, S. 249ff.
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Praxis erörtert wird. Sie ist deswegen sinnvoll, weil es mit ihrer Hilfe erst möglich wird, die »Fahrlässigkeit« und die »unselbständigen Sorgfaltspflichten« sachgerecht zu erfassen. Die außerordentliche Zurechnung besagt, daß ein nach den Regeln der ordentlichen Zurechnung nicht zurechenbares Ereignis dennoch zugerechnet werden kann, wenn der Schuldner für den Grund des Ausschlusses der ordentlichen Zurechnung verantwortlich gemacht werden kann. Weil die ordentliche Zurechung ausgeschlossen ist, liegt zwar an sich keine »freie« Handlung vor, aber die Handlung ist in ihrer Ursache frei und kann deswegen als actio libera in causa oder omissio libera in causa zugerechnet werden.85 Der Gedanke der außerordentlichen Zurechnung findet sich bereits bei Aristoteles: »Auch die Unkenntnis einer gesetzlichen Bestimmung, die man kennen müßte und die keine schwierige Materie betrifft, wird bestraft. Und ähnlich ist es auch sonst, wenn angenommen werden darf, daß die Unkenntnis durch Fahrlässigkeit verschuldet war. Man setzt eben voraus, daß es bei dem Schuldigen gestanden hätte, die Unwissenheit zu vermeiden, denn es hätte ihm freigestanden, achtsam zu sein.«86
Eine außerordentliche Zurechnung erfolgt also, wenn der Schuldner für den Umstand verantwortlich gemacht wird, wegen dessen die ordentliche Zurechnung ausgeschlossen ist. Wann kann der Schuldner für den Ausschlußgrund verantwortlich gemacht werden? Dies ist dann der Fall, wenn der Schuldner das Eintreten des Umstands, der die Zurechnung an sich ausschließt, hätte verhindern sollen. In dem Beispiel von Aristoteles also ist zu fragen, ob der Täter den Rechtsirrtum hätte vermeiden können und sollen.87 Der normative Gehalt dieses »Sollens« bedarf der Präzisierung. Die Verhaltensregeln legen fest, was der Schuldner in diesem starken Sinne unbedingt tun soll. Das ist die Bedeutung des Sollens in seiner »starken« Form. Die Zurechnungsregeln legen dagegen nur fest, was der Schuldner tun sollte, wenn er vermeiden möchte, für die Verletzung einer Verhaltensregel verantwortlich gemacht zu werden. Es handelt sich also um Sollen in einer »schwachen« Form. Die Einhaltung der Verhaltensregeln kann der Gläubiger mit Zwang durchsetzen, die Einhaltung der Zurechnungsregeln dagegen nicht. Angenommen ein Schuldner V verkauft dem Gläubiger K ein Luxusfahrzeug. In der Nacht vor der vereinbarten Übergabe stellt V das Fahrzeug statt in seine 85 Hruschka Rechtstheorie 1991, 449, 457. Auf die besondere Problematik mit der der Begriff der actio libera in causa im Strafrecht bei § 20 StGB verbunden ist, muß hier nicht eingegangen werden, denn sie ist für die vorliegende Ausarbeitung von Zurechnungsregeln ohne Belang. Der Begriff »actio libera in causa« wird vorliegend für alle Fälle der außerordentlichen Zurechnung im Zivilrecht verwendet. 86 Aristoteles, NE, 1113b-1114a. Zu der Interpretation dieser Stelle (mit weiteren Übersetzungen) bei Thomas und weiteren Autoren Hruschka Fn. 56, S. 689ff. 87 Aristoteles spricht von einer »doppelten Bestrafung« des Täters: wegen der Tat und wegen der selbst verschuldeten Unwissenheit, Hruschka Fn. 56, S. 690. Es sind in der Tat zwei verschiedene Pflichtverletzungen, allerdings grundverschiedener Natur, die bei der Bestrafung des Täters angenommen werden.
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Garage unabgeschlossen und mit steckendem Zündschlüssel in einer Gegend ab, in der solche Fahrzeuge üblicherweise gestohlen werden. V läßt hier alle Sorgfalt außer acht, denn er sichert den wertvollen Gegenstand nicht gegen Diebstahl, obwohl er genau dies leicht tun könnte und auch »sollte«. Wenn nun dieser Gegenstand aber wider Erwarten nicht gestohlen und der Vertrag erfüllt wird, kann der Gläubiger dem Schuldner keinen Vorwurf machen. Es ist noch einmal »gut gegangen«. Die Verantwortlichkeit für den die ordentliche Zurechnung ausschließenden Umstand wird erst dann rechtlich relevant, wenn es zu einer Verletzung von Verhaltensregeln, also der Nichtleistung kommt. Dann kommt es in der Tat darauf an, ob der Schuldner für die Unmöglichkeit der Leistung verantwortlich ist. In dem Beispiel wäre dies zu bejahen. Das Beispiel veranschaulicht, daß es auf das »schwache Sollen« nur im Rahmen der Prüfung der Verletzung des »starken Sollens« ankommt. Die außerordentliche Zurechnung zur Schuld ist nur relevant, wenn eine Verhaltensregel verletzt worden ist. Sie hat keine davon unabhängige Funktion. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen und das schwache Sollen bereits begrifflich vom starken Sollen zu unterscheiden, ist es sinnvoll, die »unselbständigen« Sorgfaltspflichten (nach Zurechnungsregeln) von den »selbständigen« Sorgfaltspflichten (nach Verhaltensregeln)88 abzugrenzen.89 An diese schwache Form des Sollens denkt jedenfalls Mommsen, wenn er die Grundgedanken der Fahrlässigkeit formuliert: »Das Recht fordert aber vom Schuldner nicht allein, daß er der Vornahme der Leistung, zu welcher er verpflichtet ist, nicht absichtlich Hindernisse in den Weg lege, sondern zugleich, daß er Vorsicht und Sorgfalt anwende, damit nicht durch außer seinem Willen liegende Ereignisse die Erfüllung gehindert und unmöglich gemacht werde.«90
Es sind folgende Fälle der außerordentlichen Zurechnung zu unterscheiden. Unterliegt der Schuldner einem Irrtum, gleich ob faktischer oder rechtlicher Natur, so ist zu fragen, ob er den Irrtum hätte vermeiden können.91 Konnte der Schuldner den Irrtum vermeiden, so ist ihm die Nichtleistung zuzurechnen. Ist dem Schuldner die Leistung faktisch nicht möglich, so ist zu fragen, ob er die Unmöglichkeit zu verantworten hat, ob er sie »verschuldet« hat.92 Ist er für die Umstände, wegen denen die Leistung unmöglich ist, »verantwortlich«, dann ist ihm die Nichtleistung trotz der Unmöglichkeit und damit der Alternativlosigkeit seines Unterlassens der Leistung zuzurechnen. Eine Vorschrift wie § 283 BGB enthält 88 Das ist vor allem die unbedingte Pflicht, das angeborene Freiheitsrecht anderer Personen nicht zu verletzen. 89 Man könnte auch gleich in Analogie zur Schadensminderungsobliegenheit des Gläubigers von bloßen »Schuldner-Obliegenheiten« zu sprechen. 90 Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, § 20, S. 228. 91 Huber Fn. 54, S. 694, 708 92 Huber Fn. 54, S. 666.
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bei genauer Betrachtung sowohl eine Verhaltens- als auch eine Zurechnungsregel. Die Verhaltensregel lautet: Der Schuldner haftet für eine zurechenbare Rechtsverletzung auf Schadensersatz. Die Zurechnungsregel lautet: Ist der Schuldner für die Unmöglichkeit der Leistung verantwortlich, so ist die Nichtleistung auch zurechenbar, obwohl sie ihm unmöglich ist (omissio libera in causa). Schließlich, wenn der Schuldner für die Notlage selber verantwortlich ist, ist ihm erneut die Nichtleistung zuzurechnen.93 f) Die unselbständige Sorgfaltspflicht Die unselbständige Sorgfaltspflicht ist somit im Zivilrecht ein Sammelbegriff für Fälle, in denen dem Schuldner ein Verhalten außerordentlich zugerechnet wird.94 Handelt ein Schuldner »fahrlässig«, so hat er ein schwaches Sollen, eine unselbständige Sorgfaltspflicht verletzt, die im Hinblick auf die Zurechnung zur Schuld eines widerrechtlichen Verhaltens von Bedeutung ist. Die unselbständige Sorgfaltspflicht gehört den Zurechnungsregeln an. Die Widerrechtlichkeit des zuzurechnenden Verhaltens wird dabei nicht von der unselbständigen Sorgfaltspflicht festgelegt, sondern durch Verhaltensregeln. Die unselbständige Sorgfaltspflicht ist das prägende Merkmal der Fahrlässigkeit. Im Hinblick auf die Zurechnung einer Vertragsverletzung bezieht sich die Fahrlässigkeit auf die Vermeidung eines Irrtums (gleich welcher Art) oder die Vermeidung eines Zwangs, also die Alternativlosigkeit der Unterlassung der Leistung (ebenfalls auf beiden Stufen der Zurechnung). Im Vertragsrecht unterliegt das schwache Sollen zu einem erheblichen Teil der Disposition der Parteien, wie unten unter II.2. zu zeigen sein wird. Die Vertragsparteien können insbesondere eine strengere Verantwortlichkeit für Umstände, die die Zurechnung an sich ausschließen würden, vorsehen (»Garantiehaftung«).95 Die unselbständigen Sorgfaltspflichten sind, wenn es um die Zurechnung einer Vertragsverletzung geht, zwar auf den Vertrag und das Leistungsinteresse bezogen, es handelt sich aber stets um ein schwaches Sollen. Der Schuldner hat keinen 93
Vgl. § 35 I 2 StGB. Der vorliegend zugrunde gelegte Begriff der unselbständigen Sorgfaltspflicht unterscheidet sich von dem gleichlautenden Begriff, wie ihn Schur, Leistung und Sorgfalt, S. 140ff. einführt. In Anlehnung an das Deliktsrecht knüpft Schur an die Verletzung einer »unselbständigen Sorgfaltspflicht« im Hinblick auf solche Handlungen des Schuldners an, die »mittelbar« zur Unmöglichkeit der Leistung führen. Die Sorgfaltspflicht ist insoweit »unselbständig« als sie auf die Leistungspflicht bezogen bleibt. Demgegenüber wird vorliegend die Verletzung der Leistungspflicht, wenn die Leistung unmöglich ist, in einem Unterlassen gesehen. Die unselbständige Sorgfaltspflicht ist lediglich im Rahmen der Zurechnung dieser Nichtleistung relevant. Der Begriff, wie er vorliegend verwendet wird, ist zudem erheblich weiter, weil er sich auf jegliche Vertragsverletzungen bezieht, in denen es auf Fahrlässigkeit als Zurechnungsgrund ankommt; er gilt etwa auch für die Irrtumsfälle. 95 S. für einen ebenfalls strengeren Maßstab der Erfolgsverantwortlichkeit für Fälle der außervertraglichen Haftung Jansen Fn. 16, S. 119ff., 144f. 94
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Anspruch auf Einhaltung und Erfüllung dieser »Pflichten«, wenn die Leistung erfolgt.96 Gefährdet der Schuldner seine Leistungsfähigkeit, verwirklicht sich die Gefahr aber nicht, wirkt sich die Verletzung der Sorgfaltspflicht des Schuldners nicht aus. Erfolgt die Leistung dagegen nicht, so kann der Gläubiger den Schuldner gleichwohl nicht auf Erfüllung der Sorgfaltspflichten in Anspruch nehmen, sondern einzig und allein den Leistungszwang selbst ausüben. Nur für die Frage, ob Schadensersatz zu leisten ist, spielt die Verletzung des schwachen Sollens eine Rolle, also für die Frage, ob der Schuldner für die Nichtleistung verantwortlich gemacht werden kann. Aus diesem Grund sind diese Sorgfaltspflichten vorliegend als »unselbständig« bezeichnet worden. Der »Grad der Sorgfalt«, die der Schuldner an den Tag legen müsse, um sich leistungsbereit zu halten, bestimme sich, fährt Mommsen in seiner Studie zur Unmöglichkeit fort, nach den Bedürfnissen des Verkehrs und der Natur der Obligation.97 Es liegt nahe, den Grad der erforderlichen Sorgfalt zumindest im Vertragsrecht objektiv zu bestimmen.98 Die Leichtigkeit und Sicherheit der Durchsetzung der subjektiven Rechte aus Vertrag hängt zu einem großen Teil davon ab, wie eng die Zurechnungsregeln ausgelegt werden. Werden sie streng interpretiert, dann wird der Schuldner oftmals das Recht des Gläubigers auf die Leistung unterlaufen können. Denn der Leistungszwang ist lückenhaft und der Sekundäranspruch in diesem Fall einer Vielzahl von Einwänden des Schuldners ausgesetzt. Die Planungssicherheit des Gläubigers99 erfordert es, daß der Gläubiger zumindest auf die Einhaltung der im Verkehr allgemein erforderlichen Sorgfalt vertrauen darf, wenn ihm ein Schuldner ein Versprechen der Leistung anträgt. Ulrich Huber erklärt die Objektivität des Sorgfaltsmaßstab für die Haftung wegen Vertragsverletzung mit einem aus dem Vertrag selbst abgeleiteten Prinzip, dem des mutmaßlichen Parteiwillens:100 »Denn wer durch Vertrag eine Verpflichtung eingeht, übernimmt damit nach dem Sinn des vertraglichen Versprechens zugleich die Garantie dafür, daß die bei Vertragschluß gegebenen Fähigkeiten zur Erfüllung des Vertrages ausreichen. Wer verspricht, in sechs Monaten ein Haus zu bauen, verspricht damit zugleich, daß er in sechs Monaten ein Haus bauen kann.«101
Die Annahme einer Garantiehaftung des Schuldners für die erforderlichen Fähigkeiten ist in der Tat naheliegend. Wenn sich der Schuldner auf die Teilnahme am 96 Z.B. Wenn ein Schuldner, der fahrlässig irrtümlichen Meinung ist, daß er nicht leisten müsse, es aber dennoch tut, geschieht dem Gläubiger kein Unrecht und die Frage nach der Zurechnung zur Schuld stellt sich erst gar nicht. 97 Mommsen Fn. 90, S. 229. 98 Heute ganz überwiegend anerkannt, s. Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 28; MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 55; Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 78ff. 99 Darauf weist MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 55 hin. 100 Huber Fn. 54, S. 670f. 101 Huber Fn. 54, S. 671. Dies erinnert an die oftmals Kant zugeschriebene ironische Wendung des Satzes »Sollen impliziert Können«: »Du kannst, denn Du sollst.«, dazu Joerden Fn. 84, S. 205.
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allgemeinen Rechtsverkehr einläßt, so erklärt er sich mangels gegenteiliger Hinweise aus Sicht des Gläubigers dazu bereit, die allgemein anerkannten Sorgfaltspflichten des Verkehrs zu wahren. Man könnte sogar darüber hinausgehen und, wie das common law dies tut,102 für bestimmte Vertragstypen eine noch weitergehende Garantiehaftung ableiten. Die Berechtigung dieser Annahmen soll hier auf sich beruhen. Sie illustrieren aber einen hier hervorzuhebenden Aspekt: der Zurechnungsmaßstab unterliegt zumindest teilweise der Disposition der Parteien.103
4. Haftungsausfüllung Nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit ist die (zurechenbare) Rechtsverletzung dadurch aufzuheben, daß der Schuldner den Gläubiger wertmäßig so stellt, wie er stünde, wenn er geleistet hätte. Das ist das positive Interesse. Der Umfang des positiven Interesses wird durch die hypothetische Lage bei Erfüllung begrenzt. Der Schadenersatz in Geld soll eine erfüllungsähnliche Lage schaffen. Insofern tritt der Schadensersatz an die Stelle der Leistung. Diese Zielrichtung des Schadensersatzes führt zu folgenden Unterscheidungen hinsichtlich der Art der Verletzung des Rechts. Kommt die Leistung zu spät, ist der durch die Verzögerung entstehende Schaden zu ersetzen.104 Bleibt die Leistung aus, ist der Schaden zu ersetzen, der durch die Vornahme der Leistung vermieden worden wäre.105 Die Schlechtleistung ist eine Leistung, die nicht zur Gänze dem Vertrag entspricht. Vervollständigt der Schuldner die Leistung nicht rechtzeitig, dann muß er den auf die Verspätung zurück gehenden Schaden ersetzen; bleibt die Vervollständigung aus, dann ist der dadurch verursachte Schaden zu ersetzen.106 Abzugrenzen vom positiven Interesse ist das Schutzinteresse oder Integritätsinteresse.107 Wenn durch die Vornahme der Leistung oder bei ihrer Gelegenheit eine Beeinträchtigung an anderen Rechtsgütern des Gläubigers außer dem Recht auf die Leistung selbst eintritt, so ist dieser Schaden nicht vom Leistungsinteresse umfaßt. Der Schuldner ist ungeachtet der Wirksamkeit des Vertrages gehalten, das angeborene Freiheitsrecht und die erworbenen Rechte des Gläubigers nicht zu beeinträchtigen. Tut er dies dennoch, dann haftet er selbstredend wegen Verlet-
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Treitel Fn. 36, S. 838. Näher S. 311ff. 104 Das ist der Schaden, der vermieden worden wäre, wenn die Leistung rechtzeitig erbracht worden wäre. 105 Ist die Leistung unmöglich, so ist dies ein Unterfall der Nichtleistung. Auch hier ist der Gläubiger so zu stellen, wie er stünde, wenn die Leistung erbracht worden wäre. 106 Der Gläubiger hat, wie im Hinblick auf den Primäranspruch erläutert, ein Recht, den ausstehenden Teil der Leistung vom Schuldner zu verlangen, S. 252. Die Unmöglichkeit ist wiederum nur ein Unterfall der ausgebliebenen Vervollständigung, also der ausgebliebenen Nacherfüllung. 107 S. 188ff. 103
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zung dieser Pflicht. Die Begründung dieser Haftung liegt jenseits des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung zum Leistungsinteresse. Dies sind die Grundsätze der ausgleichenden Gerechtigkeit in ihrer Anwendung auf den Sekundäranspruch. Das Leistungsinteresse ist danach auf die Herstellung des Zustands beschränkt, der bestünde, wenn geleistet worden wäre. Ob die Leistung ganz, teilweise, in ihren Modalitäten, oder in qualitativer oder zeitlicher Hinsicht ausgeblieben ist, ist für die Bestimmung des positiven Interesses grundsätzlich ohne Bedeutung. Entscheidend ist allein, daß mit dem Schadensersatz die Aufhebung der Verletzung des Rechts auf die Leistung bezweckt wird. Zur näheren Konkretisierung dieser kompensatorischen Funktion des Schadensersatzes kennt das Recht eine Reihe von zusätzlichen Regeln, die den Schadensumfang mit größtmöglicher Präzision auf das positive Interesse festlegen sollen. Diese sind nunmehr überblicksartig zu behandeln. a) Kausalität Die erste wichtige Verbindung zwischen dem Verhalten des Schuldners und dem auszugleichenden Schaden ist die Kausalität.108 Der Schuldner muß eine »Ursache« dafür gesetzt haben, daß der Schaden eingetreten ist. Wenn der Schuldner für die Rechtsverletzung oder ihre Folgen nicht kausal war, kann er nicht als Urheber des Schadens gelten, den der Gläubiger erlitten haben mag. An dieser Stelle sind nur drei Feststellungen erforderlich.109 Die erste betrifft die Enge des Begriffs, wie er vorliegend verwendet wird. Kausalität wird vorliegend im Sinne der »Äquivalenztheorie« definiert; Kausalität ist also nach dem bekannten: conditio sine qua non Satz (»but for test«) zu bestimmen.110 Die zweite Feststellung wurde bereits angedeutet. In den allermeisten Fällen besteht die Leistungspflicht in der Verpflichtung zu einem aktiven Tun. Eine Pflicht zum aktiven Tun wird denknotwendig durch ein Unterlassen einer Handlung verletzt. Das ist der unveränderbare Gegenstand der Zurechnung. Im Hinblick auf die Kausalität bedeutet dies, daß wir es in solchen Fällen stets mit einer hypothetischen Kausalität zu tun haben. Entscheidend ist dann nur, ob der Schuldner die Leistung hätte bewirken können, ob er also in dieser Hinsicht hätte aktiv werden können.111 Schließlich ist anzu108 Vgl. Motive, Bd. 2, S. 18 (»selbstverständliche Voraussetzung für jeden Schadensersatzanspruch«). 109 S. die zeitlose Studie von Hart/Honoré, Causation in the Law. 110 MünchKommBGB-Oetker § 249 Rn. 98; McKendrick, Contract Law, 426; Hart/Honoré Fn. 109, S. 109ff., 431ff. 111 Wenn die Leistung aus einem Umstand ausbleibt, für den der Schuldner verantwortlich ist, so kann ihm die widerrechtliche Nichtleistung zur Schuld zugerechnet werden. Ein Beispiel dafür ist die Unmöglichkeit, die auftritt, wenn der Schuldner den zu leistenden Gegenstand mutwillig zerstört. Der Schuldner hat den Vertrag nicht durch aktives Tun verletzt (»reale« Kausalität), sondern durch Unterlassen der Leistung (»hypothetische Kausalität«). Das positive Tun, das in der Zerstörung des Gegenstandes zweifelsohne liegt, ist nur mittelbar für die Nichtleistung
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merken und darüber besteht Einvernehmen, daß diese eng verstandene Kausalität nicht ausreichend ist, um nach dem Prinzip des Ausgleichs, den Schaden auf das zu begrenzen, was das Leistungsinteresse des Gläubigers »eigentlich« ausmacht.112 Welche Kriterien zur Eingrenzung des Schadensumfangs hinzukommen, ist freilich umstritten. b) Adäquanz, Voraussehbarkeit und Schutzzweck Ein Eingrenzungsversuch der deutschen Dogmatik, insbesondere der Rechtsprechung der deutschen Gerichte, ist die »Adäquanztheorie«.113 Nach diesem Ansatz, ist für die Frage, welche Schäden ersetzbar sind, darauf abzustellen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die ex post tatsächlich eingetretenen Folgen ex ante einzutreten drohten. Unwahrscheinliche Folgen sind dann nicht in den Schadensersatz einzubeziehen. Die ex ante Perspektive wird von einem »optimalen Beobachter« gebildet, dem das gesamte Erfahrungswissen zur Zeit der Urteilsbildung zur Verfügung stehen soll. Dadurch wird die Adäquanz Formel weitgehend entwertet, denn sie vermag die Haftung nicht effektiv einzuschränken.114 Das anglo-amerikanische Recht, das hierin dem französischen Recht gefolgt ist,115 bevorzugt eine komplexere Regel: Danach sollen wahrscheinlich eintretende Ereignisse von der Haftung regelmäßig umfaßt sein, auf unwahrscheinliche Folgen der Verletzung müsse der Gläubiger jedoch hingewiesen haben, um sie ersatzfähig werden zu lassen.116 Die Anwendung dieser Formel ist kontrovers und von Bedeutung: nämlich dafür, daß der Schuldner für die Unmöglichkeit verantwortlich ist, weil er sie selbst herbeigeführt hat. Maßgeblich ist allein die Verletzung der Leistungspflicht und nicht die Verletzung der unselbständigen Sorgfaltspflicht. Dasselbe gilt für den Fall des opportunistischen Vertragsbruches, bei dem der Schuldner die Dispositionsbefugnis unwiederbringlich an einen Dritten verliert. Auch hier besteht die Rechtsverletzung in einem Unterlassen, denn die Leistungspflicht war auf ein aktives Tun gerichtet. Vgl. S. 298f. 112 MünchKommBGB-Oetker § 249 Rn. 99; Treitel Fn. 36, S. 946. 113 Zu ihrer Entwicklung Lange/Schiemann Fn. 48, S. 82ff.; Hart/Honoré Fn. 109, S. 465ff. 114 S. die Kritik an der Adäquanztheorie bei Lange/Schiemann Fn. 48, S. 91. 115 S. die umfassende, rechtsvergleichende Untersuchung von Faust, Die Vorhersehbarkeit des Schadens gemäß Art. 74 S. 2, S. 75ff. sowie etwa Ferrari 53 Louisiana L.Rev. 1257 (1993). 116 Hadley v. Baxendale (1854) 9 Exch. 341, 354 (per Alderson B.): »damages (...) should be such as may fairly and reasonably be considered either arising naturally, i.e. according to the usual course of things, from such breach of contract itself, or such as may reasonable be supposed to have been in the contemplation of both parties at the time they made the contract as the probable result of the breach«. Zu Folgeentscheidungen näher Burrows, Remedies for Torts and Breach of Contract, S. 83ff. Auch das U.S.-Recht folgt der Entscheidung und verlangt Voraussehbarkeit, s. nur Farnsworth Fn. 36, § 12.13, S. 792ff. Vgl. Art. 7.4.4 PICC: »The non-performing party is liable only for harm which it foresaw or could reasonably have foreseen at the time of the conclusion of the contract as being likely to result from its non-performance.« Enger Art. 9:503 PECL: »Die Partei, die nicht erfüllt, haftet nur für den Schaden, den sie bei Vertragsschluß als wahrscheinliche Folge ihrer Nichterfüllung vorausgesehen hat oder vernünftigerweise hätte voraussehen können, es sei denn, die Nichterfüllung war vorsätzlich oder grob fahrlässig.« Für das deutsche Recht diesen Ansatz ablehnend: Canaris JZ 2001, 499, 517.
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nicht einheitlich.117 Im englischen Recht ist bereits unklar, ob nur die Art des Schadens betroffen ist, oder auch dessen Höhe.118 Beide Kriterien, sowohl das der Adäquanz- als auch das Erfordernis der Voraussehbarkeit sind für sich genommen nicht ausreichend, um das Leistungsinteresse des Gläubigers abzugrenzen. Beide Kriterien versagen, wenn das Leistungsinteresse im Vertrag abweichend von der Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter für die Schadenhöhe ausschlaggebender Ereignisse festgelegt wurde. Das Leistungsinteresse nach der Parteivereinbarung ist das für die Haftung wegen Vertragsverletzung maßgebliche Kriterium der Schadensbegrenzung: Im Vertragsrecht hat der Schuldner daher nur für die Einbußen einzustehen, die die durch den Vertrag geschützten Interessen betreffen.119 Diese an sich naheliegende, weil vom Vertragsgedanken abgeleitete Einschränkung hatte bereits Ernst Rabel, wohl als erster ausdrücklich,120 vorgeschlagen: Wenn Sinn und Zweck des Vertrages »die gesamte Regelung der Leistungsstörung beherrschen«, so sind sie auch für die Frage, »in welchem Maße der Schuldner für die Nichterfüllung« einsteht, maßgeblich.121 Darin liegt die grundsätzliche Berechtigung der Schutzzwecklehre: »Die Hauptfrage wird also nicht sein: Entsprach der Kausalverlauf der allgemeinen Lebenserfahrung? Sondern: War die Verhaltenspflicht, die der Schädiger verletzt hat, gerade auch dazu bestimmt, einen Erfolg von der Art des tatsächlich eingetretenen zu verhindern?«122
Allerdings dürften die Unterschiede zu der Voraussehbarkeitsregel gering sein,123 weil der »remoteness« Test so offen formuliert ist (reasonable contemplation), daß sich die Frage der Zuordnung der Risiken im Vertrag damit mühelos vereinbaren 117 S. nur Treitel Fn. 36, S. 965; Hart/Honoré Fn. 109, S. 312ff. Für eine ökonomische Analyse vgl. S. 319ff. 118 Im Fall Victoria Laundry (Windsor) Ltd. v. Newman Indstries Ltd. [1949] 2 K.B. 528, wurde ein besonders hoher entgangener Betriebsausfallschaden für nicht ersatzfähig gehalten, obwohl voraussehbar war, daß ein solcher Schaden der Art nach, wenn auch nicht in dieser Höhe, eintreten würde. S. für anderslautende holdings und dicta aber Treitel Fn. 36, S. 972f. Darüber hinaus drängt sich der Eindruck auf, daß zumindest in den Fällen, in denen es um den Mangelfolgeschaden (Integritätsinteresse) geht, dem Erfordernis der Voraussehbarkeit auch die Funktion zukommt, die Verantwortlichkeit für die Vertragsverletzung sicher zu stellen. S. etwa den vieldiskutierten Fall: H. Parsons (Livestock) Ltd. v. Uttley Ingham & Co. Ltd. [1978] Q.B. 791. 119 Im einzelnen Lange/Schiemann Fn. 48, S. 104. 120 MünchKommBGB-Oetker § 249 Rn. 118. 121 Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. I, S. 495. S. aus der neueren Literatur Schlechtriem ZEuP 1997, 232, 250ff. Rabels Position ist ungeachtet der zitierten eindeutigen Passage insgesamt nicht ganz einheitlich, wie Faust 115, S. 66ff. aufzeigt: vermutlich aus taktischen Gründen, zur Erzielung von Kompromissen bei der Vereinheitlichung des Kaufrechts hat er unterschiedliche Akzente der Schadenszurechnung betont. 122 So exemplarisch die Formulierung bei U. Huber JZ 1969, 677, 683. 123 So schon Treitel in International Encyclopedia of Comparative Law, vol. VII, Rn. 16–94 (»very close indeed«).
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läßt.124 Diese Flexibilität der Begriffe wird weiterhin dadurch illustriert, daß Rabel die Schutzzwecklehre ironischerweise als Fortentwicklung der Voraussehbarkeitsregel des common law verstand.125 Es überrascht daher wenig, wenn etwa Adam Kramer nunmehr vorschlägt, die englische Vorhersehbarkeitsregel als bloßen Anwendungsfall einer auf den Sinn und Zweck des Vertrages ausgerichteten Schadensbegrenzung zu verstehen (»agreement-centred approach«).126 Sir Guenter Treitel vertritt der Sache und der Formulierung nach die Schutzzwecklehre, wenn er schreibt: »It follows from the principle of compensating the victim for loss of his bargain that the first and crucial question is to determine exactly what had been bargained for, or, in other words, the exact scope of the duty broken by the defendant.«127
Allein die Vorhersehbarkeit einer bestimmten Kausalkette vermag die vertragliche Haftung jedenfalls nicht sinnvoll zu begrenzen.128 c) Mitverantwortlichkeit des Gläubigers und Vorteilsausgleichung Abschließend sind zwei weitere formal-deontologisch begründete Begrenzungen des Leistungsinteresses zu erwähnen, die sich ebenfalls auf das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit zurück führen lassen. Zweck des Schadensersatzes wegen Vertragsverletzung ist es, die Vertragsverletzung durch wertmäßigen Ausgleich aufzuheben. Wenn der Gläubiger zur Entstehung des Schadens beiträgt, oder es unterläßt, den Schaden gering zu halten, so ist der darauf entfallende Anteil des Schadens nicht auf den Schuldner zurückzuführen. Der Gläubiger ist nicht verpflichtet, den Schaden gering zu halten. Wenn er es aber unterläßt, den Schaden zu mindern, also der Obliegenheit Folge zu leisten, dann ist das positive Interesse auf den auf den Schuldner entfallenden Anteil am Schaden zu beschrän124 Zudem ist die fehlende Voraussehbarkeit eines sehr hohen Schadens auch im deutschen Recht im Einzelfall für die Schadenshaftung relevant. So führt das mindestens fahrlässige Unterlassen eines Hinweises auf einen ungewöhnlichen hohen Schaden nach § 254 II 1 BGB zu einer entsprechenden Reduzierung der Schadensersatzforderung. Dies gilt freilich nur, wenn der Schuldner gegenüber der drohenden Gefahr noch Gegenmittel hätte ergreifen können, s. m.w.N. Lange/Schiemann Fn. 48, S. 576f. 125 Rabel Fn. 121, S. 495f. 126 Kramer in Cohen/ McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 249ff. Der Sache nach entspricht dem etwa der Ansatz von Lord Hoffmann in South Australian Asset Management Corp. v. York Montague Ltd. [1997] AC 192, so bereits Markesinis/Unberath Fn. 48, S. 295 127 Treitel Fn. 36, S. 938. 128 S. das Beispiel bei Kramer Fn. 126, S. 269: »if I tell my taxi driver that I will miss the opportunity of making a profit of £ 1 million if I fail to reach an appointment on time, his acceptance of me as a passenger should not lead to the inference that he accepts the risk«, anders sei der Fall zu bewerten, wenn aus dem genannten Anlaß der Lohn auf £ 100.000 erhöht werde. Gegen die Maßgeblichkeit des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung aber etwa Burrows in Birks (Hrsg.), English Private Law, Bd. II, S. 830.
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ken. Das deutsche Recht regelt diese Frage in § 254 BGB.129 Das englische Recht unterscheidet den Fall des Mitverschuldens bei der Entstehung des Schadens (contributory negligence), das im Rahmen der Garantiehaftung keine Rolle spielt,130 von dem der Schadensminderung (mitigation), der für die vertragliche Schadensersatzhaftung allgemein anerkannt ist.131 Ebenfalls aus der Ausgleichsfunktion folgt die Relevanz der Vorteilsausgleichung.132 Wenn aus einer Vertragverletzung dem Gläubiger sowohl Nachteile als auch Vorteile erwachsen, so ist dies bei der Bestimmung des positiven Interesses grundsätzlich beachtlich.133
II. Die ökonomische Analyse des Sekundäranspruchs 1. Reichweite der ökonomischen Analyse Es wurde in § 6 ausgeführt, daß die deontologischen Elemente der Vertragstheorie nicht in der Lage sind, das gesamte Vertragsrecht zu rechtfertigen. Über die konkreten Gründe, warum Vertragsparteien einen Vertrag schließen, kann die reine Rechtslehre keine Aussage treffen, da diese Feststellungen stets nur in der Erfahrung, also a posteriori, möglich sind. Die Gründe der Parteien für einen Vertrag sind aber für die Ermittlung des Leistungsinteresses in der Welt der Erfahrung von ausschlaggebender Bedeutung. Das materielle Element ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens müssen die Gerichte die Vereinbarung der Parteien im Einzelfall auslegen. Der konkrete Inhalt des subjektiven Rechts muß ermittelt werden, bevor es durchgesetzt werden kann. Zweitens kann der Staat die individualvertragliche Regelung von typischen Interessenlagen durch Schaffung dispositiven Rechts vorwegnehmen und damit den Parteien die Artikulation ihrer materiellen Zwecke erleichtern. Eine solche Regelung ist um so erfolgreicher, je genauer sie den mutmaßlichen Willen der Parteien abbildet. Geht sie an dem Willen vorbei, so verkehrt sich die gewünschte Vereinfachung in ihr Gegenteil. Die Parteien werden, je nach Schwere der Verfehltheit der Regelung, alles daran setzen, von der Regelung des dispositiven Rechts abzuweichen. Es wurde ebenfalls bereits erwähnt, daß die Vertreter der ökonomischen Analyse mehrheitlich zur Vorsicht und zur Zurückhaltung des Staates mahnen, insbesondere wenn es 129
S. d. umfassender Darstellung bei Lange/Schiemann Fn. 48, S. 535ff. Die Rechtslage wird als unbefriedigend befunden, s. etwa McKendrick, Contract Law, S. 427f. 131 Treitel Fn. 36, S. 976ff. 132 S. die Analyse (mit abwechender Begrifflichkeit, unter Zurückführung auf die These der maximalen Eliminierung von Reststörungen) Wendehorst, Anspruch und Ausgleich, 40, 450ff. Im einzelnen zu den Fallgruppen Lange/Schiemann Fn. 48, S. 486ff. 133 Die Vorteilsausgleichung ist nur dann zu versagen ist, wenn die Vorteile mit dem Leistungsinteresse in keinem inneren Zusammenhang stehen. Auch darin äußert sich wiederum die Maßgeblichkeit der Vereinbarung für das Leistungsinteresse. Näher rechtsvergleichend zu dem res inter alios acta Prinzip Unberath, Transferred Loss, S. 35ff. 130
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um Verträge im Bereich zwischen Unternehmern geht.134 Es sind schließlich die Parteien selbst, die ihre Interessen am besten kennen. Aus der Abgrenzung formaler und materieller Elemente des Vertragsrechts folgt des weiteren, daß die Regeln des Vertragsrechts nicht instrumentell gerechtfertigt werden können soweit sie sich aus der a priori bestimmten Natur des Vertrages ergeben. Insofern sind sie auch der Disposition der Parteien entzogen. Nach der vorliegend vertretenen, dem Schutz subjektiver Rechte verpflichteter Theorie begründet der Schuldvertrag das Recht des Gläubigers auf die Leistung (Primäranspruch).135 Wird dieses erworbene Recht vom Schuldner zurechenbar verletzt, so haftet er auf Schadensersatz (Sekundäranspruch).136 Der Ausgleich ist nach dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit auf das positive Interesse gerichtet. Aufgabe des Staates ist die Durchsetzung dieser Rechte (Primär- und Sekundäranspruch) mit Zwang. Um die Relevanz der ökonomischen Betrachtung des Sekundäranspruchs erfassen zu können, ist es daher vonnöten, zunächst klarzustellen, über welche Aspekte seiner Begründung und seiner Folgen die Parteien disponieren können. Zunächst steht es den Parteien frei, das Leistungsinteresse des Gläubigers festzulegen. Die Parteien können auch, wie bereits erläutert wurde, eine nur disjunktive Obligation vereinbaren, bei der der Schuldner die Wahl hat, zu leisten oder den Gläubiger nach einem festgelegten Maßstab zu entschädigen. Allein maßgeblich ist der Wille der Parteien und dieser ist im Regelfall aber nicht auf die Begründung einer disjunktiven Obligation gerichtet.137 Vereinbaren die Parteien ein Recht auf die Leistung selbst, so können sie Aspekte des Sekundäranspruchs regeln, soweit dies mit der ausgleichenden Gerechtigkeit vereinbar ist. Dieser Fall ist von der disjunktiven Obligation dadurch zu unterscheiden, daß es dem Schuldner nicht freisteht, zu leisten oder nicht zu leisten. Der Gläubiger behält den Primäranspruch auf die Leistung selbst, insofern bleibt der Schuldner an den Vertrag gebunden, selbst wenn dies im Einzelfall ineffizient sein sollte.
2. Die Haftungsvoraussetzungen Der Sinn einer Vereinbarung der Parteien zum Schadensersatz kann zunächst sein, die Frage der Zurechnung im Voraus festzulegen. Der Sekundäranspruch setzt eine zurechenbare Rechtsverletzung voraus. Die Zurechnungsregeln legen im Einzelnen fest, wann eine Zurechnung erfolgt. Dabei wurde deutlich, daß das 134
S. 136ff. S. 211ff. 136 S. 286ff. 137 S. 225ff., 284. Die ökonomische Betrachtung des Primäranspruchs konnte daher nur einen sehr eingeschränkten Bereich aufzeigen, in dem zu erwägen ist, die regelmäßige durch den Schuldvertrag begründete Bindung zu lockern. Ein eingeschränktes Leistungsverweigerungsrecht konnte für den Fall begründet werden, daß die Leistung nur unter unverhältnismäßigen Opfern erbracht werden kann. 135
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Recht durchaus unterschiedliche Grade der Sorgfalt kennt, die der Schuldner anwenden muß, um seine Leistungsfähigkeit herzustellen oder nicht zu gefährden. Die Strenge dieser (nicht einklagbaren) unselbständigen Sorgfaltspflichten richtet sich nach der Natur des Vertrages, den Bedürfnissen des Verkehrs und dem Parteiwillen im Einzelfall. Die Bedürfnisse des Verkehrs sind dabei verdichtete typische Parteiinteressen. a) Zurechnung als Gegenstand der Parteivereinbarung Im Zivilrecht gilt, wie bereits erläutert,138 ein »objektivierter« Sorgfaltsmaßstab. Das ist rechtsvergleichend, soweit nicht bereits eine Garantiehaftung eingreift, einheitlich der Fall.139 Dabei wurde deutlich, daß die Objektivierung des Maßstabs im Vertragsrecht aus dem Parteiwillen abgeleitet werden kann: Aus Sicht des Gläubigers enthält das Versprechen des Schuldners die Aussage, daß er über die für die Durchführung des Vertrages erforderlichen Fähigkeiten verfügt. Bereits durch die Teilnahme am Rechtsverkehr wird somit den Parteien unterstellt, daß sie nicht wollen, daß eine rein subjektiv begründete Unfähigkeit zur Leistung die Zurechnung ausschließen soll. Schließlich steht es ihnen frei, einen Vertrag nicht abzuschließen. Ein solches Vorgehen dient auch der sicheren Bestimmbarkeit der subjektiven Rechte aus Vertrag und dürfte auch aus diesem Grund von den Parteien typischerweise bevorzugt werden. Die Garantiehaftung für das Bestehen finanzieller Leistungsfähigkeit140 ließe sich mit ganz ähnlichen Erwägungen rechtfertigen. Dann wäre auch sie auf den typisierten, mutmaßlichen Parteiwillen, genauer auf den diesen spiegelnden Verkehrsinteressen, zurückzuführen. Es ist schließlich ebenfalls ein Schluß auf den vermuteten Parteiwillen, wenn etwa das Schenkungsrecht in § 521 BGB den Grad der vom Schuldner aufzuwendenden Sorgfalt absenkt oder in § 708 BGB der Maßstab des § 277 BGB für anwendbar erklärt wird. Diese Vorschriften beinhalten daher Auslegungsregeln. Die Parteien können auch im konkreten Einzelfall den Grad der erforderlichen Sorgfalt festlegen. Daran wird der Schuldner ein Interesse haben, denn er kann absehen, wann er für die Nichtleistung verantwortlich gemacht werden wird. Der Gläubiger wiederum kann damit besser planen, denn er weiß nun eher, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Leistung oder ihr Substitut zu erwarten ist und in welchen Fällen, es sich lohnt, den Weg vor die Gerichte anzutreten. Die Parteien können die Haftung sowohl im Voraus verschärfen als auch abmildern oder für Falle der Fahrlässigkeit ganz ausschließen.141 Eine besondere Form der Haftungs-
138 S. 303ff. Der Schuldner muß die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt walten zu lassen, wie etwa § 276 II BGB normiert. 139 S. 331ff. 140 Huber Fn. 54, S. 626ff. 141 Nur eines ist ihnen verwehrt. Sie können, wie erläutert, S. 158ff., die Haftung nicht im Vor-
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verschärfung ist die Garantie.142 Eine Garantiehaftung liegt vor, wenn dem Schuldner der Einwand abgeschnitten ist, daß er für Zwang oder Unwissenheit nicht verantwortlich ist. Ob nur bestimmte Leistungshindernisse oder bestimmte Arten der Verantwortlichkeit betroffen sind, beurteilt sich nach der Auslegung der Garantie.143 Die Garantie beseitigt nicht etwa das Erfordernis der Zurechnung als solches, sondern schließt, unterschiedlich weitgehend,144 bestimmte Einwände des Schuldners aus, die er ansonsten erheben könnte. Die Parteien legen damit im Voraus fest, für welche Ereignisse der Schuldner verantwortlich zu machen ist, falls diese eintreten sollten. Dies erhöht die Planbarkeit für den Gläubiger wie für den Schuldner. Dieser Zusammenhang zwischen Rechtssicherheit, Parteiwille und Zurechnung der Vertragsverletzung läßt sich am Beispiel des Beschaffungsrisikos bei der Gattungsschuld veranschaulich. § 276 I BGB enthält eine implizite Auslegungsregel dahingehend, daß der Schuldner einer Gattungsschuld für die Beschaffung des Leistungsgegenstandes eine Garantie übernimmt.145 Die Reichweite dieser Garantie ist aus dem Inhalt des Vertrages, insbesondere hinsichtlich der vertraglichen Bestimmung der Gattung und des Bezugspunktes für die Beschaffung der Sache, abzuleiten.146 Nach Canaris ist die Auslegungsregel für Fälle erfolgsbezogener Beschaffungsschulden sowohl »gerecht« als auch »ökonomisch effizient«, weil sie »Defizite der Verschuldenshaftung« kompensiert.147 Damit ist die Schwierigkeit bei Anwendung des objektivierten Fahrlässigkeitsmaßstab gemeint, unselbständige Sorgfaltspflichten hinsichtlich der Beschaffung des geschuldeten Gegenstandes auf sinnvolle Weise zu formulieren und anzuwenden:148 Der Schuldner kann seine Kosten optimieren, indem er etwa die Preisentwicklung abwartet, Lager- oder Transportkosten spart, dabei aber etwa das Risiko in Kauf nimmt, die Ware nicht mehr rechtzeitig zu erhalten. Nun ist es nicht unmöglich, wie auch Canaris einräumt,149 für diese Fälle ein »schwaches Sollen« festzu-
aus wegen vorsätzlicher Vertragsverletzung ausschließen, § 276 III BGB. Das wäre selbstwidersprüchlich, denn dadurch würden sie die Bindung an den Vertrag aufheben. 142 § 276 I BGB regelt daher »die Übernahme einer Garantie« nunmehr am systematisch zutreffenden Ort, nämlich hinsichtlich des Vertretenmüssens der Pflichtverletzung. S. näher § 12 I.1. unten. 143 Etwa MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 176. 144 Zu der Frage, in welchen Fällen das englische Recht und das CISG eine solche Garantiehaftung vorsieht, vgl. S. 331ff. 145 So Canaris in Bucher/Canaris/Honsell/Koller (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Wiegand, S. 179, 216f. mit dem Hinweis auf die historische Auslegung und darauf, daß ansonsten nicht verständlich wäre, warum das Beschaffungsrisiko neben der Übernahme einer Garantie im Einzelfall in § 276 I BGB erwähnt wäre. Zur Gattungsschuld s. bereits S. 274. 146 Canaris Fn. 145, S. 191ff., 220ff. 147 Canaris Fn. 145, S. 207. 148 Canaris Fn. 145, S. 203ff. 149 Canaris Fn. 145, S. 205.
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legen.150 Der enorme Spielraum, der durch die Dispositionsfreiheit des Schuldners eröffnet wird, läßt sich jedoch kaum nachträglich durch ein Gericht auf einen für die Parteien ex ante voraussehbaren Grad an Sorgfalt verdichten. Es entspricht daher in der Tat dem typisierten Parteiwillen, daß in Fällen einer erfolgsbezogenen Beschaffungsschuld der Schuldner sich nicht darauf berufen kann, daß er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt bezüglich der Beschaffung beachtet hat. Darin sieht auch Grundmann den Vorzug der Garantiehaftung:151 Die Entscheidung darüber, ob der Schuldner für das Leistungshindernis verantwortlich ist, wird nicht dem Richter überlassen, was zu Unwägbarkeiten führt, sondern die Träger der Kosten entscheiden selbst und haben daher optimale Anreize, die kostengünstigste Lösung zu suchen. Aus diesen Gründen hält er die Garantiehaftung generell für vorzugswürdig.152 Ob sich ein solcher mutmaßlicher Wille der Parteien über die Grenzen der einzelnen Vertragstypen und Arten der Pflichtverletzung hinweg begründen läßt, ist zweifelhaft.153 Für die erfolgsbezogene Beschaffungsschuld läßt sich eine solche Auslegungsregel hinsichtlich der »Beschaffungspflicht« aber jedenfalls plausibel begründen. b) Learned-Hand-Formel und fahrlässige Vertragsverletzung Auf Grundmann geht auch der Vorschlag zurück, in den verbleibenden Fällen, in denen also die Zurechung nicht durch die Parteien selbst geregelt wird, die sog. »Learned-Hand-Formel« für die Bestimmung des Grades der objektiv erforderlichen Sorgfalt zu berücksichtigen.154 Nach dieser Formel soll die Haftung dann zu bejahen sein, wenn, vereinfacht gesagt, der Aufwand den Nutzen übersteigt:155 Der Aufwand wird dabei von den Kosten der Vermeidung (VK) des für die Zurechnung relevanten Ereignisses gebildet, etwa die Kosten, die anfallen, um den geschuldeten bestimmten Gegenstand gegen Zerstörung oder Diebstahl zu sichern. Der Nutzen soll dabei durch die Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts (W) multipliziert mit der Höhe des erwartenden Schadens (S) zu bestimmen
150 Also zu entscheiden, unter welchen Umständen der Schuldner für die Unfähigkeit zur Leistung verantwortlich ist. S. etwa die Bsp. bei Huber Fn. 54, S. 674. 151 MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 32. 152 MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 32 m.w.N. 153 Ein solcher Wille wäre, das sei erneut klargestellt, nur anzunehmen, wenn die Haftungsregel im Interesse beider Parteien ist. Eine umfassende Analyse des mutmaßlichen Willens der Parteien in allen praktisch wichtigen Vertragstypen würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Das englische Recht, auf das man sich evtl. berufen könnte, ist in dieser Hinsicht nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint, s. § 12 I.2. unten. S. auch Schmidt-Kessel, Standards vertraglicher Haftung nach englischem Recht, S. 505ff. 154 MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 62ff. 155 Der Test geht zurück auf die Urteilsgründe von Richter Learned Hand in United States v. Caroll Towing 159 F. 2d 169, 173 (2d Cir. 1947). S. die Darstellung der Formel bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 158f.
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sein.156 Fahrlässigkeit liegt danach vor, wenn VK ⬍ W × S. Die erste Schwierigkeit der Formel ist ihre Scheingenauigkeit. Die algebraische Fassung der Formel verdeckt die von ihr aufgeworfenen Informations- und Berechnungsprobleme.157 Eine exakte Bestimmung dieser Daten wird in den seltensten Fällen ex ante oder ex post möglich sein.158 Die zweite Schwierigkeit der Formel ist der fehlende Bezug zum mutmaßlichen Parteiwillen.159 Sie sollte aber zur näheren Bestimmung der objektiven Fahrlässigkeit nur dann herangezogen werden, wenn sie dem mutmaßlichen Parteiwillen entspricht.160 Dafür müßte gezeigt werden, daß ihre Berücksichtigung den Wert des Vertrages für beide Parteien erhöht. Eine in mancher Hinsicht ähnliche Argumentation wurde bereits im Hinblick auf das Leistungsverweigerungsrecht bei gestiegenen Produktionskosten exemplarisch vorgeführt.161 Dieses Modell deutete in der Tat darauf hin, daß die Rentabilität eines Vertrages ab einem bestimmten Kostenniveau (jenseits des Leistungsinteresses des Gläubigers) abnimmt. Jedoch wurde auch gezeigt, daß der Gläubiger für den Fall, daß der Schuldner die Leistung verweigert, ein Interesse am Ersatz des positiven Interesses hat.162 Dies war unabhängig davon der Fall, ob der Schuldner die Nichtleistung zu vertreten hat oder nicht. Demgegenüber will die Learned-Hand-Formel die Haftung gerade ausschließen, wenn der Schuldner Vermeidungskosten hat, die über den »Nutzen« hinausgehen. Dies ist mit dem typisierten Parteiwillen prima facie nicht zu vereinbaren. Insgesamt ist daher zweifelhaft, ob die Learned-Hand-Formel mehr enthält als den Hinweis darauf, daß der Schuldner mehr tun muß, wenn die Wahrscheinlichkeit eines hohen Schadens groß ist, als dann wenn ein nur geringer Schaden mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit einzutreten droht. Dies ist jedoch eine Klugheitsregel, die schwerlich algebraisch zu fassen ist, und die ohnehin als Orientie156 Die Formel wird vor allem von Richard Posner für die Konkretisierung der negligence (Delikts-)Haftung des common law vertreten. S. Posner, Economic Analysis of Law, S. 180ff. 157 Damit die Formel ex ante effiziente Anreize schafft, muß für die Parteien zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse voraussehbar sein, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmter Schaden in bestimmter Höhe eintritt. Desgleichen müssen die Kosten der Vermeidung feststehen. Hinzu kommt, daß ein Gericht ex post dieselben Daten zugrunde legen muß, da nur dann der Schuldner nach der Formel handeln wird. 158 Eidenmüller AcP 197 (1997), 80, 118 (über die Tatsachenkenntnis werden die Gerichte in den seltendsten Fällen verfügen). Auf das Informationsproblem weist auch MünchKommBGBGrundmann § 276 Rn. 64, hin und zieht daraus die Konsequenz, daß der Gesetzgeber die Formel weiter konkretisieren solle. In einer umfassenden Studie hat Wright, 4 Theoretical Inquiries in Law 145ff. (2003), aufgezeigt, daß die Formel denn auch in keinem Fall in einer algebraisch exakten Form angewendet wurde und daß die Gerichte das Ergebnis jeweils auf zusätzliche Erwägungen gestützt haben. Dies treffe auch für die Urteile von Posner und Hand selbst zu. S. auch Jansen Fn. 16, S. 176ff., insbes. S. 179. 159 Der sich nicht zuletzt aus ihrem Ursprung im Deliktsrecht erklärt. 160 Wie wiederholt erläutert, etwa S. 154ff. 161 S. 277ff. 162 Zudem beruht das Modell auf einer Vielzahl weiterer, dort erläuterter, Annahmen.
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rungshilfe für die Rechtsprechung selbstverständlich ist.163 Auch in dieser Hinsicht kann jedoch nach Sinn und Zweck des Vertrages eine abweichende Zurechnungsregel anzunehmen sein.164 Für das Vertragsrecht ist die Learned-Hand-Formel daher insgesamt von geringem heuristischem Wert für den Parteiwillen. Hier dürfte die bisher praktizierte Typisierung der unselbständigen Sorgfaltspflichten nach Verkehrskreisen nach wie vor die beste Annäherung an den mutmaßlichen Parteiwillen darstellen.165
3. Der Umfang des Ausgleichs als Gegenstand der Parteivereinbarung Eine Vereinbarung der Parteien zum Schadensersatz kann weiterhin auch eine nähere Bestimmung des Leistungsinteresses beinhalten. Angesichts der Unsicherheiten mit denen die Durchsetzung subjektiver Rechte durch Gerichte im allgemeinen und die Unsicherheit der Ermittlung des positiven Interesses im Besonderen behaftet ist, ist eine Festlegung des Umfangs des Gläubigerinteresses im Voraus im Interesse beider Parteien. Dies kann entweder dadurch geschehen, daß die Parteien die exakte Summe des Ausgleichs festlegen, oder daß sie die Methode der Ermittlung des Schadensersatzes selbst regeln. Vor allem letztere Möglichkeit ist von der ökonomischen Analyse untersucht worden. a) Das positive Interesse und der Parteiwille Wegen der Relevanz des Parteiwillens für das Gläubigerinteresse könnte bei oberflächlicher Betrachtung zweifelhaft sein, ob die Gewährung des positiven Interesses zu rechtfertigen ist, wenn die ökonomische Analyse aufzeigen könnte, daß sie den wirtschaftlichen Interessen beider Parteien regelmäßig widerspricht. Ein solcher »Beweis« ist bereits deshalb zurück zu weisen, weil die Forderungen der ausgleichenden Gerechtigkeit durch instrumentelle Argumente nicht widerlegbar sind.166 Die Maßgeblichkeit des Willens der Parteien für die Bestimmung des Leistungsinteresses ist jedoch vom Standpunkt der hier vertretenen Vertragstheorie nicht zweifelhaft: Die Regel, daß das positive Interesse, zu ersetzen ist, besagt nichts über die Höhe des Gläubigerinteresses, worin also der erfüllungsähnliche Zustand besteht. Die Regel besagt nur, daß dieser Zustand durch Schadensersatz herzustellen ist. Genauso wenig wie die Parteien das Recht auf die Leistung ausschließen können und doch einen Vertrag abschließen wollen, genauso wenig können sie das Recht auf die Aufhebung der Vertragsverletzung durch Ausgleich 163
Darauf weist auch Wright 4 Theoretical Inquiries in Law 145ff. (2003) hin. S. etwa Huber Fn. 54, S. 677, der den Schuldner außerhalb der Garantiehaftung nach dem Willen der Parteien grundsätzlich nicht für verpflichtet hält, Vorsorgemaßnahmen zu treffen. 165 S. etwa Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 34ff.; MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 110ff. 166 Weinrib 78 Chi.-Kent L.Rev. 55, 61 (2003). 164
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ausschließen. Die Parteien können nur vereinbaren, in welcher Höhe das Leistungsinteresse besteht, nicht aber, daß es für die Aufhebung der Rechtsverletzung maßgeblich ist. Es ist im Übrigen aber nicht der Fall, daß der Ersatz des positiven Interesses in den meisten Fällen ineffiziente Anreize setzt. Daher müßte auch ein regel-utilitaristischer Ansatz167 die Regel befürworten, daß das positive Interesse zu ersetzen ist. Aus Sicht der ökonomischen Analyse wäre bei einem vollständigen Vertrag, der also für alle Eventualitäten eine Regelung trifft, die von beiden Parteien als optimal angesehen wird, uneingeschränkter Leistungszwang oder ein hoher Strafschadensersatz am besten geeignet, ein effizientes Ergebnis zu erzielen, denn allein die Durchführung des Vertrages ist effizient.168 Der Strafschadensersatz ist mit dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit unvereinbar und der uneingeschränkte Leistungszwang verstößt gegen das Gebot der Mäßigung bei der Ausübung staatlicher Gewalt. Dieser Vorschlag ist daher abzulehnen. Er wird aber auch von der ökonomischen Analyse nicht ernsthaft aufrechterhalten, weil sie, zumindest überwiegend,169 davon ausgeht, daß Verträge unvollständig sind.170 Für den Fall des unvollständigen Vertrages ist die Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, für beide Parteien in den meisten Fällen effizient,171 wie die folgenden Ausführungen belegen. Angenommen, der Verkäufer V verkauft eine Maschine für 250 an den Käufer K.172 K investiert im Vertrauen auf die Leistung 50, wodurch sein Leistungsinteresse auf 375 ansteigt. Betragen die Produktionskosten des Verkäufers 200, wird der Verkäufer die Maschine produzieren und der Käufer somit einen Gewinn von 75 erzielen (375 – 50 – 250). Betragen die Produktionskosten 400 wird V die Leistung verweigern. Ist er zum Ersatz des positiven Interesses verpflichtet, muß er K 125 zahlen (375 – 250). K ist, unterstellt man die Gleichwertigkeit von Leistung und Schadensersatz, in der gleichen Position wie im Ausgangsfall: K erzielt einen Gewinn von 75 (125 – 50). Solange V zum Ersatz des positiven Interesses verpflichtet ist, wird er, was im beiderseitigen Interesse liegt, den Vertrag nur brechen, wenn die Produktionskosten den Wert des Leistungsinteresses übersteigen. Die Pflicht zum Ersatz des positiven Interesses bewirkt also, daß der Verkäufer die Kosten seines Vertragsbruchs, soweit sie bei seinem Vertragspartner entstehen, internalisiert.173 Dies ist beim Ersatz des negativen Interesses nicht der Fall. 167
S. 147ff. Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, S. 304f. 169 S. 129ff. 170 S. nur Shavell Fn. 168, S. 292. 171 Nach dem Pareto-Kriterium ist ein Zustand effizient, wenn er von beiden Vertragsparteien einem anderen Zustand vorgezogen wird, Shavell Fn. 168, S. 293. S. zu der Maßgeblichkeit des Kriteriums S. 158. 172 Nach Mahoney, in Bouckaert/Boudewijn/De Geest/Gerrit (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. III., S. 122. 173 Mahoney Fn. 172, S. 122. 168
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Hier müßte V nur 50 ersetzen. Betragen die Produktionskosten etwa 350, würde V bei Geltung dieser Regel die Leistung verweigern, denn der Schadensersatz von 50 läge unter dem Verlust von 100 (250 – 350). Bei Verpflichtung zum Ersatz des positiven Interesses würde er dagegen, was effizient wäre, produzieren, denn er müßte ansonsten 125 Schadensersatz leisten. Insgesamt ist daher die Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, zumindest hinsichtlich der Anreize, den Vertrag durchzuführen, die »beste« Regel.174 Ein in der ökonomischen Analyse häufiger Einwand gegen die Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, betrifft die Anreize, die sie im Hinblick auf die Vertrauensinvestitionen des Gläubigers setzt.175 In dem Beispiel von vorhin176 würde K bei sicherer Erwartung von Leistungszwang oder dem Ersatz des positiven Interesses die Investition von 50 treffen, weil sie sein Leistungsinteresse erhöht. Dies wäre auch dann der Fall, wenn die Investition ineffizient hoch wäre.177 Dies bedeutet, daß K den Effekt seiner Investitionen für die Kosten des V nicht internalisiert.178 Shavell stellt daher fest:179 Es gibt keine einfache Schadensberechnungsmethode, die optimale Anreize sowohl für die Vertragsdurchführung (performance) als auch die Vertrauensinvestitionen (reliance) setzt. Zwar ist es möglich, unter bestimmten Annahmen eine Schadenshöhe zu bestimmen, die diesem kumulativen Kriterium genügt, dies ist jedoch ein äußerst komplexes Unterfangen.180 Das Problem der Vertrauensinvestitionen dürfte jedoch in Wirklichkeit aus drei Gründen weniger dringlich sein, als viele Studien annehmen:181 Erstens hat der Gläubiger oft keine Wahl, ob er bestimmte Investitionen trifft oder nicht,182 zweitens behalten Investitionen in einer Vielzahl der Fälle ihren Wert,183 und schließlich ist es selbst bei Geltung der Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, alles andere als sicher, daß ein Gericht das positive Interesse dem Gläubiger zuspricht.184
174 Shavell Fn. 168, S. 306ff., 345ff. m.w.N.; Mahoney Fn. 172, S. 122; Cooter/Eisenberg 73 Cal. L.Rev. 1432, 1476f. (1985) (»in most cases«); Thüsing ZEuP 2003, 745, 750 (»Idealmaß«). 175 Wagner 27 Loyola Univ. of Chicago L.J. 55 (1995); Craswell in Benson (Hrsg.), Theory of Contract Law, S. 2, 29 m.w.N. 176 Mahoney Fn. 172, S. 123. S. auch die Modellrechnungen bei Shavell Fn. 168, S. 355ff. 177 Wenn K ohne die Investition ein Leistungsinteresse von 300 hätte, wäre sein positives Interesse 50 (300 – 250), während es aufgrund der Investition auf 75 ansteigt. Auf Seiten des Verkäufers ist der Verlust durch die Investition dagegen von 50 auf 125 gestiegen. 178 Das gilt erst recht für die Regel, wonach das negative Interesse zu ersetzen ist, so daß diese auch in dieser Hinsicht ineffizient ist. 179 Shavell Fn. 168, S. 360. 180 Shavell Fn. 168, S. 360f. 181 Dieses Argument beruht auf der Untersuchung von Eisenberg/McDonnell 54 Hastings L.J. 1335ff. (2003). 182 Ein Konzertveranstalter muß etwa in Werbung investieren, wenn ein Konzert Besucher anziehen soll. Ein bestimmter Sockel an Investition ist daher erforderlich. 183 Etwa weil die Leistung des Schuldners durch die eines anderen ersetzt werden kann. 184 Etwa weil es dem Gericht unbekannt ist; weil der Schadensersatz von einer Reihe weiterer
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Die Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, kann daher durch den Hinweis auf die Anreize, Investitionen im Vertrauen auf die Leistung zu tätigen, nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Es gibt jedoch eine Reihe weiterer Anreize, die für die Gesamteffizienz der Regel von Bedeutung sein könnten.185 Wenn man die ökonomische Analyse keinen Einschränkungen a priori unterwirft, gibt es keinerlei intrinsische Verbindung zwischen einer bestimmten Regel zum Schadensersatz, wie etwa dem Ersatz des positiven Interesses, und der Gesamteffizienz des Vertrages; die Effizienz einer Regel kann immer nur auf einen bestimmten Gesichtspunkt hin festgestellt werden.186 Eines aber immerhin steht fest: Im Hinblick auf die Vertragsdurchführung setzt der Ersatz des positiven Interesses optimale Anreize. Der Aspekt der Vertragsdurchführung muß vom Standpunkt einer Theorie, die die Bindung an den Vertrag zum Ausgangspunkt nimmt, der entscheidende Aspekt sein. Zudem ist die Regel, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, auch als einzige justitiabel. Somit dürfte sie auch einer regel-utilitaristischen Überprüfung standhalten. Dagegen ist Effizienzkriterium im Hinblick auf den Ersatz des negativen Interesses oder den Strafschadensersatz nicht erfüllt. b) Die Voraussehbarkeit des Schadens Steht fest, daß das positive Interesse zu ersetzen ist, so sind Regeln für die Bestimmung seines Umfangs erforderlich. Der größtmögliche Umfang wird durch die kausal auf die Vertragsverletzung zurückzuführenden Folgen bestimmt. Von einer deontologisch-teleologischen Perspektive wurden unter I.4. oben drei Kriterien der Eingrenzung eines nach den Bedingungstheorie anzunehmenden Schadens diskutiert: Adäquanz, Voraussehbarkeit des Schadens und Schutzzweck des Vertrages. Die dortige Schlußfolgerung war, daß allein das Kriterium des Schutzzwecks des Vertrages in der Lage ist, die Beeinträchtigung des Leistungsinteresses des Gläubigers zu bestimmen. Da auch diese Schlußfolgerung aus dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit und der Bindung an den Vertrag abgeleitet wurde, kann sie durch folgenorientierte, instrumentelle Argumente nicht »widerlegt« werden. Sollte die ökonomische Analyse aber aufzeigen können, daß der mutmaßliche Wille beider Parteien dahin geht, daß grundsätzlich nur die voraussehbaren Folgen ersatzfähig sein sollten, so wäre diese Einsicht auch für die Schutzzwecklehre beachtlich. Denn sie würde auf einen bestimmten Inhalt des LeiEinschränkungen bedingt ist, usw. Darauf weist auch Wagner 27 Loyola Univ. of Chicago L.J. 55 (1995) im Hinblick auf die Regeln zum Verschulden und der Unmöglichkeit hin. 185 Überblick etwa bei Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135ff. (2003) (etwa Versicherung, Vorsorgemaßnahmen, Quer-Subventionierung von Preisen usw.); Schäfer/Ott Fn. 155, S. 121ff., 403ff. 186 Craswell 40 San Diego L.Rev. 1135, 1176 (2003); Smith, Contract Theory, S. 412, der bezweifelt, daß der Versuch, ein Modell zu entwickeln, daß alle für die Gesamteffizienz relevanten Faktoren berücksichtigt, je geschaffen werden könnte. Eine Regel mag zwar für einen bestimmten Faktor optimal sein, in vielen anderen Hinsichten aber ineffiziente Anreize setzen.
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§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen
stungsinteresses in der Welt der Erfahrung Rücksicht nehmen müssen. Des weiteren wäre, wenn die Annahme zuträfe, auch der Gesetzgeber berechtigt, eine entsprechende Regel als dispositives Recht einzuführen.187 Dies ist etwa in Art. 74 II CISG geschehen.188 Zur Bestimmung der Effizienz des Kriteriums ist es hilfreich, zwei Gruppen von Gläubigern zu unterscheiden, solche die bei Vertragsverletzung typischerweise einen hohen Schaden erleiden werden (Hochrisiko-Gläubiger) und solche, die einen niedrigen Schaden erleiden werden (Niedrigrisiko-Gläubiger).189 Wenn der Schuldner nicht weiß, mit welcher Art von Gläubigern er es zu tun hat, wird er einen durchschnittlichen Preis festlegen und ein durchschnittliches Niveau an Vorsorge treffen. Damit trifft er nicht genügend Vorsorge, wenn ein hoher Schaden droht, und zugleich ist der Preis für die Niedrigrisiko-Gläubiger zu hoch. Beides sei ineffizient.190 Würde der Schuldner dagegen wissen, ob ein hoher Schaden im Einzelfall droht, könnte er bei Hochrisiko-Gläubigern vermehrt Vorsorge treffen191 und den Preis bei Niedrigrisiko-Gläubigern reduzieren. Das Erfordernis der Voraussehbarkeit des Schadens (»Hadley-Regel«), so eine geläufige Argumentation,192 vermeidet also beide Arten der Ineffizienz, indem sie die Gläubiger zwingt, private Informationen193 offenzulegen.194 Die Effizienz der Hadley-Regel ist jedoch alles andere als gesichert, wie eine einfache Überlegung zeigt:195 Wenn die Regel nicht gilt, haben zwar die Hochrisiko-Gläubiger kein Interesse daran, ihr Risiko offenzulegen, aber dafür die Niedrigrisiko-Gläubiger, denn sie können dadurch einen günstigeren Preis erzielen. Mit oder ohne Regel bestehen daher Anreize zur Offenlegung von privaten Informationen. Welche der beiden Ansätze effizienter ist, hängt unter anderem davon ab, ob es mehr Hochrisiko- als Niedrigrisiko-Gläubiger gibt, wie hoch die Ko187 Dies wäre keine Widerlegung der Schutzzwecklehre, sondern vielmehr ihre Anwendung auf die besonderen Interessen der Parteien unter bestimmten faktischen Annahmen. Dies verdient Hervorhebung, weil ansonsten leicht der Eindruck entstehen könnte, daß die Schutzzwecklehre für die vorliegenden Passagen der Untersuchung aufgegeben worden wäre. 188 Vgl. Art. 7.4.4 PICC; Art. 9:503 PECL; die Regel in Hadley v. Baxendale (1854) 9 Exch. 341 für das englische Recht; für das U.S.-Recht, Farnsworth Fn. 36, § 12.13, S. 792ff. 189 S. etwa die Darstellung der folgenden Argumentation bei E. Posner Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III., S. 164ff. mw.N. Eine umfassende Analyse auch bei Faust 115, S. 205ff. 190 E. Posner Fn. 189, S. 165. 191 Der Schuldner wird bei Kenntnis der wahren Höhe des positiven Interesses besser abschätzen können, ob er zusätzliche Vorsorgemaßnahmen gegen den Eintritt des Schadens ergreifen sollte. Dementsprechend wird bei § 252 II 1 BGB der Schaden nur reduziert, wenn der Schuldner aufgrund der Mitteilung der Schadenshöhe noch Gegenmaßnahmen hätte ergreifen können. S. oben Fn. 124. 192 S. etwa Schäfer/Ott Fn. 155, S. 469f. 193 Zu dem Problem der Informationsasymmetrie S. 129ff. 194 Der Gläubiger wird das Ausmaß seines Gläubigerinteresses dem Schuldner mitteilen, da er nicht in Kauf nehmen wird, daß er im Falle der Vertragsverletzung nicht den gesamten Schaden zugesprochen bekommt. 195 S. die ausführlichere Ableitung bei E. Posner Fn. 189, S. 166f.
II. Die ökonomische Analyse des Sekundäranspruchs
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sten der Offenlegung der Information sind, sowie von einer Vielzahl weiterer Transaktionskosten.196 Mangels empirischer Daten läßt sich daher die Effizienz der Hadley-Regel weder bestätigen noch widerlegen.197 Berücksichtigt man aber die Rechtsunsicherheit, die durch die Verwendung eines so ungenauen Kriteriums wie der Vorhersehbarkeit geschaffen wird,198 so ist die Einführung der Regel gerade im Handelsverkehr zweifelhaft: denn hier können die Parteien ihr Leistungsinteresse selbst am besten regeln.199 Es ist also entgegen einer verbreiten Vermutung nicht der Fall, daß unter typischen Bedingungen ein mutmaßlicher Parteiwille dahingehend besteht, daß nur die Folgen des Vertragsbruchs ersatzfähig sein sollen, auf die entweder hingewiesen wurde oder die wahrscheinlich sind. Das Kriterium des Schutzzwecks des Vertrages kann somit nicht generell auf die Vorhersehbarkeit des Schadenseintritts reduziert werden.200
196 E. Posner 112 Yale L.J. 829, 837 (2003); 101 Ayres/Gertner 101 Yale L.J. 729 (1992) (die einer Fülle von Variablen aufzeigen, die zu beachten sind, wenn abzuschätzen ist, welche Kosten eine Regel wie die Hadley-Regel oder ihre Alternative verursacht). 197 E. Posner Fn. 189, S. 169 (»theoretical indeterminacy«); Faust 115, S. 236 (die Frage kann mangels empirischer Daten nicht entschieden werden). Skeptisch bis ablehnend jedoch etwa: Eisenberg 88 Cal. L.Rev. 1743, 1774 (2000) (Hadley-Regel sei ein »clumsy and ineffective tool«); Adler 51 Stan. L.Rev. 1547 (1999). 198 S. Text bei Fn. 116. 199 So Faust 115, S. 237, der auf S. 238ff. eine Auslegung von Art. 74 II CISG vorschlägt, die den Interessen der Parteien im Regelfall am wenigsten abträglich ist. 200 Für die Auslegung des § 254 II 1 BGB bedeutet dies, daß gerade im Handelsverkehr Zurückhaltung bei der Annahme geboten ist, daß der Gläubiger den Hinweis auf den Eintritt eines hohen Schadens »fahrlässig« unterlassen hat. Zur Beantwortung dieser Frage ist auf die vertragliche Risikoverteilung im Einzelfall abzustellen.
§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik Der Sekundäranspruch bei Vertragsverletzung beruht auf einem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit.1 Die teilweise oder vollständige Nichtleistung verletzt das Recht des Gläubigers auf die Leistung. Der Schuldner fügt damit dem Gläubiger Unrecht zu. Wenn die Vertragsverletzung dem Schuldner zurechenbar ist,2 ist dieser dem Recht widerstreitende Zustand aufzuheben. Dies geschieht durch wertmäßigen Ausgleich des Leistungsinteresses.3 Ziel dabei ist es, einen möglichst erfüllungsähnlichen Zustand zu schaffen. Der Sekundäranspruch ist im Hinblick auf die Zurechnungsregeln und den Umfang des Ausgleichs teilweise Gegenstand der Parteivereinbarung.4 Die Dogmatik des Sekundäranspruchs ist nunmehr vor dem Hintergrund dieser Einsichten in seine Grundlagen zu würdigen.5 Dabei soll es nicht darum gehen, das sei auch an dieser Stelle gesagt, die Geltung des positiven Rechts in Frage zu stellen, sondern die theoretischen Einsichten innerhalb der methodischen Grenzen der Auslegung zur Geltung zu bringen.6 Die dogmatische Literatur zum Schadensersatz als Sanktion der Vertragsverletzung ist ausufernd, die Probleme des Schadensrechts ungezählt. Ziel der Untersuchung ist nicht eine umfassende Darstellung nach Art eines Handbuchs sondern die exemplarische Erläuterung ausgewählter Probleme der gegenwärtigen Dogmatik im Lichte der überpositiven Grundlagen. Zunächst wird die zentrale Voraussetzungen des Sekundäranspruchs erörtert, die Zurechung der Vertragsverletzung, um sodann im zweiten Teil des Kapitels den Ansatz des BGB, wie er sich nach der Schuldrechtsreform in den §§ 280–284, 311a BGB darstellt, näher zu untersuchen.
1
S. 286f. Näher S. 294ff. 3 S. 288. 4 S. 310ff. 5 Zum Teil, hinsichtlich der Regeln der Haftungsausfüllung, ist dies bereits im vorigen Kapitel geschehen, S. 305ff., weil diese schwerlich ohne ihre dogmatische Einkleidung untersucht werden können. 6 S. 8ff. 2
I. Zurechnung in der Dogmatik
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I. Zurechnung in der Dogmatik Zurechnung erfolgt durch Anwendung von Zurechnungsregeln auf ein Verhalten, das Verhaltensregeln unterliegt. Der Gegenstand der Zurechnung wird durch die Verhaltensregeln unveränderbar festgelegt. »Zur Schuld« zuzurechnen ist ein Verhalten, das dem Recht zuwider ist.7 Die Nichterfüllung eines Gebots zur Leistung ist ein solches widerrechtliches Verhalten. Die Vertragsverletzung ist zuzurechnen, wenn der Schuldner als moralischer Urheber der widerrechtlichen Handlung angesehen werden kann. Das ist das »Verschuldensprinzip« in seiner ursprünglichen Bedeutung, es geht, wie es bei Hasse plastisch heißt, »Hand in Hand« mit der Zurechnung.8 Aus diesen Grundsätzen folgt, daß das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit Ausgangspunkt der Schadensersatzhaftung sein muß. Der Sekundäranspruch setzt eine zurechenbare Rechtsverletzung voraus. Darauf beruht die Zentralnorm des § 280 I BGB n.F. i.V.m. § 276 BGB. Damit wird der Grundsatz, daß der Schadensersatzanspruch grundsätzlich verschuldensabhängig ist, für sämtliche vertragliche Sekundäransprüche festgeschrieben.9
1. Zurechnung, Verschulden, Vertretenmüssen Das Verschuldensprinzip des BGB geht auf das römische Recht in seiner naturrechtlich beeinflußten »Rekonstruktion« durch die Pandektenliteratur des 19. Jahrhunderts zurück. Ursprünglich war der Zusammenhang zwischen dem Verschuldensprinzip und dem allgemeinen Gedanken der Zurechnung zur Schuld selbstverständlich. Erst im Laufe der Zeit ist das Verschuldensprinzip in der Dogmatik, beeinflußt durch die enge Formulierung des § 276 BGB a.F., mit Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichgesetzt worden.10 Jede Anhebung oder Absenkung des 7
Statt aller Hk-BGB/Schulze § 276 Rn. 3; Bamberger/Roth-Unberath § 276 Rn. 8. S. 294f. 9 Anders insoweit nur Ehmann/Sutschet JZ 2004, 62ff. nach denen der »Geldersatzanspruch« gemäß § 281 BGB kein verschuldensabhängiger Schadensersatzanspruch ist, sondern eine Garantiehaftung aufgrund Gesetzes verkörpert. Dagegen ist einzuwenden, daß der verschuldensunabhängige Primäranspruch zwar in der Tat in engen Grenzen auf der Ebene der Zwangsvollstrekkung in Geld umgewandelt werden kann (§ 887 ZPO), der Zweck der Umwandlung sich aber in der Durchsetzung des Leistungszwangs erschöpft (dazu S. 259ff.). Im übrigen müssen für eine »Umstellung«, wie auch § 893 ZPO voraussetzt, die Voraussetzungen des Sekundäranspruchs nach materiellem Recht gegeben sein. Diese materiell-rechtlichen Voraussetzungen normiert § 280 I BGB für den Sekundäranspruch in dem Sinne, daß grundsätzlich das Verschuldensprinzip gilt. Dieses Ergebnis der Auslegung von §§ 280, 276 BGB dürfte kaum zweifelhaft sein. S. nur MünchKommBGB-Ernst § 280 Rn. 20; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 76; Canaris JZ 2001, 499, 518. 10 Statt aller Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 510: »Nach § 276 I 1 hat der Schuldner regelmäßig Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Das Gesetz hält damit am Verschuldensprinzip fest.« 8
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
Standards der Zurechnungsregeln im Vergleich zu dieser engen Fassung erscheint daher als »Ausnahme« oder »Abweichung« vom Verschuldensprinzip. Dadurch wird die ursprüngliche Funktion des Verschuldensprinzips als umfassende Formulierung der Idee der Zurechnung »zur Schuld« im Zivilrecht etwas verdeckt. Wenn also in der deutschen Dogmatik vom Verschuldensprinzip die Rede ist, ist stets zu unterscheiden, ob es um das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit geht, oder generell der Gedanke der Zurechnung zur Schuld gemeint ist. Für letzteren sieht das positive Recht in den neugefaßten §§ 280 I 2, 276 I BGB den Begriff des Vertretenmüssens vor. Der Begriff der Pflichtverletzung ist bis zur Schuldrechtsreform mit dem Verschuldensprinzip assoziiert worden.11 Das ist naheliegend, denn ob eine Pflichtverletzung tatsächlich begangen wurde, kann erst festgestellt werden, nachdem dem Schuldner die Nichtleistung zugerechnet wurde.12 Man hätte daher bei der Neufassung der Vorschriften den Begriff der »Nichterfüllung« als Zentralbegriff der Leistungsstörung vorziehen sollen,13 obwohl auch dieser Begriff, wenn auch in anderer Hinsicht,14 unzulänglich ist. Allerdings involviert der Begriff der Pflichtverletzung, wie er für das neue Schuldrecht festgelegt ist, keinen logischen Widerspruch.15 Man kann den Begriff der Pflichtverletzung so definieren, daß er ein Zurechnungsurteil nicht impliziert. Dann bedeutet »Pflichtverletzung« eben nur das Ausbleiben der Leistung, ob der Schuldner der moralische Urheber davon ist oder nicht. Insbesondere spielt die Zurechenbarkeit der Nichtleistung für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Verhaltensregel in Bezug auf die Pflicht zur Leistung keine Rolle.16 Sobald auf der Ebene der Verhaltensregeln eine Pflicht zur Leistung entsteht, ist die Nichtleistung dem Recht zuwider. Ist die Leistung nachträglich gar unmöglich geworden, ist die Vertragsverletzung, also das Ausmaß der Abweichung der Realität von dem durch Verhaltensregeln geforderten Zustand, besonders offensichtlich.17 Eine Vertragsverletzung liegt nur dann nicht 11
Zimmermann, The New German Law of Obligations, S. 51. Das ist bei Leistungspflichten, die auf ein Unterlassen gerichtet sind, offensichtlicher. Ob z.B. A gegen ein Wettbewerbsverbot verstoßen hat, läßt sich erst feststellen, wenn A als moralischer Urheber des Wettbewerbs ausgemacht wurde. 13 So der damalige Vorschlag von Canaris JZ 2001, 499, 512. 14 Dazu Heinrichs, in Schwenzer/Hager /Hrsg.), Festschrift für Peter Schlechtriem, S. 503, 515f. (der Begriff Nichterfüllung wurde vor allem im Hinblick auf die Haftung wegen Verletzung gesetzlicher Schuldverhältnisse als problematisch angesehen) 15 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 38. So aber U. Huber ZIP 2000, 2273, 2276. 16 In diesem Sinne aber Hubers Einwand, ZIP 2000, 2273, 2276: ein nicht zu vertretendes Leistungshindernis beseitige die Pflicht, so daß eine Pflichtverletzung gar nicht vorliegen könne. Ein solcher Ausschluß erfolgt nur wegen Unmöglichkeit in ihrer ontologischen Bedeutung für den Primäranspruch. Dazu S. 222ff. 17 Womit wiederum über die Zurechenbarkeit der Vertragsverletzung keine Aussage getroffen ist, vgl. zu diesem dualistischen System S. 198ff. und nunmehr § 275 IV BGB. Anders etwa Harke ZGS 2006, 9, 10f., Schur, Leistung und Sorgfalt, S. 132ff., 141, die für die Pflichtwidrigkeit an die Verantwortlichkeit für die Unmöglichkeit anknüpfen. Wie zu zeigen sein wird, ist dies jedoch nur die Verletzung einer unselbständigen Sorgfaltspflicht, also einer den Zurechnungsre12
I. Zurechnung in der Dogmatik
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vor, wenn auf der Ebene der Verhaltensregeln eine Pflicht zur Leistung von Anfang an nicht entsteht, weil das Leistungshindernis schon bei Vertragsschluß vorliegt. Dann kann auch die Nichtleistung nicht widerrechtlich (also einer Verhaltensregel zuwider) sein. In diesem Fall kann sich die Haftung daher nur aus einem von den Parteien selbst vereinbarten Primäranspruch ergeben.18 a) Vorsatz und Fahrlässigkeit als Verschulden Betrachten wir zunächst das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Mit seiner Hilfe lassen sich die grundlegenden Zurechnungsgesichtspunkte erfassen. Bereits in § 11 I.3., bei der Ausarbeitung des (vollständigen) Systems der Zurechnungsregeln wurden die Grundlagen anhand von Beispielen aus dem deutschen positiven Recht veranschaulicht, so daß es an dieser Stelle genügt, die Grundzüge in Erinnerung zu rufen. Das Prinzip der Zurechnung von »Vorsatz und Fahrlässigkeit« umfaßt sowohl die beiden Stufen der Zurechnung als auch die ordentliche und außerordentliche Zurechnung. Nach dem Verschuldensprinzip ist eine Zurechnung vorzunehmen, wenn die Vertragsverletzung des Schuldners freiwillig war. Dies ist negativ als Abwesenheit von Zwang und Unwissenheit definiert. Liegen weder Zwang noch Unwissenheit vor, ist die Vertragsverletzung freiwillig (ordentliche Zurechnung). Freiwillig handelt aber auch, wer für das Vorliegen von Zwang oder Unwissenheit verantwortlich ist (außerordentliche Zurechnung). Verantwortlich für das Vorliegen von Zwang oder Unwissenheit ist der Schuldner, wenn er in dieser Hinsicht eine unselbständige Sorgfaltspflicht verletzt.19 Im Fall der außerordentlichen Zurechnung einer Vertragsverletzung (und nur dann) verletzt der Schuldner damit zwei »Pflichten«: – Erstens handelt er der Leistungspflicht selbst zuwider. Das ist das »starke Sollen« der Verhaltensregeln, das die Widerrechtlichkeit der Nichtleistung begründet. Allein diese Pflichtverletzung ist in § 280 I 1 BGB in Bezug genommen20 und allein diese Pflicht kann der Gläubiger mit Zwang durchsetzen. – Zweitens verletzt der Schuldner im Falle der außerordentlichen Zurechnung eine unselbständige Sorgfaltspflicht im Hinblick auf das Vorliegen von Zwang oder Unwissenheit. Dies ist ein »schwaches Sollen«, denn es hat unabhängig von der Zurechnung der Vertragsverletzung keine Bedeutung, die unselbständige Sorgfaltspflicht kann insbesondere nicht vom Gläubiger erzwungen wergeln zuzuordnendem »schwachen Sollen«, während die Pflichtverletzung in § 280 I 1 BGB auf ein einer Verhaltensregel widerstreitendes Verhalten abstellt. 18 Näher S. 353ff. (dort auch zu § 311a BGB). 19 Näher S. 300ff. 20 Anders aber etwa Harke ZGS 2006, 9, 11, der die Pflichtverletzung darin sieht, was vorliegend als »unselbständige Sorgfaltspflicht« bezeichnet wird, also die Verantwortlichkeit für das Vorliegen der Unmöglichkeit (Zwang).
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
den. Die Verletzung der unselbständigen Sorgfaltspflicht setzt mithin die Verletzung der Leistungspflicht stets voraus, denn andernfalls würde sich die Frage der Zurechnung zur Schuld gar nicht erst stellen. Im einzelnen bedeutet dies: Die Kenntnis des Schuldners vom Bestehen der Pflicht zur Leistung21 und die Kenntnis aller Umstände, aus denen sich die Vertragsverletzung ergibt,22 sind für die ordentliche Zurechnung erster Stufe hinreichend. Fehlt diese Kenntnis (wegen Rechts- oder Tatsachenirrtums), ist eine außerordentliche Zurechnung vorzunehmen, wenn der Irrtum vermeidbar war und der Schuldner ihn hätte vermeiden müssen.23 Ist dies der Fall, handelt der Schuldner fahrlässig und er kann für das Vorliegen des Umstands verantwortlich gemacht werden, der die ordentliche Zurechnung ausschließt. Der Grad der dabei zu beachtenden Sorgfalt wird durch die unselbständige Sorgfaltspflicht (schwaches Sollen) festgelegt. Über die Irrtums-Fälle hinaus, erfaßt das Verschuldensprinzip weitere Fälle der Fahrlässigkeit. Eine außerordentliche Zurechnung ist von großer praktischer Relevanz in den Fällen, in denen dem Schuldner die Vertragsverletzung auf der ersten Stufe der Zurechnung nicht zugerechnet werden kann, weil die Leistung rechtlich oder tatsächlich im Sinne des § 275 I BGB unmöglich ist.24 In diesen Fällen unterläßt der Schuldner die Leistung unter Zwang, er hat zu dem Zeitpunkt, in dem er nach dem Vertrag leisten müßte, keine Alternative zur Nichtleistung. Die Unmöglichkeit der Leistung schließt aber nur die ordentliche Zurechnung aus. Eine außerordentliche Zurechnung kann vorgenommen werden, wenn der Schuldner für den Umstand aufgrund dessen die Leistung unmöglich ist, verantwortlich gemacht werden kann. Dies ist der Sinngehalt des § 283 BGB, der insofern selbst eine Zurechnungsregel enthält.25 Der Schuldner kann nach dem Verschuldensprinzip (Vorsatz und Fahrlässigkeit) verantwortlich gemacht werden, wenn er eine unselbständige Sorgfaltspflicht (schwaches Sollen) verletzt, sich leistungsbereit zu halten bzw. die Leistungsfähigkeit nicht zu gefährden.26 Wie gesehen, sind die Fälle der außerordentlichen Zurechnung stets davon abhängig, daß der Schuldner für einen Umstand der die Zurechnung an sich ausschließen würde, verantwortlich gemacht werden kann. Das sind die unselbständigen Sorgfaltspflichten. Welcher Grad der Sorgfalt für die Einhaltung dieser 21
S. nur Huber, Leistungsstörungen, Bd. I, S. 667, 705ff.; Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 54 Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 53; Huber Fn. 21, S. 708. 23 MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 77f.; Looschelders Fn. 10, Rn. 514f. 24 Gleichgestellt sind Fälle des § 275 II und III BGB. Auch hier bezieht sich das Vertretenmüssen auf die Umstände, die das Leistungsverweigerungsrecht begründen, nicht etwa auf die Erhebung der Einrede. Dazu S. 277ff. 25 In der erweiterten Form des »Vertretenmüssens«. § 283 BGB enthält auch die Verhaltensregel, daß die Nichtleistung im Fall einer zurechenbaren Pflichtverletzung einen Sekundäranspruch begründet. 26 S. das Beispiel des Verkäufers, der nach Vertragschluß und vor Übergabe ein Luxusgut nicht gegen Diebstahl sichert, S. 300ff. 22
I. Zurechnung in der Dogmatik
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»Pflichten«, welcher Grad an (normativ schwachem) Sollen zu verlangen ist, ist nach § 276 II BGB die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Darunter wird der sogenannte »objektivierte Fahrlässigkeitsbegriff« verstanden.27 Diesen Maßstab der Zurechnung aufgrund von unselbständigen Sorgfaltspflichten an zentraler Stelle im BGB festzuschreiben, war die Hauptfunktion des § 276 BGB a.F. b) Vertretenmüssen Das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit umfaßt, wie erläutert, alle grundlegenden Regeln der Zurechnung. Was es im Hinblick auf die Zurechnung einer Vertragsverletzung nicht zu erklären vermag, sind Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Zurechnung durch den erklärten oder mutmaßlichen Parteiwillen. Auch diese sind jedoch vom allgemeinen Gedanken der Zurechnung zur Schuld umfaßt. Aus dieser Differenz erklärt sich die Notwendigkeit eines weiteren Begriffs des positiven Rechts, nämlich dem des Vertretenmüssens, der sowohl das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit umfaßt als auch Modifikationen der Zurechnungsregeln aufgrund des Willens der Vertragsparteien. Dieser Begriff liegt § 276 I BGB zugrunde. Danach kann sich eine strengere oder mildere Haftung aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos ergeben.28 Die Zurechnungsregeln unterliegen in gewissen, bereits erörterten Grenzen der Disposition der Vertragsparteien.29 Dieser Zusammenhang kommt in § 276 I BGB n.F. nunmehr ebenfalls zum Ausdruck: Die Garantiehaftung wird darin im Parteiwillen verankert.30 Wurde eine solche vereinbart, ist es innerhalb ihrer Reichweite dem Schuldner nicht gestattet, sich auf Umstände zu berufen, die die Zurechnung üblicherweise ausschließen. Die Garantiehaftung kann auch regelmäßig für bestimmte Vertragstypen anzunehmen sein.31 Wenn sich aus dem Inhalt des Vertrages eine solche Vereinbarung über die Zurechnung der Vertragsverletzung ergibt, so wird damit das Zurechnungserfordernis selbst nicht aufgehoben.32 Vielmehr entziehen die Parteien dem Gericht lediglich punktuell die Entscheidungsmacht über die Frage, ob eine unselbständige Sorgfaltspflicht ver-
27 Looschelders Fn. 10, Rn. 516; Staudinger-Löwisch § 276 Rn. 28; Medicus, Schuldrecht I, Rn. 308ff.; und näher dazu S. 303ff., 312ff. 28 Überblick bei Looschelders Fn. 10, Rn. 529ff.; Bamberger/Roth-Unberath § 276 Rn. 34ff. 29 S. 312ff. Bereits die Objektivierung des Sorgfaltsmaßstabs beruht auf der typischen Interessenlage der Parteien, Huber Fn. 21, S. 670f. 30 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 59. 31 S. etwa Canaris in Bucher/Canaris/Honsell/Koller (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Wiegand, S. 179ff. 32 Enger aber viele. S. etwa Hasse, Die Culpa des römischen Rechts, S. 66: Schaden, der ohne jede Imputabilität eintritt, beruht auf Zufall. Da »hört Zurechnung auf«.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
letzt wurde.33 Die Parteien regeln damit selbst, wann der Schuldner für die Nichtleistung verantwortlich ist. In dogmatisch-systematischer Hinsicht regeln die Parteien im Rahmen der Garantiehaftung die Verantwortlichkeit für die außerordentliche Zurechnung.34 Eine Garantie bezweckt, zu klären, unter welchen Umständen sich der Schuldner nicht auf die ordentliche Zurechnung ausschließende Ereignisse berufen kann. Mangels besonderer Abreden würde das Gericht diese Frage mit Hilfe der unselbständigen Sorgfaltspflichten beantworten. Die Parteien können aber ein Interesse daran haben, das »schwache Sollen« selbst zu regeln. Die Gründe sind vielfältiger Natur, die Planbarkeit zukünftiger Dispositionen ist einer davon. Eine besondere Interessenlage ist zum Beispiel35 hinsichtlich der »Beschaffungspflicht« bei der Gattungsschuld gegeben: Die erhebliche Dispositionsfreiheit des Schuldners ließe sich kaum in ex ante vorausschaubarer Weise durch ein Gericht ex post festlegen.36 Deshalb entspricht es typischerweise dem Willen der Parteien, daß der Schuldner sich diesbezüglich nicht auf zurechnungsausschließende Umstände berufen kann. Damit verzichten die Parteien nicht generell auf das Erfordernis der Zurechnung zur Schuld, sondern regeln lediglich Teilaspekte dieser Zurechnung. Die Parteien bestimmten selbst, wann der Schuldner als »moralischer Urheber« der Vertragsverletzung anzusehen ist. Das ist aber der Grundgedanke der Zurechnung »zur Schuld«. Die Neufassung des § 276 BGB ist vom Standpunkt der hier vertretenen Vertragstheorie eine Verbesserung der Dogmatik:37 Der Begriff des Vertretenmüssens bringt geradezu lehrbuchhaft den Zusammenhang zwischen Zurechnung, Verschuldensprinzip und Parteiwillen zum Ausdruck. c) Die Überlegenheit des »Verschuldensprinzips« Nach Canaris ist das Verschuldensprinzip einer »der bedeutendsten Durchbrüche der Privatrechtsgeschichte«.38 Die Übernahme der culpa Haftung aus dem römischen Recht und die Milderung der staatlichen Sanktionen für die Nichterfüllung des Primäranspruchs war in der Tat ein Fortschritt zu einem »zivileren« Zustand des Staates.39 Die »rechtsethische Überlegendheit« des Prinzips ist jedoch auf den Grundgedanken der Zurechnung zur Schuld beschränkt. Die Voraussetzung des Vertretenmüssens der Pflichtverletzung ist nach der hier vertretenen 33
Für diese Analyse s. auch MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 32. Die Haftung vor Vorsatz kann nach § 276 III BGB nicht im Voraus erlassen werden. 35 Näher erörtert auf S. 312ff. 36 Für diese Begründung der Auslegungsregel hinsichtlich des Beschaffungsrisikos auch Canaris Fn. 31, S. 205ff. 37 Ebenso Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 59 (»hoch einzuschätzendes Verdienst des neuen Schuldrechts«). S. auch MünchKommBGB-Grundmann § 276 Rn. 3. 38 Canaris Fn. 31, S. 253; s. auch ders. JZ 2001, 499, 506; Bundestag-Drucksache 14/6040, S. 165; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 59. 39 S. bereits S. 221ff. und Ernst, Rechtshistorische Begründung der Mora, S. 19ff. 34
I. Zurechnung in der Dogmatik
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Vertragstheorie von den überpositiven Grundlagen des Sekundäranspruchs abgeleitet. Der Zurechnungsgedanke macht das Wesen des Sekundäranspruchs aus. Allerdings sind damit die genauen Konturen der Zurechnungsregeln im einzelnen nicht vollständig vorgegeben. Verschulden in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit vermag, wie erläutert, alle wesentlichen Zurechnungsaspekte erfassen. Für die Zurechnung einer Vertragsverletzung ist jedoch darüber hinaus der Parteiwille zu beachten. In dieser Hinsicht ist das Verschuldensprinzip in seinem engen heutigen Verständnis »defizitär«. Aus dem Gedanken der Vertragsfreiheit folgt jedoch, daß eine Regelung der Parteien über die Zurechnung beachtlich ist und insofern das Urteil des Richters präjudizieren muß. In welchem Umfang und hinsichtlich welcher Pflichtverletzungen oder Vertragstypen das Gesetz Auslegungsregeln dahingehend vorsehen sollte, daß eine Garantiehaftung besteht, läßt sich dagegen nicht a priori bestimmen. Vielmehr ist eine von der Erfahrung geleitete Untersuchung der typischen Parteiinteressen vorzunehmen, wie sie vorliegend exemplarisch im Hinblick auf die Gattungsschuld vorgenommen wurde.40 Das Für und Wider bezüglich dieser Fragen, ist jedoch ein Streit über die sachgerechteste Erfassung des Parteiwillens und nicht mehr eine Differenz über die Maßgeblichkeit des Zurechnungsprinzips für den Sekundäranspruch. »Rechtsethisch« überlegen im Sinne einer Rechtslehre a priori ist nur das Zurechnungsprinzip als solches. In welchem Umfang die Parteien selbst regeln, wann sie für eine Vertragsverletzung verantwortlich sind, ist der Anwendung von Erfahrungssätzen überlassen. d) Von Vorsatz und Fahrlässigkeit abweichende Zurechnungsregeln Das deutsche Recht sieht in Anlehnung an die typischen Interessen der Parteien abweichende Zurechnungsregeln für einzelne Verträge oder für bestimmte Arten der Vertragsverletzung vor. In der Terminologie von § 276 I BGB sind dies »mildere«41 oder »strengere« Maßstäbe der Haftung. In gewisser Hinsicht bewirkt bereits die Umkehr der Beweislast42 hinsichtlich des Vertretenmüssens in § 280 I 2 BGB eine Verschärfung der Haftung.43 Das Recht vermutet, daß dem Schuldner
40 Die Ermittlung des konkreten Willens der Parteien gehört zu den materiellen Elementen des Vertragsrechts. Für ihre Erfassung sind pragmatisch-konsequentialistische Überlegungen zulässig und sinnvoll. Näher S. 154ff. und für den Sekundäranspruch S. 310ff. 41 Der Haftungsmaßstab ist bei bestimmten Verträgen typischerweise reduziert (Beispiele sind §§ 521, 599, 708 BGB). Die Parteien können auch selbst den Haftungsmaßstab absenken (in den Grenzen der §§ 276 III, 305ff. BGB). Ein milderer Haftungsmaßstab als der in § 276 II BGB festgelegte, ist auch etwa für den Fall des Gläubigerverzugs vorgesehen (§ 300 I BGB). S. nur Looschelders Fn. 10, Rn. 524ff. 42 Weitergehend etwa Staudinger-Otto § 280 Rn. D 4 (»materieller Ausschlußgrund«). 43 Im Einzelnen MünchKommBGB-Ernst § 280 Rn. 30ff. In der Ableitung abweichend Kohler ZZP 2005, 25.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
die Nichtleistung grundsätzlich zurechenbar ist.44 Auch dieser Aspekt der Haftung ist im Hinblick auf die Bedürfnisse des Verkehrs und die Leichtigkeit und Sicherheit der Durchsetzung subjektiver Rechte vor Gericht gerechtfertigt. Für den Gläubiger steht regelmäßig lediglich fest, daß die Leistung ausbleibt, der Grund ihres Ausbleibens liegt dagegen in dem vom Schuldner zu überblickenden und zu verantwortenden Bereich.45 Welche Umstände die Zurechnung ausschließen und ob er wiederum für deren Vorliegen verantwortlich ist oder nicht, könnte der Gläubiger kaum sinnvoll vor Gericht nachvollziehen. Daher ist es naheliegend, den Schuldner mit dem Beweis dafür zu belasten, daß ihm die Vertragsverletzung nicht zugerechnet werden kann.46 Eine strengere Haftung ist für eine Vielzahl von Fällen vorgesehen. Zunächst können, wie erläutert, die Parteien nach § 276 I BGB selbst festlegen, welchen Grad der Sorgfalt der Schuldner zu beachten hat oder welche Umstände zum Ausschluß der Zurechnung führen und welche nicht. Die Reichweite einer solchen Garantiehaftung ist durch Auslegung zu ermitteln.47 Ein weiterer Fall von typisierter Garantiehaftung ist das Einstehen für die finanzielle Leistungsfähigkeit.48 Auch hier ist der Zusammenhang mit der sicheren Durchsetzung subjektiver Rechte vor Gericht unverkennbar: Würde man diesen Einwand gestatten, wäre der Schuldner in vielen Fällen in der Lage, das Recht des Gläubigers auf die Leistung zu unterlaufen. Das Gesetz sieht weiterhin in § 287 S. 2 BGB die Regel vor, daß der Schuldner im Verzug auch für »Zufall« haftet, es sei denn, daß der Schaden auch bei rechtzeitiger Leistung eingetreten wäre. Dies ist keine Garantiehaftung, denn der Schuldner muß die Verzögerung selbst zu vertreten haben (§ 286 IV BGB), sondern eine typisierte außerordentliche Zurechnung: Wenn der Schuldner zurechenbar nicht leistet, dann ist er für eine nachfolgende endgültige Leistungsunfähigkeit bereits deswegen verantwortlich zu machen. Schließlich ist auch auf § 278 BGB als Verschärfung der Haftung hinzuweisen: Der Schuldner haftet für ein Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen auch dann, wenn ihm selbst kein Verschulden vorgehalten werden kann.49 Auch diese Regelung beruht auf den Verkehrsinteressen und damit auf dem mutmaßlichen Parteiwillen: Wenn der 44 Bei bestimmten Verträgen (z.B. § 611 BGB) spielt das Beachtung der erforderlichen Sorgfalt nicht nur für die außerordentliche Zurechung eine Rolle, sondern konstituiert den von den Verhaltensregeln geforderten Verhaltensmaßstab. Die Sorgfalt tritt hier in einer doppelten Funktion in Erscheinung. Zu beachten ist, daß für die Frage der Rechtswidrigkeit, also der Frage des Vorliegens der Pflichtverletzung, die Beweislast nicht umgekehrt ist. S. zu der Unterscheidung näher etwa Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 40. 45 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 38f. 46 Anders die Wertung des Arbeitsrechts für die Haftung des Arbeitnehmers in § 619a BGB. 47 S. nur Looschelders Fn. 10, Rn. 530. Zum Beschaffungsrisiko auch S. 312ff. 48 Huber Fn. 21, S. 626ff.; Canaris JZ 2001, 499, 519. 49 Der Schuldner kann bekanntlich, wie der Vergleich mit § 831 BGB deutlich werden läßt, nicht einwenden, daß ihm wegen der Auswahl oder Überwachung des Gehilfen kein Vorwurf zu machen ist, s. etwa Looschelders Fn. 10, Rn. 541ff.
I. Zurechnung in der Dogmatik
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Gläubiger dem Schuldner gestattet, die Vorteile der Arbeitsteilung zu nutzen, dann soll er auch das »Personalrisiko« tragen.50 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das deutsche Recht das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und objektivierter Fahrlässigkeit in vielerlei und praktisch bedeutsamer Hinsicht relativiert, indem es abweichende Zurechnungsmaßstäbe anerkennt. Dies ist kein Nachteil des deutschen Schuldrechts. Im Gegenteil, es ist ein Zeichen dafür, daß das deutsche Recht den Schutz subjektiver Rechte durch die Gerichte ernst nimmt und den mutmaßlichen Willen der Teilnehmer am Rechtsverkehr mit durchaus subtilen Überlegungen zu erfassen vermag.
2. Alternativen Es sind im Folgenden einige Alternativen zu dem Modell des § 276 BGB zu erörtern. Es handelt sich dabei jeweils nicht um eine grundsätzlich anders abgeleitete Haftung auf Schadensersatz. Auch diese abweichenden Normierungen des Sekundäranspruchs gehen davon aus, daß die Vertragsverletzung zurechenbar ist, wenn auch nicht nach dem Maßstab von Vorsatz und objektivierter Fahrlässigkeit. Die Unterschiede liegen in der Art und Weise, wie die Zurechnung begründet wird und die Interessen des Verkehrs bei der Zurechnung am besten berücksichtigt werden können. Die Kontroverse besteht dabei vornehmlich darin, ob vom Verschuldensprinzip oder einer Garantiehaftung als Grundregel auszugehen ist, inwieweit also der Schuldner nach einem strengeren Maßstab haften sollte als dem von Vorsatz und objektivierter Fahrlässigkeit. Diese Alternativen sind auch deswegen für die Rechtsvergleichung relevant, weil das Prinzip des Vertretenmüssens in § 276 I BGB flexibel ist. Wenn in bestimmten Fallgruppen eine ausländische Rechtsordnung die Interessenlage schärfer erfaßt, dann wäre die Übernahme dieser Lösung im Wege der Auslegung für typisierte Fallgruppen zu überlegen. a) Die Garantiehaftung des common law Gelegentlich wird dem common law unterstellt, es würde den Vertrag als disjunktive Obligation betrachten, dem Schuldner also die Wahl einräumen, zu erfüllen oder Schadensersatz zu leisten.51 Es ist nicht erforderlich, diese Sichtweise erneut zu widerlegen.52 Es genügt die Feststellung, daß auch im common law der Anspruch auf das positive Interesse wegen Nichtleistung auf die Aufhebung einer 50
MünchKommBGB-Grundmann § 278 Rn. 3. Etwa bei Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, S. 158 (»Der Schuldner verspricht nicht eine Leistung, er übernimmt eine Garantie für ihre Erbringung, indem er für den Fall der Nichterbringung Schadensersatz verspricht.«). 52 S. näher S. 225ff. 51
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
Rechtsverletzung gerichtet ist und nicht etwa die Durchsetzung eines verkappten Primäranspruchs darstellt.53 Der Schadensersatzanspruch wird im Hinblick auf das verletzte Recht (primary right) als Sekundäranspruch (secondary right) bezeichnet.54 Der Sekundäranspruch dient also dazu, den aus einem »wrong« entstehenden Schaden auszugleichen.55 Wenn der Sekundäranspruch im englischen Recht auf einer Rechtsverletzung beruht, so ergibt sich bereits daraus, daß auch das englische Recht Zurechnungsregeln vorsehen müßte. Denn ohne diese könnte der Richter im Einzelfall gar nicht feststellen, ob der Schuldner eine Vertragsverletzung begangen hat. Zurechnung findet immer dann statt, wenn eine Person als »moralischer Urheber« einer rechtswidrigen Handlung angesehen wird, so daß er die rechtlichen Folgen derselben tragen muß.56 Wie die folgenden Anmerkungen zeigen werden, ist die Zurechnung für den Sekundäranspruch zumindest grundsätzlich relevant. Von besonderem rechtsvergleichenden Interesse ist vor allem, welche Zurechnungsregeln im common law angewendet werden und ob diese pragmatisch im Hinblick auf die Verkehrsinteressen und den Parteiwillen gerechtfertigt sind. Im Vergleich zu kodifizierten Systemen ist die Untersuchung erschwert. Die Zurechnungsregeln können sich in der Kasuistik des common law leicht verlieren oder von anderen Aspekten des Einzelfalles überlagert werden.57 Die folgenden Äußerungen sind mit Vorsicht zu lesen, denn sie enthalten Verallgemeinerungen, die jeden englischen Richter vermutlich unwohl werden ließen.58 Klar ist nur, daß die Zeiten »absoluter Haftung«, in denen selbst der Einwand unzulässig war, daß man Opfer eines Diebstahls war, im englischen Recht lange vorbei sind.59 Es empfiehlt sich, mit den Gemeinsamkeiten zu beginnen, die größer sind, als es zunächst den Anschein haben mag.60 Zunächst ist für bestimmte Vertragstypen anerkannt, daß der Maßstab der Haftung, genauer müßte man sagen, der Maßstab der Zurechnung als Voraussetzung der Haftung, der des engen Verschuldensprin53
S. 286ff. Der Ausdruck »breach of contract« (Vertragsbruch) für den das remedy damages als Rechtsbehelf vorgesehen ist, bringt ebenfalls den Gedanken der Aufhebung eines dem Recht widerstreitenden Zustands zum Ausdruck. 55 S. 200ff. S. etwa Treitel, The Law of Contract, S. 926 (»A breach of contract is a civil wrong.«) Diese Übereinstimmung der Dogmatik des positiven Rechts ist keine zufällige: Die Rechtsvergleichung erbringt in dieser Hinsicht einen Beleg für die Durchsetzungskraft vorpositiver Prinzipien des Leistungsstörungsrechts, denn daß das common law heute so aufgefaßt wird, ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich an die vertragkritische Haltung eines Großteils des Diskurses um die Grundlagen des Vertrages erinnert. Näher S. 212ff. 56 S. 294ff. 57 S. die Systematisierung der Fälle bezüglich des »standard of duty« bei Treitel Fn. 55, S. 838ff. 58 Für eine umfassende Darstellung in deutscher Sprache Schmidt-Kessel, Standards vertraglicher Haftung nach englischem Recht. Weitere rechtsvergleichende N. und Diskussion bei Markesinis/Unberath/Johnston, The German Law of Contract, S. 390, 400, 444ff. 59 Dazu Ibbetson in Rose (Hrsg.), Essays in the Honour of Guenter Treitel, S. 1 60 In diesem Sinne auch Abschlußbericht 1992, S. 123; Bundestags-Drucksache 14/6040, S. 131. 54
I. Zurechnung in der Dogmatik
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zips ist: Vorsatz und objektive Fahrlässigkeit. Für Dienstverträge, bei denen der Erbringer der services in Ausübung seines Berufes oder Gewerbes handelt, sieht section 13 des Sale and Supply of Goods Act 1982 vor, daß der Vertrag einen implied term enthält, wonach der Schuldner nur zu »reasonable care and skill« verpflichtet ist. Dieser Maßstab, der nur eine bereits vorher für Dienstverträge ganz allgemein entwickelte Regel des common law normiert, wird üblicherweise verstanden als: »(...) that degree of skill and care which is ordinarily exercised by reasonably competent members of the profession, who have the same rank and profess the same specialisation (if any) as the defendant«.61
Die Nähe zu der Bestimmung der objektiven Sorgfalt in § 276 II BGB ist offensichtlich. Beim Dienstvertrag hat die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt freilich wie im deutschen Recht eine Doppelfunktion:62 Weil kein abgrenzbarer Leistungserfolg geschuldet ist, ist die Ordnungsmäßigkeit der Leistungshandlung zugleich dafür maßgeblich, ob eine Vertragsverletzung vorliegt. Der Sorgfaltsstandard ist daher sowohl als Verhaltensregel als auch als Zurechnungsregel relevant. Die implied term Technik verdeutlicht den methodisch zutreffenden Zusammenhang zwischen Parteivereinbarung und objektiviertem Zurechnungsmaßstab. Ob der Vertrag im Einzelfall auf einen solchen mutmaßlichen Willen beruht, beurteilen die englischen Richter, wiederum im Ausgangspunkt ähnlich wie im deutschen Recht in der Abgrenzung zum Werkvertrag, nämlich danach, ob nur die Erbringung von Diensten oder auch ein bestimmtes Ergebnis geschuldet ist.63 Für die Erbringung professioneller Dienstleistungen gilt damit in der Sache der gleiche Maßstab wie nach dem Verschuldensprinzip.64 Generell ist anzumerken, daß die Parteien von der Garantiehaftung abweichen können und eine mildere Haftung vorsehen können, was vor allem unter Zuhilfenahme von Ausschlußklauseln in Geschäftsbedingungen auch häufig geschieht.65 Eine weitere Übereinstimmung, diesmal auf dem Nenner der Garantiehaftung, besteht hinsichtlich der in der Praxis naturgemäß wichtigen Zurechnungsregeln bei Gattungsschulden66 und hinsichtlich des Einwands der finanziellen Schwierigkeiten.67 Für die verbleibenden Fälle besteht jedoch in der Tat eine Abweichung im Ausgangspunkt der Zurechnung: während das deutsche Recht vom Verschuldensprinzip ausgeht, folgt das common law für die Begründung der Haftung dem Ga61
Powell and Stewart, Jackson & Powell on Professional Negligence, para. 2–120. S. oben Fn. 41. 63 Bsp. Greaves & Co. (Contractors) Ltd. v. Baynham Meikle & Partners [1975] 1 W.L.R. 1095. 64 Überblick bei Schmidt-Kessel Fn. 58, S. 298ff. 65 Bsp. The Angelia [1973] 1 W.L.R. 210. 66 Bsp. Barnett v. Javeri & Co [1916] 2 K.B. 390. 67 Bsp. Universal Corp. v. Five Ways Properties Ltd. [1979] 1 All E.R. 552. 62
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
rantieprinzip. An dieser Stelle ist ein letztes Mal auf die bereits eingangs erwähnte Sichtweise des Vertrages als disjunktive Obligation zurück zu kommen. Die Analyse des positiven Rechts hat gezeigt, daß diese Analyse für das (derzeitige) common law falsch ist. Allerdings hat die Untersuchung auch gezeigt, daß trotz der Übereinstimmung der Ergebnisse in manchen Fallgruppen der Leistungszwang im englischen Recht schwächer ausgestaltet ist als auf dem Kontinent.68 Dies ist bereits deswegen der Fall, weil die Entscheidung darüber, ob der Primäranspruch durchgesetzt wird, dem Gläubiger entzogen und dem Gericht übertragen wird. Aus Sicht des Gläubigers entsteht damit ein Rechtsschutzproblem, denn er kann sich nicht darauf verlassen, der Vertragsverletzung mit Leistungszwang begegnen zu können. Insofern hat der Gläubiger zwangläufig ein erhöhtes Interesse daran, daß der Schuldner keine oder nur eingeschränkt Einwände gegen die Zurechnung der Vertragsverletzung im Rahmen des Sekundäranspruchs erheben kann. Es ist daher eher anzunehmen, daß der mutmaßliche Parteiwille auf eine Garantiehaftung gerichtet ist, während sich das deutsche Recht, daß den Leistungszwang großzügiger gewährt, eher »erlauben« kann, einen strengeren Zurechnungsmaßstab zugrunde zu legen. Hierin zeigen sich erneut die tiefgreifenden Auswirkungen der unterschiedlichen Gestaltung des Leistungszwangs auf das System des Leistungsstörungsrechts.69 Dies bedeutet jedoch zugleich, daß eine Übertragung der Argumente zur typischen Interessenlage der Parteien auf das deutsche positive Recht, das den Primäranspruch grundlegend anders schützt, nur mit Vorbehalten möglich ist. Die Akzentverschiebung beim Sekundäranspruch zwischen common law und civil law entspricht mit umgekehrtem Vorzeichen der Differenz in der Gestaltung des Primäranspruchs. Allerdings ist auch diese These weiter zu relativieren. Denn selbst in den Fällen, in denen das common law an sich eine Garantiehaftung vorsieht, kann diese durch das Auftreten von nachträglichen, »externen« Leistungshindernissen ausgeschlossen werden. Dadurch wird der Grundgedanke der Garantiehaftung erheblich abgemildert: In diesen Fällen, wird dem Schuldner der Einwand zugestanden, für einen Umstand, der die Zurechnung ausschließt, nicht verantwortlich zu sein. Das englische Recht läßt diesen Einwand des Schuldners als Einwand der frustration zu.70 Dies ist eine Verteidigung auch gegen den Sekundäranspruch. Der Einwand ist nur dann erfolgreich sein, wenn das Leistungshindernis nicht vom Schuldner zu kontrollieren war. Im Unkehrschluß bedeutet dies, daß der Einwand ausgeschlossen ist, wenn der Schuldner nach dem Zweck des Vertrages für das Vorliegen des Leistungshindernisses verantwortlich ist oder es selbst vorwerf-
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S. 263ff. S. bereits Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. I, S. 376. 70 S. zu der Funktion der doctrine of frustration als »Haftungsentlastung« und den einzelnen Fallgruppen näher Schmidt-Kessel Fn. 58, S. 45ff.; Treitel Fn. 55, S. 920ff. (zu den vielfältigen theoretischen Erklärungsansätzen von frustration, deren praktische Relevanz aber gering sei). 69
I. Zurechnung in der Dogmatik
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bar herbeigeführt hat.71 Letzteres ist nichts weiter als das Prinzip der außerordentlichen Zurechnung wie es im deutschen Recht etwa in § 283 BGB geregelt ist. Frustration ist insgesamt von den englischen Gerichten mit Zurückhaltung angewendet worden. Folgende Fallgruppen sind jedoch grundsätzlich anerkannt: nachträgliche tatsächliche Unmöglichkeit,72 nachträglicher Zweckfortfall,73 und nachträgliche »Illegalität«.74 Die unsichere Reichweite des Instituts hat dazu geführt, daß die Parteien die Zurechnungsfrage häufig selbst durch Einschluß von force majeure und ähnlicher Klauseln regeln.75 Solche Klauseln schließen typischerweise die Zurechnung von Leistungshindernissen aus, die jenseits der Kontrolle des Schuldners liegen (idealtypisch »Act of God«). Bereits aus diesen wenigen Anmerkungen ist ersichtlich, daß die verbleibenden Unterschiede hinsichtlich des Haftungsmaßstabs nicht so gravierend sind, wie es zunächst den Anschein hat.76 Dies liegt nicht zuletzt auch daran, daß der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 II BGB in Verbindung mit der Garantiehaftung für die finanzielle Leistungsfähigkeit ohnehin einen relativ strengen Zurechnungsmaßstab darstellt.77 Zu bedenken ist schließlich, daß die deutsche Rechtsprechung, bereits vor der Neufassung des § 276 BGB, der regelmäßigen Annahme einer Garantiehaftung in bestimmten Fallgruppen nicht abgeneigt war.78 Insgesamt ist anzunehmen, daß es den englischen Entscheidungen gelingt, im Einzelfall die Zurechnungsregeln an den Willen der Parteien, der zudem häufig expressis verbis formuliert wird, anzupassen. Dies erschwert zwar eine systematische Erfassung der Position des englischen Rechts, stellt aber sicher, daß die abstrakten Zurechnungsregeln nicht vorbei an der Realität der wirklich begründeten subjektiven Rechte angewendet werden. Freilich unterscheidet sich die Substanz der Zurech71 Dieser letzte Aspekt ist in den Entscheidungen unter der Bezeichnung der »self-induced frustration« bekannt. Bsp. Maritime National Fish Ltd. v. Ocean Trawlers Ltd. [1935] A.C. 524; s. insbes. die Analyse von Hobhouse J. in The ›Super Servant Two‹ [1989] 1 Lloyd’s Rep. 148. 72 Bsp. Taylor v. Caldwell (1863) 3 B&S 826. 73 Bsp. Krell v. Henry [1903] 2 K.B. 740. 74 Bsp. Fibrosa Spolka Akcyjna v. Fairbairn Lawson Combe Barbour Ltd. [1943] A.C. 32. 75 Die »force majeure« Klausel in Channel Island Ferries Ltd. v. Sealink UK Ltd. [1988]1 Lloyd’s Rep. 323 lautete etwa: »A party shall not be liable in the event of non-fulfilment of any obligations arising under this contract by reason of Act of God, disease, strikes, Lock-Outs, fire, and any accident of any nature beyond the control of the relevant party.« 76 S. auch Schmidt-Kessel Fn. 58, S. 289, 505ff. 77 Das deutsche Recht kennt eine Fülle differenzierter unselbständigen Sorgfaltspflichten, womit sicher gestellt wird, daß der Schuldner sich nur in Ausnahmefällen auf Umstände berufen kann, die an sich die (ordentliche) Zurechnung ausschließen würden. Zu erinnern ist nur an die strenge Handhabung der Frage, nach welchem Maßstab ein Rechtsirrtum zu vermeiden ist, s. umfassend Huber Fn. 21, S. 704ff., 715 (Entlastung nur in »besonders gelagerten Ausnahmefällen«, der Schuldner vertrete seinen Rechtsstandpunkt »auf eigene Gefahr«). 78 Ein Beispiel ist etwa die Rechtsprechung zu der Frage, wann Angaben eines Gebrauchtwagenhändlers als »Zusicherung« einer Eigenschaft aufzufassen sind. S. etwa BGHZ 122, 256; weitere Bsp. bei MünchKommBGB-Westermann § 437 Rn. 41f.; Bamberger/Roth-Faust § 437 Rn. 75 (fordert jedoch die »bedenklich weite Annahme von Zusicherungen« unter der Geltung der neugefaßten Vorschriften zu korrigieren).
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nungs-Regeln, soweit es auf sie ankommt, kaum von denen des deutschen Rechts. Wenn man schließlich bedenkt, wie häufig englische Verträge force majeure und ähnliche Klauseln enthalten, um Streitigkeiten über die unsichere Reichweite der doctrine of frustration zu vermeiden, erscheint der deutsche Ansatz mit der grundsätzlichen Maßgeblichkeit eines objektiven Sorgfaltsmaßstab der eingeschränkten Garantiehaftung des englischen Rechts zumindest nicht unterlegen. In den Fallgruppen, in denen eine strengere Haftung adäquat ist, bietet § 276 I BGB ausreichend Spielraum, dem konkreten Vertrag abweichende Zurechnungsregeln zu entnehmen. Eine generelle Übernahme des Garantiegedankens ist bereits im Hinblick auf die abweichende Ausgestaltung des Primäranspruchs im deutschen Recht dagegen nicht zu empfehlen. b) Der Ansatz des CISG und der Principles Das CISG sieht im Ansatz eine Garantiehaftung des Schuldners vor, die jedoch in Art. 79 I CISG eingeschränkt wird. Nach dieser Vorschrift kann sich der Schuldner entlasten, wenn die Nichtleistung auf einen Umstand zurückzuführen ist, der außerhalb seines »Einflußbereichs« liegt und der bei Vertragsschluß nicht vernünftigerweise in Betracht zu ziehen war oder, wenn er in Betracht zu ziehen war, vernünftigerweise nicht hätte vermieden oder überwunden werden müssen. Es besteht kein Einvernehmen darüber, wie stark diese Haftungsentlastung die Garantiehaftung letztlich einschränkt79 und ob Art. 79 CISG funktional § 276 BGB entspricht.80 Art. 79 I CISG ist in Art. 8:108 I PECL und Art. 7.1.7 I PICC (Force majeure) als allgemeines Prinzip der vertraglichen Haftung übernommen worden. Ihr dürfte damit erhebliche Modellwirkung auch für ein zukünftiges europäisches Vertragsrecht zukommen. Der Ansatz des CISG ist dem des englischen Rechts ähnlich.81 Das Prinzip der Garantiehaftung dürfte für den internationalen Handelskauf, der von Gattungsschulden dominiert wird, auch angemessen sein,82 zumal die Durchsetzung des Primäranspruchs in diesen Fällen nicht zuletzt wegen Art. 28 CISG zweifelhaft ist.83 Die Garantiehaftung ermöglicht eine außerordentlich rasche Abwicklung, die, wie Rabel im Hinblick auf das englische Recht feststellte, für das »kaufmänni-
79 Angesichts der grundlegend unterschiedlichen Haftungskonzepte ist es nicht verwunderlich, daß sich die Kontroverse auch in der Entstehungsgeschichte der Vorschrift widerspiegelt, s. nur Staudinger-Magnus Art. 79 CISG Rn. 5f. 80 S. etwa einerseits Schlechtriem, UN-Kaufrecht, Rn. 286 (entspricht § 276 BGB, läßt Entlastung aber nur unter engeren Voraussetzungen zu); andererseits Canaris Fn. 31, S. 252 (§ 276 BGB unterscheidet sich wesentlich). 81 So auch Schmidt-Kessel Fn. 58, S. 289 im Hinblick auf frustration. 82 Die Vorschrift spielt auch in der Praxis keine herausgehobene Rolle, Staudinger-Magnus Art. 79 CISG Rn. 4. m.w.N. 83 S. 268ff.
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sche Leben« den Vorzug verdient.84 Diese Ausrichtung auf commercial convenience ist kein Zufall, denn das englische Recht ist über die Jahrhunderte von Entscheidungen zu Fällen aus dem kaufmännischen Bereich, insbesondere dem Seehandel, geprägt worden.85 Es ist anzunehmen, daß das Haftungsmodell des CISG die besondere Interessenlage der Parteien durchaus adäquat erfaßt. In dieser Verknüpfung zwischen einer typisierten Interessenlage des Handelsverkehrs mit der Garantiehaftung liegt allerdings auch die Schwierigkeit begründet, diese als Ausgangspunkt des Sekundäranspruchs für alle Verträge festzuschreiben: Dies ist eine zweifelhafte Verallgemeinerung eines durchaus partikulären Parteiwillens. Die PECL und PICC verkehren somit Ausnahme (Garantiehaftung) und Regel (Zurechnung in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit). Das System gerät zudem in eine Schieflage, weil Art. 8:108 I PECL und Art. 7.1.7 I PICC dann doch eine weitreichende Einschränkung der Garantiehaftung für solche Leistungshindernisse vorsehen, die jenseits der Kontrolle des Schuldners sind. Das ist ein wichtiger Ausschlußgrund der Zurechnung: Zwang für den der Schuldner nicht verantwortlich ist. Der zweite wichtige Zurechnungsfaktor, die Unwissenheit, wird dagegen ausgeblendet.86 Die Principles sehen daher eine Garantiehaftung nur hinsichtlich der Irrtumsproblematik vor. Für Fälle des Zwangs sehen sie dagegen den Ausschluß der Zurechnung nach dem Prinzip von Vorsatz und Fahrlässigkeit vor. Für diese Differenzierung sind keine Gründe ersichtlich. Zudem wird die eingeschränkte Maßgeblichkeit der Zurechnungsregeln durch die komplizierte Regelungstechnik verdunkelt.87 Die Zurechnung folgt dem Muster: 1. Regel: Garantie als vermuteter Parteiwille; 2. Ausnahme: keine Zurechnung bei Hindernis jenseits der Kontrolle des Schuldners; 3. Gegenausnahme: der Schuldner muß nach dem Vertragszweck für das Hindernis einstehen. Demgegenüber reichte bei Maßgeblichkeit des Verschuldensprinzips als Ausgangspunkt eine zweistufige Regelung nach dem Muster des § 276 BGB: 1. Regel: Zurechnung nach dem Verschuldensprinzip, 2. Ausnahme: Garantiewille. Das Verschuldensprinzip in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit umfaßt alle wesentlichen Zurechnungsregeln. Unfreiwillig handelt danach eine Person, die unwissend ist oder unter Zwang agiert und für die Unwissenheit oder den Zwang nicht verantwortlich ist. Die Garantiehaftung sollte nach der hier vertretenen Vertragstheorie nicht zur Grundlage des Sekundäranspruchs erhoben werden, weil die unfreiwillige Vertragsverletzung grundsätzlich nicht eine Schadensersatzhaftung begründet. Das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit fordert nur die Aushebung einer zurechenbaren Vertragsverletzung. Eine generelle strik84
Rabel Fn. 69, S. 378. Unberath, Transferred Loss, S. 93 m.w.N. 86 Der Hinweis auf die Irrtumsregeln bei Vertragschluß, von Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln, S. 459, übersieht, daß die Unwissenheit auch zu einem späteren Zeitpunkt als dem Vertragsschluß für die Zurechnung relevant sein kann. 87 Kritik an der Regelungstechnik in anderer Hinsicht bei Canaris Fn. 31, S. 252. 85
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te Haftung ist damit nicht vereinbar. Wenn es um allgemeine Grundsätze des Sekundäranspruchs geht, ist das Prinzip der Zurechnung zur Schuld in der Form von Vorsatz und Fahrlässigkeit als Ausgangspunkt der Haftung festzuschreiben.88 Damit ist die Garantiehaftung selbstredend nicht generell ausgeschlossen. Im Hinblick auf die Vertragsverletzung steht es den Parteien frei, wie erörtert, Aspekte der außerordentlichen Zurechnung selbst zu regeln. Daran werden sie, etwa in bestimmten Situationen des Handelsverkehrs ein Interesse haben; insbesondere wenn eine gerichtliche Sanktionierung unselbständiger Sorgfaltspflichten mit Schwierigkeiten verbunden ist.89 Doch ist ein solcher Wille schwerlich über die Grenzen der einzelnen Vertragstypen hinweg, unter Abstraktion von spezifischen Interessenlagen zu vermuten.90
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB Im verbleibenden Teil dieses Kapitels sind die §§ 280–284, 311a BGB in ihrer Bedeutung für die Haftung wegen Vertragsverletzung zu untersuchen. Die Vorschriften sind als pragmatische Ausgestaltung des Sekundäranspruchs keinen grundsätzlichen Zweifeln ausgesetzt.91 Aus den überpositiven Grundlagen lassen sich Hinweise für ihre Auslegung gewinnen. Bei der Anwendung der Vorschriften, soviel ist bereits an dieser Stelle zu sagen, sollte die ihnen gemeinsame Idee der Aufhebung einer Vertragsverletzung durch Gewährung eines wertmäßigen Substituts der Leistung nicht aus den Augen verloren gehen. In dieser Konzentration auf den Ausgleichsgedanken kann das common law durchaus als Vorbild gelten, während in der deutschen Dogmatik gelegentlich zu beobachten ist, daß technische Details der Durchführung des Ausgleichs im Vordergrund stehen.
1. Richtung des Ausgleichs Es ist ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit, daß die (zurechenbare) Rechtsverletzung aufgehoben werde. Die Rechtsverletzung der Vertragsverletzung besteht in dem teilweisen oder vollständigen Ausbleiben der Leistung. Ihre Aufhebung besteht darin, einen wertmäßigen Ausgleich zu schaffen. Zweck des Sekundäranspruchs wegen Vertragsverletzung ist die Schaffung einer erfüllungsähnlichen Lage. Aus dieser Zielrichtung des Schadensersatzes folgt, daß der Scha88
Canaris Fn. 31, S. 253f.; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 59. Vgl. auch S. 311ff. 90 Selbst das englische Recht erkennt, wie im vorigen Abschnitt gesehen, weitgehende Einschränkungen der Garantiehaftung an. 91 Skeptisch bis ablehnend dagegen Zimmermann Fn. 11, S. 60 (»hardly a satisfactory state of affairs (and hardly one that can be recommended as a model for Europe)«). 89
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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densersatz auf Erstattung des positiven Interesses gerichtet ist.92 Der Gläubiger soll so gestellt werden, wie er stünde, wenn geleistet worden wäre, d.h. wie er ohne die Vertragsverletzung im Augenblick der Geltendmachung des Ersatzanspruchs gestanden hätte.93 Das common law folgt, wenig überraschend, der gleichen Regel: »[T]he rule of the common law is, that where a party sustains a loss by reason of a breach of contract, he is, in so far as money can do it, to be placed in the same position, with respect to damages, as if the contract had been performed.«94
Freilich versteht das englische Recht unter damages immer Schadensersatz in Geld, während es nach deutscher Dogmatik etwas Begründungsaufwand erfordert, um zu zeigen, daß der Schadensersatz wegen Vertragsverletzung auf wertmäßigen Ausgleich gerichtet ist. Nach dem Grundsatz der Naturalherstellung in § 249 I BGB könnte man bei oberflächlicher Betrachtung annehmen, daß die Regel auch für den Sekundäranspruch die ist, daß die Leistung selbst verlangt werden könnte.95 Dies wäre dogmatisch ein Rückschritt. Denn während der Primäranspruch eine Zurechnung der Nichtleistung nicht erfordert, setzt der Sekundäranspruch eine solche voraus. Würde man nun auch über den Sekundäranspruch die Leistung verlangen können, wäre diese grundlegende Unterscheidung hinfällig. Diese Schwierigkeiten werden vermieden, wenn man § 281 IV BGB den allgemeinen Grundsatz entnimmt, daß der Schadensersatz, soweit er eine erfüllungsähnlichen Zustand schafft, das Recht auf die Leistung ausschließt.96 Aus den überpositiven Grundlagen, insbesondere dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit, ergibt sich die Zielrichtung des Ausgleichs. Sie sollte bei der Auslegung des positiven Rechts soweit methodisch zulässig, berücksichtigt werden. Drei Schlußfolgerungen sind für die Dogmatik von besonderer Bedeutung. Dem Schadensersatz sollte erstens nicht die Funktion zukommen, den Schuldner für die Vertragsverletzung zu bestrafen.97 Diese Einschränkung der Funktion des Sekundäranspruchs wegen Vertragsverletzung ist im deutschen Recht grundsätzlich anerkannt.98 92
S. 288ff. MünchKommBGB-Ernst Vor § 281 Rn. 7 m.w.N. 94 Robinson v. Harman (1848) 1 Ex. 850, 855 per Parke, B. Der gleiche Grundsatz gilt im U.S.Recht: Farnsworth, Contracts, § 12.8, S. 758. 95 Die Ausnahmen zur Naturalherstellung in § 250 BGB und § 251 BGB sind wenig passend und nicht auf §§ 281ff. BGB abgestimmt. 96 Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, Rn. 207. Dagegen wollen etwa Lange/ Schiemann, Schadensersatz, S. 220; Staudinger-Otto § 280 Rn. E 81, Ausnahmen beibehalten. § 281 IV BGB ist als Regelung auch ausreichend, denn hinsichtlich der Unmöglichkeit ist der Primäranspruch ohnehin ausgeschlossen und hinsichtlich der Verzögerung der Leistung kann die Leistung naturgemäß nicht mehr erbracht werden. 97 Näher S. 292f. 98 S. vor allem Motive, Bd. 2, S. 17ff. Nicht grundsätzlich ablehnend aber Ebert, Pönale Ele93
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
Zweitens ist aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit eine einseitige Gewinnabschöpfung abzulehnen. Zwar ist nach deutscher Dogmatik die Gewinnabschöpfung nicht Teil des Schadensersatzes, doch wird erwogen und überwiegend befürwortet, den Erlös als sogenanntes »commodum ex negotiatione« über § 285 BGB, damit sogar unter Verzicht auf das Kriterium der Zurechnung, für ersatzfähig zu erklären.99 Für die Vertragsverletzung ist dieser Ansatz aus den bereits genannten Gründen abzulehnen.100 Die Gewinnabschöpfung im Wege der Surrogatsherausgabe ist dogmatisch keineswegs zwingend: Den Erlös erlangt der Schuldner nicht aufgrund des Umstands, aufgrund dessen die Leistung unmöglich wurde; der Umstand der dies bewirkt hat, ist die (dingliche) Veräußerung an den Dritten. Drittens ist das negative Interesse nicht ersatzfähig,101 zumindest nicht als Ausgleich einer Vertragsverletzung und ohne Bezug zum positiven Interesse.102 Die einzig maßgebliche Regel für die Bestimmung des Leistungsinteresses bei Vertragsverletzung lautet: Der Schuldner ist so zu stellen ist, wie er stünde, wenn erfüllt worden wäre. Der Ersatz des negativen Interesses zielt dagegen darauf ab, den Schuldner so zu stellen, wie er stünde, wenn er auf den Vertrag nicht vertraut hätte. Der Ersatz dieses Schadens läßt sich mit dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht rechtfertigen. Allerdings ist diese Aussage einzuschränken. Es mag aus anderen Gründen als denen des Leistungsstörungsrechts gerechtfertigt sein, den Vertrauensschaden zu ersetzen. Darüber trifft die vorliegende Untersuchung keine Aussage. Schließlich ist der Ausgleich der Vertragsverletzung nach der hier vertretenen Vertragstheorie auch nicht auf den Ausgleich des Schutzinteresses oder Integritätsinteresses gerichtet. Damit soll jedoch nicht bestritten werden, daß diese Haftung de lege lata teilweise vertraglich einzuordnen ist und daß es pragmatisch gerechtfertigt sein kann, bestimmte Aspekte dieses Schadens unter die Regeln der Haftung wegen Vertragsverletzung zu subsumieren.103 Nur
mente im deutschen Privatrecht, S. 252ff., mit einer Analyse des gegenwärtigen Rechts; die Ausdehnung des Sanktionsgedankens für den Schadensersatz fordert Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, S. 369ff. 99 MünchKommBGB-Emmerich § 285 Rn. 20, der dies als »überwiegende Meinung« bezeichnet; Staudinger-Löwisch § 285 Rn. 38 m.w.N. 100 H. Roth, in Jayme/Laufs/Misera/Reinhart/Serick (Hrsg.), Festschrift für Hubert Niederländer, S. 363, 369, 371. Zu der theoretischen Rechtfertigung S. 290ff. Zwar stellt der opportunistische Vertragsbruch ein Fehlverhalten dar, jedoch folgt daraus nicht, daß der einseitig erzielte Gewinn dem Gläubiger gebührt. S. zu dem Argument, den Vertragsbruch zu verhindern, Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, § 10 Rn. 21. 101 Anders etwa Schackel ZEuP 2001, 248, 255 (negatives Interesse als »Mindestrecht«) 102 S. näher zu der Funktion des § 284 BGB S. 350ff. 103 Dies kann die Rechtsanwendung vereinfachen und mag etwa hinsichtlich des Mangelfolgeschadens durchaus zweckmäßig sein. Auch die Frage der Verjährung dieser Ansprüche ist damit in keiner Weise präjudiziert. S. zu diesen Aspekten etwa Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 56ff.; Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 40ff.
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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liegt die Dogmatik dieser Ansprüche jenseits des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung zum Leistungsinteresse. Mit dieser Zielrichtung vor Augen können nunmehr die Voraussetzungen der Haftung im Einzelnen erörtert werden.
2. Grund der Differenzierung der §§ 280ff. BGB Der Schadensersatz wegen Vertragsverletzung dient der wertmäßigen Herstellung einer erfüllungsähnlichen Lage. Er ist in seinem Anwendungsbereich auf ein Substitut der Leistung gerichtet. Dementsprechend entfällt insoweit zwingend der Anspruch auf die Leistung. Diese Konsequenz zieht § 281 IV BGB ausdrücklich für die noch mögliche Leistung. Die zentralen Normen für den Schadensersatz »statt der Leistung« sind §§ 280 III, 281, 283 BGB. Schadensersatz statt der Leistung ist darüber hinaus noch in § 282 BGB104 und hinsichtlich anfänglicher Unmöglichkeit in § 311a II BGB vorgesehen.105 Der »Schadensersatz statt der Leistung« umfaßt aber nicht alle Aspekte des positiven Interesses. Dieses ist, wie zu zeigen sein wird, auch in § 280 I und II BGB geschützt. Die Frage, die sich daher zunächst aufdrängt, ist, warum die allgemeine Vorschrift in § 280 I BGB als Regelung des positiven Interesses nicht ausreichend war. Den überpositiven Grundlagen ist nicht mehr zu entnehmen als das Erfordernis der Rechtsverletzung und deren Zurechenbarkeit zum Schuldner. Beide Voraussetzungen sind bereits in § 280 I BGB auf eine Weise normiert, die in der Sache106 nicht zu beanstanden ist: Die in § 280 I 1 BGB in Bezug genommene »Pflichtverletzung« besteht bei der Vertragverletzung, also, wie erläutert, in der Verletzung der Leistungspflicht, also der (teilweisen oder vollständigen) Nichtleistung. Wenn der Schuldner diese Pflichtverletzung nach § 280 I 2 BGB »zu vertreten« i.S.d. § 276 BGB hat, sie ihm also zugerechnet werden kann, sind an sich alle Voraussetzungen des Sekundäranspruchs erfüllt. Rechtsfolge wäre bei Verletzung der Leistungspflicht zwangsläufig die Verpflichtung des Schuldners zum Ersatz des positiven Interesses. Mehr ist durch die theoretischen Postulate zum Sekundäranspruch nicht geboten: Der Gesetzgeber hätte sich auf die Vorschrift des § 280 I BGB beschränken können, ohne daß ihm ein Vorwurf zu machen gewesen wäre.107 Der Schuldner wäre über § 254 BGB geschützt. Und dennoch sieht das BGB 104 Nach dieser praktisch kaum relevanten Vorschrift, soll der Gläubiger den Schuldner so behandeln können, als ob er nicht erfüllt hätte, weil dem Gläubiger die weitere Kooperation mit dem Schuldner, der das Schutzinteresse des Gläubigers erheblich beeinträchtigt, nicht zugemutet werden kann. Die Vorschrift wird nicht näher behandelt, weil sie nicht eine Verletzung der Leistungspflicht voraussetzt. S. dazu etwa Looschelders Fn. 10, Rn. 631ff. 105 Diese wird gesondert behandelt, S. 353ff. 106 Zur Trennung des Aspekts der Zurechnung vom Begriff der Pflichtverletzung s. oben Fn. 15. 107 Zumindest im Hinblick auf den Verzugsschaden bei Zahlungsansprüchen plädiert Grundmann AcP 204 (2004), 569, 592 für ein Absehen von dem Zusatzerfordernis der Mahnung.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
in § 280 II BGB für den Verzögerungsschaden und vor allem in § 280 III BGB für den Schadensersatz »statt der Leistung« zusätzliche Voraussetzungen vor. Das Verständnis dieser Einschränkungen ist der Schlüssel zum System der §§ 280ff. BGB.108 Von grundlegender Bedeutung für die Systematik des neuen Schuldrechts sind die Erfordernisse der Nachfristsetzung und der Mahnung.109 Diese zusätzlichen Erfordernisse in §§ 280 II und III BGB dienen der näheren Ausgestaltung des Primäranspruchs. Die Art der Ausgestaltung, die Mahnung und das Nachfrist-Model, sowie die Rechtfertigung dieses Ansatzes wurden im Detail in § 10 behandelt.110 An dieser Stelle genügt es, die wesentlichen Ergebnisse zu wiederholen: Die Gewährung einer Nachfrist bedeutet für den Schuldner, daß er eine »zweite Chance« erhält, die Leistung zu erbringen. Für den Gläubiger, der die Leistung a priori ohnehin fordern kann, bedeutet das Nachfrist-Modell dagegen eine Einschränkung. Bleibt die Leistung ganz oder zum Teil aus, darf er den Sekundäranspruch grundsätzlich nicht sofort geltend machen. Der Gläubiger wird also die Obliegenheit auferlegt, zunächst den Primäranspruch zu verfolgen. Diese Einschränkung seines subjektiven Rechts bedarf der Rechtfertigung. Im Hinblick auf den Sekundäranspruch ist das Nachfristmodell nicht a priori gerechtfertigt.111 Vielmehr ist das Nachfristmodell für die Suspendierung des Sekundäranspruchs bloß pragmatisch gerechtfertigt. Dem positiven Recht ist die Wertung zu entnehmen, daß durch die Nachfristsetzung die Parteien angehalten werden, die Störung der Leistung zunächst selbst durch Kooperation zu beheben. Dadurch sollen also unnötige Transaktionskosten durch voreiliges Anrufen der Gerichte vermieden werden. Die Mahnung erfüllt eine ähnliche Funktion. Für diese Zwecke hätte, wie erläutert, auch die allgemeine Schadensminderungsobliegenheit in § 254 BGB ausgereicht,112 doch liegt es in dem Ermessen des Gesetzgebers, den Spielraum bei der Regelung des Leistungsstörungsrechts auf diese Weise, also durch Einführen der Nachfrist und der Mahnung, zu nutzen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist in allen ihren Implikationen, also logisch notwendigen Folgen, hinzunehmen. Aufgabe der Dogmatik ist es, diese Implikationen aufzuzeigen. Um die Erfordernisse der Mahnung und Fristsetzung für den Primäranspruch einzuführen, war es erforderlich, die Geltendmachung des Sekundäranspruchs 108 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 42f.; AnwK-Dauner-Lieb § 280 Rn. 53. Im Ausgangspunkt auch Grigoleit/Riehm AcP 204 (2004), 727, 733ff. 109 Die übrigen werden für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung vernachlässigt. 110 S. 242ff. 111 Die Rechtfertigung hinsichtlich des Rechts auf Vertragsaufhebung ist dagegen, wie erläutert, grundlegend verschieden. Hinsichtlich der Vertragsaufhebung beruht das Nachfrist-Modell in der Tat auf dem Prinzip pacta sunt servanda. Dafür, Schadensersatz und Rücktritt in dieser Hinsicht gleich zu behandeln, aber Grundmann AcP 204 (2004), 569, 586; die dort befürchtete Belastungswirkung des Schadensersatz statt der Leistung entsteht dann nicht, wenn man zwischen Rücktritt und Schadensersatz streng unterscheiden, S. 247f. 112 Dies ist etwa die Position des anglo-amerikanischen Rechts.
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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diesen zusätzlichen Erfordernissen zu unterwerfen.113 Der Grund der Differenzierung war also nicht, abstrakt zwischen den Schadensposten oder nach der Art der Pflichtverletzung zu differenzieren. Die §§ 280 II, III, 281ff. BGB sind ausschließlich im Lichte ihrer Zielrichtung auf den Primäranspruch hin auszulegen.114 Die Anwendung dieser Vorschriften sollte allein davon geleitet sein, ob die zusätzlichen Erfordernisse sachlich und pragmatisch gerechtfertigt sind. Die Abgrenzung zwischen den Schadensarten erfolgt daher nicht rechtsgutsbezogen, sondern, wie Lorenz formuliert, nach einem »zeitlich dynamischen Kriterium«, nämlich in erster Linie danach, ob der Schaden durch das Setzen einer Nachrist noch vermeidbar wäre.115
3. Schadensersatz statt der Leistung a) Vermeidbarkeit des Schadens durch Nachleistung Das Nachfrist-Modell hat Implikationen zweierlei Art. Es hat erstens zur Folge, daß der Gläubiger gehalten ist, zunächst den Primäranspruch geltend zu machen.116 Der Nachfrist Ansatz hat aber auch Implikationen hinsichtlich des Sekundäranspruchs selbst. Denn um das Nachfrist-Modell nicht über seine pragmatische Zielrichtung hinaus anzuwenden, muß für das positive Interesse nunmehr danach differenziert werden, ob sich der geltend gemachte Schaden durch die »Nachleistung« hätte vermeiden lassen. Die »Testfrage« zur Abgrenzung der Schadensarten lautet:117 Wäre der Schaden entfallen, wenn die Leistung im letztmöglichen Zeitpunkt noch erbracht worden wäre?
113 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 43; Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 734; Staudinger-Otto § 280 Rn. E 7; Bamberger/Roth-Unberath § 280 Rn. 27. 114 Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 33 (für § 281 BGB ist der »Ablauf der Nachfrist wertungsmäßig prägend«), 38f.; Looschelders Fn. 10, Rn. 577, 600; MünchKommBGB-Ernst § 281 Rn. 1. 115 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 42; MünchKommBGB-Ernst § 280 Rn. 66; Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 34; U. Huber in Festschrift für Peter Schlechtriem, S. 521, 524f.; Staudinger-Otto § 280 Rn. E 7; Hk-BGB/Schulze § 280 Rn. 4; Markesinis/Unberath/Johnston, Fn. 58, S. 452f.; Bamberger/Roth-Unberath § 280 Rn. 27ff. Abweichend etwa Erman-Grunewald § 437 Rn. 14; Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 735 (die statisch nach Art des eingetretenen Schadens differenzieren: vom Schadensersatz statt der Leistung sei die gesamte »schadensrechtliche Rekonstruktion des Naturalleistungsinteresses« erfaßt; der Verzögerungsschaden ist davon ausgenommen, dies. aaO.S. 747); dem folgend Jauernig-Stadler § 280 Rn. 3; ähnlich Katzenstein Jura 2004, 584, 590ff.; Hellwege, Die §§ 280ff. BGB, S. 43, 103 (schlägt ebenfalls eine »enge Auslegung« des Begriffs »Schadensersatz statt der Leistung« vor: darunter soll nur der Schaden fallen, der »isoliert betrachtet«, an die Stelle der Leistung tritt). 116 Die Konsequenzen dessen, wenn der Gläubiger den Schuldner um die Gelegenheit bringt, die Leistung nachzuholen, wurden bereits untersucht: S. 242ff. 117 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 42.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
»Ist dies nicht der Fall, d.h. ist der Schaden bereits vor einem (eventuellen) späteren Wegfall der Leistungspflicht endgültig eingetreten, weil er durch Erbringung der geschuldeten Leistung nicht mehr behebbar wäre, handelt es sich nicht um Schadensersatz statt der Leistung, sondern um Schadensersatz neben der Leistung.«118
Ein und derselbe Schaden kann daher einmal als Schadensersatz statt der Leistung, ein andermal als Schadensersatz neben der Leistung geltend zu machen sein; entscheidend ist nur, ob sich der konkrete Schadensposten durch das Setzen einer Nachfrist hätte vermeiden lassen oder zu dem Zeitpunkt, zu dem die Leistung noch hätte erbracht werden können, bereits endgültig eingetreten war. Wenn er sich nicht hätte vermeiden lassen, bestand insofern auch keine Veranlassung, eine Nachfrist zu setzen. Dieser Schaden ist dann jedenfalls nicht als Schadensersatz statt der Leistung geltend zu machen, sondern je nach den Umständen als einfacher Schadensersatz oder als Verzögerungsschaden zu ersetzen.119 Dies ist eine pragmatische Überlegung dahingehend, ob es zweckmäßig ist, im konkreten Fall eine Nachfristsetzung zu erfordern.120 Ist der Schaden bereits endgültig eingetreten, sobald der Gläubiger sein Leistungsinteresse geltend machen möchte, dann unterliegt der Schadensersatzanspruch nicht dem Nachfristerfordernis. Läßt sich der Schaden jedoch durch das Setzen einer Nachfrist vermeiden, dann mutet § 281 I BGB dem Gläubiger grundsätzlich zu, dem Schuldner zunächst Gelegenheit zur Leistung zu geben.121 Sobald die Frist ergebnislos abgelaufen ist, geht das BGB davon aus, daß nunmehr der Gläubiger nicht mehr zur Kooperation mit dem Schuldner gezwungen werden sollte, und gestattet ihm daher, das positive Interesse auch in dem Umfang zu verlangen, in dem der Schaden durch »Nachleistung« hätte vermieden werden können. b) Bezugspunkt der Vertretenmüssens Das Nachfrist-Modell hat noch eine weitere Implikation für den Sekundäranspruch. Das Erfordernis der Nachfristsetzung wandelt die Rechte des Gläubigers grundlegend um. Innerhalb des Anwendungsbereichs der Nachfristsetzung ist der Sekundäranspruch vorübergehend zugunsten des Primäranspruchs suspendiert. Die Nachfrist bewirkt also eine Änderung des Rechtsverhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner und damit eine Änderung auf der Ebene der Verhaltensregeln. Dies muß Konsequenzen für die Zurechnung haben. Denn der Ge118
Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 42, s. auch die N. in Fn. 115 oben. Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 42f. S. dort das Beispiel einer degressiven Preisentwicklung: Kann durch den Verkauf zum spätmöglichsten Zeitpunkt t1 ein Gewinn x erzielt werden, danach, also zum Zeitpunkt t2, aber nur ein Gewinn von x-n, so ist der Schaden in Höhe von n bereits endgültig eingetreten. Das Setzen einer Nachfrist ist bezüglich des Schadens in Höhe von n nur zum Zeitpunkt t1 aber nicht mehr im Zeitpunkt t2 erforderlich. 120 Markesinis/Unberath/Johnston, Fn. 58, S. 452. 121 Zu den Ausnahmen vom Fristsetzungserfordernis S. 243f. 119
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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genstand der Zurechnung wird unveränderbar durch die Verhaltensregeln festgelegt.122 Wenn im Rahmen des Nachfrist-Modells dem Schuldner erneut Gelegenheit gegeben werden muß, die Leistung zu erbringen, bevor ein Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden kann, dann knüpft der Sekundäranspruch an die Verletzung dieser »modifizierten« Leistungspflicht an. Der Gegenstand der Zurechnung ist daher die Verletzung des Rechts des Gläubigers, die Leistung zu verlangen, am Ende der Frist, die vom Gläubiger für die Nachleistung gesetzt wurde.123 Das ist der Zeitpunkt, zu dem nach den Verhaltensregeln, die Voraussetzungen des Sekundäranspruchs vorliegen müssen. Das hat zwingend zur Folge, daß es im Ausgangspunkt nur für diesen Zeitpunkt darauf ankommt, ob die Rechtsverletzung zu vertreten ist. Ob der Schuldner die Nichtleistung zu einem früheren Zeitpunkt zu vertreten hatte, ist für das Bestehen oder Nichtbestehen des Schadensersatzanspruchs statt der Leistung aus § 281 BGB irrelevant. Ein früheres Verschulden ist nur insofern relevant, als es sich auf das Vertretenmüssen der Nichtleistung zum Zeitpunkt des Fristablaufs auswirkt. Für sich genommen, reicht das Vertretenmüssen zum Zeitpunkt der Nichtleistung für den Schadensersatz statt der Leistung gemäß § 281 I BGB daher nicht aus.124 Freilich werden im Regelfall bereits bei Fristsetzung die Verzugsvoraussetzungen vorliegen, so daß der Schuldner danach gemäß § 287 S. 2 BGB grundsätzlich auch für Zufall haftet.125 Diese Grundsätze gelten nicht nur für die insgesamt verspätete Leistung, sondern auch für die Schlechtleistung. Dies kann am Beispiel der mangelhaften Lieferung einer Kaufsache veranschaulicht werden. Wenn die Nacherfüllung des Verkäufers möglich ist und der Käufer hierzu eine Frist gesetzt hat, die Nacherfüllung aber ausbleibt, so ist für die Zurechnung einer Rechtsverletzung allein der Zeitpunkt des Ablaufs der Frist maßgeblich; ob der Verkäufer den Sachmangel selbst zu vertreten hat, ist dagegen unerheblich.126 Entscheidend ist nur, ob ihm die Nacherfüllung zum Zeitpunkt des Fristablaufs zurechenbar ist.127 Dieselben Grundsätze gelten schließlich auch für die Haftung wegen Unmöglichkeit der Leistung. Auch diesbezüglich verändert das Nachfrist-Modell den Bezugspunkt des Vertretenmüssens. Soweit der Gläubiger ein Recht auf Nachleistung hat und 122
S. 298ff. Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 49f.; MünchKommBGB-Ernst § 281 Rn. 47; Bamberger/Roth-Unberath § 281 Rn. 12. 124 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 49f. 125 Dazu und zu weiteren Aspekten eines solchen »Vorverschuldens« Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 49f.; MünchKommBGB-Ernst § 281 Rn. 48. 126 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 51; Jauernig-Chr. Berger § 439 Rn. 7; Bamberger/RothUnberath § 281 Rn. 12; a.A. etwa Hirsch Jura 2003, 289, 293; Bamberger/Roth-Faust § 437 Rn. 70. 127 Ist die ordentliche Zurechnung zu diesem Zeitpunkt dagegen ausgeschlossen, etwa weil der Verkäufer zu diesem Zeitpunkt faktisch nicht leisten kann, so ist auch hier eine außerordentliche Zurechnung möglich. Es ist dann zu fragen, ob der Verkäufer für die vorübergehende Leistungsunfähigkeit verantwortlich zu machen ist. Hat der Verkäufer jedoch insofern eine Garantie i.S.d. § 276 I BGB übernommen, ist ihm die Nichtleistung zurechenbar. 123
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keine der Ausnahmen des § 281 II BGB eingreift, wird an diese modifizierte Leistungspflicht angeknüpft. Das gleiche gilt, wenn die Nachleistung wegen Unmöglichkeit nicht erbracht werden kann: Gegenstand der Zurechnung ist auch hier die Nichterbringung der Nachleistung, also das Vertretenmüssen der Umstände, die zur Unmöglichkeit der Nacherfüllung geführt haben.128
4. Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung a) Positives Interesse Der Begriff »Schadensersatz statt der Leistung« erfaßt den des positiven Interesses nur teilweise. Der Ersatz des Verzögerungsschadens ist ebenfalls auf Aufhebung der Rechtsverletzung der Nichtleistung durch wertmäßigen Ausgleich gerichtet und verwirklicht daher das Recht auf Ersatz des positiven Interesses. Auch hierbei handelt es sich um ein Substitut der Leistung.129 Der Verzögerungsschaden ist eine praktisch häufige Beeinträchtigung des Leistungsinteresses, denn selbst wenn der Leistungszwang erfolgreich sein sollte oder der Schuldner auf Drängen des Gläubigers freiwillig leistet, kommt die Leistung in aller Regel zu spät. Dies bedeutet eine Verletzung des Rechts des Gläubigers auf die Leistung, denn dieses Recht besteht a priori ab Fälligkeit der Leistung. Auch hinsichtlich des Anspruchs auf Ersatz des Verzögerungsschadens handelt es sich daher in gewisser Hinsicht um Schadensersatz »statt« der Leistung. Es ist jedoch von vornherein klar, daß die Durchsetzung des Primäranspruchs insofern versagen muß. Der Ablauf der Zeit kann nicht rückgängig gemacht werden. Eine dem § 281 IV BGB entsprechende Regelung war daher offensichtlich nicht erforderlich. An die Stelle des zeitlichen Aspekts der Leistung tritt ausschließlich ein wertmäßiger Ausgleich. b) Bezugspunkt des Vertretenmüssens Der Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung ist nach § 280 II BGB vom Vorliegen des Verzugs abhängig. Verzug setzt grundsätzlich das Vorliegen einer Mahnung voraus (§ 286 I BGB).130 Aus den vorpositiven Grundlagen ergibt sich, 128 Insoweit auch Hirsch Jura 2003, 289, 296. Es wäre in der Tat ein logischer Widerspruch, wenn hinsichtlich der Unmöglichkeit an die Nacherfüllung und für das Unterlassen der möglichen Nacherfüllung an das Vorliegen des Sachmangels anzuknüpfen wäre. Der von Hirsch konstatierte »Systembruch«, aaO., besteht jedoch nicht, weil im Hinblick auf die qualitative Verzögerung als auch für die qualitative Unmöglichkeit das Vertretenmüssen auf die Nichtleistung der Nacherfüllung bezogen ist. 129 S. aber Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 735, 747: der Verzögerungsschaden sei nicht vom »Naturalleistungsinteresse« umfaßt, sondern, insoweit wie hier, das »Leistungsinteresse in zeitlicher Hinsicht«. 130 Zu ihrer Einordnung als geschäftsähnliche Handlung s. nur Staudinger-Löwisch § 286 Rn. 45.
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daß bereits die schlichte Nichtleistung für die Annahme einer Rechtsverletzung genügen müßte. Diese Ausgangslage auf der Ebene der Verhaltensregeln wird durch das Erfordernis der Mahnung im positiven Recht verändert. Denn hinsichtlich des Schadens der darin besteht, daß die Leistung nicht rechtzeitig erfolgt, muß der Gläubiger den Schuldner (grundsätzlich) mahnen. Dies ist wiederum eine Modifikation des Primäranspruchs, wenn auch schwächerer Natur als die Nachfrist.131 Die zu späte Leistung ist nur dann eine Pflichtverletzung, wenn der Schuldner gemahnt worden ist.132 Dies ist begründungsbedürftig, denn ein »Interesse« des Schuldners, die Leistung zu spät zu erbringen, ist für sich genommen keineswegs schutzwürdiges und kann daher nicht dazu dienen, die Rechte des Gläubigers einzuschränken.133 Die Rechtfertigung folgt wiederum aus der Überlegung, die Parteien zunächst zur Kooperation zu zwingen, bevor die Gerichte über die Verletzung der Rechte urteilen müssen. Zu diesem Zweck ist die Mahnung geeignet, denn sie informiert den Schuldner über seine Pflicht und warnt ihn, daß er schadensersatzpflichtig ist, weil er nicht rechtzeitig leistet.134 Diese Einschränkung der Rechtsposition des Gläubigers ist also wie das Nachfristerfordernis ebenfalls nur pragmatisch begründet.135 Die Implikationen des Mahnungs-Modells sind selbstredend hinzunehmen. Die Veränderung des Rechtsverhältnisses besteht in der Modifikation der den Schadensersatz auslösenden Pflichtverletzung: Erforderlich ist Nichtleistung und Mahnung. Diese Gestaltung der Verhaltensregeln hat wiederum Folgen für die Zurechnung. Gegenstand der Zurechnung ist die durch die Mahnung qualifizierte Rechtsverletzung. Daraus folgt wie beim Nachfrist-Modell ein veränderter Bezugspunkt des Vertretenmüssens. Für den Verzögerungsschaden läßt sich dies zwanglos mit § 286 IV BGB begründen:136 Verzug tritt nur ein, wenn der Schuldner infolge eines Umstands nicht leistet, den er zum Zeitpunkt des Vorliegens der objektiven Verzugsvoraussetzungen zu vertreten hat. Daraus folgt, daß der 131
Dies arbeitet Wahl, Schuldnerverzug, S. 192ff. heraus. Wilhelm JZ 2004, 1055, 1057f. (»Gerade das Mahnungserfordernis ist, soweit es gilt, für die Pflichtverletzung durch Leistungsverzögerung konstitutiv.«) Wilhelm hält darüber hinaus und insoweit anders als hier vertreten die Mahnung auch für die Pflichtverletzung bei § 281 BGB konstitutiv, aaO.S. 1058. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Schadensersatz statt der Leistung von dem Verzögerungsschaden unabhängig ist und auf dem von der Mahnung streng zu unterscheidenden Nachfrist-Modell beruht, zu dessen Implikationen s. oben S. 343ff. 133 Für den Gläubiger ergibt sich aus der Mahnung allerdings auch ein Vorteil, nämlich die Zufallshaftung Schuldners nach § 287 S. 2 BGB. 134 S. zur »Informationsfunktion« und »Appellfunktion« der Mahnung S. 245f. und Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 744ff. 135 Das Mahnungserfordernis entspricht einer langen vom römischen Recht geprägten Rechtstradition, so daß seine Berechtigung im gegenwärtigen deutschen Recht als geradezu selbstverständlich angesehen werden dürfte. S. zur Rolle der interpellatio im römischen Recht, Zimmermann, The Law of Obligations, S. 791ff. 136 Kohler JZ 2004, 961, 963f.; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 48; Bamberger/Roth-Faust § 437 Rn. 142; Wilhelm JZ 2004, 1055, 1058; Bamberger/Roth-Unberath § 286 Rn. 51. Anders etwa MünchKommBGB-Ernst § 286 Rn. 104. 132
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Schuldner im Zeitpunkt der Mahnung die Nichtleistung zu vertreten haben muß, wenn der Sekundäranspruch entstehen soll.137 Aus diesem Zusammenhang zwischen dem Mahnungserfordernis und dem Primäranspruch ergibt sich weiterhin, daß die zusätzlichen Voraussetzungen des § 280 II BGB nur dann einschlägig sind, wenn das Mahnungserfordernis zweckmäßig ist. Wo die Nichtleistung in der bloßen Verzögerung der Leistung besteht, hat der Gläubiger daher zu mahnen. Für Schäden, die sich bereits verwirklicht haben, ohne daß der Gläubiger eine Mahnung hätte aussprechen können, etwa Schäden, die durch eine mangelhafte Sache an anderen Rechtsgütern des Gläubigers auftreten, ist das Erfordernis zu mahnen aber unangemessen. Diese Schäden sind daher nicht als Verzögerungsschäden geltend zu machen.
5. Einfacher Schadensersatz Wenn die Einordnung des Anspruchs auf Ersatz des Verzögerungsschadens als Teil des positiven Interesses noch auf Zustimmung stoßen dürfte, besteht keine Einigkeit, ob das positive Interesse auch als sogenannter »einfacher Schadensersatz« oder »Schadensersatz neben der Leistung« geltend gemacht werden kann.138 Ein unbedingter Ausschluß des positiven Interesses aus dem Anwendungsbereich von § 280 I BGB ist schon deswegen abzulehnen, weil die Vorschrift tatbestandlich ohne weiteres anwendbar ist. Der Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen zum Schadensersatz war die Frage, weshalb es zur Regelung des positiven Interesses der zusätzlichen Erfordernisse in § 280 II und III BGB bedurfte. Es wurde in den vorangehenden Abschnitten gezeigt, daß § 280 II und III BGB dazu dient, das Nachfrist-Modell und die Mahnung in das Leistungsstörungsrecht integrieren. Außerhalb des Zwecks der Nachfrist und der Mahnung besteht kein Grund, die allgemeine Vorschrift des § 280 I BGB nicht anzuwenden. § 280 I BGB erfüllt daher eine Auffangfunktion für diejenigen Aspekte des positiven Interesses, die weder von § 280 II noch III BGB adäquat erfaßt werden.139 Dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf die Verletzung von nicht erfolgsbezogenen Leistungspflichten, wie etwa beim Dienstvertrag, von erheblicher praktischer Bedeutung.140
137 Im Übrigen ist § 286 IV BGB für die Pflicht, Verzugszinsen nach § 288 BGB zu zahlen, relevant. 138 Dafür etwa MünchKommBGB-Ernst § 280 Rn. 29, 67; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, 44; Bamberger/Roth-Unberath § 280 Rn. 47; Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 47 (für den Betriebsausfallschaden). Abweichend wird vorgeschlagen, die Vorschrift auf den, vorliegend nicht näher zu untersuchenden Ersatz des Integritätsinteresses zu beschränken; s. etwa Grigoleit/ Riehm AcP 203 (2003), 727, 751; ähnlich Staudinger-Otto § 280 Rn. E 11 (»Erhaltungsinteresse«). 139 Insoweit auch Staudinger-Otto § 280 Rn. E 11 (»eine Art Auffangtatbestand«). 140 Die nach zumindest weit überwiegender Meinung grundsätzlich allein von § 280 I BGB erfaßt werden, s. statt aller Palandt-Heinrichs § 280 Rn. 16 (vor allem im Hinblick auf die Schlecht-
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Ein aktuelles Beispiel liefert die Diskussion um die Einordnung des sogenannten »Betriebsausfallschadens«. Dieser entsteht dadurch, daß die geschuldete Sache vom Käufer nicht genutzt werden kann.141 Der Nutzen, den der Gläubiger aus dem Vertragsgegenstand gezogen hätte, ist Teil des positiven Interesses und somit wertmäßig auszugleichen. Der Betriebsausfallschaden ist von § 280 III BGB insoweit nicht erfaßt, als er durch das Setzen einer Frist zur Leistung nicht mehr verhindert werden kann. Ist er bereits endgültig eingetreten, bleibt noch zu entscheiden, ob der Schaden als »einfacher« Schadensersatz oder als Verzögerungsschaden geltend zu machen ist. Kann der Käufer die Sache aufgrund einer Nichtlieferung nicht für seine Produktion nutzen, so hätte er den Verkäufer mahnen müssen, um den Betriebsausfallschaden geltend machen zu können; insofern ist § 280 II BGB einschlägig. Umstritten ist aber, ob der Betriebsausfallschaden auch ohne Mahnung geltend gemacht werden kann, wenn eine mangelhafte Sache geliefert wird und die Sache wegen des Mangels nicht in der Produktion eingesetzt werden kann.142 Die Pflichtverletzung besteht hier zunächst in der Unvollständigkeit der Leistung hinsichtlich ihrer nach § 434 BGB zu bestimmenden »Qualität«.143 Eine weitere Pflichtverletzung liegt in dem Unterlassen der nach § 439 BGB geschuldeten Nacherfüllung. Sieht man das Mahnungserfordernis nicht als sinnvoll an, kann an die Verletzung der Pflicht zu mangelfreier Lieferung angeknüpft werden.144 Das Mahnungserfordernis ist in einem solchen Fall in der Tat wenig zweckmäßig:145 Im Unterschied zum Fall des Ausbleibens der gesamten Leistung kann der Schuldner die Pflichtverletzung oft erst bemerken, wenn der Schaden bereits eingetreten ist oder sich nicht mehr vermeiden läßt. Folgt man dieser plausiblen Argumentation, sollten keine Bedenken bestehen, § 280 I BGB anzuwenden. Die Auslegung der §§ 280ff. BGB sollte allein das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit leiten. Die Einschränkungen der Primär- und Sekundäransprüche aufgrund der Nachfrist und der Mahnung sollten ihrer pragmatileistung bei solchen Verträgen). Näher Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 40; Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 30f. 141 S. zu der str. Frage, ob im Rahmen des Art. 74 II CISG auf den drohenden Betriebsausfallschaden hingewiesen werden müßte, Faust, Die Vorhersehbarkeit des Schadens in Art. 74 Abs. 2 CISG, S. 19 m.w.N. 142 Auf § 280 I BGB stützen den Anspruch in diesem Fall etwa Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 39; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 44; Döll/Ryback Jura 2005, 582, 586; Hk-BGB/ Schulze § 280 Rn. 6; Erman-Westermann § 280 Rn. 35; anders etwa AnwK-Dauner-Lieb § 280 Rn. 63; MünchKommBGB-Emmerich Vor § 281 Rn. 18; Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, S. 98 143 S. die darauf aufbauende Terminologie von »qualitativer Verspätung« und »qualitativer Unmöglichkeit«, also Verzögerung und Unmöglichkeit der Nacherfüllung von Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 65ff.; ders. NJW 2002, 2497ff. 144 Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 39f.; MünchKommBGB-Westermann § 437 Rn. 32. 145 S. diese Argumentation bei Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 39; Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 45; Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 755f.; Markesinis/Unberath/Johnston Fn. 58, S. 467.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
schen Zielrichtung gemäß auf ein Minimum reduziert werden. Welcher der beiden Wege für den Betriebsausfallschaden gegangen wird, §§ 280 II, 286 II BGB146 oder § 280 I BGB, ist demgegenüber nachrangig.
6. Aufwendungsersatz Alternativ zum Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger Ersatz seiner durch die Nichtleistung frustrierten Aufwendungen verlangen, sofern die weiteren Voraussetzungen des § 284 BGB vorliegen.147 Dafür müssen insbesondere die Voraussetzungen des Schadensersatzes statt der Leistung selbst erfüllt sein. Die Haftung beruht daher darauf, daß der Schuldner eine zurechenbare Vertragsverletzung begangen hat.148 a) Negatives Interesse? Zunächst ist zu betonen, daß die Schuldrechtskommission dem Vorschlag der ersten Kommission,149 den Gläubiger alternativ und vollumfänglich zum Ersatz des negativen Interesses zu berechtigen, nicht gefolgt ist.150 § 284 BGB ist daher etwa auf den Fall nicht anwendbar, daß dem Gläubiger im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung ein Vertragsangebot entgeht, das er sonst angenommen hätte.151 Dessen ungeachtet kann die Vorschrift so aufgefaßt werden, daß das negative Interesse zumindest teilweise ersatzfähig sein soll.152 Der Ersatz des negativen Interesses kann jedoch als Teil des Sekundäranspruchs wegen Vertragsverletzung nicht durch das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit gerechtfertigt werden: Das Leistungsinteresse des Gläubigers ist, das war das Ergebnis der vertragstheoretischen Erörterung,153 allein über die Gewährung des positiven Interesses, also der Herstellung einer erfüllungsähnlichen Lage, zu schützen. Ob aus außer-vertraglichen Gründen das Vertrauensinteresse zu ersetzen ist, liegt jenseits des Ziels der vorliegenden Untersuchung.154 Insofern 146 Nach Grigoleit/Riehm AcP 203 (2003), 727, 756, soll aufgrund von § 286 II Nr. 4 BGB auf die Mahnung zu verzichten sein. 147 Das englische Recht geht von einer ähnlichen Regel aus: Der Gläubiger hat grundsätzlich die Wahl, ob er den entgangenen Gewinn geltend macht oder die im Vertrauen auf die Leistung getätigten Aufwendungen. Bsp. CCC Films (London) Ltd. v. Impact Quadrant Films Ltd. [1985] Q.B. 16. 148 S. nur MünchKommBGB-Ernst § 284 Rn. 4. 149 Abschlußbereicht 1992, S. 173f. zu § 327 I 2 BGB-KE. So für das U.S.-Recht auch Farnsworth Fn. 94, § 12.16, S. 805. 150 Canaris JZ 2001, 499, 517 (»nicht das volle negative Interesse«). 151 Lorenz/Riehm Fn. 96, Rn. 227. 152 S. insbesondere Staudinger-Otto § 284 Rn. 10. 153 S. 289f. 154 Vgl. etwa Anglia Television Ltd. v. Reed [1972] 1 Q.B. 60, wo vorvertraglich getätigte Aufwendungen bei Scheitern des Vertrages als ersatzfähig angesehen wurden.
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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wäre § 284 BGB vom Standpunkt der hier vertretenen Theorie nicht zu erklären. Die Ansicht, daß die Norm das negative Interesse für ersatzfähig erklärt, ist aber keine zwingende Deutung. Eine Erklärung des § 284 BGB auf der Basis des positiven Interesses ist vielmehr methodisch möglich und teleologisch sinnvoll:155 Der Ersatz der frustrierten Aufwendungen dient als alternative Berechnungsmethode dem Ersatz des positiven Interesses, die bei Beweisschwierigkeiten dem Gläubiger einen durchaus zweckmäßigen Weg eröffnet, sein Leistungsinteresse zumindest annäherungsweise geltend zu machen.156 b) Die Rentabilitätsvermutung Der Ersatz frustrierter Aufwendungen i.S.d. § 284 BGB läßt sich nicht ohne weiteres als Teil des positiven Interesses erklären. Denn die Aufwendungen wären auch dann angefallen, wenn die Leistung erbracht worden wäre. Die Nichtleistung scheint daher nicht kausal für diesen »Schadensposten« zu sein. Den entscheidenden Hinweis auf den Zusammenhang zwischen dem Ersatz frustrierter Aufwendungen und dem positiven Interesse liefert die sogenannte »Rentabilitätsvermutung«, die, obwohl sie von der Rechtsprechung vor Einführung des § 284 BGB entwickelt wurde,157 für die Auslegung fruchtbar gemacht werden kann.158 Danach ist bei wirtschaftlicher Zweckrichtung des Vertrages zu vermuten, daß der Gläubiger in Höhe der Aufwendungen einen Gegenwert in mindestens derselben Höhe erwirtschaftet hätte. Die Plausibilität dieser Vermutung beruht auf der Überlegung, daß es ansonsten nicht zweckrational wäre, die Aufwendungen zu tätigen.159 Die Überlegung wird durch die zahlreichen Studien der ökonomischen Analyse zu den sog. »Vertrauensinvestitionen« bestätigt.160 Dabei wird un-
155 Bamberger/Roth-Unberath § 284 Rn. 1. So bereits Gsell in Dauner-Lieb/Konzen/Karsten Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 312, 336. Aus Sicht der ökonomischen Analyse die Einordnung als positives Interesse befürwortend Tröger ZIP 2005, 2238, 2240. 156 In diesem Sinne etwa: Commonwealth of Australia v. Amann Aviation Pty. Ltd. (1991) 174 C.L.R. 64, 136 (per Toohey J.), 162 (per McHugh J.); McKendrick, Contract Law, S. 421. Vgl. auch McRae v. Commonwealth Disposals Commission (1951) 84 C.L.R. 377, wo die Aufwendungen ersetzt wurden, weil der erwartete Gewinn nicht bestimmbar war. Genau umgekehrt das Argument bei Fuller/Perdue 46 Yale L.J. 373ff. (1936): das positive Interesse als Annäherung an das negative Interesse, dazu S. 212ff. 157 Etwa BGHZ 55, 78; 71, 234; 99, 182; 114, 193; 123, 96. S. Staudinger-Schiemann § 249 Rn. 126ff.; für eine rechtsvergleichende Erörterung Leonhard AcP 199 (1999), 660. 158 Da § 284 BGB die Rechte des Gläubigers nicht einschränken sollte, gilt die Rechtsprechung zur Rentabilitätsvermutung fort; in diesen Fällen kann also auf dieser Basis auch ein Vermögensschaden i.S.d. § 281 BGB begründet werden. So Emmerich in Festschrift für Gerhard Otte, S. 101, 108; Staudinger-Otto § 284 Rn. 12 m.w.N., anders etwa AnwK-Dauner-Lieb § 284 Rn. 5. 159 S. etwa Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, S. 357 (»it would be irrational for a contracting party to plan to spend more on reliance than performance is worth«). 160 Im einzelnen dazu S. 316ff. Ein Hauptanliegen dieser Modelle ist, dem Gläubiger Anreize zu geben, solche Investitionen auf ein effizientes Maß zu beschränken. Die Einzelheiten müssen
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
terstellt, daß der Gläubiger die Investition nur trifft, wenn er damit seinen Gewinn erhöht und die Ersatzfähigkeit der Investition als Mindestschaden im Rahmen des positiven Interesses feststeht.161 Wenn nun die Leistung ausbleibt, besteht die Beeinträchtigung des Leistungsinteresses in dem Ausbleiben der Rentabilität der Aufwendungen. Die Höhe der Aufwendungen ermöglicht also auf der dritten normativen Ebene des Schutzes des Sekundäranspruchs eine Annäherung an das positive Interesse, wenn dem Gläubiger ein direkter Nachweis seines Schadens nicht möglich ist. Aus diesem Zusammenhang erhellt sich auch die Alternativität von § 284 BGB zum Schadensersatz statt der Leistung.162 Damit steht fest, daß zumindest bei wirtschaftlicher Zielrichtung des Vertrages § 284 BGB als Ausgestaltung des positiven Interesses aufgefaßt werden kann.163 c) Verfolgung immaterieller Zwecke § 284 BGB wurde vor allem deswegen für notwendig befunden, weil die Rentabilitätsvermutung bei Verträgen, die auf einen ideellen Zweck gerichtet waren, von der Rechtsprechung nicht angewendet wurde.164 Diese »Diskriminierung von ideellen gegenüber wirtschaftlichen Zwecken« wurde als unangemessen empfunden.165 Die verbleibende Frage hinsichtlich der Rechtfertigung von § 284 BGB ist somit, ob diese Argumentation einer Annäherung an das positive Interesse auch dann eingreift, wenn die Leistung nicht auf die Verwirklichung eines wirtschaftlichen Profits gerichtet ist, sondern ein immaterielles Interesse zum Gegenstand hat. Die Schwierigkeiten, das Leistungsinteresse des Gläubigers bei Verfolgung von ideellen Zwecken zu ermitteln, sind trotz des Spielraums, der durch Vorschriften wie § 278 ZPO geschaffen wird, vielfältig. Dennoch gebietet die ausgleichende Gerechtigkeit, daß die Rechtsverletzung aufgehoben wird. Eine Möglichkeit, das positive Interesse im Falle von Nichtvermögensschäden zu quantifizieren, besteht darin, eine bestimmte Summe nach der Lage des Einzelfalles zuzusprechen, ohne daß deren Höhe exakt begründet werden könnte.166 Dieser Weg ist im deutschen Recht durch § 253 I BGB versperrt, der eine gesetzliche Anordan dieser Stelle nicht vertieft werden. Es genügt die Feststellung, daß die Aufwendungen im Vertrauen auf die Leistung dem Leistungsinteresse dienen. 161 S. Shavell Fn. 159, S. 359 (»Because the buyer is implicitly insured by receipt of damages against losses from breach, he will view his investment in reliance as one with a certain payoff.«) 162 Gsell Fn. 155, S. 338. 163 Für ein erstes Beispiel der Anwendung des § 284 BGB bei Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke, BGH NJW 2005, 2848. 164 Etwa in BGHZ 99, 182. 165 Zu der Entstehungsgeschichte Canaris JZ 2001, 499, 516; Bundestags-Drucksache 14/ 6040, S. 143. 166 Diesen Weg geht das englische Recht; s. etwa Farley v. Skinner [2002] 2 A.C. 732; Jarvis v. Swan Tours Ltd. [1973] Q.B. 233; s. die umfassender Analyse von McKendrick/Worthington in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 288ff.
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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nung der Ersatzfähigkeit erfordert.167 Eine alternative und zugleich genauere Annäherung an das immaterielle Leistungsinteresse ermöglicht nun § 284 BGB als gesetzliche vorgesehene Ausnahme zu § 253 I BGB: Der Wert der Aufwendungen ist eine geeignete Meßlatte für die Wertschätzung der Leistung durch den Gläubiger.168 Diese Deutung von § 284 BGB als Annäherung an das Leistungsinteresse erklärt auch in dieser Hinsicht, was immaterielle Interessen angeht, die grundsätzliche169 Alternativität zum Schadensersatz statt der Leistung.
7. Anfängliche Unmöglichkeit § 311a II BGB erklärt bei anfänglicher Unmöglichkeit i.S.d. § 275 I-III BGB den Gläubiger zum Schadensersatz statt der Leistung berechtigt und zieht damit die Konsequenz aus der Annahme der Gültigkeit des Vertrages bei anfänglicher Unmöglichkeit in § 311a I BGB.170 Der Bezugspunkt des Vertretenmüssens ist die Kenntnis des Leistungshindernisses bei Vertragsabschluß.171 Mit diesen wenigen Regeln ist der einheitliche Ansatz des neuen Schuldrechts zur Regelung der anfänglichen Unmöglichkeit beschrieben. Im Vergleich zur alten Rechtslage haben sich daher zwei Änderungen ergeben:172 Wegen anfänglicher subjektiver Unmöglichkeit ist nun nicht mehr, oder zumindest nicht regelmäßig eine Garantiehaftung vorgesehen und hinsichtlich der objektiven Unmöglichkeit ist die Anordnung der Nichtigkeit des Vertrages mit der Folge, daß nur das negative Interesse zu ersetzen ist, abgeschafft (§§ 306, 307 BGB a.F.). Die Vorschrift ist stärker in der Kritik als andere Aspekte der Reform;173 schon wegen der Abweichung von früherer Dogmatik ist dies naheliegend. Eine Überprüfung der Dogmatik anhand der vorpositiven Grundsätze ist um so dringlicher.
167 § 253 II BGB ist mangels Eingriff in die Integrität der Person nicht einschlägig. Kritik hieran aus rechtsvergleichender Sicht bei Grundmann AcP 204 (2004), 569f. 168 So bereits Gsell Fn. 155, S. 336f. (immaterieller Nichterfüllungsschaden); Tröger ZIP 2005, 2238, 2241. 169 S. aber Gsell Fn. 155, S. 339f., dies. NJW 2006, 125, 126, die für eine Kumulation bei Aufwendung zu immateriellen Zwecken plädiert; ähnlich, wenn auch zurückhaltend McKendrick/ Worthington Fn. 166, 321f. für das englische Recht. Methodisch wäre dies über eine teleologische Reduktion von § 284 BGB zu erreichen, s. Canaris JZ 2001, 499, 517. 170 Zur Entstehungsgeschichte Canaris JZ 2001, 499, 505ff. 171 Die Umstände, die das Leistungshindernis begründen, können nicht Bezugspunkt der Zurechnung sein, weil den Schuldner vor Abschluß des Vertrages keine unselbständigen Sorgfaltspflichten hinsichtlich des zukünftigen Gläubigers treffen können, s. nur Canaris, Karlsruher Forum 2002, S. 51. 172 Vergleich mit der Rechtslage vor der Reform bei MünchKommBGB-Ernst § 311a Rn. 10ff. 173 S. bereits Altmeppen DB 2001, 1399; und umfassend Lobinger, Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, S. 273ff.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
a) Die Geltung des § 311a BGB als Norm des positiven Rechts Weil dies zum Teil anders gesehen wird,174 soll klargestellt werden, daß die Geltung des § 311a II BGB von solchen Überlegungen zur Fundierung des Anspruchs, welche Richtung auch immer sie letztlich einnehmen mögen,175 nicht betroffen sein kann.176 § 311a II BGB ist gegenwärtig geltendes positives Recht. Wenn keine überzeugende überpositive Rechtfertigung gefunden werden kann, so ändert dies nichts an seiner Geltung für die Rechtsanwendung durch den Richter. Die Berücksichtigung theoretischer Erkenntnisse muß im methodisch zulässigen Rahmen erfolgen.177 Die radikale Umgestaltung des § 311a BGB und seiner Rechtsfolge, wie sie Lobinger vorschlägt,178 würde die Vorschrift de facto abschaffen. Dies ist methodisch nicht mehr zulässig und (in einem engen Sinn des Begriffs) contra legem.179 Unabhängig davon ist die Suche nach einer Rechtfertigung der Lösung des § 311a II BGB aus rechtswissenschaftlicher Sicht selbstredend lohnend. b) Das Nichtenstehen des Primäranspruchs auf die Leistung Ob die Vorschrift des § 311a BGB einen Fortschritt der Dogmatik bedeutet, oder die vorpositiven Zusammenhänge der Haftung wegen Vertragsverletzung verdunkelt, kann nur aus Sicht der Vertragstheorie beurteilt werden. Der Sekundäranspruch folgt aus dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit, die Verletzung des Rechts des Gläubigers auf die Leistung durch wertmäßigen Ausgleich aufzuheben. Das Recht auf die Leistung ist der Primäranspruch. Das Recht auf die Leistung ist nur durch den ontologischen Aspekt der Unmöglichkeit begrenzt.180 Das Recht auf die Leistung begründet den intelligiblen Besitz der Kausalität der 174 Umfassende »teleologische Korrekturen« von § 311a BGB werden von Lobinger Fn. 173, S. 295ff. gefordert. Der Gesetzgeber fungiere insoweit nur als »aufzeichnender Notar«, aaO.S. 358; die gesetzgeberische Macht das Privatrecht »je nach Belieben« auszugestalten sei »grundsätzlich« »materiell« begrenzt, aaO.S. 358. 175 Vorliegend wird die Gewährung des Anspruchs als gerechtfertigt angesehen. 176 Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 53; Canaris in Festschrift für Andreas Heldrich, S. 11, 36f. 177 S. nur Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 707: »Die Methoden der Rechtsanwendung können im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht frei gewählt werden.« S. aber auch Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 89: »Die Frage nach den besseren Gründen wird durch den Hinweis auf einen bestimmten Wortsinn nicht beantwortet. Von beträchtlicher praktischer Bedeutung ist allerdings die von Larenz statuierte Wortlautgrenze. Sie scheidet die abwegige Auslegung von der gut vertretbaren.« 178 Lobinger Fn. 173, S. 295ff. Es verbliebe dann als »eigenständiger Anwendungsbereich« noch folgender Regelungsgehalt, aaO.S. 297: »Die Vorschrift stellt klar, daß in den Fällen anfänglicher Leistungshindernisse, in denen eine Haftung auf das positive Interesse überhaupt in Betracht kommen kann, eine Nachfristsetzung gem. § 281 BGB nicht erforderlich ist.« 179 S. die Einwände bei Canaris Fn. 176, S. 36 (»radikale Demontage« von § 311a BGB); s. auch AnwK-Dauner-Lieb § 311a Rn. 6 (»zweifelhaft«). 180 Ausführlich dazu S. 222ff., 271ff.
II. Schadensersatz wegen Vertragsverletzung nach den §§ 280–284, 311a BGB
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Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken. Wenn dieser Ausschnitt aus der Willkür der Person des Schuldners nicht existent ist, kann das Recht nicht entstehen oder geht unter, wenn die Unmöglichkeit nachträglich eintritt. Genausowenig wie es ein angeborenes Recht einer nicht existenten Person gibt oder ein Eigentumsrecht an einer nicht existierenden Sache, kann das Recht auf die Leistung bei anfänglicher Unmöglichkeit entstehen. Daraus ergeben sich drei Konsequenzen auf der Ebene der Verhaltensregeln. Zunächst ist festzuhalten, daß es, im Ausgangspunkt zumindest, keinen Grund für eine Differenzierung nach der Art der anfänglichen Unmöglichkeit gibt. Der Fall der anfänglichen subjektiven Unmöglichkeit hindert die Entstehung des Primäranspruchs genauso wie die anfängliche objektive Unmöglichkeit. Die Gleichstellung der beiden Arten von Unmöglichkeit in § 311a II BGB ist daher zutreffend.181 Zweitens folgt aus der Einsicht, daß die anfängliche Unmöglichkeit das Entstehen des Rechts auf die Leistung hindert, daß der Schadensersatzanspruch bei anfänglicher Unmöglichkeit nicht auf § 280 I BGB gestützt werden kann, weil diese Vorschrift, wie erläutert, die Verletzung des Rechts auf die Leistung, eine »Pflichtverletzung«, voraussetzt.182 § 311a II BGB vollzieht diese Erkenntnis in dogmatischer Hinsicht nach. Die dritte Schlußfolgerung aus den vorpositiven Prämissen ist die gewichtigste: Das Nichtbestehen des Primäranspruchs schließt die Gewährung des positiven Interesses auf der Basis eines Sekundäranspruchs aus. Wenn das Recht auf die Leistung nicht entsteht, so greift auch das auf das positive Interesse gerichtete Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht ein: Es gibt wegen der anfänglichen Unmöglichkeit keine Vertragsverletzung die aufgehoben werden müßte. Obwohl die Leistung ausbleibt, verletzt der Schuldner kein Recht auf die Leistung des Gläubigers. Es muß daher über das Ausbleiben der Leistung hinaus ein zusätzliches Argument gefunden werden, das es rechtfertigt, den Schuldner auf Ersatz des positiven Interesses zu verpflichten.183
181 Was nicht ausschließt, das hinsichtlich der Reichweite der Haftung, insbesondere hinsichtlich des Vertretenmüssens der Unkenntnis vom Leistungshindernis, zu differenzieren sein könnte, dazu unten. 182 So bereits Canaris JZ 2001, 499, 507; s. auch ders. Fn. 176, S. 24. In diesem Sinne auch Bundestags-Drucksache 14/6040, S. 165, so daß diese Auslegung durch die Entstehungsgeschichte der Norm gestützt wird. Anders MünchKommBGB-Ernst § 311a Rn. 4, der die Haftung als Haftung wegen Pflichtverletzung einordnet. 183 Der Hinweis in Bundestags-Drucksache 14/6040, S. 164, darauf, daß es keinen Unterschied machen solle, ob die Unmöglichkeit kurz vor oder kurz nach Vertragschluß eingetreten ist, kann die Irrelevanz des Unterschieds nicht erklären, sondern perpetuiert lediglich die Fragestellung, ob ein solcher Unterschied gerechtfertigt ist.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
c) Vorvertragliche Pflichtverletzung und negatives Interesse Die Verortung des Problems auf der Ebene der Verhaltensregeln verdeutlicht die Fragestellung.184 Zu suchen ist nach dem Grund, aus dem man dem Schuldner bei anfänglicher Unmöglichkeit einen Vorwurf machen kann. Dabei geht es um ein normativ starkes Sollen, denn es geht um die Begründung des subjektiven Rechts selbst. Erst in zweiter Linie ist der Zurechnungsgegenstand zu ermitteln und darauf bezogene Obliegenheiten des Schuldners (schwaches Sollen) zu formulieren.185 Der Vorwurf, den man dem Schuldner machen könnte, ist, daß er den Vertrag abgeschlossen hat, obwohl er nicht leistungsfähig war. Denn dadurch hat er das Vertrauen des Gläubigers auf die Leistung hervorgerufen, daß er notwendig enttäuschen mußte. Dieser Vorwurf ist von dem Grundsatz abgleitet, daß der Schuldner den Gläubiger nicht schädigen solle. Er würde ohne weiteres dazu geeignet sein, das negative Interesse für ersatzfähig zu erklären. Hätte sich der Schuldner pflichtgemäß verhalten, dann hätte er den Vertrag nicht abgeschlossen. Dieser Zustand ist daher durch Ausgleich herzustellen. Der Schuldner schuldet folglich dem Gläubiger Ersatz des negativen Interesses. Daher ist der Vorschlag durchaus naheliegend, auf diese Fälle § 122 BGB analog anzuwenden, der sich jedoch in den Beratung der Kommission nicht durchgesetzt hat.186 Der Analogie bedarf es deswegen nicht, weil bereits die Vorschriften über die culpa in contrahendo (§§ 280 I, 241 II, 311 II BGB) diesen Fall des Vertrauensschadens erfassen.187 Die Haftung wegen vorvertraglichen Verschuldens kann allenfalls aus Konkurrenzgründen zur vertraglichen Haftung abzulehnen sein.188 Der vorgehende Gedankengang enthält jedoch offensichtlich kein vertragliches Argument der Haftungsbegründung und rechtfertigt die Gewährung des positiven Interesses nicht.189 Für die Gewährung des positiven Interesses bedarf es auf der Ebene der Verhaltensregeln einer Erwägung, die es gestattet, dem Gläubiger das positive Interesse zuzusprechen, also ihn so zu stellen, als ob er ein Recht auf die Leistung haben würde.
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Zu der Unterscheidung von Zurechnungs- und Verhaltensregeln näher S. 294ff. Wie etwa die, daß der Irrtum hätte vermieden werden sollen. 186 Canaris JZ 2001, 499, 507. 187 So etwa Emmerich Fn. 100, § 5 Rn. 19. Es gilt also der Vertretensmaßstab des § 276 BGB. Entscheidend ist primär, ob der Schuldner das Leistungshindernis bei Abschluß des Vertrages kannte oder kennen mußte. 188 Die Frage, ob der Anspruch aus §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB neben dem aus § 311a II BGB geltend gemacht werden kann, ist umstritten; dafür etwa MünchKommBGB-Ernst § 311a Rn. 21; Emmerich Fn. 100, § 5 Rn. 18; dagegen Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 55; Erman-Kindl § 311a Rn. 11. 189 Insoweit durchaus zutreffend: Meier Jura 2002, 187, 188; Altmeppen DB 2001, 1399; Lobinger Fn. 173, S. 281. 185
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d) Das Versprechen von Schadensersatz als Primäranspruch Eine solche Rechtfertigung ist möglich. Sie lag insbesondere der früheren Praxis hinsichtlich der Annahme einer Garantiehaftung für anfängliches Unvermögen zugrunde.190 Dem Leistungsversprechen des Schuldners kann der Wille entnommen werden, für den Fall, daß das Recht auf die Leistung nicht entsteht, den Gläubiger so zu stellen, wie er stünde, wenn die Leistung möglich wäre. Nach Canaris hat das Versprechen des Schuldners daher regelmäßig einen »doppelten Inhalt«: »Es richtet sich in erster Linie auf die Erbringung der Leistung in der versprochenen Art, also in Natur, und enthält zusätzlich die Zusage, zu der Leistung imstande zu sein und für den Fall, daß das nicht zutrifft, statt ihrer eine entsprechende Geldleistung zu erbringen.«191
Diese Rechtfertigung beruht auf dem mutmaßlichen Parteiwillen und ist vertraglicher Natur.192 Der Anspruch auf Schadensersatz wegen anfänglicher Unmöglichkeit ist demnach kein Anspruch wegen Rechtsverletzung, es ist kein Sekundäranspruch.193 Die Haftung für den Fall, daß das Versprechen wegen eines anfänglichen Leistungshindernisses »ins Leere« geht, ist selbst primärer Natur.194 Ob es gerechtfertigt ist, den Parteien einen solchen Willen zu unterstellen, gehört den materiellen Elementen der Vertragstheorie an, läßt sich also nicht a priori bestimmen.195 Doch die Erfahrung der Gerichte und anderer Rechtssysteme legen nahe, daß es plausibel ist, dem Leistungsversprechen dieses zusätzliche Versprechen des Einstehen-Wollens zu entnehmen.196 Als Primärrecht setzt der Anspruch auf das positive Interesse keine Rechtsverletzung voraus und ist daher nicht davon abhängig, daß ein widerrechtliches Verhalten zugerechnet wird. Das Primärrecht entsteht, anders als ein Sekundäranspruch, ohne weiteres. Es ist daher nicht selbstverständlich, daß § 311a II 2 BGB 190 Dazu Huber Fn. 21, S. 530ff.; Motive, Bd. II, S. 45f. (»Im Falle der Begründung des Schuldverhältnisses unter Lebenden ist im Versprechen die Übernahme einer Garantie für die Leistungsfähigkeit zu finden.«), weitere N. bei Huber aaO., S. 532. 191 Canaris Fn. 176, S. 30. 192 Canaris Fn. 176, S. 29ff., der die Deutung als »gesetzliche Ausgestaltung des Parteiwillens« vorzieht, aaO., S. 30. 193 Anders Grundmann AcP 204 (2004), 569, 580 (§ 311a II BGB regle einen »Sekundäranspruch«). 194 Dieselbe Überlegung dürfte zugrunde liegen, wenn Canaris die Terminologie einer »Garantie« bezüglich des »Haftungsgrundes« verwendet, Canaris Fn. 176, S. 30. Die Verwendung des Begriffs »Garantie« in diesem Zusammenhang könnte jedoch zu Mißverständnissen führen; der Begriff ist zudem nur mit erheblichem Begründungsaufwand von der »Garantie« i.S.d. § 276 BGB zu unterscheiden. 195 Zu der Unterscheidung S. 154ff. 196 S. Zimmermann Fn. 11, S. 66: Nach den PECL kann der Gläubiger im Falle anfänglicher Leistungshindernisse, die der Schuldner hätte kennen müssen, das positive Interesse gemäß Art. 9:501 PECL verlangen, im Übrigen besteht eine Anfechtungsmöglichkeit wegen Irrtums. Ähnlich die Position unter Geltung der PICC (Haftung auf das positives Interesse, Anfechtungsmöglichkeit des Schuldners außer bei grober Fahrlässigkeit), vgl. dazu Huber Fn. 21, S. 539f.
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§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik
hinsichtlich der Kenntnis der anfänglichen Unmöglichkeit auf das Vertretenmüssen verweist. Auf Zurechnung kommt es für die Entstehung des Rechts aus § 311a II 1 BGB gerade nicht an. Die Einschränkung des Primärrechts in Fällen, in denen der Schuldner von der Unmöglichkeit nicht wußte auch nicht wissen mußte, erklärt sich vielmehr wiederum aus dem mutmaßlichen Parteiwillen. Der Schuldner, so unterstellt ihm das positive Recht, gibt das Versprechen das positive Interesse zu leisten, nur für den Fall ab, daß ihm die Existenz des Leistungshindernisses bekannt sein mußte.197 Auch diese Einschränkung liegt nahe. Denn warum sollte der Schuldner regelmäßig eine Haftung übernehmen, deren Voraussetzungen er nicht kontrollieren kann? Freilich kann der Schuldner, etwa um seinen Leistungswillen zu unterstreichen und sich von anderen Anbietern abzuheben, eine solche »Garantiehaftung« für anfängliche Leistungshindernisse übernehmen. Dies ist auch bei § 276 I BGB für das Vertretenmüssen zu berücksichtigen.198 Es ist also festzuhalten: Die Gewährung des positiven Interesses ist gerechtfertigt. Zwar ist dies kein Anspruch, der als Sekundäranspruch wegen Vertragsverletzung zu gewähren wäre, da es an einer Vertragsverletzung bei anfänglicher Unmöglichkeit fehlt. Der Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als ob ein Recht auf die Leistung entstanden wäre, entsteht vielmehr als Primäranspruch durch den (mutmaßlichen) Willen der Parteien. Eine solche Haftung wird der Schuldner regelmäßig nur übernehmen wollen, wenn er Kenntnis hinsichtlich des Hindernisses hatte oder hätte haben müssen. Das Vertretenmüssen ist insofern relevant, aber nicht weil eine Rechtsverletzung zugerechnet werden müßte, sondern wiederum aufgrund des Willens der Parteien.
197
Canaris Fn. 176, S. 23. Die frühere Praxis bei anfänglichem Unvermögen könnte daher fortgeführt werden. Ob dies berechtigt ist, hängt allein davon ab, ob die Gerichte den mutmaßlichen Willen der Parteien zutreffend erfaßt haben. S. auch Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 53. 198
§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung unterscheidet sich grundlegend von den bisher untersuchten Rechtsbehelfen des Gläubigers. Während sowohl der Primäranspruch als auch der Sekundäranspruch das Leistungsinteresse des Gläubigers unmittelbar durch Erwirken der Leistung selbst oder mittelbar durch Gewährung eines Substituts derselben schützen, gestattet das Recht zur Aufhebung des Vertrages dem Gläubiger, von der Pflicht, selbst leisten zu müssen, freizukommen.1 Die Vertragsaufhebung ist ein Selbsthilferecht des Gläubigers, seine Bindung an den Vertrag ohne Inanspruchnahme staatlicher Gewalt aufzuheben.2 Der Zweck der Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung kommt in den Worten Sir Guenter Treitels mustergültig zum Ausdruck: »A party who is aggrieved as a result of not obtaining the performance for which he bargained may wish, in a general sense, to put an end to further performance of the contract and also as far as possible to put matters back into the position in which they were before performance on either side was begun.«3
Im abschließenden Kapitel ist die überpositive Rechtfertigung dieser Befugnis des Gläubigers, in die Vertragsbindung einzugreifen, zu erörtern und die unterschiedlichen Möglichkeiten der näheren Ausgestaltung dieser Grundsätze durch das positive Recht, soweit ihnen Modellcharakter zukommt, vorzustellen und zu würdigen. Die Aufhebung der Bindung kann wie im Falle der Vertragsaufhebung endgültig sein oder nur vorläufig wie bei der Einrede des nichterfüllten Vertrages.
I. Grundlagen Die Verwirklichung der Bindung an den Vertrag war das Leitmotiv der bisherigen Kapitel zur Vertragverletzung. Wenn der Schuldner widerrechtlich nicht leistet, so kann ihn der Gläubiger zur Leistung zwingen oder ihn wegen einer zurechenbaren Rechtsverletzung auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Ist der Lei1
Flessner ZEuP 1997, 255f.; MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 13. S. für diese Analyse Farnsworth, Contracts, § 8.15, S. 560; Friedmann in Lorenz/Trunk/Eidenmüller/ Wendehorst/Adolff (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich, S. 615ff. Anders insoweit bekanntlich das französische Recht, s. Art. 1184 des französischen CC. 3 Treitel in International Encyclopedia of Comparative Law, vol. VII, Rn. 16–143 2
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
stungszwang erfolgreich, so verwirklicht sich (nur) die Bindung an den Vertrag.4 Dem Gläubiger gehört aufgrund des Vertrages die Kausalität der Willkür des Schuldners, die Leistung zu bewirken.5 Die zwangsweise Durchsetzung des Primäranspruchs sichert dieses subjektive Recht. Wenn der Leistungszwang nicht erfolgt und eine zurechenbare Rechtsverletzung vorliegt, so tritt an die Stelle der Leistung ein Substitut: der wertmäßige Ausgleich.6 Der Primäranspruch und der Sekundäranspruch sind damit beide auf die Leistung des Schuldners bezogen und verwirklichen das Leistungsinteresse des Gläubigers. Sie bezwecken, die Leistung zu bewirken oder zumindest einen erfüllungsähnlichen Zustand herzustellen. Wenn der Vertrag nur ein Leistungsversprechen des Schuldners enthält, ist die Gewährung von Primär- und Sekundäranspruch als staatliche Reaktion auf die Vertragsverletzung auch durchaus hinreichend.
1. Der gegenseitige Vertrag Die meisten Verträge sind jedoch Austauschverträge, bei denen die Leistungen synallagmatisch verknüpft sind. Im englischen Recht, daß das Erfordernis der consideration vorsieht, sind sogar regelmäßig nur die gegenseitigen Verträge (bargains) als bindend anerkannt. In diesen Fällen ist die Leistungspflicht des Schuldners mit der Gegenleistungspflicht des Gläubigers auf die Weise verknüpft, daß die eine Partei ihre Leistung jeweils im Hinblick auf die Leistung der anderen Partei verspricht. Wie Flessner feststellt, hat diese für uns selbstverständliche Einsicht in die Verknüpfung eine »lange und mühevolle Entwicklung hinter sich«: »Das frühe Recht war vor allem damit beschäftigt, die aus dem Leistungsversprechen folgende Verpflichtung als solche rechtlich zu begründen. Die gegenseitige Abhängigkeit von zwei Leistungspflichten und insbesondere die Auswirkung solcher Abhängigkeit im Falle einer Nichtleistung war zunächst kein Thema; selbst beim wirtschaftlich eindeutigen Austauschgeschäft konnte man sich juristisch die Leistungspflichten der Beteiligten anfänglich nur als jeweils einseitige vorstellen.«7
Für die Bindung des Gläubigers an den Vertrag hat die Vertragsverletzung des Schuldners auch beim gegenseitigen Vertrag zunächst keine Konsequenzen. Der Gläubiger bleibt zur Erbringung der Gegenleistung verpflichtet, selbst wenn der Schuldner widerrechtlich nicht leistet. Die naheliegende Reaktion des Staates auf die Vertragsverletzung ist nicht die Aufhebung der Bindung an den Vertrag, denn dies würde Verträge ihres Kerngehaltes berauben und sie als Instrumente der Selbstbindung unbrauchbar machen, sondern die Durchsetzung des Prinzips pacta sunt servanda der Partei gegenüber, die sich der Pflichterfüllung entzieht. Aus 4 5 6 7
§ 9 und § 10 oben. S. 46ff. § 11 und § 12 oben. Flessner ZEuP 1997, 255, 260f.
I. Grundlagen
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dieser Zielrichtung des Primär- und Sekundäranspruchs folgt, daß es in der Tat nicht selbstverständlich ist, dem Gläubiger zu gestatten, bei Vertragsverletzung seine Bindung an den Vertrag zu lösen oder auch nur zu lockern. Schließlich steht ihm das Recht zur Seite, wenn es darum geht, den Schuldner zur Vertragserfüllung anzuhalten. Verwirklichte das Recht den Schutz des Leistungsinteresses vollständig, bestünde kein Grund, warum der Gläubiger seinerseits zur Leistung nicht verpflichtet sein sollte.
2. Die Gefährdung des Leistungsinteresses Wie aber ebenfalls aus der Untersuchung der subjektiven Rechte bei Vertragsverletzung deutlich wurde, ist die Durchsetzung des Leistungsinteresses des Gläubigers mit Unsicherheiten behaftet. Da gilt sowohl für seine Verwirklichung durch den Primär- als auch den Sekundäranspruch.8 Es genügt, hier die wichtigsten Gefahren aus Sicht des Gläubigers zu nennen: Die Durchsetzung des Primäranspruchs nimmt Zeit in Anspruch. Der Leistungszwang ist nicht immer effektiv oder zulässig. Der Schadensersatz wiederum ist dadurch bedingt, daß die Vertragverletzung dem Schuldner zurechenbar ist. Zudem ist auch die Höhe des Schadens nicht sicher zu ermitteln, eine Unterkompensation des Gläubigers ist jederzeit möglich. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß, selbst wenn die subjektiven Rechte vor Gericht anerkannt werden, ihre zwangsweise Durchsetzung auf der Stufe der Zwangsvollstreckung scheitert, wenn der Schuldner schlicht unvermögend ist. Die abstrakte Möglichkeit dieser Schutzlücken des Leistungsinteresses ist bereits vor aller Erfahrung einsehbar, erst recht natürlich vom Standpunkt konsequentialistischer Theorien. Es wäre aus diesem Grund dem Gläubiger gegenüber nicht zu rechtfertigen, ihn ungeachtet der Leistungsunfähigkeit oder fehlenden Leistungsbereitschaft des Schuldners der ungeschmälerten Bindung an den Vertrag zu unterwerfen. Es bestünde dann die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, daß der Gläubiger die Gegenleistung erbringen müßte, ohne die Leistung oder einen Ausgleich seines positiven Interesses zu erhalten. Die einseitige Durchsetzung der Bindung an den Vertrag gegenüber dem Gläubiger liefe darauf hinaus, ihn sehenden Auges zu einer verlustträchtigen Vermögensdisposition zu zwingen, für die er kaum hoffen kann, vom Schuldner je den erhofften Gegenwert in Form des Leistungsinteresses zu erhalten. Diese einseitige Vertragsdurchsetzung wäre mit dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht vereinbar. Nach James Gordley ist die Gleichheit von Leistung und Gegenleistung das zentrale Moment des Austauschvertrages: »Each party obtains something he wants by giving something of equivalent value in return. In the Aristotelian tradition, one can explain why that purpose should be respected in terms 8
Vgl. S. 221ff., 253ff., 288ff.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
of higher purposes. Each party is enabled to obtain the goods and services he needs to live a good life while preserving a distribution of wealth that is just because it allows others to get what they need to live a good life.«9
Die teleologische Rechtfertigung der Austauschgerechtigkeit im Hinblick auf das »gute Leben«, wie sie in dieser Passage deutlich wird, ist vom Standpunkt der hier vertretenen deontologischen Theorie zwar überflüssig,10 sie weist aber auf einen wichtigen Aspekt des Austauschvertrages hin: Die Güterverteilung zwischen den Parteien soll nicht verändert werden.11 Würde man den Gläubiger nun zwingen, seine Leistung bei Gefährdung des Leistungsinteresses zu erbringen, ginge man, ohne daß es dafür einen Grund gäbe, von ausgleichender Gerechtigkeit zu austeilender Gerechtigkeit über.12 Die Gleichheit der Güterverteilung wäre aufgehoben und dies entgegen der Zielrichtung des Austauschvertrages. Man würde dem Gläubiger nehmen und dem Schuldner geben, obwohl die innere Rechtfertigung dafür fortgefallen ist. Die Gegenleistung gehört dem Schuldner nur unter der Bedingung der Leistung und umgekehrt.13 Müßte der Gläubiger seine Gegenleistung erbringen, obwohl der Schuldner ausfällt, würde der Vertrag letztlich auf eine dem Gläubiger aufgezwungene Schenkung der Gegenleistung hinauslaufen. Das Recht reagiert auf die Vertragsverletzung zunächst mit der Durchsetzung der Bindung an den Vertrag gegenüber dem Schuldner. Ist dieser Zwang aber nicht erfolgversprechend oder nicht sicher, so ist der Gläubiger aus der Bindung an den Vertrag hinsichtlich der Gegenleistung zu befreien. Es muß dem Gläubiger daher gestattet werden, bei Ausbleiben der Leistung die Gegenleistung zumindest vorläufig zurückzuhalten, und unter bestimmten Bedingungen, seine Bindung an den Vertrag zur Gänze zu lösen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten in Verbindung mit der Gebot ausgleichender Gerechtigkeit erfordert, daß der Gläubiger von der Bindung zu befreien ist, wenn sein Leistungsinteresse hinreichend gefährdet ist.14 Denn nur dann besteht eine Gefahr, daß die Bindung an den Vertrag einseitig durchgesetzt wird. In den Worten von E. Allan Farnsworth: »It is in society’s interest to accord to each party of the contract reasonable security for the protection of that party’s justified expectations. But it is not in society’s interest to permit a party to abuse this protection by using an insignificant breach as a pretext for evading its 9
Gordley in Benson (Hrsg.), Contract Theory, S. 265, 309. Auch gegen andere der Thesen Gordleys wurden auf S. 89ff. Bedenken vorgebracht. 11 Dabei ist anders als Gordley Fn. 9, S. 310ff. dies vorschlägt, grundsätzlich die Wertschätzung durch die Parteien hinzunehmen und nicht im Wege der Theorie des gerechten Preises paternalistisch zu korrigieren. 12 Dazu näher S. 80ff. Weder Weinrib noch Gordley diskutieren jedoch diesen Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit beim Austauschvertrag. 13 S. auch die Analyse von Fried, Contract as Promise, S. 121f. 14 Ähnlich Flessner ZEuP 1997, 255, 257: Gläubiger erhält die Befreiung nur, »wenn seine Interessen durch die Nichterfüllung des Vertrages in erheblichem Maße beeinträchtigt werden.«; Fried Fn. 13, S. 121. 10
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contractual obligations. If the other party relied on the agreement, by performance or otherwise, ›keeping the deal together‹ avoids the risk of forfeiture. Courts encourage this course as long as it will not seriously disappoint justified expectations. They do this by allowing the injured party to suspend performance only if the breach is material, that is, sufficiently serious to warrant this response.«15
3. Der Spielraum bei Gestaltung der Vertragsaufhebung Da die Begrenztheit der Möglichkeiten staatlichen Zwangs bereits vor aller Erfahrung feststeht, ist das Recht zur Aufhebung des Vertrages wegen Vertragsverletzung eine a priori notwendige Ergänzung der Gläubigerrechte. Die Rechtfertigung des Rechts ist jedoch in wesentlicher Hinsicht pragmatischer Natur. Denn das Ausmaß der Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers ist durch die beschränkte Wirkung des Leistungszwangs und des Sekundäranspruchs in der Welt der Erfahrung bedingt. Die pragmatische Rechtfertigung des Rechts sowie seine Wurzel in den praktischen Schwierigkeiten der Rechtsdurchsetzung haben zur Folge, daß sich nur in geringem Umfang überpositive Prinzipien seiner Reichweite formulieren lassen. Hier ist ein größerer Gestaltungsspielraum des positiven Rechts als hinsichtlich des Primär- und Sekundäranspruchs festzustellen. Dies erklärt auch die Bandbreite der tatsächlich anzutreffenden Lösungen, von der Strenge der Bindung an den Vertrag mit nur gerichtlicher Auflösbarkeit im französischen Recht, bis hin zu der Tendenz, den Gläubiger wegen der geringsten Vertragswidrigkeit des Schuldners aus dem Vertrag zu entlassen, die in machen Entscheidungen englischer Gerichte beobachtet werden kann.16 Beide Extreme sind zwar umstritten und man bemüht sich um ihre Eingrenzung, jedoch lassen sie sich von einem vorpositiven Standpunkt nur mit Vorbehalten beurteilen. Der äußere Rahmen der Berechtigung zur Vertragsaufhebung dürfte durch folgende Prinzipien gebildet werden. Das Recht zur Vertragaufhebung hat als Ziel die Auflösung der Bindung des Gläubigers an den Vertrag, wenn dessen Recht auf die Leistung oder Schadensersatz gefährdet ist. Es geht also bei der Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung um die Pflicht, die Gegenleistung erbringen zu müssen. Worin die Gefährdung besteht und wie stark daher die Bindung des Gläubigers auszugestalten ist, ist durch das positive Recht zu regeln. Dabei gilt: Je schwächer der Schutz des Leistungsinteresses ausgestaltet ist, desto stärker ist die Rechtfertigung des Rechts der Vertragsaufhebung. Dies ist eine Frage des Grades der Gefährdung des Leistungsinteresses, die sich kaum abstrakt und universell beantworten läßt.17 Als Beispiel für ein auf der Hand liegendes Bedürfnis nach 15
Farnsworth Fn. 2, S. 562. S. den rechtsvergleichenden Überblick bei Flessner ZEuP 1997, 255ff. 17 Sie wird nicht zuletzt durch die Regeln des positiven Rechts zur Gestaltung des Primär- und Sekundäranspruchs beeinflußt. Dies ist zudem ein geeigneter Ansatzpunkt für konsequentialistische, ökonomische Analysen. 16
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
Vertragsaufhebung ist an ein durch Dienstvertrag begründetes Dauerschuldverhältnis zu denken. Der Schutz des Leistungsinteresses des Gläubigers ist in der Regel hier besonders schwach. Die Gefährdung wird durch den Dauerschuldcharakter der Bindung erheblich verstärkt. Die Lösung der Bindung ist daher nicht selten die einzig effektive Möglichkeit des Gläubigers aus dem Vertrag auszusteigen und sein Leistungsinteresse anderweitig zu befriedigen. A priori steht darüber hinaus fest, daß die Parteien selbst Vertragsaufhebungsrechte festlegen können. Dies ergibt sich aus der Vertragsfreiheit. Es kann darüber hinaus aus der Fundierung der Vertragsaufhebung abgeleitet werden, welche Erfordernisse nicht zur Voraussetzung der Lösung vom Vertrag gemacht werden sollten. Es ist dies erstens die Zuweisung der Macht der Vertragsaufhebung an die Gerichte. Die einseitige Loslösung vom Vertrag soll dem Gläubiger ermöglichen, sich vom Vertrag beizeiten loszusagen, um sein Leistungsinteresse anderweitig zu befriedigen, d.h. ohne die mühselige gerichtliche Durchsetzung des Rechts auf die Leistung abwarten zu müssen und zudem durch die Pflicht, selber leisten zu müssen, gebunden zu bleiben. Dieser Zweck der Vertragsaufhebung durch Selbsthilfe wird offensichtlich unterbunden, wenn die Lösung vom Vertrag ihrerseits nur gerichtlich erfolgen kann.18 Zweitens hängt die gegebene Rechtfertigung des Lösungsrechts in keiner Weise davon ab, daß die Vertragsverletzung zurechenbar war. Die Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers tritt unabhängig davon auf, aus welchem Grund die Leistung ausbleibt. Deshalb ist das Verschuldensprinzip nicht auf das Recht zur Lösung vom Vertrag durch Rücktritt oder Kündigung anwendbar; das Verschulden kann aber für den Grad der Gefährdung des Leistungsinteresses mittelbar von Bedeutung sein.19 Die positiven Voraussetzungen des Rücktrittsrechts bedürfen einer sorgfältigen Abwägung, die im Zusammenhang der konkreten Regelung des positiven Rechts erfolgen muß. Hier stehen mit dem deutschen Nachfrist-Modell, der differenzierten Regelung des CISG sowie dem englischen Recht im Detail sehr verschiedene Lösungen zur Debatte. Allgemein läßt sich an dieser Stelle bereits sagen, daß die Regelung um so überzeugender sein wird, je weniger sie es dem Gläubiger gestattet, die Vertragsverletzung als Vorwand für die Aufhebung eines Vertrages zu nutzen, der aus ganz anderen Gründen bereut wird, die mit der Durchsetzung des Leistungsinteresses nicht im Zusammenhang stehen. Die 18 Die von Art. 1184 CC geforderte Einschaltung des Gerichts bereitet im französischen Recht denn auch praktische Schwierigkeiten. Es sind vielfältige Methoden zu beobachten, das gerichtliche Verfahren wenn nicht zu umgehen, so doch in seiner Bedeutung abzuschwächen: Ein oft eingesetztes Mittel, ist die Vereinbarung eines Rücktrittsrechts, was als zulässig angesehen wird. Des weiteren haben die Gerichte das Verfahren selbst in Ausnahmesituationen eingeschränkt. S. zu beiden Aspekten Laithier in Cohen/McKendrick (Hrsg.), Comparative Remedies for Breach of Contract, S. 116ff.; sowie Flessner ZEuP 1997, 255, 270ff., 304. 19 So schon Flessner ZEuP 1997, 255, 296ff.
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Rechtssicherheit ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der bereits a priori Geltung beansprucht.20 Denn die Reichweite der Bindung des Vertrages ist für den Schutz des subjektiven Rechtes aus Vertrag entscheidend. Die Leichtigkeit und Sicherheit mit der dieser gerichtlich bestimmt werden kann, darf und soll bei der Ausgestaltung der subjektiven Rechte auf der ersten normativen Ebene durch das positive Recht berücksichtigt werden. Für regelutilitaristische Theorien liegt die Bedeutung der Rechtssicherheit ebenfalls auf der Hand.
4. Die Folgen der Vertragsaufhebung Aus dieser Fundierung der Vertragsaufhebung sind schließlich Schlußfolgerungen für die Folgen der Vertragsaufhebung zu ziehen.21 Ab der Vertragsaufhebung entfällt die Bindung des Gläubigers. Aufgrund der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten folgt aus der Aufhebung der Pflicht des Gläubigers, daß ab dem Zeitpunkt der Aufhebung auch die Pflicht des Schuldners notwendig endigt. Die Lösung der Bindung des Gläubigers wird deshalb ermöglicht, weil die Durchsetzung seiner sonstigen Rechte wegen Vertragsverletzung, also das Leistungsinteresse, gefährdet ist. Es versteht sich daher von selbst, daß die Vertragsaufhebung Rechte, deren Grund in einer vor Vertragsaufhebung begangenen Vertragsverletzung liegt, durch die Vertragsaufhebung nicht tangiert werden.22 Die Vertragsaufhebung soll die Gefährdung des Leistungsinteresses nicht perpetuieren, sondern dem Gläubiger gestatten, seine Bindung zu lösen, um die darin gebundenen Mittel zu befreien und sein Leistungsinteresse, soweit es unbefriedigt geblieben ist, anderweitig zu befriedigen. Das Recht, das positive Interesse zu verlangen, entfällt daher nicht durch die Vertragsaufhebung.23 Hinsichtlich der Gestaltung der Auflösung der Bindung des Gläubigers bestehen verschiedene Möglichkeiten. Eine vollständige Aufhebung der Bindung würde bedeuten, daß der Gläubiger noch nicht erbrachte Leistungen nicht erbringen muß und bereits erbrachte Leistung zurück erhält. Eine eingeschränkte Aufhebung würde bedeuten, daß der Gläubiger lediglich für die Zukunft von der Pflicht befreit wird, die Leistung zu erbringen. Für den Schuldner hat die vollständige Auflösung der Bindung des Gläubigers zur Folge, daß er ebenfalls bereits erbrachte Leistungen zurück fordern kann. Im Fall der schwachen Auflösung muß er zukünftig nicht leisten, kann aber Geleistetes nicht zurück fordern. Welche Form der Auflösung vorzugswürdig ist, läßt sich vor aller Erfahrung kaum festle20 Die falsche rechtliche Einschätzung des Rechts zur Vertragsaufhebung kann den Gläubiger nur allzu schnell selbst vertragsbrüchig werden lassen. 21 S. dazu rechtsvergleichend etwa Flessner ZEuP 1997, 255, 298ff., 310ff.; Friedmann Fn. 2, S. 621ff.; Markesinis/Unberath/Johnston, The German Law of Contract, S. 432ff. 22 Friedmann Fn. 2, S. 620. 23 Bei der Berechnung des Schadensersatzes muß aber berücksichtigt werden, daß der Gläubiger von der Pflicht, die Gegenleistung zu erbringen, befreit ist.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
gen. Dabei spielt die Zweckmäßigkeit der Rückabwicklung eines bereits teilweise erfüllten Vertrages eine entscheidende Rolle.24 Diese Fragen sind jedoch jenseits des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung: Wenn die Bindung an den Vertrag aufgehoben ist, so unterliegt die Rückabwicklung grundsätzlich nicht mehr Vertragsprinzipien. Zur Rechtfertigung der Prinzipien der Folgen der Vertragsaufhebung sind die vorpositiven Grundlagen der Rückabwicklung und der ungerechtfertigten Bereicherung berufen, die zu entwickeln allerdings nicht Aufgabe der vorliegenden Studie ist. 25
II. Dogmatik Im verbleibenden, der Dogmatik der Vertragsaufhebung gewidmeten Teil des Kapitels sind der Ansatz des deutschen und englischen Rechts sowie der des CISG näher zu erläutern. Die Einbeziehung der alternativen Ansätze ist deswegen für ein besseres Verständnis der Vertragsaufhebung sinnvoll, weil die drei Ansätze, wenn man die darin enthaltenen Wertungen verallgemeinert, drei idealtypische Modelle der Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung verkörpern. Es sind dies das Nachfrist-Modell des deutschen Rechts, das Auslegungs-Modell des englischen Rechts und das Kombinationsmodell des CISG. Wiederum erweist sich die Methode der Rechtsvergleichung gerade in der Kombination mit der theoretischen Fragestellung als nützlich. Sie dient dazu, den nach den vorpositiven Grundlagen als möglich erkannten Regelungsspielraum des positiven Rechts mit Leben zu erfüllen. Die Kenntnis der Alternativen und ihrer Anwendung in der Praxis hilft dabei, die Vorzüge und Nachteile einer bestimmten Interpretation eines vorpositiven Prinzips durch das positive Recht zu würdigen.
1. Das Nachfrist-Modell Das deutsche Recht reagiert auf die Gefährdung des Leistungsinteresses, die bei Ausbleiben der Leistung im gegenseitigen Vertrag auftreten kann, auf dreifache Weise. In erster Linie kann der Gläubiger regelmäßig die Gegenleistung zurückhalten, wenn die Leistung ausbleibt. Steht der Ausfall der Leistung fest, so ist, zweitens, ein regelmäßiger Wegfall der Gegenleistungspflicht vorgesehen. Schließlich wird dem Gläubiger ein Gestaltungsrecht eingeräumt, die Bindung an den Vertrag bei Vertragsverletzung aufzuheben. Die Vertragsaufhebung ist grundsätzlich nicht sofort bei Vertragsverletzung gestattet, sondern wird an die Bedingung geknüpft, daß der Schuldner nicht geleistet hat, obwohl ihm erneut 24
S. nur MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 35ff. S. zu den durch die Schuldrechtsreform veränderten Regeln etwa Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 89ff. 25
II. Dogmatik
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Gelegenheit dazu gegeben wurde. Aus diesem Grund kann das deutsche Modell der Vertragsaufhebung als »Nachfrist-Modell« bezeichnet werden, auch wenn dies naturgemäß eine starke Vereinfachung darstellt und insbesondere die beiden ersten Aspekte des Schutzes des Gläubigers vernachlässigt. Eine weitere Einschränkung des Rücktrittsrechts besteht hinsichtlich von Teilleistungen und hinsichtlich der Schlechtleistung: die Nichterfüllung muß von jeweils unterschiedlich bestimmten Gewicht sein, damit die Aufhebung des ganzen Vertrages gerechtfertigt ist. a) Die Suspendierung der Gegenleistungspflicht Bleibt die Leistung aus, ist für den Gläubiger oft nicht erkennbar, wie stark sein Leistungsinteresse gefährdet ist. Das Mindeste, was das Recht zum Schutz des Gläubigers in dieser für ihn schwer einschätzbaren Situation tun kann, ist, ihn dazu zu berechtigen, die Gegenleistung vorläufig zurückzuhalten. Auf diesem Grundsatz beruht § 320 BGB.26 Die Berücksichtigung der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten bei der Leistungserbringung bietet dem Gläubiger einen wirksamen Schutz, ohne daß die Bindung an den Vertrag gänzlich aufgehoben werden müßte.27 Die vorläufige Vorenthaltung der Gegenleistung ist zudem ein effektives Druckmittel.28 Das Ziel, den Gläubiger gegen den Ausfall seines Gläubigerinteresses abzusichern, wird hier durch eine vergleichsweise geringe Veränderung der Bindung an den Vertrag erreicht. An der Rechtfertigung des § 320 BGB bestehen denn auch keine Zweifel. Der Gläubiger kann auf den Schutz, den die Zug-umZug Leistung bietet, im Rahmen der Vertragsfreiheit verzichten und sich zur Vorleistung verpflichten.29 Dies ist beispielsweise beim Werkvertrag regelmäßig der Fall, wo die Pflicht des Bestellers, den Werklohn zu zahlen, erst bei Abnahme der Leistung des Unternehmers fällig wird (§ 641 I 1 BGB). Um das Risiko der späteren Vertragsverletzung durch den Besteller abzumildern,30 kann jedoch vereinbart werden, daß das Werk in Teilen abzunehmen ist (§ 641 I 2 BGB). Diese Regelung reduziert das Risiko des Ausfalls in ausgewogener Weise. b) Wegfall der Leistungspflicht aufgrund Gesetzes Bereits im Hinblick auf die Grundlagen wurde festgestellt, daß ein Spielraum besteht, den Gläubiger bei Gefährdung des Leistungsinteresses von Gesetzes wegen zu entlasten oder ihm eine dahingehende Befugnis zuzusprechen. In § 326 I 1 26 S. zu seiner str. Einordnung als Einrede Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 348f. 27 Soergel-Gsell § 320 Rn. 3. 28 Soergel-Gsell § 320 Rn. 4. 29 Überblick über die Fallgruppen bei MünchKommBGB-Emmerich § 320 Rn. 22f. 30 Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, S. 496f.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
BGB wird der Gläubiger bei Vorliegen von Unmöglichkeit der Leistung von Gesetzes wegen grundsätzlich von der Pflicht zur Gegenleistung entbunden. Die Lösung des BGB ist zweckmäßig.31 Wenn das endgültige Ausbleiben der Leistung feststeht, wie im Falle der Unmöglichkeit nach § 275 BGB, ist es von vornherein wenig sinnvoll, den Gläubiger zur Erbringung der Gegenleistung zu verpflichten. Die Aufhebung der Bindung des Gläubigers an den Vertrag von seiner Erklärung abhängig zu machen, wäre daher, wegen der feststehenden Gefährdung des Leistungsinteresses, ein unnötiger Formalismus: Der Gläubiger ist von Gesetzes wegen gegen den Ausfall des Schuldners zu sichern. Ist der Schuldner zum Schadensersatz verpflichtet,32 besteht dennoch eine Gefährdung des Leistungsinteresses, denn der Schuldner kann zahlungsunfähig sein. Die Aufrechnung (§ 387 BGB) würde dieses Risiko (wenn noch nicht geleistet wurde) zwar mindern,33 aber wenn das endgültige Ausbleiben der Leistung feststeht, ist das automatische Entfallen der Gegenleistungspflicht die bessere Lösung.34 Der Wegfall der Leistungspflicht von Gesetzes wegen nach § 326 I 1 BGB ist in zwei Hinsichten begrenzt. Er greift nach § 326 I 2 BGB nicht ein, wenn die Vertragsverletzung in einer Schlechtleistung besteht. Der Grund dafür ist, daß das besondere Schuldrecht hinsichtlich solcher Vertragsverletzungen dem Gläubiger die Wahl gibt, ob er seine Bindung nur teilweise oder zur Gänze aufhebt.35 Diese Alternativität von Minderung und Rücktritt würde konterkariert, wenn das Gesetz die Leistungspflicht regelmäßig in Höhe des Leistungsausfalls wegfallen lassen würde.36 Die Rechtfertigung der zweiten Einschränkung ist komplexer. In bestimmten Fällen, in denen der Gläubiger im weitesten Sinne für das Ausbleiben der Leistung verantwortlich ist, wird davon abgesehen, ihn von der Pflicht zur Gegenleistung zu befreien. Gemäß § 326 II 1 BGB etwa bleibt der Gläubiger zur Erbringung der Gegenleistung verpflichtet, wenn er für den Umstand, wegen dessen die Leistung unmöglich ist, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist. Der Grundgedanke der Aufhebung der Bindung des Gläubigers besteht darin, daß sein Leistungsinteresse bei Ausbleiben der Leistung gefährdet ist. Er soll deswegen nicht selbst leisten müssen. Wenn der Gläubiger aber selber für den Ausfall der Leistung verantwortlich ist, dann ist sein Leistungsinteresse nicht schützens31 Staudinger-Otto § 326 Rn. B 2 (insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen sei nicht einzusehen, warum das Ausbleiben der Leistung erst dann zu Konsequenzen führt, wenn der Gläubiger einen Teilrücktritt, bzw. eine Teilkündigung erklärt). 32 Vgl. § 275 IV BGB. 33 Wie bereits erläutert, ist die Aufrechnung ebenfalls eine Maßnahme der Selbsthilfe des Gläubigers zum Schutz seines subjektiven Rechts, das in der Gegenforderung verkörpert ist. 34 Die Aufrechnung setzt eben voraus, daß tatsächlich Schadensersatz zu leisten wäre. Besteht kein Anspruch auf Schadensersatz, oder nicht in voller Höhe, wäre der Gläubiger verpflichtet, die Gegenleistung zu erbringen, obwohl er weder die Leistung noch einen wertmäßigen Ausgleich erhält. Dies ist mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit der Pflichten nicht zu vereinbaren. 35 S. etwa §§ 437, 634 BGB. 36 Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, Rn. 327
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wert. Es ist daher gerechtfertigt, ihn an der Bindung an den Vertrag festzuhalten.37 Es ist daher konsequent, wenn § 326 II 1 BGB die vollständige Aufhebung der Bindung an den Vertrag nur bei mindestens weit überwiegender Verantwortlichkeit des Gläubigers anordnet.38 c) Vertragsaufhebung als Gestaltungsrecht Wenn die Leistung noch möglich ist, ist die Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers zwar keineswegs ausgeschlossen, aber zumindest nicht regelmäßig anzunehmen. Insbesondere wenn die Leistung nur teilweise ausbleibt oder nur vorübergehend verzögert wird, erscheint die vollständige Aufhebung der Bindung des Gläubigers an den Vertrag unverhältnismäßig. Es ist erneut daran zu erinnern, daß die Aufhebung der Bindung keine a priori zwingende Folge der Vertragsverletzung ist, sondern nach pragmatischen Gesichtpunkten ausnahmsweise wegen der Gefährdung des Gläubigerinteresses zuzulassen ist. Auf der einen Seite ist zu berücksichtigen, daß der Gläubiger allein aufgrund der Nichtleistung nicht von seiner Bindung zu befreien ist. Denn das Recht steht ihm zur Seite, die Bindung des Schuldners an den Vertrag durchzusetzen. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß der Schutz des Leistungsinteresses unvollkommen ist. Der Gläubiger geht also die Gefahr ein, daß er zwar leistet, die Leistung des Schuldners aber ersatzlos ausfällt. Dies kollidiert mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit der Leistungen. Die Lösung dieses Abwägungsproblems im deutschen Recht besteht im Wesentlichen darin, die Gefährdung des Leistungsinteresses darin zu sehen, daß der Schuldner nicht leistet, obwohl ihm dies möglich wäre und er vom Schuldner erneut Gelegenheit dazu bekommen hat. Nach Fristablauf wird unterstellt, daß die Pflichtverletzung hinreichend erheblich ist, um den Rücktritt als »einschneidenden Rechtsbehelf« zu rechtfertigen.39 Das ist das Wesen des Nachfrist-Ansatzes, der im deutschen Recht modellhaft durchgeführt wird. In den Worten Ulrich Hubers: »Er bringt das Interesse des Gläubigers, im Fall des Schuldnerverzugs von der Bindung an den gegenseitigen Vertrag loszukommen, und das Interesse des Schuldners, eine angemessene Gelegenheit zu erhalten, ›das Versäumte nachzuholen‹, mit einem einfachen Verfahren zum Ausgleich.«40
Das Nachfrist-Modell ist für die Vertragsaufhebung plausibel gerechtfertigt: Bevor die Parteien sich vom gegenseitigen Vertrag gänzlich lossagen, sollen sie, wo 37 Die Ausnahme ebenfalls aus dem Gedanken der Gegenseitigkeit ableitend MünchKommBGB-Ernst § 326 Rn. 41. 38 S. zu weiteren Fällen, in denen die Gegenleistungsgefahr auf den Gläubiger verlagert wird, Looschelders Fn. 26, Rn. 734ff. 39 S. bereits Abschlußbericht 1992, S. 166 zu § 323 BGB-KE. 40 Huber, Leistungsstörungsrecht, Bd. 2, S. 328f.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
Aussicht auf Erfolg besteht, die Leistung also möglich ist und der Schuldner sie nicht endgültig verweigert, zumindest den Versuch der weiteren Kooperation unternehmen. Dieser Aspekt des Nachfrist-Modells harmoniert mit dem Gedanken der Bindung an den Vertrag (dem Prinzip pacta sunt servanda).41 Die Vertragsaufhebung ist die pragmatisch gerechtfertigte Ausnahme, wie sie im Nachfrist-Modell verkörpert ist, die Bindung des Gläubigers an den Vertrag die Regel. Die Implikationen des Nachfristmodells wurden bereits wiederholt erörtert. An dieser Stelle genügt der Hinweis, daß der Zweck der Nachfrist darin liegt, die Parteien zur Beseitigung der Leistungsstörung durch Kooperation anzuhalten. Hinsichtlich der Vertragsaufhebung ist dieses pragmatische Argument vollauf berechtigt, dagegen ist es im Hinblick auf den Sekundäranspruch zumindest nicht ohne weiteres einzusehen.42 Die Vertragsaufhebung ist im deutschen Recht neben den §§ 320 und 326 BGB ein weiterer Schutzmechanismus zugunsten des Gläubigers bei Ausbleiben der Leistung aus einem gegenseitigen Vertrag. Gemäß § 323 I BGB ist dem Schuldner eine angemessene Frist zur Leistung zu setzen. Der erfolglose Ablauf der Nachfrist ist regelmäßige Voraussetzung für die Ausübung des Rücktrittsrechts. Der Gedanke der Kooperation der Parteien spiegelt sich in den Ausnahmen vom Fristsetzungserfordernis. Wenn der Schuldner die Leistung etwa endgültig und ernsthaft verweigert, ist die Fristsetzung sinnlos und nach § 323 II Nr. 1 BGB nicht erforderlich.43 Der Nachfrist-Ansatz ist in § 314 II BGB nunmehr auch für die außerordentliche Kündigung wegen Vertragsverletzung formalisiert.44 Den Grundgedanken der Rechtfertigung der Vertragsaufhebung bringt § 314 I BGB mustergültig zum Ausdruck: Entscheidend ist, ob es den Parteien zugemutet werden kann, das Vertragsverhältnis fortzusetzen. Wenn ihnen eine weitere Kooperation nicht abverlangt werden kann und das Leistungsinteresse einer Partei gefährdet ist, kann das Dauerschuldverhältnis (für die Zukunft) gekündigt werden. Für den Arbeitsvertrag haben die Gerichte für die nach § 626 I BGB vorzunehmende Abwägung das Erfordernis der Abmahnung eingeführt.45 Für die Kündigung ei-
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Canaris JZ 2001, 499, 510. Diese Rechtfertigung ist von der Frage, ob das Nachfrist-Modell auch den Sekundäranspruch begrenzen sollte, streng zu trennen, näher S. 243ff. Die Parallelität der Erfordernisse für den Schadensersatz statt der Leistung und den Rücktritt mag die Rechtsanwendung vereinfachen. 43 Dies war bereits vor der Reform anerkannt, zur Rechtfertigung im einzelnen U. Huber, Leistungsstörungen, Bd. 2, S. 575ff. 44 MünchKommBGB-Gaier § 314 Rn. 13ff. 45 MünchKommBGB-Henssler § 626 Rn. 87ff. (mit dem Hinweis, daß die Kündigung »ultima ratio« sei). Die Abmahnung ist nur erforderlich, wenn eine Aufforderung sich vertragsgemäß zu verhalten im Einzelfall zweckmäßig und erfolgversprechend ist, also insbesondere bei der verhaltensbedingten Kündigung. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte verfährt restriktiv mit der Zulassung der Kündigung durch den Arbeitsgeber. Damit wird für den Arbeitgeber, der sein Leistungsinteresse angesichts von § 888 III ZPO nur unter erschwerten Bedingungen durchset42
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nes Mietverhältnisses wegen Vertragsverletzung sieht § 543 III BGB das Erfordernis der Fristsetzung zur Abhilfe bzw. das Erfordernis der Abmahnung vor. Auch hier ist aus § 543 I BGB ersichtlich, daß es für die Abwägung, ob die Bindung gelöst werden kann, darauf ankommt, ob den Parteien eine weitere Kooperation zumutbar ist. Aus der Rechtfertigung der Vertragsaufhebung beim gegenseitigen Vertrag durch die Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers läßt sich, wie gezeigt, ableiten, daß das Recht zur Vertragsaufhebung keine zurechenbare Rechtsverletzung voraussetzt, sondern primär an das Ausbleiben der Leistung anknüpft. Es ist daher zu begrüßen, daß das Rücktrittsrecht anders als vor der Reform nicht mehr verschuldensabhängig ausgestaltet ist (§ 323 BGB).46 Dies entspricht der Rechtslage bei der außerordentlichen Kündigung. Liegt Verschulden vor, so kann dies allerdings dafür eine Rolle spielen, ob den Parteien eine weitere Kooperation zuzumuten ist.47 Eine letzte wichtige Folgerung allgemeiner Natur aus der teils pragmatischen, teils deontologischen Rechtfertigung des Gestaltungsrechts betrifft das Verhältnis des Aufhebungsrechts zum Sekundäranspruch: Die Ausübung des Rücktrittsrechts kollidiert grundsätzlich nicht mit der Geltendmachung des Sekundäranspruchs.48 Auch in dieser Hinsicht hat die Schuldrechtsreform mit § 325 BGB eine Verbesserung der Dogmatik mit sich gebracht. Für die Kündigung ist die Berechtigung dieses Ansatzes offensichtlicher als für das Rücktrittsrecht. Bei der Kündigung hat die Vertragsaufhebung (grundsätzlich) ohnehin nur Wirkung für die Zukunft. Daher berechtigt eine bis dahin aufgetretene zurechenbare Vertragsverletzung ohne weiteres zum Schadensersatz. Die Wirkung des Rücktritts ist im deutschen Recht zwar ebenfalls nur ex nunc, jedoch führt der Rücktritt dazu, daß bisher erbrachte Leistung wieder rückgängig gemacht werden müssen (§ 346 BGB).49 Der Rücktritt beseitigt die Leistungspflicht des Schuldners jedoch nicht rückwirkend. Denn der Sinn der dogmatischen Konstruktion der ex nunc Wirkung unter gleichzeitiger Anordnung der Rückabwicklung bisher erfolgter Leistungen soll genau dies verhindern: Sofern der Schuldner bis dahin seine Leistungspflicht zurechenbar verletzt hat, entfällt dieser Haftungsgrund nicht mit Erklärung des Rücktritts.50 Eine vollständige Befriedigung des Gläubigerinteresses kann der Staat zwar für den verletzten Vertrag nicht garantieren. Soweit aber eine zurechenbare Verletzung, die zu einem Schaden geführt hat, tatsächlich aufzen kann, für das Recht auf Vertragsaufhebung eine vergleichsweise hohe Gefährdung seines Leistungsinteresses verlangt. 46 Zu der Änderung Canaris Karlsruher Forum 2002, S. 52. 47 So ausdrücklich § 543 I 1 BGB. 48 S. näher S. 247ff. 49 Das Schuldverhältnis wird, wie es üblicherweise heißt, in ein Rückgewährschuldverhältnis »umgewandelt«, s. nur Looschelders Fn. 26, Rn. 830, 837ff. 50 S. für eine analoge Analyse im englischen Recht Lord Diplock in Photo Production Ltd. v. Securicor Transport Ltd. [1980] A.C. 827, 848f.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung
gehoben werden kann, gibt es keinen Grund, diesen Sekundäranspruch wegen des Rücktritts entfallen zu lassen.51 Abschließend ist noch auf die Problematik der teilweise erbrachten Leistung und der Schlechtleistung einzugehen. Im Falle der Teilleistung ist das Recht zum Rücktritt vom ganzen Vertrag nach § 323 V 1 BGB davon abhängig, ob der Gläubiger an der Teilleistung kein Interesse hat.52 Auch diese Bestimmung stimmt mit der vorpositiven Rechtfertigung des Rücktritts überein. Sie führt das Rücktrittsrecht zutreffend auf die Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers zurück. Diese ist nicht stark, wenn die erbrachte Teilleistung für den Gläubiger von nur untergeordneter Bedeutung ist. Für den Fall der Schlechtleistung erfordert § 323 V 2 BGB für das Rücktrittsrecht, daß die Pflichtverletzung »nicht unerheblich« ist. Über die Auslegung dieses auch in der Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf verwendeten Merkmals53 besteht keine Einigkeit, jedoch dürften nach der Intention des Gesetzgebers keine allzu strengen Anforderungen aufzustellen sein.54 Eine strengere Handhabung55 wäre im Hinblick darauf, daß der Gläubiger in diesen Fällen bei bestimmten Vertragstypen das Recht zur Minderung hat, nicht per se bedenklich.56 Die Minderung erfüllt die Funktion eines Teilrücktritts:57 Es hebt die Bindung des Gläubigers an den Vertrag teilweise auf. Um zu berücksichtigen, ob der Gläubiger einen günstigen oder einen ungünstigen Vertrag geschlossen hat, wird die Gegenleistung in dem Verhältnis herabgesetzt, in dem der Wert der Leistung in mangelfreiem Zustand zu dem wirklichen Wert der Leistung steht.58
51 Freilich kann der Gläubiger dann neben dem Rücktritt nur Schadensersatz nach der Differenzmethode verlangen, Lorenz, Karlsruher Forum 2005, S. 82. 52 Das Interesse des Gläubigers muß also über die Entbehrung des vorenthaltenen Teils hinaus beeinträchtigt sein, MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 203. 53 Art. 3 V Richtlinie 1999/44/EG. Näher MünchKommBGB-Lorenz Vor § 474 Rn. 20. Die Richtlinie spricht in Art. 3 VI von einer »geringfügigen Vertragswidrigkeit« als Schwelle des Rechts zur Vertragsaufhebung. Demgegenüber setzt Art. 49, 64, 25 CISG (dazu unten) eine »wesentliche Vertragsverletzung« voraus. Der von der Richtlinie ins Auge gefaßte Grenzwert ist daher niedriger anzusetzen als nach dem CISG. 54 Bundestags-Drucksache 14/6040, S. 187, 231; Bamberger/Roth-Faust § 437 Rn. 25; AnwKBüdenbender § 437 Rn. 36 (»restriktives Verständnis«). 55 Wie etwa von MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 243; Staudinger-Otto § 323 Rn. C 30, vorgeschlagen. 56 Nach früherem Kaufrecht war unterhalb der Erheblichkeitsschwelle auch das Minderungsrecht ausgeschlossen. Jetzt besteht das Minderungsrecht auch bei nicht erheblichen Pflichtverletzungen. Die Minderung ist insbesondere für den Kaufvertrag (§ 441 BGB), Mietvertrag (§ 536 BGB) und Werkvertrag (§ 638 BGB) vorgesehen. Das Minderungsrecht fehlt aber etwa beim Dienstvertrag, BGH NJW 2004, 2817. 57 MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 240. 58 Paradigmatisch § 441 III BGB.
II. Dogmatik
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2. Das Auslegungs-Modell Es ist geradezu unmöglich, das englische Recht auf einen Gesichtspunkt der Ausgestaltung der Vertragsaufhebung und verwandter Rechtsinstitute festzulegen: »The law governing the right to rescind for failure in performance is complex and difficult; and in this it reflects the difficulty which the courts have experienced in balancing the conflicting interests of the parties in respectively seeking, and resisting, the remedy of rescission.«59
Unter diesem Vorbehalt läßt sich doch mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß das, was den Ansatz der englischen Gerichte von dem anderer Rechtsordnungen hervorhebt, die Verknüpfung des Rechts zur Vertragsaufhebung mit der Auslegung des Vertrages ist. Über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechts zur Vertragsaufhebung entscheidet in erster Linie, was die Parteien selbst für diesen Fall vorgesehen haben. Da dies jedoch selten ausdrücklich geschieht, bedienen sich die englischen Gerichte einer Reihe von Auslegungsregeln, die wiederum der Widerlegung im Einzelfall zugänglich sind. Aus diesem Grund ist die Position des englischen Rechts zum Bestehen eines Rechts zur Vertragsauflösung nicht vollständig abstrakt beschreibbar. Auch das englische Recht kennt gewisse »Vorstufen« zur Vertragsaufhebung, die aus dem Gegenseitigkeitsverhältnis der Leistungspflichten abgeleitet sind. Diese sind zuerst zu erörtern. Ebenso wie im deutschen Recht wird dem Gläubiger gestattet, die Gegenleistung vorläufig zurück zu halten, wenn die Leistung ausbleibt. Dieses Recht hat der Gläubiger nur, wenn die Leistungen Zug-um-Zug zu erfüllen sind, es sich also um concurrent conditions handelt. Ein typisches Beispiel ist die Pflicht zur Lieferung der Güter und zur Zahlung des Kaufpreises beim Kaufvertrag.60 Dieses Zurückbehaltungsrecht besteht jedoch nur dann, wenn es sich um Pflichten handelt, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und nicht »independent promises« sind. Des weiteren kann nach dem Inhalt des Vertrages eine Partei zur Vorleistung (condition precedent) verpflichtet sein.61 In solchen Fällen greift der sogenannte Grundsatz der »entire obligation« ein:62 Eine Leistungspflicht ist »entire«, wenn sie nach dem Vertrag gänzlich erfüllt werden muß, bevor die Pflicht zur Gegenleistung fällig wird. Das englische Recht bietet Beispiele aus dem Seetransport: Wenn etwa ein Vertrag Zahlung bei Ankunft am Zielhafen vorsieht und der Schiffseigner die Reise abbricht, so daß die Güter an einem Hafen auf der Route abgeladen werden, kann er nicht die Fracht nicht pro rata geltend machen.63 Auch im Werkvertragsrecht ist der Grundsatz der entire ob59 Treitel, The Law of Contract, S. 760f. S. für das teilweise abweichende Recht in den U.S.A. Farnsworth Fn. 2, S. 501ff. 60 Section 28 des Sale of Goods Act 1979. 61 Zu dieser Unterscheidung näher Treitel Fn. 59, S. 764ff. 62 Treitel Fn. 59, S. 782ff.; s. auch die Würdigung bei McKendrick, Contract Law, S. 435ff. 63 Bsp. St. Enoch Shipping Co. Ltd. v. Phosphate Mining Co. [1916] 2 K.B. 624.
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ligation regelmäßig relevant,64 wenn er auch wie im deutschen Recht in der Regel durch die Vereinbarung von »progress payments« abgemildert wird.65 In vielen Fällen bieten die Grundsätze zur Leistungsreihenfolge, wie sie eben erörtert wurden, ausreichend Schutz. Darüber hinaus gewährt das englische Recht dem Gläubiger das Recht, den Vertrag wegen Vertragsverletzung aufzuheben (rescission, termination, notice). Das Gestaltungsrecht ist, wie im deutschen Recht, nur im Hinblick auf Leistungspflichten, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, relevant. Die Grundregel für die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung ist, daß die Vertragsverletzung eine »substantial failure« der Leistung darstellt.66 Die Vertragsverletzung muß also von schwerem Gewicht sein, um das Recht zur Aufhebung der Bindung an den Vertrag zu begründen. Diese Begründung des Rücktrittsrechts harmoniert mit der theoretischen Rechtfertigung des Rücktrittsrechts. Dies zeigt sich auch anhand der Faktoren, die zur Bestimmung der Erheblichkeit der Verletzung herangezogen werden. Neben generellen Erwägungen zur Schwere der Vertragsverletzung gestehen die Gerichte ein Recht zum Rücktritt unter anderem mit der Erwägung zu, daß der Sekundäranspruch das Leistungsinteresse nicht adäquat erfassen würde.67 In Fällen in denen die Leistung im wesentlichen ausbleibt und das Leistungsinteresse durch staatlichen Zwang nicht befriedigt werden kann, ist die Gewährung des Rücktrittsrechts nach den obigen Ausführen besonders dringlich. Denn ansonsten, wenn die Bindung an den Vertrag nicht aufgehoben würde, wäre der Gläubiger verpflichtet zu leisten, ohne den vereinbarten Gegenwert zu erhalten. Über die genauen Grenzen dieses Rücktrittsrechts wegen substantial failure of performance besteht Unsicherheit.68 Aus diesem Grund haben sich in der Praxis erheblich wichtigere spezielle Rücktrittsgründe entwickelt. Diese zweite Quelle des Rücktrittsrechts macht das eigentlich Kennzeichnende des englischen Ansatzes aus: Ob ein Rücktrittsrecht besteht, ist davon abhängig, welche Art der Leistungspflicht der Schuldner verletzt hat. Die Art der Pflicht beurteilt sich wiederum nach einer Klassifizierung der vertraglichen Klauseln (contract terms):69 Ha64
Bsp. Sumpter v. Hedges [1898] 1 Q.B. 673. Dazu Treitel Fn. 59, S. 784, der diesen Fall als »severable obligations« bezeichnet. 66 Für diese Analyse etwa Treitel Fn. 59, S. 769ff. Die Gerichte verweisen darauf, daß die Verletzung die Wurzeln des Vertrages berühren muß, oder dem Gläubiger die Leistung im wesentlichen entziehen muß. Im Ansatz ähnlich das U.S. Recht, s. Farnsworth Fn. 2, § 8.15, S. 566 (»material breach«). 67 Bsp. Decro-Wall International S.A. v. Practicioners in Marketing Ltd. [1971] 1 W.L.R. 361, wo das Rücktrittsrecht abgelehnt wurde, weil die vergleichsweise geringen Vertragsverletzungen durch Schadensersatz leicht auszugleichen waren. Dieser Gesichtspunkt spielt auch bei Dauerschuldverhältnissen (continuing contracts) eine wichtige Rolle. Bsp. Bradford v. Williams (1872) L.R. 7 Ex. 259 (charterparty). 68 Treitel Fn. 59, S. 778. 69 Näher Treitel Fn. 59, S. 788ff. Zu beachten ist, daß dieser Ansatz nicht nur Fälle der teilweisen Leistung oder Schlechtleistung erfaßt, sondern auch die Verzögerung der Leistung. In letzterem Fall ist zu fragen, wie die Bestimmung zur Leistungszeit auszulegen ist. 65
II. Dogmatik
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ben die Parteien eine »condition« vereinbart, dann besteht das Rücktrittsrecht bei Verletzung dieser vertraglichen Bestimmung ohne weiteres. Ist der verletzte term jedoch als »warranty« auszulegen, besteht nur ein Recht auf Schadensersatz.70 Ordnet man einen term als warranty ein, ist das Rücktrittsrecht ungeachtet der Schwere der Vertragsverletzung ausgeschlossen. Da man bei kaum einem term ausschließen kann, daß irgendeine Verletzung gravierende Folgen haben kann und daher ein Rücktrittsrecht angemessen wäre, sind warranties eher selten. Wird der term als condition eingeordnet, kommt es aber nicht darauf an, ob seine Verletzung im konkreten Fall gravierende Folgen hat. Dieser Ansatz weicht also vom Grundgedanken der Vertragsaufhebung ab, weil es nicht darauf ankommt, ob das Leistungsinteresse im konkreten Fall gefährdet ist. Damit soll erreicht werden, daß die Parteien über ihre Rechte sofort Bescheid wissen. Die Rechtssicherheit verlangt nicht weniger, denn wenn der Gläubiger die Voraussetzungen des Selbsthilferechts falsch bewertet, wird er leicht seinerseits vertragsbrüchig. Zweck dieses Ansatzes ist damit die Leichtigkeit und Sicherheit des Handelsverkehrs zu fördern.71 Insbesondere müssen die Parteien nicht darüber sinnieren, ob die Vertragsverletzung »wesentlich« genug ist, das Rücktrittsrecht zu gewähren. Dieser Gewinn an Sicherheit wird dadurch erkauft, daß der Grund des Rücktritts nicht nachgeprüft wird. Da die Verletzung einer condition selbst dann zum Rücktritt berechtigt, wenn die Vertragsverletzung völlig unwesentlich ist, ist es dem Käufer möglich, bei einem solchen »technical breach« aus einem »bad bargain« auszusteigen. Manche Entscheidungen, die dies ermöglichten,72 werden als heutiger Sicht allerdings als »excessively technical« kritisiert.73 Die englischen Gerichte empfanden diese schlichte Klassifizierung in terms, deren Verletzung immer ein Rücktrittsrecht begründet, und solche, die nie zum Rücktritt berechtigen, aus dem zuletzt genannten Grund zunehmend als unbefriedigend. Folgerichtig führten sie schließlich eine weitere, dritte Kategorie von terms ein, nämlich die sogenannten »innominate terms«:74 Ist eine bestimmte Vertragsklausel nicht bereits als condition klassifiziert, kann ein term vorliegen, dessen Verletzung nur dann ein Rücktrittsrecht begründet, wenn die Folgen der Verletzung so wesentlich sind, daß sie die Grundlagen des Vertrages 70
Vgl. etwa sections 11 (3), 53 (1) und (2) Sale of Goods Act 1979. Vgl. instruktiv zur Interessenlage Atiyah, Introduction to the Law of Contract, S. 168ff. 72 S. etwa den berüchtigten Fall Arcos Ltd. v. E.A. Ronaasen & Son [1933] AC 470 (eine für die Gebrauchstauglichkeit völlig irrelevante minimale Abweichung der Abmessungen wurde als ausreichend für den Rücktritt angesehen, weil der fragliche term über die Abmaße als condition eingeordnet wurde). 73 Reardon Smith Line Ltd v Yngvar Hansen-Tangen (The Diana Prosperity) [1976] 1 WLR 989, 998. 74 Hong Kong Fir Shipping Co Ltd v Kawasaki Kisen Kaisha Ltd [1962] 2 QB 26; Cehave NV Bremer Handelsgesellschaft mbH (The Hansa Nord) [1976] QB 44. Bei Bestimmungen hinsichtlich der Zeit der Leistung tendieren die englischen Gerichte jedoch nach wie vor zu einem strikten Ansatz (Einordnung als condition): Bunge Corpn v Tradax SA [1981] 1 WLR 711. 71
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berühren. Der Gewinn an Einzelfallgerechtigkeit bedeutet zugleich den Verlust an Rechtssicherheit: Das Rücktrittsrecht besteht nur, wenn die Vertragsverletzung »wesentlich« ist. Das aber sollte gerade mit Hilfe der Auslegungsregeln und der Klassifizierung der Vertragsklauseln vermieden werden. Hinzu kommt, daß trotz der mittlerweile zum Großteil gefestigten Auslegungsregeln75 die begriffliche Abgrenzung der verschiedenen Typen der Vertragswidrigkeit im Einzelfall keineswegs einfach ist. Auch aus diesem Grund, ist die Rechtssicherheit gefährdet.76 Insgesamt ist festzustellen, daß das englische Recht das Rücktrittsrecht zwar geradezu mustergültig aus den vorpositiven Grundlagen ableitet. Die Balance zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit dürfte jedoch derzeit noch nicht gefunden worden sein, so daß das Auslegungs-Modell zumindest beim gegenwärtigen Stand der Dogmatik gegenüber dem Nachfrist-Ansatz nicht allgemein vorzugswürdig ist. Im Einzelfall und für einzelne Fallgruppen enthalten die englischen Entscheidungen jedoch wertvolle Hinweise auf die Interessenlage der Parteien im Handelsverkehr, die für die deutsche Dogmatik insbesondere für die Ausnahmen vom Fristsetzungserfordernis in § 323 II BGB fruchtbar zu machen wären.77
3. Das Kombinationsmodell Der Ansatz des CISG unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von dem des deutschen Rechts und dem des englischen Rechts. Der Ausgangspunkt des CISG ist zwar wiederum die Schwere der Vertragsverletzung. Diesen Grundgedanken der Vertragsaufhebung führt es sogar in besonders reiner Form ein. Allerdings ergänzt es dieses allgemeine Prinzip mit dem Nachfrist-Ansatz. Das Besondere der Lösung des CISG liegt somit in der Kombination des Schwere-Prinzips mit dem Nachfrist-Modell; dabei wird nach dem Typus der verletzten Pflicht unterschieden: Einerseits sind bestimmte Vertragsverletzungen nur bei Wesentlichkeit für die Vertragsverletzung relevant, andererseits kann der Gläubiger bei Verzögerung der Leistung durch das Setzen einer Nachfrist Klarheit schaffen.78 Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß auch das CISG es dem Gläubiger gestattet, die Leistung vorläufig zu verweigern.79 Die dem CISG zugrunde liegende Wertung ist also, daß der Gläubiger beim gegenseitigen Vertrag Vertragsaufhebung nur bei »wesentlichem Vertragsbruch«
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Die zum Teil auch gesetzlich festgelegt sind: z.B. im Sale of Goods Act 1979. Vgl. McKendrick Fn. 62, S. 217. 77 Etwa hinsichtlich der Bestimmung der Leistungszeit; kritisch aber insoweit Treitel Fn. 59, S. 826f. 78 Diesem Modell folgen auch Art. 9:301 PECL und Art. 7.3.1 PICC. 79 S. auch Art. 9:201 PECL; Art. 7.1.3 PICC. 76
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(»fundamental breach«) verlangen kann.80 Wenn eine solche wesentliche Vertragsverletzung vorliegt, so besteht das Aufhebungsrecht ohne weiteres.81 Diese Wertung ist mit der Rechtfertigung der Vertragsaufhebung idealtypisch vereinbar:82 Die Gefährdung des Leistungsinteresses des Gläubigers ist um so gravierender, je größer das Ausmaß der Vertragsverletzung ist. Dieser Zusammenhang mit den überpositiven Grundlagen ist enger als beim Nachfristmodell. Denn allein aus dem ergebnislosen Verstreichen der Nachfrist folgt nicht per se, daß das Leistungsinteresse des Gläubigers stark gefährdet ist. Jedoch hat, wie die Ausführungen zum englischen Recht gezeigt haben, das Kriterium der Wesentlichkeit der Verletzung einen nicht zu unterschätzenden Nachteil, der vom Nachfrist-Modell vermieden wird: Es schafft Rechtsunsicherheit darüber, was als »wesentlich« von den Gerichten angesehen werden wird.83 Diese Rechtsunsicherheit ist gerade im Handelsverkehr bedenklich. Daher begegnet das CISG dieser Gefahr, in dem es gewisse Pflichtverletzungen aussondert und für diese alternativ das Nachfrist-Modell als Rücktrittsgrund vorsieht. Nach ergebnislosem Ablauf einer vom Gläubiger gesetzten Frist zur Leistung entsteht dann ebenfalls ein Recht zur Vertragsaufhebung. Dies betrifft das Ausbleiben der gesamten Leistung nach Art. 49 I lit. b sowie Art. 64 I lit. b CISG. Die Einschränkung des Grundsatzes der Wesentlichkeit erscheint gerechtfertigt. Das Ausbleiben der gesamten Leistung stellt für sich genommen auch die größte Gefahr für die Position des Gläubigers dar, zumal dieser regelmäßig nicht erkennen kann, aus welchen Gründen die Leistung ausbleibt und ob ein Leistungshindernis besteht. Diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, ist das Nachfrist-Modell gut geeignet. Die Unterschiede zum deutschen Recht sind letztlich nicht gravierend. Die Wesentlichkeit der Pflichtverletzung kann für die Ausnahmen vom Erfordernis der Fristsetzung in § 323 II BGB berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist auch im deutschen Recht anerkannt, daß bei Teil- oder Schlechtleistung für den Rücktritt vom ganzen Vertrag nach der Schwere der Pflichtverletzung differenziert werden muß. Insbesondere bei der Teilleistung müßten die Ergebnisse bei Anwendung von § 323 V 1 BGB und Art. 25 CISG ähnlich sein, denn nur bei einer wesentlichen Vertragsverletzung dürfte der Gläubiger sein Interesse am gesamten Vertrag verlieren. Freilich besteht in diesen Fällen bei Vorliegen einer wesentlichen Vertragverletzung nach dem CISG ein sofortiges Rücktrittsrecht, während das BGB das Nachfrist-Modell auch insoweit anwendet. Im Hinblick auf die Fälle der Schlechtleistung läßt das CISG die Vertragsaufhebung jedoch seltener zu 80 81
Schlechtriem, UN-Kaufrecht, Rn. 107. Die Voraussetzungen sind im einzelnen in Art. 25, 49 I lit. a und Art. 64 I lit. a CISG gere-
gelt. 82
S. auch Flessner ZEuP 1997, 255, 257. Überblick über die Fallgruppen, in denen die Rechtsprechung »Wesentlichkeit« bejaht, bei Staudinger-Magnus Art. 25 Rn. 20ff. 83
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als das BGB. Dies beruht darauf, daß die Schwelle der »Wesentlichkeit« in Art. 25 CISG eine höhere ist,84 als die der »Unerheblichkeit« in § 323 V 2 BGB. In den Fällen, in denen die Vertragsverletzung zwar nicht wesentlich im Sinne des CISG ist, sie aber dennoch nicht unerheblich im Sinne von § 323 V 2 BGB ist, kann der Gläubiger die Bindung an den Vertrag nur nach deutschem Recht beseitigen, nämlich wenn eine vom Gläubiger gesetzte Frist zur Nacherfüllung fruchtlos verstrichen ist. Auch wenn dies auf Kosten der Rechtssicherheit geht, dürfte bei der Auslegung des § 323 V 2 BGB eine methodisch mögliche Annäherung an das CISG vorzugswürdig sein.85 Denn nur wenn die Schlechtleistung von Gewicht ist, ist die vollständige Aufhebung an die Bindung an den Vertrag gerechtfertigt.
84 Die Schlechtleistung muß so gravierend sein, daß dem Käufer im wesentlichen das entgeht, was er vom Vertragschluß bei objektiver Sicht erwarten durfte, Staudinger-Magnus Art. 49 Rn. 9. 85 MünchKommBGB-Ernst § 323 Rn. 243; Staudinger-Otto § 323 Rn. C 30; s. aber Fn. 53, oben.
Zusammenfassung Teil I – Die Bindung an den Vertrag § 1 Vertragstheorie Eine juristische Theorie ist ein System von allgemeinen Prinzipien, die einem bestimmten Rechtsgebiet zugrunde liegen und die einzelne seiner Regeln widerspruchsfrei, als Teil eines Ganzen und rational begründen. Die Praxis besteht in der Anwendung der Regeln auf den Einzelfall. Die Positivität des Rechts ist im Begriff des Rechts angelegt. Die Bewertung des Rechts anhand einer Vertragstheorie ist von der Geltung des Rechts als Teil einer positiven Rechtsordnung zu unterscheiden. Rechtswissenschaft vereinigt die Methoden der Dogmatik, Philosophie und Geschichte. Die Aufgabe der Dogmatik ist es, auf der Grundlage der Wertungen und Normen des positiven Rechts ein möglichst in sich widerspruchfreies System von Regeln zu schaffen. Historische Theorien erklären das Recht vor dem Hintergrund seiner Genese. Die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist es, die vom positiven Recht unabhängigen sachlogischen Strukturen des Rechts aufzuzeigen. Interpretative Theorien geben vor, die Theorie aus der Praxis abzuleiten. Der dabei angewendete Maßstab von Rationalität bleibt letztlich unbestimmt. Normative Theorien entwickeln einen vom positiven Recht unabhängigen Maßstab von Normativität. Innerhalb dieser Richtung sind die Kombinationstheorien abzulehnen, wenn sie keine Metaregeln bereitstellen, mit deren Hilfe heterogene Topoi systematisiert werden können. Normative Vertragstheorie ist im Hinblick auf das Leistungsstörungsrecht von aktueller Bedeutung, weil nur anhand eines normativen Maßstabs die Güte der reformierten Regeln gewürdigt werden kann. Dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf eine mögliche Vereinheitlichung des Vertragsrechts auf Europäischer Ebene unerläßlich. Normative Vertragstheorie ist schließlich auch für die Rechtsvergleichung methodisch notwendig. Die weithin anerkannte funktionale Methode setzt einen vom positiven Recht unabhängigen Maßstab voraus, wenn sie mehr sein will als eine empirisch-soziologische Theorie. Der integrative Ansatz der Rechtsvergleichung, unter Einschluß von Dogmatik, Philosophie und Geschichte, ist geeignet, der deutschen Rechtswissenschaft einen wieder verstärkt universellen Charakter zu verleihen.
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§ 2 Subjektive Rechte – Das Erbe Kants Kants Rechtsphilosophie ist eine Philosophie des subjektiven Rechts. Ein subjektives Recht begründet die Befugnis, über einen bestimmten Ausschnitt aus der äußeren Welt zu herrschen, und legt anderen in dieser Hinsicht eine Verbindlichkeit auf, die sie sonst nicht hätten. Das angeborene Freiheitsrecht ist das Recht auf Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, soweit die Freiheit mit jedes anderen Freiheit zusammen bestehen kann. Das Postulat des Privatrechts besagt, daß es möglich ist, äußere Gegenstände der Willkür als etwas äußeres Meines zu haben. Dies ist eine Erweiterung der Freiheit über das angeborene Freiheitsrecht hinaus. Das Privatrecht enthält die Bedingungen der Möglichkeit erworbener Rechte. Darin eingeschlossen sind das Sachenrecht und das persönliche Recht. Wird ein persönliches Recht begründet, entsteht eine Verbindlichkeit, die Leistung zu bewirken, die der Schuldner ohne den Vertrag nicht hätte. Nach dem Postulat des öffentlichen Rechts ist der einzelne verpflichtet, im Verhältnis eines unvermeidlichen Nebeneinanders mit allen anderen in einen rechtlichen Zustand der austeilenden Gerechtigkeit einzutreten. Aufgabe des Staates und des positiven Rechts ist der Schutz der angeborenen und erworbenen subjektiven Rechte. Mittels der Durchsetzung durch Gerichte werden die wirklich bestehenden Rechte notwendig. Das subjektive Recht aus Vertrag beruht auf dem vereinigten Willen von Gläubiger und Schuldner. Die Bindung an den Vertrag verwirklicht das erworbene persönliche Recht. Das Versprechen der Leistung gehört mit Vertragschluß dem Gläubiger. Die Durchsetzung des Rechts durch staatlichen Zwang folgt aus dem Postulat des Privatrechts in Verbindung mit dem Postulat des öffentlichen Rechts. Die Bindung an den Vertrag folgt nicht aus der Tugendpflicht, daß Versprechen zu halten sind (Moralität der Handlung). Die Rechtspflicht ist auf die erzwingbaren äußeren Handlungen begrenzt (Legalität der Handlung). Hinsichtlich der Bindung an einen Vertrag sind Verbindungslinien zwischen Kants Rechtslehre und der von Grotius und Pufendorf erkennbar. Kants »kopernikanische Wende« in der Philosophie bedeutet jedoch einen Einschnitt innerhalb der Naturrechtstradition. Hegel, der die Naturrechtslehre fortführt, betont in Abgrenzung zu Kant die Positivität und Geschichtlichkeit des Rechts sowie die Funktion des Staates zur Sicherung der Sittlichkeit. Die historische Rechtsschule verfolgt einen am positiven Recht ausgerichteten Ansatz, der jedoch bei Savigny auf einem deutlich Kantisch geprägten Metaphysischen Fundament beruht.
§ 3 Subjektive Rechte – Moderne Theorien Moderne Theorien subjektiver Rechte im Privatrecht entwickeln unterschiedliche Ansätze, die Bindung an den Vertrag zu rechtfertigen. Nach Fried ist die Ko-
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operation durch Vertrag eine zentrale moralische Entdeckung. Die Bindung an den Vertrag im Einzelfall sei jedoch allein mit dem Schutz subjektiver Rechte nicht zu rechtfertigen. Diese folge vielmehr aus der Moralität: Verträge seien zu halten, weil man tun soll, was man verspricht. Diese zusätzliche Fundierung in der Moralität ist bedenklich, weil Fried damit die Tugendpflicht, den Vertrag zu erfüllen, zu einer Rechtspflicht erhebt. Rechtspflichten sind aber auf die äußeren Handlungen zu beschränken. Transfertheorien knüpfen an den Akt der Übertragung des Versprochenen an. Zentral für Barnett ist das Eigentumsrecht. Der Vertrag wird reduziert auf die Einwilligung des Rechtsinhabers zum Transfer des Eigentums. Diese Theorie berücksichtigt nicht in ausreichendem Maße, daß der Vertrag nicht nur Rechte überträgt, sondern auch ein Recht auf die Rechtsübertragung schafft. Die Bindung an den Vertrag wird daher nur unzureichend erfaßt. Bensons Theorie dagegen stellt zutreffend auf den vereinigten Willen ab. Die Bindung an den Vertrag resultiert bei ihm daraus, daß das Eigentum bereits bei Vertragschluß auf den Gläubiger übergeht. Der Schuldner entzieht ihm bei Nichterfüllung eine bereits zum Sachenrecht gestärkte Position. Diese Theorie ist abzulehnen, da sie den Unterschied zwischen persönlichem und Sachen-Recht weitgehend aufhebt. Mit dem Vertrag erwirbt der Gläubiger das Versprechen, nicht das Versprochene. Weinrib gründet seine als »Legal Formalism« bekannte Theorie auf die ausgleichende Gerechtigkeit und den Schutz subjektiver Rechte. Die ausgleichende Gerechtigkeit vermag die Parteien eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses in einer normativen Einheit von Recht und Pflicht zusammenzufassen. Während die eine Partei normativ »weniger« hat, als ihr nach ihrem subjektiven Recht zusteht, hat die andere normativ »mehr«. Der Verletzung des Rechts des Gläubigers korrespondiert eine Pflichtverletzung des Schuldners. Der Ausgleich ist dadurch vorzunehmen, daß der Richter den vertraglichen Schuldner verpflichtet, das zu tun, was dem subjektiven Recht des Gläubigers entspricht. Ein faktischer Nachteil aus der Rechtsverletzung ist durch Gewährung des positiven Interesses auszugleichen.
§ 4 Teleologische Theorien Teleologische Theorien fordern ebenfalls den Schutz subjektiver Rechte durch den Staat. Die durch das subjektive Recht begründete Rechtsmacht ist jedoch nur dann anzuerkennen, wenn sie einem als wertvoll erkannten Ziel dient. Bei Gordley ist dieser zentrale Wert das »gute Leben«. Zu diesem benötigten Menschen äußere Güter. Zweck des Rechts ist es, die gerechte Verteilung der Güter sicherzustellen. Die kommutative Gerechtigkeit stellt sicher, daß eine Person Güter erwerben kann, ohne daß der Anteil anderer an der Menge der Güter »unfair« verkleinert werde. Autonomie wird grundsätzlich nur insofern anerkannt, als die »richtige« Entscheidung getroffen wird. Beim Austauschvertrag sei die
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Gleichheit unter den Vertragspartnern auch in quantitativer Hinsicht sicherzustellen. Demgegenüber läßt der »perfektionistische Liberalismus« der Autonomie einen größeren Spielraum. Der Staat soll lediglich die Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb derer sich ein »wertvolles« und autonomes Leben entfalten kann. Verträge stellen nach dieser Auffassung ebenfalls keinen Selbstzweck dar, sondern sind nur insofern anzuerkennen, als sie einen Wert verwirklichen. Dieser Wert sei nicht in der Begründung von persönlichen Beziehungen zu sehen, sondern soll darin liegen, daß durch Verträge Kooperation auch zwischen Fremden ermöglicht wird. Die Bindung an den Vertrag sei nur in schwacher Form als Ausgangspunkt einer umfassenden Abwägung der mit dem Vertrag verfolgten Zwekke zu berücksichtigen. Jherings Interessentheorie verkörpert modellhaft die Wesenszüge einer teleologischen Theorie. Allerdings läßt er weitgehend offen, worin das substantielle Moment des Rechts im einzelnen zu sehen ist. Seine Theorie vermag als Basis für materielle Erwägungen im Vertragsrecht dienen.
§ 5 Utilitarismus und ökonomische Analyse des Rechts Das Ziel utilitaristischer Theorien ist es, die Glückseligkeit möglichst vieler in einer Gesellschaft zu fördern. Dies ist ein konsequentialistischer Ansatz: Die Folgen einer Handlung in der Welt der Erfahrung sind für ihre Bewertung als richtig oder falsch maßgeblich. Das Prinzip der Nützlichkeit Benthams enthält einen differenzierten Kosten/Nutzen Kalkül. Er wird ergänzt durch das »Interpersonelle Saldierungsgebot«: Auch dann, wenn die Bilanz einer einzelnen Person in hohem Maße negativ ist, ist die Handlung nach dem Prinzip der Nützlichkeit dennoch geboten, wenn der Nutzengewinn anderer Glieder der Gemeinschaft insgesamt höher als der Nutzenverlust des betroffenen Individuums ist. Mills These ist, daß Freud und Leid höherer Natur, wie sie in moralischen Gefühlen Ausdruck fänden, vorrangig für die »Nützlichkeit« einer Handlung zu berücksichtigen seien. Im Gegensatz zu Kant ist er der Auffassung, daß das Handeln nach hypothetischen Imperativen leicht möglich sei, weil einem die gesamte Erfahrung der Menschheit zur Verfügung stünde. Die Garantie subjektiver Rechte im Staat sei von vitalem Interesse für die Mitglieder einer Gesellschaft. Die Bindung an den Vertrag sei als das Wohl der Menschen steigernd anzuerkennen. Den Unterschied zwischen Bentham und Mill kann man auf den Unterschied zwischen Akt- und Regelutilitarismus zurückführen. Als juristische Theorie eignet sich nur das zweistufige Modell des Regelutilitarismus. Konsequentialistische Argumente sind dann nur für die Begründung einer Regel relevant, nicht aber für deren Befolgung. Nur innerhalb dieses Modells ist es möglich, eine unbedingt geltende Rechtspflicht und damit auch die Bindung an den Vertrag zu begründen.
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Die ökonomische Analyse des Rechts vermeidet die Schwierigkeiten einer inhaltlichen Bestimmung des Nutzens und knüpft statt dessen neutral an die Präferenzen der Beteiligten an. Ob das Pareto-Kriterium oder das Kaldor-HicksKriterium als Effizienzmaßstab anzuwenden ist, wird kontrovers beurteilt. Die ökonomische Analyse des Vertragsrechts ist ein Teilbereich der Ökonomie der Verträge. Eine Vielzahl ökonomischer Theorien entwickelt Modelle dafür, wann Verträge als Handlungsform effizient sind und welchen Inhalt sie haben sollten. Dabei wird von einem Großteil der Theorien eine strikte Bindung an den Vertrag vorausgesetzt. Lediglich die Transaktionskostentheorie fordert dazu auf, in die Vertragsfreiheit einzugreifen. Die Parteien bringen in der Realität ihre Interessen im Vertrag nur unvollständig zum Ausdruck. Ein Gericht sollte daher den Vertrag zur Steigerung des beiderseitigen Nutzens der Parteien vervollständigen. Zugleich wird jedoch zur Zurückhaltung bei der staatlichen Intervention gemahnt, denn letzten Endes seien die Parteien die besseren Hüter ihrer Interessen. Im einzelnen sind die Ergebnisse der verschiedenen Studien zum Vertragsrecht widersprüchlich, was nicht zuletzt auf den Mangel an empirischen Daten zurückzuführen ist. Ob die ökonomische Analyse des Vertragsrechts »erfolgreich« war, hängt davon ab, auf welche normativen Prämissen man die Vertragstheorie zurückführt.
§ 6 Formale und materielle Elemente im Vertragsrecht Die von Jhering aufgeworfene Frage nach der Abgrenzung zwischen formalen und materiellen Elementen im Recht ist von einem normativen Standpunkt aus zu beantworten. Zunächst sind einstufige konsequentialistische Modelle aus der weiteren Überlegung auszuscheiden. Eine Regel, wonach der Vertrag nur zu erfüllen sei, wenn dies im Einzelfall effizient ist, verkennt das Wesen vertraglicher Bindung. Der Schutz subjektiver Rechte ist die Basis der vorliegend vertretenen Vertragstheorie (das formale Element des Vertragsrechts). Das interpersonelle Saldierungsgebot ist damit nicht vereinbar. Eine deontologische Vertragstheorie trifft keine Aussage über die konkreten Interessen und Motive, aus denen Parteien einen Vertrag eingehen (das materielle Element des Vertragsrechts). Gerichte müssen den Willen der Parteien ermitteln, wenn sie das wirklich bestehende subjektive Recht schützen sollen. In dieser Hinsicht bieten konsequentialistische Modelle eine geeignete Methode, um den Willen der Parteien im konkreten Einzelfall oder in typisierten Szenarien nach dem Pareto-Kriterium zu bestimmen. Die Schaffung dispositiven Rechts, das den Willen der Parteien für bestimmte typische Situationen vorwegnimmt, läßt sich ebenfalls auf dieser Grundlage rechtfertigen. Konsequentialistische Argumente sind jedoch nur innerhalb der Dispositionsbefugnis der Parteien anzuerkennen. Die Bindung an den Vertrag selbst vermögen sie nicht aufzuheben.
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§ 7 Der Schutz subjektiver Rechte in der Dogmatik Wird der Schutz subjektiver Rechte als Grundlage des Privatrechts anerkannt, so entstehen daraus Implikationen für die sachlogischen Strukturen des positiven Rechts. Jedes System, das seinen Ausgang in subjektiven Rechten nimmt, muß zwischen drei normativen Ebenen unterscheiden: Auf der ersten Ebene wird die Möglichkeit des Rechts eingeführt. Als vorpositives Prinzip ist hier das Postulat des Privatrechts angesiedelt. Diesem entspricht im positiven Recht unter anderem die Anerkennung des Eigentums und der Vertragsfreiheit. Auf der zweiten Ebene werden die subjektiven erworbenen Rechte durch Rechtsakte wirklich begründet. Auf der dritten Ebene schließlich sind die wirklich begründeten Rechte durch das Gericht mit der Eigenschaft der Notwendigkeit auszustatten, also zwangsweise durchzusetzen. Das Postulat des öffentlichen Rechts ist das vorpositive Element dieser Ebene. Im positiven Recht ist es vor allem das Prozeßrecht, das den Schutz subjektiver Rechte im Privatrecht sicherstellt. Im deutschen Recht ist der Schutz subjektiver Rechte, der Ansprüche, zentraler Bestandteil der Dogmatik des bürgerlichen Rechts. Forderungen nach mehr Aktionendenken sind nicht grundsätzlich zu befürworten, da sie ein Übergewicht der dritten Ebene über das materielle Recht bedeuteten. Dabei entsteht die Gefahr, daß das Wesen der Ansprüche als materiell-rechtlicher Rechtsverhältnisse verkannt wird und das Recht einen fragmentarischen Charakter annimmt. Im englischen Recht ist der Einfluß des Denkens in Sanktionen noch viel stärker spürbar, so daß die subjektiven Rechte im englischen positiven Recht nur adäquat erfaßt werden können, wenn die prozeßrechtlichen Instrumente ihres Schutzes in Grundzügen bekannt sind.
Teil II – Leistungsstörungsrecht § 8 Grundlagen des Leistungsstörungsrechts Der Begriff der Vertragsverletzung bietet einen neutralen Anknüpfungspunkt unter Abstraktion von einzelnen Rechtssystemen. Eine Vertragsverletzung liegt vor, wenn eine vertraglich begründete Leistungspflicht nicht erfüllt wird. Das Prinzip pacta sunt servanda ist eine Folge des Postulats des Privatrechts in Verbindung mit dem Postulat des öffentlichen Rechts. Durch den Vertrag nimmt der Schuldner eine Verbindlichkeit auf sich, die er ohne den Vertrag nicht hätte. Die Verwirklichung der Bindung an den Vertrag sowie der Anspruch auf Schadensersatz bei seiner Verletzung sind rechtsgeschäftlicher Natur. »Gesetzlich« sind beide Ansprüche insofern, als sie vom positiven Recht als subjektive Rechte anerkannt werden müssen. Ohne den Vertrag wäre aber keine der beiden Verbindlichkeiten entstanden. Daher wurzeln sie in dem Rechtsakt des Vertrages und ver-
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wirklichen das Leistungsinteresse des Gläubigers. Das Schutz- oder Integritätsinteresse des Gläubigers ist jedoch nicht genuin vertraglicher Natur, sondern auf den allgemeinen Rechtsgüterschutz zurückzuführen. In der Leistungspflicht treten die sachlogischen Strukturen des Schuldvertrages und die Bindung an den Vertrag besonders klar zum Vorschein. Der Leistungszwang ist in dem subjektiven Recht aus dem Vertrag selbst angelegt, da dies ein Zwangsrecht ist. Der Leistungszwang verwirklicht die Bindung an den Vertrag unmittelbar. Die Grenze der Leistungspflicht ist die Unmöglichkeit der Leistung durch den Schuldner. Die Gewährung von Schadensersatz ist ein materiell-rechtliches subjektives Recht, das nicht unmittelbar aus der Bindung an den Vertrag abgeleitet werden kann. Der Schadensersatzanspruch beruht auf dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit und bezweckt die Aufhebung einer Rechtsverletzung durch wertmäßigen Ausgleich. Der Anspruch auf Schadensersatz setzt die Zurechenbarkeit der Vertragsverletzung voraus. Die Bedeutung der Begriffe »Primär- und Sekundäranspruch« ist auf folgende sachlogische Struktur beschränkt: Der Anspruch auf Schadensersatz ist »sekundär« im Hinblick auf das verletzte »primäre« Recht auf die Leistung. Während die Unmöglichkeit im Hinblick auf den Primäranspruch nur in ontologischer Hinsicht relevant ist, ist sie hinsichtlich des Sekundäranspruchs als Zurechnungsfaktor erheblich. Die beiden Aspekte sind streng zu trennen (»dualistisches System«). Die Vertragsaufhebung bezweckt die Befreiung des Gläubigers von der Pflicht, die Gegenleistung zu erbringen. Dieses Selbsthilferecht ist im wesentlichen pragmatisch begründet und beruht darauf, daß die Durchsetzung des Leistungsinteresses des Gläubigers letztlich nicht garantiert werden kann.
§ 9 Der Primäranspruch – Grundlagen Im civil law ist der Primäranspruch der Grundsatz, im common law die Ausnahme. Welche Sichtweise vorzugswürdig ist, folgt aus vertragstheoretischen Erwägungen. Gegen den Primäranspruch sowie die Maßgeblichkeit des Leistungsinteresses überhaupt sind eine Reihe von deontologischen und teleologischen Argumenten vorgebracht worden. Eine Extremversion dieser vertragskritischen Schule betrachtet Verträge lediglich als äußeres Zeichen der Anerkennung einer stets außervertraglich begründeten Haftung. Nach der Vertrauenstheorie fordert die ausgleichende Gerechtigkeit im Falle der Vertragsverletzung nur den Ausgleich des Vertrauensschadens. Weder der Leistungszwang noch der Ausgleich des positiven Interesses seien, für sich selbst betrachtet, legitime Aufgaben des Vertragsrechts. Einen ähnlichen Ansatz vertritt der perfektionistische Liberalismus, wenn er zwar die Praxis der Verträge als wertvoll anerkennt, aber zum Schutz dieser Praxis den Ersatz des negativen Interesses für hinreichend hält und jeden darüber hinausgehenden staatlichen Zwang als dem harm principle zuwider ablehnt.
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Die Widerlegung der Einwände erfolgt in zwei Schritten. Zunächst ist der vertragsskeptischen These entgegenzuhalten, daß nach dem Postulat des Privatrechts die Begründung eines subjektiven Rechts durch den Schuldvertrag möglich ist. Der Gläubiger hat mittels des Vertragschlusses ein Recht gegen den Schuldner dahin gehend, daß dieser ihm eine gewisse Leistung erbringe. In einem zweiten Schritt folgt aus der Natur des subjektiven Rechts als Zwangsrecht, daß nach dem Postulat des öffentlichen Rechts, ein solches wirklich bestehendes Recht notwendigen Charakter erhalten muß. Daraus folgt die grundsätzliche Berechtigung des Leistungszwangs. Allerdings unterliegt die Ausübung staatlicher Gewalt zur Durchsetzung subjektiver Rechte dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Bei der Bestimmung des rechten Maßes des Leistungszwangs besteht ein Spielraum für das positive Recht. Der Primäranspruch und der in ihm angelegte Leistungszwang sind a priori durch die Möglichkeit der Leistung begrenzt. Dies ist der ontologische Aspekt der Unmöglichkeitsregeln. Die Leistung von Schadensersatz ist in der Regel nicht als Primäranspruch einzuordnen. Dem Schuldner steht es nicht regelmäßig frei, zu leisten oder bei Nichtleistung den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen; er ist nicht befugt, in das im Primäranspruch verkörperte Recht gegen den Willen des Gläubigers einzugreifen. Für das common law ist die Deutung des Vertrages als disjunktive Obligation ebenfalls verfehlt. Der Lehrsatz, daß die Parteien die besten Hüter ihrer Interessen sind, spricht für den Primäranspruch, weil nur dann die uneingeschränkte Durchführung des Vertrages effizient ist. Auch von Seiten der ökonomischen Analyse, insbesondere der Theorie des efficient breach, werden jedoch unter Hinweis darauf, daß aufgrund von Transaktionskosten Verträge regelmäßig unvollständig und ineffizient seien, Einwände gegen den Primäranspruch erhoben. Diese Einwände sind unberechtigt. Es ist nicht der Fall, daß der mutmaßliche Wille der Parteien darauf gerichtet ist, den Primäranspruch regelmäßig auszuschließen. Die These, wonach ein Vertrag zu verletzen sei, wenn dies hinsichtlich des Ergebnisses des Leistungsaustauschs effizient wäre, verkennt das Wesen der vertraglichen Bindung und ist bereits aus diesem Grunde abzulehnen. Zwar mag vom Standpunkt des interpersonellen Saldierungsgebotes der Vertragsbruch bei einem besseren Angebot Dritter effizient erscheinen, dem mutmaßlichen Willen des Gläubigers entspricht diese Leistungsverweigerung jedenfalls nicht. Zum einen kann der geschuldete Gegenstand durch ihn weiterveräußert werden, zum anderen kann sich der Schuldner von seiner Leistungspflicht freikaufen. Es ist zudem unplausibel anzunehmen, daß die Transaktionskosten bei Vertragsbruch geringer sind als bei Gewährung des Primäranspruchs. Seine Einschränkung läßt sich schließlich auch nicht auf das Kriterium der Einzigartigkeit von Ware stützen. Auf der Basis eines gemeinsamen mutmaßlichen Parteiwillens läßt sich allenfalls in den Fällen ein Leistungsverweigerungsrecht begründen, in denen die Produktionskosten des Schuldners über das Leistungsinteresse des Gläubigers an-
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steigen. Dabei wird unterstellt, daß es für den Gläubiger keinen Unterschied macht, ob er die Leistung selbst oder Schadensersatz erhält. Da diese Annahme problematisch ist, ist das Leistungsverweigerungsrecht auf Extremfälle zu beschränken. Es wäre zudem nach dem mutmaßlichen Willen des Gläubigers an eine strikte Entschädigungspflicht zu knüpfen. Eine alternative Rechtfertigung dieses Leistungsverweigerungsrechts folgt aus dem utilitaristischen Verrechnungsprinzip, das jedoch die Zustimmung des Gläubigers nicht voraussetzt.
§ 10 Der Primäranspruch – Dogmatik Der Primäranspruch ist im deutschen Recht auf materiell-rechtlicher Ebene ein regelmäßiger Rechtsbehelf des Gläubigers bei Vertragsverletzung, der prozessual vor allem mit der Leistungsklage durchgesetzt werden kann. Die Besonderheit des deutschen Rechts besteht darin, daß es dem Primäranspruch einen gewissen Vorrang gegenüber den weiteren Rechten des Gläubigers bei Vertragsverletzung einräumt. Nach dem Nachfrist-Modell muß der Gläubiger dem Schuldner grundsätzlich Gelegenheit geben, die Leistung bei Vertragsverletzung nachzuholen. Das Erfordernis der Mahnung bewirkt, daß der Verzögerungsschaden nur nach einer Warnung des Schuldners ersatzfähig ist. Das Nachfrist-Modell ist hinsichtlich der Vertragsaufhebung durch den Grundsatz pacta sunt servanda gerechtfertigt. Schadensersatz und Rücktritt sind in ihren Voraussetzungen und Wirkungen streng zu unterscheiden. Hinsichtlich des Schadensersatzes sind Mahnung und Nachfrist nur pragmatisch gerechtfertigt, da es an sich Sache des Gläubigers ist, ob er den Primär- oder den Sekundäranspruch geltend macht. Wenn der Gläubiger zunächst mit dem Schuldner kooperieren, bzw. auf den drohenden Schaden hinweisen muß, werden, so die Annahme, Transaktionskosten vermieden, die anfallen könnten, wenn der Gläubiger den Sekundäranspruch sofort geltend machen würde. Zu diesem Zweck wäre statt Nachfrist und Mahnung nicht zuletzt die allgemeine Schadensminderungsobliegenheit geeignet gewesen, das deutsche Recht geht jedoch in dieser Hinsicht einen anderen Weg als das common law. Wenn der Gläubiger dem Schuldner keine Gelegenheit zur Nacherfüllung gibt, sondern den Leistungserfolg selbst herbeiführt, ist der Ausschluß des Rücktrittsrechts berechtigt. Der völlige Ausschluß der Rechte des Gläubigers begegnet in einem solchen Fall jedoch grundlegenden Bedenken. Damit würde ein apriorisch begründetes wohlerworbenes Recht bloß instrumentellen Erwägungen geopfert. Dogmatisch ist dieser Fall über die Anwendung des § 326 II 2 BGB zu lösen. Die Einführung der Nacherfüllung beim Stückkauf harmoniert mit den vorpositiven Grundlagen. Sie ist entgegen einer verbreiteten Meinung jedoch auf die Nachbesserung beschränkt. Liegt ein »Stückkauf« vor, wenn die Parteien die Leistungspflicht auf eine bestimmte Sache beschränken, dann ist die Befugnis zur Lieferung einer anderen Sache mit vertraglichen Prinzipien nicht zu rechtfertigen.
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Das deutsche Recht differenziert hinsichtlich der Vollstreckung des Primäranspruchs zunächst danach, ob wegen einer Geldforderung vollstreckt wird oder wegen der Bewirkung einer sonstigen Handlung oder Unterlassung. Die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen ist in der Regel ein verhältnismäßiger Eingriff in die Rechte des Schuldners und findet nur in der Bedrohung der Existenz des Schuldners als natürliche Person eine Grenze. Die Zwangsvollstreckung wegen Herausgabe von Sachen ist vor allem hinsichtlich der Herausgabe bestimmter Sachen praktisch relevant. Bei vertretbaren Sachen ist sie wenig effektiv, weil weder Zwangsmittel noch Ersatzvornahme zulässig sind. Für die Vollstreckung vertretbarer Handlungen ist die Ersatzvornahme als mildester Eingriff vorgesehen. Diese dient der Durchsetzung des Primäranspruchs und ist kein verkappter Sekundäranspruch. Die Zwangsvollstreckung nicht vertretbarer Handlung erfolgt mit Zwangsmitteln. Hier sind weitgehende Einschränkungen vorgesehen. Alternative Lösungen sind im Hinblick auf eine mögliche Vereinheitlichung des Vertragsrechts zu würdigen. Im common law ist die Vollstreckung von Geldforderungen wie im deutschen Recht unproblematisch. Der Leistungszwang ist in den übrigen Fällen jedoch einerseits strenger ausgestaltet, wird aber andererseits seltener angeordnet. Insbesondere ist die Entscheidung über die Angemessenheit des Primäranspruchs und den ihm inhärenten Leistungszwang nicht dem Gläubiger, sondern dem Gericht zugewiesen. Im einzelnen sind die Grenzen des Leistungszwangs umstritten und nur anhand einer aufwendigen Ermessensentscheidung im Einzelfall zu klären. Die Zahl der Befürworter einer großzügigeren Handhabung der Regeln hat in den letzten Jahren zwar zugenommen, da diese Differenzen zwischen civil law und common law aber letztlich auf ein unterschiedliches Verständnis der Aufgabe der Gerichte und des Rechtsschutzes zurückzuführen sind, ist eine Verschmelzung nach Art der Principles nicht erfolgversprechend. Die kollisionsrechtliche Entschärfung dieser Differenzen, wie sie das CISG vorsieht, ist die einzig angemessene Lösung. Die Grenze der Leistungspflicht wird durch die Unmöglichkeitsregeln in ihrer ontologischen Bedeutung gebildet. Der maßgebliche Gesichtspunkt ist dabei, ob die Kausalität der Willkür des Schuldners existiert, die Leistung zu bewirken. Der Anwendung der Unmöglichkeitsregeln muß eine sorgfältige Bestimmung des Parteiwillens vorausgehen: Die genaue Bestimmung des Ausschnitts aus der Willkür der Person des Schuldners, den das Recht auf die Leistung umfaßt, ist unerläßlich, um im Einzelfall eine mit der Privatautonomie vereinbare Anwendung der Unmöglichkeitsregeln sicherzustellen. Das Leistungsverweigerungsrecht wegen Unverhältnismäßigkeit der Kosten beruht auf dem mutmaßlichen Willen der Parteien. Der Unterschied zwischen der allgemeinen Regel in § 275 II BGB und den Leistungsverweigerungsrechten des besonderen Schuldrechts ist darin zu sehen, daß die Interessen der Parteien im letzteren Fall leichter typisiert werden können. Dennoch ist auch in diesen Fällen
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eine strenge Handhabung dieser Einschränkung der Bindung an den Vertrag zu befürworten; stets ist das Leistungsinteresse im Einzelfall von ausschlaggebender Bedeutung. Das Leistungsverweigerungsrecht wegen persönlicher Unzumutbarkeit beruht auf dem Notstandsgedanken.
§ 11 Der Sekundäranspruch – Grundlagen Über die Grenzen der Rechtssysteme hinweg besteht Einigkeit, daß bei Vertragsverletzung ein Schadensersatzanspruch zu gewähren ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der solche Ansprüche gewährt werden, ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderung im Regelfall verhältnismäßig und auch effektiv ist. Der Sekundäranspruch beruht auf einem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit. Er ist nicht unmittelbar von der Bindung an den Vertrag abgeleitet, sondern bezweckt die Schaffung eines erfüllungsähnlichen Zustands durch wertmäßigen Ausgleich. Der Sekundäranspruch ist auf den Ausgleich des positiven Interesses gerichtet. Das negative Interesse hat keine intrinsische Verbindung zu den vertraglich begründeten subjektiven Rechten des Gläubigers. Eine einseitige Gewinnabschöpfung ist ebenso abzulehnen wie der Strafschadensersatz; in beiden Fällen ist eine Rechtfertigung durch das Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht möglich. Es gibt keine vertragliche Begründung dafür, den entsprechenden Betrag in diesen Fällen dem Gläubiger zuzusprechen. Einzige Voraussetzung des Sekundäranspruch ist eine zurechenbare Vertragsverletzung. Sie ergibt sich daraus, daß der Anspruch die Aufhebung eines Unrechts bezweckt. Da der Anspruch damit an ein Fehlverhalten (wrong) des Schuldners anknüpft, setzt er die Zurechnung der Vertragsverletzung voraus. Dies unterscheidet ihn vom Primäranspruch, der unabhängig davon besteht, ob die Nichtleistung zurechenbar ist. Zur Schuld zuzurechnen ist ein Verhalten, wenn der Schuldner als moralischer Urheber einer widerrechtlichen Handlung angesehen werden kann – wenn er freiwillig handelt. Das ist das »Verschuldensprinzip« nach seiner ursprünglichen Funktion. Der Zurechnungsgegenstand wird durch die Verhaltensregeln unveränderbar festgelegt. Wenn die Leistungspflicht in einer Pflicht zu einem aktiven Tun besteht, ist Gegenstand der Zurechnung eine Unterlassung. Zurechnung setzt die Anwendung von Zurechnungsregeln auf ein Verhalten, das Verhaltensregeln unterliegt, voraus. Folgende Zurechnungsregeln bilden ein vollständiges System: Die Freiwilligkeit einer Handlung (als Oberbegriff von positivem Tun und Unterlassen) ist negativ als Abwesenheit von Zwang und Unwissenheit bestimmt. Liegt weder Zwang noch Unwissenheit vor, ist die Handlung ordentlich zurechenbar (actio libera). Liegt zwar Zwang oder Unwissenheit vor, ist die Handlung dennoch (außerordentlich) zurechenbar, wenn der Schuldner für das Vorliegen des Zwangs oder der Unwissenheit verantwortlich ist (actio li-
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bera in causa). Die Verantwortlichkeit des Schuldners bestimmt sich im Rahmen der Zurechnung nach den unselbständigen Sorgfaltspflichten. Diese enthalten im Gegensatz zu Pflichten auf der Ebene der Verhaltensregeln nur ein schwaches, bedingtes Sollen. Auf sie kommt es nur im Rahmen der außerordentlichen Zurechnung an. Die Parteien können den Grad der erforderlichen Sorgfalt selbst regeln. Sind die Voraussetzungen des Sekundäranspruchs gegeben, ist die Haftung auf das positive Interesse gerichtet. Zur Bestimmung der Höhe des Ausgleichs sind eine Reihe weiterer Regeln erforderlich, die den Haftungsumfang festlegen. Den größtmöglichen Umfang bestimmt die Bedingungstheorie, die jedoch einzuschränken ist. Von den drei die Haftung einschränkenden Kriterien: Adäquanz, Voraussehbarkeit und Schutzzweck, ist allein die Schutzzwecklehre mit den vorpositiven Grundlagen des Sekundäranspruchs vereinbar. In der Sache bestehen aber keine großen Unterschiede zwischen dem englischen und dem deutschen Recht. Aus dem Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit folgt schließlich, daß die Mitverantwortlichkeit des Gläubigers relevant ist und daß ihn eine Schadensminderungsobliegenheit trifft. Die Reichweite der ökonomischen Analyse des Sekundäranspruchs ist begrenzt: Der Ausgleich des positiven Interesses ist ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit; er kann also nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Vertragsparteien können jedoch zahlreiche Aspekte des Sekundäranspruchs regeln, insofern besteht auch ein erheblicher Anwendungsbereich für konsequentialistische Untersuchungen. Die Zurechnungsregeln können nur insofern Gegenstand der Parteivereinbarung sein, als eine nicht-vorsätzliche Vertragsverletzung im Raume steht. Die Parteien können vor allem die Regeln der außerordentlichen Zurechnung verändern. Mangels einer Parteivereinbarung wäre ein Gericht aufgefordert, die Verantwortlichkeit des Schuldners unter Anwendung von unselbständigen Sorgfaltspflichten zu klären. Dies schafft insbesondere im Handelsverkehr erhebliche Rechtsunsicherheit, was sich etwa anhand der Beschaffungspflicht bei der Gattungsschuld aufzeigen läßt. Aus diesen Gründen können Parteien ein Interesse an der Vereinbarung einer Garantie haben, oder daran, die Haftung in einer bestimmten Hinsicht auszuschließen. Die Annahme eines generellen mutmaßlichen Garantiewillens ist jedoch unplausibel. Die Learned-Hand-Formel zur Bestimmung der unselbständigen Sorgfaltspflicht ist nur ein sehr grober Indikator der Interessenlage. Eine Bestimmung der Sorgfalt anhand der im Vertrag im Einzelfall übernommenen Risiken und anhand typisierter Verkehrsinteressen ist zur Konkretisierung der objektivierten Sorgfalt besser geeignet. Was die Höhe des Ausgleichs angeht, ist das positive Interesse auch aus Sicht einer regelutilitaristischen Theorie vorzugswürdig. Der Einwand ineffizienter Aufwendungen des Gläubigers im Vertrauen auf die Leistung ist nicht tragfähig, zumal die praktische Relevanz des Problems geringer ist, als gemeinhin angenommen wird. Die Voraussehbarkeit des Schadens ist auch aus öko-
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nomischer Sicht für sich genommen kein sinnvolles Kriterium der Haftungsbegrenzung. Es ist von vornherein nur im Rahmen des Schutzzwecks des Vertrages beachtlich.
§ 12 Der Sekundäranspruch – Dogmatik Der Sekundäranspruch setzt nach den Regeln des deutschen Rechts die Zurechenbarkeit der Vertragsverletzung voraus. Das Verschuldensprinzip wie es in § 276 I BGB normiert ist, erfaßt mit Hilfe der Kategorien von Vorsatz und Fahrlässigkeit alle vorpositiv für relevant befundenen Zurechnungsregeln. Die wichtigsten Anwendungsfälle sind der Tatsachenirrtum, der Rechtsirrtum und die Unmöglichkeit der Leistung. In allen Fällen ist eine außerordentliche Zurechnung vorzunehmen: in den Irrtumsfällen, wenn der Irrtum vermieden werden konnte und mußte, in dem Fall der Unmöglichkeit, wenn der Schuldner für die Umstände, aufgrund derer die Leistung unmöglich ist, verantwortlich ist. Die Verantwortlichkeit wird durch die objektivierte Sorgfalt bestimmt. Der Schuldner ist für seine Unwissenheit oder den Zwang verantwortlich, wenn er eine unselbständige Sorgfaltspflicht verletzt. Der Begriff des Vertretenmüssens ist erforderlich, weil das Verschuldensprinzip in § 276 BGB Abweichungen von den Zurechnungsregeln aufgrund Parteivereinbarung nicht erfaßt. Die Verortung der Garantie und der Übernahme des Beschaffungsrisikos beim Vertretenmüssen ist eine Verbesserung durch die Schuldrechtsreform. Das Erfordernis der Zurechnung zur Schuld ist nach Grundsätzen a priori einer strikten Haftung überlegen; die Frage, wann es gerechtfertigt ist, anzunehmen, daß die Parteien eine abweichende Vereinbarung treffen, ist allein nach Erfahrungsregeln zu beantworten. Das deutsche Recht sieht eine Garantiehaftung hinsichtlich der finanziellen Leistungsfähigkeit und bei der Gattungsschuld hinsichtlich der Beschaffungspflicht vor. Das common law normiert dagegen im Ausgangspunkt eine Garantiehaftung, die jedoch in wesentlicher Hinsicht relativiert wird. Für den praktisch wichtigen Bereich professioneller Dienstleistungen gilt keine Garantiehaftung. Für die übrigen Fälle ist zu berücksichtigen, daß über den Einwand der frustration der Einwand Beachtung finden kann, daß der Schuldner aufgrund eines Leistungshindernisses, das jenseits seiner Kontrolle ist, nicht leistet. Dies ist der Gesichtspunkt der außerordentlichen Zurechnung bei Zwang. Zu beachten ist auch, daß aufgrund der Unsicherheiten bei der Durchsetzung des Primäranspruchs im englischen Recht der Gläubiger ein erhöhtes Interesse an der Garantiehaftung haben wird. Eine generelle Übernahme des englischen Modells empfiehlt sich nicht, wenn auch im Einzelfall eine Übertragung der Garantielösung zu erwägen ist. Der Ansatz des CISG ist aufgrund der spezifischen Interessenlage beim internationalen Warenkauf und Handelsverkehr gerechtfertigt. Als Ausgangspunkt einer von Vertragstypen und Interessenlagen abstrahierenden Grundregel des eu-
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ropäischen Vertragsrechts ist diese Lösung jedoch ungeeignet und auch regelungstechnisch abzulehnen. Hierfür bietet § 276 BGB eine bessere Lösung, die ausreichend Spielraum für abweichende Bestimmungen durch den Parteiwillens im Einzelfall oder in typisierter Form zuläßt. Die Ausgestaltung des Sekundäranspruchs in den §§ 280ff. BGB ist angemessen. § 280 I BGB erfaßt als Grundregel und Auffangtatbestand alle Fälle des positiven Interesses. Die Differenzierung in Schadensersatz statt der Leistung, wegen Verzögerung der Leistung und einfachen Schadensersatz sollte allein hinsichtlich der Funktion der zusätzlichen Erfordernisse der Nachfrist und der Mahnung erfolgen. Der Schadensersatz statt der Leistung ist nach einem zeitlich-dynamischen Kriterium von dem übrigen Schadensersatz abzugrenzen. Es kommt dabei auf die Vermeidbarkeit des Schadens durch Nachholung der Leistung an. Ist der Schaden bereits endgültig eingetreten, scheidet der Schadensersatz statt der Leistung aus; es muß nur noch entschieden werden, ob der Schaden als Verzögerungsschaden oder einfacher Schadensersatz einzuordnen ist. Die Einordnung als Verzögerungsschaden ist geboten, wenn der Warnzweck der Mahnung einschlägig ist. Die Erfordernisse der Nachfrist und Mahnung verändern das Rechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Die Änderung auf der Ebene der Verhaltensregeln wirkt sich auf den Gegenstand der Zurechnung aus: Zeitlicher Bezugspunkt des Schadensersatzes statt der Leistung ist daher grundsätzlich der Ablauf der Nachfrist. Der Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung setzt Vertretenmüssen zum Zeitpunkt der Mahnung voraus. In vielen Fällen wird aber mittelbar ein »Vorverschulden« ausreichen, etwa bei Anwendung des § 287 S. 2 BGB. Der Anspruch auf Aufwendungsersatz in § 284 BGB ist als Recht auf Ersatz des positiven Interesses zu erklären und zu rechtfertigen. Diesen Zusammenhang zeigt die weiterhin geltende Rentabilitätsvermutung auf. Bei nicht-wirtschaftlicher Zweckrichtung des Vertrages stellen die Aufwendungen eine geeignete Meßlatte für die Bewertung des ideellen Leistungsinteresses dar. Der Schadensersatz wegen anfänglicher Unmöglichkeit ist kein Sekundäranspruch. Wenn das Recht auf die Leistung gar nicht erst entsteht, kann in dieser Hinsicht auch kein widerrechtlicher Zustand zuzurechnen sein. Eine denkbare vorvertragliche Pflichtverletzung kann den Ersatz des positiven Interesses nicht rechtfertigen. Der Anspruch auf das positive Interesse ist auf der Basis des mutmaßlichen Parteiwillens als Primäranspruch gerechtfertigt. Dieser setzt zwar kein Vertretenmüssen voraus, jedoch ist regelmäßig anzunehmen, daß der Schuldner an der Begründung einer Haftung, die er nicht beeinflussen kann, kein Interesse hat. Daher ist die Haftung auf Kenntnis oder vertretbare Unkenntnis beschränkt.
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§ 13 Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung Die Vertragsaufhebung wegen Vertragsverletzung unterscheidet sich grundlegend von dem Primär- und dem Sekundäranspruch. Während diese Rechte das Leistungsinteresse des Gläubigers dem Schuldner gegenüber durchzusetzen vermögen, soll die Vertragsaufhebung dem Gläubiger ermöglichen, seine Bindung an den Vertrag hinsichtlich der Gegenleistung aufzuheben. Dieses Selbsthilferecht beruht auf der Einsicht, daß der staatliche Schutz des Leistungsinteresses unvollkommen ist. Dem Gläubiger ist daher bei hinreichender Gefährdung seines Leistungsinteresses zu gestatten, sich vom Vertag loszusagen, die darin gebundenen Mittel zu lösen und sein Leistungsinteresse anderweitig zu befriedigen. Das Recht zur Vertragsaufhebung folgt aus der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten. Wenn die Leistung des Schuldners und das Leistungssubstitut endgültig ausbleiben, entfällt die innere Rechtfertigung dafür, den Gläubiger zur Gegenleistung zu zwingen. Es besteht ein erheblicher Spielraum bei der Ausgestaltung des Aufhebungsrechts. Allerdings sollte es nicht der Ausübung durch ein Gericht vorbehalten bleiben und auch nicht das Vertretenmüssen der Vertragsverletzung voraussetzen. Die Folgen der Vertragsaufhebung unterliegen den vorpositiven Prinzipien der Restitution, die jenseits des Gegenstands der Arbeit liegen. In dogmatischer Hinsicht bestehen mit dem Nachfristmodell, dem Auslegungsmodell und dem Kombinationsmodell drei Varianten der Ausgestaltung im positiven Recht. Das Auslegungsmodell hat den Vorzug, daß zumindest im Ausgangspunkt die Parteien wissen, woran sie sind. Es hat aber den Nachteil, daß auch nur geringfügige Vertragsverletzungen das schneidige Auflösungsrecht begründen. Zudem bestehen erhebliche Unsicherheiten bei der Auslegung der entsprechenden Vertragsbestimmungen. Demgegenüber ist das Nachfristmodell des deutschen Rechts mit größerer Rechtssicherheit verbunden. Hinsichtlich des Ausbleibens der gesamten Leistung ist es auch im CISG übernommen worden. Bleibt die Leistung vollständig aus, besteht ein praktisches Bedürfnis für den Gläubiger, durch ein einfaches Verfahren Klarheit über seine Rechte zu schaffen. Hinsichtlich der Teilleistung ist der Ansatzpunkt des CISG und des deutschen Rechts ähnlich. Für die Schlechtleistung wäre hinsichtlich des Rücktritts vom ganzen Vertrag eine Anhebung der Stufe der Erheblichkeit im deutschen Recht angemessen, wenn auch die Schwelle der wesentlichen Vertragsverletzung im CISG höher anzusetzen ist.
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Sachregister Actio libera in causa siehe Zurechnung Allgemeines Prinzip des Rechts 32ff, 63ff, 86f, siehe auch Gerechtigkeit Anspruch 167ff, 195 Aufwendungsersatz 350ff Auslegung 154ff, 231, 274f, 310, 373ff Austauschvertrag 361ff Autonomie 93ff Culpa in contrahendo 356 Damages 177, 331ff, siehe auch Schadensersatz Disjunktive Obligation 225ff, 284, 331 Dispositives Recht 138f, 155ff, 231, 278, 310, 357f Dogmatik 11ff, 24, 26, 62 Effizienz 107, 122ff, 146ff, 229ff, 278ff, 290, 310ff – efficient breach 232ff, 290ff – Kaldor-Hicks-Kriterium 127ff, 151f, 158, 232 – Learned-Hand-Formel 314ff – Pareto-Kriterium 125ff, 158, 232, 278ff, 317 – Transaktionskosten 127, 133ff, 234ff Eigentum 43f, 54, 59, 61, 67, 166 Equity 174ff, 264 Erfüllungsgehilfe 330 Erkenntnisverfahren 162ff, 288 Ersatzvornahme 260f. Fahrlässigkeit siehe Zurechnung Freiheit – negative 33f, 38 – positive 34, 38, 50 – Erweiterung 37f, 44ff, 54, 66ff, 184
Freiheitsrecht 33, 35, 38, 54, 67, 184ff Frustration 334ff Garantie 303ff, 312ff, 327ff, 357f, siehe auch Zurechung Gattungsschuld 274, 313ff, 328 Gegenseitiger Vertrag 360ff Geltung 9f Gemeinschaft 44 Gerechtigkeit – austeilende 42, 81ff, 91ff, 164 – ausgleichende 80ff, 91ff, 164, 203f, 212, 289, 293ff, 361ff, – beschützende 85 – siehe auch allgemeines Prinzip des Rechts Geschäftsgrundlage 281f Gestaltungsrecht 369ff Gewinnabschöpfung 290ff Gleichheit 82ff, 92 Harm principle 215f Imperativ – kategorische 47f, 109, 144ff, – hypothetische 49, 108ff, 144ff Insolvenz 256f Intelligibler Besitz 36, 39ff, 154, 183 Kausalität 43, 154, 306f Klagrecht 197f Kündigung 370f, siehe auch Vertragsaufhebung Leistungsstörung 231, siehe auch Schutzinteresse Leistungserschwerung 236ff, 277ff Leistungsinteresse 188ff, 212ff, 287ff, 361ff
412
Sachregister
Leistungspflicht 194ff, 325ff, 359ff Leistungszwang 195ff, 218ff, 253ff, 283ff, 361, siehe auch specific performance Nacherfüllung 249ff, 345ff Nachfrist 243ff, 366ff, 342ff, 366ff Naturrecht 1, 8ff, 42, 58f, 62, 65, 78, 160f, 164ff Naturzustand siehe Postulat des öffentlichen Rechts Negatives Interesse siehe Schadensersatz Neminem laede 184ff Normativ 12, 15ff, 19ff, 78, 86f, 123 Ökonomische Analyse – des Rechts 20, 122ff, 143ff, 229ff, 310ff – von Verträgen 129ff – siehe auch Effizienz Pacta sunt servanda 184ff, 211ff, 245f, 287, 360f, 370 Paternalismus 102, 106 Rechtsphilosophie 11ff Positives Interesse siehe Schadensersatz Positives Recht 6f, 10f, 59, 62, 64, 70, 164ff, 185, 188, 363 Positivismus 8ff, 65, 171 Postulat des öffentlichen Rechts 41ff, 219 – Bürgerliche Verfassung 42, 85, 99, 163, 186, 219 – Naturzustand 41f, 65, 183, 219 Postulat des Privatrechts 35ff, 66, 80, 103, 169, 183, 217f – Erlaubnisgesetz 36f Praxis 6f Primäranspruch 204ff, 210ff, 241ff, 285, 342f, 357f, siehe auch Leistungszwang Rationalität 7, 12, 16f, 108f, 123f, 143 Rechtsgeschichte 11ff, 62 Rechtspflicht 34, siehe auch Imperativ Rechtsvergleichung 25ff, 207 Rechtsverhältnis 63ff, siehe auch subjektives Recht Remedies 175ff, 264ff Rücktritt 359ff, siehe auch Vertragsaufhebung
Schadensersatz – Adäquanz 307ff – Betriebsausfallschaden 349ff – einfacher 348ff – Differenzmethode 248 – Integritätsinteresse 192, 305, 340 – Mitverschulden 309f, 341f – negatives Interesse 213, 289ff, 317ff, 340f, 350f, 356f – Nichtvermögensschaden 352f – positives Interesse 79, 88, 189, 213, 288ff, 316ff, 338ff, 365 – Rentabilitätsvermutung 351ff – Schutzzweck 307ff, 319ff – statt der Leistung 341ff – Strafschadensersatz 292ff, 317, 339f – Surrogationsmethode 248 – Voraussehbarkeit des Schadens 307ff, 319ff – Vorteilsausgleichung 310 – wegen Verzögerung der Leistung 346ff – siehe auch damages Schutzinteresse 188ff Sekundäranspruch 204ff, 226ff, 245ff, 283ff, 322ff, 371f, siehe auch Schadensersatz Selbsthilferecht 359 Sorgfaltspflicht, unselbständige 301ff, 325ff, siehe auch Zurechnung Specific performance 176ff, 210ff, 263ff, siehe auch Leistungszwang Stückschuld 252ff, 275ff Subjektives Recht 19, 24, 32, 71ff, 103ff, 151ff, 160ff, 183ff, 218f, 284ff, 297 Substanz 43 Surrogat 202 Termination 373ff, siehe auch Vertragsaufhebung Theorie – Interessentheorie 103ff, 167ff – interpretative 19, 89ff – juristische 1ff, 6ff, 12, 18, 24, 118ff, 141f, 143f, 160 – teleologische 19, 89ff – Transparenz 18, 97 – siehe auch Rationalität
Sachregister
Topik 20ff Tugendpflicht 34, 50, 69, 74f, 98, 115 Unmöglichkeit 198ff, 222ff, 271ff, 302ff, 324ff, 345f, 353ff, 367ff – dualistisches System 198ff, 224, 271, 324 Utilitarismus 20, 107ff – Glückseligkeit 32ff, 91, 107ff – Handlungsutilitarismus 116ff, 144ff – Prinzip der Nützlichkeit 111ff, 127 – Regelutilitarismus 116ff, 147ff Verhaltensregeln 296, 301ff, 344ff, 356 Verhandlungsmaxime 58 Vernunft, reine praktische 33f, 36, 39, 48, 52, 105, 161 Verschuldensprinzip siehe Zurechnung Versprechen 43ff, 55, 72ff, 96ff, 120, 146 – und Konsens 8 Vertragsaufhebung 207ff, 247ff, 359ff, siehe auch termination Vertragsrecht 43ff Vertragsverletzung siehe auch Leistungsstörung – Begriff 182, 324f – wesentliche 376ff
413
Vertrauen 96ff, 72f, 211ff, 289ff, 318 Vertretenmüssen siehe Zurechung Verzug 245ff, 330, 346ff – Mahnung 245, 342ff Widerstandsrecht 10 Willkür 33, 86, 189 Zurechnung – actio libera 299f – actio libera in causa 300ff, 325ff – Fahrlässigkeit 300ff, 323ff, siehe auch Sorgfaltspflicht – System 194ff, 202, 224, 294ff, 325ff, 364 – Unterlassen 298 – Verschuldensprinzip 296ff, 323ff – Vertretenmüssen 325ff, 344ff – vis absoluta 291ff, 326ff – vis compulsiva 300 – Irrtum 300ff, 326ff – siehe auch Garantie Zwang 7, 34, 43, 50, 86, 163ff, 183, 195, 218ff, 291, 297, 363, siehe auch Leistungszwang Zwangsvollstreckung 178f, 253ff, 221f, 253ff, 361ff